Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/27/1980

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Die Sitzung ist eröffnet. Wir fahren mit der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort. Das Wort hat Herr Abgeordneter Kiep.

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Bundesregierung am Beginn einer vierjährigen Legislaturperiode ihre Regierungserklärung abgibt, erwartet eigentlich jedermann, daß sie die Grundzüge ihrer Politik darlegt, politische Fragen aufgezeigt werden, Perspektiven erkennbar werden und vor allen Dingen auch Lösungen angeboten werden. ({0}) In dieser Hinsicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat uns und weite Teile der Öffentlichkeit die Regierungserklärung, die hier vorgetragen wurde, enttäuscht. ({1}) Während weiter Passagen dieser Regierungserklärung mußte man sich immer wieder mit großer Konzentration in Erinnerung rufen, daß derjenige, der diese Erklärung vorgetragen hat, auch tatsächlich der bisherige Bundeskanzler war, der jetzt in seine dritte Legislaturperiode eintritt. ({2}) Die dritte Regierungszeit, die jetzt begonnen hat, ist weitgehend von den Ergebnissen der Politik abhängig, die in den letzten zwei Legislaturperioden hier betrieben wurde. Deshalb, meine ich, sind auch Rückschlüsse auf die Qualität dieser Politik zulässig, wenn wir heute in die dritte Periode dieser Regierung eintreten. Mit „Mut zur Zukunft" allein wird es sicherlich in diesen vier Jahren nicht getan sein. Es wird vielmehr darauf ankommen, ob die Bürger dieses Landes Vertrauen zu dieser Politik gewinnen, ob sie das Vertrauen gewinnen, das notwendig ist, damit sie ihrerseits ihren entscheidenden Beitrag dazu leisten, um die vor uns liegenden Schwierigkeiten zu überwinden. ({3}) Die Bundesregierung sollte es - das wäre meine Empfehlung - dabei mit Friedrich Hayek halten, der gesagt hat: Es ist notwendig, daß wir uns von jener schlimmsten Form des heutigen Obskurantismus befreien, die uns einreden will, ({4}) - dies ist eine gegen jede Aufklärung gerichtete Denkart von Dunkelmännern, meine Damen und Herren ({5}) daß alles, was wir in den letzten Jahren getan haben, entweder weise oder unvermeidlich war. Wir werden nicht weiser werden, wenn wir nicht zuvor lernen, daß vieles, was wir getan haben, sehr töricht war. ({6}) Das Vertrauen der Bürger in die Politik ist abhängig von der Übereinstimmung dieser Politik mit einem mutigen und richtungweisenden Konzept. Dieses Konzept muß heute mehr denn je darauf angelegt sein, eine ausreichende Beschäftigung, soziale Sicherheit, sozialen Frieden und einen angemessenen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Lösung der internationalen Probleme dauerhaft zu gewährleisten. ({7}) Diese Forderungen, meine Damen und Herren, sind Ausdruck der elementarsten Wünsche unserer Bürger. Eine Politik, die sich diesen Zielen nicht unmißverständlich verschreibt, und nicht Wege aufzeigt, wie sie erreicht werden können, handelt am Bürger vorbei und läßt politische Verantwortung vermissen. Wer heute Mut zur Zukunft anmeldet bzw. von den Bürgern verlangt, muß sich deshalb der Prüfung unterziehen lassen, ob er eigentlich die Ausgangslage für diese Politik richtig einschätzt, ob er die Ursachen der Probleme tatsächlich richtig erkennt und ob bzw. wie er deren Beseitigung anstrebt. Die Ausgangslage, in der sich die Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der 80er Jahre befindet, ist sowohl national als auch international durch eine krisenhafte Zuspitzung gekennzeichnet. Unser Land ist jedoch politisch, strategisch und vor allem wirtschaftlich auf eine funktionierende Infrastruktur des Friedens angewiesen. Unsere Politik, materiell wie konzeptionell, muß deshalb dazu beitragen, daß diese Infrastruktur gewährleistet und gestärkt und nicht bedenklichen Risiken ausgesetzt wird. Wir wissen dabei, daß der Frieden in Europa und in Deutschland - dies ist gestern von verschiedenen Rednern hier zum Ausdruck gebracht worden - nicht nur von Osten her bedroht ist. Die Bedrohung ist geblieben, aber es ist eine zweite hinzugekommen, nämlich die Konflikte in der Dritten Welt, vor allen Dingen in den Regionen, die maßgeblichen Einfluß auf unsere Energie- und Rohstoffsituation und damit auf unsere langfristigen Wachstumschancen ausüben. Ich darf daran erinnern, daß in diesem Zusammenhang auch die Frage der Lebenslinien der Bundesrepublik Deutschland, Europas und der westlichen Welt eine entscheidende Rolle spielt. Diese Lebenslinien können durch kriegerische Verwicklungen, Verwerfungen und Eruptionen im Bereich der Dritten Welt in entscheidender Weise gefährdet werden. ({8}) Neigungen zu dirigistischen Tendenzen im Nord-Süd-Dialog - das integrierte Rohstoffprogramm steht dafür genauso wie die Ergebnisse der Seerechtskonferenz - haben bedauerlicherweise weitere Dirigismen in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen eingeführt und damit die Gefahr aufgezeigt, daß das, was es heute noch an freiem Welthandel gibt, möglicherweise weiter eingeschränkt wird. Die Ölpreispolitik ist ein weiteres entscheidendes Datum der internationalen Rahmenbedingungen für die Bundesrepublik Deutschland: Die Tatsache, daß sich der Ölpreis in zehn Jahren fast vervierzehnfacht hat, zeigt, wie ernst und schwierig diese Frage ist Wenn wir dabei davon ausgehen, daß sich selbst unter günstigsten Bedingungen, nämlich bei Annahme der Jamani-Formel durch die ölproduzierenden Länder, der Ölpreis in den nächsten zehn Jahren vermutlich noch einmal verdoppeln wird, wird die Größenordnung dieses Problems für uns alle deutlich. Wir wissen, daß außenwirtschaftliche und währungspolitische Schwierigkeiten uns weiterhin begleiten. Aber auch vor unserer eigenen Haustür werden die Probleme mit Sicherheit nicht geringer. Es ist gestern schon angeklungen, was in der Europäischen Gemeinschaft in den nächsten Jahren auf uns zukommt, nämlich Finanzprobleme, die sich mit der zunehmenden Mitgliederzahl der Gemeinschaft nicht nur addieren, sondern voraussichtlich auch potenzieren werden. Wir haben gerade in den letzten Wochen erlebt, wie wichtig es ist, daß die Bundesregierung, daß der Deutsche Bundestag, daß die deutsche Öffentlichkeit insgesamt einen stärkeren Einfluß auf die Entwicklung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, innerhalb der Europäischen Kommission und innerhalb des Europäischen Parlaments ausübt. Ich darf hinzufügen, daß im Agrarbereich besondere Schwierigkeiten auf uns zukommen, und ich warne davor, sich bei der Lösung dieser Fragen ausschließlich von finanzpolitischen Überlegungen leiten zu lassen. Die weltweite Ernährungslage wird immer kritischer, und wir sollten vielleicht bei aller Notwendigkeit zum finanziellen Überdenken der europäischen Agrarpolitik auch einmal daran erinnern, daß die Leistungsfähigkeit unserer Landwirtschaft immerhin dazu beigetragen hat, daß wir wenigstens in diesem Bereich der Ernährung Europas weitgehend von Tausenden von Meilen von Lebenslinien unabhängig sind, die im Falle einer Krise abgeschnitten oder in Frage gestellt werden können. ({9}) Durch die gestern hier von Helmut Kohl angeführte Ernährungslage in Osteuropa, vor allem in Polen, gewinnt unsere Fähigkeit zu hoher Produktivität und zu Überschüssen eine zusätzliche Dimension, die auch für Europa Bedeutung hat. Deshalb wollte ich hier nur anmerken, daß man bei der Neuordnung neben finanzpolitischen auch andere Überlegungen in die Diskussion einführen muß. ({10}) Dabei darf ich auch daran erinnern, daß die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft, im Gegensatz zu fast allen anderen Gruppen unserer Gesellschaft, real gesehen im Jahre 1979 in erheblichem Umfang rückläufig war. Auch dies verdient Beachtung und muß bei allen Diskussionen mit überlegt sein. ({11}) Wir werden ja im Januar Gelegenheit haben, im Rahmen der Haushaltsberatungen über diese und viele andere Bereiche ausführlich zu sprechen. Ich möchte es mir deshalb heute versagen, hier in alle Einzelheiten der wichtigen Aufgabenfelder unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik einzutreten. Wirtschaftliche Schwierigkeiten im Ostblock werden uns nach menschlichem Ermessen in den kommenden Monaten sehr viel stärker beschäftigen als bisher. Die Entwicklung und wirtschaftliche Zuspitzung in Polen etwa sind im Grunde genommen nur die Spitze eines Eisberges, der deutlich macht, daß die wirtschaftlichen Probleme im sozialistischen Lager zugenommen haben. Wie es dort wirtschaftlich weitergehen wird, hängt im wesentlichen von der Reformfähigkeit ab, die sich in den nächsten Monaten dort zeigen wird. Die Reformfähigkeit wird der Maßstab für die Überwindung der systemimmanenten Probleme sein, die sich im östlichen Lager stellen. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß auch in diesem Zusammenhang zusätzliche Wünsche an uns herangetragen werden. Die Zahl der internationalen Wünsche und Anforderungen an Europa und die Bundesrepublik Deutschland wird aus diesem und anderen Gründen in den nächsten Jahren größer. Dieser sehr kurze Abriß der internationalen Lage zeigt, daß wir den für uns unerwünschten Folgen nur dann begegnen können, wenn wir uns binnenwirtschaftlich rechtzeitig und in dem erforderlichen Umfang auf sie einrichten und die finanz-, wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen schaffen, um die Leistungsfähigkeit zu steigern, auf die sich die Politik der Bundesregierung in den 80er Jahren stützen muß. Die Antwort muß dabei klar und deutlich sein, weil wir j a vom Bürger Verständnis und zusätzliche Leistungsbereitschaft verlangen. Deshalb genügen allgemeine Anmerkungen und verschwommene Andeutungen hierfür nicht. Bedauerlicherweise hat in den vielen Jahren seit Godesberg die Sozialdemokratische Partei zur Sozialen Marktwirtschaft kein positives, kein bejahendes Verhältnis gefunden. ({12}) Auch das immer wieder beschworene Godesberger Programm hat daran eigentlich nichts geändert, da es ohnehin mehr als ein strategischer Umweg denn als ein Papier grundsätzlicher Einsicht zu bewerten ist. ({13}) Ich finde, daß sich die SPD in der Frage der sozialverpflichteten Marktwirtschaft eigentlich immer . wieder als eine Partei darstellt, die auf ihren Parteitagen Ordnungspolitik als semantischen Klassenkampf begreift, während der von ihr gestellte Bundeskanzler mehr schlecht als recht den Versuch unternimmt, die Zwänge der Tagespolitik mit den programmatischen Forderungen seiner Genossen so einigermaßen in Übereinstimmung zu bringen. ({14}) Das Ergebnis dieser Politik, meine Damen und Herren, ist eine ausufernde Staatsquote ohne ordnungspolitische Konturen, aber mit Krisenerscheinungen in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftpolitik. Wenn ich aus der gestrigen Diskussion eines in diese wirtschaftpolitische Diskussion einführen möchte, dann ist es die Aussage: es erscheint mir eher notwendig, daß die Sozialdemokratische Partei ein ordnungspolitisches „Godesberg" vornimmt, als daß die CDU/CSU sich einem außenpolitischen Canossagang widmen sollte. ({15})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jens?

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber bitte.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kiep, können Sie mir vielleicht sagen, ob Ihrer Meinung nach auf dem Stahlmarkt oder auf dem Markt für Mineralölprodukte die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft bestehen oder nicht?

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist mit großem Bedauern festzustellen, daß im Verlauf der letzten 10 und 20 Jahre in bestimmten Bereichen die Soziale Marktwirtschaft und ihre Kräfte nicht mehr zum Tragen kommen. ({0}) Ich möchte hinzufügen, daß dies Bereiche sind, die sich heute weitgehend dadurch auszeichnen, daß sie sich nicht mehr selber tragen, sondern inzwischen auf Kosten der Allgemeinheit mit Steuergeldern geschützt werden müssen. ({1}) Zu dem „Godesberg", meine sehr verehrten Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei! Wenn ich einen Vergleich zwischen den prognostischen Fähigkeiten der Sozialdemokratischen Partei und des Bundeskanzlers persönlich ziehen darf, zwischen seiner Fähigkeit, Entwicklungen im wirtschaftlichen und politischen Bereich vorauszusehen, und der immer wieder überbordenden Bereitschaft der SPD, langfristige Planungen vorzunehmen, dann kann ich nur sagen: wir können von Glück reden, daß bisher diese Planungslust nicht voll zum Tragen gekommmen ist, weil wir sonst wegen der ständigen Fehlprognosen uns bereits heute in einem totalen Chaos befinden würden. ({2}) Wie weit diese Entwicklung gediehen ist, sehen wir daran, daß heute der Bundeskanzler - darin ist er voll zu unterstützen - sehr beredt die Bürokratisierung beklagt, die inzwischen eingetreten ist. Die Freien Demokraten haben - das muß hier in der gleichen Deutlichkeit und Klarheit gesagt werden - diese Entwicklung aktiv mitgetragen. Sie haben, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, dabei eigentlich im Saldo weniger ordnungspolitisches, marktwirtschaftliches Rückgrat gezeigt als seinerzeit Karl Schiller. Denn Karl Schiller hat nach verschiedenen Mahnungen - ich zitiere: „Genossen, laßt die Tassen im Schrank" - dann schließlich seinen Rücktritt erklärt. Ich muß ganz ehrlich sagen: Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, sollten sich deshalb nicht wundern, daß Sie, wie Sie es neulich in einem Interview beklagt haben, nun in der Union keine wirtschaftspolitischen Partner und Gesprächspartner gefunden haben. ({3}) Ein paar ordnungspolitische Farbtupfer auf diese Art von Politik, wie sie hier gemacht worden ist, aufzutragen, macht nämlich noch keinen Erhard der 80er Jahre. ({4}) Ich muß allerdings auch hier ehrlicherweise einschränkend sagen: daß Graf Lambsdorff diesem Irrtum immer wieder unterliegt, ist verständlich, denn ordnungspolitische Standfestigkeit ist in dieser Ko132 alition ebenso einfach zu demonstrieren wie Sittenstrenge in einem Hafenviertel. ({5}) Sehr ernsthaft gesprochen: eine solche ordnungspolitische Orientierung entscheidet jedoch darüber, ob uns die Lösung der großen wirtschaftspolitischen Probleme der 80er Jahre gelingen wird. Dabei geht es nicht - ich möchte das unterstreichen - um einen bedingungslosen Wachstumsfetischismus. Helmut Kohl hat dies gestern schon deutlich gemacht. Es geht vielmehr um die Erwirtschaftung der Ressourcen, die wir für die Aufgaben im eigenen Land, aber auch für den Kampf gegen die Armut in der Dritten Welt benötigen. Es kommt darauf an - auch das klang gestern erfreulicherweise in vielen Beiträgen an -, einen gesellschaftlichen Dissens beizulegen. Denn gerade die junge Generation, die die Soziale Marktwirtschaft nicht als leistungsfähige und freiheitliche Alternative zur bürokratisierten Mangelverwaltung erleben konnte, sondern Gott sei Dank in diese Ordnung hineingeboren wurde, braucht eine klare Antwort. Sie fragt sich ja immer wieder und subjektiv manchmal zu Recht, ob nicht z. B. die anhaltend schlechte Arbeitsmarktlage oder die Situation am Wohnungsmarkt oder die Probleme an unseren Hochschulen eigentlich doch systembedingte Mängel seien. Sogar die Vermutung, daß unser Wirtschaftssystem in erheblichem Umfang für den Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen und die Leere in vielen Bereichen unserer industriellen Wohlstandsgesellschaft verantwortlich sei, wird zuweilen geäußert. Die Forderung nach einer alternativen Wirtschaftsordnung, von der niemand weiß, wie sie aussehen soll, von der aber dennoch viele Wunder erwarten, ist dann schnell erhoben. Doch so einfach darf man sich die Auseinandersetzung zu diesem Thema nicht machen. Ich meine, daß insbesondere Politik, Schule und Medien hier aufgefordert sind, noch viel zusätzliche Aufklärungsarbeit zu leisten. ({6}) Materieller Wohlstand, der im privaten wie im öffentlichen Bereich teilweise weit über das Maß der reinen Existenzsicherung hinausreicht, verstärkt, besonders bei sensibleren Bürgern, die Frage, ob der persönliche Einsatz, den sie leisten und erbringen, eigentlich noch in einem subjektiv vernünftigen Verhältnis zum persönlichen Nutzen steht. Wer seinen persönlichen Standort kritisch analysiert, stellt häufig fest, daß eine starke Kommerzialisierung unserer Gesellschaft Bereiche wie Kultur, Moral und Recht durchaus nachteilig beeinflussen kann. Eine menschliche Gesellschaft kann eben, wie es Wilhelm Röpke zutreffend formuliert hat, nicht auf das Gesetz von Angebot und Nachfrage reduziert werden. ({7}) Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik keine Haftung für individuelles Lebensglück übernehmen können; aber - und das ist das Entscheidende - sie bestimmen über gesicherte und angemessene materielle Lebensumstände als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung und Voraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein. Die Diskussion über Sinn und Zweck des Staates, über Sinn und Zweck unserer Wirtschaftsordnung ist die große Diskussion, die wir mit unseren Bürgern zu führen haben, insbesondere mit der Jugend, die diesem System so oft kritisch gegenübersteht. ({8}) Es wird darauf ankommen, daß wir deutlich machen, daß sozialverpflichtete Marktwirtschaft ebenso wie unser ganzes politisches System keineswegs Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck ist. Es wird darauf ankommen, daß wir deutlich machen, daß diese Bundesrepublik Deutschland eben kein gepanzerter Konsumverein ist, der seine Erfolgserlebnisse ausschließlich an den Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts oder an den Steigerungsraten der persönlichen Einkommen abliest. ({9}) Wir müssen deutlich machen, daß hier ein Mittel zum Zweck vorliegt und daß der Zweck die Verwirklichung der Ideale unserer Verfassung ist, daß es darauf ankommt, auf der Grundlage von Wohlstand den Verfassungsauftrag zu erfüllen: Freiheit von Not als eine der wesentlichen Voraussetzungen für Menschenwürde. ({10}) Die Verwirklichung von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ist die Aufgabe, der auch die sozialverpflichtete Marktwirtschaft zu dienen hat, und es ist wichtig, daß wir eine rationale und ideologiefreie Wirtschaftspolitik betreiben; ({11}) denn nur durch eine Wirtschaftspolitik, durch eine Finanzpolitik, die ideologiefrei ist, kann ein Klima geschaffen werden, in dem die demokratischen Grundwerte verwirklicht werden können. Dies ist in einer Gesellschaft, die den Mangel verwaltet, ebensowenig möglich wie in einer Gesellschaft, die in einer umweltzerstörenden Weise exzessiv den Charakter einer Überflußgesellschaft annimmt. Beides ist kein Weg für unsere Zukunft, und deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich daran erinnern, daß Wirtschaftspolitik und sozialverpflichtete Marktwirtschaft nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu dem Zweck der Verwirklichung der Aufträge unserer Verfassung sind. ({12}) Mut zur Zukunft heißt also letzten Endes auch Mut zur ordnungspolitischen Klarheit und Kontinuität. Hieran hat es in den letzten Jahren entscheidend gefehlt. Wir wissen, daß die Staatsquote, die sozusagen dieses Datum des Verfehlens ordnungspolitischer Grundlinien deutlich macht, auf fast 50 % gestiegen ist. Wer heute Bürokratisierung beklagt, darf sich nicht darauf beschränken, dies verbal ständig zu wiederholen, sondern muß an die Ursachen gehen. Er muß feststellen, daß das Vordringen des Staates in eine Fülle von Bereichen zu dieser Staatsquote geführt hat und daß weniger Bürokratie nur dann möglich ist, wenn man sich ernsthaft die Frage vorlegt: Wo kann der Staatseinfluß auf ein vernünftiges Maß reduziert werden? ({13}) Meine Damen und Herren, wir wollen dabei einen starken Staat, einen starken Staat dort, wo er unersetzlich notwendig ist. Und wir wollen ihn dort, wo wir ihn brauchen, stark machen, indem wir ihn dort entlasten, wo wir ihn nicht notwendigerweise brauchen. ({14}) - Ich nehme den Zwischenruf gerne auf. Wissen Sie, es ist außerordentlich schwierig, zu einer Regierungserklärung Stellung zu nehmen, die bar jeder konkreten Aussage über zu treffende Maßnahmen ist. ({15}) Deshalb bitte ich Sie um Geduld. Sobald Sie Ihre Vorlagen gemacht haben, werden wir uns hier im Detail und mit vielen Einzelheiten der Diskussion stellen. ({16}) Daß Sie selber über den Mangel an konkreten Angaben Ihres Bundeskanzlers nicht so glücklich waren, haben wir an Ihren Gesichtern während der Debatte deutlich gesehen. ({17}) Meine Damen und Herren, ordnungspolitischer Natur ist z. B. auch die folgende Frage. Wer die Kosten sozialpolitisch durchaus vernünftiger Maßnahmen den einzelnen Betrieben aufbürdet oder wer durch Lohnnivellierung dafür sorgt, daß qualifizierte und weniger qualifizierte Arbeit für die Unternehmen nahezu gleich teuer wird, der darf sich nicht wundern, wenn die ursprünglich Begünstigten letztlich zu den Leidtragenden werden. ({18}) - Ach, Herr Rohde! Wissen Sie, der Wahlkampf ist vorbei. Ich hatte gehofft, daß wir jetzt ein bißchen vernünftig miteinander reden können. ({19}) Meine Damen und Herren, einen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen. Es ist der ernsteste, der entscheidende Punkt. Es geht um die Frage der Belohnung von Leistung. Wenn wir erreichen wollen, daß die Menschen in unserem Lande einem Appell folgen und zusätzliche Leistungsbereitschaft freisetzen, muß sichergestellt sein, daß diese zusätzliche Leistung auch belohnt wird. ({20}) Dies ist sowohl eine Frage der Steuerpolitik wie selbstverständlich auch eine Frage der allgemeinen Rahmenbedingungen, unter denen unsere Wirtschaftspolitik abläuft. ({21}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß gerade die Nivellierung und der Verzicht auf Ordnungspolitik in einem Bereich unserer Wirtschaft zu Schwierigkeiten geführt haben, auf den wir in Zukunft nicht verzichten können. Ich spreche vom Bereich des Mittelstandes, von den mittelständischen Unternehmen, die in unserer Wirtschaft in zunehmendem Umfange der Sektor sind, von dem Kreativität, Innovationskraft und Fähigkeit zur Anpassung an künftige wirtschaftliche Entwicklungen zu erwarten sind. ({22}) Wenn wir uns hier die durch und durch administrierte Forschungsförderung ansehen und die wachsenden Schwierigkeiten mittelständischer Unternehmen vor Augen führen, an diese Mittel heranzukommen, wird deutlich, daß sich eine Wirtschaftspolitik, die den Anspruch erhebt, auch ordnungspolitische Linien zu setzen, dieser Situation in besonderem Umfang annehmen muß. Wir hätten in der Regierungserklärung ein Wort - auch ein Wort der Ermutigung - zu diesem Bereich mit großem Interesse zu Kenntnis genommen. Wir hörten, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Regierungserklärung, die keinen Rückschluß darauf zuläßt, wie sich die Bundesregierung zu den ordnungspolitischen Grundlagen der sozialverpflichteten Marktwirtschaft stellt. Von der SPD hier sehr viel zu erwarten, wäre sicherlich verfehlt gewesen; aber wir hätten eigentlich, Herr Bundeswirtschaftsminister, nach dem Wahlergebnis, das Sie erzielt haben, in der Regierungserklärung zu diesem Punkt etwas mehr von Ihrer Handschrift erwartet, als wir dort vorgefunden haben. ({23}) Konkreter Bemessungsmaßstab für die Wirtschaftspolitik der früheren und der neuen Bundesregierung ist unverändert die Frage, inwieweit sie die vier Ziele des Stabilitätsgesetzes erreicht hat. Hier ist folgendes festzustellen. Erstens. Die Bundesregierung hat kein angemessenes Wirtschaftswachstum sichern können und kann es unter den gegebenen Voraussetzungen für die überschaubare Zukunft auch nicht erwarten. Zweitens. Die Bundesregierung hat mit ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht ausreichend zu einer größeren Preisstabilität beigetragen und hat der Bundesbank die Hauptlast der Stabilitätspolitik übertragen. Ich finde, es ist an diesem Punkt angemessen, der Bundesbank dafür Dank zu sagen, daß sie unabhängig von der Gesamtsituation diesen ungeheuer schwierigen und sie belastenden Auftrag in der Weise wahrgenommen hat, wie dies geschehen ist. ({24}) Wir dürfen aber auch nicht verkennen, daß bei Verfolg dieses Auftrages durch unsere Bundesbank die hohen Zinsen für weite Teile unserer Wirtschaft gerade in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine zunehmende Belastung werden. Drittens. Die Bundesregierung hat das außenwirtschaftliche Gleichgewicht nicht sichern können. Für die nächsten Jahre müssen wir von Leistungsbilanzdefiziten in Höhe von zweistelligen Milliardenbeträgen ausgehen. Sie hat natürlich unter diesen Voraussetzungen - das ist der vierte Punkt - auch eine ausreichende Beschäftigung nicht sichern können. Im Gegenteil, wir müssen für die nächsten Jahre - verstärkt durch demographische Entwicklungen - mit einer Verschlechterung der Arbeitsmarktbedingungen rechnen. Meine Damen und Herren, der ständige Vergleich mit dem Ausland, der in schöner Regelmäßigkeit immer angestellt wird, führt hin zu der Äußerung eines Bonner Journalisten, der nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers sagte: Wir brauchen jetzt nur noch das Ausland abzuschaffen; dann ist eigentlich alles in bester Ordnung. ({25}) Meine Damen und Herren, Vergleiche mit dem Ausland sind selbstverständlich zulässig, notwendig und angebracht; es kommt nur darauf an, daß man immer treffende Vergleiche zieht und die Ausgangspositionen, von denen aus die Entwicklung stattgefunden hat, mit einbezieht. Den sichtbarsten Ausdruck aber finden diese ungenügenden Rahmenbedingungen in dem Leistungsbilanzdefizit, das wir haben. Hierzu hat der Bundeskanzler, wie ich fand, außer der Feststellung, es gebe ein Defizit und man werde es irgendwie ausgleichen, außerordentlich wenig Konkretes gesagt. Dieses Defizit, meine Damen und Herren, hat eine Rekordhöhe von 30 Milliarden DM erreicht und stellt uns vor allergrößte Probleme. Es hat keinen Zweck, der Offentlichkeit zu suggerieren, wir hätten so gewaltige Gold- und Devisenvorräte, daß wir das auf lange Zeit aushalten können. Es ist Tatsache, daß bereits jetzt etwa ein Viertel unserer Reserven zur Deckung dieses Defizits verwandt werden mußten. Der Wahlkampf wäre eine gute Gelegenheit für den Bundeswirtschaftsminister gewesen, einmal auf diese gefährliche Entwicklung hinzuweisen, die ja vom Bundeskanzler in allen seinen Äußerungen mit dem Hinweis auf diesen unerschöpflichen Nibelungenschatz übergangen wurde. ({26}) Der Sachverständigenrat sagt zu diesem Phänomen folgendes - ich darf das zitieren -: Das Ausland scheint die Fähigkeit der Bundesrepublik, wirtschaftliche Probleme lösen zu können, nicht mehr so hoch zu bewerten wie früher, jedenfalls wenn man den Wechselkurs der D-Mark als Indikator für die Einschätzung dieser Fähigkeit nimmt. Von selbst strömt das Geld nicht herbei, das zur Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits notwendig ist. Die derzeitigen Leistungsbilanzprobleme sind kein kurzfristig behebbarer Betriebsunfall, sondern sie bedürfen langfristiger Überlegungen, wie wir sie beheben können. Auch das schnelle Pumpen von Geld in den ölproduzierenden Ländern, Herr Bundesfinanzminister, bringt keine Lösung; im Gegenteil. Der Sachverständigenrat schreibt dazu: Es hat die internationalen Kapitalmärkte möglicherweise zusätzlich irritiert, wie ein Land, das in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Reservewährungsland geworden ist, in diesem Jahr nach dem Gelde ging. Dem internationalen Kapitalmarkt, insbesondere aber auch den Ölstaaten, muß wieder glaubhaft gemacht werden, daß eine Anlage in Deutschland unter stabilen wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen stattfinden kann. Langfristig aber können wir das Leistungsbilanzdefizit nur dann beseitigen, wenn wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft im Interesse höherer Exporterlöse stärken und durch eine zielstrebige Energiepolitik unsere Abhängigkeit vom Ö1 spürbar senken. ({27}) Im energiepolitischen Bereich liegen die entscheidende Ursache für das Leistungsbilanzdefizit und ein Hauptgrund für die Reserve ausländischer Anleger gegenüber der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes. Gemessen daran ist der energiepolitische Teil der Regierungserklärung mehr als dürftig. Wo ist die Handschrift des Bundeswirtschaftsministers im energiepolitischen Teil dieser Regierungserklärung? Wo ist die Wiederholung der Aussagen, die vor der Wahl gemacht wurden? Oder müssen wir davon ausgehen, Graf Lambsdorff, daß hier inzwischen doch ein gewisser Kontrast zwischen Ihnen und Ihrem Kollegen Baum entstanden ist, daß hier also weniger Koalitionsspannungen zwischen SPD und FDP als vielmehr Spannungen innerhalb der FDP selber die Ursache sind? ({28}) Noch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Venedig erklärte der Bundeskanzler klar und bündig: Der Einsatz der Kernkraft muß gesteigert werden, wenn der Weltenergiebedarf gedeckt Weden soll. Wir werden daher unsere Kernkraftkapazitäten ausbauen müssen. In der Regierungserklärung liest sich das dann so: begrenzter Ausbau der Kernenergie; es darf dem Bürger nicht übergestülpt werden; der Ausbau der Kernenergie erfordert breiten demokratischen Konsens. ({29}) Ich bin ein besonderer Freund und Förderer von demokratischem Konsens, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Freund und Förderer! Aber ich habe j a selber am eigenen Leibe erlebt, welche Schwierigkeiten wir in Niedersachsen hatten, einen demokratischen Konsens in diesen Fragen herbeizuführen. ({30}) Ich sehe in diesen Aussagen auch zur Kernenergie immer wieder eine besondere Eigenschaft und Fähigkeit diese Bundesregierung, die ich mit dem Wort „Verniedlichungssemantik" umschreiben möchte. Da wird vom „Restbedarf" gesprochen, den man eventuell noch durch Kernenergie decken müßte; dabei geht es um fundamentale Fragen unserer Zukunftssicherung. ({31}) Wir brauchen nur über die Grenzen unseres Landes zu sehen, um festzustellen, was etwa in Großbritannien oder in Frankreich in der Frage des Ausbaus der Energiesicherung geschehen ist. Zu mangelndem Vertrauen in die weitere wirtschaftliche Entwicklung gibt leider auch die Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregierung Anlaß. Der angeblich große Vorrat an Gemeinsamkeiten in dieser Koalition hat sich auf die Preisfrage reduziert, auf die Frage, wo man in diesem Land vielleicht noch eine Mark lockermachen kann. Diese Finanzpolitik ist weder geeignet, .den Bürger zu einer gewissen Bereitschaft zur Einschränkung seiner Ansprüche gegenüber dem Staat zu veranlassen, noch ist sie geeignet, der Wirtschaft das Vertrauen zu geben, daß hier nach einer klaren Kompaßzahl angesichts der Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, vorgegangen wird. ({32}) Mein Kollege Gerhard Stoltenberg wird insbesondere auch zu diesem wichtigen Thema der Finanz-und Steuerpolitik und dem Verhältnis Bund-Länder in diesem Zusammenhang noch Ausführungen machen. Mir ist es wichtig, heute darauf hinzuweisen, daß unsere große Sorge, vor der Wahl geäußert, heute Wirklichkeit geworden ist, nämlich daß die Handlungsfähigkeit unseres Staates den Aufgaben, die jetzt vor uns auf dem Tisch liegen, nicht gewachsen ist. Vor dieser Schwierigkeit stehen wir, und darauf erwarten wir von Ihnen eine klare Antwort.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Klaus Dieter Kühbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kiep, Sie sprechen davon, daß die Bedürfnisse der Bürger nicht durch Wohltaten des Staates angereizt werden dürften. Waren Sie nicht niedersächsischer Finanzminister zu einer Zeit kurz vor der Wahl -, als jeder Frau in Niedersachsen eine Geburtsprämie versprochen wurde?

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Kollege, erstens lag dieser Zeitpunkt nach und nicht vor der Wahl. ({0}) Zweitens haben wir uns - zusammen mit vielen anderen Landesregierungen - in der niedersächsischen Landesregierung in der Tat Gedanken darüber gemacht, wie wir bei totaler Abwesenheit einer Familienpolitik von seiten der Bundesregierung auf landespolitischer Ebene etwas tun könnten, um unseren Familien zu helfen. ({1}) Wenn wir diese Finanzpolitik betrachten, dann muß ich sagen, verrät es schon ein gewisses Maß an Rechthaberei, wenn die Koalition nach all den zweifelhaften Erfahrungen mit den Konjunkturprogrammen seit 1973 und der Verschuldung, die inzwischen eingetreten ist, trotzig erklärt, ({2}) wenn sie es noch einmal tun könnte, würde sie es wieder so machen. - Sehr verehrter Herr Kollege Wehner, die Legende, daß die Staatsverschuldung, die wir mit einer progressiven Steigerung in den Jahren von 1969 bis 1980 erlebt haben, etwa ausschließlich oder nur teilweise zu dem Zweck der Erhaltung der Arbeitsplätze gemacht worden wäre, geht doch völlig an der Wirklichkeit vorbei. ({3}) Sehr viel mehr Mut zur Zukunft wird man deshalb brauchen, wenn man feststellt, daß die Bundesregierung keinen grundsätzlichen Kurswechsel in ihrer Haushalts- und Finanzpolitik signalisiert. Wie soll man dieser Bundesregierung überhaupt zutrauen, daß sie zu einem Wechsel fähig ist, wenn sie ihn nicht jetzt vollzieht, wo sie nach einem Wahlergebnis, das sie bestätigt hat, vor einem wahlfreien Jahr, mit einem Vertrauensvorschuß der Bürger ausgerüstet, eigentlich handeln müßte? Wann soll sie handeln, wenn nicht jetzt? Sie lösen die Probleme aber nicht, indem Sie die Ausgabenseite des Haushaltes weitgehend für tabu erklären und den Bürgern nur mehr Steuern und Abgaben zumuten. ({4}) Eine relative Abnahme der Ansprüche des Staates an das Bruttosozialprodukt ist die Voraussetzung, wenn Sie sich von Ihren finanzpolitischen Sünden der Vergangenheit einigermaßen befreien bzw. lösen wollen. ({5}) Neben den Entwicklungen im Zusammenhang mit der Energiepolitik, neben der Frage unserer internationalen Abhängigkeit haben wir es aber auch mit dem Phänomen einer Veränderung unserer Bedingungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland selber zu tun. Heinz Oskar Vetter hat, wie ich finde, zu Recht davon gesprochen, daß wir in den 80er Jahren - neben all den Problemen, die von außen auf uns einstürmen - vor einer dritten industriellen Revolution stehen. Die große Frage ist, wie wir die Kräfte aufbringen können, um mit dieser gewaltigen Herausforderung unter Wahrung des sozialen Friedens und des partnerschaftlichen Verhältnisses, das uns seit 30 Jahren begleitet hat, fertig zu werden. Dafür ist es notwendig, daß wir die Leistungskräfte mobilisieren. ({6}) Ich darf Sie fragen, Herr Kollege Rohde: Auf welchem Gebiet ist die Bundesrepublik Deutschland denn heute, auf die Zukunft bezogen, industriell, forschungs- und entwicklungsmäßig wirklich noch führend? Wir sind inzwischen in einer ganzen Reihe von wichtigsten Bereichen überholt worden. Es fing an mit den Fotoapparaten, es ging dann über die Unterhaltungselektronik, über elektronische Bauteile, über Kraftwerkstechnik, über Kraftfahrzeuge und bis hin zu neuen Bereichen, wie wir das in den nächsten Jahren noch erleben werden. Und wie wollen wir denn die Leistungsbereitschaft unserer Menschen mobilisieren, wenn wir ihnen keine Politik anbieten, die dafür sorgt, daß wir unseren technologischen Vorsprung tatsächlich verteidigen und behalten? ({7}) Die Bundesregierung hätte, finde ich, klarmachen müssen, daß wir im Vorfeld einer dritten industriellen Revolution stehen, die uns durch den Einsatz von Mikroprozessoren in allen Bereichen unserer Wirtschaft, aber auch durch die Dynamik der internationalen Arbeitsteilung einfach aufgezwungen wird. Eine gesellschaftspolitisch stabile Bewältigung dieser Veränderungen verlangt von uns eine höhere Leistungsbereitschaft und Opfer, wenn unsere Wohlstandsgesellschaft nicht an ihrer schwächsten Stelle getroffen werden soll, nämlich an ihrer Neigung, die vorhandenen Strukturen und Besitzstände zugunsten kurzfristiger Sicherung langfristig aufs Spiel zu setzen. ({8}) Ich komme zum Schluß. Bevor wir den Mut zur Zukunft fassen können, werden wir den Mut zur Wahrheit haben müssen. ({9}) Ohne den Mut zur Wahrheit werden wir die Probleme der achtziger Jahre nicht richtig erkennen und analysieren. Ohne den Mut zur Wahrheit werden wir uns darüber hinwegtäuschen, daß Versäumnisse und Fehler in wichtigen Politikbereichen eine entscheidende Ursache dieser Probleme sind. ({10}) Ohne Mut zur Wahrheit wird es in diesem Land auch keine politische Führung geben, die uns davor bewahrt, zum Objekt einer Entwicklung zu werden, die zu gestalten unsere eigentliche Aufgabe ist. ({11}) Die Bundesregierung hat am 5. Oktober den deutlichen Auftrag erhalten, dieses Land in den nächsten vier Jahren zu führen. Sie läßt bis jetzt nicht erkennen, daß sie dieser Aufgabe gerecht werden kann. ({12})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kiep, man sah Ihnen in den Jahren, in denen Sie in Hannover wirkten, ständig an, daß Sie es als Verbannung in die Provinz empfanden. ({0}) Sie sind jetzt nach Bonn zurückgekehrt. Wie wir alle wissen, wollten Sie in die Weltpolitik. Das ist in Ihrer Fraktion nicht gelungen. Was wir heute erlebt haben, war eine weltmännische Flucht vor der wirtschaftlichen Wirklichkeit dieses Landes. ({1}) In Erinnerung - der Herr Bundeswirtschaftsminister wird mir zustimmen - an die, wie ich finde, interessanten und auch politisch weiterführenden Debatten über die Wirtschaftspolitik im Deutschen Bundestag der vorigen Wahlperiode, wo Herr Biedenkopf Ihre Fraktion vertrat, muß ich sagen: Leider wird es wahrscheinlich langweiliger werden, was die wirtschaftspolitische Diskussion in dieser Wahlperiode betrifft. ({2}) Flucht vor der Wirklichkeit: Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, und zwar aus der internationalen Sphäre. Energie und Rohstoffe verknappen sich. Der technologische Wettbewerb unter den Industrieländern verschärft sich. Ein Land wie die Bundesrepublik, das jede dritte Mark im Industriebereich im Export verdient, ist naturgemäß von diesen Herausforderungen besonders betroffen. ({3}) Und nun lassen Sie mich in sieben Punkten das zusammenfassen, was an Herausforderungen besteht und was Herr Kiep vergessen hat. Erstens. Es war nicht die Rede davon, welche drastischen Auswirkungen die Explosion der Ölpreise seit Anfang des Jahres 1979 hat. Zweitens. Wir sind als Bundesrepublik Deutschland wegen der Politik der Bundesregierung, wegen der Politik der Deutschen Bundesbank nicht in die Inflationsspirale hineingekommen wie alle unsere Nachbarländer. Im OECD-Bereich steigen die Preise im Jahre 1980 um durchschnittlich 13 Prozent, bei uns um durchschnittlich 5 Prozent; aber davon wird in der wirtschaftspolitischen Rede der Opposition nicht, nicht einmal anerkennend gesprochen. ({4}) Aber diese Differenz zwischen Weltinflation und nationaler Stabilität schafft Probleme; davon soll die Rede sein. Drittens. Wir wissen z. B., daß das Inflationsproblem dazu führt, daß die nominalen Zinsen weltweit steigen, während bei uns die realen Zinsen sehr hoch sind. Wir haben einen Zinssatz von real 31½ Prozent, während es in der Welt real negative Zinsen gibt, obgleich 15 bis 20 Prozent Zinsen verlangt werden. Das hat Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaft. ({5}) - Ich komme noch einmal darauf zurück. Viertens. Wir haben Einkommensverluste in den ölimportierenden Staaten, die unsere Wirtschafts-und Handelspartner sind. Dort steigt die Arbeitslosigkeit und sinkt das Wirtschaftswachstum. Aber gehört haben wir kein Wort davon. Fünftens. Der internationale Wettbewerb zwischen den Industrieländern verschärft sich, weil die Märkte enger werden. Der Welthandel, der in den 60er Jahren im Schnitt um 15 Prozent gestiegen ist, steigt im Jahr 1980 nach der besten Prognose um zwei Prozent und nimmt nach der schlechtesten Prognose um 1 Prozent ab. Aber kein Wort über die Entwicklung des Welthandels war zu hören. So als ob es eine Entschuldigung sei, wurde das Problem behandelt. ({6}) Sechstens nenne ich die Zahlungsbilanzungleichgewichte. Sie wissen, daß insbesondere die nichterdölexportierenden Entwicklungsländer an der Grenze der Zahlungsfähigkeit sind. Sie fallen praktisch aus dem Welthandel heraus. Gerade bezogen auf diese Märkte hatte aber die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren investiert. Von daher bekommt sie Engpässe im Absatz. Siebtens. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte, die gerade in einem Zwischenruf angesprochen wurden, sind natürlich Ergebnisse der Überschüsse an anderer Stelle. International gleichen sich die Bilanzen aus. Wenn in der ölexportierenden Welt große Überschüsse entstehen, müssen anderswo Defizite vorhanden sein. Wenn es nicht so wäre, wären wir in einem beschleunigten deflatorischen Prozeß der Weltwirtschaft. Das kann niemand wollen. Übrigens ist der Sachverständigenrat hier viel nüchterner als Sie, Herr Kiep. Er hat nämlich darauf hingewiesen, daß die Zahlungsbilanzungleichgewichte, insbesondere auch das der Bundesrepublik Deutschland, nicht in einem Jahr abgebaut werden können, sondern daß es sich dabei um einen längeren Prozeß handelt. Meine Damen und Herren, diese von mir erwähnten sieben externen Faktoren sind keine Anlässe für Entschuldigungen, bezogen auf die nationale Wirtschaftspolitik. Nein, das sind Herausforderungen, die man kennen und analysieren muß. Wir stellen uns diesen Herausforderungen in den nächsten vier Jahren. Die Bundesregierung tut es. Das hat die Regierungserklärung deutlich gemacht. ({7}) Lassen Sie mich an dieser Stelle nach dem Gutachten des Sachverständigenrats ein paar Aspekte der kurzfristigen Entwicklung behandeln. Ich will das an Hand der Gliederung unseres Stabilitätsgesetzes tun, das j a gültig ist und damals von allen Parteien im Deutschen Bundestag unterstützt und verabschiedet wurde. Ich habe, wenn ich die monetaristischen Einflüsse in der CDU/CSU höre, manchmal Zweifel, ob Sie eigentlich noch zum Stabilitätsgesetz von 1967 stehen oder ob Sie es mit Friedman in Richtung auf Frau Thatcher verlassen haben. ({8}) Erster Punkt: Preisentwicklung. Ich habe schon darauf hingewiesen, die Preise in der Bundesrepublik steigen 5 %, die im OECD-Raum 13 %. Wir können also glücklich sein. Wir haben eine Inflationsdifferenz, die erstaunlich ist, bedenkt man die Ölpreise. Aber diese hohe Stabilität ist nicht ohne Nachteil. Herr Kiep, da müssen wir dann konkret miteinander reden. Sie haben von Zahlungsbilanzschwäche geredet. Es geht Geld aus der Bundesrepublik Deutschland weg, z. B. aus den Rücklagen der großen Unternehmen. Es ist ein Irrtum, immer dann, wenn man von der Spekulation redet, Scheichs, Leute aus dem arabischen Raum zu betrachten. In Wirklichkeit ist es doch vielmehr so, daß das kurzfristig nicht angelegte Geld, das in der Bundesrepublik Deutschland in der großen Industrie erwirtschaftet wird, an Eurogeldmärkte geht, weil die Nominalzinsen dort astronomische Höhen haben und weil man innerhalb des EWS natürlich kein Wechselkursrisiko hat. Das heißt: Sie haben kurzfristig eine Spekulation gegen die D-Mark, die von den wirklichen wirtschaftlichen Verhältnissen, von den Preisproblemen überhaupt nicht gedeckt ist, weil hier international kurzfristig spekuliert werden kann. Es sind nach meiner Überzeugung nicht die Scheichs, die zur Zeit zur D-Mark-Schwäche beitragen, sondern es sind diese kurzfristigen Verschiebungen der Gelder. Das heißt: Wir zahlen einen ganz bitteren Preis für unsere Stabilitätspolitik. Ich sage nicht, daß wir diese Stabilitätspolitik nicht machen sollten, sondern ich sage nur: Sie ist auch nicht zum Null-Tarif, international gesehen. Wir können nur hoffen, daß sich die grundlegenden wirtschaftlichen Verhältnisse auch in diesem Bereich schneller durchsetzen. Zweiter Punkt: Vollbeschäftigung, Beschäftigungspolitik. Der Sachverständigenrat war relativ optimistisch, was die Beschäftigungslage betrifft. Ich will nicht verhehlen, daß meine Fraktion dieser Prognose mit vorsichtiger Skepsis gegenübertritt. Es gibt Hinweise - aus dem Geschäftsleben, aus dem Bankenbereich, aus dem Unternehmenslager genauso wie aus Berichten der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerschaft -, daß noch mehr Probleme auftreten können. Jedenfalls muß am Beginn dieser kritischen Phase der deutschen Beschäftigungssituation am Ende eines relativ starken, aber auch relativ kurzen Booms klar sein, daß es durch keinen Politiker in der Bundesrepublik Deutschland eine Privatisierung des Beschäftigungsrisikos in der nächsten Phase gibt. ({9}) Wir werden Beschäftigungspolitik in der nächsten Phase unter beiden Aspekten betreiben müssen: auf der einen Seite Arbeitsmarktpolitik, auf der anderen Seite Konjunkturpolitik. Ich finde es auch erstaunlich, daß von seiten der CDU/CSU alle Aspekte einer offensiven Beschäftigungspolitik abgelehnt werden, sowohl Programme im öffentlichen Bereich und Programme zur Stärkung der Investitionstätigkeit als auch Arbeitszeit138 verkürzung. Ich frage mich, wie Sie in dieser Phase vor den deutschen Arbeitnehmer treten können, es sei denn, Sie sagen in der Tat: Die Arbeitslosigkeit der Menschen ist ein privates Schicksal, es muß eben von den einzelnen Gruppen akzeptiert werden. Schauen wir das doch noch etwas genauer an: Wer wird denn arbeitslos? Es werden die Frauen verstärkt arbeitslos, es werden die älteren Arbeitnehmer verstärkt arbeitslos, es werden die Behinderten verstärkt arbeitslos, es werden alle die verstärkt und schneller arbeitslos, die in dieser Wettbewerbsgesellschaft eben nicht voll mitmachen können. Meine Damen und Herren, hier ist die Solidarität als Grundwertbegriff bei allen drei Parteien des Deutschen Bundestages angesprochen. Wir akzeptieren keine Privatisierung des Beschäftigungsrisikos für benachteiligte Gruppen, wie es bei Ihnen offenbar der Fall ist. ({10}) Dritter Punkt: Wachstum. Wir sind im wachstumspolitischen Bereich, meine Damen und Herren, zum ersten Mal, so empfinde ich das, in einer Grundsatzdebatte oder Regierungserklärungs-Debatte auf Fragen eingegangen, insbesondere der Parteivorsitzende unserer Partei,. Willy Brandt, die -heranrühren an die Fragestellungen der jüngeren Generation bezüglich des Problems: Paßt das Wirtschaftswachstum, das wir unter den derzeitigen Industriestrukturen produzieren, noch zu unseren zukünftigen Lebensbedürfnissen? Das heißt, arbeitsmarktpolitisch, von der Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit her gibt es doch keinen Zweifel, daß das Bestmögliche, das - wenn Sie so wollen - höchste Wirtschaftswachstum, das erreichbar ist, auch erreicht werden soll. ({11}) Aber wir erleben - wenn Sie es übertrieben formulieren wollen - eine Akzeptanzkrise in der jungen Generation. ({12}) - Ja, Herr Kiep, Sie haben das dankenswerterweise gesagt. Ich habe Herrn Brandt erwähnt und gesagt: Dadurch ist ein Einstieg in diese Debatte gegeben, und ich möchte sie aufnehmen. Ich will vor allem eines: Ich möchte davor warnen, dieses Verhalten der jüngeren Generation gegen Formen des Wirtschaftswachstums, die auch Lebensverhältnisse beeinträchtigen, nur unter dem Aspekt zu debattieren, das seien investitionshemmende Verhaltensweisen. Das sind genau solche Bedürfnisse wie die materiellen Bedürfnisse, und wir müssen in unsere Wachstums-und Wirtschaftspolitik diese Bedürfnisse auf Sicherung und Erhaltung der Umwelt, auf Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen einbauen - selbst dann, wenn es da und dort auch einmal einen Abstrich im Hinblick auf das maximale Wachstumsziel, das wir uns wirtschaftspolitisch gesetzt haben, bedeutet. ({13}) - Sie haben den Einwand „Energiepolitik" erhoben. Sie können doch nicht ohne langwierige Diskussion mit der jungen Generation die Lebensläufe und Lebenslinien, wie es Herr Kiep genannt hat, dieser Generation vorbestimmen, wenn tragfähige Minderheiten der jungen Generation, manche sagen sogar: Mehrheiten, skeptisch und negativ zur Kernenergie eingestellt sind. ({14}) Dann geht es um Diskussions- und Überzeugungsprozesse und nicht um Durchziehen. Das ist unsere Überzeugung. ({15}) Ich freue mich - an der Stelle darf ich das vorziehen - über die Aussagen von Herrn Kiep. Ich freue mich, daß die Differenz da ist zwischen Herrn Albrecht, Herrn Kiep und Herrn Pestel auf der einen Seite und denjenigen in Bayern und anderswo, die sagen: Durchziehen, dann aber nicht einmal ein Zwischenlager hinkriegen. Ich freue mich, daß in Ihrer Partei endlich diese Diskussion beginnt. Wir sollten diese Diskussion gemeinsam mit der jungen Generation führen. Das bringt natürlich Probleme im Hinblick auf die Wachstumspolitik. Ich glaube, man sollte das auch offen sagen. Man sollte der jüngeren Generation,' die Jobs und Berufe sucht, sagen: Es gibt eben kritische Konflikte zwischen dem Wachstumsziel, wenn man es in dem Umfang, mit ökologischer Wirkung anstrebt, und dem Ziel der Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen. Ich glaube, diese offene Diskussion ist vernünftiger als das Herumreden. Lassen Sie mich hinzufügen: Das ist nicht das einzige Wachstumsproblem. Wir haben über die hohen Zinsen in der Tat eine Beeinträchtigung der Investitionstätigkeit, und wir haben dadurch weniger Wirtschaftswachstum, als wir es haben könnten. Sie kennen alle die Argumente der Bundesbank, die sagt, international herrsche ein Zinsklima, bei dem niedrigere Zinsen Kapitalflucht bedeuten würden. Ich will ganz bewußt an einem Tage, an dem der Zentralbankrat zusammentritt, keine Kritik üben oder eine Auseinandersetzung mit der Deutschen Bundesbank beginnen. Ich will nur sagen: Wir müssen alle dafür kämpfen, daß die Inflationsunterschiede endlich auch bei den Zinsen wirksam werden und bei den Wechselkursen die grundlegenden wirtschaftlichen Verhältnisse stärker zum Tragen kommen. Das ist entscheidend, und das wird Arbeitsplätze und Investitionen in der Zukunft bringen. ({16}) Damit bin ich beim letzten Punkt: Außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Meine Damen und Herren, wir können das Ungleichgewicht, das existiert, nicht kurzfristig abbauen. Der Sachverständigenrat sagt das, und ich begrüße es ausdrücklich, daß er diese Stetigkeit der Politik verlangt. Aber an die CDU gerichtet möchte ich eines sagen. Wir alle wissen, Herr Kiep, daß ein Abbau des Zahlungsbilanzdefizits und des Leistungsbilanzdefizits von einer Beschleunigung der Substitutionsprozesse beim Ö1 abhängt. Wir müssen soweit wie möglich und so schnell wie möglich raus aus dem Öl, wo es geht. Darin sind wir einig. ({17}) Wenn Sie sich und Ihre Fraktion nach der Diskussion über die Erhöhung der Mineralölsteuer um 7 Pfennige und bei der Diskussion über die Kfz-Steuerverlagerung auf die Mineralölsteuer selbstkritisch betrachten und wenn sie das an der Forderung messen, so schnell überall dort vom 01 wegzukommen, wo es überhaupt möglich ist, dann sind Sie in einem wirtschaftspolitischen Widerspruch, der Sie unglaubwürdig macht, was die Zahlungsbilanzdefizite anbetrifft. ({18}) Sie müßten uns dann auch auf der Preisseite unterstützen. Sie wissen, daß ich nicht ganz so leidenschaftlich und nicht mit ganz so erhobener Stimme wie vielleicht Graf Lambsdorff die Marktwirtschaft preise; aber ich preise sie auch, denn die Marktwirtschaft hat über Preiseffekte immer einen Umstrukturierungseffekt zustande gebracht, ({19}) und das sollte gerade bei den Preisen von Mineralöl mit berücksichtigt werden. Das war keine fiskalische Maßnahme von Herrn Matthöfer, das war ein Beitrag zum Ausgleich der Zahlungsbilanz und zur Umstrukturierung unserer Volkswirtschaft. Insofern nehmen wir diese bittere Pille für viele unserer Arbeitnehmer, die wir im Deutschen Bundestag mit zu vertreten haben. ({20}) Lassen Sie mich auch etwas anderes sagen. Die Patentantworten, die zur Zeit zum Zahlungsbilanzausgleich gegeben werden, halte ich nicht für realistisch. Manche schlagen z. B. vor, man solle den Reiseverkehr beschränken. Welche neuen Ungleichgewichte würden dadurch in der Mittelmeerregion aufgerissen, wenn die Deutschen ihre Reisen ins Ausland, ihre Urlaubsfinanzierung im Ausland, in der Mittelmeerregion nicht mehr machen würden! Man kann doch nicht internationale Konflikte und Ungleichgewichte dadurch ausgleichen, daß man sie anderswo herbeiführt. Vergleichbares gilt für die Direktinvestitionen. Es gibt Leute, die sagen: Wir investieren zuviel direkt im Ausland. Auch da würde ich sagen: Diese Direktinvestitionen sind zu einem großen Teil auch Vorbereitung von Exporten. Sicherlich werden die grundlegenden Widersprüche zwischen Ihnen und uns nicht auf dieser Linie, sondern auf einer, wie Sie es genannt haben, Linie der ordnungspolitischen Orientierung liegen. Lassen Sie mich zu diesem Abschnitt Ihrer Rede, Herr Kiep, einige Antworten formulieren. Was hat eigentlich die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren gegenüber den meisten anderen Industriestaaten ausgezeichnet? ({21}) Diese Bundesrepublik war geprägt durch ein ungewöhnliches Ausmaß an sozialem Konsens. ({22}) - Herr Kiep, ich kenne Sie auch von gemeinsamen Reisen, und ich habe selbst schon gehört, wie Sie diesen sozialen Konsens in der Bundesrepublik Deutschland in Großbritannien gepriesen haben. Sie werden es nicht bestreiten. ({23}) Dieser soziale Konsens hat Bedingungen, und - das füge ich hinzu - dieser soziale Konsens ist nicht zum Nulltarif zu bekommen. ({24}) Das heißt z. B., Herr Kiep, daß man die Chancen und Risiken des Strukturwandels im Dialog und nicht dadurch bewältigen muß, daß man das auf die kleinen Leute, auf die Arbeiter und Angestellten verlagert. Ein paar Passagen Ihrer Rede haben so geklungen. ({25}) - Ich gebe Ihnen jetzt einmal ein Zitat; denn Ihre Rede vorhin habe ich nur in Stichworten mitschreiben können. Zum Beispiel wird durch das, was Sie am 17. Oktober 1980 in der „Wirtschaftswoche" geschrieben haben, das verletzt, was ich sozialen Konsens nenne: Die in der Sozialen Marktwirtschaft selbstverständliche Chance, aus dem Arbeitsverhältnis auszuscheiden und eine selbständige Existenz aufzubauen, ist mehr als nur ein wirtschaftlicher Vorgang. Bis dahin stimme ich Ihnen zu. Aber dann kommt der Satz: Er ist zugleich die Chance, Abhängigkeiten des Alltags abzustreifen und in Freiheit die menschlichen Beziehungen neuzuordnen. Dieser Satz impliziert Unfreiheit bei den abhängig Beschäftigten, und gerade die muß man abbauen. ({26}) Ich sehe es als eine ganz wichtige Aufgabe der Bundesregierung, der verschiedenen Ministerien, die da betroffen sind, inbesondere Wirtschaftsministerium und Ministerium für Forschung und Technologie, an, den bevorstehenden Anpassungsprozeß auf neue internationale Marktverhältnisse dialogisch zu organisieren. Ich freue mich übrigens, daß in der Wirtschaft, im Unternehmerlager, im Big Business, wie man auch sagen könnte, bei den Bossen, dieser Wille immer stärker zum Tragen kommt. Herr Ratjen von der Metall-Gesellschaft in Frankfurt sagte vor kurzem: Wer die Menschen nicht für sich gewinnt, kann ein Unternehmen in den 80er und 90er Jahren nicht mehr führen. Das ist ein wesentlicher Fortschritt auf seiten von Unternehmern, den man akzeptieren und umsetzen sollte. ({27}) Dies gilt natürlich erst recht für die Gesellschaft. Deshalb sollten Sie die Diskussion mit den Gewerkschaften nicht als lästiges Verbandsproblem behandeln, wie das einige Zeit bei Ihnen Mode war, aber heute zum Glück nicht mehr so durchgeklungen ist, sondern Sie sollten hier einen ständigen Dialog führen. ({28}) Meine Damen und Herren, ich füge eines hinzu: Mit der Parole von der Entstaatlichung werden Sie die Probleme der nächsten Jahre nicht lösen. ({29}) Der Anpassungsprozeß braucht soziale Abfederung. Sie haben von der steigenden Staatsquote geredet. Schauen wir uns das doch einmal genauer an! Die Steuerquote in der Bundesrepublik Deutschland ist seit Anfang der 50er Jahre konstant. ({30}) - Wir haben bei der Sozialabgabenquote in der Tat zwischen 1970 und 1980 eine Steigerung von 15 auf 25 %. Das wollen wir gar nicht leugnen. ({31}) Diese Steigerung der sozialen Sicherung ist mit ein Fundament des sozialen Konsenses, und wer das madig macht, geht an den sozialen Konsens heran. ({32}) Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel geben, das Ihnen näherliegt als mir, das aber derzeit eine ganze Gesellschaft erleidet. Frau Thatcher hat ihren Wahlkampf 1978/79 unter dem Thema geführt: Entstaatlichung! Zurück mit der Staatsquote! Wir wollen weniger Staat, wir wollen weniger Bürokratie! - Sie wissen, daß sie auf Grund der Schwäche und des Verhaltens Gewerkschaften in Großbritannien - unstreitig - einen Wahlsieg, einen großen Wahlsieg errungen hat. Frau Thatcher hat unmittelbar anschließend begonnen zu konsolidieren und hat ihr Programm zur Entstaatlichung angepackt. Wie sehen die Ergebnisse 16 Monate später aus? ({33}) Die Staatsverschuldung in Großbritannien steigt verschärft an. Die Staatsverschuldungsquote, gemessen am Sozialprodukt, in Großbritannien ist nun auf über 5 % angeschwollen, nachdem sie in Labour-Zeiten anderthalb Prozent niedriger lag. In Großbritannien lag zu der Zeit, als Herr Callaghan sein Amt verließ, die Arbeitslosigkeit bei 5 %. Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien liegt nun bei 9 %. ({34}) Als Herr Callaghan, nachdem er abgewählt wurde, aus dem Amt schied, lag die Inflationsrate in Großbritannien bei 10 %. Heute liegt sie bei 15 %. Lassen Sie sich das in Ruhe durch den Kopf gehen. Eine Volkswirtschaft und eine Gesellschaft ist keine Organisation von Saldenmechanik, sondern von Konsens und Kooperation, von Gespräch mit dem Bürger. Wer durchzieht, der hat die Ergebnisse dann auch an der Wirtschaftsfront. ({35})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Wartenberg?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, gern.

Dr. Ludolf Georg Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, könnten Sie mir antworten, ob die Beziehungen der Gewerkschaften zur SPD in Deutschland stärker sind als die Beziehungen der Gewerkschaften zur Labour Party in England?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Frage kann ich Ihnen sehr genau beantworten. Die deutschen Gewerkschaften, die deutschen Einheitsgewerkschaften haben nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes, ein gesamtgesellschaftlich orientiertes Verhältnis zum Staat gewonnen, z. B. durch die Mitbestimmung und die Betriebsverfassungsgesetze und die Bereitschaft des Staates, für Vollbeschäftigung zu kämpfen, so stark es irgendwie geht. Dadurch ist das Vertrauen anders ausgestaltet als in einer Gesellschaft, wo die Klassenstrukturen - sagen wir das einmal altmodisch, aber richtig - noch sehr viel stärker durchschlagen als bei uns. Das wollen wir bewahren. ({0}) Genau in diese Richtung, genau in diese Gefahr und Tendenz geht doch das monetaristische Gift von Herrn Friedman, das in England Frau Thatcher erfaßt hat und das jetzt den Bayerischen Rundfunk erfaßt hat - Herr Blüm, hören Sie zu -: zehn Sendungen lang, jeweils eine Stunde, wird der Bayerische Rundfunk das Gift von Herrn Friedman gegen die Arbeitnehmer, gegen die Vollbeschäftigung, gegen die Sozialpolitik aussenden. Schauen Sie auf das, und überlegen Sie, was das - bezogen auf die Arbeitnehmerschaft in Ihrem Bereich, im katholischen Raum insbesondere - bedeutet. ({1}) Ich sage Ihnen: es bedeutet die Zerstörung jedes Kooperationsverhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft. Wirtschaft sind bei mir Unternehmer und Gewerkschaften und nicht nur die Unternehmer. Das ist in Großbritannien an der Tagesordnung. Dagegen werden wir Sozialdemokraten auch ideologisch antreten. ({2}) Ich sage das j a nicht aus Versehen, weil ich in liberalen Zeitschriften diese Friedman-Ideen auch entdecke. Ich kann nur sagen: es ist auch ein Beitrag zur sozialen Friedfertigkeit in diesem Lande gewesen, daß wir in Deutschland einen modernen Liberalismus haben, einen Liberalismus, aufbauend auf Naumann, wie Herr Brandt gestern gesagt hat, einen Liberalismus, aufbauend auf Karl-Hermann Flach, der bei uns Sozialdemokraten als einer der geistigen .Baumeister des politischen Bündnisses seit 1969 unvergessen ist, und des Freiburger Programms, das wir Sozialdemokraten auch heute noch sehr hoch einschätzen und immer wieder lesen. ({3}) Diesen sozialen Konsens zu erhalten, das steht vor uns. Lassen Sie mich abschließend zehn Aufgaben in der praktischen Politik formulieren. Erstens: Beschäftigungspolitik. Wir lassen uns nicht auf die Debatte ein „Programme ja, Programme nein". Was notwendig ist, um Beschäftigung zu sichern, wird im nächsten Jahr im Verlauf der Haushaltsberatungen getan. Wir können im Januar/Februar besser als heute abschätzen, was getan werden muß. Zweiter Punkt: Forschung und Technologie. Was nicht geht, Herr Kiep, ist, daß Sie hier beklagen, daß zu viel Geld in die Großforschung geht, in wenige Reaktorlinien, beispielsweise HTR und Schneller Brüter, sehr viel Geld, und andererseits jammern, wenn der Forschungsminister zu Recht sagt, die Energieversorgungsunternehmen sollten sich am Risiko und an der Finanzierung beteiligen. Wir unterstützen das. ({4}) Drittens: Energiepolitik. Ich nehme an, mein Kollege Jens wird Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Deshalb werde ich mich sehr kurz fassen. Herr Kiep, wir sind- mit Ihnen jedenfalls; so habe ich Ihre Ausführungen verstanden - sehr viel näher zusammen als mit anderen. Das heißt dann, daß man die Entwicklung im Bereich der Energiealternativen und der Energiesparfinanzierung in der nächsten Phase beschleunigen muß. Wir sollten hier eng zusammenarbeiten, insbesondere zwischen Bund und Ländern. Lassen Sie mich da hinzufügen, es ist doch beschämend, wenn man über Energieknappheit klagt und dann feststellen muß, daß ein Ministerpräsident ein großes Programm zur Fernwärme einfach stur aus unerträglich egoistischen Gründen blockiert. ({5}) Lesen Sie den Kommentar in der „Frankfurter Rundschau" von heute nach. Viertens: Verkehr und Umweltpolitik. Ich höre immer, da gebe es nicht mehr genügend zu finanzieren und zu organisieren. Ich kann nur sagen, das RheinBodensee-Programm, das gerade in meiner Region - ich komme aus Süddeutschland, aus Baden-Württemberg - umgesetzt wurde, hat zur Umweltverbesserung und gleichzeitig zu einem überproportionalen Anstieg der Beschäftigung beigetragen. Meine Meinung ist, laßt uns mal vorsichtig sein mit den großen Sprüchen, es gebe keine Programme mehr. Es gibt Zukunftsaufgaben, die Geld kosten. Deshalb muß man im Subventionieren - Herr Hoppe, da sind wir uns einig - mehr abbauen, als hier jetzt vielleicht schon in der Regierungserklärung vorgelegt wurde. Dafür haben wir dann ja Fraktionen. ({6}) Da werden wir dann die Helden von der Union sehen; die haben j a schon 14 Tage lang bewiesen, was sie bei Vorschlägen zum Subventionsabbau zeigen können. ({7}) Aber vielleicht kommt der Herr Ministerpräsident Stoltenberg noch mit Vorschlägen. Fünfter Punkt: Wohnungspolitik. Wir werden als Fraktion der Sozialdemokratischen Partei die Bundesregierung ermuntern, stützen und auch bewegen, daß im Wohnungsbereich Zusätzliches geschieht. Wir akzeptieren keine Wohnungsnot in den Städten, in den Ballungszentren. ({8}) Sechster Punkt: Agrarpolitik. Wir haben mit Ihnen, meine Damen und Herren, eine erbärmliche Debatte zur Agrarpolitik in den letzten 14 Tagen gehabt. Die SPD, oft als antimarktwirtschaftlich gescholten, hat einen Entwurf vorgelegt, durch den im Agrarbereich mehr Marktwirtschaft vorgeschlagen wird, und Sie kommen und sagen, das ist die Zerstörung der deutschen Landwirtschaft, ({9}) ein grotesker Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis. ({10}) Lassen Sie mich hinzufügen, wir Sozialdemokraten werden kein Agrarprogramm auf EG-Ebene oder auf deutscher Ebene zulassen, bei dem kleine Landwirte kaputtgehen; ({11}) da muß sozial gegenstabilisiert werden. ({12}) Aber es muß Schluß sein mit der staatlichen Finanzierung der Agrarfabriken, die um sich gegriffen und zu gewaltigen Überschüssen geführt hat. ({13}) Siebtens: Kleine und mittlere Unternehmen. Die Kollegen von der CDU/CSU wissen, daß ich dann immer die Zahlen vortrage. Sie wissen j a, die Zahlen sind positiv: mehr Selbständige in den letzten drei Jahren. Ich will gar nicht in die Details gehen. Und dann kommen Sie und machen das madig. Sie sagen, das ist gar nicht im industriellen Bereich, das ist im Dienstleistungsbereich. ({14}) Ich wundere mich gar nicht, daß der Bundesverband freier Berufe im Verlaufe des Wahlkampfs durch seinen Geschäftsführer, Ihren früheren Kollegen Rollmann, erklären läßt: Eigentlich wollen wir die CDU/CSU nicht in der Führung in Bonn, denn die FDP und die SPD machen die Politik für Selbständige und mittlere Unternehmen besser. - Vielen Dank! ({15}) Achtens: Wir werden durch keine Ideologisiererei unsere Eingriffe und Unterstützungsmaßnahmen für bedrohte Sektoren und Bereiche unserer Wirtschaft unterlassen. Ich will das auch sehr konkret sagen. Ich höre an der einen oder anderen Stelle weitreichende Vorschläge für eine totale Wettbewerbsorientierung - kurzfristig und mittelfristig - im Stahlbereich. Wir Sozialdemokraten lassen die Stahlstandorte Bremen und Dortmund nicht verkommen. Das müssen die Kolleginnen und Kollegen in Dortmund von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion morgen wissen. ({16}) Vergleichbares gilt für andere Sektoren wie beispielsweise für den Schiffsbau und auch für kleinere Bereiche wie beispielsweise für die Uhrenindustrie in der Bundesrepublik Deutschland. Neunter und vorletzter Punkt: Handelsfragen. Wir alle beklagen den Rückgang des Welthandels. Hier müssen wir stabilisieren. Vor allem müssen wir protektionistischen Tendenzen eine Absage erteilen. Das Welttextilabkommen beispielsweise ist für uns nicht Protektionismus, sondern mittelfristige Anpassung; wir brauchen sicherlich im Jahre 1982 eine Verlängerung. Aber dies ist nur ein Element einer langfristigen Strategie mit strukturellen Alternativen. Auch in diesem Bereich gibt es nur Anpassungsprozesse und nicht auf Dauer Schutzzäune. Zehnter und letzter Punkt: Die Krise, die wir beklagen, ist keine nationale Wirtschaftskrise. Im Gegenteil, sie ist eine internationale Wirtschaftskrise. Wir haben Ungleichgewichte. Die Ölländer haben hohe Überschüsse, die sie gar nicht wirtschaftlich verwerten können. Sie legen dieses Geld kurzfristig an. Wenn Sie hören wollen, was für die nächsten Monate meine tiefste Furcht ist: Es sind die nicht organisierten Ölmilliarden, die nur kurzfristig angelegt sind und von denen keiner weiß, ob sie nicht einmal gleichgerichtet eine Spekulationswelle auslösen, die uns alle vernichten kann. Meines Erachtens liegt die Lösung dieses Problems bei internationalen Verhandlungen zwischen Industriestaaten, Entwicklungsländern und Ölstaaten. Es müßte doch möglich sein, hier ein Dreiecksgeschäft zu entwickeln; wir müßten es schaffen, daß die Ölländer ihre Kapitalanlagen längerfristig garantiert bekommen, ({17}) daß wir bei den Ölpreisen eine Verstetigung bekommen und daß wir gemeinsam den Entwicklungsländern helfen, damit sie überhaupt überleben können. - Herr Kiep, ich habe mich darüber gefreut, daß wir an dieser Stelle offenbar in eine gemeinsame Richtung denken. Wir Deutschen müssen - bei allen Zahlungsbilanzproblemen - erkennen, daß unser Beitrag zur eigenen Stabilität mit ein Beitrag zur Stabilität in der Welt ist. Lassen Sie uns in diesem Hause dabei zusammenarbeiten! ({18}) Wir sollten der Bundesregierung auf diesem Wege jede Unterstützung gewähren. Wir danken der Bundesregierung für die Erklärung. Wir bitten die Bundesregierung, im weiteren Verlauf unserer Arbeit zusätzliche Elemente auf Grund der Anregungen aus den Fraktionen in die praktische Regierungspolitik einzubauen. - Vielen Dank fürs Zuhören! ({19})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen jede Verstärkung im Deutschen Bundestag, und deshalb freue ich mich darüber, daß Herr Kiep nun für die wirtschaftspolitische Debatte in Bonn zur Verfügung steht. Nun geben wir zwar zu, daß sich ein Weltmann und potentieller Hamburger Spitzenkandidat natürlich in der Hafenmoral sehr gut auskennt; aber es ist ihm in seiner Rede nicht gelungen, dem liberalen Wirtschaftsminister konkret einen ordnungspolitischen Sündenfall nachzuweisen. ({0}) Herr Kiep, was Ihre Äußerungen zu den ErhardNachfolgern angeht, so ist es gut, das „Handelsblatt" zu lesen. Da war kürzlich zu lesen: Als neulich Hans-Dietrich Genscher seinen Lambsdorff zum Ludwig Erhard der 80er Jahre ausrief, war die Union tief beleidigt. ({1}) Den wahren Grund für ihre Empörung hat die CDU/CSU in falscher Bescheidenheit aber bisher nicht publik gemacht: In der Union wimmelt es nur so von Erhard-Nachfahren. Wir waren es ja von Herrn Barzel und von Herrn Biedenkopf gewohnt, hier immer große Generalistenreden über Ordnungspolitik zu hören. Auch heute haben wir so eine allgemeine Rede gehört. Diese Reden entbehren leider des Charmes des Konkreten. ({2}) - Herr Blüm, wir warten nach wie vor auf einen ganz konkret argumentierenden Wirtschaftspolitiker der Union, mit dem wir uns Punkt für Punkt konkret auseinandersetzen können. ({3}) Wir Freien Demokraten sind bereit, hier mit allen Seiten des Hauses um ein besseres liberales Wirtschaftskonzept zu ringen. Uns Freien Demokraten ist dabei nicht bange. Wie die Wahl ausweist, hat sich ja die liberale Mitte in Norddeutschland sehr eindeutig für die richtige liberale Partei entschieden. Ich möchte nicht wiederholen, was in vielen Zeitungen stand - nicht, daß sich Herr Kiep auf der Flucht nach Bonn befinde -: daß in Niedersachsen einige ungelöste liberale Fragen zurückblieben. ({4}) Wir können nur hoffen und wünschen - wir meinen dies wirklich ehrlich, Herr Kohl und Herr Kiep -, daß die Union für die nächsten vier Jahre dieser Legislaturperiode ein- und denselben Wirtschaftssprecher hat. Ich glaube, Graf Lambsdorff hätte es wirklich verdient, mal vier Jahre lang einen Partner zu haben. Nur: Die Union verhielt sich auf diesem Gebiet in der Vergangenheit natürlich wenig stabilitätskonform, ja, ausgesprochen inflationär. ({5}) Es läuft j a hier nach dem Motto ab: Wer zählt die Namen? Ich bin erst vier Jahre hier, aber in dieser kurzen Zeit begann es zunächst mit Herrn Barzel, ihm folgte Herr Biedenkopf, dann gab Herr Pieroth ein ganz kurzes Zwischenspiel. Anscheinend konnte sich ein richtiger Unternehmer in der Rolle als wirtschaftspolitischer Sprecher der Union nicht sehr lange halten. ({6}) Nun ist es Herr Kiep, aber nicht allein. Daneben ist Herr Dollinger Ausschußvorsitzender; Herr Waigel ist Arbeitsgruppenleiter, ({7}) und es gibt zusätzlich noch einen zu benennenden Obmann im Wirtschaftsausschuß. ({8}) Alles klar? Wohl kaum. Ich würde der Union sehr empfehlen, für die Presse und für die Verbände ein kleines Brevier zu erstellen, das den Titel trägt: „Who is Who in der Wirtschaftspolitik der Union?" ({9}) Meine Damen und Herren, die Haltung der FDP ist auch hier klarer. Es gibt d e n liberalen Wirtschaftsminister, ({10}) und es gibt einen Sprecher der Fraktion. - Punkt. ({11}) Ich will gerne meinen Eindruck der Reden von Herrn Kiep und Herrn Roth zusammenfassen. ({12}) - Sie sollten nicht so aufgeregt sein; ich hoffe, das legt sich im Laufe der Debatte. - Beide Redner haben appelliert - das ist für mich entscheidend -, die deutschen Arbeitnehmer, die deutsche Politik und die deutschen Unternehmer davon zu überzeugen, daß der gewaltige Strukturwandel, der auf die deutsche Wirtschaft zukommt, von uns aktiv und nicht passiv und resignativ bewältigt werden kann. Dazu bietet die FDP ihre Mitarbeit an. Wir wissen - Herr Hoppe hat dies ja bereits ausgeführt -, daß es nach so vielen generellen Reden und nach soviel Pathos Aufgabe der parlamentarischen Arbeit sein wird, diese großen Reden in die Praxis umzusetzen. Eine Politik des Sich-selbst-Bescheidens - das wissen wir - schafft keine Begeisterung und keine neuen Freunde. Der Zwang, sich zu beschränken, um internationalen Aufgaben gerecht zu werden, bedarf der Begründung. Wenn der Bundeskanzler sagt - ich fand, das war die beachtlichste, wichtigste Passage in seiner Rede -: ({13}) „Draußen geht es um Leben und Tod, bei uns geht es um Einkommen und Auskommen", so heißt das doch, daß auf die deutsche Innen- und damit auch auf die Wirtschaftspolitik in den 80er Jahren ganz gewaltige Herausforderungen zukommen werden. Die Bundesrepublik wird dies nicht - wie in der Vergangenheit - zusätzlich zu immer mehr steigenden innenpolitischen Wünschen aus einem üppigen Wachstum bestreiten können. Ein Liberaler wie Ralf Dahrendorf hat recht, wenn er sagt, die große Konsensusmaschinerie nach dem Motto: Mächtige Interessen werden stets und sofort befriedigt, sei vorbei. Das hat ja auch Herr Kohl gestern in seiner Rede sehr stark betont. Wenn man der neuen Lage gerecht werden will, erfordert dies zunächst ein Sich-Beschränken im Innern. Nun ist Selbstbeschränkung durchaus ein liberales Ziel. Es kann uns von Unnötigem, von Über144 flüssigem entlasten und uns für das Wesentliche freimachen. Carl-Friedrich von Weizsäcker hat im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einer asketischen Kultur davon gesprochen, daß es in den 80er Jahren nicht um eine spartanische Selbstkasteiung im Innern gehen muß, sondern daß es darum geht, die bewußte Konzentration auf das Überlebensnotwendige unserer internationalen Gesellschaft herbeizuführen. Was erfordert dies konkret von der Wirtschaftspoliktik? Wir Freien Demokraten glauben, daß dieser strukturelle Wandel zu einer Renaissance des beweglichen, des veränderungsbereiten Mittelstands führen wird. Der Staat kann und wird nicht mehr aus eigener Kraft alles vorfinanzieren, alle Risiken abdecken können, die Großindustrie weiter stützen können. Wir brauchen also die Tatkraft, die Erfindungsgabe, aber auch den Wagemut von unternehmerischen Menschen. Meine Damen und Herren, deshalb hat Hans-Dietrich Genscher der Mittelstandspolitik in seiner Rede diese zentrale Stellung eingeräumt. Es geht uns hier nicht um irgendeine Abteilung „Struktur- oder Interessenpolitik", sondern es geht den Liberalen hierbei um eine zentrale Frage unserer künftigen Gesellschaftspolitik. Es geht konkret darum, ob wir mit einer Antikonzentrationspolitik, ob wir mit einer Förderung der kleinen Einheit des Überschaubaren neue gesellschaftspolitische Strukturen in der Bundesrepublik anreizen können. ({14}) Deshalb sind viele Menschen aus dem Mittelstand bei dieser Wahl zu den Freien Demokraten zurückgekommen, weil sie das in der Politik der letzten vier Jahre gespürt haben. Genauso sind wieder Arbeiter zu den Sozialdemokraten zurückgekommen. Das hat schließlich zu diesem Erfolg der Koalition geführt. Wir können nur sagen: Diese neuen Menschen aus dem bürgerlichen Mittelstand werden sich auf die Freien Demokraten, auf ihren Wirtschaftsminister und auf die FDP-Fraktion in den nächsten vier Jahren verlassen können. ({15}) Es ist sehr bedauerlich, daß ich mich nicht mit einer einzigen konkreten Forderung von Herrn Kiep zur Mittelstandspolitik hier auseinandersetzen kann. ({16}) Nachdem dies die einzige wirtschaftspolitische Debatte zur Regierungserklärung ist, scheint es mir so zu sein, daß im Moment die Mittelstandspolitik bei der Union zwar in der Abteilung „Allgemeines" vorhanden ist, daß man sich aber noch nicht konkret einigen konnte. Deshalb sage ich für die Freien Demokraten: Wir werden weiterarbeiten, daß die Möglichkeiten des Mittelstands, sich anzupassen, zu forschen, zu innovieren, verbessert werden, daß die Bürokratie - wo immer möglich - abgebaut wird. Aber hier warten wir auf Vorschläge der Verbände, die in sich abgestimmt sind. ({17}) Es geht nicht, wie das bei der Bereinigung des Statistikgesetzes geschah, daß man nachher auf Grund des Einspruchs der Verbände einzelne Maßnahmen zum Abbau der Bürokratie zurücknehmen muß. ({18}) Ich kann auch nur staunen, wenn Herr Kiep davon redet, daß die Forschungsförderung im Mittelstand überbürokratisiert sei. ({19}) Ich kenne eine Menge Programme der baden-württembergischen Landesregierung, die einen hohen Grad an Bürokratie aufweisen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich mit dem zentralen Programm der Bundesregierung zur Förderung der Forschungspersonalkosten vertraut zu machen. Dies ist ein antibürokratisches Programm. Ich kann Ihnen Dutzende von Briefen mittelständischer Unternehmer geben, in denen bestätigt wird, daß dies eine adäquate und wenig bürokratische Form ist. Im übrigen habe ich mich, Herr Kiep, auch über die Bewertung gewundert, daß wir Deutschen fast auf allen Gebieten der Forschung und Entwicklung zwar nicht den Anschluß verloren hätten, aber doch nicht mehr an der Spitze seien. Wenn ich meine baden-württembergischen Betriebe besuche und sehe, was sie auf den Weltmärkten leisten, so teile ich Ihre Meinung nicht. Es wäre gut, wenn wir hier eine Einigung herstellen könnten. Aber für die mittelständischen Unternehmer wird es wichtig sein, daß sie nicht nur dieser allgemeinen wirtschaftspolitischen Debatte zuhören, sondern daß sie sich auch sehr eingehend mit dem beschäftigen, was die Sozialpolitiker der verschiedenen Fraktionen nachher im Deutschen Bundestag vortragen werden. Für den Mittelstand wird es wichtig sein zu wissen, wie die Union - Herr Blüm ist im Moment nicht da, aber ich sehe Herrn Geißler - die zentrale Frage der sozialen Nebenkosten in Zukunft in Angriff nehmen wird, welche Rentenvorschläge von ihr kommen werden, wie Sie ihre familienpolitischen Versprechungen des Wahlkampfes - möglichst kostenneutral - umsetzen wollen. Herr Kiep, einer Ihrer zentralen Punkte bestand ja in der Forderung, man sollte aufhören, die Betriebe im Zusammenhang mit den sozialen Nebenkosten direkt zu belasten. ({20}) Ich kann Ihnen nur raten, sich einmal die zentrale Frage der Lohnfortzahlung in ihrer Wirkung auf den Mittelstand vor Augen zu führen, sozusagen geschichtlich zu untersuchen. Dann werden Sie sehen, welche Große Koalition diese Politik zustande geDr. Haussmann bracht hat - gegen den Widerstand der Freien Demokraten. ({21}) Strukturwandel in einer entwickelten Industriegesellschaft heißt, Raum freizumachen für die Möglichkeiten weniger entwickelter Länder. Wir müssen die Signale richtig stellen. Wir benötigen vorausdenkende Unternehmer, die nicht nur kurzfristig an Gewinnchancen orientiert arbeiten, sondern bereit sind, langfristig zur Lösung internationaler Probleme beizutragen. Wir brauchen Unternehmer à la Schumpeter, die neugierig, weitsichtig, hellhörig sind, die nicht nur reagieren oder klagen, die drohenden Kostendruck durch Innovationen auffangen und bei stärkerem internationalen Wettbewerb nicht nur mit Begehren nach mehr Subventionen oder Protektionismus reagieren, sondern aktiv mit Exportoffensiven, mit mehr Ausbildung und mehr Forschung antworten. Aber nicht nur die Unternehmer sind bei diesem Strukturwandel gefordert. Auch und gerade die Tarifparteien müssen sich auf eine produktiv orientierte Lohnpolitik verständigen. Dadurch werden reale Einkommensverbesserungen möglich sein; das ist in beiderseitigem Interesse. Strukturwandel und Innovation um ihrer selbst willen können keine gesellschaftlichen Ziele sein. Es muß begründet werden, warum wir den Bürgern in unserem Lande diese rasanten Veränderungen, die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und zum Teil die Änderung ihres Lebensstiles zumuten müssen. Die Bürger müssen hierzu gewonnen werden. Das ist nicht allein eine Bringschuld, sondern wir Wirtschaftspolitiker müssen nachweisen, warum das notwendig ist. Wir müssen - davon hat der Bundeskanzler gesprochen - auch die Chancen nennen, die mit diesem Strukturwandel einhergehen. Tausende von Ingenieuren, von Facharbeitern, von Unternehmern werden gefordert. Lassen Sie mich zum Schluß für uns Freie Demokraten noch eine zentrale Bemerkung machen. Auch die Gewerkschaften müssen die Chance haben, mit den Politikern, mit den Wissenschaftlern und den Kapitalgebern offen und ehrlich darüber zu diskutieren, wohin z. B. Automation führt, unter welchen Voraussetzungen Arbeitsplätze wegfallen und warum dadurch auf anderem Gebiete Arbeitsplätze sicherer werden. Unternehmer müssen erklären können, warum sie nur bei profitablen Erwartungen langfristig investieren und Risiken auf sich nehmen. All das ist nur in einem wirtschaftspolitischen Dialog möglich. Daher ist es so entscheidend, daß die deutschen Gewerkschaften und die Vertreter der Kapitalgeber an den runden Tisch der Vernunft des Wirtschaftsministers zurückkehren; ({22}) denn das Thema heißt Strukturfragen. Meine Damen und Herren, dieser Dialog muß stattfinden. Dabei steht viel auf dem Spiel. Es geht um den sozialen Konsens. Ohne diesen sozialen Konsens wird es nicht möglich sein, die großen Strukturfragen der 80er Jahre zu lösen. Vielen Dank. ({23})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es recht zu machen jedermann, ist eine Kunst, die niemand kann, sagt ein deutsches Sprichwort. Gestern habe ich aus der Feder des Vorsitzenden der Jungsozialisten in der Zeitung gelesen: Die die Wirtschaftspolitik betreffenden Teile der Regierungserklärung sehen so aus, als seien sie von Lambsdorff diktiert worden. Heute höre ich von dem Kollegen Kiep: Wir hätten uns etwas mehr von Ihrer Handschrift gewünscht. Verständigen wir uns doch bitte darauf: Dies ist nicht die Regierungserklärung des einen oder des anderen Ministers. Dies ist die Regierungserklärung der Koalitionsregierung Schmidt/Genscher. Dabei bleibt es. Und die trägt gemeinsam die Verantwortung. ({0}) Nun ist jedermann aus der Diskussion der letzten Wochen im Land doch wohl klar geworden, daß mit überspannten Erwartungen über große Zukunftsgemälde, insbesondere erfreuliche und Erleichterungen verheißende Zukunftsgemälde, nicht gerechnet werden konnte. Was kann man erwarten von einer Regierungserklärung in einer Situation, in der es nicht mehr sehr viel zu verteilen gibt? Wir stimmen doch überein, daß die Wachstumsspielräume in den nächsten Jahren begrenzt sind. Wir wissen doch, daß die deutsche Wirtschaft unter einem starken strukturellen Anpassungszwang steht. Dennoch habe ich - lassen Sie mich das persönlich sagen - den Eindruck, daß die Erwartungshorizonte bei uns im Land und auch hier im Haus teilweise immer noch zu hoch sind. ({1}) Auch der Kollege Kohl hat gestern von sehr wünschenswerten - ich möchte das dreimal dick unterstreichen - Dingen wie Erziehungsgeld, Partnerschaftsrente und Mutterschaftsgeld für die nicht berufstätige Frau gesprochen. Wir diskutieren über die 70prozentige Rentengarantie. Ich unterstreiche noch einmal: Alles sehr wünschenswert. Aber erlauben Sie meinen persönlichen Zweifel, daß dies alles, und dann noch in kurzer Frist, möglich sein wird. Ich glaube dies nicht. Wenn ich dann noch hinzurechne, Herr Kiep, daß Sie mit vollem Recht auf die internationalen Anforderungen hingewiesen haben, die unseren Spielraum weiter beengen, dann sage ich: Wir müssen immer noch ein Stück von unseren Erwartungen runterkommen. Die Regierungserklärung hat versucht, die Erwartungshorizonte herunterzuziehen. Sie hat klargemacht, daß im Vergleich zu 1978 im Jahr 1981 wegen der Ölrechnung 30. Milliarden DM weniger Kauf146 kraft in diesem Land zur Verfügung stehen, die binnenwirtschaftlich durch nichts ersetzt werden können. Diese Aufklärung muß fortgesetzt werden. Diese Überzeugungsarbeit müssen wir alle leisten. Ich glaube, auch die Opposition sollte sich - ich begrüße, was Herr Kiep dazu gesagt hat - dem nicht verschließen. ({2}) Im übrigen frage ich mich, wie wohl das Presseecho gewesen wäre, wenn der Bundeskanzler der Welt eine Regierungserklärung ohne dieses Maß von Skepsis geliefert hätte. Von „Traumtänzer" bis zu „Leichtfertigkeit" hätten die Überschriften dann gelautet. ({3}) Und nun sage ich an die Adresse der Kollegen Kohl und Gansel: Es stimmt nicht, daß wir dies vor der Wahl alles verschwiegen hätten. ({4}) Ich habe persönlich in der ersten großen Fernsehdiskussion in einer Schlußbemerkung gesagt: Wir werden es als eine große Leistung feiern können, wenn die Bundesrepublik Deutschland in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation am Ende der jetzt beginnenden Legislaturperiode, für die wir Wahlkampf führen, so dastehen wird, wie im Jahr 1980. Mehr ist nicht drin. ({5}) Und ich sage auch hier, auch wenn das unpopulär ist: Die Zeiten, in denen man immer weniger arbeiten und gleichzeitig immer mehr verdienen konnte, sind für eine Weile vorbei. Es geht nicht mehr. Ich habe es auf jedem Marktplatz gesagt, auf dem ich gesprochen habe. ({6}) Deswegen lasse ich mir nicht nachsagen, wir hätten diese Wahrheiten verschwiegen. Wir brauchen dafür Beharrlichkeit und Leistungswillen; keineswegs Resignation. Wir alle müssen unsere Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Gerade deswegen ist es notwendig, von Mut zur Zukunft zu sprechen - nicht im Sinne von „Blut, Schweiß und Tränen", aber wohl im Sinne von etwas mehr Bescheidenheit, von etwas mehr Anstrengung aller. Ist es denn so schlimm, wenn man den Gürtel ein Loch enger schnallen muß? Ich weiß nicht, ob die mir zuteil gewordene medizinische Auskunft richtig ist, daß die weitestverbreitete Gesundheitsstörung in der Bundesrepublik Übergewicht ist. ({7}) - Ich schließe mich ein, Herr Waigel. Meine Damen und Herren, die Schwierigkeiten, vor denen die Wirtschaft heute steht, sind erheblich; das wissen wir. Vor 35 Jahren war unsere Aufgabe. Aufbau aus dem Nichts. Heute geht es „nur" darum, den Hochleistungsproduktionsapparat in Teilbereichen auf die Anforderungen der 80er Jahre umzurüsten. Das ist Strukturwandel. Der ist schwierig genug. Er stellt die Herausforderungen, die Herr Kollege Haussmann genannt hat. Wir müssen seine Notwendigkeit den Menschen im Lande erklären. Aber wir brauchen - das sage ich an die Opposition, indem ich den Sachverständigenrat zitiere - nicht die Hypothek einer gescheiterten Wirtschaftspolitik abzufragen. So wörtlich der Sachverständigenrat in seinem Gutachten dieses Jahres. ({8}) Wir haben damals auf die Marktkräfte gesetzt. Das war die entscheidende ordnungspolitische Grundorientierung. Diese Marktkräfte haben sich als außerordentlich wirksam erwiesen. Ich plädiere dafür, daß wir uns den Herausforderungen der 80er Jahre mit denselben Prinzipien stellen, wie wir es vor 35 Jahren getan haben. Hier, Herr Kiep, sind wir selbstverständlich gern bereit, die ordnungspolitische Debatte mit Ihnen genauso weiterzuführen, wie wir sie mit Ihren Vorgängern, vor allem - Herr Roth hat es schon erwähnt - mit Herrn Biedenkopf, geführt haben. Sie werden sich auch sehr bald in der Situation befinden, wie wir es bei Herrn Biedenkopf häufig erlebt haben: daß die Diagnose einfach ist und die Therapie und ihre Anwendung hinterher Kompromisse notwendig machten. Aber ich bin sehr einverstanden, wenn hier zum erstenmal seit langer Zeit aus den Reihen der Opposition wieder Wilhelm Röpke mit „Jenseits von Angebot und Nachfrage" zitiert wird, der für mich der Schlüssel zum politischen Verständnis sozial verpflichteter Marktwirtschaft gewesen ist. Wenn ich nun allerdings sehe, meine Damen und Herren - ich sage das nicht vorwurfsvoll; das ist aus der Ferne, wenn der Kontrahent nicht dabei ist, nicht in Ordnung -, wie z. B. Ihre Fraktion und Ihre Partei mit den wohnungspolitischen Anregungen von Herrn Biedenkopf vor zwei Jahren umgesprungen ist, dann muß ich sagen: Nichts ist übriggeblieben! Oder welche Positionen in Sachen Kohle und Stahl er heute im Landtag von Nordrhein-Westfalen einnimmt! Ich werfe ihm die Kompromisse nicht vor. Aber die reine Ordnungspolitik allein macht die Politik eben nicht aus. Ich wäre der letzte, Herr Kiep, der meinem verehrten Vorgänger Karl Schiller etwa vorwerfen wollte, er habe kein ordnungspolitisches Rückgrat gehabt. Nur nehme ich zur Kenntnis, daß bei Ihnen immer die Wirtschaftsminister in Ordnung sind, die zurückgetreten sind. Ich werde Ihnen aber den Beweis hierfür nicht so schnell liefern; keine Sorge! ({9}) Ich schließe mich der Aufforderung des Kollegen Haussmann an, Herr Kiep: Bleiben Sie ein bißchen länger hier als Ihre Vorgänger! Ihr Vergleich mit dem Hafenviertel, Herr Kiep, und der Sittenstrenge macht mich natürlich sehr bedenklich: daß Sie Ihre einschlägigen Kenntnisse für Hamburg schon jetzt an diesem Podium zitieren wollen. ({10}) Meine Damen und Herren, Innovation und Wettbewerb, so hat es der Bundeskanzler in der Regierungserklärung gesagt, sind auch in diesem Jahrzehnt unsere große Chance. Das ist gemeinsamer Grundkonsens der sozialliberalen Koalition. Wir brauchen nicht in Resignation und Pessimismus zu verfallen. Wir können mit Zuversicht nach vorn blikken. Wir müssen nur das dynamische Potential in unserer nach wie vor leistungsfähigen deutschen Wirtschaft - bei Arbeitnehmern und Unternehmern - nutzen und nicht behindern. Ja, es geht um die Bewältigung der Leistungsbi- lanzprobleme. Zuerst ist doch das Leistungsbilanzdefizit durch die hohe Ölrechnung entstanden, d. h. die Antwort muß auch in der Energiepolitik in erster Linie das „weg vom Öl" sein. Ich sage auch hier meine klare Position, die ich immer ausgesprochen habe: daß es ohne die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht zu schaffen sein wird. ({11}) Wir werden in absehbarer Zeit wieder eine energiepolitische Diskussion führen. Ich bin mit Herrn Roth und im übrigen auch mit dem Bundesinnenminister völlig einig - hier, Herr Kiep, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten -, daß die Sicherheitsfragen vor Wirtschaftlichkeit gehen, daß es aber notwendig ist, wie wir es in der Regierungserklärung gesagt haben, die Genehmigungsverfahren daraufhin zu untersuchen, ob sie ohne jede Einbuße an notwendiger Sicherheit beschleunigt werden können. Zweitens, meine Damen und Herren: Es ist natürlich notwendig, daß wir in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit über die Handelsbilanz, über Erfolge im Export zum Abbau des Leistungsbilanzdefizits beitragen. Es ist richtig, daß es um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit geht. Es geht aber ganz besonders um den Erhalt eines hohen Beschäftigungsstandes. Hier sollten wir daran erinnern - Herr Kollege Roth, ich füge das dem hinzu, was Sie gesagt haben -: Es geht nicht nur um die Erhaltung der vorhandenen Arbeitsplätze, sondern auch - stärkere Jahrgänge drängen auf den Arbeitsmarkt - um die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Deshalb ist in meinen Augen die Devise nicht die Umverteilung vorhandener Arbeit - .das ist ein defensives Rezept -, sondern die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Strukturwandel, durch Innovation. ({12}) Wir müssen offensiv und nicht defensiv antworten. Damit lösen wir die Probleme der 80er Jahre nicht. Die Bewältigung dieser Anpassung ist aber in erster Linie eine Aufgabe der Wirtschaft selbst. Ihre Innovation, ihr Erfindergeist ist gefragt, nicht der Ruf nach dem Staat. ({13}) Investitionsbereitschaft und Erneuerung, meine Damen und Herren, ist die Devise. Ich behaupte: Wenn wir unsere Probleme meistern wollen, dann müssen die 80er Jahre ein Jahrzehnt der Investitionen und nicht in erster Linie ein Jahrzehnt des Konsums sein. ({14}) Gerade den kleinen und mittleren Unternehmen - ich stimme dem voll zu, was der Kollege Haussmann dazu gesagt hat - bieten sich hier Chancen. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik: Sie hat die Aufgabe, die Wirtschaft in ihrem Bemühen zur Bewältigung dieses Wandels zu unterstützen. Das bedeutet in der Marktwirtschaft: nicht ständiges Hineinreden in Unternehmensentscheidungen, sondern die Setzung günstiger wachstumspolitischer Rahmenbedingungen - dies haben wir in den vergangenen Jahren zunehmend getan -, d. h. konkret: Erhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbes. Es ist richtig, Herr Kiep, daß Marktwirtschaft und liberale Wirtschaftspolitik, insbesondere bei der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs, einen starken Staat benötigen und nicht den Nachtwächterstaat, den uns manche nachsagen wollen. Das bedeutet die Absage an den Protektionismus und die Öffnung der Märkte. Wir werden die Unterstützung auch der Opposition brauchen. Nach einer Diskussion, die ich vor zwei Tagen im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft über das Problem Japan-EG geführt habe, sage ich: Wir werden die Unterstützung aller in diesem Hause brauchen, wenn wir in der Welt gegen Protektionismus und für offene Märkte - auch im Interesse der Dritten und Vierten Welt - erfolgreich streiten wollen. Hier deckt sich doch das Interesse der Dritten und Vierten Welt mit unserem: Unser Exportanteil am Bruttosozialprodukt beträgt 26 %. Kein Industrieland der Welt ist so abhängig vom Export, so abhängig von offenen Märkten, muß sosehr darum bemüht sein, daß protektionistische Maßnahmen unsererseits nicht zur Vergeltung von anderer Seite führen. Es ist das gemeinsame Interesse aller in diesem Lande Lebenden, für offene Märkte zu sorgen. ({15}) Und schließlich: Wir werden unsere Probleme bewältigen. Aber wir müssen, um unsere Probleme zu bewältigen, Investitionshemmnisse abbauen. Es ist der reine Zufall, meine Damen und Herren - es ist . keine geheime Verschwörung -, daß der Sachverständigenrat für den Abbau von Investitionshemmnissen exakt dieselben Problemfelder aufzeigt, wie sie in der Regierungserklärung enthalten sind und wie ich sie in den letzten Wochen immer wieder vorgetragen habe. Dazu gehört z. B. - ich will das kurzmachen - die Kommunikationstechnik. Es ist völlig klar, daß im Zusammenhang mit der Kommunikationstechnik und der Verwendung der auf diese Weise entstehenden Möglichkeiten die bildungspolitische, pädagogische, medienpolitische Debatte geführt werden muß. Die Bundesregierung stellt sich dieser Diskussion. Das, worum es uns jetzt geht, sind die Investitionsmöglichkeiten und danach die Möglichkeiten der industriellen Nutzung neuer Netze. Und, meine Damen und Herren: Hier geht es um eine Technologie, die neue, hochqualifizierte Arbeitsplätze schafft. Es geht um Produktivität und Wettbewerb. Es handelt sich exakt um das, was der Kollege Willy Brandt gestern gefordert hat, nämlich um eine umweltfreundliche Produktion. ({16}) Es geht auch um den Wohnungsbau. Nach wie vor sind die Hemmnisse erheblich. Aber ich denke, die Beschlüsse, die jetzt gefaßt worden sind, sind - nach 60 Jahren administrierter Wohnungswirtschaft - wichtige Schritte in die richtige Richtung. ({17}) - Doch, ich glaube sehr wohl daran, Herr Jahn. Ich glaube sehr wohl daran, daß das die ersten richtigen Schritte sind. - Wohin müssen diese Schritte zielen? Wenn wir mehr Geschoßwohnungsbau, also Mietwohnungsbau, in der Bundesrepublik wollen - niemand bestreitet, daß das notwendig ist -, dann brauchen wir dafür Geld. Die öffentliche Hand hat dieses Geld nicht. Also müssen wir privates Geld zum Investieren bringen. ({18}) - Das muß ich Ihnen sehr wohl nach der Diskussion sagen, die Sie vor zwei Jahren in Ihrer Partei geführt haben und in der Sie die Anregungen - ich habe es schon erwähnt - von Herrn Biedenkopf abgewürgt haben. Ich bin dem Koalitionspartner - ich sage das offen - dankbar, daß er in einigen dieser Fragen über seinen Schatten gesprungen. ist und einsieht, daß nur ein vermehrtes Wohnungsangebot auf Dauer dazu führen kann, daß kein Wohnungsmangel eintritt und daß man hoffentlich auch einmal wieder zu besseren Konditionen Wohnungen in der Bundesrepublik Deutschland findet. Man muß die öffentlichen Mittel auf den Bereich konzentrieren, der es wirklich aus sozialen und einkommensmäßigen Gründen nötig hat. Heute sitzen, wie wir alle wissen, die falschen Leute in Wohnungen, in die sie nicht hineingehören. ({19}) Der dritte Punkt bei den Investitionshemmnissen ist mit dem Stichwort Kraftwerksbau nicht genügend umschrieben. Es geht nicht etwa - um diesem Mißverständnis vorzubeugen - ausschließlich um Kernkraftwerke, aber es geht auch nicht nur um Kraftwerke. Es geht vielmehr um industrielle Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir unseren Beschäftigungsstand halten wollen, wenn wir akzeptieren - und ich denke, dies haben wir zu akzeptieren, es sei denn, wir wollten völlig andere Lebensverhältnisse bei uns einführen -, daß dies ein auf industrieller Produktion und industriellem Ertrag beruhendes Land mit seiner Volkswirtschaft und seinem Sozialsystem ist, dann muß es natürlich auch möglich sein, dafür Standorte zu finden. Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß es den Wirtschaftsminister besorgt stimmt, wenn er z. B. hört, daß eine große Mineralölgesellschaft, die die Absicht hatte, eine Milliarde DM in eine Kohleveredelungsanlage in Norddeutschland zu investieren - ohne öffentliche Zuschüsse -, wegen Schwierigkeiten im Genehmigungsverfahren diese Investition nach Rotterdam verlegt. Ich habe an dieser Stelle mehrfach gesagt, daß der Streit über Kohleveredelungsanlagen und darüber, wer die erste wird bauen dürfen und wer die ersten öffentlichen Unterstützungen erhält, danach beantwortet werden wird, wer den ersten dafür geeigneten Standort anbietet. Ich sehe, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, mit Interesse - ich habe es nicht anders erwartet; ich kritisiere es noch nicht einmal - die lebhafte Diskussion innerhalb Ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen über die Frage, wo denn diese Anlagen eigentlich hinkommen können. Ich verstehe das sehr wohl. Eine Kohleveredelungsanlage entspricht vier Kohlekraftwerken, was die Umweltbelastung anlangt. Aber wir müssen diese Fragen lösen. Wir müssen sie in vernünftigen, ausgewogenen Kompromissen lösen, die für alle Seiten tragbar sind. Wir müssen auch wissen, meine Damen und Herren, daß Beschäftigung durch Investitionen gesichert werden muß und daß für Investitionen Energiekosten eine entscheidende Rolle spielen. Ich sehe mit Interesse, daß unser Nachbarland Frankreich in Südwestdeutschland mit dem Argument um die Ansiedlung deutscher Unternehmen in Frankreich, auf der anderen Seite des Rheins, wirbt, daß langfristig die Energiekosten in Frankreich günstiger sein könnten als bei uns. ({20}) Ich sehe mit ebensolchem Interesse, welche Vorschläge der Dortmunder Oberbürgermeister zur Behebung der Probleme in seinem Raum in den letzten Tagen gemacht hat. Fazit: Wir haben mit großer Aufmerksamkeit die Anregungen zur Kenntnis genommen, so etwas wie ein Zukunftsinvestitionsprogramm II - übrigens ist diese Forderung ein Kompliment für das Zukunftsinvestitionsprogramm I; ich teile das ({21}) auf die Beine zu stellen. Aber ich sage Ihnen: in den drei Bereichen, die ich hier genannt habe, steckt im Vergleich zu jedem aus öffentlichen Haushalten finanzierbaren Investitionsprogramm ein Vielfaches an Investitionspotential. Ich schätze es auf viele Milliarden DM. Gewiß gehört zu den Rahmenbedingungen auch das Verhalten der Tarifpartner. Mitverantwortung - nichts von Privatisierung, Herr Roth; die kann es nicht geben; da sind wir völlig klar; Privatisierung des Beschäftigungsrisikos ist nicht möglich - für Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung liegt bei allen. Darüber bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. Sie bestehen - bei sorgfältigem Lesen - auch nicht zwischen den Mitgliedern des Sachverständigenrates, wie man es auf Grund des Minderheitenvotums von Professor Glastetter annehmen könnte. Auch er weist in seinem Minderheitenvotum darauf hin, daß der Verteilungsspielraum eingeengt ist und daß den Tarifparteien im Wirtschaftsgeschehen Mitverantwortung zukommt. Ich begrüße es, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund dieses Sondervotum ausdrücklich gutgeheißen hat. Das ist eine Plattform, auf der man sich einander annähern kann. Es bestehen keine Gegensätze zwischen Sachverständigenrat, Bundesregierung und Gewerkschaften in dem einen entscheidenden Punkt. Alle müssen die Lasten der Ölrechnung und des Anpassungsdrucks gemeinsam und gerecht, füge ich hinzu, miteinander tragen. Anders geht es nicht. Das gilt auch - das sage ich an uns und auch hier an dieses Haus - für die Lohnnebenkosten. Jede weitere Belastung ist zur Zeit von Übel und muß aufs sorgfältigste bedacht werden, insbesondere wenn wir den internationalen Vergleich zwischen Lohnnebenkosten in unserem Lande und Lohnnebenkosten in anderen Ländern sehen. ({22}) Herr Kiep, hier brauche ich nicht zu wiederholen, was der Kollege Haussmann zur arbeitsrechtlichen Lösung der Lohnfortzahlung gesagt hat. Ich brauche nur noch hinzuzufügen, daß Sie diesem Gesetz in diesem Hause zugestimmt haben. ({23}) Unabdingbar ist in den Augen der Bundesregierung eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik. Inflation löst überhaupt keines unserer Probleme. Im Gegenteil, sie schafft neue, und sie verschärft die alten. Deswegen werden sich Finanzpolitik und Geldpolitik auch in Zukunft um eine Stabilitätsorientierung so erfolgreich bemühen, wie das bisher der Fall gewesen ist. Die Finanzpolitik wird die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte - ich will dem Finanzminister und der späteren Debatte nichts vorwegnehmen - einleiten und als einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Vertrauens in den Staat anstreben. Andererseits gilt es natürlich, dabei zu vermeiden, daß rezessive Wirkungen durch kurzfristig überzogene Ausgabebeschränkungen entstehen. Es ist wichtig, daß wir im Jahr 1981, jetzt also, den Abbau des strukturellen Haushaltsdefizits in Angriff nehmen. Auch der Sachverständigenrat erkennt die vorgesehenen Maßnahmen der Bundesregierung als ersten Schritt in diese Richtung an. Ich glaube nicht, daß zur Überwindung der derzeitigen Schwierigkeiten die konjunkturelle Feinsteuerung im Sinne von Nachfragesteuerung geeignet sein könnte. Es handelt sich in allererster Linie um strukturelle Probleme. Statt dessen kommt es auf eine konsequente Fortsetzung der Politik zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen an, um die unternehmerische Investitionsbereitschaft zu stärken, und dabei kommt der Förderung der mittelständischen Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Auch eine solche Politik hat im übrigen derzeit durchaus erwünschte Nachfrageeffekte. Denken Sie an das Steuerpaket, das jetzt in Kraft tritt, das bereits ab 1980 sowohl konjunkturstützend als auch leistungssteigernd wirken wird. Nur darf ich um eines bitten, was auch gestern in der Debatte hier - ich glaube von Herrn Kohl - wieder vorgetragen wurde. In keinem auf Progression aufgebauten Steuersystem - das wollen wir wohl alle, das werden wir nie ändern - wird es bei der Lohn- und Einkommensteuer anders sein, als daß Einmal-Zahlungen bei jährlicher Einkommensberechnung einem besonders hohen Zugriff unterliegen. Es ist Irreführung der Öffentlichkeit, so zu tun, als ob der Steuersatz bei der Weihnachtszahlung oder beim Urlaubsgeld, der einmal im Jahr von oben her draufgerechnet werden muß, als ob diese Progressionswirkung in Wahrheit die Durchschnittsbelastung der Bürger in unserem Lande wäre. ({24}) Für Expansionsprogramme der Finanzpolitik, die über das hinausgehen, was ich hier gesagt habe, besteht in meinen Augen kein Raum. Die nachfrageorientierte Globalsteuerung ist zur Zeit nicht angezeigt. Zusätzliche Maßnahmen würden die Staatsverschuldung drastisch erhöhen und sich lähmend auf die Investitionsneigung auswirken. Ich möchte versuchen, dies noch einmal deutlich zu machen. Eine Rieseninvestitionsankündigung der öffentlichen Hand auf einem bestimmten Gebiet, insbesondere wenn es über den Straßenbau und die öffentliche Infrastruktur hinausgeht, muß doch beim privaten Investor zu der Schlußfolgerung führen, daß er sich einem solchen Wettbewerb mit nahezu unbegrenzten Finanzmitteln nicht stellen kann; sie muß doch dazu führen, daß er dann seine Investitonsbereitschaft zurückstellt. Deswegen haben Ankündigungen öffentlicher Investitionen, wenn sie nicht ganz sorgfältig überlegt sind, kontraproduzente Wirkung. Kennzeichnend für die Wirtschaftsprobleme heute sind strukturelle Verzerrungen, und staatliche Ausgabenprogramme können dem gar nicht Rechnung tragen; sie würden die Inflation in meinen Augen befördern. Meine Damen und Herren, wenn ich gesagt habe, Finanz- und Geldpolitik müssen dem Rechnung tragen, dann ist es natürlich so, daß die Geldpolitik am Ziel der Geldwertstabilität ausgerichtet bleiben muß. Sie müssen gleichzeitzig - und das ist doch ihre Schwierigkeit - heute den Wachstumskräften der Wirtschaft hinreichenden monetären Spielraum einräumen. Heute tagt der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank und wird das Geldmengenziel für 1981 festsetzen. Wir begrüßen, daß er diese Absicht hat. Wir kennen das Ergebnis noch nicht. Aber im Sinne einer Verstetigung der Politik, einer Verläßlichkeit der Daten ist es notwendig und sinnvoll, auch für das nächste Jahr ein Geldmengenziel zu bekommen, ohne daß wir deswegen, Herr Kollege Roth, nun in den vollen Monetarismus verfallen würden. Lassen Sie mich bei der Gelegenheit - ich weiß nicht, ob Herr Gansel im Hause ist - ein Wort sagen: Ich las heute in der Zeitung ein Interview des Herrn Gansel. Er sagte dort, die „Chicago-Boys aus dem Hause Lambsdorff" dürften nicht die Oberhand gewinnen. Ich weiß, was damit gemeint ist, meine Damen und Herren, aber vielleicht empfiehlt sich ein etwas pfleglicherer Umgang mit den Mitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums in öffentlichen Äußerungen. Attackieren Sie bitte mich, aber nicht die Beamten des Hauses! ({25}) Meine Damen und Herren, die Verfolgung eines solchen potentialorientierten Kurses erfordert angesichts der derzeitigen außenwirtschaftlich stark begrenzten Handlungsräume eine schwierige Gratwanderung der Deutschen Bundesbank zwischen binnen- und außenwirtschaftlichen Erfordernissen. Herr Kohl hat gestern hier formuliert: „Die Hochzinspolitik, mit der wir uns gegenwärtig ausländisches Geld besorgen". Meine Damen und Herren, binnenwirtschaftlich ist das eine Hochzinspolitik; außenwirtschatftlich haben wir immer noch niedrige Zinssätze. Die Prime-Rate in New York ist gestern auf 17 % heraufgegangen. ({26}) Und eben deswegen ist ja die Bundesbank gezwungen, ihre Zinsen hochzuhalten, um noch stärkere Kapitalabflüsse und damit eine weitere Belastung der Leistungsbilanz zu verhindern. - Wenn Sie, Herr Pieroth, dazwischenrufen: „Nicht real", dann ist das zwar richtig. Der Realzins bei uns ist hoch. ({27}) - Nein, das hilft eben überhaupt nichts in einer Zeit, in der die Aufwertungserwartung für andere Währungen zu dem hohen Zinssatz gegenüber der D-Mark noch hinzukommt. Wir stecken in der Tat in einer mißlichen Situation. Wir können nur hoffen - ich bin im Grunde davon auch überzeugt, aber in diesen Fragen sollte man sich nur sehr vorsichtig äußern -, daß die Fundamentalfaktoren der deutschen Währung, nämlich unsere stabilitätspolitischen Vorzüge gegenüber anderen Währungen, sich auch in der Bewertung der Wechselkurse in absehbarer Zeit wieder bemerkbar und fühlbar machen werden. Meine Damen und Herren, ich möchte dem, was der Kollege Haussmann zum sozialen Grundkonsens gesagt hat, nicht viel hinzufügen. Die Bundesregierung ist fest davon überzeugt, daß sozialer Grundkonsens notwendig ist und eine der Grundlagen für unseren wirtschaftlichen Erfolg in der Vergangenheit, eine der Voraussetzungen für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Zukunft ist. Das hindert mich nicht - Sie wissen das, und ich weiß, daß das nicht jedem im Hause gefällt -, gelegentlich auch ein offenes Wort an die gesellschaftlichen Gruppen zu richten - wie mancher meint, ein zu offenes Wort. Sie können sich darauf verlassen: nicht nur in einer Richtung, in beiden Richtungen. In einem pluralistischen Staat muß die Entscheidung letztendlich bei den gewählten Vertretern und bei der gewählten Regierung bleiben. Das zweifelt niemand an. Es darf aber auch kein anderer Eindruck entstehen. Für diese Politik stehen wir. Ich sage noch einmal: Es besteht kein Anlaß zu Pessimismus. Es besteht kein Anlaß zur Resignation. Wenn ein Land in der Lage sein sollte, auch unter den schwierigen Gegebenheiten der 80er Jahre seine Probleme zu lösen, zur Lösung weltwirtschaftlicher Probleme beizutragen, welche Volkswirtschaft um alles in der Welt sollte es denn schaffen können, wenn die unsere es nicht kann! Ich bin zuversichtlich. Die Bundesregierung ist zuversichtlich. Wir bitten dafür um die Unterstützung dieses Hauses in den nächsten vier Jahren. - Vielen Dank. ({28})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Ministerpräsident Dr. Stoltenberg. Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer konfliktreichen Zeit - unter dem Vorzeichen vieler aktueller Enttäuschungen und Erschütterungen - ist die Verantwortung des Gesamtstaates besonders gefordert. So hat auch- der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Bundesländer und die Verfassungsorgane wie den Bundesrat mehrfach angesprochen. Die zentralen Themen der Innenpolitik berühren Bund und Länder sowie auch die kommunale Selbstverwaltung gemeinsam. Deshalb ist es von großer Bedeutung, wie sich die Beziehungen dieser drei Ebenen politischen und staatlichen Handelns in Zukunft entwickeln. Reibungspunkte und Spannungen sind auch hier ohne Zweifel in letzter Zeit größer geworden. Zugleich gilt aber nach meiner Überzeugung - auch im Rückblick auf die letzte Wahlperiode -: unsere bundesstaatliche Verfassung hat trotz mancher Konflikte und Verspannungen ihre Funktionsfähigkeit voll bewiesen. Auch die Bilanz der Tätigkeit des Bundesrates in den vergangenen Jahren beweist das. Seine Debatten und seine Entscheidungen waren durch Augenmaß, durch den Willen zur Zusammenarbeit, durch die Bereitschaft zum Kompromiß in der Gesetzgebung bestimmt. Dabei ist - ich sage das im Hinblick auf eine besonders kritische Passage des Bundeskanzlers an die unionsgeführten Länder hier noch einmal, was im Grunde eine bare Selbstverständlichkeit ist - vollkommen klar, daß neben der Vertretung der besonderen Interessen der Einzelländer auch politische Überzeugungen zum Tragen kommen, wenn wir an der Bundesgesetzgebung mitwirken. Auch wir, die Regierungen der Länder, haben unser Mandat auf Grund von demokratischen Wahlen. Wir liefern unsere politischen Grundwerte und Überzeugungen nicht an der Garderobe ab, wenn Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({1}) wir in dieses Hohe Haus gehen, um dort im anderen Flügel abzustimmen. ({2}) Das gilt für die sozialdemokratisch geführten Bundesländer - auch in der öffentlichen Begründung ihres Handelns - genauso wie für die unionsgeführten Länder. Aber ich will hier noch einmal unterstreichen, weil es eine Rolle spielte: das Handeln war auch in den schweren Konflikten der jüngsten Zeit durch Augenmaß bestimmt. Dazu nur für die letzte Wahlperiode zwei, drei Zahlen. Von insgesamt 485 Gesetzentwürfen, die in den verflossenen vier Jahren den Bundesrat beschäftigt haben - im wesentlichen natürlich Entwürfe der Bundesregierung und der Koalition -, sind ganze 14 an seiner Ablehnung gescheitert. 14 von 485! Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Koalitionsparteien, die Zahl der Gesetzentwürfe, die in den Ausschüssen dieses Hohen Hauses liegengeblieben sind, ist wesentlich größer als die der Gesetzentwürfe, die im Bundesrat abgelehnt wurden. ({3}) Das gilt auch für die Regierungsvorlagen. Nun ist unverkennbar, daß wir gegen Schluß der letzten Wahlperiode erhebliche Konflikte hatten, vor allem durch die Ablehnung sieben kostspieliger und sehr komplizierter Gesetzesbeschlüsse des Bundestages, die Milliarden Mehrausgaben vor allem für Länder und Gemeinden, aber auch für den Bund gebracht hätten. Ich nenne hier noch einmal die Stichworte für die drei wichtigsten Beispiele: Verkehrslärmschutz, Jugendhilfe und eine weitere Stufe des Strafvollzuges. Dies hat uns auch vor der Wahl manche Kritik der SPD und der FDP eingetragen. Aber ich will im Rückblick unterstreichen - angesichts der schlimmen finanziellen Eröffnungsbilanz der neuen Wahlperiode, die nun dieses Hohe Haus und die Öffentlichkeit so bewegt -: diese Entscheidung der Mehrheit des Bundesrates ist für mich im Rückblick der einzige konkrete zukunftweisende Beitrag vor der Wahl für einen Kurs der finanzpolitischen Verantwortung und der Vernunft gewesen. ({4}) Das sage ich gerade auf dem Hintergrund vieler Diskussionen dieser Tage. Meine Damen und Herren, Wir brauchen die Auseinandersetzungen des Wahlkampfes und auch das, was wir da von dem Bundeskanzler vor dem 5. Oktober hörten, hier nicht im einzelnen aufzunehmen. Das eine oder andere muß sicher noch weggeräumt werden, nicht unbedingt in dieser Debatte. Ich will sagen, daß die Regierungserklärung dabei vielleicht einen Anfang gemacht, aber noch nicht das Ergebnis erzielt hat. Das will ich auch mit einigen Punkten belegen. Die Eröffnungsbilanz nach dem 5. Oktober, der Verlauf und das Resultat der Koalitionsverhandlungen geben den Kritikern der bisherigen Haushaltsund Finanzpolitik der Bundesregierung im Kern recht; darüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. ({5}) Es gehört nach meiner Einschätzung zu den Versäumnissen der Regierungserklärung, daß wir für die Zukunft keine deutliche Aussage über die Haushalts- und insbesondere Verschuldungspolitik gehört haben. Der verehrte Graf Lambsdorff hat das soeben mit einem Satz nachgetragen, den ich voll unterstreichen kann. Nur, sehr verehrter Herr Wirtschaftsminister, dies findet sich nicht in der Regierungserklärung. Das ist genau Ihr Problem, auch Ihr persönliches Problem, auf das ich nachher noch einmal zurückkomme. ({6}) Dieses Fehlen jeder Aussage der Bundesregierung in ihrem gemeinsamen Dokument der Regierungserklärung zum Thema Konsolidierung der Haushalte, zum Thema Eingrenzung der Neuverschuldung über das Jahr 1981 hinaus wird um so deutlicher, wenn man die vergleichbare Rede des Herrn Bundeskanzlers zu Beginn der vergangenen Wahlperiode vom 16. Dezember 1976 noch einmal nachliest. Damals - vor vier Jahren -, Herr Bundeskanzler, haben Sie hier vorgetragen - ich zitiere: Nunmehr muß die bereits eingeleitete Konsolidierung aller öffentlichen Haushalte fortgesetzt werden. ({7}): Viel Glück!) Das gilt für den Bund für die Länder und Gemeinden. Noch mehr als die notwendige Hinnahme hoher Defizite bedarf nunmehr auch deren spürbarer Abbau einer gemeinsamen Kraftanstrengung ..

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jens? Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}): Ja, sehr gerne, obwohl ich mitten in einem Gedankengang bin; aber ich will Ihnen nicht ausweichen, Herr Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident Stoltenberg, halten Sie angesichts der Tatsache, daß das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung für das kommende Jahr eine rasante Abschwächung der wirtschaftlichen Entwicklung voraussagt, angesichts dieser Fakten, die auch vom Sachverständigenrat bestätigt werden, nun einen rapiden Abbau der Neuverschuldung im kommenden Jahr für sinnvoll? Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}): Aber Herr Kollge Jens, ich bin hier bei der Bewertung einer Zielvorstellung der Finanzpolitik für die kommenden vier Jahre. Ich werde mir erlauben, auf die Wirkung Ihrer Finanzbeschlüsse für 1981 in der Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik noch besonders und sehr kritisch einzugehen. Ihre Erwartungen werden voll erfüllt, wenn ich Ihnen das sagen darf. Aber das sind zwei verschiedene Dinge. Ich Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({1}) möchte im Augenblick meinen Gedankengang fortsetzen. Diese 1976 vom Herrn Bundeskanzler angekündigte Kraftanstrengung zur Konsolidierung - das heißt doch wohl: zur Schuldeneingrenzung und zum Schuldenabbau - ist in den vergangenen vier Jahren niemals unternommen worden; das muß man in aller Deutlichkeit sagen. ({2}) Im Gegenteil, in dieser Zeit wirtschaftlichen Wachstums ist die öffentliche Verschuldung, vor allem des Bundes, dramatisch und in vorher nicht gekannter Weise angestiegen. Ich brauche die gestern hier im einzelnen genannten Zahlen nicht zu wiederholen. Die ständige Behauptung - auch eben noch in einem Zwischenruf des Fraktionsvorsitzenden der SPD -, dies alles sei im Interesse der Arbeitsplätze notwendig gewesen, finden wir in der Regierungserklärung nur noch in einer abgeschwächten Form, und sie stößt in der öffentlichen Diskussion dieser Wochen zunehmend auf breiten Widerspruch. ({3}) Gestern ist hier in einer sehr interessanten Weise etwa die sehr kritische Aussage eines langjährigen Kollegen Ihrer Fraktion, des heutigen Präsidenten der Hamburger Landeszentralbank, Hans Hermsdorf, zitiert worden; und er ist nicht der einzige. Ich will Ihnen das gern verdeutlichen. Auch der künftige engste Mitarbeiter des Bundeskanzlers, Staatssekretär Lahnstein, hat sich hierzu Ende Oktober in Berlin ganz anders geäußert. Ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus dem Informationsdienst des Bundespresseamtes. Dort heißt es: Kritik übte er - Lahnstein an früheren Stützungsmaßnahmen wie dem Programm für Zukunftsinvestitionen, das bewiesen habe, daß die Feinsteuerung sich totlaufe, auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel 1978 versprochene zusätzliche Ausgaben überflüssig gewesen seien und lediglich für eine Verstärkung des Preisauftriebs im Hochkonjunkturjahr 1979 gesorgt hätten. ({4}) Im „Deutschlandfunk" betonte Lahnstein überdies, die Bundesregierung halte auf Grund der jüngsten Prognosen Konjunkturprogramme für derzeit weder nötig noch finanzierbar. ({5}) - Herr Roth, wegen dieses „nicht finanzierbar" habe ich hier auch diesen letzten Teil des Zitats vorgetragen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}): Bitte sehr.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, haben Sie nicht zur Kenntnis nehmen können - was ich Ihnen gar nicht vorwerfe -, daß Herr Staatssekretär Lahnstein seine Ausführungen dahin gehend korrigiert hat, daß er erklärt hat, seine Kritik beziehe sich auf das Timing, nämlich darauf, daß die Mittel für die Infrastrukturausgaben zu langsam abgeflossen und deshalb in eine andere konjunkturelle Lage gekommen seien? ({0}) Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({1}): Ich nehme zur Kenntnis, daß der Herr Lahnstein seine Aussagen korrigiert hat. Aber, Herr Kollege Roth, das Interview im „Deutschlandfunk" liegt mir hier im Originaltext, verbreitet vom Bundespresseamt, vor, und das muß j a wohl eine auch in Ihrer Sicht in etwa zuverlässige Quelle sein. Das andere ist über den Informationsdienst desselben Presseamtes auf Grund der Wiedergabe in mehreren führenden deutschen Zeitungen verbreitet worden. Ich stelle fest, daß Herr Lahnstein bestimmte Aussagen nachträglich korrigiert hat, aber ich glaube, daß die erste Fassung wohl seine kompetentere, weil unkorrigierte Meinung ist. ({2}) Es ist natürlich - deswegen spreche ich das an, nicht um hier jemanden in Verlegenheit zu bringen - schon bemerkenswert, wie sehr hier der Gegensatz zu dem zitierten Satz des Bundeskanzlers erkennbar wird, der j a erklärte, in gleicher wirtschaftlicher Lage würde die Bundesregierung wieder so handeln, wie sie nach 1973 gehandelt habe. Meine Damen und Herren, da besteht ein fundamentaler Gegensatz, der doch wohl ganz bestimmte Verständigungs- und Koordinierungsprobleme der Zukunft nicht nur innerhalb der Koalition, sondern auch bereits an der Spitze des Bundeskanzleramtes deutlich macht. ({3}) Die Aussage . des Herrn Lahnstein, neue Programme seien jetzt nicht finanzierbar, stimmt auch mit der Aussage des Sachverständigenrates in seinem soeben vorgelegten und in anderen Punkten von Ihnen zustimmend bewerteten Gutachten überein. Meine Damen und Herren, in diesem Punkte sind wir den reflektierenden und kritischen Aussagen des Sprechers der Freien Demokratischen Partei, Herrn Hoppe, wesentlich näher als den insoweit ziemlich inhaltsleeren Passagen der Regierungserklärung in dem eben behandelten Bereich. Es führt überhaupt kein Weg daran vorbei - und es geht hier nicht um Rechthaberei, sondern um die Analyse der Ausgangsbedingungen der Zukunft -: Schwere Fehler der jüngsten Vergangenheit engen den Handlungsspielraum drastisch ein. Das gilt vor allem für den Bund. Länder und Gemeinden sind mitbetroffen. Wir haben unter Federführung der Bundesregierung eine prozyklische Finanzpolitik erlebt, wie sie allen Lehrbuchweisheiten der Finanzwissenschaften und der Nationalökonomie seit den Zeiten Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({4}) von Adolph Wagner im Jahre 1872 völlig widerspricht. ({5}) Sehr geehrter Herr Roth, wir brauchen die Kontroverse mit Herrn Milton Friedman sicher nicht im Deutschen Bundestag auszutragen; ich glaube, daß es dafür geeignetere Plätze gibt. Das andere ist das Entscheidende. Es war ein kardinaler Fehler, an dessen Folgen wir alle noch tragen werden. Fehlende politische und finanzielle Mittel für die Zukunftsaufgaben in einer schwerer werdenden Zeit sind auch durch Appelle zum „Mut zur Zukunft" überhaupt nicht zu ersetzen, meine Damen und Herren. ({6}) Die sich verschärfende Finanzkrise ist nun natürlich zum empfindlichen Reibungspunkt der Beziehungen von Bund und Ländern geworden. Es ist ja in der 30jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht neu, daß bei Gelddingen die Gemütlichkeit aufhört. Aber die sprunghaft steigenden Fehlbeträge in unseren Haushalten führen zu härteren Kontroversen über Steueranteile, über Prioritäten bei den Aufgaben und Ausgaben. Der Herr Bundeskanzler hat mit seinen Attacken gegen die Länder vor der Bundestagswahl wenig Verständnis auch bei seinen zuständigen eigenen Freunden in der SPD gefunden. In der abgewogeneren Sprache der Regierungserklärung erneuert er den Anspruch der Umverteilung der Einnahmen zugunsten des Bundes. Meine Damen und Herren, wir müssen hier einmal mit der Diskussion über die Aufgaben und Ausgaben beginnen. Es hat wirklich keinen Sinn, die immer kürzer gewordene Finanzdecke bis zum Zerreißen zwischen Bund und Ländern so heftig hin-und herzuziehen, daß die wechselseitigen Beziehungen dauerhaft geschädigt werden. Es geht um eine ernsthafte Prioritätendiskussion in der Sache auf der Aufgabenseite und der Ausgabenseite. Nur von dorther kann man den zweiten Teil der Debatte vernünftig führen. Meine Damen und Herren, ich muß Sie daran erinnern, daß diese Regierungskoalition nach 1969 zunächst jene Bereiche zu zentralen Zukunftsaufgaben erklärt hat, die im Finanzierungsbereich der Länder liegen, allen voran die Bildungspolitik. Der damalige Bundeskanzler, Herr Brandt, sagte in seiner ersten Regierungserklärung 1969 - ich zitiere -: Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. Es gab dann in den folgenden Jahren, in den Jahren der schnellen Folge immer größerer Reformankündigungen, j a eine Fülle von neuen Projekten und Programmen und vor allem auch Erwartungen an die Länder und Gemeinden. Im übrigen gilt - trotz aller erheblichen Unterschiede in zentralen Fragen der Bildungs- und Hochschulpolitik -: Die Priorität von Bildung und Wissenschaft war schon seit 1965 zwischen den Parteien nicht strittig. Ich will Ihnen einmal die Zahlen vorlesen. 1970 wurden 23,4 Milliarden DM für Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland ausgegeben, 1979 fast 56 Milliarden DM. Aber hiervon tragen Länder und Gemeinden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten rund 97 %, wenn ich einmal die BAföG-Mittel aus diesem Bereich ausklammere, obwohl nach der Art des öffentlichen Auftretens, der Forderungen, des Erteilens von Zensuren manchmal der Eindruck entsteht, der Bund würde 97 % dieser Ausgaben tragen, meine Damen und Herren. ({7}) Nein, wir tragen 97 % der Mittel für Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen unsere verfassungsmäßigen Verantwortung. Diese Mittel werden weiter steigen, um der Verantwortung gegenüber der Jugend gerecht zu werden. Sicher, man muß von Zeit zu Zeit Prioritäten überprüfen und verändern. Ab 1974 räumt die Bundesregierung der Aufgabe der Konjunkturstützung einen besonderen Vorrang ein. Heute weist der Bund auf wachsende internationale Verpflichtungen hin, während wir, meine Damen und Herren, auch im Kontext dieser Regierungserklärung, die erheblich steigenden Herausforderungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes und der Ausländerpolitik im wesentlichen im Rahmen unserer Kompetenz, vor allem auch im Rahmen unserer Finanzausstattung, zu bewältigen haben. Was' nicht geht, Herr Bundeskanzler, ist ein mit akuter Finanznot begründeter abrupter Kurswechsel, eine Schnellbremsung, in wichtigen und sensiblen Bereichen wie der Wissenschafts- und Bildungspolitik. Hier nehmen sonst bedeutende Einrichtungen, vor allem aber viele Menschen schwersten Schaden. Man kann über die Neubestimmung der Ausbauziele für die Hochschulen reden. Wir befinden uns ja in der merkwürdigen Situation, daß wir bis zu Ihren Kürzungsbeschlüssen hier etwas behutsamer waren als Sie. Man kann auch prinzipiell über die finanzielle Verantwortung für den Studentenwohnheimbau reden. Aber ich sage sehr deutlich: Es ist absolut unerträglich, wenn die verfassungsmäßig zuständigen Bundesländer, vor allem die Hochschulen, ihre Organe selbst, die Studentenwerke und andere bis Oktober 1980 mit bestimmten finanziellen Zusagen des Bundes arbeiten und planen und dann acht Wochen vor Jahresende über Nacht erfahren, daß im nächsten Jahr Hunderte von Millionen zugesagter Bundesmittel fehlen. ({8}) Das ist nach meiner Überzeugung der Skandal, nicht die Tatsache, daß Sie - die Koalition, die Regierung - wegen länger erkennbarer finanzieller Schwierigkeiten zu einer mittelfristigen Umsteuerung auch in den Größenordnungen kommen wollen. Vieles von dem, was hier der Herr Bundeskanzler und andere sehr eindrucksvoll über das Vertrauen der Jugend und das Vertrauen der Bürger gesagt haben, wird durch eine solche Politik - nicht so sehr wegen der finanziellen Größenordnungen, aber we154 Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({9}) gen der Abruptheit, der Härte und der Plötzlichkeit des Vorgehens - in Frage gestellt. ({10}) Es gibt da manchmal zeitliche Übereinstimmungen. Am Montag, am Tag der Regierungserklärung, haben wir die Pressemeldung über die vorzeitige bzw. vorläufige Stillegung des bedeutendsten Forschungszentrums in Norddeutschland, des Deutschen Elektronen-Synchrotons in Hamburg, gelesen, einer Institution von höchstem internationalem Rang, weil kurzfristig die erforderlichen Bundesmittel gestrichen wurden. Für mich, der ich aus meiner früheren eigenen amtlichen Tätigkeit als Bundesminister und Abgeordneter dieses Hauses dieser Institution besonders verbunden bin, ist dies schon ein symbolhafter Vorgang. ({11}) Nebenbei bemerkt ist dies ein Vorgang, welcher der internationalen wissenschaftlichen Reputation der Bundesrepublik erheblichen Schaden zufügt, unabhängig davon, ob es noch gelingt, für 1981 durch eine Korrektur das Schlimmste zu beseitigen. Hier ist jeder Tag, jede Woche ausgenutzt, in einem Verbundsystem internationaler Hochenergiephysiker der westlichen Welt und zum Teil übrigens auch aus Osteuropa. Auch ein Ausfall von drei Wochen ist gerade im Hinblick auf das Standing der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft überhaupt nicht wiedergutzumachen. Das ist zum einen ein Beispiel für die Unberechenbarkeit, für die mangelnde Verläßlichkeit der Wissenschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung, zum anderen für den - was mich seit langem bedrückt - erschreckenden Rückgang des Stellenwerts vor allem der Grundlagenforschung in Ihrer Politik überhaupt, meine Damen und Herren. ({12}) Seitdem es üblich geworden ist ich habe das in anderem Zusammenhang hier als den „Aufstand der Amateure" bezeichnet -, daß in Verlagen mit Publikationen in hoher Auflage, beginnend mit dem Rowohlt-Verlag, Herr Duve, jeder Amateur in entscheidenden Lebensfragen etwa der Technik oder der Energiepolitik die bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen und internationalen Wissenschaft abqualifizieren kann, hat sich dieser geistige Rückgang in unserem Land noch verstärkt. ({13}) Die Plötzlichkeit, die Unberechenbarkeit des Einschnitts ist es, die bei unseren Hochschulen, bei der Max-Planck-Gesellschaft, deren Senatsmitglied ich auch heute noch aus alter Verbundenheit bin, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und beim wissenschaftlichen Nachwuchs die tiefe Bestürzung auslöst. Ich will hier keinen Zweifel bestehen lassen: Es gibt sehr gute Gründe, zu einer inhaltlichen Neuorientierung der Forschungspolitik zu kommen: Abbau der unübersehbaren Fülle an Einzelmaßnahmen direkter Forschungsförderung gegenüber Industriefirmen, Konzentration dieser direkten Förderung auf eine begrenzte Zahl besonders begründeter Programme von nationalem Interesse. Dafür sind wir seit vielen Jahren, und zwar sowohl die Kollegen des Bundestags als auch die aus den Ländern. Die Freien Demokraten haben das offenbar übernommen. Aber dies verlangt eine angemessene Zeit der Umstellung und mittelfristig angelegte Konzeptionen, zu denen natürlich auch die Verbesserung der indirekten Forschungsförderung z. B. für die Wirtschaft gehört. Die Koalitionsverhandlungen bringen statt dessen eine drastische Verringerung des Forschungshaushalts für 1981 um fast 700 Millionen DM gegenüber der geltenden Finanzplanung. ({14}) - Sie haben es nicht begriffen. Ich hatte Ihnen doch den Rat gegeben, vor ein, zwei Jahren ehrlich anzukündigen, was Sie vorhaben. Dann hätten sich die Beteiligten darauf einstellen können. Aber sie drei Wochen nach der Wahl mit Wirkung vom L Januar 1981 vor eine vollkommen veränderte Situation zu stellen - das ist mein Punkt der Kritik. Das sollten Sie doch endlich zur Kenntnis nehmen. ({15}) Darüber müssen Sie sich auch vollkommen im klaren sein: Da durch die Ihnen allen bekannten Bindungsermächtigungen gerade hier umfassende rechtliche Verpflichtungen für das nächste Jahr bestehen, muß man über die akute Krise des erwähnten Hamburger Zentrums hinaus bei der Grundlagenforschung schwere Einschränkungen befürchten. Die führenden Repräsentanten haben das ja auch in aller Deutlichkeit gesagt. Das ist keine Politik, die Vertrauen in die Zukunft begründet. Ich muß Ihnen, Herr Bundeskanzler, zum BundLänder-Verhältnis folgendes sagen - es hat für mich nicht denselben Stellenwert -: Es ist nicht einmal mehr ein Mindestmaß an vertrauensvoller Zusammenarbeit gegeben, wenn Bundesminister in diesen Wochen, im Oktober und November - vielleicht ohne Ihr Wissen, aber doch auf Grund von generellen Kabinettsbeschlüssen -, in anderen Bereichen wie etwa bei den verschiedenen Programmen des Wohnungsbaus die Mittel, die vereinbart, die abgesprochen waren, über die wir teilweise Verwaltungsabkommen geschlossen haben, kurzfristig nicht zur Verfügung stellen. Das macht bei einem kleinen Land wie Schleswig-Holstein allein in zwei Monaten 20 Millionen DM aus. Das können Sie dann auf Hunderte von Millionen DM für die Bundesrepublik Deutschland hochrechnen. So können wir miteinander nicht umgehen - oder Sie nicht mit uns, um das noch einmal deutlicher zu sagen. ({16}) Das trifft private Bauherren, das trifft Wohnungsbaugesellschaften, das trifft Kommunen mit außerordentlicher Abruptheit. Ich habe gestern von Herrn Kollegen Brandt etwas von vorausschauender Strukturpolitik gehört. ({17}) Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({18}) Wie viele große Planungsstäbe sind seit den ausgehenden 60er Jahren in Bonn neu entstanden! Wir haben j a gerade auch von der politischen und geistigen Linken die optimistischen Betrachtungen über Verwissenschaftlichung der Politik - ein sehr interessantes Thema, Herr Ehmke - vernommen. Aber was nützt das alles, wenn nicht die einfachsten Grundsätze einer verläßlichen, traditionellen Finanzplanung und Vertragserfüllung gegenwärtig das Verhalten der Bundesregierung bestimmen? Wir könnten uns doch wirklich ein Teil dieser Dinge sparen. ({19}) Ich kehre jetzt zu den Grundfragen der Finanzbeschlüsse und damit auch der Beziehungen von Bund und Ländern zurück und will noch eines sagen: Es ist vollkommen klar, daß wir im Bundesrat nicht generell gesetzliche Eingriffe in Steuervorteile und Subventionen ablehnen und alle Kürzungen der Bundesregierung pauschal bekämpfen. Aber wenn wir harte Sparvorlagen - ich sehe das kommen -, die Sie auf der Ausgabenseite vorbereiten, passieren lassen, dann muß die politische Verantwortung für diesen hektischen Richtungswechsel vollkommen klar bleiben. Sie können, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, dieser Verantwortung auf Grund der Geschichte der letzten Jahre nicht entfliehen. ({20}) Wir möchten auch als Landespolitiker der Union in unserem Handeln glaubwürdig bleiben. Wir haben deutlicher und offener als andere von den notwendigen Eingriffen geredet. Es ist für mich psychologisch interessant, wie jetzt jeder Bundesminister - zuletzt Herr Lambsdorff - behauptet, er habe das doch auch alles gesagt. Ja, warum haben es denn die Wähler nicht begriffen, meine Damen und Herren von der SPD und FDP? Warum sind Ihre eigenen Abgeordneten - doch nicht nur Herr Gansel - schokkiert über das, was sich hier ereignet? Ganz so deutlich und klar, wie es wünschenswert gewesen wäre, war es wohl nicht. ({21}) Für uns bleiben jedenfalls dieselben Maßstäbe gültig, die wir vor dem 5. Oktober 1980 vertreten haben. Ich will deshalb auch hinzufügen: Bis zu einer Klärung der grundlegenden finanzwirtschaftlichen Daten in den kommenden Monaten beabsichtigen wir nicht, im Bundesrat finanzwirksame Anträge einzubringen. Aber wenn wir hier Zurückhaltung üben, dann muß das auch für die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung im Verhältnis zu den Ländern und Gemeinden gelten. Ich erwarte und erhoffe von den bevorstehenden Gesprächen mit dem Herrn Bundeskanzler, daß zunächst mit den Ländern gründlich und offen darüber gesprochen wird, ob und gegebenenfalls in welcher Form es überhaupt vertretbar ist, angesichts der akuten Finanzkrise jetzt die vom Bundesrat abgelehnten kostspieligen Gesetze erneut vorzulegen. Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich zwei Aussagen meines hessischen Kollegen Holger Börner. Ich meine nicht den Flughafen, meine Damen und Herren von der SPD; dazu brauche ich mich nicht zu äußern. Ich meine die Bundespolitik. Er hat seine Bonner Parteifreunde im Oktober aufgefordert - ich zitiere -, „nicht weiter Speckseiten in das Schaufenster zu hängen, die von den Ländern bezahlt werden müssen". ({22}) Das kann ich nur unterstreichen. ({23}) Er gab kurz danach einen Beschluß seines Kabinetts - aus SPD und FDP - bekannt, man werde bis auf weiteres neuen Bundesgesetzen, die Länder und Gemeinden finanziell belasten, nicht zustimmen. Ich sehe also hier, Herr Ehmke, eine breitere überparteiliche Mehrheit im Bundesrat bei der Vertretung unserer Grundsätze, die wir auch damals - allerdings allein - vor der Bundestagswahl vertreten haben. ({24}) Nun müssen wir natürlich in diesen kommenden Gesprächen über wichtige Themen wie etwa Verkehrslärm reden. Aber ich will Ihnen sagen: Für mich gilt der einfache Grundsatz: Wenn man seine überkommenen Verpflichtungen nicht mehr bezahlen kann, dann darf man bis zur Regelung seiner eigenen Situation keine neuen Verpflichtungen übernehmen. Das muß auch für das staatliche Handeln und den Gesetzgeber gelten. ({25}) Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung findet sich u. a. der schon im Wahlkampf umstrittene Satz, der Bund habe den Ländern seit Ende 1969 mehr als 140 Milliarden Investitionen und Haushaltshilfen gegeben. Das hat j a damals Überraschung ausgelöst. Das Bundeskanzleramt hat vor dem 5. Oktober auf Anfragen hin ({26}) - ich lasse diese Episode einmal weg; das ist ja klargestellt - eine Darstellung aus den Finanznachrichten des Bundesfinanzministers vom April 1980 herangezogen. Da finden sich neben den Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe vor allem die Aufwendungen des Bundes für die Geldleistungsgesetze nach Art. 104 a Abs. 3 GG, also Mittel für Sparprämien, Wohnungsbauprämien, Gas- und Öl-Betriebsbeihilfekosten und andere, die großenteils überhaupt nicht durch die Landeshaushalte gehen. Sie werden allein vom Bund oder nach gesetzlich festgelegtem Verfahren in der Mischfinanzierung den Bürgern unmittelbar unter bestimmten Voraussetzungen überwiesen. Ich schlage Ihnen deshalb vor, daß diese Zahl aus der öffentlichen Diskussion der Bund-Länder-Finanzbeziehungen nun endgültig verschwindet. Denn wenn der Bund 'zur Erfüllung seiner Rechtsverpflichtungen gegenüber den Beamten und anderen im Zusammenhang mit den Kriegsfolgelasten des Zweiten Weltkrieges in den Ländern Leistungen erbringt, kann man das beim besten Willen nicht als Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({27}) eine Finanzhilfe für die Länder oder auch die Korn-munen bezeichnen. ({28}) Einsparungen: Ich habe bereits vor drei Jahren öffentlich gesagt, wir müßten Besitzstände überprüfen und die Sparförderung grundlegend einschränken, wenn wir neue Zukunftsaufgaben finanzieren wollen. Deswegen habe ich keine Schwierigkeiten, im Grundsatz im Bundesrat diesen Teil der Sparvorschläge zu übernehmen. ({29}) Aber ich will hier noch einmal sagen: Das Echo aus SPD und FDP war damals völlig negativ. Jeder, der nach 1975 konkrete einschneidende Sparvorschläge zur Diskussion stellte, wurde aus den Reihen der SPD und auch der FDP, Herr Hoppe, attackiert. Es gehört wirklich nicht zu den bleibenden Verdiensten des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Brandt, daß er diese Debatte mit dem Schlagwort von der „sozialen Demontage" bereichert hat, das als Schlaginstrument gegen jede verantwortungsbewußte konkrete Diskussion über Einsparungen und gesetzliche Kürzungen verwendet wurde. ({30}) Heute wurde es nicht wieder aufgenommen. Aber ich warne vor neuen Illusionen. Herr Kollege Brandt hat gestern gesagt - ich zitiere es einmal -: Hier gibt es keine Schnitte im sozialen Netz. Meine Damen und Herren, natürlich bedeuten die Koalitionsvereinbarungen auch Eingriffe in soziale Besitzstände, also insoweit in das soziale Netz. Dies gilt für die erhebliche Verschlechterung der Maßstäbe für die künftige Rentengesetzgebung ebenso wie die von der Regierung öffentlich in Aussicht gestellte erhebliche. Beschneidung vieler Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit. Sie wissen, wovon ich rede; und ich weiß es auch. Natürlich ist das ein Eingriff in das soziale Netz. Stark steigende Arbeitslosigkeit ist übrigens der schwerste soziale Rückschlag. Herr Bundeskanzler, wenn Sie am Montag hier gesagt haben, seit 1977 sind 900 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, so ist das richtig. Allerdings haben Sie zwei entscheidende und notwendige Ergänzungen unterlassen: In den Jahren von 1973 bis 1977 ist die Zahl der berufstätigen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland um über 2 Millionen - Arbeitnehmer und Selbständige - zurückgegangen, so daß wir trotz dieses Fortschritts Ende vergangenen Jahres weniger Arbeitsplätze hatten als 1973. Sie hätten zweitens sagen müssen, daß leider seit einigen Monaten die Arbeitsmarktstatistik nach unten weist und erneut ein Schrumpfungsprozeß eingesetzt hat, dessen Tiefpunkt noch einige Zeit vor uns liegt. Das unterstreicht in aller Eindringlichkeit die Notwendigkeit, problembewußter zu diskutieren. Jedermann, auch die Bundesregierung, sollte dafür die Chance nach dem Wahlkampf nun wirklich nutzen. Aber für mich ist ein anderer Sachverhalt noch schwerwiegender. Von einer Gesundung der Bundesfinanzen kann nach den Koalitionsverhandlungen überhaupt noch nicht die Rede sein. Auch das ist von Herrn Kollegen Hoppe offener ausgesprochen worden, als es in der Regierungserklärung der Fall war. Sie haben von dem Erfordernis weiterer Schritte zur notwendigen Konsolidierung gesprochen. Noch deutlicher ist der Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff am 16. November geworden. Ich zitiere aus dem Informationsdienst der Bundesregierung: Er - Lambsdorff - bezweifle, ob man mit den beschlossenen Maßnahmen wirklich über die Runden kommen könne, und verwies auf Überlegungen zur Notwendigkeit eventueller Eingriffe auch in sozialpolitische Leistungsgesetze. Auch ich komme zu dem Ergebnis, daß Sie mit diesen Finanzbeschlüssen nicht über die Runden kommen werden. Da spielen nicht nur die verschlechterten Konjunkturaussichten für das nächste Jahr eine Rolle, sondern auch eine Reihe von anderen unklaren Punkten, auf die der Bundesfinanzminister und auch andere hingewiesen haben. Allerdings, sehr geehrter Herr Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff, habe ich doch den Eindruck, Sie übernehmen gemeinsam mit Herrn Hoppe in dieser SPD-geführten Koalition zunehmend die Rolle des Chores in der antiken Tragödie, der zwar viele Sachverhalte richtig beschreiben, den falschen Gang der Ereignisse auch gelegentlich beklagen kann, aber den verhängnisvollen Weg letztlich nicht zu ändern vermag. ({31}) Das war auch mein Eindruck nach einigen Passagen Ihrer heutigen Rede. ({32}) Ihre eigene Partei ist Ihnen schon bei wichtigen Punkten nicht gefolgt. Wir haben in den großen deutschen Zeitungen undementierte detaillierte Berichte über die Beratungen der FDP zum Thema des Abbaus investitionshemmender Vorschriften bei der Kernenergie gelesen. Sie wären sicher dementiert worden, wenn sie ganz falsch gewesen wären. Wir wissen natürlich auch aus Ihren Bemerkungen über die Struktur der Finanzbeschlüsse, daß Sie mit dem Erreichten nicht zufrieden sind: Sie können es nicht sein. Das Paradoxe ist allerdings, daß auch Ihre Parteifreunde den Bundesfinanzminister wieder daran gehindert haben, in dem einen oder anderen Punkt gewisse Abstriche vorzunehmen, wofür wir Verständnis gehabt hätten. Ich hätte Verständnis gehabt, wenn man gesagt hätte: Wir wollen einmal - mit Ausnahme gewisser sensibler Bereiche - im öffentlichen Dienst drei oder vier Monate lang freiwerdende Stellen nicht wieder besetzen. Wir machen das nämlich in unserem Bundesland, wobei wir allerdings gewisse sensible Bereiche ausnehmen. Aber wenn alles, was diesen großen, bedeutenden Komplex betrifft, auch die Vorschläge des Bundesfinanzministers, mit Null endet, dann ist das auch kein überzeugender Beitrag der Freien Demokratischen Partei, sehr geehrter Herr Hoppe. ({33}) Meine Damen und Herren, was noch schwerwiegender ist: Die Eckdaten Ihrer Finanzpolitik für Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({34}) 1981 sind - auch nach der Regierungserklärung - unklar. Da gibt es in den letzten Tagen diesen erstaunlichen Streit zwischen dem Herrn Bundesfinanzminister und Herrn Kollegen Hoppe - für die FDP sprechend -, den sie in aller Öffentlichkeit ausgetragen haben. Das heute vom Herrn Kollegen Haussmann mit Genuß zitierte „Handelsblatt" schildert diesen Streit unter der Überschrift: „Hund und Katze". Der Text ist so, daß ich ihn angesichts meiner guten Beziehungen zu den beiden Herren hier nicht vorlesen möchte. Aber, meine Damen und Herren, es läuft - ich bringe das, was hier in langen Texten mit amtlichen Briefköpfen steht, in die Kurzfassung - auf folgendes hinaus: Der Herr Kollege Hoppe sagt: Das Eckdatum sind 4,1 % und 27 Milliarden DM; darüber hinaus geht nichts. Der Herr Matthöfer sagt: Das stimmt gar nicht. Wir haben in der Koalition 4,5 bis 4,6 % und einen Betrag vereinbart, der schon ein ganzes Stück auf 28 Milliarden zugeht. Herr Hoppe widerspricht ihm. Sie sind sich also in einem entscheidenden Punkt über das Ergebnis ihrer Koalitionsverhandlungen nicht einig. Wie sollen das denn die eigenen Parteifreunde im Lande verstehen, meine Damen und Herren? ({35}) Aber darauf kommt es jetzt so sehr nicht an. Meine Damen und Herren, noch schwerwiegender ist für mich ein anderer Widerspruch in der Regierungserklärung selbst. Herr Bundeskanzler, Sie haben auf Seite 7 vorgetragen: Unsere Verteidigungsausgaben sind in den letzten zehn Jahren durchschnittlich pro Jahr um knapp drei Prozent real gestiegen. Wir haben uns verpflichtet, uns auch in Zukunft um einen gleichen Anstieg bemühen zu wollen. Wir werden unsere Verpflichtung erfüllen. Das heißt - so ist es auch von der Presse verstanden worden -: auch für 1981 knapp 3 %. Aber die veröffentlichten Eckdaten für den Bundeshaushalt, meine Damen und Herren, sehen eine Erhöhung der Mittel des Verteidigungshaushalts um rund 600 Millionen DM vor. Das heißt: Dies ist nominal eine Steigerungsrate von weniger als 2 %. Wenn daraus nun real - nach Abzug der Inflationsrate - 3 % werden sollen, sind nach den Berechnungen namhafter deutscher Zeitungen - ich verweise etwa auf den Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 18. November - rund zweieinhalb bis drei Milliarden DM zusätzlich nötig. ({36}) Meine eigenen sachkundigen Mitarbeiter kommen zu demselben Ergebnis. Der Bundeskanzler ermahnt die Länder, sich an den Rahmen der Empfehlung des Finanzplanungsrats, also 4 %, zu halten. Aber die Bundesregierung tut es - ausweislich der Kontroverse des Bundesfinanzministers mit dem Kollegen Hoppe - selbst nicht. Meine Damen und Herren, in den öffentlichen Debatten spielt auch der Hinweis auf die stark gestiegene Verschuldung der Länder und Gemeinden eine Rolle. Das ist richtig, aber man muß die Ursachen erkennen und beschreiben. Erstens. Der Anteil unserer finanziellen Belastungen durch Bundesgesetze hat seit 1970 ständig zugenommen. Zweitens. Gemeinsame Prioritätsentscheidungen und der permanente politische Druck der Bundesregierung außerhalb ihrer originären Zuständigkeiten haben überdurchschnittliche Zuwachsraten bei uns verursacht. Ich habe das hier am Beispiel der Bildungspolitik verdeutlicht. Drittens. Eine immer kompliziertere, administrativ belastende, für den Bürger kaum verständliche Ausgestaltung neuer Gesetze hat den Personalbestand, die Personalanforderungen bei Ländern und Gemeinden erheblich ausgeweitet. Viertens. Meine Damen und Herren, wir haben bei den Konjunkturprogrammen der Bundesregierung - trotz grundsätzlicher Zweifel und öffentlicher Auseinandersetzungen - unsere Mitwirkung und Mitfinanzierung bisher letztlich nicht versagt, weil wir die vorrangige, verfassungsmäßige Verantwortung des Bundes für die Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik anerkennen. Allerdings kann man die öffentliche Debatte mit uns nicht mit zwei sich ausschließenden Vorhaltungen, also der berühmten Doppelstrategie, wie das bei den neuen Linken in der SPD heute heißt, führen. Meine Damen und Herren, wenn wir kostspielige und komplizierte Vorlagen abgelehnt haben, hat man uns gern des Oppositionsersatzes oder der Obstruktion bezichtigt. Wenn wir nach öffentlicher Verdeutlichung unserer Gegenposition eine entsprechende Gesetzgebung des Bundes aus der Anerkennung seiner Verantwortung heraus passieren lassen, sagt man uns bei entstehenden Schwierigkeiten: Ihr habt doch alles mitgemacht. In dieser Art einer nicht korrekten und nicht honorigen Doppelstrategie können Sie nicht weiter mit den Bundesländern und nicht mit dem Bundesrat diskutieren. ({37}) Die kurzfristigen einseitigen Eingriffe in die Gemeinschaftsaufgaben entsprechen auch nicht den arbeitsmarkt- und konjunkturpolitischen Erfordernissen des Jahres 1981. Ich habe über die Wirkung für die Bildungs- und Hochschulpolitik ausführlicher geredet. Meine Damen und Herren, Sie schaffen auch andere Zielkonflikte, die Sie nach meiner Überzeugung überhaupt nicht übersehen. Umweltschutz ist für Sie und auch für uns ein großes Thema. Aber mein zuständiger Minister hat mir gestern gesagt, daß die kurzfristige Verminderung der Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz in Schleswig-Holstein bedeutet, daß wir in absehbarer Zeit nicht ein einziges Vorhaben der Abwasserbeseitigung mehr anfangen können - ein zentrales, mit hohen Mitteln des Landes und der Gemeinschaftsaufgabe gefördertes Kernthema des Umweltschutzes. Abwasserbeseitigung bleibt für mich in den nächsten Jahren weiß Gott wichtiger als die Verbandsklage, meine Damen und Herren, ge158 Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({38}) gen die hier schon genügend Einwände vorgetragen worden sind. ({39}) Weil Sie nicht gründlich geplant und nicht mit uns über die Folgen geredet haben, erzielen Sie auch hier schädliche Nebenwirkungen im Umweltschutz, die Ihnen und uns allen noch leid tun werden. Nun muß man, Herr Bundeskanzler, sehr genau unterscheiden: Alle Länder sind zu einem Gespräch mit dem Bund über die teilweise Entmischung - ich nehme Ihren Ausdruck auf - bereit. Wir haben den Diskussionsstand unter den elf Bundesländern - das haben wir auch vor der Sommerpause im Bundesrat, vor allem im Dialog mit dem Bundesfinanzminister, klargemacht -, daß wir sagen: Jawohl, der Bereich der Mischfinanzierung über die klassischen Gemeinschaftsaufgaben hinaus ist zu weit ausgewuchert. Er muß eingegrenzt und ein Stück reduziert werden. Das ist die gemeinsame Position aller elf Länder. Die überwiegende Mehrzahl der Länder, Herr Bundeskanzler, ist für die Beibehaltung der klassischen Gemeinschaftsaufgaben. Es ist für die Ländergesamtheit kein Thema, sie abzuschaffen. Ich sage das auch zu gewissen Mißverständnissen in Ihrer Rede vom Montag. Insofern haben wir eine gemeinsame Verhandlungsgrundlage. Wir haben eine Viererkommission für die Gespräche mit der Bundesregierung ab Januar 1981 benannt. Der jetzige Eingriff des Bundes kann nicht mit diesem Erfordernis einer Neubestimmung der Aufgaben, einer Entbürokratisierung, einer Stärkung der Landesparlamente begründet werden. Alles das wünschen wir, aber wir werden es nur erreichen, wenn wir über die Rückübertragung und Entflechtung von Aufgaben sprechen, und nicht durch eine summarische, aus Finanznot geborene pauschale Kürzung um 20 %, die die genannten Ziele überhaupt nicht fördert, meine Damen und Herren. Das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen. Eine Vorbelastung für die künftigen Verhandlungen ist auch das Vorgehen des Bundes in der Steuer-und Abgabenpolitik. Im Juli haben wir einen mühsamen Kompromiß zu Steuerpaket und Kindergeld erzielt. Er entlastet, was wir begrüßen, die Steuerzahler ab 1. Januar um 12 Milliarden DM. 57 % der Ausfälle sind von Ländern und Gemeinden zu tragen. Im Oktober erleben wir eine Erhöhung der Steuern und Abgaben für den Bund um, wenn wir einmal die Nebeneinnahmen, etwa die Postabgabe, dazunehmen, um fast 9 Milliarden DM. Dabei geht es nicht nur um die weit überhöhte Erhöhung der Mineralölsteuer - weit überhöht gegenüber den Wahlaussagen -, sondern vor allem um die Erhöhung des Beitrages zur Rentenversicherung und die Zweckentfremdung dieser Einnahmen: Verringerung des allgemeinen Haushaltsdefizits - ein sozialpolitischer, ein rechtspolitischer Sündenfall ganz besonderer Art, über den hier sicher noch gesprochen wird, meine Damen und Herren. ({40}) Es ist ganz klar, daß dies bei vielen Bürgern berechtigte Kritik auslöst. Aber es ist auch eine drastische Veränderung der Steueranteile zugunsten des Bundes, der Steuern und der Sonderabgaben der vielen Nebenhaushalte, die wir hier auf der Seite des Bundes zunehmend erleben. Wir werden die Erhöhung der Mineralölsteuer ablehnen. Die energiepolitische Begründung ist überhaupt nicht überzeugend. Das Geschäft der permanenten Erhöhung der Preise besorgt die OPEC in einem Tempo, das uns nur bestürzen kann, und wir brauchen nicht einen zweiten Preistreiber, den deutschen Staat, daneben. ({41}) Sie können es ohne Zustimmung des Bundesrates beschließen; das ist richtig. Zustimmungspflichtig ist Ihr Konzept der Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer und einer entsprechenden Erhöhung der Mineralölsteuer. Es wird nach meiner Einschätzung im Bundesrat keine Mehrheit finden. Es ist für die Flächenländer, die Bürger mit weiten Wegen zum Arbeitsplatz, zum Markt - Markt im doppelten Sinne, als Wirtschaftsbürger, aber auch als Konsumenten - so belastend, daß die Nachteile für sie unzumutbar sind, insbesondere wenn zugleich der öffentliche Personennahverkehr durch andere Entscheidungen dieser Bundesregierung empfindlich verteuert wird. ({42}) Wenn man von vorausschauender Strukturpolitik im vernünftigen Verständnis und nicht als verdeckte Investitionslenkung redet, dann müssen Sie erkennen, daß die Gefahr der Verödung der ländlichen Räume ein großes Thema der' nächsten 30 Jahre wird, auch durch die vollkommene Veränderung im Bevölkerungsaufbau und Altersaufbau durch die rapide zurückgehenden Geburtenzahlen. Wir dürfen in keinem Bereich der Politik etwas machen, was diese Abwanderung aus unseren ländlichen Räumen drastisch beschleunigt, weil wir dann hier nämlich auch nicht mehr über Naturschutz und Umweltschutz reden. Dann bekommen wir zwar eine sogenannte Naturlandschaft, aber im Bild der Versteppung und Verödung. Das kann wohl nicht das Ziel unseres Naturschutzes sein. ({43}) Statt dessen appelliere ich an die Mehrheit des Bundestages, unseren Vorschlägen zuzustimmen, nämlich der Vereinfachung der Kraftfahrzeugsteuer durch das sogenannte Plakettensystem, ({44}) und anderen Schritten zur kostenneutralen Verbesserung des Steuersystems. Der Bundesrat berät erneut - ich vermute, wir bekommen eine überparteiliche Mehrheit - über die Reform der Grunderwerbsteuer, die auch zur Entlastung der Verwaltung überfällig ist. ({45}) Es gibt noch andere Initiativen. So sollten wir aufeinander zugehen, ohne Positionen und ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen. Ich hätte gern noch etwas zum Thema der Personalausgaben und der besonderen Belastungen für die Länder gesagt. Ich hätte gern noch etwas ausführliMinisterpräsident Dr. Stoltenberg ({46}) cher über den Abbau investitionshemmender Vorschriften und über die Energiepolitik gesprochen, die für mich und viele zu den enttäuschendsten Kapiteln der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers gehört. ({47}) Aber dazu wird vielleicht im nächsten Jahr Gelegenheit sein. Herr Bundeskanzler, es fehlt in Ihrer sehr umfangreichen Regierungserklärung an präzisen Vorschlägen, an Initiativen für den Abbau investitionshemmender Vorschriften. Es gibt einige Hinweise auf Prüfen und Untersuchen. Ich möchte hier daran erinnern, daß wir im Jahre 1977 in der Offentlichkeit, Sie für die Bundesregierung und wir für die Länder, dies zu einem Hauptthema gemeinsamer Anstrengungen und Aufgaben gemacht haben, und zwar auch in Beratungen der Konferenz der Regierungschefs. Es liegen Ihnen, Ihren Mitarbeitern seit einiger Zeit sechs Berichte von Fachministerkonferenzen der Länder aus den Jahren 1978 und 1979 und zwei Berichte aus dem Jahre 1980 vor. Hier werden von allen elf Ländern gemeinsam, CDU, CSU, SPD und FDP, konkrete Vorschläge gemacht, einstimmig neun Vereinfachungen beim Bauplanungsrecht, acht Vereinfachungen beim Bauordnungsrecht, 13 Vereinfachungen beim Bundesimmissionsschutzrecht, getragen von den sachverständigen Mitarbeitern, den verantwortlichen Kabinettsmitgliedern aller Bundesländer aller drei Parteien. Ich hätte es wirklich begrüßt - ich verstehe natürlich den Drang der Probleme in diesen Wochen -, wenn dieses große Thema in Ihrer Regierungserklärung zu einer klaren, einer überzeugenden und einer wegweisenden Aussage geführt hätte. Denn es genügt doch nicht, wenn Herr Bundesminister Lambsdorff hier wieder in einem seiner sehr guten Debattenbeiträge, aber sozusagen auf eigene Rechnung, einiges dazu sagt. ({48}) Ich unterstreiche j a den Hinweis, meine Damen und Herren - Minister Lambsdorff hat das aufgenommen, aber nicht der Bundeskanzler -, daß wir allein durch investitionshemmende Vorschriften und die unerträgliche Situation bei vielen Genehmigungsverfahren für Kohlekraftwerke, Kernkraftwerke und andere lebenswichtige Infrastrukturmaßnahmen einen Investitionsstau von 30, 40 Milliarden DM haben. Aber das ist nicht neu. Wir sind seit drei Jahren an diesem Thema. Da wäre eine der großen Chancen gewesen, Herr Bundeskanzler, eine wirkliche Reform anzukündigen, nicht eine Reform, die Geld kostet, sondern eine, die Geld spart und die der Arbeitsmarktpolitik und der Zukunftssicherung dient. Darauf warten wir. ({49})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Westphal.

Heinz Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war eigentlich nicht schwierig, vorherzusehen, wie die Verlierer dieser Wahl, die CDU/ CSU, in die Debatte über die Situation der öffentlichen Finanzen, über die Finanzwirtschaft, über die künftige Finanzpolitik einsteigen würden. Da wird, Herr Stoltenberg, dem Bund vorgeworfen, er habe zuviel ausgegeben. Und in derselben Rede, ein paar Minuten später, wird beklagt, daß nun etwas gekürzt wird. Da kommt ein Länderchef zu uns, anstelle eines Finanzpolitikers aus der Oppositionsfraktion, und beklagt, daß die Streichungen, die die Bundesregierung vorsieht, die Sparmaßnahmen, die hier angekündigt sind, ihn - vielleicht auch andere - fürchterlich treffen. Herr Stoltenberg, ist Ihnen überhaupt nicht aufgefallen, daß allein die Annahme dessen, was Sie in der Dreiviertelstunde, die Sie hier gesprochen haben, vorgeschlagen haben, bedeuten würde, daß dem Bundesfinanzminister etwa drei bis vier Milliarden DM bei dem schwierigen Ausgleich, den er zu bewerkstelligen hat, fehlen würden? ({0}) Ich will Ihnen das vorrechnen. Sie sagen: Die Mineralölsteuererhöhung lehnen wir ab. Das sind, auf ein ganzes Jahr bezogen, 2,7 Milliarden DM. Sie sagen: An die Gemeinschaftsaufgaben kann man nicht ran, das ist zu plötzlich. - Es ist nun einmal so: Wenn man darangeht, Streichungen vorzunehmen und Einsparungen zu machen, wirkt das auch irgendwo. Ich komme an anderer Stelle meiner Rede auf dieses Thema zurück. - Dies sind einige hundert Millionen DM beim Bund und übrigens, entlastend, auch bei Ihnen, den Ländern. Sie haben dann, so ganz en passant, gesagt, im übrigen müsse man die indirekte Forschungsförderung ausdehnen. Das kostet Milliarden, auch b'ei Ihnen, Herr Stoltenberg. - Sie hören gerade nicht zu. Dies sind Steuereinnahmen, die für den Ausgleich selbstverständlich gebraucht werden, die aber dann nicht zur Verfügung stehen. - Es war also nicht schwierig, diesen Einstieg in die Debatte vorauszusehen. Und dann kommt zusätzlich noch der nachweislich unzutreffende Vorwurf, die Regierenden hätten vor den Wahlen dem Volk nicht gesagt, daß die finanzwirtschaftliche Lage zu harten Eingriffen zwinge. Lassen Sie mich dies gleich zu Anfang hier ausräumen. Erstens. Wir haben mit gutem Erfolg den Wählern klargemacht, daß staatliche Kreditaufnahme der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen dient. 900 000 neue Arbeitsplätze in drei Jahren sind keine Kleinigkeit. Zur gleichen Zeit haben wir aber auch gesagt, daß die Verschuldung des Staates nicht weiter wachsen darf, wenn die konjunkturelle Entwicklung kein Gegensteuern zur Sicherung der Arbeitsplätze erfordert. Zweitens. Wir haben bereits bei der Beratung des Steuerpakets 1981 und bei seiner Teminierung - und in dieser Frage gegen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition im Blick gehabt und nicht verschwiegen, daß diese Stärkung der Massenkaufkraft zu einem Zeitpunkt in Kraft treten wird, in dem sie uns helfen kann, einen bereits erkennbaren Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums im Winterhalbjahr abzufedern. Drittens. Wir haben bereits im Wahlkampf offen angekündigt, daß wir nach dem Wahltag konkret an den Abbau nicht mehr vertretbarer Subventionen herangehen würden und daß dies bei den Betroffenen - auch Herr Stoltenberg gehört offensichtlich dazu - Schmerzen bereiten wird. Die von der sozialliberalen Koalition nach ihrer Bestätigung durch die Wahl vom 5. Oktober zu erwartende Finanzpolitik war also in ihren Grundzügen vorher erkennbar. Sie war darüber hinaus in den beiden für heute entscheidenden Eckdaten öffentlich bekannt, nämlich in der Absicht, das Haushaltsvolumen 1981 nur um etwa 4 % steigen zu lassen, und in der Begrenzung der Nettokreditaufnahme im Jahr 1981 bei rund 27 Milliarden DM mit sinkender Tendenz in den Folgejahren. Wir halten uns also an das, was wir vorher gesagt haben. Niemand hat auch nur das geringste Recht, uns zu unterstellen, wir hätten nicht vorher gesagt, was wir nachher tun werden. Die einzigen - das muß man hier offen ansprechen - neu hinzukommenden Faktoren, die nichts am Inhalt und an der Zielsetzung des Gesagten verändern, aber die zu ergreifenden Maßnahmen verschärfen mußten, waren die im Oktober dieses Jahres von den Instituten und nun Mitte November dieses Jahres auch vom Sachverständigenrat vorgelegten Zahlen über die wirtschaftlichen Erwartungen für das Jahr 1981. Diese Daten sind ungünstiger als erwartet. Sie bringen geringere Steuereinnahmen und höhere Lasten bei der Bundesanstalt für Arbeit mit sich. Diese Folgen für die kommenden Haushalte mußten nun in die vorher gesetzten Rahmendaten eingepaßt werden, ohne diese zu verändern. Dies bewirkt ein härteres Zugreifen beim Streichen von Subventionen, beim Kürzen von Haushaltsausgaben in einer Größenordnung von rund 9 Milliarden DM, bei der Erhöhung der Mineralöl- und der Branntweinsteuer sowie auch bei der Kürzung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherungsträger. Faßt man den Inhalt der finanzpolitisch wirksamen Absichten zusammen, die der Bundeskanzler vorgetragen hat, dann ergibt sich folgendes. Das Haushaltsvolumen von 1981 wird nicht wesentlich über 4 % anwachsen. Der gesetzte Rahmen von 27 Milliarden DM neuer Kreditaufnahme wird eingehalten. Es werden zwei Steuern erhöht, die Mineralölsteuer und die Branntweinsteuer. Dies bedeutet, bezogen auf ein ganzes Jahr, ein Mehraufkommen von etwa 3,7 Milliarden DM. Die beschlossenen Steuersenkungen für 1981, die mit dem erhöhten Weihnachtsfreibetrag jetzt zu wirken beginnen, und die Kindergelderhöhung und die Wohngelderhöhung bleiben unangetastet. Sie kommen zur richtigen Zeit und umfassen ein Entlastungsvolumen für den Bürger in einer Größenordnung von 16,5 Milliarden DM. Man muß diese beiden Größenordnungen - zwei Steuern mit einer Belastung von 3,7 Milliarden DM und Steuerentlastungen, vorher beschlossen und nun wirkend, von 16,5 Milliarden DM - ja auch einmal gegenüberstellen und sehen, daß die Entlastungswirkungen den größeren Teil ausmachen. Es werden Subventionen gekürzt, und dies wird schon mit Wirkung für 1981 geschehen. Diese Koalition ist offensichtlich die einzige, die so etwas zustande zu bringen in der Lage ist. Und schließlich, meine Damen. und Herren, Eingriffe in das - dies sage ich hier extra noch einmal - von uns geschaffene Netz sozialer Leistungen finden nicht statt. Wer also genau hinsieht, der kommt zu dem Ergebnis, daß dies exakt die Zusammenfassung der vor dem Wahltag angekündigten Politik ist. Es gibt keine inhaltlichen Abweichungen. Die Erhöhung der Mineralölsteuer um 7 Pfennig je Liter bei Benzin ist allerdings gravierend. Niemand von uns redet darum herum, daß durch die Erhöhung der Mineralölsteuer diejenigen, die ihre Fahrleistung als Fernpendler auf dem Weg zur Arbeitsstelle nicht einschränken können, um 10 bis 12 Mark im Monat stärker belastet werden. Wir haben nach dem Bekanntwerden der Absichten der Koalition die Kritik, den Protest und auch die weisen Ratschläge von den verschiedensten Leuten gehört. Wenn der Arbeitnehmer, der draußen auf dem Lande wohnt und seinen Arbeitsplatz in der Stadt hat, zwar Verständnis zeigt für die wohl oder übel erforderlichen höheren Energiekosten, aber dabei nicht allein belastet sein will, sondern gleiche Maßstäbe angelegt haben möchte, z. B. durch den Abbau der Gasölbeihilfe bei der Landwirtschaft, dann ist klar, daß wir Sozialdemokraten aufhorchen und diese Kritik nicht beiseite schieben. Wenn aber Herr Wolff von Amerongen die von Herrn Strauß nicht geschaffte große Wende, diesen Salto rückwärts, herbeiführen will und dafür als konkrete Vorschläge neben allem, was wir im Steuerpaket auch für die Wirtschaft längst an Entlastungen und Hilfen beschlossen haben, nichts anderes zu bringen hat als neue Abschreibungsvergünstigungen und weitere steuerliche Entlastungen für Unternehmen, dann verkennt er die finanzpolitische Situation des Staates. Wir werden ihn daran erinnern, daß nicht Herr Strauß, sondern die sozialliberale Koalition die Wahl vom 5. Oktober gewonnen hat. Es klingt doch nicht sehr überzeugend, wenn ein Spitzenmanager des Bankgewerbes oder eines Unternehmensverbandes vor dem Fernsehen sagt, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, und deshalb meint, es müßten Sozialleistungen gekürzt werden, von denen der ja wohl sicher nicht betroffen ist. Herr Dr. Häfele - ich weiß nicht, ob er im Raum ist - führt die Lücke in der Leistungsbilanz als Beweis dafür an, daß wir über unsere Verhältnisse leben. Das ist schon richtiger. Wenn er es auch falsch verpackt, so kommt doch auch er an dem zutreffenden Schluß nicht vorbei: diese Lücke ist eine eindeutige Folge der überhöhten Ölrechnung und anderer gewaltig gestiegener Importpreise. Nur ein geringerer Ölverbrauch kann die Lücke in der Leistungsbilanz wieder schließen. Erst dann gewinnt die Bundesbank den nötigen Handlungsspielraum zurück, um die Zinsen senken zu können. Im Augenblick müssen wir ja mit anderen Ländern mit zum Teil exotischen Zinssätzen konkurrieren, um Kapitalexport zu verhindern und Kapitalimport zu bewirken. Niedrigere Zinsen sind es, die Investitionen erleichtern, insbesondere auch im Wohnungsbau. Zinssenkungen vermögen in dieser Situation - dies sei hier ofWestphal fen angesprochen - mehr für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu bewirken als neue Ausgabenprogramme des Staates. Der Ansatzpunkt ist und bleibt der hohe Ölverbrauch. Aber die Logik gebietet, hier anzufügen, daß es also unzutreffend ist, den Ausbau des Sozialstaates, den wir vorher vollzogen haben, also vor den vervielfachten Ölpreisen und enormen Importpreissteigerungen, etwa zum Schuldigen für diese Situation stempeln zu wollen. Man muß sich nur einmal vorstellen, was geworden wäre, wenn wir in die erste oder in die zweite und weiteren Ölpreiskrisen ohne das Netz sozialer Sicherung hineingegangen wären. Man muß sich einmal vorstellen, bei welchen Arbeitslosenzahlen wir gelandet wären, wenn wir nicht mit kräftigen Konjunktur- und Strukturförderungsmaßnahmen gegengesteuert hätten, die in der Zeit des Abschwungs nun einmal nicht aus den dann sinkenden Steuereinnahmen, sondern nur durch die Aufnahme von Krediten finanziert werden konnten. Die Opposition versteigt sich aber zu der Behauptung, die Bundesrepublik habe in den letzten Jahren nahezu alles versäumt - das ist ein Häfele-Zitat -, um ihre Abhängigkeit vom Öl zu verringern. Wo wären wir heute, wenn wir à la Erhard den Steinkohlenbergbau nach den Regeln der Marktwirtschaft hätten absaufen lassen? ({1}) Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, welche Milliardenbeträge wir in die Förderung von Forschung und Entwicklung z. B. der Kernenergienutzung gesteckt haben, welche Programme der Nutzung neuer Energietechnologien wir staatlich fördern, was wir getan haben, um Nahverkehrssysteme auszubauen, welche gewaltigen Mittel in Energiesparmaßnahmen beim Wohnungsbau gesteckt werden? Es ist schon ein starkes Stück, den Koalitionspartnern zu unterstellen, sie hätten „von dem riesigen Loch in unserer Leistungsbilanz offenbar überhaupt keine Notiz nehmen wollen". Da schlägt die Regierung vor, sämtliche Subventionen auf den Mineralölverbrauch zu streichen, da gehen wir mit dem Argument „weg vom Öl", um die Leistungsbilanz in Ordnung zu bringen, mit 7 Pfennig je Liter an die Erhöhung der Mineralölsteuer heran, da setzen wir uns der Kritik der Gemeinden und der Bürger, daß als Folge dieser Maßnahme die Fahrpreise steigen werden, aus, aber die Opposition sagt, wir nähmen keine Notiz. Was noch schlimmer ist: Die Opposition lehnt diese Maßnahmen ab. - Herr Stoltenberg lächelt dabei noch. Sie schlägt sich opportunistisch auf die Seite der Kritiker ({2}) und sagt zur gleichen Zeit, die Koalition würde um „Minimallösungen streiten", das alles würde nicht ausreichen. Herr Stoltenberg, haben Sie das nicht so gesagt? Manchmal wünscht man sich wirklich eine bessere Opposition. ({3}) Wenn man weg will vom Öl, wenn man weg muß vom Öl, ist es doch logisch, die Beträge zu streichen, mit denen der Verbrauch von Mineralöl heute subventioniert wird. Gewiß, dies geht nicht ohne Schrammen ab. In einigen Fällen, z. B. bei der Binnenschiffahrt und bei der Luftfahrt, brauchen wir, um das durchsetzen zu können, internationale Zustimmung. Das wird den Finanzminister vor schwierige Aufgaben stellen. Der Nahverkehr ist betroffen. Es sei hier am Rande angemerkt, daß die anomalen Preissteigerungsabsichten beim öffentlichen Personenverkehr in der Stadt, in der wir hier tagen, nicht auf dieses Konto gebucht werden können. Darüber hinaus ist es so, daß die Städte eher als die Landgebiete in der Lage sind, Strom aus Kohle für den öffentlichen Personennahverkehr zu verwenden. Wir wissen um diese Problematik. Doch es hilft kein Weg um die Erkenntnis herum, daß uns die Verteuerung der Energie weiter verfolgen wird. Aber der Zwang, der hieraus - und zwar auf allen Ebenen, beim Auto, bei der Bundesbahn, bei den Nahverkehrsträgern - erwächst, wird, so hoffe ich, erfinderischer machen und anderen Technologien die Wege ebnen. Im übrigen enthält der Abbau der Subventionierung des Mineralölverbrauchs auch eine finanzielle Umschichtung zugunsten der Gemeinden. 85 bis 90 % der Mittel, die auf der einen Seite nicht mehr zur Verfügung stehen werden, kommen auf der anderen Seite über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz an die Gemeinden zurück und können ihnen bei der verbesserten Gestaltung sowohl des kommunalen Straßenbaus als auch des öffentlichen Pesonennahverkehrs helfen. Dabei kann man ja auch die bisher hälftigen Anteile anders - also mehr zugunsten des Nahverkehrs - verwenden. Uns kommt es darauf an, daß hierbei insbesondere die Land-Stadt-Verbindungen günstiger bedacht werden müssen. Im übrigen wollen wir Sozialdemokraten und auch die Freien Demokraten während der Haushaltsberatungen prüfen, ob es möglich ist, die Gemeinden auf diesem Gebiet noch ein wenig günstiger zu stellen. Gegen die Absicht, meine Damen und Herren - auch dies ist die Meinung der Opposition -, die staatlichen Sparprämien ganz abzuschaffen, wird der Vorwurf erhoben, dies träfe die kleinen Leute. Herr Stoltenberg hat hier anders reagiert als Herr Häfele. Es ist richtig, daß diese Vergünstigung seit 1975 nur noch denjenigen zukommen kann, die ein jährliches Einkommen als Alleinstehende unter 24 000 DM und als Eheleute unter 48 000 DM beziehen. Damals haben wir bereits die Förderung durch die Einbeziehung von Einkommensgrenzen oben gekappt. Aber es muß doch wohl die Frage gestellt werden, ob man in dieser Zeit noch immer das Sparen mit Steuergeld anreizen muß, das ja auch in beacht162 licher Größenordnung von den kleinen Leuten selbst aufgebracht wird. Seit 1969 liegt die Sparquote, also der Prozentanteil der Ersparnisse von dem verfügbaren Einkommen, bei über 13 %; nur 1977 und 1978 lag sie etwas darunter. Auch beim Arbeitnehmerhaushalt liegt die Sparquote bei etwa 12 %. Es müßte doch einsichtig sein, daß es richtiger ist, dieses Steuergeld, das bisher und bis zum Ablauf der gültigen Verträge zur Prämiierung des sowieso erfolgenden Sparens verwendet wird, künftig dafür zu verwenden, um z. B. unsere Sozialleistungen zu sichern. Im übrigen bleibt die Möglichkeit des Bausparens, wenn auch mit einer verlängerten Bindungsfrist. Hierbei sei allerdings angemerkt, daß man einem Sozialdemokraten wohl nicht übelnehmen kann, wenn er darüber nachdenkt, ob es noch berechtigt ist, demjenigen das Bausparen steuerlich zusätzlich zu vergünstigen, der seine Sonderausgabenhöchstbeträge bei der Einkommensteuer noch nicht auf andere Weise voll ausgeschöpft hat. Klargestellt sei aber auch bei dieser Gelegenheit, daß es selbstverständlich bei der steuerlichen Begünstigung der Vermögensbildung nach dem 624-DM-Gesetz für Arbeitnehmer bleibt. Nur die Kumulierung, d. h. die Doppelförderung durch Sparprämie oder Bausparprämie einerseits und Arbeitnehmersparzulage andererseits gleichzeitig nebeneinander, wird entfallen. Es liegt nahe, daß auch gegen den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Abbau von noch bestehenden Steuervergünstigungen im Bereich des Kreditwesens von denjenigen, die sich betroffen fühlen, Sturm gelaufen wird. Dieser Abbau ist von unabhängigen Sachverständigen schon seit langem gefordert worden. Zu Zeiten der Großen Koalition ist in der Wettbewerbs-Enquete festgestellt worden, daß der Abbau der Steuervergünstigungen bei den Sparkassen und Kreditgenossenschaften und öffentlichen Kreditinstituten aus Wettbewerbsgründen erforderlich sei. Ein erster Teilabbau ist schon im Laufe der Zeit erfolgt. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß der stufenweise Abbau dieser Steuervergünstigung eben nicht dazu geführt hat, das Geschäftsvolumen einzuschränken, sondern es ist weiter ausgedehnt worden. Ich glaube, daß man nüchtern auch an diese Subvention herangehen muß. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren die von den Kreditinstituten vorgebrachten Argumente mit den Betroffenen selbst eingehend erörtern. Die Notwendigkeit eines ausführlichen Dialogs besteht nicht zuletzt auch deshalb, weil das Kreditwesengesetz reformiert werden soll. Diese Reform ist eine von uns äußerst wichtig genommene Aufgabe in der nun beginnenden Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung sieht vor - dieser Punkt hat Herrn Stoltenberg so tief bewegt -, alle drei Gemeinschaftsaufgaben - Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, Ausbau und Neubau von Hochschulen und die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur - gleichmäßig um jeweils 20% in den Ansätzen zu kürzen. Die Finanzminister der Länder werden aufatmen; die Ressortminister und viele Betroffene werden zum Teil mit gewichtigen Argumenten ihren Protest anmelden. So geht es einem, wenn man Einschnitte auf der Ausgabenseite unseres öffentlichen Haushalts bei Bund und Ländern vornehmen muß. Es geht eben nicht, einen Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Doch hier gilt es, ein Wort mehr zu sagen. Dies bedeutet j a nicht Trennung oder Lösung von den großen Aufgaben, die gemeinsam von Ländern und Bund wahrzunehmen sind, sondern Streckung der Aufgabenerfüllung über einen längeren Zeitraum. Im übrigen: Wir alle wissen doch, daß z. B. für den Bereich der regionalen Wirtschaftsförderung ein neues Konzept sowieso fällig ist. ({4}) Oft genug ist doch der Vorwurf erhoben worden, daß ein Teil dieser Förderung auch noch auf Gebiete trifft, die inzwischen im Vergleich zu anderen eine gesunde Struktur haben. Die Gebietsabgrenzungen und auch die Förderungskriterien, z. B. die stärkere Berücksichtigung von Gebieten mit langandauernder und überproportionaler Arbeitslosigkeit, können vielleicht leichter gelingen, wenn der Zwang geringerer Förderungsmittel dahintersteht. ({5}) Anders als bei den ihre Bedeutung behaltenden Gemeinschaftsaufgaben sieht das Konzept aus, mit dem die Bundesregierung an das Thema „Bereinigung von Mischfinanzierungstatbeständen" herangehen will. Der Bund geht positiv und direkt auf die Länder zu und erklärt seine Bereitschaft, diesen vielfältigen Bereich einer Prüfung zu unterziehen und eine Bereinigung zu bewirken, die auch Verwaltungseinsparungen bedeuten kann. Ja, der Bund unterbreitet darüber hinaus an konkreten Stellen ein Angebot. Einen Anfang der Bereinigung stellen diese Angebote dar. Hier wird über die Investitionsmittel im Bereich der Krankenhausfinanzierung und über die Probleme im Bereich der Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus zu reden sein; nicht, meine Damen und Herren, mit der Absicht, finanziellen Vorteil für den Bund zu ziehen, sondern mit dem Ziel, Verwaltung und Finanzierung in die Hand der Länder zu geben, wenn es möglich ist, während natürlich die Gesetzgebungskompetenz bezüglich dieser wichtigen Fragen beim Bund bleiben muß. Niemand denkt daran- auch dies sei hier klargestellt -, die Förderung des Studentenwohnheimbaus abzubauen oder abzuschaffen. Die vorgesehene Einschränkung des Mittelansatzes beim Bund besagt, daß hier ein Mischfinanzierungstatbestand an die Länder übergehen soll. Die Tatsache, daß auch die Länderhaushalte schon 1981 mit rund 600 Millionen DM durch den Abbau von Subventionen mit begünstigt werden, wird es doch wohl ermöglichen, daß alle Länder zusammen beim Studentenwohnheimbau 30 Millionen DM zulegen, um die anstehenden Aufgaben, die niemand von uns verkennt, dann voll erfüllen zu können. Doch sei hier nicht verschwiegen, daß dies alles auch ein Teilthema der Großaufgabe ist, die in den vergangenen Jahren eingetretene Schieflage zwischen Bund und Ländern bei der Aufteilung des Steueraufkommens zur Bewältigung der jeweils gestellten Aufgaben der verschiedenen Ebenen unseres Staates zu überwinden. Für die vom Bund seit 1975 allein zu tragenden Leistungen für das Kindergeld in der Größenordnung von etwa - man muß die Zahl einmal für sich selbst plastisch werden lassen - 19 Milliarden DM haben sich die Länder bereiterklärt, künftig 1 Milliarde DM mit zu übernehmen. Es sei anerkannt. Doch damit ist für die Zukunft die Schieflage eben nicht aus der Welt. Der Bund muß enorm steigende Lasten aus ihm zugewachsenen, insbesondere internationalen Aufgaben erfüllen. Dies hat bei der Aufteilung des Steueraufkommens noch nicht seine Berücksichtigung gefunden. Die Deckungsquoten der Haushalte bei Bund und Ländern sind. zu unterschiedlich, um mit dem Verfassungsgebot von Art. 106 des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu sein. Ich weiß, daß dies alles nicht eine in einem Jahr oder in zwei Jahren lösbare Aufgabe ist, aber es steht an, und deswegen sage ich es hier. Dazu gehört auch, daß die Lage in den einzelnen Ländern unterschiedlich ist. Das sei voll anerkannt. Der Länderfinanzausgleich sowohl in seiner vertikalen als auch in seiner horizontalen Form ist doch auch in die Überlegungen einzubeziehen. Es ist doch nicht unberechtigt, wenn der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen darauf hinweist, daß bei den bestehenden Ausgleichsregelungen nur vom normalen Steueraufkommen ausgegangen wird. Sonderbelastungen, wie sie z. B. Nordrhein-Westfalen durch die Übernahme eines vollen Drittels all unserer Kohleleistungen übernimmt, oder, Herr Kiep, Sonderentlastungen, wie sie z. B. in Niedersachsen durch den Förderzins aus den sogenannten Windfall-profits erfolgen, sind bisher - ich finde, unberechtigterweise - außer Betracht geblieben. Die Tatsache, daß alle Beteiligten von sehr unterschiedlichen Interessenlagen ausgehen, darf kein Hinderungsgrund dafür sein, diese Großaufgabe der 80er Jahre anzupacken. Wir begrüßen ausdrücklich, daß die Bundesregierung ein Konzept zur Meisterung der Probleme der europäischen Agrarpolitik erarbeitet hat. Aus der Sicht der Finanzpolitik ist es entscheidend, daß die Mehrwertsteuerabführung an die Europäische Gemeinschaft auch künftig 1 % der BemessungsgrundLage nicht übersteigen darf. Um Freiraum für europäische Strukturpolitik und europäische Sozialpolitik zu haben, muß der Anstieg der Agrarausgaben deutlich über den eigenen Einnahmen der EG liegen. Das bedeutet vorsichtige Preispolitik. Das bedeutet Erzeugerbeteiligung an den Kosten der Überschußproduktion. Das bedeutet die Aufhebung automatischer Interventionsmechanismen. Das bedeutet ein größeres Gewicht der Finanzminister im Prozeß der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit den Ressortministern. Ja, das muß auch bedeuten - lassen Sie mich das deutlich aussprechen - Hilfe für die Kleinen, aber Subventionskürzungen bei den Großen und damit Sicherung des bäuerlichen Familienbetriebs. ({6}) Wenn darüber hinaus die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur" künftig mit 20 % weniger Bundes- und Landesmitteln gefördert wird - was von der Landwirtschaft sicher als Belastung empfunden wird -, dann ist das ein Nachweis dafür, daß sich diese bedeutungsvolle Personengruppe im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen unseres Landes auch an der Meisterung der finanzwirtschaftlichen Gesamtsituation beteiligen muß. Das wird sich bei anderen von Förderungsmaßnahmen aus dem Bundeshaushalt betroffenen Institutionen oder Personengruppen fortsetzen; denn alle Ressortetats werden einen niedrigeren Aufwuchs haben, als sie ihn sich selbst wünschen oder auch als sie noch in der Planung veranschlagt waren, die einen höheren Prozentsatz für 1981 und die folgenden Jahre vorgesehen hat. Hier kann und darf es auch kein Plafondsdenken auf der Grundlage mechanistischer Steigerungsraten geben. Sie wissen, daß für uns Sozialdemokraten, aber genauso auch für diese Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Liberalen der immer wieder entscheidende Angelpunkt gerade in finanzwirtschaftlichen Diskussionen darin besteht, daß sich der Staat nicht aus der Beschäftigungspolitik, aus dem Bemühen um die Sicherung der Arbeitsplätze zurückziehen kann und darf. Zu Recht wird die Frage aufgeworfen, ob dieser finanzpolitische Ansatz der Regierungspolitik in der Zeit einer sich abschwächenden Konjunktur richtig ist. Es gibt mehrere Gründe, die mich veranlassen, doch ja zu sagen. Der erste liegt darin, daß wir durch die umfangreiche steuerliche Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer und die Erhöhung des Kindergelds zum richtigen Zeitpunkt von der Kaufkraftseite her die konjunkturelle Entwicklung abstützen. Ich habe das vorhin begründet. Der zweite Grund: Der Bundeshaushalt 1981, für den eine Kreditermächtigung von nicht weniger als rund 27 Milliarden DM ausgesprochen werden soll - die werden ja nicht für konsumtive, sondern für investive Aufgaben Verwendung finden -, ist schließlich keine konjunkturneutrale Veranstaltung, sondern sorgt in beachtlicher Weise zumindest auch für eine Verstetigung der Beschäftigung. Doch ich möchte hinzufügen, daß es hinsichtlich der Aussagen der wirtschaftswissenschaftlichen Institute und auch des Sachverständigenrats über die konjunkturelle Entwicklung in der zweiten Hälfte des Jahres 1981 beachtliche Unsicherheiten gibt. Die Wirtschaftsweisen sprechen von einer von ihnen erwarteten spürbaren Verbesserung. Hoffen wir, daß sie recht haben. Aber mir scheint, es wäre richtig, wenn wir im Frühjahr 1981, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung des Jahres besser übersehen läßt, die Lage neu prüfen. Dieser Staat kann und darf sich nicht als Nachtwächterstaat verhalten, wie es uns Herr Biedenkopf oder der hier heute mehrfach zitierte Herr Friedman aus Chicago empfehlen. Wir müssen, wenn es darauf ankommt, für Beschäftigungspolitik zur Verfügung stehen. Wir sind auch fähig dazu. ({7}) Wir wissen, daß uns von den Bürgern draußen die Frage gestellt wird, ob es uns gelungen ist, die Lasten, die eine konsequente Finanzpolitik mit sich bringt, ausreichend gerecht zu verteilen. Wir spüren hier sehr genau die Kritik, die von denen vorgetragen wird, die sich mit Recht als die kleinen Leute empfinden. Diese wären sicher noch eher bereit, ihren Teil der Last zu tragen, wenn sie noch mehr Beispiele außer denen, die ich aufgezählt habe, erkennen würden, bei denen die Einschnitte in Vergünstigungen für finanziell Bessergestellte entsprechend deren größerer Leistungsfähigkeit kräftiger ausgefallen sind. Aber wir wissen eben auch um die Zustimmung, die wir draußen erfreulicherweise finden, wenn wir an den zwei gravierenden Leitlinien unserer Finanzpolitik, die wir vor und nach den Wahlen zum Ausdruck gebracht haben, festhalten, nämlich Fortsetzung der Politik des „weg vom Öl" und keine weitere Ausdehnung der Neuverschuldung, wenn die konjunkturelle Lage uns nicht dazu zwingt. ({8}) Die Menschen draußen haben begriffen, was der Bundeskanzler meint, wenn er vom Mut zur Zukunft spricht, nämlich Mut, den Realitäten in einer tatsächlich schwieriger gewordenen Lage ins Auge zu sehen. Die Bürger wissen auch, daß es ihnen und unserem Land unvergleichlich viel besser geht als fast allen anderen Ländern um uns herum. Es ist doch wohl erlaubt, daran zu erinnern, daß es bei all den Maßnahmen, die hier für unsere Situation als harte Eingriffe geschildert worden sind, im Grunde darum geht, Verteilungsveränderungen des von unseren Bürgern selber geschaffenen Wohlstands vorzunehmen, und um nichts anderes, und das, während in vielen Teilen der Welt noch Menschen verhungern. Man muß die Relationen für uns selber klarmachen. Dann weiß man, daß das, was wir zumuten, für den Betroffenen hart ist, aber daß es im Vergleich zu anderen Situationen in der Welt, für die wir Mitverantwortung tragen, eine Sache ist, die im Grunde ein Ausgleich unter Wohlstandsgesichtspunkten und nichts anderes ist. ({9}) In diesen Fragen kann man ja wohl sagen, daß es richtiger ist, unsere Politik darauf zu richten, Vertrauen zu gewinnen - nicht durch Versprechungen; dies hat keiner von uns getan, nicht einmal vor den Wahlen. ({10}) - Dann lesen Sie mal unser Wahlprogramm nach, und Sie werden dies bestätigt finden. ({11}) - Ich glaube, Sie waren nie da, wenn einer von uns, insbesondere der Kanzler, eine Rede im Wahlkampf gehalten hat. Der hat eine Stunde lang vor den Bürgern argumentiert. All das, was ich Ihnen hier sage, hat er auch dort - sicher besser - vorgetragen. ({12}) Er hat die Menschen für seinen Standpunkt gewonnen. Er hat auf irgendwelche Wahlgags verzichtet ({13}) und argumentiert, um die Bürger zu gewinnen. ({14}) Und sie haben ihm die Zustimmung gegeben, nicht Ihnen. Sie sind die Verlierer dieser Wahl. ({15}) Wir werden Vertrauen gewinnen - nicht durch Versprechungen, sondern durch unser so geartetes Handeln. ({16}) Es gibt keinen Grund zur Skepsis. Wir sind leistungsfähig und sorgen dafür, daß unsere Finanzen in Ordnung bleiben. Ich komme zum Schluß und möchte abschließend nur noch folgendes sagen. Die parlamentarische Beratung über die Einzelvorlagen der Regierung, seien es die Gesetzentwürfe, sei es der Bundeshaushaltsplanentwurf, in denen die vom Bundeskanzler vorgetragene Regierungspolitik uns nun vorgelegt werden wird, gibt uns genug Gelegenheit, jedes einzelne Vorhaben gründlich zu prüfen und auch aus der Sachberatung den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag anzubringen und zu verarbeiten. Gehen wir an die Arbeit! - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist doch eine verkehrte Welt. Über Wochen und Monate hat uns die Opposition, insbesondere Herr Stoltenberg, im Wahlkampf aufgefordert zu sparen. Wir tun das nun. ({0}) Aber was passiert? Herr Stoltenberg stellt sich hierher und kritisiert Punkt für Punkt unsere Sparvorschläge, das sei nicht so gemeint gewesen. Meine Damen und Herren, das geht nun wirklich nicht. Ich glaube, Herr Stoltenberg, das ist nicht verantwortungsvoll, auch dann nicht, wenn Sie dabei differenzieren, indem Sie weit verbreiteten Gefühlen der Bevölkerung entgegenkommen, die sich so beschreiben lassen: Sparen ja, aber bitte nicht jetzt, nicht so und nicht bei mir. So kam mir Ihre Rede vor. Ich glaube, wenn wir gemeinsam weiterkommen wollen, muß sich das ändern. ({1}) Das hat mich an eine kleine, unwichtige, aber bezeichnende Episode im Wahlkampf erinnert, die hier in anderen Dimensionen wieder auftaucht. Dort hatten Sie wortreich die Mischfinanzierung beklagt und gesagt, daß da verschiedenes verändert oder abgelöst werden müßte. Kaum hatte ich diese Meldung in der Zeitung gelesen, da las ich eine Seite weiter, Herr Gaddum von Rheinland-Pfalz habe kritisiert, daß sich der Bund aus der Finanzierung des Nürburgrings heraushalten wollte. Er hatte gesagt, dafür müsse der Bund verflixt nochmal 10 Millionen DM geben. ({2}) Wissen Sie, so geht das nicht. Ich möchte diesen Punkt Ihnen gegenüber nicht so vertiefen, wie es mir gefühlsmäßig eigentlich zumute ist. Das möchte ich Ihnen nach diesem Wahlkampf und Ihren Worten zur Staatsverschuldung sagen. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich will es hier nicht vertiefen und Ihnen vorwerfen, weil wir auch über diese Debatte hinaus an einem Strang ziehen müssen. Wenn wir einsparen wollen, brauchen wir dazu auch Ihre Stimmen im Bundesrat. Von daher glaube ich nicht, daß es uns weiterhilft, wenn wir uns hier heute morgen beschimpfen. Ich bitte Sie, Ihre Rede zu überdenken und sich die Frage zu stellen: War das eigentlich ein richtiger Einstieg für eine Debatte, bei der wir gemeinsam schauen müssen, wo wir ungerechtfertigte Subventionen abbauen können, wo eingespart werden kann und wo wir das, was wir alle gemeinsam im Bundestagswahlkampf gesagt haben, verwirklichen können. Damit komme ich zu dem Vorwurf, der auch in Ihrer Rede auftauchte: hier klinge es nach der Wahl anders als vorher. Meine Damen und Herren, damit das ganz klar ist und weil es ein entscheidender Vorwurf ist, sage ich: Das ist nicht richtig. Wir haben vor der Wahl alle durch die Bank - bei der FDP Graf Lambsdorff, Herr Hoppe, ich selber, alle, die mit Haushalt und Finanzen zu tun haben, auch der Vorsitzende; bei der SPD ist es genauso; ich habe die Worte des Herrn Kollegen Matthöfer noch im Ohr - gesagt: Die bisherige Staatsverschuldung war richtig und notwendig wegen der zukunftssichernden Aufgaben, die wir damit finanziert haben, sei es Beschäftigungspolitik, sei es Anlegung von Ölvorräten, sei es ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem wie die Bundesbahn und, und, und. Aber wir haben zugleich immer gesagt: Um uns die Manövrierfähigkeit, die Flexibilität in den Haushalten für die zukünftigen Jahre zu erhalten, werden wir sparen müssen. Da muß jeder Bürger wissen, das haben wir vor der Wahl gesagt -, daß bereits beim Haushalt 1981 der Rotstift angesetzt wird. Jeder Bürger muß sich darauf einstellen, daß auch er negativ betroffen sein wird. Das sagen wir offen auch vorher. Wir machen also keine Versprechungen, sondern sagen ein offenes Wort. Wir haben nach der Wahl getan, was wir vorher gesagt haben. ({3}) Ich gebe denen, die hier heute morgen gesagt haben, die Sparvorschläge reichten nicht aus, ausdrücklich recht. Auch ich glaube, daß sie nicht ausreichen, meine Damen und Herren. Ich würde das aber auch nicht so negativ sehen, wie es manche in diesem Hause, sogar innerhalb der Koalition, vor allen Dingen bei der SPD, sehen. Schauen Sie, das Streichen bei Subventionen und der Abbau bestimmter Leistungen können doch auch eine Chance sein, eine Chance, an Dinge heranzugehen, von denen man seit vielen Jahren weiß, daß sie eigentlich überfällig sind, daß sie nicht mehr in die Landschaft passen, daß dadurch diejenigen, die schon genug haben, nur noch zusätzlich etwas bekommen. Von daher meine ich, man sollte nicht den Eindruck erwekken, als sei jedes Streichen, jedes Sparen von vornherein eine antisoziale Angelegenheit. Ich glaube, wir haben hier die echte Chance, Dinge, die eigentlich überfällig sind, weil sie in die heutige Struktur nicht mehr passen, abzuändern. ({4}) - Ich höre das Stichwort „Ministerialzulage". Ich habe mich gewundert, daß dies, wenn ich das sagen darf, in dem Paket des Bundesfinanzministers nicht aufgetaucht ist. Ich kenne aber die massiven Widerstände dagegen; vielleicht muß man einmal an diese Widerstände heran, meine Damen und Herren. ({5}) Ich erneuere in diesem Zusammenhang ausdrücklich den schon im Wahlkampf von Herrn Hoppe und auch von mir gemachten Vorschlag - Herr Stoltenberg, ich spreche Sie damit an, weil Sie es abgelehnt haben -, in einer gemeinsamen Kommission von Koalition und Opposition - es kann eine Arbeitsgruppe aus Haushalts- und Finanzausschuß sein, ganz gleich, wie das im einzelnen strukturiert sein mag - über diese Dinge zu beraten. Warum sollte das nicht möglich sein? Um Ihnen gleich eine Befürchtung zu nehmen: Es kommt nicht darauf an, daß Sie nachher sogar Gesetzentwürfe mit Sparvorschlägen, mit Streichungsvorschlägen mittragen oder mit einbringen. Aber es muß doch wohl möglich sein, daß wir, bevor wir ins eigentliche Gesetzgebungsverfahren hineingehen, auch von Ihrer Seite aus hören, ob gegen bestimmte Vorschläge von seiten der Opposition und des Bundesrates grundsätzliche Einwendungen bestehen oder ob wir andererseits damit rechnen können, daß Sie hier mitmachen. ({6}) - Bitte? ({7}) - Entschuldigen Sie, das täten wir auch, wenn wir im Bundesrat die Mehrheit hätten. Die haben wir aber leider nicht. Deswegen müssen wir gemeinsam zurande kommen. Aber es geht doch nun wirklich nicht, daß die erste „Großtat" Ihrerseits, die Sie einen Schwerpunkt Ihrer Wahlkampftätigkeit darauf ausgerichtet haben, dieser Regierung vorzuwerfen, sie habe Schulden gemacht und müsse sie abbauen, hier im Parlament darin besteht, all das, was wir machen wollen, abzulehnen. ({8}) Ich glaube also schon, daß wir hier weitermachen müssen. Ich darf einmal, wie das auch mein Kollege Hoppe getan hat, etwas salopp formulieren: Es muß dann Butter bei die Fische kommen, meine Damen und Herren. Es wird dann Dinge geben, die in allen drei Fraktionen - ich schließe meine Fraktion dabei nicht aus - nicht ganz einfach sein werden, weil Sie an Dinge herangehen, die wir liebgewonnen haben und die wir ganz gerne beibehalten würden. Aber ich glaube, daß wir da noch gemeinsam über den einen oder anderen Partei-, Koalitions- oder Oppositionsschatten springen müssen. Ein letztes: Ich sehe darin eine wirkliche Chance; denn das kann man auch den Leuten draußen klarmachen. Insofern hat der Kanzler mit seinem Wort „Mut zur Zukunft" recht: Es ist Mut zur Zukunft, wenn man z. B. bereit ist, für eine deutliche Erhöhung des Entwicklungshilfeetats in andere Dinge hineinzuschneiden, auch wenn manche nur das Hineinschneiden und nicht die Erhöhung bei der Entwicklungshilfe sehen. Aber dazu brauchen wir Sie. Ich fordere Sie erneut und dringlich auf, da doch mitzumachen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Koalition mit diesen Beschlüssen - auch den Sparbeschlüssen - einen guten Start gehabt hat, auch wenn mancher in der Öffentlichkeit oder in den eigenen Parteien das nicht gern wahrhaben möchte. Es war j a übrigens zu erwarten, daß sich die Betroffenen jeweils zu Wort melden, protestieren würden; das ist doch klar. ({9}) Aber ich glaube, daß unter dem Stichwort „Opfergleichheit" - jede Bevölkerungsgruppe, jede Berufsgruppe wird an den Opfern beteiligt - Mehrheiten und auch Zustimmung zu gewinnen sind. Denn die Leute draußen sind bereit, hieran mitzuwirken. Wie gesagt, ich glaube, daß es ein guter Start war. Ferner glaube ich, daß wir für die letzten Jahre, seit Beginn dieser sozialliberalen Koalition in der Steuer- und Finanzpolitik eine gute Bilanz aufzuweisen haben. Ich erinnere mich sehr wohl an das Jahr 1969: Als wir diese Koalition begannen, gab es Skeptiker, Skeptiker, wenn ich so sagen darf, gerade aus dem Bereich des Mittelstandes, der Freiberufler, die gesagt haben: Ja, in der Außenpolitik, da haut das mit den Sozialdemokraten vielleicht hin, aber du liebe Güte, was mag das in der Steuerpolitik, in der Finanzpolitik geben? Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen nur kurz vor Augen führen, was wir in diesen elf Jahren zusammen gemacht haben. Ich nenne regelmäßige Steuerentlastungspakete. Die Steuerbelastung ist in all den Jahren nicht gestiegen, sondern gleich geblieben. Das im Sommer beschlossene Steuerpaket mit Tarifreform, Sonderausgabenerhöhungen, Weihnachtsfreibetrags- und Grundfreibetragserhöhungen usw. tritt erst noch in Kraft. Wir haben mehrfach das Kindergeld erhöht. Wir haben auch umfangreiche Erleichterungen für die Wirtschaft durchgeführt: Investitionsrücklagenverbesserungen, Verbesserungen der degressiven Abschreibung, Vermögensteuersenkungen und - das Wichtigste - mehrfach Senkungen bei der Gewerbesteuer. Gerade auch der wirtschaftliche Mittelstand, die Freiberufler können sich in dieser Koalition wiederfinden. Und das wird auch so bleiben, meine Damen und Herren. Herr Leisler Kiep, wenn Sie in Ihrer Rede gesagt haben, unsere Finanzpolitik habe sich darauf konzentriert, herauszufinden, wo man noch eine Mark lockermachen könne, so ist das schlicht und einfach falsch. Die Belastung durch Steuern und Abgaben ist unter dieser Regierung nicht angestiegen. Im Gegenteil - der Kanzler hat es gesagt -, wir haben bereits in den Koalitionsverhandlungen vereinbart, daß wir, wenn die nominalen Steigerungen der Einkommen dazu führen, daß erneut viele Bürger in die Progression hineinwachsen - ohne daß dem materiell mehr Leistungsfähigkeit gegenübersteht -, ein neues Steuerpaket beschließen werden. Wir haben dafür schon zwei konkrete Einzelheiten vereinbart, zum einen die Anhebung des Grundfreibetrages, zum anderen die Verbesserung der steuerlichen Behandlung der Vorsorgeaufwendungen der Selbständigen für den Krankheitsfall. Ich halte das für eine wichtige Reform. Wir haben vereinbart, daß die steuerliche Behandlung der Alleinerziehenden beim Kinderbetreuungsbetrag verbessert werden soll. Über die sonstigen Einzelheiten werden wir uns - wie immer - auch bei dem folgenden Steuerpaket einigen. ({10}) Ein Stichwort ist für die nächste Legislaturperiode, und zwar stärker als bisher, die Steuervereinfachung. Auch da kommt es nicht auf schöne Worte an. Ich erinnere daran, daß Herr Gaddum einen sehr segensreichen Entwurf vorgelegt hat, wie man das Einkommensteuergesetz vereinfachen könnte. Die Folge war, daß ihn seine eigenen Kollegen an dieser und jener Stelle sofort zurückgepfiffen haben. Es kommt doch nicht darauf an, ein komplett neues Einkommensteuergesetz zu schreiben, sondern vielmehr darauf, die Bürokratie für den Bürger zu verringern. Dazu gehört z. B. die vom Bundeskanzler hier vorgetragene Finanzamtslösung. Es ist nicht einzusehen, warum der Bürger bei seinen finanziellen Beziehungen zum Staate außer mit dem Finanzamt auch noch, speziell beim Kindergeld, mit dem Arbeitsamt zu tun hat. Wir wissen doch, aus welchen unzureichenden Gründen das dorthin verschoben worden ist. ({11}) Ich nenne hier zum Abschluß unter dem Stichwort „Abbau von Bürokratie" auch die KraftfahrzeugFrau Matthäus-Maier Steuer. Das ist jedoch nur ein Grund für ihre Reform. Herr Stoltenberg, das Plakettenverfahren hier vorzutragen, reicht eben nicht aus. Es würde zwar zu einem gewissen Grad der Steuervereinfachung dienen, aber wichtigen anderen Gründen, warum diese Koalition ihre alte Forderung nach Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer wiederholt hat, nicht Rechnung tragen. Neben der Steuervereinfachung ist da der Umweltschutz zu nennen. Wir wissen, daß kleine Motoren umweltfeindlicher sind, weil sie lauter sind und mehr Emissionen verursachen. Wir sind der festen Überzeugung, daß wir mit einer solchen Umlage auch der Energieeinsparung dienen - und das ist der wichtigste Gesichtspunkt. Wir möchten, daß die Bürger einen verstärkten Anreiz erhalten, Öl einzusparen, und die Automobilfirmen angereizt werden, andere energieeinsparende Motoren zu bauen. Wir wissen, daß das möglich ist. Wenn dem hier heute von Herrn Stoltenberg entgegengehalten wird, der Staat würde damit neben den OPEC-Staaten zum zweiten Preistreiber beim Mineralöl, so hat er Unrecht. Auch hier muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer für die große Masse der Fahrer nicht zu einer Verschlechterung, sondern sogar zu einer Verbesserung führen würde. Was die Fernpendler und die Behinderten angeht, haben wir, wie schon in der Erklärung des Kanzlers von 1979 zum Ausdruck kam, vorgesehen, daß ein Ausgleich geschaffen werden wird. Ich bin der Ansicht, daß dieser Ausgleich nach Form und Art allerdings nicht so sein kann, daß er den Zweck dieser Umlegung - Anreiz zur Energieeinsparung - konterkariert; aber über diese Einzelheiten werden wir noch sprechen. Hinsichtlich des Preistreibers möchte ich aus dem Sachverständigengutachten zitieren, das vor wenigen Tagen erschienen ist. Dort wird gesagt: Der energiepolitische Zweck wird erreicht, wenn es dem Staat gelingt, die Ölrente, die bei späteren Preiserhöhungen den Ölförderländern zufließen würde, sozusagen im Vorgriff selbst abzuschöpfen. Das ist also die Aufforderung an uns. Diese Aufforderung hat auch Jamani immer wiederholt: Macht eure eigene knappe Energie, nämlich das 01, teuer, damit der Bürger und alle Betroffenen sorgsamer damit umgehen! Ich glaube, daß das eine echte Chance ist. Diese marktwirtschaftliche Lösung legt es den Betroffenen weitgehend in die eigenen Hände, darüber zu bestimmen, wie hoch seine jeweilige Steuer wird. Ich bedauere sehr die scharfen Worte von Herrn Stoltenberg und hoffe, daß er sie überdenkt. Wer heute diese marktwirtschaftliche, diese freiwillige Lösung ablehnt, wird morgen dafür verantwortlich sein, daß der Staat, welche Regierung und welche Partei auch immer - wegen der Knappheit muß das jeder tun -, mit dirigistischen, tief eingreifenden Mitteln wie Fahrverboten und ähnlichen Dingen auf diesem Gebiet Einsparungen erzwingt. Das Leistungsbilanzdefizit von 20 bis 30 Milliarden DM allein in diesem Jahr würde uns denn dazu bringen, auch solche Maßnahmen zur Öleinsparung vorzusehen. Ich halte die Reform dér Kraftfahrzeugsteuer für ein Gebot der wirtschaftspolitischen Vernunft. Ich bitte den einen oder anderen, der heute dagegen ist, seine Position zu überdenken. Ich glaube - ich habe nur noch wenige Minuten Zeit -, daß diese Regierung mit ihrer Finanz- und Steuerpolitik einen guten Start gemacht hat. Wir bitten um Ihr Vertrauen in diesem Hause für die nächsten vier Jahre. - Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Der erste Redner wird Finanzminister Matthöfer sein. ({0})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP betr. den koreanischen Oppositionspolitiker KIM Dae-Jung - Drucksache 9/28. Ist das Haus mit dieser Ergänzung einverstanden? - Kein Widerspruch. Damit ist so beschlossen. Ich rufe jetzt diesen Zusatzpunkt auf: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Dae-Jung - Drucksache 9/28 Der Antrag hat folgenden Wortlaut: Der Deutsche Bundestag hat mit großer Sorge von der Bestätigung des Todesurteils gegen den koreanischen Oppositionspolitiker KIM DaeJung durch die Berufungsinstanz der koreanischen Militärgerichtsbarkeit erfahren. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bundesregierung bei ihren Bemühungen, für Leben und Freiheit von KIM Dae-Jung einzutreten. Der Deutsche Bundestag bittet nachdrücklich alle befreundeten Regierungen, nichts unversucht zu lassen, um Leben und Freiheit von KIM Dae-Jung zu retten. Soweit der Wortlaut des interfraktionellen Antrags. Wird das Wort zur Begründung oder anderweitig gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer dem interfraktionellen Antrag auf Drucksache 9/28 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Bitte die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Ich danke dem Haus für die einstimmige Annahme dieses Antrags. Wir fahren jetzt in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort. Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.

Hans Matthöfer (Minister:in)

Politiker ID: 11001439

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte wirklich gedacht, die Union hätte etwas aus dem Wahlkampf gelernt. Aber sie verfällt immer wieder in denselben Fehler. Sie verbiegt die Wirklichkeit, sie interpretiert sie um, und dann wird das Zerrbild unseres Landes so übersteigert, daß kein Mensch das wirkliche Bild in der Argumentation mehr wiedererkennt. Diesen Eindruck bekomme ich, wenn ich Herrn Stoltenberg höre, der von wachsenden Fehlbeträgen und von Finanzkrisen spricht. Lieber Herr Stoltenberg, wir werden genau das tun, was wir im ganzen Wahlkampf angekündigt haben. Ich darf Ihnen das alles noch einmal sagen, was wir zum Teil gemeinsam beschlossen haben. Der Haushalt wird um 4 % wachsen. Ich habe gesagt, daß wir die Steuermindereinnahmen, die durch die Senkung bewirkt werden, durch Streichungen im Haushalt kompensieren werden. Das haben Sie selbst mindestens dreimal im Bundesrat gehört, auch hier an dieser Stelle, und 182mal habe ich dies in Wahlkampfveranstaltungen gesagt. Und wir haben gesagt, wir werden ein Defizit von ungefähr 27 Milliarden DM machen. Wir werden zwei - ({0}) - Natürlich wird es Nachtragshaushalte geben. Sie kennen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie kennen die Praxis dieses Hauses, daß dann, wenn neue Dinge auftreten, die Bundesregierung nicht selbständig irgend etwas tun kann, sondern daß die Budgethoheit dieses Hauses gewahrt bleibt. Das haben der Haushaltsausschuß und dieses Haus bisher auch immer respektiert und akzeptiert, und sie haben dabei mitgearbeitet. ({1}) - 27 Milliarden DM werden wir in meinem Haushaltsvorschlag vorlegen. Wenn keine unvorhergesehenen Dinge eintreten, wird es auch dabei bleiben. Warum soll es denn dann anders werden? Das geht j a gar nicht mehr, wenn der Haushalt so verabschiedet wird. ({2}) Schließlich haben wir gesagt: wir werden zwei Steuern erhöhen. Gestern höre ich zu meinem großen Erstaunen Herrn Zimmermann, der sagt, ich hätte gesagt, wir würden die Mehrwert- und die Tabaksteuer nicht erhöhen, und das würden wir nun doch tun. Wer hat denn hier jemals von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Tabaksteuer gesprochen? Sind Sie noch immer so befangen in Ihrer eigenen Wahlpropaganda, daß Sie die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen? Wir erhöhen zwei Steuern, die Branntweinsteuer und die Mineralölsteuer. Dies haben wir im Juni durch Kabinettsbeschluß festgelegt. Warum sie ein bißchen höher ausfällt, als wir beschlossen haben, werde ich Ihnen gleich erklären. ({3}) Das hat seinen guten, Beschäftigung sichernden Grund. Es ist doch absurd, Herr Stoltenberg, wenn Sie uns jetzt in Artikeln oder auch heute in Ihrer Rede eine prozyklische Haushalts- und Finanzpolitik vorwerfen. Das muß man sich überlegen: ein Haushalt mit 27 Milliarden Defizit ist für Herrn Stoltenberg „prozyklisch". Lieber Herr Stoltenberg, was heißt denn „prozyklisch"? Wenn nationalökonomische Terminologie noch überhaupt irgendeine Bedeutung hat, dann sagen Sie: Das Defizit ist zu niedrig. ({4}) Oder Sie hoffen, daß die Leute vergessen, was Sie gestern gesagt haben. Wir haben 27 Milliarden gesagt. Wir bleiben dabei. Das ist nicht prozyklisch. Es ist doch ein Unsinn, zu behaupten, ein Haushalt mit 27 Milliarden DM Defizit sei prozyklisch, d. h. verstärke den Wirtschaftsabschwung.

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiep? Matthöfer, Bundesminster der Finanzen: Ja. Herr Kiep, zu Ihnen komme ich gleich; aber bitte, eine Zwischenfrage.

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie mir erlauben, noch unbeschädigt eine Frage zu stellen: ({0}) Herr Bundesfinanzminister, liege ich richtig in der Annahme, daß Ihre Schwierigkeit im Verständnis der Ausführungen von Herrn Ministerpräsident Stoltenberg darin bestehen könnte, daß Sie in den Jahren 1978, 1979, 1980 eine prozyklische Finanzpolitik betrieben haben und diese 1981 sozusagen unter veränderten Umständen nur fortsetzen? ({1})

Hans Matthöfer (Minister:in)

Politiker ID: 11001439

Herr Kiep, wenn Sie mir gestatten, möchte ich an einer anderen Stelle meiner Ausführungen zu dem Punkt, den ich mir auch aufgeschrieben habe, Stellung nehmen. Ich sage Ihnen nur eines. Die augenblickliche wirtschaftliche Lage ist in ihrer Komplexität nicht mit der Situation zu vergleichen, wie wir sie in den von Ihnen genannten Jahren gehabt haben. ({0}) Wir sind doch keine Papageien, die jeden Morgen sagen: „Schönes Wetter heute", auch wenn es regnet, ({1}) sondern wir analysieren die Situation ({2}) und führen die Maßnahmen durch, die zur Bewältigung der jeweils vor uns stehenden Probleme angemessen sind. Da muß ich nun allerdings sagen - und da stimme ich ja hoffentlich mit Ihnen überein -, daß ich unser Zahlungsbilanzdefizit für ein großes Problem halte. Ich habe in jeder Wahlversammlung imBundesminister Matthöfer mer wieder gesagt, wir müssen dieses Zahlungsbilanzdefizit beseitigen, wir verbrauchen zuviel Ö1, wir müssen den Ölverbrauch drosseln, auch wenn dies unpopuläre Maßnahmen erfordert. Niemand konnte sich darüber im unklaren sein. Wir müssen, wenn wir Vollbeschäftigung wollen, eine Wirkungskette unterbrechen, die bei der Ölverteuerung anfängt. Ich sage nun nicht, daß das Leistungsbilanzdefizit im Rahmen einer Vollbeschäftigungspolitik der einzige Faktor ist, der uns behindert. Da sind Investitionshemmnisse und andere Dinge. Aber es ist ein wichtiges Faktum, das Vollbeschäftigungspolitik behindert. Und wie? Der Ölverbrauch ist zu hoch. Die Ölpreise steigen. Dies führt zu einem Leistungsbilanzdefizit. Wir müssen in diesem Jahr 20 Milliarden DM mehr für weniger Öl zahlen, als wir im vergangenen Jahr verbraucht haben. 20 Milliarden DM mehr für weniger Ö1! Deshalb müssen wir dieses Leistungsbilanzdefizit finanzieren. ({3}) Wir leben hier in diesem Zusammenhang in der Tat über unsere Verhältnisse. Wie kann man nun die ausländischen Zahlungsmittel bekommen, die man braucht, um ein solches Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren? Man nimmt seine eigenen Devisenvorräte. Die sind nicht so groß, wie manche Leute glauben und unterstellen. Vor allen Dingen möchte ich auch immer noch über einen Notvorrat verfügen. Den haben wir allerdings auch dafür angesammelt, um in solchen Situationen eingreifen zu können. ({4}) - Entschuldigen Sie bitte, dies ist die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, und ich repräsentiere Sie und Ihre Wähler genauso in meiner Wirtschafts-und Finanzpolitik. Wenn ich sage „wir", dann meine ich uns alle zusammen. Wir haben diese Devisenvorräte angesammelt. Da ist die Bundesbank natürlich auch eingeschlossen. Diese Devisenvorräte können und sollten wir nun begrenzt einsetzen. Eine zweite Möglichkeit ist, daß man Kapital einführt. Dazu braucht man hohe Zinsen. Das ist das Dilemma, in dem sich die Bundesbank befindet. Das sehen wir natürlich alle, Zentralbankrat und Bundesregierung, daß es für die innere Entwicklung gut wäre, wenn die Zinsen niedriger wären; aber es ist nun einmal so, daß wir hohe Zinsen im Ausland haben und daß ein noch niedrigeres Zinsniveau in der Bundesrepublik zu Kapitalabflüssen und nicht zu Kapitalzuflüssen führen würde. Also haben wir hohe Zinsen. Diese dämpfen die Investitionsneigung, und deshalb gibt es weniger Arbeitsplätze. Wer diesen Teil des Vollbeschäftigungsproblems anpacken will, muß die hohen Zinsen senken, und um die Zinsen senken zu können, muß er das Leistungsbilanzdefizit vermindern. Dies ist die Wirkungskette, um - auch im Rahmen anderer Maßnahmen; ich werde auf die Mineralösteuererhöhung gleich noch zu sprechen kommen - das Leistungsbilanzdefizit zu vermindern. Grundvoraussetzung einer Politik der Anpassung an die geänderten Umstände aber ist eine Stabilitätserwartung in der Bundesrepublik. Wir dürfen nicht zulassen, daß bei uns eine Inflationsmentalität um sich greift. Wir müssen jedwede Inflationserwartung brechen oder gar nicht erst aufkommen lassen. ({5}) Das wiederum setzt eine ausgewogene Fiskalpolitik voraus, die private Investitionen ermutigt und sich ausreichende Flexibilität, Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit erhält, um in Zukunft mit den Problemen fertig werden zu können. Der Erfolg dieser von uns verfolgten Stabilitätspolitik hängt auch von der Einsicht in die Notwendigkeit ab, die Folgen eines enger gewordenen Verteilungspielraums - auch bezüglich der öffentlichen Ausgaben - hinzunehmen. Das ist doch selbstverständlich. Hier muß ich mich nun wirklich wundern. Im Wahlkampf beklagt der Herr Stoltenberg die „hemmungslose Ausgabenwirtschaft des Bundes". Ich hatte gesagt, die Steuermindereinnahmen werde ich durch Ausgabenkürzungen kompensieren oder finanzieren. Jetzt heißt es: Ausgabenkürzungen ja, aber doch nicht bei der Werfthilfe, nicht bei der Reedereihilfe, nicht bei der Verteidigung, nicht bei der Entwicklungshilfe, nicht bei der Landwirtschaft, nicht bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", auf keinen Fall bei Berlin, nicht im Zonenrandgebiet. Wenn man dann fragt, wo man denn kürzen soll, wird gesagt: Ja, wer sind wir denn? ({6}) Es wird gesagt: Wir haben euch doch keine Vorschläge zu machen, ihr seid doch die Regierung. ({7}) Meine Herren, ich habe Sie nicht nach Vorschlägen gefragt. Ich werde Ihnen einen Haushalt vorlegen, der solide finanziert ist und der genau dem entspricht, was wir im Juni gemeinsam beschlossen haben: 41 % Steigerung. Herr Stoltenberg, auf den Haushalt Ihres Landes komme ich gleich noch zu sprechen. ({8}) Wollen wir doch einmal sehen, wie die Länderhaushalte aussehen, ob sie sich auch an den in gemeinsamer Verantwortung gefaßten Beschluß halten! Die Konsequenzen der wirtschaftlichen Entwicklung für die Haushaltspolitik sind ganz klar: Begrenzung von Ausgabenanstieg und Kreditaufnahme auf das zur Beschäftigungssicherung unabweisbar Erforderliche und kein Abblocken der zur Jahreswende in Kraft tretenden Maßnahmen. Ich darf hinzufügen, daß dieses Inkrafttreten zur Jahreswende vorausschauend richtig beschlossen wurde. Sie wollten das alles, wenn ich Sie daran erinnern darf, ja schon zum 1. Januar 1980 machen, was in der seinerzeitigen konjunkturellen Situation völlig falsch gewesen wäre. Sie haben dem deutschen Volk im Herbst des vergangenen Jahres falsche Vorschläge gemacht. Es ist richtig, die zusätzliche Kaufkraft der Konsumenten zu Weihnachten dieses Jahres zum 1. Januar 1981 zu mobilisieren. Wir werden die Ausgabenseite des Haushalts umbauen und versuchen, die wachstumsfördernden Wirkungen zu verstetigen. Das wird bei einer Zuwachsrate von 4 % und bei der Vorgabe, daß z. B. die Mittel für Entwicklungshilfe und Verteidigung sehr viel stärker steigen sollen, ungemein schwierig sein. Wir werden weiter die Energieeinsparung unterstützen und wirtschaftliche Anpassungen erleichtern. Und wir werden auch die Einnahmeseite allmählich umbauen. Das wird so weitergehen; da kann ich Herrn Hoppe nur Recht geben. Ich gehöre nicht zu den Pseudo-Machiavellisten, die sagen, man müsse die Grausamkeiten am Beginn einer Legislaturperiode begehen. Es ist Unsinn, so zu tun, als ob man solche Rezepte auf eine Demokratie übertragen könnte. Dies muß eine ständige Umbaubemühung sein, und dies sind - das ist doch ganz selbstverständlich - erste Schritte, die wir unternehmen. Dazu gehört der Abbau der Steuersubventionen für den Energieverbrauch, dazu gehört im weiteren Verlauf der Legislaturperiode dann vielleicht der Abbau leistungshemmender Belastungen bei der Lohnsteuer. Das, was von Herrn Ministerpräsident Stoltenberg zu hören war, ist wenig hilfreich und auch widersprüchlich. Es tut mir ja nun leid, daß ich einmal Ihre einzelnen Beispiele auseinandernehmen muß. Ich muß Ihnen sagen, Ihre rednerische Leistung war gut, ganz prima! ({9}) Das hat beeindruckt. Aber der Inhalt! ({10}) Lieber Herr Stoltenberg, das müssen Sie sich bitte noch einmal überlegen! Fragen Sie einmal die Wissenschaftler vom Deutschen Elektronen-Synchroton ({11}), wem sie den neuen Speicherring verdanken, wer - auch gegen Widerstände - dafür gekämpft hat! Ich halte wirklich für wichtig, was da in Hamburg gemacht wird. Die Verträge mit den chinesischen Wissenschaftlern habe ich angebahnt. Was ist denn an DESY, das Sie für wert befinden, als Beispiel für den angeblichen „Finanzbankrott der Bundesregierung", anzuführen? Was ist denn da wirklich passiert? In jedem Jahr werden die Speicherringe und Beschleuniger für eine bestimmte Zeit abgeschaltet, weil sie repariert werden müssen. Im Jahre 1979 waren es insgesamt 95 Tage. In diesem Jahr waren es bisher 70 Tage. Nun haben die HEW die Strompreise um 46 % erhöht. Das war, wie Sie wissen, keine Entscheidung des Bundes. Nun ist 1980 im Haushalt von DESY nicht genug Geld, und da sagen Sie: Dann soll der Bundesfinanzminister mal gefälligst etwas rüberschieben, damit die weiter ihren Beschleuniger betreiben können. Sagen Sie mir doch einmal, wie das haushaltsrechtlich überhaupt möglich sein soll; sagen Sie mir doch, wo ich das hernehmen soll! Fragen Sie doch einmal den Herrn Windelen oder sonst irgend jemanden! Die würden mir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorhalten. Deshalb haben die Leute sich entschieden, die Anlage genauso lange wie im vergangenen Jahr stillzulegen; sie haben die Weihnachtsferien um zwei Wochen verlängert. Das ist die „tragische Situation der deutschen Grundlagenforschung", die Herr Stoltenberg hier als Beispiel angeführt hat! ({12}) Wie unglaubwürdig Ihre Sparappelle und Vorschläge sind, darf ich einmal an einem konkreten Beispiel belegen, Herr Stoltenberg, das Sie auch im Wahlkampf immer angeführt haben. Ich habe Ihnen damals nicht widersprochen, weil ich ja im Grunde mit jedem sympathisiere, der Sparmaßnahmen durchsetzt. Das möchte ich betonen. Ich will da niemanden decouragieren, aber in dem Fall, von dem wir jetzt sprechen, nämlich beim Verkehrslärmschutzgesetz, handelte es sich überhaupt nicht um eine Sparmaßnahme. Den ganzen Sommer hindurch haben Sie gesagt, was für ein vorbildlicher Finanzpolitiker Sie doch seien, weil Sie gerade dieses Gesetz im Bundesrat gestoppt hätten, da es angeblich zu hohe Haushaltsbelastungen für die Länder auslöse. Ich darf zur Klärung der Tatsachen einmal folgendes sagen: Alle Beteiligten waren und sind sich auch heute noch darüber einig, daß eine zusätzliche Haushaltsbelastung nicht in Frage kommt, sondern daß die zusätzlichen Ausgaben für den Lärmschutz vielmehr beim Straßenbau wieder eingespart werden sollen. So lautete die Verabredung. Außerdem muß der Bund angesichts der Art und Weise des Aufbaus des Verkehrslärmschutzgesetzes sowieso mit einem Anteil von 70 % die Hauptlast der Ausgaben tragen. Was nun die Argumentation von Herrn Stoltenberg betrifft, so steht er mit seiner These, die Verhinderung des Verkehrslärmschutzgesetzes spare Kosten ein, ziemlich allein da. Alle Experten wissen, daß wegen der völlig uneinheitlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Lärmschutzes eine gesetzliche Regelung erfolgen muß, damit mehr Rechtssicherheit erreicht wird und gleichzeitig auch die Kosten nicht von den Gerichten allein - weil da ein rechtsfreier Raum besteht - festgesetzt werden. Es müssen daher feste, verbindliche und berechenbare Höchstwerte vorhanden sein. Es sind doch gerade die Gemeinden, deren Interessen nach unserer Verfassung die Ministerpräsidenten ja wohl auch wahrnehmen müssen, die in einer Vielzahl von Stellungnahmen und Eingaben nachdrücklich ein Zustandekommen des Verkehrslärmschutzgesetzes gefordert haben, um die Kosten des Lärmschutzes kalkulieren und in Grenzen halten zu können. Diese Argumentation hat sich ja auch die CDU/CSU-Fraktion zu eigen gemacht, bis sie - aus ganz merkwürdigen Gründen - dann doch noch dagegengestimmt hat. Aus den gleichen Gründen hat der rheinland-pfälzische Finanzminister Gaddum hier von dieser Stelle aus am 4. Juli an Sie appelliert, dieses Gesetz, das durch den Vermittlungsausschuß gegangen war, um Himmels willen nicht scheitern zu lassen. ({13}) Sie sehen, Herr Stoltenberg, Ihr Versuch, das Scheitern des Verkehrslärmschutzgesetzes sachlich zu rechtfertigen, setzt Sie in einen Gegensatz zu allen Beteiligten und selbst zu Ihren eigenen Parteifreunden. ({14}) Das ist ja nun überhaupt nichts Neues, denn das passiert Ihnen öfter. Ich erinnere mich noch an die Debatte im Wahlkampf. Herr Geissler sagte, er wolle ein Erziehungsgeld, das - ich hoffe, ich kann die Zahlen aus dem Kopf richtig reproduzieren - 10 Milliarden DM kosten solle. Dann wollte er noch mehr für die Rüstung, für die Verteidigung tun, und zwar noch einmal 6 Milliarden DM. Er wollte zusätzlich die Steuern um 6 Milliarden DM senken. Das ergab insgesamt etwa 22 bis 23 Milliarden DM. Dann fragte man ihn: „Wie wollen Sie das finanzieren?" Daraufhin sagte Herr Geissler im Wahlkampf: „Wir werden alle Haushalte zusammenstreichen, von der Forschung bis zum Straßenbau." Dies war die Geisslersche Antwort auf die Frage, woher er das Geld für die Prioritäten der CDU/CSU bekäme: von der Forschung bis zum Straßenbau. Aber Herr Stoltenberg beklagt heute eine angebliche Streichungsaktion bei der Grundlagenforschung, die ich so noch nicht sehe. Aber bitte, wir werden den Haushalt ja diskutieren können, wenn er vorliegt. Ich möchte auch noch folgende kurze Anmerkung machen, um Legendenbildungen entgegenzuwirken, Herr Stoltenberg, und auch um einer zukünftigen weiteren großzügigen Zitierweise Ihrerseits vorzubeugen. Sie haben eine Erklärung des Bundesministeriums der Finanzen zitiert, nach der der Bund in den letzten zehn Jahren rund 140 Milliarden DM an die Länderhaushalte geleistet habe. Nach Ihrer Vorstellung, so haben Sie gesagt, sei dieser Betrag viel zu hoch angesetzt, weil nämlich die Geldleistungsgesetze nach Art. 104 a Abs. 3 des Grundgesetzes abgezogen werden müßten. Nun darf ich Ihnen vorlesen, was in dieser Mitteilung des BMF steht - ich habe das Original hier -: In den letzten zehn Jahren, von 1971 bis 1980, summieren sich diese Ausgaben auf einen Betrag von rund 140 Milliarden DM. Zählt man auch noch die Mitfinanzierung des Bundes im Bereich der Geldleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 3 Grundgesetz, z. B. Ausbildungsförderung, Wohngeld, Sparförderung, und sonstige Zahlungen des Bundes an die Länder, z. B. Erstattungen auf Grund des Bundesentschädigungsgesetzes, hinzu, so gelangt man zu einem Betrag von rund 250 Milliarden DM. Das ist das Original, Herr Stoltenberg, und nicht das, was Sie hier zitiert haben. Sie müssen Ihren Leuten, die Ihnen das vorbereiten, sagen, sie sollen in Zukunft besser nachgucken, denn meine Beamten gukken das natürlich auch gleich nach. ({15}) Dann haben Sie sich darüber beschwert, wir hätten die Mittel für den Hochschulbau gekürzt. Am 23. Juni 1980 hat eine Sitzung des Planungsausschusses stattgefunden. Im Protokoll heißt es: Sämtliche Vorhaben mit Baubeginn 1981 werden ... seitens des Bundes vorläufig unter Finanzierungsvorbehalt gestellt, über deren etwaige Umsetzung auf den Vorhabenteil der Planungsausschuß im Dezember 1980 entscheidet. Das haben wir Ihnen am 23. Juni im Planungsausschuß angekündigt: daß wir alles dies unter den Finanzierungsvorbehalt stellen. Wenn wir im Dezember wieder zusammenkommen, werden Sie die Entscheidung des Bundes haben, und dann kann man sich vernünftig darüber unterhalten, wie man es macht. Nun darf ich zu Herrn Kiep übergehen, aber auch noch bei der Forschung bleiben. Herr Kiep brachte das Beispiel der Mikroprozessoren und setzte sich eher für die indirekte Forschungsförderung ein. Er sagte, die ganzen Projekte des Bundesministeriums für Forschung und Technologie seien gar nicht gut, außerdem würden wir bei der Mikroelektronik Boden verlieren. Das ist sicher richtig. Ich fürchte auch, daß die Amerikaner und die Japaner uns hier vorneweglaufen und daß wir da viel mehr tun müssen. Nur: Wie denn? Wie, glauben Sie denn, setzt sich Technik in industrielle Praxis um? Ich verstehe Sie so, daß Sie Grundlagenforschung betreiben wollen - Herr Stoltenberg will sie jedenfalls nicht kürzen -, und Sie wollen eine indirekte Forschungs-und Technologieförderung insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen betreiben. Wie macht man das bezüglich der. Mikroelektronik? ({16}) - Wenn es praktisch wird, dann schütteln Sie die Köpfe! ({17}) Wie machen die Amerikaner das, und wie machen die Japaner das? Ich habe vor drei, vier Monaten im „Handelsblatt" eine Meldung gelesen, daß fünf große japanische Elektrokonzerne und das entsprechende Ministerium dort über viele Jahre hinweg einige hundert Millionen DM in dieses Gebiet gesteckt und einen Chip entwickelt haben, der etwa die 60fache Leistungsfähigkeit der besten amerikanischen Chips aufweist. Dieser Vorlauf von sechs, sieben Jahren zentraler projektfinanzierter Forschungs-und Technologiearbeit wird uns in den nächsten Jahren zu schaffen machen. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß die arbeitsplatzvernichtenden Wirkungen - sagen wir einmal - der neuen Büroelektronik bei uns auftreten und die arbeitsplatzschaffenden Wirkungen dieser Technologie in Japan oder in Amerika. Das kriegen Sie mit indirek172 ter Forschungsförderung nicht in den Griff, lieber Herr Kiep, das schaffen Sie nicht! ({18}) Da müssen Sie schon Programme machen. Es bleibt mir nicht erspart, auch kurz auf Ihre eigene unmittelbare Vergangenheit als Finanzminister in Niedersachsen einzugehen. Wie alle anderen CDU-regierten Länder hat es die niedersächsische Landesregierung nicht geschafft, die gemeinsamen Verabredungen von Bund und Ländern im Finanzplanungsrat über eine restriktive Ausgabengestaltung seit 1978 in die Wirklichkeit umzusetzen. Während sich der Bund an diese Verabredung gehalten hat - er reduzierte seinen Ausgabenzuwachs von 10 v., H. 1978 auf 7,2 v. H. 1979; wir werden 1980 etwa bei 6 v. H. liegen und steuern für 1981 4 v. H. an, also genau die Linie, die wir verabredet haben -, hat Niedersachsen seine Ausgabenwachstumsrate mit über 8 % praktisch beibehalten. Eine solche Ausgabengestaltung kann für die Entwicklung der Verschuldung in Niedersachsen natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Es ist nicht erstaunlich, daß sich die Schulden von Niedersachsen seit 1975 verdoppelt haben und daß Niedersachsen - allerdings einschließlich der Gemeinden -, was den Schuldenstand je Einwohner anbelangt, Ende 1979 in der Spitzengruppe der Flächenländer lag. ({19}) - Ja, sicher, hinter NRW. Aber hier hat nicht der Finanzminister von NRW, sondern der ehemalige Finanzminister von Niedersachsen gesprochen, der in sich gehen und schweigen sollte, wenn es um Finanzpolitik geht. ({20})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kiep?

Hans Matthöfer (Minister:in)

Politiker ID: 11001439

Bitte schön.

Dr. h. c. Walther Leisler Kiep (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Indem ich Sie frage, ob Sie bereit sind entgegenzunehmen, daß ich mich auf Grund meiner früheren Tätigkeit nicht so belastet fühle, um in diesem Hause auf alle Zeiten schweigen zu müssen, erlaube ich mir an Sie die Frage, ob Sie wissen, daß der Haushalt Niedersachsens durch eine Reihe von Gesetzen, die inzwischen beschlossen worden sind, im Jahre 1981 Mindereinnahmen von über 450 Millionen DM verkraften muß.

Hans Matthöfer (Minister:in)

Politiker ID: 11001439

Ich weiß nicht, wer die Gesetze beschlossen hat. ({0}) - Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten. Es kann der Landtag von Niedersachsen gewesen sein oder aber der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. ({1}) Es gibt doch überhaupt kein Gesetz, das die Länder finanziell stark belastet, dem nicht der Bundesrat zustimmen muß. Nun zu dem Vorwurf: Aber in den Jahren 1979 und 1980 habt ihr ein bißchen zu stark zugelegt und das Niveau der Konjunktur sowie der Beschäftigung ein bißchen zu hoch gehalten. Da muß man sich nun einmal in Erinnerung rufen, wie der Ablauf war. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, aber ich will es noch einmal tun. Nach meiner Meinung haben die Regierungen der kapitalistischen Länder in der großen Krise der frühen 30er Jahre im wesentlichen zwei Fehler gemacht. Der erste betraf den internationalen Bereich. Sie haben einmal das Weltwährungssystem zerbrechen lassen- und zum anderen durch protektionistische Maßnahmen ihren Markt abgeschottet und damit natürlich den Weltmarkt zerstört. Das war der eine schwere Fehler. Der zweite Fehler lag in der Fiskalpolitik: Man hat Steuermindereinnahmen durch Ausgabenstreichungen kompensiert und damit die Arbeitslosigkeit verstärkt. Wir haben versucht, in der weltweiten Wirtschaftskrise seit 1974 beide Fehler zu vermeiden. Wir haben einen ganz beachtlichen Teil unserer Arbeitszeit in die internationale Kommunikation und Koordination gesteckt. Ein Teil dieser Bemühungen - sie betreffen einmal die EG, dann die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds - bezieht sich auch auf den sogenannten Weltwirtschaftsgipfel. Nun hatten wir 1978 hier in Bonn den Weltwirtschaftsgipfel. Wir haben von den Amerikanern verlangt, daß sie ihren Ölpreis auf Weltniveau bringen, damit dort der Ölverbrauch zurückgeht; wir haben von den Japanern verlangt, daß sie ihre Märkte für Einfuhren aus anderen Ländern öffnen, usw. usw. Und die anderen haben von uns verlangt, daß wir eine zusätzliche Bemühung unternehmen und mit etwa 1 % des Bruttosozialprodukts eine zusätzliche Kreditaufnahme vornehmen. Es ist nicht ganz 1 % geworden. Aber wir haben es damals versprochen. Diese internationale Zusammenarbeit hat uns wirklich bisher davor geschützt, daß die Weltmärkte auseinandergebrochen sind. Wir haben es bis jetzt geschafft, Protektionismus in den großen Industrieländern zu vermeiden. Wir haben bisher noch funktionierende Geld- und Kapitalmärkte und internationale Märkte. Das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung. Aber wir haben einen Preis dafür bezahlt. Er bestand darin, daß wir 1979 und 1980 als Folgewirkung ein bißchen mehr Kredite aufgenommen haben, als wir es von uns aus und ohne diese internationale Verabredung getan hätten. Da können Sie doch nicht, aus dem Zusammenhang gerissen, diese weltweit ausgerichtete Beschäftigungssicherungspolitik kritisieren, indem Sie einen isolierten Tatbestand nehmen und sagen: Da habt ihr aber ein bißchen zuviel gemacht. So geht das nicht. Man muß das wohl im Zusammenhang sehen. Auch die Behauptung, die Herr Zimmermann aufgestellt hat, die Bundesrepublik habe in den letzten Jahren den höchsten Zuwachs bei der Kreditaufnahme gehabt, ist schlicht und einfach falsch. Von 1969 bis 1979 - ich kann das auch anders umrechnen, nämlich von 1975 bis 1979 - hat es immer minBundesminister Matthöfer destens fünf Industrieländer gegeben, die über uns lagen. Nun kommt das Interessante. Wenn Sie den Durchschnitt der Arbeitslosigkeit der Bundesrepublik und der Länder, die eine noch höhere Zuwachsrate bei der Kreditaufnahme haben, nehmen und einen gewichteten Durchschnitt bilden und auch den Durchschnitt der Arbeitslosigkeit der Länder, die weniger Kredite aufgenommen haben, errechnen, dann sehen Sie einen signifikanten Unterschied: Die Arbeitslosigkeit in Österreich, Japan, der Bundesrepublik Deutschland z. B. ist eben niedriger als die Arbeitslosigkeit in den USA, in Großbritannien, Italien oder Frankreich, und zwar sind bei uns, umgerechnet auf unsere Größenordnung, etwa 1 Million Menschen weniger arbeitslos als in den anderen Ländern. Also man darf wohl nicht einfach nur so Zahlen nehmen, um die Leute zu erschrecken, ({2}) sondern man muß dies alles im Zusammenhang sehen. Und wenn man daraus schon einen Vorwurf ableiten will, muß man ihn j a wohl gleichermaßen an alle Gebietskörperschaften richten. Das Ausgabenwachstum bei den Ländern war seit 1979 eben höher als beim Bund. Das kann doch gar nicht bezweifelt werden. Ausgerechnet im Bundestagswahljahr, als alle Ministerpräsidenten der unionsgeführten Länder eine sogenannte Überverschuldung öffentlich angeprangert haben, haben sie selber in ihren Ländern Ausgabenzuwächse zu verantworten, die mit 10 % deutlich über dem Wachstum des Bundeshaushalts liegen. Wir haben nun im Finanzplanungsrat noch einmal gemeinsam verabredet, daß wir den Zuwachs 1981 auf 4 Prozent begrenzen wollen. Der Bund wird sich ganz ernsthaft Mühe geben und wohl auch Erfolg haben, die Begrenzung des Ausgabenwachstums auf 4 Prozent aus den von mir geschilderten Gründen einzuhalten. Vorrangiges Ziel muß es jetzt sein, Investitionen in der Wirtschaft in Gang zu setzen, zugleich die Produktionsstrukturen auf die veränderten Energiekosten umzustellen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit in einer neuen Weltarbeitsteilung zu erhalten, neue Wachstumschancen durch Innovation zu erschließen, das Leistungsbilanzdefizit so schnell wie möglich, zumindest aber mittelfristig abzubauen und das, was wir tatsächlich mehr für das Öl bezahlen müssen, real zu bezahlen und nicht zu versuchen, mit Tricks auszuweichen. Ein Element, das die Erwartungen in der Wirtschaft ganz deutlich verändert hat, ist wohl, daß dies nicht, wie 1974 noch geglaubt wurde, eine vorübergehende Ölpreissteigerung ist. Man stellt sich vielmehr - und das ist auch investitionsauslösend - fest auf hohe Energiepreise ein. Die Energietechnik und das mit energiesparenden Investitionen beschäftigte Handwerk und Ausbaugewerbe könnten durch die Marktkräfte voll ausgelastet werden. Das bedeutet, daß sich die öffentliche Hand hier durchaus zurückhalten kann. Es ist ein Unterschied zu den Jahren 1975 ff., wo wir versucht haben, durch steuerliche Anreize - z. B. bei der Wärmedämmung - etwas zu machen. Inzwischen sind die Preise so gestiegen, daß der Markt von sich aus, auch ohne öffentliche Anreize, solche Wirkungen hervorruft. Deshalb sollte es jedenfalls nach meiner Meinung nicht mehr solche Programme geben. Die Bundesregierung wird sich sorgfältig überlegen, wie der Wohnungsbau wieder in Gang gebracht werden kann. Insbesondere der Mietgeschoßwohnungsbau ist in den letzten Jahren auf ein Viertel zurückgegangen. Da muß man die Investitionshemmnisse systematisch beseitigen. Nichts, was ich durch ein höheres Defizit im Haushalt machen könnte, hätte die beschäftigungssichernde Kraft einer vollen Wiederaufnahme des Wohnungsbaus, insbesondere in den großen Städten. ({3}) Es ist sicher richtig, daß von unseren Entscheidungen über das Mietrecht, über steuerliche Rahmenbedingungen und über neue Instrumente im sozialen Wohnungsbau bei Ländern und Gemeinden stärkere Beschäftigungsimpulse ausgehen können. Wir werden auch in dieser Richtung unsere Maßnahmen ergreifen. Ich möchte noch einmal auf die finanzielle Schräglage von Bund, Ländern und Gemeinden zu sprechen kommen. Ich glaube schon, daß der Bund, der unbestritten neue Aufgaben zu erfüllen hat, noch einmal ernsthaft mit den Ländern darüber sprechen muß, wie die Steuern in unserem Land verteilt werden können, damit jede Ebene die Mittel bekommt, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Ein ganz großer Risikofaktor wird sicher die europäische Agrarpolitik sein. Da haben wir die richtigen Beschlüsse gefaßt. Ich hoffe, wir können sie durchsetzen, um da einen finanziellen Risikofaktor zu vermeiden. Ich möchte noch kurz auf den Vorwurf von Herrn Stoltenberg eingehen, wir hätten die zusätzlichen Einnahmen bei der Rentenversicherung zur allgemeinen Haushaltsdeckung benutzt. Das ist nicht richtig, Herr Stoltenberg. Die Verabredung ist, daß wir diese 3' V2 Milliarden DM der Bundesanstalt für Arbeit zugute kommen lassen. Es wäre unsinnig gewesen, anders zu verfahren, etwa die Rentenbeiträge bei 18% zu lassen und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erhöhen. Denn die jetzige hohe Arbeitslosigkeit ist doch wohl ein vorübergehender Zustand. Alle Institute, der Sachverständigenrat und der Sachverstand in der Bundesregierung gehen davon aus, daß wir jetzt einen Rückgang haben und in der zweiten Jahreshälfte wieder ein Aufschwung einsetzt. Wenn dies richtig ist - ich sage ausdrücklich: wenn dies richtig ist; wir haben da j a alle unsere Vermutungen -, wenn wirklich ein Aufschwung stattfinden sollte, dann wird der Finanzbedarf bei der Bundesanstalt 1982 eben nicht mehr so hoch sein wie 1981, und dann wäre es falsch gewesen, die Beiträge dauerhaft zu erhöhen. Das müßte man dann wieder umdrehen. Die augenblickliche Lösung ist die bessere: Wir lassen es dabei, kür174 zen den Bundeszuschuß um 3 ½ Milliarden DM und geben das Geld der Bundesanstalt für Arbeit. Ich kann heute all denen, die den finanzpolitischen Kurs der Bundesregierung kritisieren, abschließend nur noch einmal sagen, daß wir uns in der gegenwärtigen Lage, die zugegebenermaßen von großen Unsicherheiten und Schwierigkeiten, welche von draußen auf uns zukommen, beherrscht wird, um die Beachtung aller Notwendigkeiten bemühen werden, der Notwendigkeit, den Anstieg der Nettokreditaufnahme in finanzpolitisch vertretbaren Grenzen zu halten, ebenso wie der Notwendigkeit, gesamtwirtschaftlichen Zielen und Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Die Finanzpolitik wird nicht nur ihre Mitverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigungslage nicht vergessen, sie wird ebenso die Bedeutung und Mitverantwortung aller übrigen am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten schätzen, unterstützen und private Initiativen anreizen. Öffentliche Kreditaufnahme kann nicht nach Dogmen oder Patentrezepten beurteilt werden. Es gibt wirtschaftliche Situationen, in denen sie zur Beschäftigungssicherung unabweisbar erforderlich ist. Es gibt andere wirtschaftliche Situationen, in denen andere Instrumente eingesetzt werden müssen, um die Beschäftigung zu sichern. Die Bundesregierung wird, soweit ihr das möglich ist, das jeweils Vernünftige tun. Dabei bitten wir um Ihre Unterstützung. ({4})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Das Wort hat der Herr Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein. Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist notwendig, kurz auf drei kontroverse Bemerkungen des Bundesfinanzministers einzugehen, weil es sich hier nicht um Bewertungsfragen grundlegender Art handelt - die würde ich bei der Geschäftslage des Hohen Hauses nicht wieder aufnehmen -, sondern um Tatsachen. Ich möchte den Herrn Bundesfinanzminister und auch diejenigen aus den Koalitionsfraktionen, die ihm an diesem Punkt Beifall geklatscht haben, darauf hinweisen, daß es zwei außerordentlich besorgte und kritische Presseerklärungen der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion zu dieser bei dem Hamburger Forschungszentrum DESY entstandenen kritischen Lage gibt, die Sie, Herr Matthöfer, hier verniedlicht haben. Ich zitiere - ich will es kurz machen - jetzt nicht aus dem SPD-Text, sondern aus dem etwas längeren FDP-Text des FDP-Abgeordneten Professor Laermann die entscheidenden Sätze. Herr Professor Laermann sagt hier im Namen seiner Fraktion: Es ist wohl möglich und unter Umständen noch vertretbar, finanzielle Wohltaten mit der Gießkanne auszuteilen. Aber zum Sparen mit dem Sensenschnitt anzusetzen, ist mit Sicherheit der falsche Ansatz. Er macht dann deutlich, daß er den Sachverhalt im Grunde genauso bewertet, wie ich ihn vorgetragen habe. Denn das, was Sie unterschlagen haben, Herr Matthöfer, ist, daß es nicht nur bei den Hamburger Elektricitätswerken, die sich j a überwiegend im Besitz des Hamburger Senats befinden, erhebliche Strompreiserhöhungen gegeben hat, sondern daß auch die von der Bundesregierung diesem - im wesentlichen vom Bund finanziell getragenen - Institut für 1980 zur Verfügung gestellten Mittel kurzfristig reduziert worden sind. Das ist der Punkt. Deshalb paßt die Kritik schon in den allgemeinen Kontext hinein. So ist es bis jetzt unwidersprochen veröffentlicht worden, Herr Bundesminister Hauff. Wenn Sie meinen, daß die Kritik nicht gerechtfertigt sei, dann müssen Sie die Pressemeldungen vom Montag nach meiner Auffassung richtigstellen. Jedenfalls geht auch diese Presseerklärung von den bisher befürchteten Auswirkungen aus. Die Befürchtungen für 1981 vor allem sind wesentlich größer, als Ihre Schilderung es hier erkennen läßt. Das zweite: Verkehrslärmschutzgesetz. Auch da haben Sie es sich etwas zu leicht gemacht. Die neueste bemerkenswerte Äußerung zu den Grundproblemen des Verkehrslärmschutzgesetzes stammt vom Bundesratsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Ihrem Parteifreund Herrn Dieter Haak. Herr Haak empfiehlt - sicher nicht ohne Rückhalt seiner Landesregierung - genau wie ich, die Nichtverabschiedung zu benutzen, nicht nur über die Punkte, die im Vermittlungsverfahren strittig waren, sondern auch über die Philosophie und das Konzept dieses Gesetzes noch einmal gründlich nachzudenken. Er regt an, ein neues Konzept zu überlegen - ich zitiere hier einen sozialdemokratischen Minister aus Nordrhein-Westfalen -, „das stärker auf die Bekämpfung des Verkehrslärms an der Quelle orientiert ist". ({1}) Dieser Meinung bin ich seit langer Zeit - ich bin ja auch nicht verpflichtet, in jeder Nuance mit jedem Debattenbeitrag meiner politischen Freunde im Bundestag übereinzustimmen - und begrüße ausdrücklich, daß wir durch die Entscheidung des Bundesrates und dann auf Grund der fehlenden Mehrheit hier im Bundestag für den Vermittlungsvorschlag miteinander die Chance haben, darüber noch einmal grundsätzlich neu zu sprechen. Sie haben sich das zu leicht gemacht. Denn die Rechtsprechung, die Sie kritisieren - ich habe mich in diesem Punkt sachkundig gemacht -, beruht auf einer Generalklausel des Immissionsschutzgesetzes von 1974, die nach meiner Überzeugung niemand im Bundesrat und auch niemand im Bundestag damals so interpretiert hat, wie es die Gerichte tun. Aber zu den einmütigen Vorschlägen der elf Bundesländer - ich habe das heute morgen vorgetragen - zum Abbau investitionshemmender Vorschriften und zur Sicherung der Rechtsgrundlagen gehört eben auch die Einbeziehung bestimmter Punkte des Immissionsschutzgesetzes. Vielleicht ist es für die weitere Debatte wichtiger, hier mit einer rechtlichen Klarstellung einzusetzen, statt dieses gewaltige Projekt, das Ihnen auch in der Fassung des Bundestages zuMinisterpräsident Dr. Stoltenberg ({2}) mindest nicht problemfrei erschien - das sage ich einmal vorsichtig -, in der alten Form einfach wieder in die Gesetzgebungsmaschinerie hineinzugeben. Insofern führt der Ansatz meines Beitrages hier in der Sache und in der Bedeutung ein bißchen weiter als Ihre - wenn ich das sagen darf - doch etwas leichthin gegebene kritische Kommentierung. Das dritte, was ich hier kurz sagen will, Herr Matthöfer: Bei den 140 Milliarden DM haben wir - das habe ich mittlerweile durch den Kontakt unserer Mitarbeiter festgestellt - über zwei verschiedene Texte .geredet. Ich habe mich auf eine hier auch von mir erwähnte Mitteilung in den „Finanznachrichten" Ihres Hauses vom April bezogen. Es gibt eine zweite von Ende Oktober. Bei der Fülle der Produktionen von Mitteilungen der Pressestellen der Bun- desregierung bin auch ich als interessierter Politiker nicht in der Lage, jede einzelne vorher zu kennen. Wir haben über zwei verschiedene Texte mit zwei verschiedenen Berechnungsgrundlagen geredet. Ich bin bei der Geschäftslage des Hauses nicht in der Lage, die mir freundlicherweise überlassene zweite Mitteilung jetzt kritisch zu analysieren. Ich will das hier deutlich machen und halte insoweit auf der Basis Ihrer Mitteilung vom April meine kritischen Anmerkungen voll aufrecht. Nun will ich Ihnen als letztes sagen, meine Damen und Herren - ({3}) - Gut, Herr Westphal. Das ist vollkommen legitim. Ich habe die Quelle schon in meiner Rede zitiert. Herr Matthöfer hat eine andere Quelle herangezogen. Wir können das hier nicht ausdiskutieren. Daswürden Sie mir und Herrn Matthöfer alle übelnehmen. Nun will ich Ihnen einmal etwas sagen - weil Sie das etwas abgetan haben -: Ich habe mit der Kritik an der Art Ihres Vorgehens, auch unter Bekräftigung des Tatbestandes, daß es eine prozyklische Finanzpolitik war und ist - denn die arbeitsmarktpolitische Wirkung, die konjunkturpolitische Wirkung eines Haushaltes bemessen sich nach seiner Ausgabenseite und nicht in erster Linie nach der Art der Finanzierung; darüber können wir uns doch wahrscheinlich in diesem Hause auch einig sein, meine Damen und Herren -, klargemacht, daß wir nicht die Absicht haben, im Bundesrat pauschal unpopuläre Vorhaben abzulehnen. Ich habe gesagt - und wiederhole das -: Wir werden die Eingriffe nicht generell ablehnen. Wir werden nach meiner Einschätzung die zustimmungspflichtigen gesetzlich erforderlichen Kürzungen - Subventionsabbau - nicht zu Fall bringen. Wir erkennen bestimmte Vorhaben ausdrücklich als notwendig an. Ich habe hier Beispiele genannt. Ich habe dann zweitens gesagt: Wir beantragen bis zur Klärung der finanzwirksamen Grunddaten ein Stillhalteabkommen in bezug auf neue finanzwirksame Vorlagen. Wir sind bereit, uns so zu verhalten. Die Kritik an der Kurzsichtigkeit, an der Unberechenbarkeit dieser Politik bleibt davon unberührt. Meine Damen und Herren, wenn ich an die relativ kleinen Finanzprobleme, die wir in der CDU/FDPKoalition nach dem Jahre 1965 hatten, und an die Reden denke, die Ihre Freunde, der heutige Bundeskanzler Schmidt als Oppositionssprecher und der von mir hochgeschätzte, mittlerweile verstorbene damalige Vorsitzende der SPD-Fraktion, Fritz Erler, dazu gehalten haben - Sie können sie im Protokoll nachlesen -, dann kann ich nur sagen: Eine so konstruktive, eine so verantwortungsbewußte Opposition wie in dieser Debatte von seiten der Politiker der CDU/CSU aus dem Bundestag und dem Bundesrat gegenüber der Misere einer Regierungspolitik, die alle Maßstäbe der Nachkriegsgeschichte sprengt, hat es bisher nicht gegeben. ({4})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß wir zu Beginn der Legislaturperiode über die Strecke diskutieren, die vor uns liegt. Wäre es eine Einbahnstraße von Sachzwängen, dann gäbe es nichts zu streiten. Auf dieser Einbahnstraße gäbe es keine Richtungs-, sondern nur Tempoalternativen. In der technokratischen Sozialpolitik geht es lediglich um die Wahl zwischen mehr und weniger. Wir jedoch sind davon überzeugt, daß wir auf unserem Weg an Weggabelungen stoßen. Deshalb muß über Richtungen gesprochen werden. Weggabelungen bedeuten Freiheit und Entscheidung. Ich will in der Sozialpolitik von sechs Weggabelungen sprechen: 1. Verläßlichkeit oder Verwirrung, 2. Gerechtigkeit oder Geschenke, 3. Selbstverwaltung oder Verstaatlichung, 4. Mitarbeit oder Betreuung, 5. Vielfalt oder Vereinheitlichung und 6. Partnerschaft oder Klassenkampf. In dieser Debatte betreiben wir also eine Art politischer Kartographie, bei der wir die Entscheidungsstellen markieren. Wir erleichtern uns die Orientierung, wenn wir uns auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt verständigen könnten. Ich will deshalb zwei Vorfragen stellen. Erstens: Gibt es ein hemmungsloses wirtschaftliches Wachsturn, aus dem sich ein unendlicher sozialpolitischer Fortschritt speist? Zweitens: Wer bezahlt die Sozialleistungen? . Zunächst zum Wachstum. Eine alte Volksweisheit lehrt uns: Bäume wachsen nicht in den Himmel, und die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel bringt dieselbe Erfahrung zum Ausdruck. Der Ö1-schock war wahrscheinlich die erste Erschütterung des Glaubens an ein unermeßliches Wachstum. Die Zweifel sind inzwischen gewachsen, ob wir zu den alten Sozialproduktrekorden zurückkehren können. Was ich hier sage, ist noch nicht die Verkündung des Nullwachstums; nur ist es der Abschied von der Idee, wir könnten alle sozialen Probleme nur mit wirtschaftlichem Wachstum lösen. Diese Idee, diese Hoffnung müssen wir verabschieden. Wir können uns auch in der Sozialpolitik nicht auf ein ImmerMehr verlassen, aus dem alle sozialpolitischen Be176 dürfnisse befriedigt werden. Es ist noch nicht alles gut, wenn es Geld kostet; aber wenn es Geld kostet, dann muß es vorher verdient werden. Wo wirtschaftlich nichts ist, hat auch die Sozialpolitik ihre Quellen verloren, aus denen sie ihre materiellen Mittel speist. Das Ende der ungehemmten Expansion ist nicht das Ende des Sozialstaates; aber es ist auf alle Fälle das Ende der Einfallslosigkeit, und es ist das Ende der Feigheit. Die Kunst der Politik ist die Kunst der Prioritäten. Das gilt nicht nur für das Geldausgeben, das gilt auch für das Geldeinsammeln. Der erste und schwerste Vorwurf, aus meiner Sicht, den ich dieser Regierung und der Koalition mache, ist, daß sie eine Sparpolitik ohne Prioritäten und deshalb auch eine Sparpolitik ohne Plausibilität betrieben hat. ({0}) Offensichtlich haben Sie mal wieder den Radarschirm laufen lassen, um den Weg des geringsten Widerstandes auszukundschaften. ({1}) Der alten Oma mit der kleinen Witwenrente muten Sie einen Krankenversicherungsbeitrag zu; aber der Herr Ministerialdirektor kommt ganz unberührt durch alle Sparnotwendigkeiten dieser Regierung. ({2}) Das ist weder mutig noch zukunftsträchtig. Deshalb schlage ich vor: Nennen Sie Ihre Regierungserklärung nicht „Mut zur Zukunft", sondern „Angst vor der eigenen Courage". Das ware treffender. ({3}) Wenn wir uns darauf verständigen können, daß gespart werden muß, dann brauchen wir nur noch darüber zu streiten, wo und wie das geschehen soll. Also heißt die Alternative zwischen uns und Ihnen ({4}) - ich komme noch darauf - nicht mehr oder weniger, sondern es geht um die Art der Sozialpolitik. Es geht also um eine schlechte oder um eine gute Sozialpolitik. Das Meiste ist dabei nicht schon das Beste. Es ist nicht die Sozialpolitik unbedingt besser, bei der mehr Geld ausgegeben wird. Jedenfalls stimmen diese Alternativen nicht von vornherein. Wenn ich den Herrn Bundeskanzler und dessen Philosophie richtig verstanden habe, hat er alle Probleme in seiner Regierungserklärung darauf reduziert, daß er gesagt hat, es komme bei uns auf Einkommen und Auskommen an. Ich kann nur sagen, wer es auf diese naive Sprache reduziert, der vergißt die Nachkommen. ({5}) Ich komme zur zweiten Frage, wer die Sozialpolitik bezahlt. Als Bismarck die Sozialversicherung schuf, waren 10 % der Bevölkerung Mitglied der Sozialversicherung und 90 % draußen. Heute ist es genau umgekehrt. Heute sind 90 % Mitglied der Sozialversicherung und 10 % draußen. Wer glaubt, die 10 % würden die 90 % unterstützen, der ist einer verteilungspolitischen Illusion zum Opfer gefallen. Die Arbeitnehmer bezahlen ihre Sozialleistungen selber. Und wer die Sozialversicherung mit Umverteilungserwartungen belastet, erzeugt Illusionen, die keine Politik befriedigen kann. ({6}) Die einfache Erkenntnis: je größer der Kreis der Begünstigten wird, um so mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Begünstigten ihre Begünstigungen selber bezahlen, hat nichts mit Politik zu tun, sondern mit Mathematik, mit politischer Mengenlehre. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn wir uns darauf verständigen könnten, daß Sozialversicherung solidarischer, selbstfinanzierter Ausgleich ist, Risikoausgleich, hätten wir es leichter, uns den eigentlichen Weggabelungen zu nähern. Die erste ist: Verläßlichkeit oder Verwirrung? Meine Damen und Herren, soziale Sicherheit ist nicht allein abhängig davon, wie hoch die Leistung ist, die gewährt wird, sondern sie ist mindestens ebenso sehr abhängig davon, ob sie beständig, ob sie kalkulierbar ist. Die soziale Leistung kann im Augenblick noch so hoch sein - wenn nicht kalkulierbar ist, wie die Rente übermorgen aussieht, bricht soziale Unsicherheit aus, selbst wenn die Rente heute ausreichend hoch ist. ({8}) Das Schlimmste ist, daß in Ihrer Politik ständig gewechselt wird zwischen Erwartungen und Enttäuschungen, zwischen Ausgeben und wieder Einsammeln, zwischen mehr und weniger. Das schafft nur Verwirrung, und aus Verwirrung entsteht die Angst. Die Konsolidierung der Rente ist vorläufig, und die Konzepte der Regierung sind konfus. Vom Erfolgszwang geplagt, verwechseln Sie Geschäftigkeit mit Reform. Sie leiden an Novellitis: Während die rechte Hand noch die letzte Zeile eines Gesetzes schreibt, radiert die linke Hand schon wieder die erste Zeile aus. ({9}) Wir haben jetzt fünf Novellen in zehn Jahren allein im Arbeitsförderungsgesetz. Wenn Ankündigung schon Politik wäre, wäre Herr Ehrenberg Weltmeister der Politik. ({10}) Was da in der Rentenversicherung nicht schon alles angekündigt wurde: Mindestrente, Behindertenrente, Maschinenabgabe - alles Sachen, über die man reden kann. Nur, die kommen alle nicht. Deshalb trägt das alles nur zur Verwirrung bei. Wir werden gleich noch einmal über die Einzelheiten dieser Vorschläge reden. ({11}) - Ich spreche sehr zur Sache. Sie werden sich wundern, welche Sachen ich Ihnen noch alle erzählen werde. ({12}) Allein die Besinnung auf Prinzipien schafft in der Sozialpolitik wieder Verläßlichkeit. ({13}) Deshalb sind Prinzipien kein Luxus, sondern das Fundament der Sozialpolitik. Sie ersetzen nicht die Politik, aber sie sind so etwas wie Wegweiser. Sie schaffen Durchsicht im Dickicht der Reichsversicherungsordnung. Wer auf Prinzipien verzichtet, öffnet die Sozialpolitik der Willkür, der Unberechenbarkeit. Walter Arendt mußte seinen Hut nehmen, weil die Rentenfinanzen gefährdet waren. Zur Zeit seines Rücktritts reichte die Rücklage in der Rentenkasse für 5,3 Monate. Heute ist in der Rentenkasse nicht sehr viel mehr als das Geld für zwei Monatsausgaben. Und Herr Ehrenberg sitzt fest im Sattel. Wieso eigentlich, wenn Herr Arendt bei fünf Monatsrücklagen gehen mußte? Was muß dann mit Herrn Ehrenberg passieren, wo er weniger als die Hälfte in der Rentenrücklage hat als Walter Arendt? ({14}) Ist die Sicherheit also größer geworden, weil Arendt ging, Ehrenberg kam und Schmidt blieb? ({15}) 1984 werden wir wahrscheinlich nur noch eine Rücklage von 0,7 Monatsausgaben haben. Ich will Ihnen sagen, was passiert ist: Die Regierung hat lediglich die Mindestanforderungen an die Rentensicherheit gesenkt. Und jetzt behauptet sie, die Rente sei deshalb sicherer. Minimierung der Sicherheitsanforderungen heißt doch nicht Maximierung der Sicherheit. Früher ging die Alarmanlage los, wenn weniger als drei Monatsausgaben in der Rentenkasse waren; heute geht sie los, wenn weniger in der Rentenkasse ist als eine Monatsrücklage. Mit anderen Worten: Sie haben lediglich die Alarmanlage ausgewechselt, die Alarmanlage klingelt etwas später. ({16}) Das sind Reformen dem Scheine nach, scheinbare Reformen. Verändert hat sich Ihr Anzeiger. Sie spielen am Thermometer, das Fieber interessiert Sie überhaupt nicht. ({17}) So etwas nenne ich keine prinzipielle, sondern eine manipulative Sozialpolitik. ({18}) Deshalb gleich die zweite Weggabelung! Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind die Erkennungszeichen jeder Politik, die sozial sein will. Eine Gesellschaft ohne Barmherzigkeit, das wäre die Ansammlung von kalten, erbarmungslosen Egoisten. Und eine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit, das wäre eine Gesellschaft, die einer Räuberbande vergleichbar wäre. Dennoch ist es gut, sich über die Zuständigkeit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu unterhalten und sie zu unterscheiden. Jedes der beiden Prinzipien zu seiner Zeit und an seinem Platze. Wer die Gerechtigkeit vorschnell durch Barmherzigkeit ersetzt, nimmt dem Empfänger von Sozialleistungen das Recht auf selbsterworbene Ansprüche und macht aus Rechtsträgern Danksager. Die Gesellschaft der Danksager, das ist nur die Rückseite der Gesellschaft der Bittsteller. ({19}) In der Sozialversicherung geht es um Gerechtigkeit. Das unterscheidet sie von der Fürsorge. Die Rente ist Gegenleistung für Leistung. Das soll sie nach unserer Meinung bleiben. ({20}) Unser Rentensystem entspricht der Gerechtigkeit. Rente ist nicht ein Geschenk des Staates. Sie ist später Lohn für frühere Arbeit und Beitragsleistung. ({21}) Niemand will Barmherzigkeit, wenn er Leistungsgerechtigkeit verlangen kann. Rentenpolitik als Fürsorgepolitik ist ein Angriff auf das Selbstbewußtsein der älteren Mitbürger. Sie biegt und beugt den aufrechten Gang der alten Leute. ({22}) Die Rentenpläne des Herrn Ehrenberg von der Behindertenrente bis zur Mindestrente führen vom selbsterarbeitenden Anspruch weg und hin zur staatlichen Gulaschkanone, aus der jeder seinen Schlag bekommt. ({23}) Die bruttolohnbezogene Rente ist die Rente, die den größten Abstand zum Staat hat und die höchste Sicherheit vor der Manipulation. Diese bruttolohnbezogene Rente steht bei der SPD und dieser Regierung nur noch auf dem Papier, nur noch auf dem Papier ihrer Flugblätter. ({24}) - Nur langsam. Ich werde mit Ihrer gütigen Erlaubnis mal aus der Regierungserklärung das Diesbezügliche vorlesen. Ich zitiere: Nach 1984 wird bei der Anpassung dem Gesichtspunkt der gleichgewichtigen Entwicklung des Anstiegs der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner unter Beachtung der finanziellen Stabilität der Rentenversicherung im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen. Es wimmelt in diesem Programm von Elastikbegriffen. Das ist eine Rentenversicherung, die mit Gummibändern arbeitet. Da gibt es überhaupt keine Haltepunkte mehr. Die „verfügbaren Einkommen" - bleiben wir mal bei dem Begriff - werden vom Staat mitbestimmt; der bestimmt die Abgaben. Die „finanzielle Stabilität" ist abhängig von den Lasten, die der Staat der Rentenversicherung aufhalst. Die „gesamtwirtschaftliche Entwicklung" ist ein Ergebnis auch der staatlichen Wirtschaftspolitik. Alle sozialpolitischen Wegmarkierungen, auf die Verlaß wäre, sind in diesem Programm gestrichen. Herr Ehrenberg ist ein Slalomfahrer, der nur deshalb nicht anstößt, weil er sich die Fahnen auf den Rücken gebunden hat. ({25}) Ob die Rentner tatsächlich einen Krankenversicherungsbeitrag zahlen müssen ({26}) - ich kann Ihnen ja den Text geben, wenn Ihnen das so sehr Aufregung bereitet -, das wissen wir noch nicht; denn in Ihrem Programm ist das versteckt in ein „falls". Es heißt dort: Falls dieses Ziel dadurch erreicht werden soll usw. „Falls", „etwa", „unter Umständen" sind die neuen Hauptwörter der Sozialpolitik dieser Koalition. Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist Rückkehr zur Verläßlichkeit, ist Rückkehr zum Prinzip Gerechtigkeit. Hier will ich anfügen: Kriegsopfer, Flüchtlinge, Vertriebene, auch das sind nicht Empfänger von Barmherzigkeit, sondern von Gerechtigkeit. ({27}) Lassen Sie mich zur dritten Wegmarkierung kommen: Selbstverwaltung oder staatliche Zuteilung. Es kann der Sozialversicherung nichts Besseres passieren, als daß sie vom Wohlwollen des Gesetzgebers abgehängt wird. In der Symbiose zwischen Sozialversicherung und Staatshaushalt ist im Zweifelsfalle der Staat der Schmarotzer. Wie ist das heute? Der Staat gibt zwar einen Zuschuß zur Rentenversicherung, aber er halst ihr immer mehr Fremdleistungen auf, als er mit seinem Zuschuß finanziert. Ein Drittel der Rentenausgaben sind Fremdausgaben, aber der Staat leistet nur einen Zuschuß von 18 %. Demnächst werden es nur rund 15 % sein. Die Kluft zwischen Bundeszuschuß und Bundesaufgaben, welche der Rentenversicherung aufgeladen werden, wird mit Beiträgen der Versicherten ausgefüllt. Der Staat ist der Schmarotzer der Sozialversicherung in der Maske des Wohltäters. ({28}) In der Krankenversicherung ist das nicht sehr viel anders. In der Krankenversicherung machen die Zuschüsse nur einen Teil dessen aus, was die Krankenversicherung im allgemeinen Auftrag erfüllt. Was haben beispielsweise Schwangerschaftsabbrüche aus nichtmedizinischen Gründen mit der sozialen Krankenversicherung zu tun? Überhaupt nichts. ({29}) Sie kosten die Versicherten hundert Millionen im Jahr. Der Zuschuß betrug 55 Millionen. In den Jahren 1980 und 1981 soll er auf 20 bzw. 35 Millionen sinken und dann offensichtlich ganz wegfallen. Zum eigentlichen Mutterschutz zahlt der Staat einen Zuschuß, der weniger als ein Zwanzigstel der Kosten ausmacht. Das ist wirklich die bequemste Form der sozialen Reformen: der Gesetzgeber beschließt sie, das Volk feiert den Gesetzgeber, und die Beitragszahler bezahlen das Ganze. Das ist Reformverschiebung. Wenn nämlich allgemeine Aufgaben von den Beitragszahlern bezahlt werden, dann bezahlen die Bezieher kleiner Einkommen überproportional viel. Das ist eine Umverteilung ganz anderer Art, als Sie sagen; das ist eine Umverteilung von den niedrigen Einkommen zugunsten der hohen Einkommen. Und das Ganze nennen Sie noch sozial. ({30}) Aber die Bundesregierung verwischt die Grenzen nicht nur zwischen Staat und Sozialversicherung - davon habe ich ja jetzt gesprochen -, sondern auch zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern. ({31}) Der neueste Einbruch der Bundesregierung in die Rentenversicherung liefert das Musterbeispiel dafür. Die Beiträge zur Rentenversicherung sollen zwar erhöht werden, aber das Geld wird nicht der Rentenversicherung zugute kommen, sondern landet in der Arbeitslosenversicherung. Auf der „Rechnung" steht Rente, auf dem „Lieferschein" steht Arbeitslosenversicherung. Was würden Sie wohl sagen, wenn Sie Geld für einen Kühlschrank zahlen und Ihnen ein Gasherd geliefert wird? ({32}) Wenn das so weitergeht, dann weiß niemand mehr, für was und für wen er gerade Geld zahlt, wenn er Beitrag zahlt. Herr Ehrenberg spielt mit den Rentenkassen wie ein Jongleur mit Bällen. Deshalb lohnt es sich für die Selbstverwaltung gar nicht mehr, sich anzustrengen. Es macht gar keinen Spaß zu sparen; denn sollte sie mal Geld übrig haben, läuft sie Gefahr, daß Herr Ehrenberg kommt und ihr das Geld für andere Zwecke wegnimmt. ({33}) Der Vorsitzende des Sozialbeirates der Bundesregierung, Herr Professor Meinhold, nannte die Verschiebung der Fremdleistungen - gestatten Sie, ein Zitat - „eine Schweinerei": „Handelsblatt" vom 13. 11. 1980. Vor der Wahl hat die SPD die Beitragserhöhung in der Rentenversicherung ausdrücklich mit der Reform der Hinterbliebenenversorgung 1984 begründet. Im Rentenprogramm der SPD heißt es: Die Reform der Hinterbliebenenversorgung ist mit einem Beitragssatz von 18,5 % ab 1981 finanzierbar. - Wenn Sie jetzt die Beitragserhöhung wegnehmen, ist also - der Logik Ihres Programms entsprechend - die Rentenreform 1984 nicht mehr finanzierbar. 1984 werden Sie also die Zusagen, die Sie auch im Wahlkampf gegenüber den Frauen gemacht haben, nicht mehr einhalten können. Das Geld wird Ihnen fehlen. Das werden Sie dann „Sachzwang" nennen, denn Sie haben vorher das Geld weggeschafft. Sie schaffen sich Ihren eigenen Sachzwang. Das ist Ihre Politik! ({34}) Ein Mann, der seine Schulden nicht bezahlen kann, weil er sein Geld vertrunken hat, steht auch unter Sachzwang; ({35}) nur akzeptieren wir diesen Sachzwang nicht als Entschuldigung, weil der Betreffende selbst für den Zustand, den er herbeigeführt hat, verantwortlich ist. Deshalb werden Sie es auch vor den Frauen verantworten müssen, wenn Sie mit dem Geld der Rentenversicherung so umgehen, daß für die Mütter und Hausfrauen, daß für die Frau überhaupt in der Rentenversicherung nicht Gleichberechtigung geschaffen werden kann. ({36}) Meine Damen und Herren, soziale Sicherheit vom Staat abkoppeln heißt nicht den einzelnen der Verlassenheit überlassen. Die Alternative heißt nicht „Staat oder soziale Unsicherheit". Wir wollen die Sozialversicherung entstaatlichen. Entstaatlichen heißt nicht privatisieren, entstaatlichen heißt solidarisieren, heißt nämlich, sie der selbstverwalteten Solidarität zu übergeben, weil sie ansonsten der Anonymität einer staatlichen Bürokratie überantwortet wird. Lassen Sie mich zur dritten Weggabelung, zur Weggabelung „Mitarbeit oder Betreuung" kommen. Jede kluge Sozialpolitik ist vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. Weder der rücksichtslose, nur an sich selbst denkende Egoist noch der am Tropf eines staatlichen Betreuungsapparats hängende Klient ist die Leitfigur unserer Sozialpolitik. Der mitdenkende und mitarbeitende Bürger ist das Subjekt einer aufgeklärten, einer solidarischen Gesellschaft. Wer Gesundheit nicht auch als Aufgabe der eigenen Anstrengung begreift, der überläßt die Heilung den Medikamenten und den Medizinern. Diese Passivität und das übergroße Vertrauen in die Gesundheitsapparate, in Maschinen und Tabletten treiben unsere Krankenversicherungskosten in die Höhe. Das ist nicht nur ein Problem der Sozialversicherung; das ist auch ein Problem der Privatversicherung. Der Sog in die großen Betreuungsapparate muß gebremst werden. Deshalb ist von den unionsregierten Ländern schon früh das Programm der Sozialstationen entwickelt worden. Vor Krankenhaus und vor Pflegeheim kommen die häusliche Krankenhilfe und die familiäre oder nachbarschaftliche Unterstützung. Sie gilt es zu stärken. Sozialpolitik ist zunächst und zuerst Unterstützung der eigenen Kräfte, Hilfe zur Selbsthilfe. ({37}) Mitarbeit geht vor Betreuung, Hilfe zur Selbsthilfe geht vor Versorgung. Die große Betreuungsmaschine wird vom Fachwissen gefüttert und von Experten gesteuert. Es gibt j a kaum eine menschliche Regung, aus der wir nicht inzwischen einen Beruf gemacht hätten. Aus der Stimmungskanone von einst ist jetzt der Animator geworden. ({38}) Der erste war ein Amateur, der zweite ist der Betreuungsprofi, dessen Preis in die Kurtaxe eingeschlossen ist. Und vielerorts ist an die Stelle der alten Tante die beamtete Beraterin getreten. ({39}) Die Professionalisierung aller menschlichen Beziehungen hat inzwischen auch das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern erreicht. ({40}) Wenn CDU und CSU nicht das sozialliberale Jugendhilferecht verhindert hätten, wären Eltern und Kinder von einem Heer von Experten überfallen worden; 12 000 waren eingeplant. ({41}) Mütter und Väter, die nicht mindestens einmal einen Erziehungsberater zu Hilfe nehmen, müssen sich j a vorkommen wie Rabeneltern, die ihre Kinder vernachlässigen. ({42}) Wir haben ja jetzt so gut wie für alles Experten. Wenn der „Zappelphilipp" 150 Jahre später geboren worden wäre, hätten ihn die Erziehungsberater in ein Heim für Kinder mit gestörter Motorik eingewiesen. ({43}) Dabei fehlt vielleicht manchem der zappelnden Kinder nur „Der Struwwelpeter", aus dem es erfahren könnte, daß man bei Tisch nicht zappelt. Auch das ist eine Lösung. ({44}) - Das ist nicht zynisch. ({45}) - Herr Lutz, hören Sie zu. - Ich glaube, daß die Enteignung dessen, was man früher für den gesunden Menschenverstand gehalten hat, eine Sozialisierung weitgehender Art ist. Sie beraubt uns unseres Selbstvertrauens. ({46}) Jetzt möchte ich zitieren: Wenn die Kompetenz, persönliche Probleme zu definieren, zum Vorrecht der Experten verkommt, hört der Bürger auf, zu existieren. ({47}) - Meine Damen und Herren, das ist im übrigen ein Zitat aus einem Buch, das von einem Mitglied Ihrer Fraktion herausgegeben wurde, nämlich von Herrn Duve. - Die Expertokratie kommt uns teuer zu stehen. Die Experten schaffen sich ihre eigene Nachfrage. Die Expertokratie eliminiert jede Spontanei180 tät aus dem Sozialsystem. Barmherzigkeit jedoch ist auf Unmittelbarkeit angewiesen. Der Heilige Martin hat nicht erst einen Sachverständigenrat für Verteilungsgerechtigkeit einberufen, bevor er seinen Mantel geteilt hat. Barmherzigkeit ist auf unmittelbare Zuwendung angewiesen. Sie kann nicht staatlich befohlen werden. ({48}) Doch wo der Staat, meine Damen und Herren, wie eine große Maschine organisiert ist, gibt es nicht einmal Lücken für Initiative und Spontaneität. Vielleicht erscheinen Staatsapparate und Sozialverwaltung so einfallslos, weil sie nach dem Vorbild der Maschine eingerichtet sind. Die Ermessensspielräume der Bediensteten werden immer kleiner, die Reglementierungen immer perfekter. Muß denn alles - so frage ich Sie, so frage ich uns alle - durch Rechtsverordnungen, Erlasse und Dienstanweisungen vorgeschrieben werden? Ich weiß, daß die Vergrößerung des Ermessensspielraumes auch die Gefahr der Willkür heraufbeschwört. Aber die totale Bevorschriftung nimmt den Verwaltungen Menschennähe und Initiative. Vielleicht würde ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes besser wissen, wie man einem Drückeberger zu Leibe rückt, als alle Erlasse des Arbeitsministeriums das je herausfinden können. ({49}) Die nächste Alternative heißt: Vielfalt oder Vereinheitlichung. Ich sagte schon, die Alternative unseres Sozialstaates heißt aus meiner Sicht nicht einfach reich oder arm, mehr oder weniger. Es läßt sich ein Wohlstand denken, in dem jeder auf Vordermann gebracht wird. Es läßt sich ein Wohlstand in einem Reich glücklicher Idioten denken. Ich wünsche mir ein Leben, das viele Chancen und mehr als eine Möglichkeit der Entfaltung anbietet. Deshalb Vielfalt statt Nivellierung. Sich seinen Lebenskreis selbst einzurichten, ist eine Form der Freiheit. Auch in der nachwachsenden Generation wächst die Sehnsucht nach einem Leben in überschaubaren Lebenskreisen. Überdruß an ferngelenkten Großbürokratien bricht aus. Vorfahrt für die jeweils kleinere Gemeinschaft ist das Angebot des Subsidiaritätsprinzips. Eine Politik der Vielfalt ist auch aus einem anderen Grunde notwendig: Die Probleme sind differenziert. Es gibt nicht mehr die einfache Lösung. Vor uns liegen harte Jahre, und ich fürchte, die Arbeitslosigkeit wird die härteste Herausforderung, allerdings eine große Herausforderung an unsere Leistungskraft und an unsere Phantasie. Rund eine Million Arbeitslose haben wir jetzt. Ich hätte Herrn Brandt gern gefragt, was er gemeint hat, als er gestern sagte: Wir wollen das Erreichte sichern. - Meint er die Million Arbeitslose, die festgeschrieben werden sollen? ({50}) - Meine Damen und Herren, demjenigen, der aufbrach, um die Welt zu erneuern, und dann heimkehrt und noch nicht einmal das Erreichte sichern kann, wird man doch wohl ein paar Fragen stellen dürfen, oder? ({51}) Der Bundeskanzler verharmlost die Arbeitslosengefahr in seiner Regierungserklärung und bringt sie auf die Formel - ich zitiere jetzt - „möglicherweise leichter Anstieg der Arbeitslosigkeit". Das trägt er mit einem Tonfall vor, als verkünde ein Tagesschausprecher Wettermeldungen: „möglicherweise morgen höhere Mittagstemperaturen". ({52}) Meine Damen und Herren, ich glaube, die Gefahr, die Herausforderung kann man nur zur Kenntnis nehmen, wenn man sie nicht verniedlicht. Dabei meine ich, gerade der Arbeitsmarkt zeigt, daß nur mit einem Programm von tausend Schritten geholfen werden kann. ({53}) - Sie werden sich gedulden müssen. ({54}) Wenn Sie nur auf eine Maßnahme setzen, mit dem großen Hammer zuschlagen, treffen Sie die differenzierte Lage des Arbeitsmarkts nicht. ({55}) - Ich beginne j a schon. Ich nenne Ihnen mehr als einen. Es werden mehr, als Ihnen lieb ist, wenn Sie mir Zeit lassen. Wir können den ganzen Nachmittag damit verbringen. ({56}) Wir brauchen eine neue Bildungspolitik, die nicht wie eine Konfektionsware angelegt ist, die ihren Ehrgeiz nicht nur auf eine komfortable Erstausstattung legt, sondern die berufliche Weiterbildung, Ausbildung, Umschulung fördert. Sie haben doch das Arbeitsförderungsgesetz zertrümmert. Sie haben doch die Instrumente ramponiert, mit denen eine solche Politik betrieben werden könnte. Wir brauchen auch eine Bildungspolitik, in der die praktische Bildung wieder zu neuem Ansehen kommt. ({57}) Die praktische Bildung muß aus der hochnäsigen Geringschätzung des Bildungsbürgertums und seiner jungsozialistischen Enkel befreit werden. ({58}) Wenn ich Ihre Bewunderung der theoretischen Bildung in jungsozialistischen Texten nachlese, dann meine ich wirklich: Die Nachkommen des Bildungsbürgertums haben sich bei Ihren Jungsozialisten versammelt. Wer mit den Händen denken lernt, ist genausoviel wert wie derjenige, der mit dem Kopf die Welt begreift. Der liebe Gott hatte offensichtlich mehr Einfälle als alle Bildungsplaner, als er mehr BegabunDr. Blüm gen schuf, als sie in den großen Reformwerken -der SPD vorkommen. ({59}) Vielfalt muß auch beim Angebot bestehen. Warum sollte das zehnte Bildungsjahr allein an der Schule angeboten werden? Für Mädchen und Jungen, denen die neun Jahre Schulbetrieb schon zum Halse heraushängen, ist das zehnte Schuljahr nur die Fortsetzung ihrer Langeweile. ({60}) - Ich sage jetzt etwas Gutes zum Bundeskanzler. Es ist gut, daß der Bundeskanzler darauf hingewiesen hat, daß Männerberufe nicht von Natur aus immer Männerberufe sind, daß wir auch für die Mädchen ein breiteres Angebot von Ausbildungschancen schaffen müssen. Lassen Sie mich nocht etwas hinzusetzen. Ich halte den Aufstieg durch Bildung für wichtig. Er ist auf alle Fälle besser als Aufstieg durch Besitz. Aber eine Schule, die nur auf Aufstieg fixiert ist und die Schüler nur auf dieses Ziel hin dressiert, produziert Enttäuschung; denn soviel obere Plätze hat unsere Gesellschaft gar nicht, als daß sie dort alle unterkommen könnten. ({61}) Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir, und das Leben besteht eben nicht nur aus Aufstieg. Ich finde es eigentlich eine Paradoxie der Geschichte, daß ausgerechnet diejenigen, die einst auszogen, um gegen die Leistungszwänge der Gesellschaft zu kämpfen, uns eine Leistungsschule hinterlassen haben, die in ihrem Streß all das übertrifft, was sich jeder alte Schulmeister ausdenken konnte oder wollte. ({62}) Meine Damen und Herren, auch die industrielle Arbeitswelt kann aufgefächert werden. Die technische Entwicklung kann sich mehr dem natürlichen Rhythmus der Menschen anpassen, als dies in der Aufbruchphase der Industrialisierung möglich war. Menschen lassen sich nicht an- und abstellen wie Maschinen. Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand können sachter gestaltet werden. Ich habe es noch nie kapiert, warum jemand, der nur einen halben Tag arbeiten will, unbedingt einen ganzen Tag arbeiten muß, warum Sie soviel gegen Teilzeitarbeit haben. Das ist ein Angebot an Flexibilität, Variabilität und Zeitsouveränität der Arbeitnehmer. ({63}) Sicherlich brauchen wir auch eine bessere Wirtschaftspolitik. Darüber ist heute morgen diskutiert worden; ich kann es nur kurz machen. Die Konjunkturprogramme, die Sie aufgelegt haben, sind zum größten Teil durch den Kamin verraucht. Investitionshilfen haben diejenigen bekommen, die investieren konnten. Die keine müde Mark für eine neue Maschine haben, haben auch keine Hilfen bekommen. Deshalb war Ihr wirtschaftspolitisches Programm keine Unterstützung für kleine und mittlere Betriebe mit gefährdeten Arbeitsplätzen, sondern eine Unterstützung der Großbetriebe, die diese am wenigsten gebraucht hätten. ({64}) Meine letzte Weggabelung heißt Partnerschaft oder Klassenkampf. Das ist eine Alternative, die weit über den klassischen Bereich der Sozialpolitik hinausgeht. Ich glaube, wir müssen uns wieder jener Weichenstellung - Partnerschaft oder Klassenkampf - bewußt werden. Partnerschaft ist nicht das Modell einer spannungsfreien Harmonie. Partner unterscheiden sich. Aber sie sind gerade deshalb aufeinander angewiesen, weil sie sich unterscheiden. Partnerschaft ordnet den unumgänglichen Konflikt dem notwendigen Miteinander unter; denn trotz Konflikt bleibt in der Partnerschaft immer das Interesse an der Erhaltung des Partners. Klassenkampf will die Vernichtung des Kontrahenten. Deshalb haben Gewerkschaften nur in einer partnerschaftlichen Ordnung Platz. Im Klassenkampf sind sie nur vorübergehend Kontrahent. Im Falle ihres Sieges sind sie Erfüllungsgehilfen der Macht, wie alle historischen Beispiele zeigen. ({65}) Mitbestimmung, Mitverantwortung, Miteigentum - das sind die drei Beine einer partnerschaftlichen Ordnung. Mitbestimmung ist immer Mitverantwortung. Die relativ hohe Stabilität unserer Gesellschaftsordnung ist auch durch das System der Mitbestimmung gefestigt. ({66}) Dabei ist die Montan-Mitbestimmung das Symbol des großen partnerschaftlichen Kompromisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Wiederaufbau. Die Montan-Mitbestimmung hat eine historische Dimension. Ihre Bedeutung geht über den Sektor, den sie regelt, hinaus. ({67}) Zur Erhaltung der partnerschaftlichen Ordnung bietet die Opposition auf der Grundlage ihrer Zusage vor der Wahl ihre Mitarbeit auch nach der Wahl an. ({68}) - Ja, wir reden nach der Wahl genauso wie vor der Wahl. Das unterscheidet uns von Ihnen. ({69}) Was Franz Josef Strauß, die CDU/CSU vor dem 5. Oktober gesagt haben, gilt auch nach dem 5. Oktober. Nur, wir haben nicht die Mehrheit. ({70}) Deshalb laden wir zu dem Versuch ein, diese Streitfrage in großer Übereinstimmung zu lösen. Wenn ich die Mitbestimmungslösung der Regierung in die Sprache der Arbeitnehmer übersetzen soll, dann heißt es ganz einfach: Vertagung. „Mut zur Zukunft" bedeutet: Vielleicht Mut in der Zukunft. In der Gegenwart jedenfalls hat Sie der Mut bei der Mitbestimmung verlassen. ({71}) 1980 konnten Sie das Problem nicht lösen. Sie verschieben es auf 1986 im Wissen, .daß Sie es dann nicht mehr zu lösen brauchen, weil Sie dann nicht mehr in der Regierung sind. ({72}) Sie hangeln sich weiter durch Vertagen und Verschieben. Sie halten und klammern sich an die Macht durch Ausklammern der Probleme. Mit Klammern retten sich bekanntlich angeschlagene Boxer über die Runden. SPD und FDP halten sich fest umschlungen, so fest, daß sie sich nicht mehr bewegen können. Was ist eigentlich, Herr Wehner, aus Ihrem Gruppenantrag geworden, den Sie vor der Wahl mit großem Getöse im Bundestag eingebracht haben? ({73}) Das war offensichtlich ein Wahlkampfkraftakt: Gewichtheben ohne Hanteln ({74}) Das ist Mitbestimmungsinitiative als Illusionsnummer. Ich finde das schade für die Mitbestimmung; ({75}) denn ich meine, wir sollten an einer partnerschaftlichen Lösung interessiert sein. Wir haben vor der Wahl eine Lösung angeboten, die von den Gewerkschaften als Lösung akzeptiert wurde. Wir bieten unseren Vorschlag als Grundlage der Verhandlung auch nach der Wahl an, weil wir Übereinstimmung und nicht Dissens in dieser Frage haben wollen. ({76}) Lassen Sie mich auch zum zweiten partnerschaftlichen Bein etwas sagen. Miteigentum ist das zweite Bein der Mitverantwortung. Die private Eigentumsordnung wird im Falle ihrer Krise nur von denen verteidigt werden, die selber Eigentum haben. Eigentum verbindet Freiheit und Sicherheit. Es ist ein Element der Machtverteilung und der Selbstvorsorge. Wenn durch besonnene Lohnpolitik Investitionen ermöglicht werden sollen, müssen die Arbeitnehmer an den Konsequenzen ihrer Lohnzurückhaltung und ihrer Arbeit beteiligt werden. Die Form von Beteiligung der Arbeitnehmer am Eigentum ist ein Beitrag zur Entkrampfung der Einkommenspolitik. Denn was haben die Arbeitnehmer eigentlich von einer Lohnerhöhung von 8 %, wenn anschließend die Preise um 6 % steigen und wenn das, was die Preise nicht weggenommen haben, der Herr Finanzminister durch die Lohnsteuer wegnimmt? Ich finde, daß die Konsumlohnpolitik durch eine Politik der investiven Beteiligung ergänzt werden muß. Die Zeche der alt- und jungmarxistischen Vorurteile gegen das Privateigentum zahlen die Arbeitnehmer. ({77}) Mein Appell richtet sich auch an die Arbeitgeber. Auch sie waren in ihren eigentumspolitischen Vorschlägen schon einmal weiter. Festhalten an alten Gewohnheiten ist die Vorbereitung des Dammbruchs. Die Bundesregierung hat in drei Legislaturperioden jeweils zu Beginn eigentumspolitisch getönt und am Ende für die produktive Beteiligung der Arbeitnehmer nichts gemacht. Maihofer und Rosenthal stehen für abgebrochene Eigentumsvorhaben. Zu Beginn der Legislaturperiode erscheint die Eigentumspolitik jeweils wie eine bunt schillernde Fata Morgana, und am Ende erweist sie sich als heiße Luft. Und jetzt fahren Sie noch mit dem Bulldozer in die Sparförderung. Von dem großen Vorhaben „Eigentumspolitik" bleibt in dieser Regierung offensichtlich nicht sehr viel übrig. Ich meine: Wir müssen Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand wieder auf die Tagesordnung dieses Parlaments bringen. Denn jeder Tag, an dem nichts geschieht, schafft neue Ungerechtigkeiten. Revolutionäre können die Ungerechtigkeiten der letzten 100 Jahre mit einem Schlag wettmachen - jedenfalls in ihrer Theorie. Wer auf Evolution setzt, steht unter Zeitdruck. Deshalb: Es muß bald gehandelt werden. ({78}) Druck und Gegendruck sind ein Teil der Sozialpartnerschaft. Rationalisiert wird dieses Kräftespiel durch das Gespräch. Deshalb fordern wir die Sozialpartner zur Rückkehr zur Konzertierten Aktion auf. Am Namen der Veranstaltung darf das vernünftige Gegeneinander nicht scheitern. Partnerschaft ist kein Palaver, sondern Dialog, und der Dialog muß sich gerade in schweren Zeiten bewähren. Nicht miteinander reden zu wollen, verändert nichts. Es ist Kleinkinder-Trotz und nichts für eine erwachsene Partnerschaft. Wenn es nicht gelingt, die staatliche Wirtschaftspolitik mit der autonomen Einkommenspolitik der Tarifpartner abzustimmen, dann wird entweder die staatliche Wirtschaftspolitik funktionslos oder die Einkommenspolitik der Sozialpartner ineffektiv. Daran kann keiner Seite gelegen sein. Wir haben nur die Wahl, dies im freien Dialog abzustimmen oder autoritär festzulegen. Wer es autoritär will, muß für Planwirtschaft sein. Wer es in freier Selbstverantwortung will, muß für die Konzertierte Aktion sein. ({79}) Verläßliche Sozialpolitik, solidarische Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Mitarbeit, Partnerschaft - das sind die Wegweiser unserer Sozialpolitik. Sozialstaat wie Sozialpolitik haben es nicht lediglich mit dem Verteilen von Geld zu tun. Sozial ist nicht erst das, was Geld kostet und was viel kostet. Eine unsoziale Politik kann sehr teuer sein. Sozial ist Mitmenschlichkeit, und diese kann und soll nicht nur staatlich organisiert werden. Mitmenschlichkeit ist nicht nur eine Sache des Geldes. Der Sozialstaat kostet Geld und dieses fließt nicht aus himmlischen Kassen. Weil die Bürger zu guter Letzt alles selbst bezahlen, ist die Grenze der Belastbarkeit zwar nicht die Grenze des Sozialstaats, aber die Grenze seiner materiellen Reserven. Haushalten bei knapper Kasse setzt die Fähigkeit zur Setzung von Prioritäten voraus, Prioritäten kann nur nennen, wer sich auf Prinzipien stützt. Ihre Prinzipien hätten wir gern gewußt. Geschäftigkeit ist kein Prinzip. Sie ist der Ausdruck von Ratlosigkeit. ({80}) Mut zur Zukunft verlangt Mut zur Priorität. Was ist wichtig? Was ist wichtiger? Was müssen wir tun? Das hätten wir gern von Ihnen gewußt. Die Regierungserklärung hat uns alle enttäuscht. An die Stelle des Pathos der Veränderung, mit der die sozialliberale Koalition 1969 angetreten war, ist die Buchhaltung der Machterhaltung getreten. Die Luft ist raus. ({81})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Das Wort hat Herr Abgeordneter Rohde.

Helmut Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beifall der CDU/CSU-Fraktion für ihren Redner überrascht nicht. Es entspricht der Bewußtseinslage und den politischen Verhältnissen in der Union, im Allgemeinen und in Anklagen stekkenzubleiben und in keiner wichtigen Frage konkret zu werden. ({0}) Der Kollege Blüm hat in seiner Rede einen subtilen Unterschied zwischen Animator und Stimmungskanone angedeutet. Ich hatte dabei den Eindruck, daß er heute das Bedürfnis hatte, einmal vorzuführen, wie es aussieht, wenn sich beides in einer Person vereinigt. ({1}) Ich denke in diesem Zusammenhang an einen Satz, den Kollege Wissmann, in diesem Hause und in der Jungen Union tätig, in der innerparteilichen Diskussion der CDU/CSU vor einiger Zeit geschrieben hat. Er meinte - wie mir scheint, nicht zu Unrecht -, die Union dürfe nicht nur von „schönen Thesen" reden, und er fügte hinzu, sie müsse ihre programmatischen Ansichten auch in die Praxis umsetzen. ({2}) Gemessen an diesem Anspruch war das, was Herr Kollege Blüm heute vorgeführt hat, zuwenig. ({3}) Gestern ist in mehreren Reden zum Ausdruck gekommen - ich fand das gut -, daß die 9. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages von einem Wettbewerb der politischen Ideen und der konkreten Alternativen gekennzeichnet sein solle. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß Kollege Blüm im Feuilleton steckengeblieben und dabei in jene Zeit des Wahlkampfs zurückgefallen ist, in der er, um ihn selbst zu zitieren, „ohne Wenn und Aber" hinter Strauß gestanden hat. ({4}) Diese Franz-Josef-Zeit, Herr Kollege, hat bei Ihnen, wenn ich Ihre heutige Rede zugrunde lege, offensichtlich noch immer ' Spuren hinterlassen. ({5}) Ich will zunächst das aufgreifen, was Sie hier im Zusammenhang von „Sozialpartnerschaft und Klassenkampf" vorgeführt haben. Man muß wohl sagen: und/oder Klassenkampf; es müssen ja immer gewaltige Begriffe sein; sonst fühlen Sie sich nicht im emotionalen Gleichgewicht. Ich finde, diese Begriffe können überhaupt nicht losgelöst von den tatsächlichen Erfahrungen der Arbeitnehmerschaft behandelt werden. ({6}) Da Sie davon nicht gesprochen haben, werde ich das hier nachholen. Nicht nur in der Arbeitnehmerschaft in Deutschland, sondern auch unter den Kollegen und Freunden aus anderen Ländern und aus deren Gewerkschaften gibt es am Anfang dieses Jahrzehnts eine große, vieles andere überragende Sorge, daß nämlich die Strukturveränderungen dieses Jahrzehnts - von der Energiepolitik bis hin zu den neuen Technologien, von den Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft bis zu den veränderten Wachstumsraten - von den Konservativen in Politik und Wirtschaft ausgenutzt werden, um Arbeitnehmer- und Gewerkschaftspositionen zurückzudrängen. Das ist die politische Sorge. ({7}) Sie ist viel gravierender als das intellektuelle Glasperlenspiel unter der Überschrift „Klassenkampf oder Sozialpartnerschaft". Diese Sorge hat sich auch in unserem Lande -das wissen Sie so gut wie ich - angesichts der Klage der Arbeitgeber gegen die Mitbestimmungsrechte und des handstreichartigen Versuchs von Overbeck gegen die Montan-Mitbestimmung manifestiert, ({8}) mit dem nachgeholt werden sollte - so sehe ich das -, was vor dem Bundesverfassungsgericht nicht eingeklagt werden konnte. Diese Sorge ist auch in den Tarifauseinandersetzungen deutlich geworden. Ich vergesse nicht, daß die drei großen Arbeitskämpfe, die in den letzten Jahren zu Streiks und Aussperrungen geführt haben, nicht in erster Linie um Lohn oder Gehalt, sondern um die sozialen Konsequenzen des technologischen Fortschritts geführt worden sind. ({9}) In diesen Arbeitskämpfen hat sich die Arbeiterschaft dagegen gewehrt, daß die sozialen Konsequenzen, die sich z. B. in der Bildschirmtechnik, in der Mikroelektronik und auf vielen anderen Gebieten ergeben, von der Arbeitgeberseite tabuisiert werden sollten. Die Angriffe der Konservativen, die unter der Überschrift „Tendenzwende" in die europäische Politik eingeführt wurden, sind auch in den maßlosen Angriffen auf das System der sozialen Sicherung deutlich geworden. Dieses System ist doch nicht durch die feuilletonistisch betrachteten Punkte in Gefahr gebracht, die Herr Blüm hier ausgebreitet hat. Das System sozialer Sicherung muß sich heute gegen jene konservativen Angriffe verteidigen, die wir nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Industrieländern erleben. ({10}) Schließlich, Herr Kollege Blüm, hat die soziale, Auseinandersetzung, von der ich hier spreche, in der kategorischen Forderung ihren Höhepunkt erreicht, auf das Vollbeschäftigungsziel als entscheidendes Ziel staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verzichten. ({11}) - Was stimmt hier nicht? Haben Sie nicht die Auslassungen des Präsidenten des Deutschen Industrie-und Handelstages gelesen? Haben Sie sich nicht die Mühe gemacht, wenigstens einmal nachzulesen, was Ihr Parteifreund Biedenkopf in den letzten Monaten über den Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung für die Vollbeschäftigung niedergeschrieben hat? ({12}) Ich finde, daß der DGB-Vorsitzende recht hat, wenn er sagt - ich zitiere ihn sinngemäß -, daß rückschrittliche Tendenzen weniger in der Politik als solcher liegen als vielmehr darin, daß jetzt Konservative ihren Zuschnitt suchen, mit dem sie auf ihre Weise Probleme zugunsten ihrer Interessen und zu Lasten anderer bewältigen wollen. Die entscheidende Frage für uns in diesem Parlament ist, wie die Politik auf diese konservative Philosophie von der Tendenzwende reagiert -

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002466

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?

Helmut Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich gestatte sie ihm gleich -, wie wir uns demgegenüber verhalten und was wir an Standfestigkeit gegenüber dem beweisen, was an Sozialstaatlichkeit in unserem Lande geschaffen worden ist. - Bitte sehr, Herr Kollege.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rohde, da Sie hier das „Sanieren auf Kosten anderer" qualifizieren, darf ich Sie fragen, wie Sie die Maßnahme des Schatzmeisters der SPD in der Baracke in Bonn, die Entlassung von 70 Arbeitnehmern, . ({0}) qualifizieren würden? ({1})

Helmut Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ist niemand entlassen worden - das wissen Sie genau aus der öffentlichen Diskussion -, ({0}) sondern da ist ein Sozialplan im Zusammenhang mit der Umorganisation des Parteivorstandes erstellt worden. Sie machen hier den Versuch, angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, mit der wir uns in den Industrieländern auseinanderzusetzen haben, wiederum einen kleinlichen feuilletonistischen Ausweg zu suchen. ({1}) Meine Damen und Herren, man darf der Frage, wie wir uns zu dieser Philosophie der „Tendenzwende" stellen, nicht ausweichen. Dabei müssen auch unterschiedliche Auffassungen im sogenannten „eigenen Lager", wie ich finde, auch im Parlament zum Ausdruck kommen, ob das in der Koalition oder - wie ich hinzufügen will - in der Opposition ist. Ich jedenfalls meine, daß dies ein Gewinn für den Parlamentarismus in der vor uns liegenden Legislaturperiode sein würde. Ich bestreite überhaupt nicht, daß z. B. - um einen Kollegen zu nennen - zwischen Graf Lambsdorff und mir auf Grund von Lebenserfahrung, Überzeugungen, Einschätzungen und Beurteilungen von Interessen Unterschiede bestehen, die in die Meinungsbildung eingehen müssen. Wie ist das aber eigentlich mit Ihnen, Herr Kollege Blüm, und anderen aus den Sozialausschüssen, die Sie zumeist hinter pauschalen Angriffen auf die Regierung die unterschiedlichen Auffassungen und die unterschiedlichen Interessen in Ihrer eigenen Partei zu verstecken suchen? Ich will dafür Beispiele nennen, orientiert an dem, was Sie hier kritisch eingewandt haben. Zuerst frage ich, wie es sich mit der Ehrlichkeit verträgt, wenn auf der einen Seite Kollege Blüm - auch im Zusammenhang mit dem, was gestern die „neue soziale Frage" genannt worden ist, - die Lage von Beziehern niedriger Einkommen beklagt, aber auf der anderen Seite das Diskussionsangebot - mehr ist es nicht, aber auch nicht weniger - der Sozialdemokraten, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man für Rentner mit zusätzlicher Sozialhilfe eine bessere Form der Leistungsdarbietung organisieren kann, einfach mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt worden ist? ({2}) Wäre dies nicht gemeinsamen Nachdenkens wert? Was ist davon zu halten, wenn die Sozialausschüsse der CDU fordern, daß bei allen Finanzierungshilfen an private Haushalte künftig Einkommensgrenzen gezogen werden sollen, aber, wie Sie wissen, in der Kindergeldgesetzgebung die Mehrheit Ihrer Fraktion, vielleicht sogar die ganze, auf den steuerlichen Kinderfreibeträgen beharrt und jeden Ansatz zu einer sozial gezielteren Familienpolitik und einem sozialeren Familienlastenausgleich unter Ideologieverdacht stellt oder gar diffamiert? ({3}) Herr Kollege Blüm, hier wurde gestern und heute wieder die Kernenergiepolitik als eine Politik „ohne Wenn und Aber" - das ist so eine Lieblingsvokabel von Ihnen und auch von Strauß - vorgestellt, während die Sozialausschüsse in ihren Erklärungen nach der Bundestagswahl darauf hingewiesen haben, daß man auf diesem Felde behutsam vorgehen und erst eine sorgfältige Klärung der Möglichkeiten, Risiken und Gefahren der Entsorgung vorliegen müsse. Mit einer solchen Haltung stehen die Sozialausschüsse den Arbeiten der Enquete-Kommission und den Überzeugungen der Sozialdemokraten viel näher als dem, was hier von der CDU unter einer Ohne-Wenn-und-Aber-Politik verstanden wird. ({4}) Herr Kollege Blüm, ein Wort zur Mitbestimmung, bei deren Behandlung Sie sehr selbstgerecht gegenüber der Koalition im allgemeinen und den Sozialdemokraten im besonderen vorgegangen sind. Wenn man die Erfahrung des hinter uns liegenden Jahrzehnts zugrunde legt, besteht zu einer solchen Selbstgerechtigkeit kein Anlaß. Am Ende des vergangenen Jahrzehnts, unter einer anderen politischen Konstellation, wie wir wissen, haben die Sozialdemokraten als Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf über die Gestaltung paritätischer Mitbestimmung in der deutschen Wirtschaft vorgelegt. Damals hat sich in der CDU/CSU niemand für diesen Schritt eingesetzt; es gab nicht eine Stimme, die das unterstützte. 1972, als wir das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedeten, waren es gerade 21 Abgeordnete aus der Fraktion der CDU/CSU, die sich dieser Gesetzesvorlage angeschlossen haben. Bei allem - das will ich gegenüber den Kollegen der FDP sagen -, was es heute an kritischen Stimmen in den Gewerkschaften gegenüber manchen Positionen der FDP gibt, will ich aber hinzufügen: Wir haben es nicht vergessen, daß wir damals mit der Fraktion der Liberalen ein Betriebsverfassungsgesetz verabschieden konnten, für das wir bei der Mehrheit der CDU keine Zustimmung gefunden haben. ({5}) Herr Kollege Blüm, als wir wiederum, Liberale und Sozialdemokraten, in diesem Bundestag einen Antrag eingebracht hatten, der dazu aufforderte, als Parlament der Abwehr der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeber vor dem Bundesverfassungsgericht beizutreten, hörten wir ein Nein Ihrer Partei, ({6}) und Sie begründeten das. Dabei haben Sie völlig außer acht gelassen, welche grundsätzliche Bedeutung dieses Verfassungsgerichtsurteil für die Weiterentwicklung der Mitbestimmung in der Bundesrepublik haben würde. ({7}) Und wie sah es aus, als der Vorstand bei Mannesmann seine Absicht veröffentlichte, Strukturveränderungen im Betrieb zu benutzen, um die Montan-Mitbestimmung aus der Welt zu schaffen? Damals gab es am 30. Juli 1979 eine Presseinformation der CDU/CSU. Das war wenige Wochen vor der von Mannesmann angekündigten Absicht, nicht nur eine Aufsichtsratssitzung, sondern möglicherweise auch eine Aktionärsversammlung einzuberufen, wo man dann die Mitbestimmung mit einer dort erwarteten Mehrheit aushebeln wollte. In dieser Lage gab es eine bemerkenswerte Erklärung der Union: Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU war am 30. Juli einstimmig, Herr Kollege Blüm, der Auffassung, daß eine politische Stellungnahme zu möglichen Entwicklungen nicht sachdienlich sei. Wenn sich alle politischen Kräfte dieses Parlaments in einer solchen Weise verhalten hätten, dann hätte man die Frage zu stellen, was dann aus der Sicherung der MontanMitbestimmung in der Bundesrepublik geworden wäre. ({8}) Sie haben das damals als Sommertheater bezeichnet. ({9}) Weil man diese Linie, auf Tauchstation zu gehen, nicht durchhalten konnte, wurde später durch Strauß und andere eine Erklärung mit drei Hintertüren herausgegeben. Da Sie den Gruppenantrag der SPD zur Montan-Mitbestimmung zitiert haben, möchte ich Ihnen folgendes sagen: In der gleichen Zeit, in der die Sozialdemokraten - und das macht den Unterschied aus, und Sie können sicher sein, daß die Arbeitnehmer und Gewerkschafter das wahrgenommen haben - den Antrag zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung vorbereitet haben, hat die CDU/CSU einen Gruppenantrag zur Einführung von Sprecherausschüssen leitender Angestellter im Betriebsverfassungsgesetz vorgelegt. ({10}) Das definiert die Interessen und ihre Einschätzung durch die politischen Kräfte in diesem Lande. Nun will ich nicht verhehlen - das könnte ich gar nicht -, daß es mich bedrückt, wie die Montan-Mitbestimmung in den letzten Monaten im Streit gelegen hat. Ich will die Gründe dafür nennen, warum ich und warum viele Arbeitnehmer und Gewerkschafter das so empfinden. Hier handelt es sich nicht um Druck oder ähnliches, sondern um. mehr. Die Montan-Mitbestimmung ist nicht nur ein bedeutsamer historischer Vorgang, als den ihn auch der Kollege Blüm gewürdigt hat, weil ja mit diesem Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer die Ablösung von Besatzungsrechten verbunden war und deutsche Selbstbestimmung in der Schwerindustrie hergestellt wurde. Nicht nur deshalb beschäftigt uns das. Vielmehr möchte ich auch gegenüber meinen Kollegen von der FDP nun Verständnis für eine Erfahrung werben, die man im Ruhrgebiet machen kann. Für die Arbeitnehmer im Ruhrgebiet stellt die Montan-Mitbestimmung eine soziale Wegmarkierung dar, die in ihren Lebenserfahrungen und in ihrer sozialgeschichtlichen Entwicklung einen hohen Rang einnimmt. ({11}) Die Arbeiterschaft an Rhein und Ruhr ist im 19. Jahrhundert, also früher, intensiver und - so muß man hinzufügen - auch härter und mitleidlo186 ser von der Industrialisierung erfaßt worden als andere - ohne sozialen Schutz, ohne soziale Rechte und mit all den Konsequenzen, die für sie und ihre Familien damit verbunden gewesen sind. Für diese Arbeiterschaft bedeutete Mitbestimmung in der Schwerindustrie eine Hoffnung, die Hoffnung nämlich, als Arbeiter einen neuen Status zu gewinnen, in dem man beachtet wird, respektiert wird und der die Chance eröffnet, seine Rechte wahrzunehmen und seine Erfahrungen in der Wirtschaft zum Ausdruck zu bringen. ({12}) Dies ist mehr als ein Streit um Paragraphen und vielerlei Einzelgesetze, über die 51er, 56er oder 71er Regelungen. Der Paragraphenstreit geht deswegen über die Köpfe der Arbeiterschaft hinweg, weil sich diese Arbeiterschaft an der Ruhr und andernorts sagt: Unsere Industrie, in der wir arbeiten, in der wir bisher paritätisch mitbestimmen konnten, die bleibt doch trotz innerbetrieblicher Strukturveränderungen Schlüsselindustrie mit ihrer Bedeutung, die sie für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unseres Landes besitzt. Das sind Grundüberzeugungen. Wir müssen das geltende Recht ändern, um Montan-Mitbestimmung zu sichern. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den Beschluß der Koalition deutlich gemacht und im einzelnen erklärt, daß für die nächsten sechs Jahre der Anwendungsbereich und der Inhalt der Montan-Mitbestimmung gesichert werden sollen. Beides ist wichtig. Das heißt zunächst erst mal, Herr Kollege Blüm, daß dieses, wie ich es sehe, soziale Grundrecht der Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode nicht durch einen Handstreich ausgehebelt werden kann. Natürlich bewegt mich wie auch Gewerkschaftler draußen in den Betrieben die Frage, was nach diesen sechs Jahren passiert. Es wäre nicht redlich, darüber in dieser Debatte nicht sprechen zu wollen. Deshalb werde ich mir als Abgeordneter das Recht nehmen, in den bevorstehenden Beratungen des Bundestages über dieses Gesetz die Frage zu stellen, ob es wirklich zu viel verlangt ist, in diesem gesetzlichen Verfahren eine rechtliche Möglichkeit für Vereinbarungen der Beteiligten über die Fortsetzung der Montan-Mitbestimmung über die sechs Jahre hinaus zu erreichen. ({13}) Wenn der Gedanke der „Sozialpartnerschaft" in diesem Hause von der CDU-Fraktion so beklatscht worden ist und wenn es darüber viele grundlegende, wie das heute heißt, Ausführungen aus verschiedenen festlichen Anlässen gibt, dann muß gefragt werden, ob man diesen hohen Anspruch nicht auch auf die Erde zurückholen darf: der Gesetzgeber könnte den Beteiligten in dieser für sie und für die wirtschaftliche Entwicklung so wichtigen Sache das Recht zu Vereinbarungen eröffnen. Das ist nicht nur eine Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerfrage im engeren Sinne. Dieses paritätische Mitbestimmungsrecht diskutieren wir heute auf dem Hintergrund von zwei Wirtschaftszweigen, in denen große Aufgaben und Probleme in den 80er Jahren zu bewältigen sind. Soweit es den Bergbau angeht - Kohle als entscheidender Eckwert der Energiepolitik -, bedeutet das, gewaltige Anstrengungen zu unternehmen, und soweit es die Stahlindustrie betrifft, haben wir mit Strukturveränderungen zu rechnen. Beide Aufgaben, sowohl Bergbau und Kohle als wesentliche Energiegrundlage für die Zukunft zu sichern, als auch die Strukturveränderungen in der Stahlindustrie können wir nur zusammen mit der Arbeitnehmerschaft und im Sinne der Mitbestimmung bewältigen. ({14}) Herr Kollege Blüm, ich war enttäuscht darüber - ich will das ganz offen sagen -, daß Sie hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik außer allgemeinen Anklagen nur gesagt haben: „Es gibt hier tausend Wege", ({15}) ohne auch nur einen konkret werden zu lassen. ({16}) So können doch Arbeitnehmerinteressen vor dem Deutschen Bundestag nicht behandelt werden. ({17}) Dazu werde ich Ihnen sagen, wie wir in diesem Bundestag unsere Verantwortung wahrnehmen und was wir in Bewegung bringen wollen. Erstens gehen wir dabei von den Sachverständigengutachten aus, den vielfältigen Einschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1981. Sie wissen wie ich, daß die Institute zumeist nahezu Nullwachstum voraussagen, daß mit wachsender Arbeitslosigkeit zu rechnen sei, allerdings im Herbst 1981 eine Festigung der Konjunktur in Rechnung gestellt werden könne. Diese Hoffnungen - ({18}) - Ich komme dazu, Herr Kollege. - Diese Hoffnungen auf den Herbst 1981 sind aber eher vage. Unsere Auffassung ist, daß es der Politik nicht erlaubt sein kann, bis zum 31. Dezember 1981 zuzuwarten, um dann festzustellen, ob die wirtschaftspolitischen Vorausschätzer mit ihrer Theorie der „vorübergehenden Flaute" und ihrer Empfehlung, „einfach durchzusegeln", recht hatten, ob es sich im Blick auf die Europäische Gemeinschaft - wir haben ja nicht nur mit deutschen Prozessen zu rechnen - wirklich nur um einige Monate des „Durchsegeln" handelt oder ob Gefahren des „Reinsegelns" zu erwarten sind. ({19}) Wir ziehen daraus die Konsequenz, auf die wir uns in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion darauf vorbereiten, im ersten Halbjahr 1981- konkret: im Frühjahr - eine wirtschafts- und vor allem beschäftigungspolitische Zwischenbilanz aufzumachen, um dann, gestützt auf die tatsächlichen ErfahRohde rungen, darüber zu entscheiden, was für die weitere Entwicklung notwendig erscheint. ({20}) Zweitens, Herr Kollege Blüm, werden wir darauf dringen, zu einer kritischen Überprüfung der Methoden und Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zu kommen. Das beginnt schon mit der Art und Weise, wie die deutsche Öffentlichkeit - auch der Deutsche Bundestag - über Arbeitslosigkeit in diesem Lande informiert wird. Ich sage es jetzt einmal zugespitzt, wie ich zugebe: Einmal im Monat erscheint der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit im Fernsehen, tritt wie ein Mann aus dem Wetterhaus heraus, verkündet ein paar Zahlen, gibt drei Sätze als Kommentar. Dann wird wieder abgeschaltet. Anschließend gibt es die obligatorischen Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen. Der eine hat Bedenken, ist aber-nicht ohne Hoffnung. Der zweite sagt, man müsse das von beiden Seiten sehen, und der dritte meint, es sei genauso düster, wie er immer in Rechnung gestellt habe. Anschließend wird dann das Buch bis zum nächsten Monatsende wieder zugeklappt. ({21}) Ich frage mich - und wir müßten doch alle ernsthaft diese Frage stellen -, ob in dieser nun schon jahrelang anhaltenden Behandlung nicht die Gefahr liegt, daß sie zu einem Routineakt in einem Klima verwalteter Arbeitslosigkeit wird. ({22}) Deshalb ist es doch nicht zuviel verlangt, daß wenigstens einmal im Jahr ein umfassender Arbeitsmarktbericht vorgelegt wird und die Bundesanstalt für Arbeit für die Öffentlichkeit, aber auch für die Behandlung hier im Deutschen Bundestag, über das Zahlenwerk hinaus dokumentiert, was hinter diesen Zahlen steht. Dann könnten wir im Blick auf regionale Verhältnisse und die Arbeitslosigkeit bestimmter Gruppen ({23}) konkret und in einer weniger literarischen Weise, als das bei Ihnen heute der Fall war, die Probleme und Aufgaben erörtern. Dazu würde auch gehören, wie Arbeitsvermittlung und Berufsberatung wirken und wie bei den einzelnen Arbeitsmarktprogrammen das Verhältnis von Mitnahmeeffekten der Unternehmen zu den Arbeitsplatzeffekten für die Betroffenen beschaffen ist. ({24}) Dieser Arbeitsmarktbericht, der eine Jahresbilanz sein soll, soll kein Selbstzweck sein. Davon müßten Ziele der Arbeitsmarktpolitik für die nächste Periode abgeleitet werden. Der Bundeskanzler hat am Montag in seiner Regierungserklärung mit Recht auf die gemeinsame Verantwortung von Unternehmen, Tarifpartnern, Regierung und Gesetzgebern in Bund und Ländern für die Vollbeschäftigung hingewiesen. Für diese gemeinsame Verantwortung muß allerdings auch ein Boden geschaffen werden, auf dem sie wirksam werden kann. Es müssen beschäftigungspolitische Ziele gesetzt werden, die die Verpflichtungen der Beteiligten für die jeweils nächste Periode deutlich machen und uns somit in die Lage versetzen, nachzuprüfen und nachzumessen, wie diese Ziele von den jeweils Verantwortlichen wahrgenommen werden. Ferner, Herr Kollege Blüm, bin ich davon überzeugt, daß uns in dieser Legislaturperiode die Frage der Finanzierung der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigen muß. ({25}) Ich weiß nicht, wie Sie das einschätzen. Ich bin der Meinung, daß, auf Dauer gesehen, die Kosten der Bundesanstalt für Arbeit - von der Arbeitsmarktförderung bis zur Arbeitslosenversicherung - nicht voll und ganz nur von den Arbeitern und den Angestellten finanziert werden können. ({26}) Manchmal frage ich mich, ob mit dem Begriff der Versicherung überhaupt noch das erfaßt werden kann, was uns in den 80er Jahren an arbeitsmarktpolitischen Verpflichtungen aufgegeben ist. Die Koalition hat sich dafür entschieden, daß die Finanzierungsdefizite der Bundesanstalt für Arbeit vom Bund gedeckt werden und nicht zu Beitragserhöhungen führen sollen. Ich weiß, daß die Art dieser Deckung Kritik hervorgerufen hat. Ich wische diese Kritik auch nicht einfach vom Tisch. Auf der anderen Seite bedeutet diese Entscheidung aber, daß hier nicht der bequeme Ausweg einer Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung - unter der Überschrift: Ein für allemal wird damit die Bundesanstaltsfinanzierung entschieden - gesucht worden ist. Wir werden uns also im nächsten Jahr - wie ich hoffe, gestützt auf konkrete Vorarbeiten der Bundesregierung - mit diesem Thema zu beschäftigen haben. Schließlich bin ich davon überzeugt, daß die Frage der Arbeitszeitverkürzung auch unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten in den 80er Jahren nicht ausgeklammert werden kann. ({27}) Ich will dabei offen sagen, daß ich nicht der Meinung bin, daß alle beschäftigungspolitischen Probleme der 80er Jahre allein mit Arbeitszeitverkürzung bewältigt werden können. Aber ich bin der Meinung, daß ohne Arbeitszeitverkürzung die beschäftigungspolitischen Probleme insgesamt die Tendenz haben, sich zu verschärfen. Ich glaube, daß wir hier insbesondere im Blick auf zwei Gruppen besondere Prioritäten sehen müßten, für die Schichtarbeiter und für die älteren Arbeit188 nehmer. Was immer man über Familienpolitik sagen mag und auch sagen muß: Ich bin der Meinung, daß es auch eine wesentliche familienpolitische Aufgabe ist, für die 3,7 Millionen Schichtarbeiter bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen, damit Millionen von Menschen überhaupt eine Chance erhalten, Familien sein zu können. ({28}) Für die älteren Arbeitnehmer sollten wir anstreben, einen flexibleren und damit menschlicheren Übergang aus dem Arbeitsleben in die soziale Sicherung zu erreichen. Ich erlaube mir den Rat an die Bundesregierung, sich mit den Tarifvertragsparteien an einen Tisch zu setzen, um mit ihnen gemeinsam die Möglichkeiten zu erörtern, die auf diesem Felde durch ein Zusammenwirken von Tarifvertragsparteien, Arbeitmarktpolitik und staatlicher Sozialpolitik zu konkreten Fortschritten führen können. Zum Schluß möchte ich noch einige Anmerkungen zum sozialen Sicherungssystem machen, wobei der Bundesarbeitsminister sicherlich noch auf Finanzierungszusammenhänge eingehen wird. Herr Kollege Blüm, Ihren Ausführungen über die Sozialpolitik will ich Sachverhalte entgegenstellen, von denen ich glaube, daß sie Gewicht haben und deutlicher als Ihre an manchen Stellen zynische Kritik ({29}) die soziale Lage in unserem Lande widerspiegeln. Erstens. Die Gesamtrechnung aller sozialen Leistungen in der Bundesrepublik - von Bund, Ländern, Sozialversicherungsträgern und anderen - umfaßte 1980 einen Betrag von 449 Milliarden DM. Nun bin ich der Meinung - ich komme damit auf eine Bemerkung des Kollegen Kohl von gestern zurück -, daß wir in dieser Legislaturperiode nicht nur darüber sprechen können, sondern auch darüber sprechen müssen, ob mit den Gesamtausgaben im sozialen Bereich in Höhe von 449 Milliarden DM jenes Maß an Wirkungen erreicht wird, das wir im Blick haben, wenn wir über soziale Gerechtigkeit sprechen. Denn in diesen Gesamtausgaben sind nicht nur die Sozialhilfeleistungen enthalten, sondern beispielsweise auch Arzthonorare im Bereich der Krankenversicherung und Leistungen an die pharmazeutische Industrie. Was hier gerecht an manchen Stellen überzogen erscheint, wo möglicherweise oder auch tatsächlich Mißbrauch getrieben wird, wie wir soziale Initiative fördern und bürokratischer Verkrustung entgegentreten können, sollten wir in dieser Legislaturperiode behandeln. Aber das muß konkret sein, damit wir nicht in einer Grauzone allgemeiner Verdächtigungen gegenüber den Sozialleistungen und der Sozialpolitik im ganzen steckenbleiben. ({30}) Denn das würde die Verhältnisse nicht ändern, damit würde man auch Wert und Bedeutung der Sozialpolitik nicht gerecht. Zum zweiten, Herr Kollege Blüm, wird ab 1982 in unserem Lande die Rentenanpassung, wie Sie wissen, wieder bruttolohnbezogen erfolgen ({31}) - ist das nichts? -, während die konservative englische Regierung zur gleichen Zeit die Lohnbezogenheit der Rente abgeschafft und das Beitragsniveau angehoben hat. ({32}) Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt weist aus, daß nicht in das soziale Netz eingeschnitten wird. Man muß sich einmal klarmachen, was das allein für den Bereich der Rentenversicherung, der Arbeitsmarktförderung und der Arbeitslosenversicherung bedeutet. Das heißt, daß Ausgaben in Höhe von 160 Milliarden DM jährlich in diesem Bereich gesichert sind. Herr Kollege, was die Renten anbetrifft, so wissen Sie im Grunde genommen genauso gut wie ich, daß sich das Nettoniveau der Renten, in dem sich der Vergleich von Altersruhegeld und Arbeitseinkommen auswirkt, in diesem Jahr so hoch ist wie in keinem Jahr zuvor, in dem die CDU/CSU dieses Land regiert hat. ({33}) Es liegt heute. bei 71,2 %, während es beispielsweise in dem Jahr, in dem Bundeskanzler Erhard die Regierungserklärung abgab, bei 59 % lag. ({34}) - Herr Kollege, über die Einzelheiten der künftigen Rentengesetzgebung werden wir uns unterhalten, wenn der Entwurf auf dem Tisch liegt ({35}) und wenn wir die Unterlagen der Transferkommission und die Zukunftsbilanzen der Rentenversicherung vorliegen haben. Dann werden wir die Konsequenzen bis hin zum Krankenversicherungsbeitrag erörtern, zu dem sich die CDU/CSU ja auch bekannt hat. Sie sagen das nur nicht laut, ({36}) das steht zumeist im Kleingedruckten Ihrer Broschüren. ({37}) Das alles werden wir beraten, und zwar gewissenhaft. Ich richte dabei die Bitte an die Bundesregierung, uns als Parlament bei der Gestaltung der gesetzlichen Einzelheiten, die ihr Gewicht haben wie z. B. der Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung, Gestaltungsraum zu lassen. Die Bundesregierung hat für den Herbst nächsten Jahres eine Reihe wichtiger Gutachten angefordert, die uns helfen sollen, die Auswirkungen von Einzelregelungen im Bereich der Rentenversicherung und in anderen Bereichen der Sozialpolitik beurteilen zu können. Wir müssen die Chance haben, alle Einzelheiten, z. B. bei der Gestaltung des Krankenversicherungsbeitrages, auf dem Hintergrund der Gutachten, die wir für den Herbst nächsten Jahres erwarten, zu prüfen und zu beurteilen. Zum Schluß, meine Damen und Herren: Wir werden die Bundesregierung in ihrer Politik des Ausgleichs nach innen und des Ausgleichs nach außen unterstützen und werden in diese Politik auf unsere Weise unsere Erfahrungen, unsere Erkenntnisse und all das einbringen, was sich aus der Diskussion mit dem Bürger über die Zukunft sozialer Sicherheit, über die Erwartungen der Arbeitsmarktpolitik und auch der Mitbestimmung ergibt. - Schönen Dank. ({38})

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der neue Oberkoordinator für Sozialpolitik hat in dieser Funktion hier seine Jungfernrede gehalten. Man möchte ihn eigentlich ein wenig beneiden um seine Wortspiele, um seine bildhafte Darstellung, um die eine oder andere Formulierung. Lassen Sie mich deswegen versuchen, ({0}) eine Bewertung vorzunehmen, die auch in einem Wortspiel liegt. Herr Kollege Blüm, Sie haben viel Richtiges und viel Neues in Ihrer Rede gesagt. Bedauerlicherweise war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht neu. ({1}) Ich werde mir ganz sicher, Herr Kollege Blüm, die Mühe machen, Ihre Rede im Detail gewissenhaft nachzulesen. Aber bei gutem und wirkliçh gewissenhaftem Zuhören habe ich beim besten Willen außer, wie gesagt, hervorragenden Formulierungen wenig Substanz gefunden. Das, was ich eigentlich erwartet und, wenn Sie so wollen, sogar erhofft hatte, nämlich eine positive Kritik im Sinne einer Anregung auch für uns in diesen schweren Zeiten, habe ich leider wenig gefunden. Die Einheit in der Ablehnung war Ihr Grundtenor, nicht bessere und konkrete Gegenvorschläge, wie ich sie mir, wie gesagt, erhofft hätte. ({2}) - Ich werde dies, Kollege Müller, ganz sicher tun. Ich bin auch, wie Sie mich kennen, bereit, gegebenenfalls meine Position zu korrigieren. ({3}) - Ich werde sie nachlesen, Herr Kollege Lutz; das bin ich mir selber schuldig. Lassen Sie mich eine kurze Positionsbeschreibung der Situation aus unserer Sicht hier geben, damit die Positionen für die kommende Legislaturperiode zwischen den Fraktionen, insbesondere zwischen der Koalition und der Opposition, klar sind. Sozialleistungen, die nicht das Ergebnis wirtschaftlicher Leistungen sind, die nicht solide finanziert sind, bewirken keine soziale Sicherheit, sondern genau das Gegenteil. ({4}) Deswegen reden wir nicht nur von der Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, sondern wir versuchen, sie zu praktizieren, und wir praktizieren sie auch. Sie ist die Voraussetzung für die Leistungen, mit denen die soziale Sicherheit finanziert wird, nämlich für die Leistungen, die die Arbeitnehmer und die Unternehmer in Form von Beiträgen und Steuern - ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Kollege Blüm, daß das meistens dieselben Zahler sind -, aufbringen. Voraussetzung für all dies ist Beschäftigung, Arbeit. ({5}) Für ein exportorientiertes Land wie das unsrige ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft von ganz entscheidender Bedeutung. Neben Qualität und Pünktlichkeit ist der Preis unserer Arbeit, unserer Produkte und Dienstleistungen von entscheidender Bedeutung für diese Wettbewerbsfähigkeit. ({6}) - Sowohl als auch. - Der Preis wird durch die Kosten bestimmt. Deswegen muß gerade an dieser Stelle festgestellt werden: Wir bejahen die soziale Sicherheit auf solidarischer Grundlage, weil sie die individuelle Freiheit des Bürgers in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewährleistet. Wir wissen aber auch, daß diese im wesentlichen durch die Beiträge finanziert wird. Soziale Sicherheit ist eben nicht nur Leistung, sondern sie bedeutet auch Kosten wie Lohn und Material, Kosten, die letztendlich auch die Wettbewerbsfähigkeit bestimmen. ({7}) Wie gesagt, wir bejahen die soziale Sicherheit. Eine soziale Sicherheit, die den einzelnen aus seiner persönlichen Verantwortung entläßt, schränkt aber auch seine individuellen Freiheiten ein. Wer an den mündigen Bürger glaubt und nicht nur über ihn redet, darf die Eigenverantwortung und auch die Selbstbeteiligung, wo immer möglich und verantwortbar, nicht ausschließen. ({8}) Beitragsstabilität in der sozialen Sicherung ist eben nicht nur aus Kosten- und Wettbewerbsgründen erforderlich, sondern sie ist auch notwendig, damit das frei verfügbare Einkommen des einzelnen abhängig Beschäftigten möglichst hoch ist. Dieses frei verfügbare Einkommen wird nun einmal durch notwendige Steuerzahlungen und durch die Sozialbeiträge eingeschränkt. An dieser Stelle möchte ich, Herr Kollege Kiep, eine Korrektur an Ihren Feststellungen von heute morgen vornehmen - auch Ihnen, Herr Kollege Blüm, möchte ich das in Erinnerung rufen -: Herr Kollege Kiep, Sie haben heute morgen festgestellt, wir hätten es mit einer annähernd 50%igen Staatsquote zu tun. ({9}) Es entspricht eigentlich nicht Ihrem intellektuellen Niveau, die Sozialversicherungsbeiträge ohne weiteres der Staatsquote zuzurechnen; denn diese Sozialversicherungsbeiträge, die jedenfalls nach unseren Vorstellungen individuelle Ansprüche des einzelnen Bürgers sind, der die Beiträge gezahlt hat, können nicht einfach der Staatsquote zugerechnet werden. ({10}) Ich hielte es für sauber, wenn Sie sagen würden, es gehöre zur Abgabenquote. Von diesem Platz aus ist heute morgen durch den Bundesfinanzminister noch einmal, wie ich meine, richtigerweise festgestellt worden, daß die Steuerquote seit Beginn der sozialliberalen Koalition konstant geblieben ist. Da die Abgabenquote durch die Steuerquote und die Sozialquote - die Abgabenquote für soziale Beiträge - bestimmt wird, kann es sich also nur darum handeln, daß die Sozialbeiträge gestiegen sind. Das ist in der Tat die wesentliche Ursache für die Steigerung der Abgabenquote. Wenn man sich in diesem Zusammenhang noch einmal erlaubt, auf die Identität der Beitrags- und Steuerzahler hinzuweisen - denn in der Lohnabrechnung des abhängig Beschäftigten sind Steuern wie Sozialbeiträge natürlich Abzüge dann ist es doch wohl richtig zu untersuchen, wer denn Ursachen mit dafür gesetzt hat, daß die Sozialbeiträge in diesem Umfang gestiegen sind. Herr Kollege Blüm, in diesem Zusammenhang möchte ich einiges in Ihre Erinnerung zurückrufen. Für diese Steigerungen der Sozialbeiträge ist u. a. auch die Tatsache ursächlich, daß zwischen 1967 und 1969 die Rentenbeiträge von 14 auf 18 % gestiegen sind, zu einer Zeit, als Sie, die CDU/CSU, in der Regierung die Hauptverantwortung für diesen Bereich getragen haben. ({11}) Wenn die Rentenreform von 1972 in gewissem Umfang Ausuferungen zu verzeichnen hatte, die mitursächlich für zukünftige Probleme waren, dann sind sie weitestgehend von Ihnen initiiert worden. Sie haben sich das von dieser Stelle aus gelegentlich als eine besondere Leistung zugeschrieben. ({12}) - Ich werde gleich auf den Punkt zurückkommen. Sie haben uns 1976 die Zustimmung für die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung verweigert. Wären diese nicht durch das 21. Rentenanpassungsgesetz verwirklicht worden, wären die Lage und die Liquidität der Rentenversicherung eben nicht so, wie sie jetzt sind. Es war Ihre Politik, mit der Sie die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenzen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung erreicht haben. Es war - wie die Kollegen Haussmann und Lambsdorff von dieser Stelle heute morgen schon gesagt haben - Ihre Politik, die die Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung mit besonderer Belastung für kleine und Mittelbetriebe statt der versicherungsrechtlichen Lösung ermöglicht hat. Die Verfestigung des nivellierenden und die Eigenverantwortung der Versicherten beseitigenden Sachleistungssystems in der gesetzlichen Krankenversicherung ist insbesondere von Ihnen betrieben worden. Die Zwangsdynamisierung der betrieblichen Altersversorgung, die für diese außerordentlich gefährlich ist, ist von Ihnen gefordert worden und hier als Antrag eingebracht worden, allerdings dann von der Koalition abgelehnt worden. Die unangebrachte Großzügigkeit bei Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, über die Sie sich eben selber mokiert haben, ist weitestgehend von Ihnen mitbetrieben worden. Schauen wir uns mal die Vorschläge an, die sie uns in diesem Wahlkampf auf den Tisch gelegt haben. Da haben wir es mit einem Erziehungsgeld in Milliardenhöhe zu tun, das am Widerstand Ihrer eigenen Haushaltspolitiker gescheitert ist. Da legen Sie uns für die 84er Reform den Vorschlag auf den Tisch, fünf Erziehungsjahre mit Kosten von 15 Milliarden jährlich einzuführen - so beschlossen von Ihnen im Juni 1980, wohl wissend, wie die Fakten sind. ({13}) Ich erinnere an Ihren Vorschlag zur Änderung des 21. Rentenanpassungsgesetzes für 1981 mit Folgekosten für einen 15-Jahres-Zeitraum von 60 Milliarden DM. So Ihr Kollege Geißler 14 Tage vor der Wahl. Allerdings alles wohlgemerkt mit Finanzvorbehalt. Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, wir hätten nicht gesehen, aber sie hätten immer gewußt, wie es um die Finanzen dieses Landes. bestellt ist. ({14}) Weiter erinnere ich an die Umverteilung zu Lasten der Bezieher höherer Renten durch die sogenannte Sozialkomponente beim Krankenversicherungsbeitrag. Herr Kollege Blüm, Sie haben soeben von dieser Stelle aus für leistungsbezogene Renten geworben und argumentiert. Erklären Sie mir bitte einmal, wie Ihr Krankenversicherungsbeitrag mit der sogenannten sozialen Komponente leistungsgerechte Renten ermöglicht. Denn nach unserem UmlagenCronenberg system und nach unseren Vorstellungen ist es nun einmal so, daß die Dauer und die Höhe der Beiträge die Höhe der Rente bestimmen sollen. ({15}) Sie wollen mit Hilfe einer sogenannten sozialen Komponente beim Krankenversicherungsbeitrag die höheren Renten mehr kürzen. Das ist in Ihrem Parteiprogramm zu finden. Auf Seite 28 ist dort zu lesen: Das Festhalten an der bruttolohnbezogenen Rente, deren Einführung durch die CDU/CSU ein Jahrhundertwerk echter Reformpolitik war, ermöglicht die Einführung eines nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit gestaffelten Krankenversicherungsbeitrags. ({16}) Wenn Sie die sogenannte Sozialkomponente an dieser Stelle einführen, bedeutet das schlicht und ergreifend: Nivellierung der Renten, Kürzung der Ansprüche jener, die mehr Beiträge gezahlt haben, da der Topf sich j a nicht verändert. Das muß man mit dieser Deutlichkeit und Klarheit sagen. ({17}) - Das ist nicht falsch, Herr Kollege Müller. Die sozialliberale Koalition hat in diesem Wettstreit um mehr Ausgaben nicht mitgemacht. Wir praktizieren eben die Einheit von Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Sozialpolitik. Genau deswegen funktioniert zur Überraschung einiger oder auch vieler bei Ihnen unsere Zusammenarbeit in der sozialliberalen Koalition im Bereich der Sozialpolitik um vieles besser, als die Kritiker vermuten mögen. Nun lassen Sie mich das gleiche Zitat aus der Regierungserklärung vortragen, das Sie, Herr Kollege Blüm, gebracht haben, nämlich zu der Frage: Wie geht es nach 1984 weiter? Wenn eine Aussage dieser Regierungserklärung klar, deutlich und unmißverständlich ist, dann ist es genau die zu dem Bereich der Renten ab 1984. Ich möchte genau wie Sie - aber nicht als Beweis für Unklarheit, sondern als Beweis für Klarheit - die Regierungserklärung noch einmal zitieren: Nach 1984 wird bei der Anpassung dem Gesichtspunkt der gleichgewichtigen Entwicklung des Anstiegs der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner unter Beachtung der finanziellen Stabilität der Rentenversicherung im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen werden. ({18}) Falls dieses Ziel dadurch erreicht wird, daß die Rentner ab 1985 schrittweise bis zur Höhe des halben Krankenversicherungsbeitrags so wie aktive Arbeitnehmer an der Finanzierung ihrer Krankenversicherung beteiligt werden, so wird dieser Krankenversicherungsbeitrag von allen Rentnern zum gleichen prozentualen Beitragssatz erhoben. ({19}) Schauen Sie, das ist genau das, was wir inhaltlich verlangt haben. ({20}) - Entschuldigen Sie, das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Blüm. ({21}) Das müssen wir einmal in aller Klarheit und Deutlichkeit hier feststellen. Nun lassen Sie mich einige Bemerkungen zu der Kritik machen, hier würden 3,5 Milliarden DM hin-und hergeschoben, ({22}) sowie zu dem weiteren Vorwurf, die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherungsträger würden laufend gekürzt. ({23}) Lassen Sie mich einige Bemerkungen machen, die auch für die zukünftige Diskussion von hoher Bedeutung sind. Zunächst ist die Tatsache zu vermerken, daß die Liquidität unserer Rentenversicherungsträger um vieles, vieles besser ist, als es bei den Beiträgen von Ihnen, meine verehrten Herren Kollegen von der CDU/CSU, in der Diskussion zum 21. Rentenanpassungsgesetz zu vermuten war. Liquiditätsprobleme haben wir in den Rentenversicherungen seit dem 21. Rentenanpassungsgesetz nicht mehr. Das ist der Beweis dafür, daß dieses Gesamtunternehmen trotz aller Unkenrufe erfolgreich und richtig war. Die zweite Bemerkung. Wenn jemand die Idee hätte haben können, etwa die 84er Reform im wesentlichen durch die Reserven zu machen, die sich durch das halbe Prozent ergeben -18,5 statt 18 % = 3,5 Milliarden DM -, dann möchte ich Ihnen aus meiner Sicht mit aller Deutlichkeit sagen: Das wäre in der Tat eine ungewöhnlich unseriöse Finanzierungsmethode. Denn eine langfristige Reform wie die für 1984 vorgesehene Reform der Hinterbliebenenversorgung kann nach unserem Umlagesystem selbstverständlich nicht dadurch finanziert werden, daß etwa mit einem halben Beitragspunkt über einen relativ kurzen Zeitraum gewisse Reserven angesammelt werden. Vielmehr muß dieses Unternehmen, wenn es seriös finanziert werden soll, in sich selbst stimmig gemacht werden. Insofern ist es geradezu gut, daß es uns nicht in die Versuchung führt, möglicherweise mit Reserven - ich nenne die 3,5 Milliarden DM - Abenteuer zu beginnen, die auf die Dauer nicht durchhaltbar sind. ({24}) Uns kommt es entscheidend auf folgendes an. Darauf möchte ich im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit, von der ich eben gesprochen habe, hinweisen.

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Herr Kollege Cronenberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Höpfinger?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Höpfinger, darf ich diesen einen Gedanken eben noch zu Ende bringen? Dann können Sie gern fragen. Wir legen Wert auf Beitragsstabilität. Wir möchten, daß das frei verfügbare Nettoeinkommen der Arbeitnehmer nicht durch weitere Beitragssteigerung verringert wird. Sozialbeitragssteigerungen für unsere Wirtschaft bedeuten Kostensteigerungen. Diese gilt es zu verhindern. Deswegen werden wir für Beitragsstabilität sorgen. Wir haben das, auch wenn es mit gewissen Opfern verbunden ist, im Wahlkampf auch so gesagt. Deswegen können wir hier heute auch feststellen, daß in dieser Regierungserklärung von Beitragssteigerungen keine Rede ist. Die 18,5% waren vorher beim 21. Rentenanpassungsgesetz beschlossen. ({0}) Wir haben die Beitragsstabilität in diesem Bereich gewahrt. Wir, meine Damen und Herren, stimmen allerdings nicht voller Begeisterung dieser Methode zu. ({1}) Nun sagen Sie, hier mangele es an einer gewissen Klarheit. Sie wünschen also, daß in der Rentenversicherung die Zuweisungen des Staates ordentlich und korrekt ausgewiesen werden. Wegen der Kürze der Zeit mache ich es mir relativ einfach, indem ich auf das verweise, was meine Partei in ihren 32 Thesen zur Alterssicherung als Vorschlag für die Reform von 1984 vorgesehen hat. Hier wird Transparenz verlangt und Pauschalzuweisungen werden abgelehnt. ({2}) Wenn Sie uns in dieser Position unterstützten, wären wir Ihnen sehr dankbar; dann werden wir über ein solches Problem in Zukunft nicht mehr zu reden haben. ({3}) - Entschuldigen Sie, Herr Kollege Höpfinger.

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Wollen Sie jetzt die Frage zulassen?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte um Nachsicht. Ich habe das wirklich übersehen.

Stefan Höpfinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Cronenberg, würden Sie nicht eingestehen, daß diese Umschichtung von 3,5 Milliarden DM deshalb erfolgt ist, damit sowohl FDP als auch SPD ihre vor der Wahl gemachten Aussagen einhalten können? Die FDP hat doch vor der Wahl erklärt: keine allzu große Kapitalansammlung bei den Rentenversicherungsträgern. Die SPD hat auf Anfragen hin erklärt, daß sie nicht die Absicht habe, Beitragserhöhungen bei der Arbeitslosenversicherung durchzuführen. Damit Sie das einhalten können, mußten Sie diese Umschichtung vornehmen. Bitte, würden Sie darauf einmal eingehen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Höpfinger, ich möchte mich für das Kompliment, das in Ihrer Frage steckt, bedanken. Sie sagen hier deutlich und klar, daß die beiden Koalitionsfraktionen ihre Zusagen, die sie vor der Wahl gemacht haben, eingehalten haben. ({0}) Dies, lieber Herr Kollege Höpfinger, war in der Tat der Zweck der Übung. Insoweit kann ich mich für dieses Kompliment nur herzlich bedanken. Lassen Sie mich aber auf den Punkt zurückkommen, über den wir diskutiert haben: die Staatszuschüsse an die Rentenversicherungsträger. Der Kollege Glombig hat in diesem Punkt - der alte Kollege und, wie ich heute mit viel Freude gehört habe, der zukünftige Kollege Glombig; ich glaube, alle Sozialpolitiker freuen sich sehr, daß er in diesem Hause demnächst wieder Sozialpolitik, wenn auch gelegentlich kontrovers, betreiben kann ({1}) noch eine andere Auffassung. Es wird sehr viel Überzeugungsarbeit bedürfen, damit wir diese, wie ich meine, ordnungspolitisch richtige Position wahrnehmen. Nun zu dem Punkt - der geistert da ja immer herum -, wir kürzten die Bundeszuschüsse. ({2}) Lassen Sie uns die Dinge doch einmal richtig und vernünftig untersuchen. Zunächst einmal: In welchem Etat werden sie oder sollen sie angeblich gekürzt werden? Es gibt ja zwei Vergleichsbasen. Die eine ist: Wieviel wird im Verhältnis zum Bundeshaushalt den Rentenversicherungen zugewiesen? Da kann ich nur sagen: Die Zahl ist ungewöhnlich konstant. 1957 z. B. waren es 10,7 % des Bundeshaushaltes, 1965 waren es 9,2 % des Bundeshaushaltes, 1969 - zu Beginn der sozialliberalen Koalition - waren es 8,5% des Haushalts. Es ist hier also ein langsames Zurückführen zu beobachten. Während der sozialliberalen Koalition beobachten wir dann wieder - im Verhältnis zum Bundesetat - einen langsamen Anstieg auf 9,2 %. Das heißt: Wir haben konstant den gleichen Anteil des Bundeshaushalts an die Rentenversicherungsträger überwiesen. Dann gibt es die andere Bezugsgröße, auf die Sie sich so gerne berufen. Hier ist es in der Tat so, daß 1957 ca. 31 % der Rentenhaushalte aus Bundeszuschüssen finanziert wurden. Dies hat sich dann wie folgt entwickelt: 1965 waren es 26 %, 1969 waren es noch 19 %, und jetzt sind es noch 18 %. Es ist also festCronenberg zuhalten, daß der wesentliche Abbau dieser Zuschüsse aus der Sicht der Etats der Rentenversicherungsträger vor Beginn der sozialliberalen Koalition stattgefunden hat. Im übrigen ist das ja gar nicht so fürchterlich falsch. Denn es hat natürlich sehr viele Kriegsfolgeausgaben bei den Rentenversicherungsträgern gegeben, die sinnvollerweise nicht über Beiträge, sondern über Zuschüsse aus dem allgemeinen Haushalt finanziert worden sind. Aber das Ganze - und das ist das Entscheidende - ist doch im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die Etats der Rentenversicherungsträger um vieles schneller und höher gestiegen sind als der Bundeshaushalt. Dafür ursächlich ist, daß eben ein sehr, sehr hohes Rentenniveau, wie der Kollege Rohde hier richtigerweise ausgeführt hat, existiert. Deswegen bitte ich Sie in aller Offenheit, aber auch in aller Deutlichkeit, diesen Unsinn vom permanenten Abbau von Bundeszuschüssen an die Rentenversicherungsträger ({3}) in Ihrer Argumentationskette zu streichen. Denn es ist nämlich falsch. ({4}) Lassen Sie mich, da der Bundesarbeitsminister ja auch noch sprechen möchte, mit allem Ernst noch einige ganz wenige Sätze zu dem Komplex der Mitbestimmung sagen. Im Mannesmann-Konflikt hat die Koalition nach schwierigen Verhandlungen jetzt einen tragfähigen Kompromiß erreicht. Kernpunkt ist die vorgesehene Auslauffrist - ich betone: „Auslauffrist" und verstehe das im Wortsinn. Die bereits im Ergänzungsgesetz von 1976 existierende Auslauffrist von fünf Jahren wird um ein Jahr verlängert und auf das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951 übertragen. Nach diesen sechs Jahren greift das Mitbestimmungsgesetz von 1976 ein. Dabei ist es selbstverständlich niemandem verboten, nachzudenken, und dabei, Herr Kollege Rohde, ist es für Sie - und ich fand Ihre Formulierungen durchaus versöhnlich - gut und richtig, wenn Sie bei uns für andere Positionen werben. Gestatten Sie uns aber auch, daß wir für die 76er Position, die wir aus den bekannten Gründen nun einmal für besser und richtiger halten, unsererseits werben. Für uns jedenfalls ist das in Koalitionsvereinbarung, Regierungserklärung und im Gesetz Festgelegte maßgeblich und vernünftig. Daß wir nun einmal für die Mitbestimmungsregelung von 1976, die in diesem Hause viel Zustimmung gefunden hat, werben, ist mit Sicherheit nichts Schlechtes und mit Sicherheit auch nicht arbeitnehmerfeindlich. Ferner sieht der Kompromiß vor, daß das Verfahren für die Bestellung der externen Gewerkschaftsvertreter auch im Montan-Bereich demokratisiert wird, ein Ergebnis, was sicher von allen Seiten des Hauses begrüßt werden sollte; denn niemand wird daran zweifeln, daß dies eine wünschenswerte Position ist. ({5}) Ich möchte nur noch stichwortartig mit viel Genugtuung vermerken, daß die Koalition entschlossen ist, das Problem der Schwarzarbeit anzufassen. Ich kann hier nicht im Detail darauf eingehen, weil die rote Lampe leuchtet, ich also zum Schluß zu kommen habe. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir finden in dieser Regierungserklärung viele unserer Vorstellungen wieder, und wir werden uns redlich bemühen, diese Vorstellungen auch in die Tat umzusetzen. Ich erbitte hierfür nicht nur die Unterstützung des Koalitionspartners, sondern da, wo eben möglich, auch die der Opposition. Wir werden bei allen unseren Gesetzesvorhaben darauf zu achten haben, daß weitere Bürokratisierungen vermieden werden. In diesem Sinne möchte ich mit einem Wort von Konfuzius enden, ({6}) der gesagt hat, emsige Verwaltung trauriges Volk. Wir möchten kein trauriges Volk haben. Wir möchten in diesem Sinne weniger Bürokratie, weniger emsige Verwaltung. Wenn Sie uns dabei auch noch helfen, dann kann es in der Legislaturperiode nicht ganz schlecht laufen. ({7})

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Herbert Ehrenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11000445

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem vom Kollegen Blüm hier bevorzugten Stil - eine Rede, gestrickt nach dem Muster einer beifallsträchtigen Büttenrede - fällt es sehr schwer, zwischen Argument und semantischem Gag zu unterscheiden. ({0}) Der Kollege Cronenberg hat diese Wertung hier schon vorgenommen. Ich will an einem Beispiel deutlich machen, inwieweit sich das, was Sie, Herr Kollege Blüm, zu sagen versucht haben, von der Wirklichkeit unseres Lebens unterscheidet. Sie haben unter anderem zur Rentenpolitik der Bundesregierung gesagt - und da ich nicht so schnell mitschreiben konnte, darf ich vielleicht aus Ihrem Manuskript zitieren, das freundlicherweise verteilt wurde -, daß diese als Fürsorgepolitik ein Angriff auf das Selbstbewußtsein der älteren Mitbürger sei. Sie biege und beuge den aufrechten Gang der Alten. Es scheint Ihnen entgangen zu sein, Herr Kollege Blüm, wie viele Rentnerinnen und Rentner aufrechten Ganges am 5. Oktober zur Wahlurne gegangen sind und die sozialliberale Koalition und ihre Rentenpolitik gewählt haben. ({1}) Wenn Sie das in Zukunft bei dem, was Sie sagen, mit bedenken, dann kann vielleicht zwischen Büttenreden und Gags auch etwas Konkretes aus der Sozialpolitik der CDU/CSU-Opposition herauskommen. Ich glaube, für die vier Jahre Sozialpolitik, die vor uns liegen, gibt jene Feststellung des Bundeskanzlers aus der Regierungserklärung eine gute Grundlage: Wir haben keinen Anlaß zum Pessimismus. Unsere Wirtschaft ist gesund. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist ungebrochen. Das sind gute Voraussetzungen für die Fortentwicklung der sozialen Sicherheit und die weitere Festigung des sozialen Friedens. Es kann in der Bundesrepublik wohl kaum Streit über die Feststellung geben, daß es keinen sozialen Frieden ohne soziale Gerechtigkeit und keine politische Stabilität ohne sozialen Frieden gibt. Von dieser Erkenntnis ausgehend, werden wir vier Jahre lang so erfolgreich wie in dem Jahrzehnt, das hinter uns liegt, Sozialpolitik weiter betreiben. Weil es das wesentliche Grundelement unseres sozialen Rechtsstaates ist, gehört dazu, die Mitbestimmung zu sichern und zu bewahren. In mehr als 30jähriger Praxis hat sich die paritätische Mitbestimmung in der Bundesrepublik bewährt. ({2}) Die tiefgreifenden Erfolge des Bergbaus und des Stahls sind mit der Mitbestimmung und nicht gegen sie gelöst worden. ({3}) Wenn Sie, Herr Kollege Blüm, die Mitbestimmung unter die Zwischenüberschrift gestellt haben „Partnerschaft oder Klassenkampf", dann hätte es wohl zur Redlichkeit gehört, auch deutlich zu machen, daß hier in der Bundesrepublik, wenn überhaupt, Klassenkampf von oben stattfindet, und den Oberklassenkämpfer Overbeck dabei zu nennen. ({4}) Es war die vordringliche Aufgabe, den Versuch einzudämmen, gewissermaßen im organisatorischen Handstreich die Mitbestimmung in der Montan-Industrie auszuhöhlen. Ich stelle mit Genugtuung fest, daß die Regierungsparteien trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen in der Wertung der verschiedenen Mitbestimmungsformen in der Lage gewesen sind, diesen Handstreich des Vorstandsvorsitzenden von Mannesmann abzuwehren. ({5}) Wir haben für jedes Wegfallen der Grundsätze der Montan-Mitbestimmung, nicht nur für ein paar Obergesellschaften, sondern für alle Formen de Montan-Mitbestimmung 1951 und vom Mitbestimmungsergänzungsgesetz 1956 erfaßten Gesellschaften, also für rund 30 Unternehmen mit einer halben Million Arbeitnehmern, erst einmal bis weit in die nächste Legislaturperiode hinein Ruhe an der Mitbestimmungsfront geschaffen. ({6}) - Der Gesetzentwurf der Länder wird uns hier nicht stören. Die Mitbestimmung ist kein zustimmungspflichtiges Gesetz, wie Sie wissen sollten, Herr George. Wir werden mit diesem in wenigen Wochen vorzulegenden Gesetzentwurf sicherstellen, daß erst, wenn in sechs aufeinanderfolgenden Jahren die Anwendungsvoraussetzungen wegfallen, ein Unternehmen die Regeln der Montan-Mitbestimmung verläßt. Das ist eine sehr gute und sehr lange Zeit. In ihr kann auch die Einsichtsfähigkeit aller Beteiligten, die es jetzt noch nicht wissen, in die Notwendigkeit, in die Unverzichtbarkeit dieses Elements unserer sozialen Grundordnung gefördert und geweckt werden. ({7}) Wir sind uns in der Koalition darüber einig, daß für den Montan-Umsatz weiterhin die Definition des ausgelaufenen Mitbestimmungs-Fortgeltungsgesetzes von 1971 gilt, also zur Eisen- und Stahlerzeugung auch die Herstellung von Walzwerkerzeugnissen, einschließlich Walzdraht, Röhren, Walzen, rollendem Eisenbahnmaterial und dergleichen gehören, so daß auch da Übersicht und Zuverlässigkeit in diese Unternehmen einkehren werden. Wir werden rechtzeitig, d. h. bis zum Sommer 1981, das Gesetz einbringen, und ich hoffe, die beratenden Ausschüsse werden so schnell und zügig arbeiten, daß das Gesetz noch rechtzeitig im ersten Halbjahr 1981 in Kraft treten kann. Diese Sicherung der Mitbestimmung in der Montan-Industrie ist eine gute Ausgangsbasis für die Arbeit der kommenden vier Jahre. Hier liegen viel Arbeit, schwere, aber lösbare Aufgaben vor uns, vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Neben der konjunkturellen Abschwächung müssen wir hier mit dem hohen Zugang aus den geburtenstarken Jahrgängen rechnen. Darum war es so besonders wichtig, für alle Beteiligten in der Regierungserklärung deutlich zu machen, daß der Staat sich seiner Verantwortung nicht entziehen kann. Ich möchte diesen Text hier noch einmal zitieren. In der Regierungserklärung heißt es da: Die Unternehmer, beide Tarifpartner, Regierungen und Gesetzgeber in Bund und Ländern und die Bundesbank tragen auch zukünftig gemeinsame Verantwortung für einen hohen Beschäftigungsstand. An dem Ziel der Vollbeschäftigung muß festgehalten werden. ({8}) Ich bin glücklich darüber, daß vor dem Hintergrund unserer bisherigen Arbeitsmarktpolitik auch der Sachverständigenrat, der sehr sparsam mit Lob für die Bundesregierung umgeht, in seinem neuesten Gutachten ausdrücklich die auch gesamtwirtschaftlich richtige Orientierung der ArbeitsmarktBundesminister Dr. Ehrenberg politik festgestellt hat, was uns ermutigt, auf diesem Wege fortzufahren. Wir brauchen dazu in Zukunft allerdings eine noch bessere Kooperation zwischen Unternehmen und Arbeitsverwaltung. Oft genug erinnert sich ein Unternehmer erst dann, daß es die Arbeitsverwaltung gibt, wenn es darum geht, Kurzarbeitsgeld zu beantragen. Vorher macht er einen Bogen um das Arbeitsamt, obgleich er dort viel Hilfe und Unterstützung finden könnte. ({9}) Es muß auch zur unternehmerischen Pflicht in unserem sozialen Rechtsstaat gehören, Stellenausschreibungen nicht von vornherein mit HöchstalterBedingungen zu versehen und ältere Menschen schon bei der Stellenausschreibung zu diskriminieren. ({10}) Auch da könnten Sie, meine Herren von der Opposition, ein wenig dazu beitragen, in unserem Staat unternehmerisches Verantwortungsbewußsein zu wecken. An dieser Stelle muß auch darauf hingewiesen werden - und da muß ich auch ein wenig auf die Aussagen des Herrn Blüm zurückgreifen -, um wieviel in den letzten Jahren die Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesrepublik gesteigert werden konnte. Ausbilder, Unternehmensleiter, vor allen Dingen viele Handwerksmeister, verdienen hier Respekt und Anerkennung für diese Leistung. ({11}) - Verehrter Kollege Blüm, wie Sie jetzt „sehr richtig" rufen können, vorhin aber hier in Ihrer Büttenrede soviel Falsches zu Bildung und Ausbildung sagen konnten, das ist einer Ihrer ungelösten Widersprüche. ({12}) Wir haben von 1976 bis 1979 die Zahl der Ausbildungsplätze gegenüber der Zeit von 1973 bis 1976 um volle 300 000 gesteigert. ({13}) Die berufliche Bildung ist und bleibt ein dicker Schwerpunkt der Bildungspolitik der Bundesregierung. ({14}) Herr Blüm, was Sie in Ihrem Feuilleton zur Jugend- und Bildungspolitik gesagt haben, verdient eigentlich nur die Antwort, die ich Ihnen eingangs zur Rentenpolitik gab: ({15}) Wenn unsere Politik so schlecht wäre, wie Sie sagen, dann wäre es ja wohl nicht zu erklären, daß nicht nur die große Mehrheit der Arbeiterjugend, sondern auch die große Mehrheit der akademischen Jugend am 5. Oktober die sozialliberale Koalition gewählt hat und nicht Sie. ({16}) Ich glaube, ein bißchen Respekt vor der Wählerentscheidung und ein bißchen Nachdenken, was an Ihren großen Worten falsch ist, täte Ihnen wohl nach einer so vernichtenden Wahlniederlage gut. ({17}) - Ja, ja. Aber Sie regieren nicht, Sie sind in der Opposition, wo Sie hingehören. ({18}) Heute ist schon einiges über die Situation der Rentenfinanzen und über die künftigen Aufgaben dort gesagt worden. Der Vergleich, den der Kollege Blüm hier gebracht hat, zwischen den Reserven unmittelbar nach der Hochkonjunktur und dem heutigen Stand, muß ja wohl nicht ernstgenommen werden. Wann wohl, um alles in der Welt, sollte man auf Reserven zurückgreifen, die in der Hochkonjuktur angesammelt wurden, wenn nicht in den Zeiten wirtschaftlicher Abschwächung, wie wir es von 1975 bis 1978 getan haben? Dazu werden doch Reserven angesammelt, aus keinem anderen Grund. ({19}) - Die Reserven wachsen wieder, verehrter Herr. Falls Sie zur Kenntnis nehmen sollten, was die Rentenversicherungsträger veröffentlichen: Gegenüber den 1978 möglichen Vorausschätzungen, nach denen wir für 1980 zum Jahresende mit 12,6 Milliarden Rücklagen rechnen konnten, sind es inzwischen 18,4 Milliarden, wie Ihnen jeder Leiter eines Versicherungsträgers bestätigen wird. Fast 6 Milliarden zusätzlich in zwei Jahren angesammelt, ist eine schöner Erfolg. ({20}) Hier ist sehr viel über das angebliche Hin- und Herschieben zwischen den Versicherungsträgern gesprochen worden. ({21}) Natürlich sieht es kein Rentenversicherungsträger gerne, wenn an den Größenordnungen des Bundeszuschusses etwas geändert wird. Auch mir ist es nicht leichtgefallen, dem zuzustimmen. Nur, eines muß man wohl deutlich sehen: Dank unserer Konsolidierungspolitik und auf Grund der Beitragseinnahmen aus 900 000 neuen Arbeitsplätzen, die in den letzten drei Jahren entstanden sind, hat sich die Finanzlage der Rentenversicherungsträger günstiger entwickelt, als es 1978 gesehen werden konnte. Ich hielt es trotzdem für richtig - und meine Kollegen sind mir dabei gefolgt, im Kabinett und in den Koalitionsvereinbarungen -, an der zum 1. Januar 1981 beschlossenen Beitragserhöhung festzuhalten. Aber man muß j a wohl auch sehen, daß die von allen für das erste Halbjahr 1981 vorausgesagte Konjunkturabschwächung wesentlich höhere Anforderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit auslösen wird. Da der Beitragszahlerkreis bei den Rentenversicherern und bei der Arbeitslosenversicherung fast identisch ist - das sind nur ganz geringe Unterschiede -, ist es wohl legitim, ehe man andere Operationen macht, den Zuschuß als einmaligen Akt, beschränkt auf ein Jahr, um 3,5 Milliarden zu kürzen und den Betrag dort zur Verfügung zu stellen, wo er in diesem Jahr dringend gebraucht wird: bei der Arbeitslosenversicherung, um dort auch mittelfristig Beitragsstabilität gewährleisten zu können. ({22}) Das ist eine vernünftige, allerdings nicht wiederholbare Operation. Hier ist gefragt worden, ob nicht durch die Verkürzung des Bundeszuschusses um 3,5 Milliarden im Jahr 1981 die Gesamtreform oder gar die Rentenfinanzen in Frage gestellt würden. Diejenigen, die so reden, muß ich darum bitten, ein bißchen die Größenordnungen zu beachten. In den nächsten fünf Jahren werden die Rentenversicherungsträger Einnahmen in der Größenordnung von mehr als 600 Milliarden haben.. Bei dieser Größenordnung können 3,5 Milliarden DM in einem Jahr ja wohl keine Stabilität und auch keine Reform gefährden. Diese beiden Dinge muß man ja einander gegenüberstellen. Zur Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung unter dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter hat sich die Koalition auf die Teilhaberrente an der Gesamtversorgung festgelegt und gleichzeitig beschlossen, daß ein Kindererziehungsjahr für Frauen angerechnet und die bewährte Rente nach Mindesteinkommen, die bisher nur für Versicherungszeiten bis 1972 gilt, fortgeführt wird; sie stellt sicher, daß jeder nach 25 Jahren Erwerbstätigkeit mindestens drei Viertel des Durchschnittseinkommens angerechnet erhält, auch wenn er unter schlechter bezahlten Verhältnissen arbeiten mußte. Diese Eckpunkte der künftigen Reform sind, glaube ich, das, was man zur Zeit festlegen muß. Sie entsprechen dem Verfassungsauftrag und dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit, vor allen Dingen mit der Absicherung des Mindesteinkommens für lang-jährig Versicherte, wie es mit der Fortführung der Rente nach Mindesteinkommen geschieht. Wir können hier den neuerdings noch erhobenen Zweifeln des Sachverständigenrates in diesem Punkt nun wirklich nicht folgen, der unter anderem vorgeschlagen hat, die soziale Sicherung der Frau dadurch zu verbessern, daß ein Ehemann für seine nicht erwerbstätige Ehefrau Beiträge zahlt und diese dadurch eigene Rentenansprüche erwirbt. Mit diesem Vorschlag zeigen die Herren Professoren, wie wenig sie von der Höhe der durchschnittlichen Einkommen der Arbeitnehmer wissen. ({23}) Darum kann ein solcher Vorschlag von uns nicht ernstgenommen werden. Ich glaube, auch Herr Blüm und andere Sachkundige bei Ihnen werden einem solchen Vorschlag nicht nähertreten wollen. Wir müssen aber über die Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung in der Rentenversicherung hinaus darüber nachdenken, welche Konsequenzen sich im Hinblick auf das Verfassungsgebot der Gleichberechtigung in den anderen Altersversorgungswerken stellen.

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Herbert Ehrenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11000445

Bitte sehr.

Stefan Höpfinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, könnten Sie uns sagen, warum in der Regierungserklärung die Angabe von 70 % Hinterbliebenenrente fehlt, und trifft es zu, daß jede Reform unter 70 % Hinterbliebenenrente eine Reform gegen die Frauen ist?

Dr. Herbert Ehrenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11000445

Das zweite, was Sie sagen, trifft nicht zu; aber ich kann Ihnen zu Ihrer ersten Frage ganz deutlich folgendes sagen. Wir haben in die Regierungserklärung sehr bewußt hineingeschrieben, daß die quantitative Ausfüllung entscheidend ist. Zu der quantitativen Ausfüllung gehört nicht nur der Prozentsatz der Teilhaberrente, sondern dazu gehört die Entscheidung über eine ganze Vielzahl von anderen Tatbeständen, z. B. das, was mit der kleinen und mit der großen Witwenrente geschieht. Alle diese Tatbestände gehören zur quantitativen Ausfüllung. Es wäre ja wohl geradezu leichtfertig, wenn wir handelten, bevor das Ergebnis der Transferkommission vor uns liegt. Das kommt im Mai. Die Wissenschaftlergruppe beim Sozialbeirat bereitet eine große Untersuchung der Kosten im Detail vor; die kommt auch Ende des ersten Halbjahres 1981. Die Sozialversicherungsträger selber haben auf unsere Veranlassung hin eine große Untersuchung gestartet, um gerade diese Frage, die Sie mit angesprochen haben," zu klären, nämlich wie sich altes und neues Recht bei den unterschiedlichen Versichertengruppen auswirkt. Da gibt es dann in der Kostenschätzung Saldenrechnungen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden alle bis Mitte des Sommers vorliegen. Es wäre doch von einer Bundesregierung nicht zu verantworten, auch wenn wir gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern noch so sorgfältig geschätzt haben, die endgültige Festlegung vor dem Vorliegen der Ergebnisse dieser Untersuchungen und nicht erst in Kenntnis dieses Zahlenmaterials zu treffen. Aber nach meiner heutigen Einschätzung der Zwischenberichte besteht kein Anlaß, heute schon anzunehmen, daß wir von unseren bisherigen Schätzungen werden abweichen müssen. Bisher glaube ich, daß die Untersuchungen unsere Schätzungen bestätigen werden, aber es gehört zur Sorgfaltspflicht, das Ergebnis dieser Untersuchungen abzuwarten. ({0}) Lassen Sie mich aber, meine Damen und Herren, darauf hinweisen, daß das Gleichberechtigungsgebot der Verfassung natürlich nicht nur für die RenBundesminister Dr. Ehrenberg tenversicherung gilt. Es muß j a wohl überprüft werden, wie weit es auch auf andere Versorgungssysteme anzuwenden ist, und darum wird die Bundesregierung eine unabhängige Sachverständigenkommission beauftragen, hier sorgfältige Untersuchungen anzustellen und dabei auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 1980 über die Besteuerung von Altersbezügen zu berücksichtigen. Wir denken daran, diese Kommission ähnlich zu strukturieren, wie wir das mit der von Professor Meinhold geleiteten Sachverständigenkommission für die Gleichberechtigung in der Rentenversicherung getan haben. Eines hoffe ich dabei sehr. Herr Kollege Blüm, wenn Sie mir einen Moment zuhören würden-({1}) - Das ist sehr schön. Sie sind ein vielseitiger Mensch; ich weiß es. ({2}) Wir werden natürlich wie damals bei der MeinholdKommission auch die CDU/CSU-Fraktion einladen, sich an dieser Kommission zu beteiligen, und ich hoffe sehr, Herr Blüm, daß der Vertreter Ihrer Fraktion dann auch in dieser Kommission das, was Sie hier über Witwenrente und Ministerialdirektorbezüge gesagt haben, mannhaft vertreten wird. ({3}) Die Bundesregierung begrüßt im übrigen, daß die Regierungsfraktionen das Gesetz über die soziale Sicherung von selbständigen Künstlern und Publizisten unverzüglich und unverändert neu einbringen wollen, damit dieses Problem endlich auf dem schnellsten Wege gelöst wird. ({4}) Meine Damen und Herren, der Kostenanstieg im Gesundheitswesen macht Sorgen. Die Konzertierte Aktion, die am 24. November nachmittags getagt hat, hat eine Reihe von Maßnahmen zum Schließen der noch vorhandenen Lücken vor allen Dingen bei Heil- und Hilfsmitteln beschlossen. Für Zahnersatz werden die Beschlüsse bis zum März 1981 vorliegen. Aber vor allen Dingen wird es darauf ankommen, endlich auch den kostenträchtigsten Bereich, nämlich den Krankenhaussektor, in den Griff zu bekommen. Wir werden sehr bald - konzentriert auf die kostendämpfenden Aspekte - das Krankenhausfinanzierungsgesetz in der Hoffnung neu einbringen, daß im Laufe der Legislaturperiode dann auch die Einsicht der Bundesländer in die Notwendigkeit der Kostendämpfung im Krankenhausbereich gegenüber der vergangenen Legislaturperiode zunimmt. ({5}) Meine Damen und Herren, hier wird es darauf ankommen, in Bundestag und Bundesrat zu übereinstimmenden Meinungen zu kommen. Ohne die Erfassung des Krankenhaussektors werden wir die vier Jahre lang erreichte Beitragssatzstabilisierung in der Krankenversicherung in Zukunft nicht aufrechterhalten können. Die Verantwortung liegt dann aber nicht bei der Mehrheit dieses Hauses, sondern bei der Mehrheit des Bundesrates, wenn sie wieder die notwendigen Korrekturen verhindern sollte. ({6}) Meine Damen und Herren, wir werden die erfolgreiche Politik der Humanisierung des Arbeitslebens fortsetzen und uns dabei besonders um die Probleme der Schichtarbeiter und anderer belasteter Arbeitnehmergruppen kümmern. Wir werden auch den Versuch unternehmen, ein einheitliches Arbeitsschutzgesetz zu schaffen, um allen Arbeitnehmern in Zukunft einen übersichtlichen Arbeitsschutz nach den gleichen Bedingungen bieten zu können. Dabei werden auch der gesetzliche Kündigungsschutz und das Leiharbeitsrecht einer gründlichen Prüfung unterzogen. Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Es ist die immer noch mangelhafte Beschäftigung Schwerbehinderter. Hier erfüllen private und öffentliche Arbeitgeber ihre Pflicht aus dem Schwerbehindertengesetz immer noch nur teilweise. Der Bund ist mit guten Beispiel vorangegangen. Wir liegen oberhalb der Beschäftigungsquote von 6 % - die Mehrheit der Länder leider nicht. Ich richte auch von dieser Stelle aus einen nachdrücklichen Appell an alle Behördenleiter, Behördenchefs und die dazugehörigen Personalräte, für behindertengerechte Arbeitsplätze zu sorgen. Es kann nicht den Aufgaben eines Behördenchefs entsprechen, sich mit Steuergeldern von der Beschäftigungspflicht freikaufen zu wollen. ({7}) In einem Kommentar zur Regierungserklärung hieß es am Dienstag unter anderem, in diesem Programm der nächsten Jahre ständen viele „kleine Fleißarbeiten im sozialen Garten". Ich empfinde das als eine zutreffende, eine lobende Bemerkung, wenn auch viele kleine Fleißarbeiten wahrscheinlich zu großen Fleißarbeiten werden. Aber ich glaube, daß wir auf dem richtigen Wege sind, wenn wir wie ein guter Gärtner Hege, Pflege und kontinuierliche Fortentwicklung der Neuanlagen und der sozialpolitischen Saat des letzten Jahrzehnts auch in den 80er Jahren beteiben. - Herzlichen Dank. ({8})

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Meine Damen und Herren, das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Wex.

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie sagten zuletzt „hegen und pflegen", Herr Minister Ehrenberg. Aber vieles in Ihrer Rede und besonders ein Ausdruck erschien uns vielmehr so, als ob Sie jemanden auf den Kopf gehauen haben, der sich gar nicht wehren kann. Ich bin der Meinung, daß dieses eigentlich nicht der Stil ist, in dem wir uns auseinandersetzen sollten. ({0}) Wir haben beim „Mut zur Zukunft" auch andere Aufgaben, als uns nur gegeneinander aufzubringen, wenn wir es wirklich ernst meinen. Diese Debatte sollte ernst geführt werden. Zu den Themenbereichen Familien, Frauen und Jugend hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung mit Formulierungen und Ausdrükken Stellung genommen, die seit eh und je zum festen Ideengut der CDU/CSU gehören. ({1}) Erklärungen - und Lachen - bilden natürlich nur eine Seite. Sie müssen sich messen lassen an der praktischen Politik der Vergangenheit und den aufgezeigten Perspektiven für die Zukunft. Hier wird ein zweifacher Widerspruch deutlich. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zur Politik der Vergangenheit, die häufig eine Politik gegen die Familie und eine Frauenpolitik zugunsten einseitiger Leitbilder gewesen ist. Es besteht ein Widerspruch zu den Parteiaussagen von SPD und FDP zur zukünftigen Ausgestaltung der Familien- und Frauenpolitik. Diese Widersprüche sind nicht dazu angetan, in der Bevölkerung Mut und Vertrauen zu erzeugen. Sie stiften Verwirrung und zerstören Glaubwürdigkeit. Sie sind zugleich Ausdruck eines gesellschaftspolitischen Stillstandes, obwohl doch nichts notwendiger wäre, als die Aufweisung von am Menschen orientierten Perspektiven. Der hohe Rang von Ehe und Familie für Gegenwart und Zukunft unseres Volkes ist unbestritten. Da ist es einfach unerläßlich, daß wir hier von der Regierung und der Koalition mehr über die zukünftige Familienpolitik hören, mehr über die Verwirklichung echter Gleichberechtigung der Frau und mehr über die Zukunftschancen unserer Jugend. ({2}) Daß wir das nicht gehört haben, geht wohl nicht nur darauf zurück, daß bei der Koalition in diesen Fragen weder Klarheit noch Einigung bestehen, sondern auch darauf, daß man die Wichtigkeit dieser Fragen für unser Volk offenbar immer noch nicht erkannt hat. Was wir aus dem Lager der Koalition gehört haben, sind die allgemeine Unsicherheit noch vermehrende verwirrende Äußerungen. Diese Unsicherheit betrifft in besonderem Maße Stellung und Aufgaben der Familie. Sie berührt aber ebenso die Frauen, für die auch 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die Gleichberechtigung noch nicht erreicht ist. Und sie betrifft die Jugend, die - wie jüngste Umfragen haben deutlich werden lassen - in der überwiegenden Mehrzahl ein glückliches Familienleben als oberstes Lebensziel ansieht, sich aber bei der Verwirklichung durch konkrete Politik im Stich gelassen fühlt, z. B. im Wohnungsbau, wo gerade Wohnungen für junge Familien fehlen. ({3}) Der Bundeskanzler hat hier erklärt, Familie sei sozialer und kultureller Mittelpunkt des Lebens, und der Staat habe die Familie nicht zu bevormunden, sondern zu schützen. Es ist gut, wenn der Bundeskanzler auch von der Opposition richtige Vorstellungen aufnimmt. Nur muß das auch Folgen für die praktische Politik haben. Nicht zuletzt der Dritte Familienbericht weist aus: Die praktische Politik der Bundesregierung hat die Familien in den letzten Jahren an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Hiervon besonders betroffen sind die Arbeiterfamilien, bei denen sich mit zunehmender Kinderzahl das Einkommensniveau dem Existenzminimum nähert. Das steht im Dritten Familienbericht. ({4}) Es zeigt sich zunehmend, daß Art. 6 des Grundgesetzes zur Disposition gestellt werden soll. Art. 6 unserer Verfassung stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, weil sich Ehe und Familie als die beständigsten Formen menschlichen Zusammenlebens erwiesen haben. Der Generalsekretär der FDP, Herr Verheugen, hat erklärt, für die FDP sei die Ehe keine grundsätzliche Voraussetzung für die Familie. ({5}) Unausgesprochen kommt eine ähnliche Haltung auch im Orientierungsrahmen 85 der SPD zum Ausdruck, wenn von der Ehe nur im Zusammenhang mit dem Ehescheidungsrecht die Rede ist und gleichzeitig der Abbau des Ehegatten-Splittings gefordert wird. Wenn darüber hinaus der Generalsekretär der FDP in dankenswerter Offenheit betont, daß Leitbilder für das menschliche Zusammenleben nicht festgeschrieben werden dürfen, so wird doch hier eine Orientierungslosigkeit und ein Wertneutralismus deutlich, der mit dem Sinngehalt von Art. 6 unseres Grundgesetzes nicht in Einklang zu bringen ist und der die fundamentale Bedeutung von Ehe und Familie für den Bestand von Staat und Gesellschaft verkennt. ({6}) Solche Orientierungslosigkeit ist nicht in der Lage, Sicherheit für die Zukunft zu vermitteln. Gleichzeitig wurde seitens der FDP, aber auch durch den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, die Gleichstellung eheähnlicher Lebensverhältnisse ins Gespräch gebracht. Auch wenn niemand moralisierend bestimmte Formen der Lebensgestaltung etwa verbieten will und Toleranz geboten ist, so kann es nach unserer Auffassung nicht Aufgabe der Politik sein, bewußt die rechtliche und soziale Gleichstellung eheähnlicher Lebensverhältnisse auf Kosten des Ranges von Ehe und Familie voranzutreiben. ({7}) Für uns steht der auf das Kindeswohl bezogene Problemkreis im Vordergrund, der in Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes umfassend angesprochen ist. Aus der verfassungsrechtlichen Gleichstellung der Kinder darf aber kein Weg zur Aushöhlung der verfassungsrechtlich verankerten besonderen Stellung von Ehe und Familie führen. Die Leidtragenden eines solchen Weges wären letztlich nicht nur alle Kinder, sondern die Leidtragende wäre damit die gesamte Gesellschaft. CDU und CSU halten aus diesem Grunde daran fest, daß grundsätzlich die Familie auf die Ehe gegründet ist und daß die Ehe - und damit die Familie - auf Lebenszeit angelegt ist.

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hölscher?

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte um Verzeihung, Frau Kollegin, wenn ich erst jetzt zu Wort komme; aber es war nicht möglich, mich beim Präsidium bemerkbar zu machen. Wie kommen Sie dazu, dem Generelsekretär der FDP einen Vorwurf zu machen, wenn er z. B. sagt, daß Familie nicht durch Ehe bestimmt ist, und dabei z. B. an die alleinerziehende Mutter mit Kind denkt - oder ist das für Sie keine Familie? -, und wie kommen Sie dazu, ihm zu unterstellen, er habe von einer Gleichstellung alternativer Lebensformen mit der Ehe gesprochen, wenn es hierbei nur um den Abbau von Diskriminierung gehen kann? ({0}) Oder halten Sie es etwa für richtig, daß zwei Menschen, die frei zusammen leben, das Steuersplitting, wenn sie es beantragen, abgelehnt wird ...

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Herr Kollege Hölscher, Sie können keine Rede halten. Ihre Frage hat bis jetzt mindestens drei Tatbestände zum Inhalt.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

... - ich bin sofort fertig, Herr Präsident -, auf der anderen Seite aber dieses Zusammenleben dann, wenn Sozialhilfe beantragt wird, plötzlich eine vom Staat anerkannte Lebensgemeinschaft ist? Halten Sie das nicht für eine doppelbödige Moral?

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sehr froh, daß Sie diese Frage stellen. Ich habe ausgeführt - das ist sehr wichtig -, daß wir bei dieser Dikussion, an der sich gerade auch der Generalsekretär der FDP beteiligt, langsam in die Gefahr geraten, den besonderen Schutz von Ehe und Familie und ihre Unverwechselbarkeit zur Disposition zu stellen. ({0}) Wir haben eindeutig gesagt, daß niemand das Recht hat, jemandem seinen Lebensentwurf vorzuschreiben. ({1}) Das Entscheidende ist, daß Toleranz in bezug auf alle Möglichkeiten praktiziert wird. Aber wenn jemand seinen eigenen Lebensentwurf wählt, kann er nicht gleichzeitig wie selbstverständlich denselben Schutz beanspruchen, den das Grundgesetz der Familie gewährt. Das ist der Unterschied. Ich glaube, wir befinden uns auf einem völlig falschen Wege, wenn wir uns in dieser Form auseinandersetzen. Ich finde, es wäre viel wichtiger, einmal über die Entlastungsfunktion von Institutionen zu sprechen, statt immer ihren repressiven Charakter in den Vordergrund zu stellen. Das gilt gerade dann, wenn sie vom Grundgesetz geschützt sind. ({2}) Viezepräsident Leber: Frau Abgeordnete, erlauben Sie noch eine Frage des Abgeordneten Hölscher?

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf den Gedankengang eben zu Ende führen. Vielleicht verstehen wir uns dann besser. Ich möchte darauf eingehen, wer hier Adressat ist. Die Koalition, die Regierung sind die Adressaten der Fragen der Opposition. Sie müssen Klärungen zum Wohle unserer Menschen herbeiführen. Wenn wir vom Mut zur Zukunft sprechen, gehört dazu auch, daß man den Abbau von Unsicherheit zum Mittelpunkt dessen macht, wofür man Verantwortung trägt. Das muß hier geklärt werden. Wo soll es sonst geklärt werden? ({0}) Wenn wir an diesem Punkte sind, möchte ich doch einmal den Bundeskanzler zitieren, wobei ich hoffe, daß dort, wo wir einig sind, auch eine Chance besteht, daraus Konsequenzen zu ziehen. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, er erkenne die Familie als sozialen und kulturellen Mittelpunkt des Lebens an. Es hätte doch nahegelegen, wenn er in diesem Zusammenhang z. B. ein Wort zur zukünftigen Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs gesagt hätte. Er beließ es aber bei einem kurzen Rückblick auf die Vergangenheit. Er ließ eben den Mut zu Lösungen vermissen. Wir alle sind uns doch bewußt, daß angesichts der Finanzlage in den öffentlichen Haushalten Sparsamkeit oberste Pflicht ist. Die CDU/CSU hat hier ihre Unterstützung zugesagt. Aber muß denn diese Sparsamkeit immer bei den Familien und bei den Frauen beginnen? Wir sind der Überzeugung - dies haben CDU und CSU in ihren Wahlaussagen deutlich gemacht -, daß das Sparen im Bereich der Familienpolitik eine der teuersten Formen des Sparens überhaupt darstellt. ({1}) Deswegen steht die Familie im Mittelpunkt unserer Gesellschaftspolitik; denn Sparen im Bereich der Familienpolitik zieht soziale Kosten im Bereich öffentlicher Hilfen und Beratungen nach sich, die - abgesehen von den nicht zu behebenden immateriellen Schäden - zukünftige Haushalte in weit stärkerem Maße belasten werden. Wir hätten gern gewußt, wie sich die Bundesregierung den weiteren Weg für den Familienlastenausgleich vorstellt. Im Wahlkampf ist von den Koalitionsparteien dazu zuviel Unterschiedliches und Widersprüchliches geäußert worden, als daß wir uns davon wirklich ein Bild machen könnten, an dem wir uns orientieren können. Die FDP fordert einen degressiven Betreuungszuschlag zum Kindergeld. Der ehemalige Staatssekretär Wolters fordert die Einführung eines Erziehungsgeldes. Er mußte dann gehen. Frau Huber machte sich für einkommensabhängige Kindergeldzuschläge stark. Frau Fuchs und neulich im Rundfunk auch Frau Schlei forderten die Abschaffung des Ehegatten-Splittings. Und Frau Matthäus-Maier forderte die Einführung eines Familien-Splittings. Wenn schon angesichts der Finanzlage aktuelle Verbesserungen für die nächste Zukunft nicht in Sicht sind, so muß doch wenigstens eine Perspektive erwartet werden. Hier stellen sich drei grundsätzliche Fragen: 1. In welcher Höhe sollten die Kosten für die Kinder von der öffentlichen Hand ohne Einmischung in die Autonomie der Familie übernommen werden? Uns allen ist hierbei klar, daß die Erziehungsleistung der Familie vom Staat nicht etwa gänzlich bezahlt werden kann. 2. An welchem Kostenfaktor für das Heranwachsen eines Kindes sollte der Familienlastenausgleich sich orientieren? 3. In welcher Form sollte dieser Familienlastenausgleich konkret ausgestaltet werden? Nach Aussagen der Sachverständigen im Dritten Familienbericht ist der größte Kostenfaktor die Zuwendung an Zeit, wenn ein Partner auf eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit verzichtet. Die CDU/ CSU ist der Ansicht, daß es durch eine entsprechende Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs und des Systems der sozialen Sicherung im Rahmen der 84er Reform gelingen muß, in Familien mit Kindern einem Elternteil für die Bedürfnisse der Familie ohne allzu große ökonomische Benachteiligung den Verzicht auf außerhäusliche Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. ({2}) Darum haben CDU und CSU in ihrem Wahlprogramm die Einführung eines Erziehungsgeldes bis zum vollendeten dritten Lebensjahr eines Kindes gefordert und für diesen Vorschlag einen entsprechenden Finanzierungsmodus vorgelegt. Mit dem Erziehungsgeld soll ein Beitrag geleistet werden, daß Kindern in der ersten und entscheidenden Entwicklungsphase ihres Lebens das größtmögliche Maß an Liebe, Sorge und Zuwendung von den Eltern zuteil wird. Der Herr Wirtschaftsminister hat mit Recht heute morgen auf die finanziellen Zwänge hingewiesen. Aber wenn es eine wichtige Zukunftsinvestition gibt, dann gehört die Sorge um die Familie und die Kinder ganz bestimmt dazu. ({3}) Herr Wirtschaftsminister, das sind keine Wahlversprechungen. Es sind Versprechungen von unserer Seite, an diesem wichtigen Ziel festzuhalten. Diese Aussage gilt auch unter den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen. Wenn ich es richtig sehe, stimmen wir hier mit dem Bundeskanzler überein, der die Tätigkeit der Frau in der Familie und die Familie selbst aufgewertet wissen will. Das bedeutet aber, daß wir uns hier zusammen Gedanken machen müssen, wie auch unter geänderten wirtschaftlichen Voraussetzungen ein solcher Plan langfristig realisiert werden kann. Heute morgen gab es schon bei der Rede von Herr Kiep eine kurze Diskussion über den Stellenwert des Godesberger Programms. Da ist unter dem Kapitel „Familie" zu lesen: Hausfrauenarbeit muß als Berufsarbeit anerkannt werden. Hausfrauen und Mütter bedürfen besonderer Hilfe. Mütter von vorschulpflichtigen und schulpflichtigen Kindern dürfen nicht genötigt sein, aus wirtschaftlichen Gründen einem Erwerb nachzugehen. Das steht im Godesberger Programm. Daraus müßte sich doch etwas machen lassen - es sein denn, die ökonomischen Zwänge, die vorgetragen werden, sind nicht der einzige Grund für die Ablehnung unseres Vorschlags. ({4}) Nach wie vor gilt: Es gibt für die Entwicklung eines Menschen nichts so Wichtiges wie die Nähe und Zuwendung der Eltern, gerade in den ersten Lebensjahren. Die Erziehungsleistung in der Familie anzuerkennen, steht auch im Zusammenhang mit einer recht verstandenen Emanzipation der Frau. Denn die Hausfrauen und Mütter sind heute die eigentlich Benachteiligten unter den Frauen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die ausländischen Familien in der Bundesrepublik, die häufig kinderreich sind. Es kann nicht überraschen, daß sich, wenn schon die soziale Situation der deutschen kinderreichen Familien, wie es auch der Dritte Familienbericht ausweist, zu wünschen übrigläßt, sich die ausländischen Familien infolge der Integrations- und Sprachschwierigkeiten und der nationalen Eigenheiten besonderen Schwierigkeiten gegenübersehen. Es müssen besondere Anstrengungen unternommen werden - darüber sind wir sicher einig -, damit ein Ausgleich im Bildungsgefälle erreicht wird und die Integration der zweiten und dritten Generation dieser Familien gewährleistet ist. Der Bundeskanzler beklagt, daß die Gleichberechtigung der Frau nur auf dem Papier stehe, und erklärt hierzu, das meiste dabei müsse die Gesellschaft leisten. Die Leistungen der Frau in der Familie müßten ebenso hoch bewertet werden wie die Arbeit der Frau im Beruf. CDU und CSU können diesen Aussagen nur zustimmen; wir haben dies schon seit langem vertreten. Aber wie sieht die Gleichwertigkeit von familiärer Berufstätigkeit und außerhäuslicher Erwerbstätigkeit heute auf Grund der von SPD und FDP geführten Politik aus? In dem von der SPD und der FDP durchgesetzten Mutterschaftsurlaubsgesetz geht die nichterwerbstätige Frau leer aus, der im Haushalt für die Erziehung der Kinder Tätige hat keine Unfallversicherung. In der Rentenversicherung besteht kein eigenständiger Schutz. Nach den Plänen von SPD und FDP soll nach der Reform von 1984 der im Haushalt Tätige mit einem Jahr rentenrechtlicher Anerkennung abgespeist werden. In bildungspolitischer Hinsicht wird argumentiert - z. B. in der Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen zum Dritten Familienbericht -, in Haushalt und Kindererziehung könne man höhere Ausbildung nicht entsprechend anwenden. Meine Damen und Herren, dies nenne ich schlicht arrogant und eine Mißachtung dieser Tätigkeit. Denn nichts, was man gelernt hat, ist für die Erziehung der Kinder überflüssig. ({5}) Wie der Streit um den Kinderbetreuungsbetrag sehr deutlich zeigt, ist die Arbeit der Mutter im Steuerrecht nichts wert. Auch in den jüngsten Materialien der SPD zu Grundsatzfragen der FamilienpoliFrau Dr. Wex tik vom 5. November 1979 ist von der gleichwertigen Tätigkeit der Hausfrau und der erziehenden Mutter nicht die Rede. Das von der SPD und der Bundesregierung in Wahlreden gebrauchte Wort von der Wahlfreiheit von Mann und Frau ist so lange eine leere Worthülse, wie man gleichzeitig eine Politik betreibt, die auf eine einseitige Begünstigung der berufstätigen Frau hinausläuft. Angesichts dieser Situation ist es nur zu verständlich, daß die Bevölkerung bei der Frage der Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau immer skeptischer wird. So zeigen Vergleichsuntersuchungen über gleiche Chancen für Frauen im Beruf, daß der Anteil derer, die der Meinung sind, diese unterschiedliche Behandlung bestehe nicht, seit Anfang der 70er Jahre rapide abgenommen hat. Waren im Jahr 1967 noch 40 % der Bevölkerung der Ansicht, daß Frauen gleiche Chancen haben, so ist diese Zahl im Jahre 1979 auf 10 % gesunken. Parallel dazu ist die Zahl derer, die der Meinung sind, Männer würden bevorzugt, von 44 % auf 72 % angestiegen. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß sich nach Umfragen heute bereits mehr als ein Drittel der weiblichen Wähler von den im Bundestag vertretenen Parteien nicht mehr ausreichend vertreten fühlt. ({6}) Dies ist eine Fehlentwicklung, die politisch alarmieren muß. Es sollte eine der Hauptaufgaben der Politik sein, diese Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen und für Abhilfe zu sorgen. Die Aussagen der Koalitionsparteien berechtigen jedoch nicht zu dieser Zuversicht. Jeder weiß heute: Die im Grundgesetz niedergelegte Gleichberechtigung ist im Alltag noch nicht verwirklicht, und das über 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. Die Versäumnisse der Vergangenheit aber müssen aufgearbeitet werden, trotz der neuen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Auch vor dem Hintergrund, daß das soziale Klima in der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren durch die Fehler in der Politik der 70er Jahre noch rauher wird, könnte eine auf wahrer Partnerschaft beruhende Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu den wichtigen stabilisierenden Faktoren gehören, auf denen sich unsere Gesellschaft abstützen könnte. ({7}) Der Bundesregierung fällt nichts Besseres ein, als die Zweckmäßigkeit eines Antidiskriminierungsgesetzes prüfen zu lassen. Bereits die Beratungen der von der CDU/CSU vorgeschlagenen Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" in der 7. und 8. Legislaturperiode haben deutlich gemacht, daß ein Antidiskriminierungsgesetz keinen grundsätzlichen Beitrag zur Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau leisten kann. Es ist verfassungspolitisch unsinnig, da es in der konkreten Ausformulierung lediglich wieder nur eine Generalklausel sein kann, die mit Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes in der Bundesrepublik bereits gegeben ist. Es verstärkt sich der Eindruck, daß die Durchsetzung der Gleichberechtigung auf Grund immer neuer Prüfungsvorschläge letztlich immer weiter hinausgeschoben werden soll. Aber wir müssen handeln! Die Union hat vor dem 5. Oktober ein Zehn-Jahres-Programm zur Gleichberechtigung der Frau angeregt. Wir stehen weiter zu diesem Vorschlag. Wir als Opposition bieten der Bundesregierung und den Koalitionsparteien auf diesem Feld unsere Zusammenarbeit an. In Zusammenarbeit mit den Tarifparteien, den Landesregierungen, den Kirchen, den Wirtschaftsverbänden und anderen sollte ein solches Zehn-Jahres-Programm zur Herstellung gleicher Chancen für Frauen und Männer im Arbeitsleben, in der Familie und im öffentlichen Leben erstellt werden, um so zukünftige Lösungen zu ermöglichen. ({8}) Es ist richtig, wenn der Bundeskanzler betont, daß ein Hauptgrund dafür, daß die tatsächliche Gleichberechtigung noch immer hinter der gesetzlich vorgeschriebenen zurückliegt, auf eine schlechtere Berufsausbildung von Mädchen und Frauen in der Vergangenheit zurückzuführen ist. Diese Analyse aber stellt für die Frauen noch keine Hilfe dar. Die Probleme der betroffenen Frauen werden auf Grund der vorhersehbaren Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, z. B. durch das Eintreten der geburtenstarken Jahrgänge in das Arbeitsleben und durch das verstärkte Eindringen der Elektronik in den Produktionsprozeß, in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Gleichzeitig vertieft sich der Graben zwischen den außerhäuslich erwerbstätigen Frauen und den Frauen, die einer familiären Berufstätigkeit nachgehen. Die SPD vertritt weitgehend die Auffassung, die Befreiung der Frauen erfordere ihre Eingliederung in den industriellen Arbeitsprozeß. Aber sie versäumt gleichzeitig, durch eine entsprechende Wirtschafts- und Sozialpolitik hierfür die Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Das Ergebnis dieser Politik ist: Die Frauen in der Familie gelten als nicht emanzipiert, die Frauen im Beruf bekommen keinen Arbeitsplatz. Hier hätten wir, wenn Sie schon keine Lösungsmöglichkeiten anbieten, doch wenigstens erwarten können, daß Sie diesen Problemkreis einmal vorurteilslos abstecken, damit wir zu gemeinsamen Überlegungen kommen können. ({9}) Frauen und Männer wollen heute in Partnerschaft über ihren Lebensweg entscheiden. Die Familie wird heute nicht nur von der Jugend als gemeinsame Aufgabe von Mann und Frau angesehen. Sie ist nicht mehr einseitig die Aufgabe der Frau, sie ist vielmehr eine partnerschaftliche Aufgabe. Nicht alles, was in der Familie nicht klappt, ist von vornherein nur den Frauen anzulasten. Es wäre deshalb wünschenswert gewesen, wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung mehr konkrete Aussagen zu mehr Wahlmöglichkeiten und größerer sozialer Sicherheit gemacht hätte, die diesem partnerschaftlichen Verständnis der Lebensgestaltung Rechnung tragen. Auch wenn die Kassen leer sind, darf das Nachdenken über Zukunftslösungen eben nicht aufhören. CDU/CSU werden auch weiter dafür eintreten, daß die Verwirklichung der Gleichberechtigung nicht nur seitens des Staates, sondern auch seitens der gesellschaftlichen Kräfte umfassend erfolgt: Gleichberechtigung im Beruf, Gleichberechtigung aber auch im Sinne wirklicher Wahlfreiheit von Mann und Frau. Zur Verwirklichung dieser Forderungen gehören vielfältige Maßnahmen. Ich nenne hier z. B. die Notwendigkeit, die Erwerbstätigkeit und die Familientätigkeit besser in Einklang zu bringen. Dazu bedarf es auch der Schaffung von mehr Teilzeitarbeitsplätzen. Ich nenne aber auch all diejenigen Maßnahmen, die die Wiedereingliederung der Frau in die Berufswelt erleichtern. Hierzu gehört schließlich auch, daß die von der Koalition zu verantwortende Schlechterstellung der Hausfrau im Mutterschaftsurlaubsgeldgesetz beseitigt wird, eine Schlechterstellung, die fast schon den Charakter einer Diskriminierung hat. ({10}) Wir werden deshalb zu gegebener Zeit erneut einen Familiengeldgesetzentwurf einbringen. Wir werden auch auf eine verstärkte Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht drängen. Wir werden uns bemühen, daß sich die Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung nicht zu Lasten der Frauen auswirkt, so, wie man dies nach den Koalitionsvereinbarungen vermuten kann. ({11}) Mit dem Modell der Partnerrente haben CDU und CSU hierzu die Richtung gewiesen. ({12}) Mit Blick auf die Jugend wird immer drängender die Frage nach dem angeblichen oder tatsächlichen Wertewandel gestellt. Sicher ist oft nicht der Wertewandel vorrangig; es gibt vielmehr verschiedene Formen, dieselben Werte auch für das eigene Leben verbindlich zu machen. Auch diesen Fragen wollen und müssen wir uns stellen. Es stellt sich auch die Frage nach den Ursachen. Kommt die Unsicherheit über die Grundwerte bei der Jugend nicht auch daher, daß sinnvolle Werte von den Politikern, aber auch von der öffentlichen Meinung, nicht glaubhaft genug vertreten werden? Ist die Skepsis der Jugend ihnen gegenüber nicht auch darin begründet, daß sie sich zum Teil gegenüber Fragen der Jugend verschlossen haben, ja, daß heute vielfach einander schon sprachlich nicht mehr verstanden wird? Ist die Skepsis der Jugend immer unbegründet, daß ein für sie undurchschaubares Geflecht von Lobbyisten mehr das jeweilige Eigeninteresse als das Gesamtinteresse verfolgt? ({13}) Aber mehr noch: Wachsen nicht Unsicherheit und Skepsis besonders auf dem Nährboden einer anonymen Massengesellschaft, in der die Erziehungskraft. von Elternhaus und Schule schwächer wird? Muß also nicht hier durch politisches Handeln in Bund und Ländern angesetzt werden, das Ehe und Familie ebenso stärkt, wie es wieder ein Schulwesen aufbaut, in dem nicht nur Wissen vermittelt, sondern human erzogen wird? ({14}) Tun wir das nicht, so verweigern wir uns der Jugend. In diesem Zusammenhang gehört auch die Notwendigkeit, entsprechend einem recht verstandenen Subsidiaritätsprinzip Fragen der Jugendhilfe primär den freien Kräften der Gesellschaft anzuvertrauen; denn auch hier gilt, daß nicht der Staat, sondern eher die gesellschaftlichen Kräfte in der Lage sind, personal erfahrbare Hilfen anzubieten und durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit Leistungen zu erbringen, die der Staat, wollte er etwa ihre Aufgaben übernehmen, überhaupt nicht bezahlen könnte. ({15}) Diesen Fragen und den Zukunftsängsten der Jugend darf sich keiner verschließen. Die Jugend hat berechtigte Sorgen bezüglich der Zukunft der Familie, ihrer Umwelt, des Arbeitsmarktes und der Fortentwicklung unserer Wohlstandsgesellschaft in mehr Gerechtigkeit und Freiheit. Sie wird immer skeptischer im Hinblick auf die Kraft der Politik, diese Aufgaben sinnvoll zu bewältigen. Nicht zuletzt der Papst-Besuch hat einmal mehr verdeutlicht, daß die Jugend zu Engagement und Verantwortung bereit ist und auch unbequeme Überzeugungen ernst nimmt, die glaubhaft vorgetragen werden. Mut 'muß man beweisen, Mut zur Zukunft muß sich an der Tapferkeit messen lassen, mit der Konsequenzen aus gewonnenen Erkenntnissen gezogen werden. Die Jugend erwartet nicht Vorablob und Belohnung. Sie erwartet von uns allen, vor allem aber von denen, die Macht ausüben, glaubwürdige Perspektiven und gelebte Grundwerte. Wir von der CDU/CSU haben den notwendigen Dialog aufgenommen und werden ihn verstärkt fortführen. ({16})

Georg Leber (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001299

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat . in seiner Regierungserklärung von einer sehr widersprüchlichen Diskussion in unserer Gesellschaft über Ehe und Familie gesprochen und gesagt, die einen vermittelten den Eindruck, als gebe es eine heile Welt der geborgenen, glücklichen Familie, und die anderen täten so, als sei die Familie überall in Auflösung. Das ist sozusagen die Doppelstrategie, die die Union immer vorführt - soeben haben wir es wieder gehört -, wenn sie über Familie politisch diskutiert. Je nach politischer Zweckmäßigkeit beschwört sie auf der einen Seite das Bild der heilen und intakten Familie, wenn sie den Ausbau öffentlicher Hilfen zurückweisen will, und sie beschwört in einem Schauergemälde den Zusammenbruch der Familie am Rande der Gesellschaft, wenn sie die soziale Situation der Familie in unserer Gesellschaft darstellen will. ({0}) Beides gleichzeitig kann doch wohl nicht richtig sein. Ich teile die Auffassung des Bundeskanzlers, daß weder das eine noch das andere richtig ist. ({1}) - Ich komme gleich darauf. Seien Sie nicht so ungeduldig, Herr Kollege Blüm! Ich mache nicht nur Feuilleton, sondern ich will sachliche Aussagen machen. ({2}) Wir sind der Meinung, daß die große Mehrheit der Familien mit ihren Problemen, die sich etwa aus dem Zusammenleben der Partner, aus der Erziehung der Kinder ergeben, im großen und ganzen selbst fertig wird. Wir sind der Meinung, daß Ehe und Familie nach wie vor erstrebenswerte Formen des Zusammenlebens sind, wie das der Parteivorstand der SPD vor einem Jahr in einer Entschließung festgestellt hat. Wir sind aber der Meinung, daß Familien nicht aus sich allein mit allen gesellschaftlichen Einflüssen und Anforderungen fertig werden können, die in die Familie hineinwirken, ob man das will oder nicht will. Um die Unsicherheit von Frau Dr. Wex abbauen zu helfen und um die von Ihnen konstruierten Widersprüche der SPD-Position gegenüber dem Bundeskanzler auszuräumen, möchte ich zur Klarstellung noch einiges aus dem Parteitagsbeschluß vom 5. November 1979 wiedergeben. Erstens. Familie und Ehe sind für uns tragende Formen menschlichen Zusammenlebens. Zweitens. Wir gehen davon aus, daß die Erziehung der Kinder am besten in der Familie geleistet werden kann und auch vorrangig geleistet werden muß. Drittens. Staat und Gesellschaft haben Ehe und Familie zu schützen, zu fördern und zu stärken. Dabei gehen wir davon aus, daß die Familie selbst ohne staatliche Reglementierung darüber entscheiden soll, wie sie ihr Zusammenleben gestalten will. Viertens. Wir wollen der Familie keine festen Leitbilder vorgeben. Unsere Familienpolitik ist auch für neue Formen partnerschaftlicher Lebensgestaltung offen, wobei es dann nicht darum gehen muß, ob man nun rechtlich, ökonomisch und sozial alle Formen anderer Lebensgestaltung absichert. Dabei muß es aber wohl, wie es der Kollege Hölscher in seiner Zwischenfrage sehr richtig bemerkt hat, darum gehen, daß man krasse soziale Diskriminierungen anderer Formen abbaut. Darüber sollten wir auch gemeinsam nachdenken. ({3}) Fünftens. Wir bejahen den Anspruch von Frau und Mann auf Selbstverwirklichung in der Familie und im Berufsleben, und wir sehen eine Aufgabe von Staat und Gesellschaft darin, Kindererziehung und Beruf vereinbar zu machen. ({4}) Sechstens. Für die SPD ist Familienpolitik Teil einer Gesellschaftspolitik, die dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verpflichtet ist, d. h., wir wollen ungerechte soziale Unterschiede zwischen den Familien abbauen und gleiche Voraussetzungen für Familien und Kinder schaffen. Siébentens. Daraus folgt für uns, daß wir Schwerpunkte vor allem für. solche Familien setzen, die besonderen Belastungen und Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Eine der Problemgruppen, die ja auch von der Kollegin Frau Dr. Wex genannt worden sind, sind etwa die Familien ausländischer Arbeitnehmer. Da wollen wir alle gemeinsam, glaube ich, in diesem Hause in den nächsten vier Jahren vorankommen. Sie sollten da auch einen Appell an Ihre Bildungspolitiker in den Ländern richten, damit in Zukunft Förderstunden für Kinder ausländischer Arbeitnehmer in den Schulen mit Hilfe von Planstellen durchgeführt werden und nicht höchst mangelhaft über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ermöglicht werden müssen. Aber Familien haben auch Probleme. Sie entwikkeln sich nicht im luftleeren Raum. Wie sie leben können, hängt sehr stark von Bedingungen der arbeitsteilig organisierten modernen Industriegesellschaft ab, ist beeinflußt durch die räumliche Trennung von Familienleben und Arbeitswelt, hängt davon ab, daß die Kleinfamilie von heute weniger soziale Partizipation hat als die Familie früher, hängt davon ab, daß Erziehung und Sozialisation der Kinder heute teilweise auf andere Träger verlagert werden. Das ist nun kein Begriff, den ich so erfunden habe, sondern das ist mit ein Ergebnis der Arbeit der Frauen-Enquete-Kommission, die das so geschrieben hat. Und einer dieser Sozialisationsträger ist die Schule. Auch da gilt ja wohl das, was ich soeben bezüglich der Betreuung von Ausländerkindern festgestellt habe. Auch da trifft die Verantwortung dafür, daß Eltern häufig als Hilfslehrer herangezogen werden, auch Bildungspolitiker aus Ländern, in denen Sie die Regierung stellen. ({5}) Mir ist für familienpolitische Debatten die Lektüre der Süddeutschen Zeitung immer hilfreich. Mir ist da auf der Seite 40 heute ein Leserbrief aufgefallen, wo ein Elternbeiratsvorsitzender für die Volksschulen in der Landeshauptstadt München schreibt: Bei uns sind eben die Eltern zu Hause die Hilfslehrer, die häufig in der Schule versäumte Detailhilfe nachholen müssen, ... Solange Sie das in den von Ihnen regierten Ländern nicht korrigieren und reparieren, werden Sie immer Störungen im Familienleben auch aus dem Schulbereich haben. ({6}) Ich gebe ja zu, Frau Dr. Wex, daß auch in den von uns regierten Ländern da einiges mehr getan werden könnte. ({7}) Aber ich stelle fest, daß die Elternmitverwaltung in fast allen Schulverwaltungs- oder Schulgesetzen sozialliberal regierter Länder weit stärker ausgebaut ist als in den Schulgesetzen, die Ihre Regierungen verantworten. ({8}) Nun haben Sie wieder das Klischee vorgetragen, die Sozialdemokraten diffamierten mit ihrer Politik die Hausfrauen. Sie tun immer so und haben auch in vielen Presseverlautbarungen einen derartigen Zusammenhang hergestellt. Ich habe noch einmal nachgelesen, was Sie so im letzten Dreivierteljahr zur Familienpolitik getönt haben. Da wird doch, so meine ich, die angebliche Verunsicherung der Hausfrau durch die Politik der Bundesregierung und durch die Reden von SPD- und FDP-Politikern ganz gewaltig überschätzt. Denn das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich Hausfrauen heute bewegen, besteht ja nicht nur aus Radiosendungen, und die Radiosendungen bringen j a nicht nur Erklärungen der Bundesregierung und der SPD. Selbst wenn wir so etwas erklärt hätten, könnte das also nicht so durchschlagen, daß deshalb die Hausfrau, die sich nur der Kindererziehung widmet, in ihrer Rolle verunsichert worden und unglücklich geworden wäre. Frau Kollegin Dr. Wex, wenn Sie mit uns darin übereinstimmen, daß Männer und Frauen selbstbestimmt entscheiden können sollen, wie sie Familie und Erwerbstätigkeit organisieren, und wenn Sie mit uns darin übereinstimmen, daß Frauen und Männer dabei gleichberechtigt vorgehen können müssen, dann kann die Frage j a eigentlich nicht mehr lauten: Hausfrau oder Berufstätigkeit, sondern sie müßte lauten: Was können wir tun, um Vätern und Müttern die Wahlfreiheit zu schaffen, die Voraussetzung für eine freie Entscheidung ist? ({9}) - Ihrer Zustimmung, Frau Kollegin Fischer, entnehme ich, daß da zumindest zwischen uns, die wir uns der Familienpolitik widmen, Konsens besteht, aber wahrscheinlich ein Nachholbedarf bei vielen Ihrer Kollegen. ({10}) Diese Wahlfreiheit ist zur Zeit nicht gegeben. Das kann man auch in dem Bericht der Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" nachlesen. Die Überlegungen, die dort angestellt worden sind, seien der Aufmerksamkeit aller Fraktionen dieses Hauses empfohlen. Es handelt sich um Überlegungen, die auf eine generelle Arbeitszeitverkürzung hinauslaufen, um Vätern und Müttern mehr Zeit für die Familie, mehr Zeit für ihre Kinder zu ermöglichen. Oder Überlegungen, Teilzeitarbeit auch unter dem Aspekt stärker zu diskutieren, daß einer der beiden Partner dann mehr Zeit für die Kinder und für die Familie zur Verfügung hat. Oder Überlegungen zu dem sicherlich umstrittenen, Herr Kollege Blüm, Job-Sharing. Oder Überlegungen vor allem für eine erleichterte Rückkehr in den Beruf durch zusätzliche Maßnahmen im Arbeitsförderungsgesetz oder für eine Weiterentwicklung des Mutterschaftsurlaubs oder für die Einführung eines arbeitsrechtlichen Elternurlaubs oder auch für eine Arbeitszeitverkürzung für berufstätige Eltern mit kleinen Kindern. Dies alles sollte sehr sorgfältig geprüft werden, damit wir hier gemeinsam zu neuen Überlegungen kommen. Da der Einsetzungsauftrag des Deutschen Bundestages an die Kommission sinngemäß gelautet hat, Entscheidungen vorzubereiten, die zur Verwirklichung der vollen rechtlichen und sozialen Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft führen sollten, sind die Fraktionen dieses Hauses am Zuge, die Überlegungen dort auszuwerten und gesetzgeberische Initiativen einzuleiten, wenn wir als Parlament die Arbeit, die wir selber in Auftrag gegeben haben, auch ernstnehmen wollen. Da für uns Sozialdemokraten die Regierungserklärung kein Gesetzesdogma ist, werden auch wir uns energisch in den nächsten vier Jahren damit beschäftigen. ({11}) Ich will die ewig-alte Diskussion über das Erziehungsgeld wegen der Kürze der Zeit hier nicht noch einmal wieder aufnehmen. Die Argumente sind oft genug ausgetauscht worden. Sie werden uns, auch wenn Sie einen neuen Familiengeldantrag im Deutschen Bundestag einbringen sollten, nicht dazu bringen, Ihre Position zu übernehmen. Was mich vielmehr fasziniert, sind einige Ihrer Überlegungen zu einer strukturellen Veränderung des Familienlastenausgleichs, wobei die Berufung auf den Dritten Familienbericht insofern auch schon in diesem Hause abgehandelt worden ist, als wir nachgewiesen haben, daß die Zahlen, die dort zugrunde lagen, vom Anfang der 70er Jahre stammen und bei den inzwischen stattgefundenen Kindergelderhöhungen mindestens mit großer Vorsicht zu genießen sind. Wir haben große Fortschritte durch Kindergelderhöhungen seit 1976 gemacht. Durch das Steuerentlastungsgesetz 1981 erhalten 4,6 Millionen Familien 2 Milliarden Mark mehr an Kindergeld. Es gibt Verbesserungen beim Wohngeld, allgemeine Steuererleichterungen, die auch Familien mit Kindern zugute kommen, Anhebung des Haushaltsfreibetrages ab 1982 für alleinerziehende Mütter oder Väter. Frau Dr. Wex, seit 1975 ist das Kindergeld für die VierKinder-Familie um 81 % gestiegen. Für dritte und weitere Kinder ist das Kindergeld verdoppelt worden. Das ist weit mehr, als die Preissteigerungen in dieser Zeit ausgemacht haben. Das ist ein Mehrfaches dessen, was es an Kindergeld in den Zeiten gab, als Sie die Verantwortung für die Bundesrepublik in der Bundesregierung trugen. ({12}) Aber ich bin auch der Meinung, daß die nächste Verbesserung des Familienlastenausgleichs nicht wieder von einem Wirtschaftsgipfel oder von einem Steuerreformprogramm abhängig gemacht werden darf. Die CDU hat keine Antworten gegeben, wie sie die Struktur des Familienlastenausgleichs verbessern würde. Aber sie hat dazu einige, wie ich meine, sehr richtige und wichtige Fragen gestellt. Bei künftigen Kindergelderhöhungen, so meinen wir allerdings, müßte auch eine stärkere soziale Komponente eingebaut werden. ({13}) Es ist nicht einzusehen, warum Kindergelderhöhungen auch Bundestagsabgeordneten oder leitenden Chefärzten zugute kommen und warum Sozialhilfeempfänger an Kindergelderhöhungen nach unserem heutigen System nicht profitieren können. ({14}) Wir werden auch, wie es in der Regierungserklärung angekündigt worden ist, die Finanzamtslösung prüfen müssen. Wir hoffen da auf Ihre kooperative Mitarbeit. Weil das nämlich weniger bürokratisch ist. Sie wollen j a wohl Bürokratie abbauen. Das ist für den einzelnen besser nachvollziehbar, wenn er durch seine Kinder Steuerersparnis hat, als wenn er erst Steuern zahlen muß und kriegt auf dem Umweg über das Finanzamt wieder etwas zurück. ({15}) Was wir auf keinen Fall mitmachen werden, ist eine Rückkehr zu zusätzlichen progressiv wirkenden Kinderfreibeträgen. ({16}) Da frage ich diejenigen, die so gern mit der neuen sozialen Frage operieren, wie sie es vereinbaren können, auf der einen Seite zu sagen: Wir haben nur noch wenig Wirtschaftswachstum und wir müssen deswegen mehr soziale Gerechtigkeit walten lassen und vor allem den schwachen Gruppen in unserer Gesellschaft helfen, und andererseits aus dem wenigen, was wir haben, denjenigen noch mehr geben wollen, die ohnehin schon eine ganze Menge haben, was man nur zu Lasten derjenigen geben kann, die heute arm oder unter dem Strich sind. ({17}) - Herr Kollege Blüm, diese Frage habe ich schon einmal von einem Ihrer Kollegen gehört. Ich halte jeden progressiv wirkenden Freibetrag für problematisch. Ich bin für Grundfreibeträge, aber das ist meine persönliche Meinung. Bloß, was das Kindergeld oder die progressiv wirkenden Kinderfreibeträge betrifft, da ist das die Meinung unserer Fraktion und unserer Partei. In diesem Zusammenhang sollte dann auch noch die Frage des Splitting diskutiert werden. Frau Kollegin Dr. Wex, Sie haben, als Anke Fuchs im Bundestagswahlkampf die Überlegung anstellte, ob man denn, wenn man zusätzlich familienpolitische Leistungen finanzieren will, nicht beim Splitting Konsequenzen ziehen müßte, sehr heftig reagiert. Ich möchte Sie bitten, diese heftige Reaktion noch einmal zu überlegen und hier nicht Fronten zu schaffen, die eigentlich nicht notwendig sind, weil es natürlich nicht so aussehen wird, wenn man darüber nachdenkt, daß man das generell beschneidet, sondern daß man Auswüchse des Splittings beschneidet, die mit der Intention derjenigen, die Ende der 50er Jahre das Splitting im Einkommensteuerrecht eingeführt haben, und mit der Intention des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr übereinstimmen. Sie können auch länger nachlesen, was darüber in dem Bericht der Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" steht. Ich meine, das ist eine sehr schlüssige Begründung dafür, daß hier herangegangen werden muß, wenn wir überhaupt die Chance haben wollen - über 30 Milliarden DM werden jährlich im Moment an Familien mit und ohne Kinder dadurch umverteilt, daß der Splittingvorteil wahrgenommen wird -, einen Teil für wirksame Familienpolitik - für Familien mit Kindern - einzusetzen. Dann hätten wir eine ganze Menge gewonnen. ({18}) - Ich dachte immer, Herr Kroll-Schlüter, die Opposition mache gelegentlich auch Vorschläge. Wir wollen es uns ja nicht so einfach machen, und Ihnen werden wir es nicht so einfach machen, daß wir Sie aus der Verantwortung entlassen, die auch eine parlamentarische Opposition haben sollte, ab und zu mal konstruktiv zu werden. ({19}) Was die Reform '84 angeht, Frau Kollegin Dr. Wex, so werden wir als Fraktion uns dafür einsetzen, daß sie so, wie wir sie als Partei vorgelegt haben, auch ausfallen wird. Wir werden dafür sorgen, daß sie nicht auf dem Rücken der erwerbstätigen Frauen ausgetragen wird. Wir werden uns auch dafür einsetzen, daß ein Erziehungsjahr für alle anerkannt wird, auch rückwirkend. Ihre fünf Jahre waren natürlich ein Wechsel auf die Zukunft. Wenn das mal Gesetz würde, würden die Zukunftschancen der jungen Generation ganz erheblich beeinträchtigt. ({20}) So mutig sind wir bei aller Planungsbesessenheit nicht, daß wir voraussagen wollen, wie die Situation der öffentlichen Haushalte oder der Rentenversicherung im Jahre 2010 oder 2020 sein wird, wenn Ihre Versprechungen dann wirksam werden würden. Noch eine Bemerkung zum Jugendhilfegesetz, das der Herr Kollege Blüm heute in seiner betont qualifizierten Art angesprochen hat und das die Frau Kollegin Wex dann etwas sachkundiger in die Betrachtung mit einbezogen hat. In der Regierungserklärung fehlt ein Hinweis auf das weitere Schicksal des JHG. Dabei handelt es sich hier auch um ein Stück Familienpolitik, weil wir mit diesem Gesetz Eltern und Kindern wirksamer als bisher helfen und die Förderung der Jugendarbeit damit ausbauen wollen. Aber dieses Gesetz ist ja im Wahlkampf an der Strategie der Union und ihres gewesenen Spitzenkandidaten gescheitert, und was der Kollege Blüm heute hier darüber gesagt hat, demonstriert seine tiefe Ahnungslosigkeit von den Problemen, die dahinterstecken. ({21}) Wir werden natürlich dafür sorgen, daß das, was er gesagt hat, auch bei den Tausenden von Sozialarbeitern, Herr Kollege Blüm, und bei den Tausenden von ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Jugendhilfe, bei der Caritas, beim Diakonischen Werk, bei der Arbeiterwohlfahrt, bei den Gemeinden herumerzählt wird - das ist ja legitim; Parlamentsprotokolle dürfen j a überall nachgelesen werden -, damit die mal begreifen, wie gering Sie deren Arbeit einschätzen, ({22}) wenn Sie sie hier vor diesem Hohen Hause- lächerlich machen, ({23}) wie Sie das getan haben. ({24})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhlwein, ist Ihnen noch in Erinnerung, daß wir hier mehrmals deutlich zum Ausdruck gebracht haben, daß wir nicht prinzipiell gegen die Einstellung von Sozialarbeitern - auch in dieser Zahl sind, sondern wir wenden uns dagegen, daß -

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Ich bitte Sie, eine Frage zu stellen, Herr Abgeordneter.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Ihnen noch in Erinnerung, Herr Kollege, daß wir prinzipiell nichts gegen die Einstellung von Sozialarbeitern haben, sondern nur etwas gegen die Einstellung in dieser Massierung beim Staat?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kroll-Schlüter, Ihnen habe ich nie unterstellt, daß Sie auf diesem Feld ahnungslos wären. ({0}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion hält an dieser Reform nach wie vor fest. Wir werden die notwendigen Schritte einleiten, um den Gesetzentwurf in der vom Bundestag verabschiedeten Fassung wieder einzubringen.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich bin mit meiner Zeit am Ende, ({0}) und ich will das hier nicht unnötig verlängern. Das Engagement der Kirchen, der evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen z. B. in diesen Wochen, der Arbeiterwohlfahrt in diesen Tagen und des Deutschen Bundesjugendrings - der in diesen Tagen dazu in Ludwigshafen einstimmige Beschlüsse gefaßt hat - gibt uns recht, wenn wir dieses Gesetz wieder in den Deutschen Bundestag einbringen wollen. ({1}) Meine Damen und Herren von der Opposition, wir sind Ihren Bedenken sehr weit entgegengekommen, und ich hoffe, daß Sie diesmal auch über die Bundesländer konstruktiv mitarbeiten. Die in der Jugendhilfe Engagierten haben jetzt zehn Jahre lang an diesem Gesetz mitgearbeitet. Wir dürfen ihre Geduld nicht überstrapazieren, wenn diese Leute nicht an der Reformfähigkeit unserer Gesellschaft Zweifel anmelden, vielleicht sogar verzweifeln sollen. ({2}) Wir müssen auch endlich stärkere Akzente in der Jugendarbeit setzen, wenn wir die vielen dort Engagierten motivieren wollen und wenn wir diejenigen, die ausgestiegen sind, wieder an unsere Gesellschaft heranführen wollen. Zum Schluß noch ein Wort zu dem von Herrn Kollegen Blüm beklagten Fehlen von Lücken für Spontaneität und Initiative in unserer Gesellschaft. Herr Kollege Blüm, kennen Sie denn nicht die Fülle von Initiativen von Betroffenen, von Eltern und Jugendlichen, ({3}) etwa im Bereich der Behindertenarbeit, der Drogenarbeit, der Jugendarbeit oder der Frauenarbeit? ({4}) Wie können Sie dann hier behaupten, es gebe keinen Raum für Initiativen in unserer Gesellschaft? ({5}) Herr Kollege Blüm, wissen Sie denn nicht, daß gerade Ihre Freunde in Ländern und Gemeinden solche Initiativen zuallererst abwürgen, ({6}) wenn deren Arbeit nicht hundertprozentig ins Stacheldrahtgerippe der landeseigenen Paragraphen paßt ({7}) Ich habe hier z. B. einen Artikel aus der „Frankfurter Rundschau"; ({8}) er betrifft das Frauenhaus in Frankfurt am Main. ({9}) Da heißt es: Haus für mißhandelte Frauen steht vor dem finanziellen Ruin, weil die Stadt Frankfurt mit der CDU-Mehrheit nicht die Kosten für die Finanzierung dieses von Frauen in eigener Initiative gestalteten Frauenhauses übernehmen will. ({10}) Da stellt man doch erhebliche Widersprüche zwischen den von Ihnen vorgetragenen überhöhten Philosophien ({11}) und dem, was dort, wo Sie die politische Verantwortung haben, geschieht, fest. ({12}) Herr Kollege Blüm, wissen Sie denn nicht, daß unsere Bemühungen, Selbsthilfegruppen im Jugendhilfegesetz zu verankern, auf den entschiedenen Widerstand Ihrer Parteifreunde im Bundestagsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit gestoßen sind? ({13}) Frau Kollegin Karwatzki nickt dazu. Eine Zusammenfassung, meine Damen und Herren: Erstens. Wir stehen zu unserer Familienpolitik des vergangenen Jahrzehnts und zu den Grundorientierungen, auf denen sie basierte. Zweitens. Wir halten weitere Reformschritte für erforderlich, vor allem für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie für Väter und Mütter. Drittens. Wir halten eine Überprüfung der Struktur des Familienlastenausgleichs für nützlich - gerade in Zeiten gebremsten Wirtschaftswachstums und knapper finanzieller Mittel. Meine Damen und Herren, die Union hat in dieser familienpolitischen Debatte die Chance versäumt, aus den ideologischen Auseinandersetzungen herauszukommen, die Fakten nüchterner als bisher zu sehen und realistische Reformvorschläge zu machen. Offenbar hat sie ihre Schularbeiten schlecht gemacht. Wahrscheinlich stand kein Vater, keine Mutter als Hilfslehrer zur Verfügung, der die Schularbeiten hätte überprüfen können. Meine Damen und Herren, weil es uns um die Familien und ihre Probleme geht, finde ich das eigentlich sehr bedauerlich, aber ich hoffe, daß wir in den nächsten vier Jahren doch noch etwas dichter zueinanderkommen. ({14})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Familie, Frau, Jugend", so hatte Frau Wex ihren Debattenbeitrag betitelt Es war eigentlich nicht zu erwarten, daß von der CDU hier irgendein neuer Gedanke für die Frauenpolitik, die Familienpolitik oder auch die Jugendpolitik kommen würde. Diese Erwartungen haben nicht getäuscht. Familie, Frau und Jugend sind für die CDU/CSU in diesem Staat eine verunsicherte Veranstaltung. Aber, meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Verunsicherung kann man natürlich auch herbeireden. Diesen Eindruck habe ich, wenn ich Sie von der CDU/CSU sprechen höre. ({0}) Ich möchte in meinem Beitrag die Reihenfolge etwas anders setzen. Der Kollege Kohl hat in seiner gestrigen Rede an einer Stelle den Ausdruck Gleichstellung der Frau gebraucht und zwar im Zusammenhang mit der Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, daß die Diskussion über diese wichtige und notwendige Reform erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts richtig in Gang kam, das wegen einer Benachteiligung von Männern in bestimmten Situationen im Rentenrecht ergangen war. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß dies nicht typisch für die Diskussion in Ihrer Fraktion üb er die Gleichberechtigung ist. ({1}) Sie beklagen, daß Frauen heute möglicherweise noch immer in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nicht tatsächlich die gleichen Chancen haben, das offene und verdeckte Diskriminierung von Frauen im Beruf, in der Werbung, in den Medien, in der Politik, in der Bildung und in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auch heute noch stattfindet. Wir tun das mit Ihnen. Der Bericht der Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" zeigt viele dieser Bereiche auf. Wir werden diesen Bericht zu debattieren haben, und ich hoffe, daß wir zu einer sachlichen Debatte über diesen Bericht kommen, denn ich halte es für notwendig, daß wir tatsächlich einen Wandel im Denken und in der Einstellung in dieser Gesellschaft bewirken können. ({2}) Das können wir am besten, wenn wir von dieser Stelle aus Impulse für diese Diskussion geben. Sie beklagen, daß wir hier zugeben müssen, daß die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau noch nicht verwirklicht ist. Meine Damen und Herren, auch die CDU/CSU hat im Bund lange Regierungsverantwortung getragen, und sie trägt Regierungsverantwortung in den Ländern. Dies ist ein Problem, das uns alle angeht und das wir gemeinsam lösen müssen. ({3}) Die Regierung will prüfen, ob ein Gesetz, das die tatsächliche Gleichstellung der Frau in dieser Gesellschaft sicherstellen soll, einen entscheidenden Beitrag hierzu leisten kann. Dieses Antidiskriminierungsgesetz werden wir ebenfalls in dieser Debatte zu behandeln haben. Nun hat die Frau Kollegin Wex gesagt, dies könne nichts bringen, schon der Bericht der Enquete-Kommission habe darauf hingewiesen. Ich glaube, wir können uns die Beurteilung nicht so leicht machen; wir sollten es tatsächlich auf die zukünftige Debatte verschieben. Wir glauben allerdings, daß die von uns in einem solchen Antidiskriminierungsgesetz vorgesehene Kommission - ohne diese Kommission wäre ein solches Antidiskriminierungsgesetz wirklich ein zahnloser Löwe - tatsächlich einen Beitrag dazu leisten kann, Benachteiligungen abzubauen und Hinweise darauf zu geben, wo die tatsächliche Gleichstellung noch nicht verwirklicht ist. Bei der Debatte über die tatsächliche Gleichstellung der Frau hoffe ich, daß wir in den nächsten Jahren auch auf einem anderen Gebiet noch ein Stück weiterkommen: beim Abbau von Beschäftigungsverboten für Frauen, die auch heute noch in bestimmten Berufen existieren. ({4}) Hier appelliere ich besonders an die Kollegen von der SPD, dieses Vorhaben nicht daran scheitern zu lassen, daß man es mit bestimmten anderen Forderungen verknüpft, die für die FDP nicht annehmbar wären. ({5}) Meine Damen und Herren, die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland sind in einem ständigen Wandel begriffen. Dem muß auch die praktische Politik Rechnung tragen. Der Staat darf sich nicht zum Richter über Form und Inhalt des Zusammenlebens von Gemeinschaften machen. Der Staat muß dafür sorgen, daß jeder seiner Bürger sich frei entfalten kann. Deshalb müssen auch die vom Staat gesetzten Regeln von Zeit zu Zeit überprüft werden, ob sie nicht einzelne oder Gruppen in unserer Gesellschaft ungebührlich in ihrer freien Entfaltung einschränken. Die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen lassen sich nicht immer mit einem Familienleben nach traditionellem Verständnis in Einklang bringen. An dieser Stelle möchte ich Sie darauf hinweisen, daß der Begriff Familie im Verfassungsrecht durch das Vorhandensein von Kindern und nicht durch das Vorhandensein einer Ehe definiert wird. Ich fände es unerträglich, wenn wir Kindern oder Witwen oder auch Kindern von alleinlebenden Frauen zumuten müßten, nicht in einer Familie aufzuwachsen und nicht den Schutz einer Familie zu haben. ({6}) Meine Damen und Herren, wir können und dürfen die Augen nicht davor verschließen, daß es immer mehr alleinerziehende Elternteile gibt, daß es Geschiedene und Witwen gibt, die allein leben, daß es Wohngemeinschaften gibt, und zwar sowohl von Jugendlichen als auch von Erwachsenen und von älteren Menschen. Bisher hat der Gesetzgeber vor den Problemen dieser neuen Formen des Zusammenlebens weitgehend die Augen verschlossen. In unserer Rechtsordnung kommen sie - wenn wir von § 122 des Bundessozialhilfegesetzes einmal absehen - schlicht nicht vor. Lösungen liegen bislang allerdings erst in Ansätzen vor; die Entscheidung überläßt man den Gerichten. Keine Frage, daß unterschiedliche Gesetzesanwendungen zu den verschiedensten und widersprüchlichsten Ergebnissen führen und damit für die Betroffenen eine unerträgliche Rechtsunsicherheit besteht. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber früher oder später um Regelungen nicht herumkommt. Zwei Gründe sind dabei für das Regelungsbedürfnis ausschlaggebend: zum einen die Beseitigung der Rechtsunsicherheit und zum anderen der Schutz der sozial Schwachen, denn dieses ist unser Sozialstaatsprinzip. Deshalb wird die FDP auf Erarbeitung eines Berichtes der Bundesregierung über neue Lebensformen drängen, um einen Überblick über die tatsächliche Verbreitung, über rechtliche und gesellschaftliche Auswirkungen dieser Lebensformen zu bekommen. ({7}) Meine Damen und Herren, wir verlangen nicht die rechtliche Gleichstellung, aber wir verlangen den Abbau von Diskriminierung alternativer Lebensformen. ({8}) Wir wollen Schluß machen mit der Benachteiligung von Kindern aus Einelternfamilien. Wir halten es nicht für gerecht, daß Nichtehepartner nach dem schon zitierten § 122 des Bundessozialhilfegesetzes zur Unterhaltsleistung herangezogen werden können, aber bestimmte Familienhilfen nicht erhalten. Ehe und Familie sind auch heute die elementare Grundlage unserer Gesellschaft und stehen deshalb unter dem besonderen Schutz des Staates. ({9}) Kein Freier Demokrat hat je etwas anderes behauptet, ({10}) und wir werden selbstverständlich diesen Grundgesetzartikel beachten. Einigkeit besteht - zumindest nach den Worten der Kollegin Wex - darüber, daß innerhalb einer Familie die Verteilung der anfallenden Aufgaben ureigenste Angelegenheit der Familie ist. Ich hoffe, daß Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dieses vollinhaltlich teilen. Ich wünsche mir darüber hinaus, daß das nicht nur vollinhaltlich unsere gemeinsame Meinung ist, sondern daß Sie auch mit uns die Konsequenzen daraus ziehen. Dieses darf nämlich nicht nur eine einfache Deklaration bleiben. Wir müssen dafür sorgen, daß die Wirklichkeit auch tatsächlich Wahlmöglichkeiten für die Familie schafft. Es kann nicht darum gehen, Leitbilder aufzubauen oder zu konservieren, nur weil sie einmal da sind. Wir wünschen weder das Leitbild der Familie mit berufstätigen Eltern noch das Leitbild der auf die häuslichen Aufgaben allein verpflichteten Hausfrau. Wir wünschen, daß die Familie selbst entscheidet, wie sie die Aufgaben verteilt, ohne staatlich vorgegebene Leitbilder. ({11}) Wir verkennen nicht, daß die Aufgabenverteilung in der Familie heute und sicher auch in absehbarer Zukunft in der Mehrzahl der Fälle im Sinne einer Hausfrauenehe erfolgt. Ihre Förderung ist deshalb ebenso zu berücksichtigen wie die Forderung berufstätiger Eltern nach der Schaffung von Möglichkeiten, die ihnen ihre Wahl der Aufgabenverteilung erleichtern. Auch wir streben, wie die Opposition es fordert, natürlich eine bessere finanzielle Ausstattung der Familie an. Wir sind auch der Meinung, daß der Staat nicht alle Kosten der Kindererziehung übernehmen kann. Dies wurde hier eben auch schon ausgeführt. Wir halten eine Anhebung des Kindergeldes für das erste Kind für sehr notwendig. ({12}) Wir würden auch gerne einen mit dem Alter abnehmenden Zuschlag zum Kindergeld zahlen. Wir würden gern finanziell mehr für die Familie tun. Wir müssen sehen, was in den nächsten Jahren die Haushaltslage ermöglicht. Nur, meine Damen und Herren, Geld allein schafft keine Wahlmöglichkeiten für die Aufgabenverteilung in der Familie. ({13}) Wer glaubt, durch Zahlung eines Erziehungsgeldes das Bild der heilen Familie durchgängig durchsetzen zu können, verkennt die Realitäten des gesellschaftlichen Wandels. ({14}) Auch wir wollen die Erziehungsarbeit durch Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht positiv werten. Wir schlagen vor, zunächst ein Jahr rentensteigernd zu berechnen. Wir würden auch dort natürlich gerne noch mehr tun. Ich bitte Sie aber zu bedenken, daß jedes Jahr Erziehungszeit ein halbes Prozent Beitragssatzerhöhung bedeuten würde. ({15}) Sie beklagen sich darüber, daß die Abgabenlast schon heute sehr hoch ist und nicht weiter erhöht werden kann. Wir stimmen mit Ihnen darin überein. Wir wollen die Beitragssätze nicht erhöhen und haben uns deshalb zunächst auf ein Jahr beschränkt. Die Rahmenbedingungen, die eine tatsächliche Wahlfreiheit bei der Aufgabenverteilung in der Familie ermöglichen, beinhalten mehr als nur Zahlungen des Staates an die Familie. Sie beinhalten z. B. ein ausreichendes Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen für Frauen und Männer - darin stimmen wir wieder überein -, sie beinhalten aber auch ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuungsplätzen in Familien, wie sie die Einrichtung der Tagesmütter schafft, und natürlich die Ausgestaltung des Mutterschaftsurlaubs als Elternurlaub, d. h. die Möglichkeit, daß dieser Urlaub wahlweise auch vom Vater in Anspruch genommen wird. ({16}) Ich möchte noch einige Worte zur Bezahlung dieses Mutterschaftsurlaubes bzw. Elternurlaubes sagen. Das Geld, das die Mutter - oder nach unseren Vorstellungen in Zukunft auch der Vater - für diesen Urlaub erhält, hat Lohnersatzfunktion. Es kann deshalb nicht in einem Atemzug mit Zahlungen an nicht berufstätige Mütter genannt werden, weil eine ganz andere Funktion vorliegt. ({17}) Es war hier sehr viel davon die Rede, die Familie müsse gestärkt werden. Wir sind dieser Meinung. Nur, ich betone es noch einmal: Geld allein tut es nicht, eher schon das Bündel von Maßnahmen, das hier angesprochen wurde. Lassen Sie mich noch einige Sätze zu Vorhaben im Jugendbereich sagen. Der Kollege Kohl hat gestern gefragt: Für was steht diese Bundesrepublik für diese Jugend? Ich möchte dies noch weiterführen. Die Jugend will - das ist zumindest meine Erfahrung - selbst gestalten. Sie ist Gott sei Dank nicht nur materiell interessiert. Die Jugend sucht Vorbilder. Wenn wir die Jugend an diesen Staat binden wollen, dann müssen auch Politiker Vorbilder sein. Wir sollten das besonders bei unserer Arbeit im Parlament beherzigen. ({18}) Ein Wort zum Jugendhilferecht. Herr Blüm hat vorhin beklagt, daß das Land mit einem Netz von Beratern überzogen würde, wenn unsere Vorstellungen zum Jugendhilferecht verwirklicht würden. Aber, meine Damen und Herren, überlegen Sie einmal, wie lange man sich heute um ein Gespräch mit einem Berater bemühen muß. Haben wir nicht gerade in diesem Bereich einen ausgesprochenen Mangel? ({19}) Wir glauben, daß eine Regelung auch im Bereich des Jugendhilferechts einvernehmlich möglich sein wird. Das kostet Geld. Wenn Sie aber bei der Familienhilfe Prioritäten fordern, müßte es doch leicht sein, Ihre Bedenken zurückzustellen und das Geld dafür auch aufzubringen. ({20}) Das Jugendschutzgesetz ist in dieser Debatte im Gegensatz zu früheren Debatten überhaupt noch nicht erwähnt worden. Wir hoffen, daß es in dieser Legislaturperiode tatsächlich verwirklicht werden kann. Hier war die Rede davon, daß die Jugend Chancen haben will ({21}) und daß die Jugend gefährdet ist. In diesem Zusammenhang möchte ich nur noch mit ein paar Worten auf das Betäubungsmittelgesetz eingehen, das wieder hier eingebracht werden soll. Dieses Gesetz ist in der letzten Legislaturperiode vom Bundestag einvernehmlich verabschiedet worden und dann im Bundesrat gescheitert. Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich etwas für die Jugend tun wollen, dann bitte ich Sie: Wirken Sie auf Ihre Kollegen ein, damit das Betäubungsmittelgesetz dieses Mal in der Form, wie es hier gemeinsam verabschiedet worden ist, tatsächlich verwirklicht werden kann. ({22}) Meine Damen und Herren, Sie hatten gefordert, daß die Politik der nächsten vier Jahre dargelegt wird. Der Beginn einer Legislaturperiode ist selbstverständlich der Punkt, an dem das getan werden muß. Ich glaube, wir haben die Perspektiven aufgezeigt, wir haben die Vorhaben angesprochen. Sie ha210 ben uns Ihre Diskussionsbereitschaft angeboten. Ich bitte Sie herzlich, machen Sie es wahr, lassen Sie uns viel verwirklichen in diesem Bereich. ({23})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat Frau Minister Huber.

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wir sind für eine praxisbezogene Politik und für Perspektiven, was die Frauen, die Jugend und die Familien angeht. Für Familien ist vieles wichtig, was im Regierungsprogramm steht; denn die Familie ist unsere normale Lebensform, in der sich alle Probleme widerspiegeln, für die Lösungen nötig sind. Dies ist nicht nur auf Kindergeld oder Zuschüsse im engeren Bereich der Familienpolitik bezogen. Die Regierungserklärung stützt sich auch nicht auf eine Leistungsbilanz aus der Vergangenheit, sondern richtet den Blick auf die kommenden Jahre. Ich möchte zunächst Herrn Kohl widersprechen, der gestern gesagt hat, die Regierung habe die Familie rechtlich, materiell und psychologisch ins Abseits gebracht. Dás reformierte Ehe- und Familienrecht hat der Familie im Gegenteil neue Möglichkeiten zu partnerschaftlichem Miteinander eröffnet. Es hat die Verantwortung der Familienmitglieder füreinander gestärkt und gleichzeitig deren begründete Rechte gesichert. Wir begrüßen das neue Familienrecht. ({0}) Meine Damen und Herren, materiell hat die Familie nie so viele staatliche Zuwendungen erhalten wie heute. Die durchschnittliche Facharbeiterfamilie mit drei oder vier Kindern wird sich im nächsten Jahr allein gegenüber dem vergangenen Jahr im Einkommen um 6 bis 8 % verbessern. Das sind 140 bis 200 DM. Das ist wesentlich mehr als die Belastungen ausmachen, von denen an anderer Stelle die Rede ist Kindergeldanhebung und Steuerpaket haben einen Umfang von 3,6 Milliarden DM. Wenn über die weitere Entwicklung des Kinderlastenausgleichs im Regierungsprogramm nichts Näheres ausgesagt ist, dann hat das den Grund, daß die Frage der Finanzamtslösung erst noch diskutiert werden muß. Erst dann, Frau Kollegin Wex, können wir Ihre Fragen nach Höhe, Maßstab und Orientierung beantworten. Aber ich werde nicht vergessen, wie die CDU/CSU - besonders Herr Geißler; das hat sich mir wirklich eingeprägt - im Wahlkampf immer die arme Familie gewissermaßen auf dem Tablett vor sich hergetragen hat und gleichzeitig die Wiedereinführung der ungerechten Steuerfreibeträge für Kinder gefordert hat. ({1}) Das würden wir nicht unter einer gerechten Verbesserung der Familienpolitik verstehen. Wir sind dagegen froh, daß es gelungen ist, den Familien Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu erhalten. Das ist neben dem Kindergeld, dem Wohngeld und der Ausbildungsförderung auch wichtig. Was nun den Vorwurf betrifft, die Familie sei psychologisch ins Abseits gedrängt, soll hier wohl nur die alte, unsinnige Behauptung wiederholt werden, daß die Opposition die Familie lieber habe als die Koalition, nämlich die Bilderbuchfamilie, die schön ist für die Werbung, aber nicht für die Wirklichkeit. Wir teilen weder den Unglauben, daß es mit der Familie aus sei, noch den Irrglauben, meine Damen und Herren, daß die Familie als Idylle von allem verschont bleibt, wenn sie nur der richtigen Ideologie folgt. ({2}) Wir leben in der Wirklichkeit. Deshalb ist Familie für uns etwas nicht Wegdenkbares, nämlich unser Zuhause. Eine solche Familie gibt es in sehr verschiedenen Situationen und sehr verschiedenen Formen. Die Interessen „der" Familie gibt es nicht. Familieninteressen sind sehr unterschiedlich. Man muß darauf achten, welche Wünsche und Nöte Priorität haben. Der vom Grundgesetz her gebotene Schutz der Familie muß sich vor allem auf jene Familien beziehen, die dieses Schutzes besonders bedürftig sind. In dieser Hinsicht könnten wir uns durchaus noch Verbesserungen vorstellen, wenn auch kein Erziehungsgeld, so doch ganz sicher eine Anerkennung der Kindererziehung bei der Rentenberechnung. Frau Wex hat gesagt, ich hätte die Gleichstellung der eheähnlichen Verhältnisse ins Gespräch gebracht. Das soll j a wohl bedeuten, ich hätte sie aufgewertet. Erstens h abe ich sie nicht ins Gespräch gebracht. Ich habe nur davon geredet, daß wir gehalten sind, Toleranz gegenüber dem Bürger zu üben, der die Form, in der er leben will, selber bestimmt. Darüber haben wir nicht zu richten. ({3}) - Nein das habe ich nicht getan. Ich habe auf Fragen geantwortet. Zweitens habe ich gesagt, daß ich mir neben der Toleranz noch etwas wünsche. Von der Toleranz müssen wir ganz klar die Tatsache unterscheiden, daß eine Gleichstellung rechtlicher Art nicht in Frage kommen kann, und zwar deswegen nicht, weil an die Eheschließung Rechtsfolgen geknüpft sind. Diese muß man einhalten. Deshalb kann eine Gleichstellung nicht erfolgen. Das habe ich ganz klar gesagt. Das hat aber nichts mit der Toleranz zu tun, die wir jenen schulden, die ihre eigene Lebensform selber wählen. Auf keinen Fall möchte ich mich - wie es mir von Herrn Geißler angeraten worden ist; ich kann mich noch daran erinnern -, allein um die heile Familie bemühen. Ich finde, das wäre eine sehr arrogante Politik. Ich unterstütze all jene, die hier davon gesprochen haben, daß alleinerziehende Mütter, Witwen, Geschiedene, nicht verheiratete Mütter und Großeltern - letztere vielleicht für ihre verstorbenen Kinder - Kinder erziehen und unseres besonderen Schutzes bedürfen. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Eltern von Behinderten und die Eltern der ausländischen Kinder. ({4}) Herr Kohl sagte gestern, Rentner, Kinderreiche und Behinderte hätten in unserer Gesellschaft sehr lange auf ihre Ansprüche warten müssen. ({5}) - Für unsere Regierungszeit, sehr verehrter Herr Kollege, ist das im großen und ganzen nicht der Fall. Die Renten für Mehrkinderfamilien und Behinderte - das habe ich genau studiert, auch im Sozialhilferecht - sind besser, als sie je zuvor waren. Nie hat es so viele staatliche Hilfen gegeben. ({6}) Frau Wex, es stimmt einfach nicht, was Sie hier über Einkommen und Steuerrecht gesagt haben. Nach der DIW-Studie, die wohl die qualifizierteste Studie über die Familieneinkommen ist, weil sie am genauesten und auch schichtenspezifisch untersucht, haben die Familieneinkommen relativ stärker zugenommen als die Einkommen von Ehepaaren ohne Kinder. Das liegt daran, daß wir eben sehr viele staatliche Zuschüsse gewährt haben, die sich hier niederschlagen. ({7}) Es stimmt auch nicht, daß die Frau im Steuerrecht so schlecht wegkommt. Hier haben Sie die Hausfrau gemeint. Es gibt keine bessere Steuerklasse als die Klasse drei. Diese ist viel besser als die Steuerklassen vier oder drei/fünf, die berufstätigen Ehepaaren zustehen. ({8}) Außerdem ist diejenige, die vom Steuersplitting für Ehegatten am stärksten profitiert, die nicht berufstätige Frau. Das ist so gewollt. Das bedeutet, daß der Mann eine weitere Person, nämlich seine Frau, ernährt und dafür einen Steuerrabatt erhält. Dieser fällt bei berufstätigen Frauen ganz oder teilweise weg. Es handelt sich also um einen Rabatt für die Hausfrau. Gestern hat Herr Kohl auch gesagt, der Kanzler hätte in seiner Regierungserklärung sagen sollen, daß die Bürger jetzt Opfer bringen müßten und daß dies auch für die Familie gelte, wo Verbesserungen keine Frage der materiellen Zuwächse, sondern mehr qualitativer als quantitativer Natur seien. Dabei vermisse ich, daß die hier geforderte Gerechtigkeit, zu der man sich durchaus bekennen könnte, nicht mit einem einzigen konkreten Vorschlag vor- gestellt worden ist - und das über Jahre hinweg. Was uns aus dem Wahlkampf noch im Gedächtnis ist - Erziehungsgeld, Rentenjahre für Kindererziehung und sonstige Verbesserungen -, war jedenfalls quantitativer Natur; es ging um mehr als 20 Milliarden DM. Das, finde ich, ist nun gerade nicht ein Beispiel für Umstrukturierung. Wir sind im übrigen sehr gespannt auf die neuen Vorschläge. Jeder hier weiß, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit zu verwirklichen, wenn sie nicht aus dem Zuwachs verteilt werden kann. Wir hoffen aber auf Ihre Zustimmung, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn es später einmal darum geht, mit kleineren Summen die Richtigen zu fördern und die Gesellschaftspolitik eben nicht stillstehen zu lassen. ({9}) Die Sorge um die Familie wird weitergehen, auch die Sorge - Frau Wex, ich stimme Ihnen durchaus zu und möchte das hier ausdrücklich betonen - um die ausländischen Familien, die bei uns leben. Wir werden uns aber auch um die Probleme der Partnerschaft in der Familie, um mehr Kombinationsmöglichkeiten von Familie und Beruf und um bessere Jugendhilfe kümmern. Hier finde ich es unfaßlich, daß Herr Kroll-Schlüter gesagt hat, sie sei daran gescheitert, daß es durch das Gesetz so viele Beamte bzw. öffentlich Bedienstete zusätzlich geben solle. Dies ist überhaupt nicht der Punkt. Zwei Drittel aller Helfer sind in der Jugendhilfe bei den freien Verbänden tätig. Sie werden und sollen dies auch bleiben; das ist Ihnen doch bekannt. ({10}) Wir hätten uns allerdings wirklich mehr Unterstützung in der Jugendhilfe gewünscht, die vielleicht wegen des Wahlkampfes gescheitert ist; wegen des Anliegens selbst kann sie j a wohl nicht gescheitert sein. Wenn wir sie im Parlament jetzt wieder einbringen, so erhoffe ich mir, daß wir nun weiterkommen. ({11}) - Sie steht nicht in der Regierungserklärung, weil wir davon ausgehen, daß das Parlament sie einbringen wird. ({12}) Das ist in meiner Fraktion j a schon beredet. Die Gleichberechtigung der Frau, so haben Sie gesagt, stehe auf dem Papier. Das ist, was vielerlei Praxis angeht, richtig. Aber wir haben hier mit dem EG-Anpassungsgesetz, mit dem Mutterschaftsurlaub doch konkrete Schritte gemacht. Es hat so viele Kindergeldverbesserungen gegeben, damit die Frauen nicht genötigt sind, zu arbeiten. Aber wir werden den Elternurlaub anstreben, damit es ihnen ermöglicht wird, auch berufstätig zu sein, wenn sie wollen. Wir möchten keine Pseudoemanzipation, wir möchten also nicht eine finanziell etwas bessere, aber ansonsten doch alte Rollenverteilung. Im übrigen glaube ich nicht, daß Sie die Nichtwählerinnen richtig einschätzen, die sich von den Parteien abwenden. Dafür gibt es vielfältige Gründe. Die wenigsten, Frau Wex, gehen in die Richtung, die Sie vermutet haben. Nun ist ja das Thema Familie ohne Jugend nicht denkbar. Die Regierungserklärung hat sich trotz Kürze bemüht, die Jugend und ihre Probleme differenziert zu sehen. ({13}) - Ja, sie hat sie nicht getadelt und nicht nur gelobt, sondern sie hat versucht, die Wirklichkeit aufzuspüren. - Herr Kohl hat gestern gemeint, die junge Generation müsse überhaupt erst wieder einmal Chancen sehen. Es ist richtig und auch von uns unbestritten, daß ein Teil unserer jungen Leute pessimistisch ist, daß er manchmal geistige Leere und Zukunftsangst beklagt. Aber, meine Damen und Herren, der Pessimismus der Jugend ist eine Herausforderung an uns alle und wird durch Schwarzmalerei manchmal gerade von jenen geschürt, die dann den Pessimismus hier beklagen. ({14}) Wir, die eigentlich um unsere Jugend betrogene Generation, die Krieg und Entbehrung erlitten hat, gleichzeitig ein zertrümmertes Land wieder aufbauen half, neigen auch in problemreichen Zeiten sicherlich nicht zum Pessimismus. Gerade deswegen müssen wir uns um so mehr fragen: Wie ist die jetzige Situation entstanden? Was für Gründe gibt es? Es ist doch nicht so, daß hier in erster Linie Jugendarbeitslosigkeit die Ursache ist; 96 % der Jugendlichen sind nicht arbeitslos. Es wird mehr, länger und besser gelernt als früher, kaum Armut erlitten. Vielleicht ist es in der Tat unser materiell gut gepolsterter, breitgefächerter Markt der Möglichkeiten, auf dem unsere jungen Leute mehr Einrichtungen und Waren vorfinden und weniger Mitmenschen begegnen und auf dem sie nicht so viele Aufgaben vorfinden, wie sie sich wünschen. Kölner Schüler, die mein Haus besuchten, haben sich nicht über mangelndes Kindergeld, sondern über die kalte Welt beklagt, die sie empfinden. ({15}) Sie suchen eine Chance, sich zu wärmen und diese Welt als menschlich lohnend zu empfinden. Ihr Unbehagen artikuliert sich in mancherlei Protesten, die wir den jungen Leuten doch oft nachsehen sollten. Sie engagieren sich dafür aber auch in der Jugend-und Sozialarbeit sowie bei internationalen Begegnungen für Freiheit und Frieden. Hier kommt es weniger auf Paragraphen als auf Zuwendung im Elternhaus, auf eine menschliche Schule, eine freundliche Gesellschaft sowie auf mitmenschliche Hilfsangebote an, z. B. in der Jugendhilfe, die noch wichtiger sind als Technik und Bürokratie. Da hat es uns in der letzten Periode manchmal an Ihrer Unterstützung gefehlt. Heute war ich sehr erstaunt über die Sätze, die Herr Blüm in dem Teil seiner Rede gesagt hat, in dem er über die Bildung sprach. Wir werden die Bildungschancen an die Jugendlichen nicht nach der Zahl der oberen Plätze verteilen, die diese Gesellschaft zu vergeben hat. ({16}) Jeder hat vielmehr darauf Anspruch, nach seinen Fähigkeiten auch einen höheren Bildungsgrad zu erwerben, selbst wenn er einmal nicht in Schaltstellen gehievt werden kann. ({17}) - Ich habe nicht von mir gesprochen. Ich möchte Ihnen gerne sagen, wo unsere Unterschiede liegen, weil Sie davon sprachen, daß wir keine Perspektiven hätten. Wir haben schon Perspektiven, und die Bildung gehört für die Jugendlichen zu den wichtigsten. ({18}) Wir werden unseren Kampf gegen die Drogen und den Alkoholmißbrauch fortsetzen. Wir werden den Kampf gegen die Drogen aber erst gewinnen, wenn die tieferen Ursachen, nämlich Einsamkeit, Enttäuschung, Erwartungslosigkeit, verschwinden. ({19}) Ich glaube, daß es nicht sinnvoll ist, sich im Parlament darüber auseinanderzusetzen, wer die besseren Empfindungen für die Familie hat. Die sozialdemokratischen Familien sind nicht schlechter als andere Familien. ({20}) Wir haben manchmal eher das Gespür für die neuen Töne, die uns entgegenkommen, und wir sind auch mehr bereit, zuzuhören, und warten nicht mit konservativen Rezepten auf. ({21}) Das Regierungsprogramm zeigt an vielen Stellen praktische Notwendigkeiten in bezug auf Bildung, Ausbildung, Wohnung usw.; ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen. Jugend muß mit uns leben und mit uns reden. Wir sollten mehr Bereitschaft zum Dialog signalisieren, nicht um ihnen unsere Einsichten als allgemeingültig zu vermitteln, sondern damit sie vielleicht verstehen, daß auch wir mit Enttäuschungen ringen und die Erfüllung von Hoffnungen nicht wie reife Früchte von Wunderbäumen pflücken. Aber auch wir müssen verstehen, daß es immer noch andere Betrachtungsmöglichkeiten und die Suche nach neuen Perspektiven gibt, die aus der kalten Welt herausführen sollen, die trotz Wohlstand auch Alte und Einsame erfaßt hat, nicht nur Junge. Nicht Abkehr von der Gesellschaft, sondern Aufeinanderzugehen ist wichtig - und das in einer Gesellschaft, die wieder ihre Kinder liebt und dies im Wohnungs- und Städtebau, in der Schule, am Arbeitsplatz und im täglichen Umgang miteinander zeigt. ({22}) Die Jugend will mehr als Worte. Sie will keine konservativen Parolen. ({23}) Wir werden den Mut aufbringen zum offenen Gespräch mit der Familie in all ihren Formen und mit den jungen Leuten. ({24})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.