Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/10/1981

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich folgendes bekannt. Nach Nr. 8 der Richtlinien für die Fragestunde müssen die für die mündliche Beantwortung bestimmten Fragen bis spätestens Freitag, 11.00 Uhr, vor einer Sitzungswoche eingereicht werden. Der Freitag vor der nächsten Sitzungswoche ist jedoch ein gesetzlicher Feiertag: 1. Mai. Im interfraktionellen Einvernehmen wird deshalb empfohlen, den Annahmeschlußtermin für die Fragen zu den Fragestunden der Sitzungswoche vom 4. Mai 1981 auf Donnerstag, den 30. April 1981, 11.00 Uhr vorzuverlegen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es wird so verfahren. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 9/305 Zuerst kommen wir zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gallus zur Verfügung. Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Kirschner auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen ({0}) des rapide gestiegenen Exports von Pestiziden zur Schädlingsbekämpfung aus den USA, wo die Anwendung solcher chemischer Mittel wie beispielsweise DDT und DBCP verboten ist, in Entwicklungsländern auf die Umwelt und damit auf die Nahrungsmittelimporte?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, die Entwicklungsländer benötigen in steigendem Maße importierte Pflanzenbehandlungs- und Hygienemittel zur Sicherung ihrer Nahrungsmittelproduktion und ihres Gesundheitsschutzes. Sie müssen dabei in eigener Zuständigkeit Nutzen und Risiko der Anwendung abwägen, z. B. bei Erfordernissen des Gesundheits- und des Umweltschutzes. Das in der Frage angesprochene Beispiel „DDT" zeigt, wie unterschiedlich im Einzelfall die Beurteilung erfolgt. Während in der Bundesrepublik Deutschland Produktion und Anwendung verboten sind, zwingt die erneute Ausbreitung der Malaria die Entwicklungsländer zur zunehmenden Anwendung von DDT, so daß z. B. Indien zur Zeit eine eigene Produktion aufbaut. Die Gefahr eines „Rückflusses" hierzulande als bedenklich eingestufter Stoffe in Importprodukten besteht allerdings kaum. Importierte Lebens- und Futtermittel müssen den strengen hiesigen lebens- und futtermittelrechtlichen Bestimmungen, z. B. der Höchstmengenverordnung Pflanzenbehandlungsmittel, entsprechen. Somit wird auch einer unsachgemäßen Anwendung von Pflanzenbehandlungsmitteln vorgebeugt. Die Verbesserung des Pflanzenschutzes - auch unter Anwendung der erforderlichen Pflanzenbehandlungsmittel - ist ein wichtiges entwicklungspolitisches Ziel, das nur durch verstärkte Schulung und Beratung zu erreichen ist. Die Bundesrepublik Deutschland arbeitet unter hohem finanziellem Einsatz hierbei mit Entwicklungsländern und internationalen Organisationen zusammen, um unerwünschte Auswirkungen der Mittelanwendung so gering wie möglich zu halten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann man davon ausgehen, daß die Bundesregierung alles tut, um den Entwicklungsländern zu helfen, von einer Produktionsmethode wegzukommen, die den Einsatz der von mir genannten Mittel unbedingt notwendig macht, so daß es überhaupt nicht mehr nötig ist, nicht abbaubare Schadstoffe einzusetzen?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, wir tun alles, um den Entwicklungsländern dies zu vermitteln. Aber Sie haben meiner Antwort entnehmen können, daß bei DDT, das bei uns verboten ist, eine völlig andere Beurteilung als Maßstab angelegt wird, weil auf dem Weltmarkt zur Zeit eben kein anderes Mittel zur Bekämpfung der Malaria bzw. der sie übertragenden Fliegen vorhanden ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sollte nicht bei Pflanzenschutzmittel, bei denen eine Höchstmenge vorgeschrieben ist bzw. deren Anwen1642 dung in Deutschland verboten ist, eigentlich auch der Import verboten sein?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, das ist theoretisch richtig. Nur ist Tatsache, daß früher auch DDT, Quintozen und ähnliche Pflanzenschutzmittel, die heute bei uns verboten sind, in Deutschland angewendet werden durften. Tatsache ist, daß diese Mittel einen hohen Halbzeitwert haben und immer noch im Boden vorhanden sind. Nach wie vor werden auch in der deutschen Pflanzenproduktion, z. B. beim Gemüsebau und in ähnlichen Produktionszweigen, solche Rückstandsmengen durch die Pflanzen aufgenommen. Wenn man in der Höchstmengenverordnung für diese bei uns verbotenen Pflanzenschutzmittel keine Höchstgrenzen festgelegt hätte, dürfte auch bei geringsten Rückständen der in Deutschland verbotenen Pflanzenschutzmittel überhaupt kein Produkt mehr auf den Markt kommen. Andererseits darf ich sagen, daß die Höchstmengen so niedrig festgesetzt sind, daß für die menschliche Ernährung nichts zu befürchten ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz ({0}).

Prof. Dr. Max Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001258, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, bedeutet nicht diese Ihre Aussage einerseits eine Verschiebung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, wenn für die importierten Lebensmittel und Futtermittel andere Grenzen gelten, und andererseits für die Verbraucher trotzdem eine Gefährdung der Gesundheit, also eine Gefährdung der menschlichen Existenz?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Nein, denn alles, was an Lebensmitteln in die Bundesrepublik importiert wird, muß im Rahmen der Mengen der Höchstmengenverordnungen bleiben. Wir sind laufend dabei, mit unseren europäischen Partnern dafür zu sorgen, daß die in Deutschland verbotenen Pflanzenschutzmittel auch außerhalb unseres Landes verboten, zumindest aber in ihrer Verwendung sehr stark eingeschränkt werden.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf: Trifft es zu, was in der „Verbraucherpolitischen Korrespondenz" der AGV vom 23. März 1981 unter der Überschrift „Milliarden-Bluff am Milchmarkt" stand, daß die EG-Kommission nach Maßgabe der Landwirtschaftsminister im vergangenen Jahr rd. 5 bis 6 Milliarden DM, davon etwa 1,5 bis 2 Milliarden DM zu Lasten des deutschen Steuerzahlers, ausgegeben hat, um 700 000 Tonnen Milchpulver, 550 000 Tonnen Butter und fast 300 000 Tonnen Käse in Drittländer zu exportieren sowie weitere 1,2 Millionen Tonnen Milchpulver zu verfüttern, und wenn ja, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit in Zukunft solche Maßnahmen nicht mehr durchgeführt werden und damit Milliarden DM von Steuergeldern sinnvoller verwendet werden können?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, endgültige Angaben der EG-Kommission über die Ausfuhren an Milcherzeugnissen aus der Gemeinschaft für das Jahr 1980 liegen noch nicht vor. Die von der AGV veröffentlichten Zahlen dürften den tatsächlichen Größenordnungen aber nahekommen. Ziel der Bundesregierung ist es nach wie vor, das Gleichgewicht auf den Agrarmärkten, insbesondere bei Milch, wiederherzustellen, und dies mit der vorrangigen Zielsetzung, die Agrarausgaben der Gemeinschaft in Grenzen zu halten. Der EG-Agrarministerrat hat in der vergangenen Woche im Rahmen der Preisbeschlüsse - nicht zuletzt auf deutsches Drängen - festgelegt, daß es erforderlich ist, ein Anwachsen der Überschußproduktion bei Milch zu vermeiden und zu gewährleisten, daß der Ansatz des EG-Haushalts 1981 für den Milchsektor nicht überschritten wird. Der Rat stimmte überein, daß er erforderlichenfalls Maßnahmen ergreifen wird, um das Gleichgewicht auf dem Milchmarkt in den Grenzen des Haushalts zu sichern. Als solche Maßnahmen kommen nach Auffassung des Rates z. B. in Betracht eine Abgabe auf gestiegene Produktion, teilweise Aussetzung der Intervention, Änderung des Interventionspreises, erhöhte Mitverantwortungsabgabe oder andere Mittel. Auf Maßnahmen zur Förderung der Ausfuhren von Milcherzeugnissen aus der Gemeinschaft kann beim gegenwärtigen Stand der EG- und internationalen Marktentwicklung nicht verzichtet werden, weil die vom Rat beschlossenen Maßnahmen auf eine allmähliche Anpassung von Produktion und Verbrauch ausgerichtet sind. Eingriffe mit abrupter Wirkung würden zu Marktzusammenbrüchen mit volkswirtschaftlich inakzeptablen Folgen führen; sie wären im übrigen zwischen den Mitgliedstaaten nicht konsensfähig. Ein behutsames Vorgehen erscheint auch deshalb geboten, weil sich auf dem Markt für Milcherzeugnisse eine positive Entwicklung der Absatzmöglichkeiten abzeichnet. Abgesehen davon stellen Ausfuhren von Milcherzeugnissen in Drittländer für mehrere EG-Mitgliedstaaten mit bedeutender Milchproduktion - vor allem Frankreich, Irland, Niederlande und Dänemark - einen traditionellen Teil ihres Außenhandels dar, auf den diese Länder aus zahlungsbilanzpolitischen Gründen nicht verzichten können und wollen. Der Export ist darüber hinaus die am wenigsten kostenaufwendige Form der Verwertung von auf dem EG-Binnenmarkt nicht absetzbaren Mengen an Milcherzeugnissen. Die Überschüsse bei Milch sind aber auch im Zusammenhang mit der auf Grund von GATT-Bindungen von Abgaben weitgehend freien Einfuhr beträchtlicher Mengen Substitute aus Drittländern zu sehen. Hier muß in der Europäischen Gemeinschaft eine Interessenabwägung erfolgen vor der Frage: „Was darf der EG-Agrarmarkt kosten?"

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage? - Bitte.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist nach Ihrer sehr langen Antwort davon auszugehen, daß in der Bundesrepublik keine Überproduktion an Milch - gemessen an dem, was man an Bedarf zu erwarten hat - stattfindet, daß dies also nur in anderen Ländern passiert?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, Sie können nicht davon ausgehen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland keine Überschußproduktion an Milch haben, aber die von mir genannten Länder haParl. Staatssekretär Gallus ben eine wesentlich stärkere Überproduktion als die Bundesrepublik Deutschland.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Noch eine Zusatzfrage, bitte.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann man davon ausgehen, daß die Bundesregierung alles tun wird, um letzten Endes eine bedarfsgerechte Produktion innerhalb der europäischen Agrargemeinschaft anzustreben, daß sie also dafür sorgen wird, daß nicht am Bedarf vorbei produziert wird?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, davon können Sie ausgehen. Nur müssen wir beachten, daß der Konsens in der Gemeinschaft erhalten bleibt, und die Auffassungen in bezug auf Überschußproduktion sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Staat, der am stärksten danach strebt, ausgeglichene Märkte in der EG zu haben. Andere Staaten sind entgegengesetzter Auffassung. wie Sie auch meiner Antwort entnehmen konnten; sie sehen nämlich in der Agrarproduktion für den Export eine wichtige volkswirtschaftliche Maßnahme, um ihre Handelsbilanz auszugleichen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauter ({0}).

Franz Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, könnten Sie dem Hohen Hause mitteilen, wie hoch derzeit die Vorräte an Magermilchpulver und an Butter in der Europäischen Gemeinschaft sind und ob dann, wenn nicht eine entsprechende Vorratspolitik betrieben würde, Hilfe für die Dritte Welt und vor allen Dingen für die notleidende Bevölkerung in Polen nicht möglich wäre?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, Tatsache ist, daß wir zur Zeit sehr niedrige Bestände bei Butter und Magermilchpulver haben. Es ist auch Tatsache, daß diese Bestände laufend dadurch vermindert werden, daß wir allein von der Bundesrepublik Deutschland bis Ostern 20 000 Tonnen Butter in die Volksrepublik Polen geliefert haben werden. Tatsache ist aber auch, daß im letzten Jahr gewaltige Mengen - die Zahlen sind ja hier angeklungen - an Milchprodukten exportiert worden sind, die natürlich entsprechende Ausgleichszahlungen erfordert haben, in bezug auf die Menge allerdings bei weitem nicht so hoch wie früher, weil der Weltmarktpreis für Milchprodukte rundherum gestiegen ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, würden Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß der Export von Milchprodukten Hunderttausende von Kindern vor dem Verhungern bewahrt hat, so daß es eigentlich niemanden mit sozialem Gewissen geben dürfte, der gegen eine Agrarproduktion ist?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, ich kann Ihnen bestätigen, daß natürlich insbesondere dadurch, daß die EG 150 000 Tonnen Magermilchpulver an Entwicklungsländer verschenkt, viel Gutes erreicht wird. Aber diese Tatsache allein rechtfertigt natürlich keine Überschußproduktion an Milch in Europa, die weit darüber hinausgeht.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.

Klaus Thüsing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002322, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, noch einmal klarzustellen, daß die nun erwähnten geringen Mengen, die eingelagert sind, wesentlich damit zu tun haben, daß so stark exportiert wurde, und daß die Ursache nicht darin liegt, daß weniger produziert wurde?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, ich bestätige gern, daß die Realität die ist, daß kaum in einem Jahr so viel Milchprodukte aus der EG an Drittländer exportiert worden sind wie im vergangenen Jahr. Ich muß allerdings der Realität entsprechend hinzufügen, daß der Export an Milchprodukten in die OPEC-Länder sich gerade im letzten Jahr sehr positiv entwickelt hat. Es hat den Anschein, als ob in Zukunft auf eine ganz natürliche Weise noch mehr Milchprodukte abgesetzt werden könnten, nachdem sich jetzt in diesen Ländern die entsprechenden Verzehrsgewohnheiten entwickelt haben, seit dort das entsprechende Geld vorhanden ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 54 des Herrn Abgeordneten Sauter ({0}) auf: Beabsichtigt die Bundesregierung, im Verlauf dieser Legislaturperiode der Landwirtschaft weitere Belastungen durch Beitragserhöhungen oder Zuschußkürzungen im Bereich des agrarsozialen Sicherungssystems aufzuerlegen, gegebenenfalls welche und in welcher Höhe?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Präsident, ich würde gern die beiden Fragen gemeinsam beantworten, wenn der Herr Fragesteller damit einverstanden ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Einverstanden. Ich rufe auch die Frage 55 des Herrn Abgeordneten Sauter ({0}) auf: Wie hoch ist der Eigenanteil der Landwirtschaft am agrarsozialen Sicherungssystem in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Partnerländern in der EG?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, Beitragserhöhungen im Rahmen der sozialen Sicherung resultieren in allen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung aus einer Erweiterung des Leistungsumfanges oder allgemeinen Kostensteigerungen. Dies gilt auch für die agrarsoziale Sicherung. Mit Einführung des Zweiten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes im Juli letzten Jahres wurde die wesentliche im agrarsozialen Sicherungssystem noch bestehende Lücke geschlossen. Ziel der Bundesregierung ist es, die Belastung der Landwirte mit Beiträgen im Rahmen des agrarsozialen Sicherungssystems stärker nach der Leistungsfähigkeit der Betriebe auszurichten. Mein Haus hat Vorschläge zur Entlastung einkommensschwächerer Betriebe unterbreitet. Bundesminister Ertl hat in seiner Einbringungsrede zum Agrarbericht 1981 an die Verbände, die po1644 litischen Parteien und den Berufsstand appelliert, gemeinsam eine konstruktive Lösung zu finden. Die sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind im Hinblick auf den Leistungskatalog, den versicherten Personenkreis sowie die Art der Finanzierung sehr unterschiedlich gestaltet. Ein direkter Vergleich ist nur für die Mitgliedstaaten möglich, die über ein spezifisches agrarsoziales Sicherungssystem verfügen; im wesentlichen sind dies Italien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland. Nach einer vergleichenden Studie, die 1980 in der Schriftenreihe meines Hauses, „LAW", Heft 238, veröffentlicht wurde, trugen 1977 die Landwirte in Italien 12 v. H., in Frankreich 15 v. H. und in der Bundesrepublik Deutschland etwa 45 v. H. der Ausgaben ihrer sozialen Sicherung selbst. Daten der EG-Kommission ist zu entnehmen, daß in Ländern ohne sektorspezifisches System dieser Anteil wesentlich höher liegt und z. B. in den Niederlanden 90 % erreicht. Hinsichtlich ihrer Beitragsbelastung zur sozialen Sicherung nehmen die Landwirte der Bundesrepublik Deutschland also eine mittlere Position ein.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Franz Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nachdem Ihre Antwort allgemein ausgefallen ist, darf ich etwas konkreter nachfragen: Ist vorgesehen, im Verlauf dieser Legislaturperiode die Beiträge der Bundesregierung für die Unfallversicherung einzufrieren, und ist weiter vorgesehen, die Zuschüsse der Bundesregierung zur landwirtschaftlichen Alterskasse einzufrieren bzw. zu reduzieren, und kommen hier zusätzliche Belastungen auf die Landwirte zu und gegebenenfalls in welcher Höhe?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, zunächst einmal zum ersten Teil Ihrer Frage, ob die Beiträge zur Berufsgenossenschaft eingefroren werden sollen: Das ist nicht die Absicht der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat keine gesetzliche Verpflichtung in bezug auf den Zuschußbedarf der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Die 400 Millionen DM, die im Haushalt ausgebracht sind, auch für das laufende Haushaltsjahr, sind eine freiwillige Leistung. Nachdem ich weiß, daß die Kosten im Gesundheitsbereich insbesondere durch Betriebsunfälle steigen, ist die Realität so, daß die Beiträge der Landwirte steigen werden. Die zweite Frage kann ich nur dahin gehend beantworten, daß die Beiträge zur Alterskasse von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden und jedes Jahr etwas angehoben werden müssen. In Ihrer Frage steckte vielleicht auch noch ein Bezug auf die jetzt erst vom Kabinett verabschiedete Gesetzesvorlage eines Rentenanpassungsgesetzes 1982. Darüber, ob hieraus weitere Belastungen auf die Landwirtschaft zukommen, gebe ich Ihnen, wenn Sie das wollen, auch sehr gerne Bescheid.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Darf ich eine Bemerkung machen. Wir haben die letzte Fragestunde vor der Osterpause. Wir haben 20 Fragen, die zu behandeln sind. Wir haben bei den ersten Fragen jetzt bereits 17 Minuten verbraucht. Ich bitte beide Seiten des Hauses, sich doch so kurz zu fassen, daß auch die anderen Kollegen heute noch mit ihren Fragen zum Zuge kommen. ({0}) Eine Zusatzfrage, bitte.

Franz Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde mich bemühen, Herr Präsident. Herr Staatssekretär, ich möchte jetzt noch einmal konkret wissen, wie hoch die zusätzlichen Belastungen für die Landwirtschaft sind, die über die Beiträge zur Altershilfe im Verlauf der nächsten vier Jahre auf sie zukommen. Dazu haben Sie keine Antwort gegeben.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, das kann ich auch nicht sagen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, bitte.

Franz Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zur zweiten Frage, die ich gestellt habe, möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir der Auffassung sind, daß in der Bundesrepublik Deutschland und teilweise auch in diesem Hause falsche Vorstellungen bestehen über den Anteil, den die Landwirtschaft im agrarsozialen Sicherungssystem zu leisten hat, und teilen Sie nicht meine Auffassung, daß von Ihrem Hause aus etwas mehr getan werden müßte, um hier eine objektive Aufklärung der Bevölkerung draußen im Lande und gelegentlich auch in diesem Hause vorzunehmen?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, wir sind jederzeit bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn entsprechende Fragen gestellt werden. Ich habe das heute getan, und ich nehme an, daß diese Zahl von 45 % deutlich macht, daß wir, was den Kostenanteil der Landwirte betrifft, im mittleren Bereich in Europa liegen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stutzer.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß außer dem, was Sie eben gesagt haben, keine weiteren Belastungen seitens des Bundes auf die Landwirtschaft zukommen werden?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Sie können nicht davon ausgehen, weil wir in den nächsten Jahren damit rechnen müssen, daß z. B. die Beiträge für die Alterskasse steigen und sich auch im Bereich der Berufsgenossenschaften höhere Kosten entwickeln.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie hier einmal erklären, wie das Beitrags-Rente-Verhältnis für Mitglieder in der gesetzlichen Altershilfe für Landwirte im Vergleich zu dem für Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung - beispielsKirschner weise im Vergleich zu dem eines dort selbständig Versicherten - ist?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, es ist sehr wohl so, daß in bezug auf die Altersversorgung der Landwirte der Staat bei den Beiträgen einen Anteil von rund 87 % der Dauergeldleistungen der Altershilfe zu tragen hat. Ich kenne allerdings nicht die Prozentsätze im übrigen Bereich der Altersversorgung im Rahmen der Rentenversicherung.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es ist immer von der Belastung der Landwirte durch das agrarsoziale System die Rede. Können Sie eigentlich bestätigen, daß man davon ausgehen kann, daß auf Grund der Gesetzgebung der letzten zehn Jahre das Verhältnis von Belastung zur Rente wesentlich günstiger geworden ist, als dies früher der Fall war, insbesondere auch deshalb, weil man davon ausgehen kann, daß die Neben- und Zuerwerbslandwirte in der Regel anderweitig schon eine Altersversorgung haben, und daß es gerade auf Grund dessen, was Sie vorher gesagt haben, wohl keine günstigere gesetzliche Altersversorgung als die Altershilfe für Landwirte gibt, und daß insbesondere dann j a wohl nicht von Belastungen gesprochen werden kann, wenn man das Einkommen der oberen Hälfte der Vollerwerbsbetriebe kennt?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Verehrter Herr Abgeordneter Kirschner, ich bitte Sie: Die Zusatzfragen können doch nicht ein ganzes Programm beinhalten, auf das die Bundesregierung natürlich wiederum sehr umfassend eingehen müßte. Diese Frage werden Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, jetzt hoffentlich nicht mündlich beantworten, sondern die Antwort vielmehr schriftlich nachreichen.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Präsident, ich will versuchen, es so kurz wie möglich zu machen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, ich bestätige Ihnen gerne: Die Weiterentwicklung der agrarsozialen Sicherung war ein Segen für die Landwirtschaft insgesamt. Zum zweiten ist es so, daß Sie sich die Antwort zum Teil selbst gegeben haben. Das Problem der Belastung liegt in der Differenziertheit der Einkommen der Vollerwerbsbetriebe begründet. Wir müssen in den nächsten Jahren eine Lösung anstreben, durch die der untere Bereich der Vollerwerbsbetriebe in bezug auf die sozialpolitischen Leistungen entlastet wird, während im oberen Bereich eine stärkere Belastung Platz greifen kann.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß der hohe Anteil der Staatsausgaben für die Alterssicherung der Landwirte vor allen Dingen daraus resultiert, daß die Landwirte einem außerordentlich starken Strukturaderlaß unterzogen wurden und daher alte Lasten von den jetzt noch praktizierenden Landwirten nicht voll getragen werden könnten?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Auch das ist ein Teil der Gesamtwahrheit.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Dr. Kunz ({0}) auf: Wie wird die Bundesregierung der Empfehlung der Wissenschaftler des Prognos-Instituts ({1}) entsprechen, daß alle Bundesministerien eine problemorientierte Politik zugunsten der schwach strukturierten ländlichen Räume betreiben und dabei auf die spezifischen Schwächen und Stärken der sehr unterschiedlichen ländlichen Räume eingehen sollten?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege Kunz, die Wissenschaftler des Prognos-Instituts haben auf die zur Zeit absehbaren Probleme aller Raumkategorien unseres Landes in Szenarien hingewiesen. Das Verdienst liegt darin, daß sie dabei die besonderen Probleme der schwach strukturierten ländlichen Räume aufzeigen. Es besteht danach die Gefahr, daß in den dünnbesiedelten ländlichen Gebieten auf Grund der sich abzeichnenden Entwicklungen Bevölkerungsuntergrenzen für bestimmte Infrastruktureinrichtungen unterschritten werden, die zu einer Verschlechterung der Lebenssituation der dort ansässigen Bevölkerung führen können. Die Bundesregierung wird die in der Studie aufgezeigte Entwicklung im Rahmen ihrer laufenden Raumbeobachtungen verfolgen und ihr Konzept umfassend im derzeit fortzuschreibenden Bundesraumordnungsprogramm darlegen. Dabei wird sie ihr Augenmerk nicht nur auf die Situation in den schwach strukturierten ländlichen Räumen lenken, sondern im Interesse einer ausgewogenen Raumentwicklung auf alle Räume.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Prof. Dr. Max Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001258, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, gibt es eine für alle Bundesministerien gültige und verbindliche problemorientierte, ich meine hier: regional spezifische Strategie zugunsten der schwach strukturierten Räume, insbesondere derer, die in diesem Gutachten in die dritte Kategorie eingestuft wurden, nämlich der ländlichen Räume ohne eigentliches Zentrum, wie das z. B. insbesondere für den Landkreis Tirschenreuth gilt, der durch eine außerordentliche Abwanderungs- und Entleerungsquote auffällt?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, dies ist im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe nicht nur eine Aufgabe des Bundes, sondern eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. In diesem Zusammenhang muß auf die derzeitige Situation der Mischfinanzierung, Gemeinschaftsaufgaben usw. gesehen werden, die nach dem Willen praktisch aller Bundesländer abgebaut werden sollen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage.

Prof. Dr. Max Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001258, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, was hat die Bundesregierung bisher schon getan, um gemeinsam mit den Ländern das zu tun, was in dem Gutachten angesprochen wird, nämlich im Dr. Kunz ({0}) Grunde genommen Leitbilder für eine neue Agrarstrukturpolitik für die ländlichen Räume zu entwikkeln?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, die Frage muß, ich sage es noch einmal, unter dem Vorbehalt gesehen werden, ob die Gemeinschaftsaufgabe so, wie sie bisher durchgeführt worden ist, auch in der Zukunft bestehen bleibt oder ob nicht wesentliche Aufgaben in bezug auf die Landwirtschaft in strukturschwachen Räumen voll auf die Bundesländer übergehen werden.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, bitte Herr Abgeordneter Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, haben Sie das Problem erkannt, daß durch die Kürzung der Gemeinschaftsaufgabe um 20 % und die damit erfolgte Zurücknahme der Neuinvestitionen um etwa 60 die Gesamtwirtschaft in den ländlichen Räumen empfindlich getroffen werden kann?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, Tatsache ist, daß die 20%ige Kürzung erhebliche Einschnitte bei den Investitionen verursacht. Die Frage ist nur, ob dies bei den allgemeinen Investitionen für den ländlichen Raum oder im einzelbetrieblichen Förderungsprogramm geschieht. Soweit es sich um das einzelbetriebliche Förderungsprogramm handelt, so daß nicht mehr in so hohem Ausmaß Kuh-und Schweineställe gebaut werden, kann ich das nur begrüßen, weil wir sowieso genügend Produktionskapazitäten in der Bundesrepublik Deutschland und übrigens auch in Europa haben. Eine andere Frage ist allerdings, inwieweit die allgemeine Förderung darunter leidet.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauter ({0}).

Franz Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß das Bekenntnis der Bundesregierung zu den ländlichen Regionen und zur Stärkung dieser Regionen reiner Verbalismus ist angesichts der Tatsache, daß durch die im Augenblick stattfindende Gesetzgebung eine zusätzliche schwere Belastung für die ländlichen Räume entsteht und das Leben in den ländlichen Räumen immer teurer und dadurch die Sogwirkung der Ballungsräume immer größer wird?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, zunächst einmal kann ich feststellen, daß die ländlichen Räume in der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den übrigen ländlichen Räumen Europas hervorragend dastehen. Daß durch die Beschlüsse dieses Hohen Hauses Probleme in bezug auf weitere Belastungen auftauchen können, verfolgt die Bundesregierung sehr aufmerksam.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Die Fragen 87 und 88 des Herrn Abgeordneten Hansen werden vom Fragesteller zurückgezogen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatsminister Dr. von Dohnanyi zur Verfügung. Ich rufe Frage 89 des Herrn Abgeordneten Dr. Pinger auf. - Abgeordneter Dr. Pinger ist nicht im Saal. Es wird, wie nach den Richtlinien für die Durchführung der Fragestunde vorgesehen, verfahren. Das gleiche gilt für Frage 90 des Herrn Abgeordneten Dr. Pinger. Ich rufe Frage 91 des Herrn Abgeordneten Thüsing auf: Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den zuletzt im „Guardian" vom 19. Februar 1981 gemeldeten Außerungen aus brasilianischen Generalstabs- und Geheimdienstkreisen über Atombombenpläne Argentiniens hinsichtlich des jüngsten Atomvertrags zwischen der Siemens-Kraftwerk-Union ({0}) und Argentinien? Bitte, Herr Staatsminister.

Not found (Gast)

Herr Kollege, die in Argentinien befindlichen Kernenergieanlagen werden von der IAEO kontrolliert. Zweck dieser Kontrolle ist, sicherzustellen, daß das Kernmaterial weder zur Herstellung von Kernwaffen oder anderen militärischen Zwecken noch zur Herstellung sonstiger Kernsprengkörper verwendet wird. Argentinien hat sich gegenüber der Bundesrepublik verpflichtet, Kernenergie ausschließlich für friedliche Zwecke zu verwenden. Diese uns gegenüber übernommene Verpflichtung ist übergreifender Art, d. h., sie bezieht sich nicht nur auf die deutsch-argentinische Zusammenarbeit im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie und Nichtverbreitung. Der Bundesregierung ist von der IAEO bisher keine Mitteilung zugegangen, die darauf schließen lassen könnte, daß Kernmaterial in Argentinien abgezweigt wird.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Klaus Thüsing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002322, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, wie erklärt sich die Bundesregierung den Umstand, daß der Zuschlag für den argentinischen Bauauftrag für einen Natururanreaktor an die KWU gegangen ist, obwohl der Preis um einige hundert Millionen über dem der kanadischen Konkurrenz gelegen hat, und andererseits die Erfahrungen mit dem Bau solcher Anlagen in Kanada mindestens ebenso groß sind?

Not found (Gast)

Es spricht für die Qualität des deutschen Angebots, Herr Kollege.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage.

Klaus Thüsing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002322, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, welche Schlüsse zieht die Bundesregierung angesichts der bisher installierten Atomanlagen in Argentinien aus der erklärten Absicht der argentinischen Militärregierung, sich die Option der Herstellung nuklearer Sprengkörper zu sichern?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich kann nur auf das zurückkommen, was ich zu Beginn gesagt habe. Es gibt einmal eine eindeutige Verpflichtung uns gegenüber, es gibt andererseits die Kontrolle durch die IAEO, und es gibt drittens keinen Hinweis darauf, daß diese Kontrolle nicht eingehalten wird.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfragen des Herrn Abgeordneten Jansen.

Prof. Günther Jansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, stimmt es, daß auf die weitergehenden „full scope safeguards", wie sie Washington und Ottawa gefordert haben, verzichtet wurde, um den KWU-Reaktor gegenüber dem kanadischen Angebot konkurrenzfähiger zu machen? Ist die Bundesregierung der Meldung im „Guardian" über die Äußerungen der IAEO nachgegangen, die die Meinung vertritt, daß der Verzicht auf weitergehende Überwachung nicht zu verantworten ist?

Not found (Gast)

Herr Kollege, mir ist von einer auf einen derartigen Vergleich gegründeten Entscheidung nichts bekannt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, für den Fall, daß sich die IAEO gegenüber der Bundesregierung äußern würde: Hätte das Auswirkungen auf das Exportverfahren bezüglich des Reaktors?

Not found (Gast)

Herr Kollege, in diesem Falle würde die Bundesregierung ganz sicher auf die vertraglich bestehenden Vereinbarungen zurückkommen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Frage 57 soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe Frage 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert auf: Welche Kürzungsabsichten im Sozialetat hat die Bundesregierung, und zu welchem Zeitpunkt sollen diese Maßnahmen wirksam werden?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Abgeordneter, wie der Bundesminister der Finanzen und der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bereits im Plenum des Deutschen Bundestages und an anderer Stelle im Zusammenhang mit haushalts- und konjunkturpolitischen Erörterungen erklärt haben, hat die Bundesregierung nicht die Absicht, Sozialleistungen abzubauen. Es wäre nicht nur sozialpolitisch, sondern auch volkswirtschaftlich falsch, Einschnitte in unser bewährtes Netz der sozialen Sicherung vorzunehmen. Dies würde den sozialen Frieden gefährden und zudem in konjukturell labiler Zeit rezessive Tendenzen verstärken.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Entschuldigung, ich muß noch etwas nachtragen. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Parlamentarische Staatssekretärin Fuchs zur Verfügung. Aber sie ist so bekannt, daß Sie sofort wußten, mit wem Sie es zu tun haben. ({0}) Eine Zusatzfrage, bitte!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich aus der Antwort schließen, daß die ebenso umfangreiche wie konkrete Berichterstattung in der Tages- und Wochenpresse der vergangenen Woche als gegenstandslos und unbegründet bezeichnet werden muß?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich habe nicht die gesamte Tagespresse der letzten Woche verfolgt. Sie müßten mir bitte genau sagen, welchen konkreten Artikel Sie meinen und auf welche speziellen Probleme dort eingegangen wird.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das gilt noch als zu der ersten Zusatzfrage gehörend.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich eine zweite Zusatzfrage stellen?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie beurteilen Sie dann in diesem Zusammenhang beispielsweise die umfangreiche Berichterstattung des „Spiegel" der vergangenen Woche, von der ein Finanzexperte der Koalition gesagt hat, sie sei keineswegs völlig aus der Luft gegriffen?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich wiederhole meine Antwort, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, Sozialleistungen abzubauen. Ich würde empfehlen, sich hierbei an die Vorlagen an das Parlament zu halten und nicht auf „Spiegel"-Berichterstattungen Bezug zu nehmen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen? - Doch, Herr Abgeordneter Stutzer, bitte!

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß Ihnen bei Ihrer Antwort die Äußerungen des Bundesfinanzministers nicht bekannt gewesen sind, oder sind Sie auch der Meinung, daß im Hinblick auf das Arbeitslosengeld keine sozialen Leistungen abgebaut werden, wenn sich Arbeitslose besser als ganzjährig Beschäftigte stehen?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich glaube, Sie verwechseln im Augenblick die Frage, ob wir Sozialleistungen abbauen, mit der Frage, ob wir ungerechtfertigte Inanspruchnahme von sozialen Leistungen verhindern wollen. Ich gebe Ihnen zu: Die Bundesregierung hat oft erklärt, daß wir die Frage Lohnsteuerjahresausgleich/Arbeitslosengeld klären wollen; aber dies ist für mich kein Abbau von Sozialleistungen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretär, ist mit dem, was hier unter Abbau und Beschränkung des Wild1648 wuchses bei den Sozialleistungen zu verstehen ist, nicht viel eher beispielsweise der in Konstanz bekanntgewordene Fall eines Arztes gemeint, der die Solidargemeinschaft in sehr rücksichtsloser Weise ausgenützt hat?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Sozialleistungen nicht ungerechtfertigt in Anspruch genommen werden dürfen, weil dies die Zielsetzung unseres sozialen Sicherungssystems in Frage stellt. Wir werden auch der von Ihnen aufgeworfenen Frage nachgehen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert auf: Wie beurteilt die Bundesregierung Überlegungen der Bundesanstalt für Arbeit, auf eine Verkleinerung des Kreises der Anspruchsberechtigten nach dem Schwerbehindertengesetz hinzuwirken, da nach Auffassung ihres Vizepräsidenten Helmut Minta die Liste der „ursprünglich sinnvollen sozialen Wohltaten" inzwischen die Chance der tatsächlich Bedürftigen schmälere und „sozusagen eine Behinderteninflation" ausgelöst habe?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, die Bundesanstalt für Arbeit hat dem Bundesarbeitsminister bisher keine Vorschläge und Überlegungen unterbreitet, den anspruchsberechtigten Kreis der Schwerbehinderten zu beschränken. Die Ausführungen von Herrn Minta stellen eine persönliche Meinungsäußerung dar, die die Bundesregierung nicht teilt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, darf daraus geschlossen werden, daß Sie im Unterschied nicht nur zu Herrn Minta, sondern ja auch einem großen Teil der kritischen Kommentatoren keinerlei Probleme in der Ausdehnung des Kreises derer sehen, die die Regelung des Schwerbehindertengesetzes für sich in Anspruch nehmen?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie haben ähnliche Fragen an meinen Kollegen Herrn Buschfort gestellt, der mehrmals in der Fragestunde, zuletzt am 12. Februar 1981, und auch mit Schreiben vom 20. März 1981 an die Mitglieder des Deutschen Bundestages auf diese Fragen eingegangen ist. Wir haben umfangreiche Papiere zu dieser Frage erstellt, aus denen deutlich wird, daß es sich hierbei um eine aufgebauschte Problematik handelt. Die Bundesregierung teilt daher die Auffassung nicht, daß man hier den Personenkreis einschränken sollte.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie erklärt sich, Frau Staatssekretärin, vor diesem Hintergrund die ebenfalls in der vorhin zitierten Beantwortung ähnlicher Fragen dokumentierte Absicht der Bundesregierung, trotz der gerade bestrittenen Probleme an eine Änderung des Schwerbehindertengesetzes heranzutreten?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich wiederhole, daß wir nicht die Absicht haben, im Schwerbehindertengesetz eine Einschränkung des Personenkreises vorzunehmen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß der Begriff „Behinderteninflation" eine Diskriminierung ist und daß erst das Schwerbehindertengesetz von 1974 überhaupt den Behinderten nicht mehr nach Ursache, sondern ausschließlich nach Schwere der Behinderung Leistungen zukommen läßt und daß dies vollkommen gerechtfertigt ist?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich stimme Ihrer Auffassung zu, Herr Abgeordneter.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 60 des Herrn Abgeordneten Stutzer auf: Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die Berechnung des Potentials der „Stillen Reserve", zu der nicht alle arbeitsfähigen, derzeit nicht erwerbstätigen Einwohner im Alter über 15 Jahren gehören, aus analytischen, prognostischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen unverzichtbar ist, und daß die Größenordnung der „Stillen Reserve" gegenwärtig etwa so zu veranschlagen ist, wie dies in den laufenden Veröffentlichungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit geschieht, nämlich mit rund 600 000 Personen? Wenn wir uns ein bißchen disziplinieren, bekommen wir die Fragen durch.

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Präsident! Ich würde gern die Fragen 60 und 61 gemeinsam beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Einverstanden? Stutzer ({0}): Gern.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich rufe auch die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Stutzer auf: Soll die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in enger Verbindung mit der Bevölkerungswissenschaft die theoretische und empirische Erforschung der Bestimmungsgründe des Erwerbsverhaltens, gegebenenfalls ergänzt durch eine regelmäßige Befragung der entmutigten Erwerbspersonen, etwa durch den Mikrozensus intensivieren, oder rät die Bundesregierung von solchen Versuchen im Hinblick auf die Problematik und den damit verbundenen Aufwand ab?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, die sogenannte „Stille Reserve" ist Bestandteil eines von Wissenschaftlern entwickelten Konzepts zur Berechnung eines Erwerbspersonenpotentials. Damit wird der Versuch gemacht, neben den Erwerbstätigen und den Arbeitslosen eine Personengruppe mit latenter Arbeitsbereitschaft zu definieren. Alle diese Versuche sind anfechtbar, wie ich Ihnen schon einmal mitgeteilt habe. Denn auf Grund der Vielzahl der auf das Erwerbsverhalten einwirkenden Faktoren wie Bildungsverhalten, Altersstruktur, Familienstand, Kinderzahl, Arbeitsbedingungen, Lohnhöhe, Familieneinkommen, Stellung der Frau in Beruf und Gesellschaft, Änderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen usw. ist eine präzise und unumstrittene Berechnung des Erwerbspersonenpotentials bisher nicht gelungen. Die Bundesregierung hält es nicht für sinnvoll, die „Stille Reserve" zur Grundlage arbeitsmarktpolitischer Entscheidungen zu machen. Sie kann auch die von Ihnen zitierte Größenordnung für die „Stille Reserve" nicht bestätigen. Für die Arbeitsmarktpolitik ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen maßgebend. Es ist davon auszugehen, daß jene Nicht-Erwerbstätigen, die an einer Arbeitsaufnahme ernsthaft interessiert sind, sich beim Arbeitsamt melden. Zu Ihrer zweiten Frage teile ich Ihnen mit, daß bereits die regelmäßigen Erhebungen im Mikrozensus zahlreiche Daten liefern, aus denen Rückschlüsse auf die Bestimmungsgründe des Erwerbsverhaltens gezogen werden können. Sie werden sowohl im Statistischen Bundesamt als auch von wissenschaftlichen Forschungsinstituten in diesem Sinne ausgewertet. Für eine aussagekräftige Eingrenzung eines eventuell vorhandenen latenten Erwerbspersonenpotentials müßte darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Informationen erhoben werden, was einen nicht zu unterschätzenden zusätzlichen Aufwand mit sich bringt. Da der Mikrozensus überwiegend durch die Länder finanziert wird, ist derzeit nicht abzusehen, ob es gelingt, den Fragenkatalog entsprechend zu erweitern. Darüber hinaus untersucht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit alle Problembereiche, deren Erforschung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Bundesanstalt notwendig ist. In diesem Forschungsrahmen des Instituts wurden und werden auch Arbeiten zum Erwerbsverhalten, insbesondere auf besondere Personengruppen bezogen, durchgeführt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, fundieren und stützen ökonometrische Berechnungen mit Hilfe von konjunkturellen Arbeitsmarktdaten und von Strukturvariablen des Angebots an Arbeitskräften die bisherigen IAB-Berechnungen, die Sie soeben erwähnt haben, nach der globalen peak-topeak-Methode, und sind sie geeignet, die „Stille Reserve" zu diaggregieren?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich wiederhole, daß ich nicht der Auffassung bin, daß die „Stille Reserve" für uns für die Arbeitsmarktpolitik von Bedeutung ist; denn die Menschen, die in unserem Lande arbeiten wollen und deswegen in die arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen einbezogen werden müssen, melden sich beim Arbeitsamt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage. Stutzer: ({0}): Frau Staatssekretärin, Sie haben meine Frage soeben nicht beantwortet. Ich muß unterstellen, daß Sie sich vor Beantwortung dieser Fragen mit der Potentialrechnung des von Ihnen gerade erwähnten Gutachtens des IAB - ich meine das Gutachten von Wolfgang Klauder - vertraut gemacht haben. Halten Sie diese Potentialrechnung für richtig, oder was lehnen Sie an dieser Rechnung ab?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Diese Frage kann ich Ihnen aus den eingangs genannten Gründen im Augenblick nicht beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Stutzer.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, ist die „Stille Reserve" nach Ihren Schätzungen gegenwärtig relativ zur registrierten Arbeitslosigkeit niedriger oder höher als während der Rezession 1975, und von welchen Zahlen gehen Sie bei der Beantwortung dieser Fragen aus?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich wiederhole es noch einmal, Herr Kollege: Die Frage der „Stillen Reserve" ist eine Größenordnung, die Wissenschaftler verwenden, um ein latentes Erwerbspotential zu ermitteln. Sie hat nichts mit der Frage zu tun, wie viele Menschen über die registrierte Arbeitslosigkeit hinaus im Augenblick Arbeit suchen. Deswegen ist die „Stille Reserve" im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik für die jetzt bestehenden Anstrengungen keine Größenordnung. Ich sage noch einmal, daß die Frage, wie die „Stille Reserve" zu bewerten ist, auch bei Wissenschaftlern sehr umstritten ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, nachdem Sie auch meine zweite Zusatzfrage nicht beantworten konnten, frage ich Sie: Von welcher Größenordnung der „Stillen Reserve" ist die Bundesregierung für 1981 bei der Berechnung des potentiellen Arbeitsvolumens, des Erwerbspersonenpotentials sowie des Arbeitszeitpotentials ausgegangen, und welche Differenzen würden sich hier ergeben, wenn bei diesen für eine vorausschauende Arbeitsmarktpolitik unverzichtbaren Berechnungen das Potential der „Stillen Reserve" nicht berücksichtigt würde?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich wiederhole es noch einmal: Die „Stille Reserve" ist eine von Wissenschaftlern ermittelte Größe, die aussagen soll, wieviel Erwerbspotential es gibt, welche latente Arbeitsbereitschaft es über die registrierten Arbeitslosen hinaus gibt. Die Bundesregierung wird diese „Stille Reserve" für ihre arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten nicht zugrunde legen können, weil sie davon ausgeht, daß sich jeder, der arbeiten will, beim Arbeitsamt meldet. Von diesen Personengruppen haben wir auszugehen, wenn wir uns für arbeitsmarktpolitische Bemühungen interessieren. Die „Stille Reserve" hat darüber hinaus nur für die Überlegung Bedeutung, welches Erwerbspersonenpotential für die Zukunft in anderem Zusammenhang zur Verfügung steht.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jansen.

Prof. Günther Jansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin Fuchs, würden Sie mir darin zustimmen, daß die Aufgabe jetzt darin besteht, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeit abzubauen und nicht über theoretische Fragen einer „Stillen Reserve" zu diskutieren?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Jansen, diese Frage steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Fragen des Fragestellers. Sie wird deshalb nicht zugelassen. Präsident Stücklen Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Herberholz auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß weder alle privaten noch alle öffentlichen Arbeitgeber ihre offenen Stellen dem Arbeitsamt melden, und erwägt der Bundesarbeitsminister, eine Rechtsverordnung nach § 9 des Arbeitsförderungsgesetzes ({0}) zu erlassen, damit alle Arbeitgeber ihre offenen Stellen den Arbeitsämtern melden?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich möchte die Fragen 62 und 63 gern zusammen beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte schön. Dann rufe ich auch die Frage 63 des Herrn Abgeordneten Herberholz auf: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß öffentliche Arbeitgeber, unabhängig von einer eventuellen Rechtsverordnung nach § 9 AFG, alle offenen Stellen dem Arbeitsamt melden sollten, um so ein „gutes Beispiel" zu geben, und ist sie bereit, auf die öffentlichen Arbeitgeber, die dem Bund unterstehen, dahin gehend einzuwirken?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, die Bundesregierung hält es zwar für wünschenswert, daß den Arbeitsämtern alle offenen Stellen gemeldet werden. Sie beabsichtigt jedoch nicht, durch Rechtsverordnung eine Meldepflicht für offene Stellen einzuführen. Der erforderliche Kontrollaufwand zur Durchsetzung der Meldepflicht stünde in keinem Verhältnis zu dem möglichen Gewinn an Übersicht über den Arbeitsmarkt und etwaigen zusätzlichen Vermittlungschancen. Ein Zwang zur Meldung offener Stellen und die möglicherweise notwendige Bußgeldbewehrung der Meldepflicht könnten der guten Zusammenarbeit zwischen Arbeitsämtern und Arbeitgebern eher abträglich sein. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Arbeitgeber auch bei ungünstiger Beschäftigungslage den Arbeitsämtern in erheblichem Umfang offene Stellen gemeldet haben. Die Bundesregierung hat allerdings ebenso wie die Bundesanstalt für Arbeit in der Vergangenheit mehrfach an die Arbeitgeber appelliert, alle offenen Arbeits- und Ausbildungsplätze zu melden. Diesem Ziel dienen auch die regelmäßigen Arbeitsmarktgespräche der Arbeitsämter und ihrer örtlichen Selbstverwaltungsorgane mit den am Arbeitsgeschehen beteiligten Gruppen. Im übrigen teilt sie die Auffassung, daß öffentliche Arbeitgeber mit gutem Beispiel vorangehen und alle offenen Stellen melden sollten. Die Bundesregierung wird wie in der Vergangenheit auf die dem Bund unterstehenden öffentlichen Arbeitgeber entsprechend einwirken.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Ralph Herberholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, trifft das zum Beispiel auch auf das Bundesministerium der Verteidigung, also auf die Bundeswehr, zu?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Es trifft auch da zu.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stutzer.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, wie hoch schätzt denn die Bundesregierung den derzeitigen tatsächlichen Arbeitskräftebedarf, unabhängig von den bei den Arbeitsämtern gemeldeten Stellen? Frau Fuchs, Pari. Staatssekretär: Diese Frage kann ich auf Anhieb nicht beantworten; das ist sehr schwierig. Wir stellen allerdings fest, daß die offenen Stellen - um auf die Frage zurückzukommen, die hier jetzt von Bedeutung ist - zunehmend auch von den Arbeitgebern dem Arbeitsamt gemeldet werden.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 64 des Herrn Abgeordneten Peter ({0}) auf: Welchen durchschnittlichen Bearbeitungszeitraum bei den Arbeitsämtern nehmen Anträge auf Unterhaltsgeld von Teilnehmern für Umschulungsmaßnahmen in Anspruch, die vorher Arbeitslosengeld bezogen haben?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Präsident, ich möchte die Fragen 64 und 65 gemeinsam beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr. - Ich rufe die Frage 65 des Herrn Abgeordneten Peter ({0}) auf: Sieht die Bundesregierung im Interesse der Teilnehmer und des Erfolgs der Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen Möglichkeiten, den Bearbeitungszeitraum zu verkürzen?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, über die durchschnittlichen Bearbeitungszeiten der Anträge auf Unterhaltsgeld in den von Ihnen genannten Fällen liegen keine statistischen Erhebungen vor. Die Weisungen des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit stellen jedoch grundsätzlich sicher, daß Bezieher von Arbeitslosengeld, die an einer beruflichen Bildungsmaßnahme teilnehmen und deshalb statt des Anspruchs auf Arbeitslosengeld Anspruch auf Unterhaltsgeld haben, zur Sicherung des Lebensunterhalts durchgehend finanzielle Leistungen erhalten. Soweit das Unterhaltsgeld nicht sofort bewilligt werden kann, wird das Arbeitslosengeld weitergezahlt. Sollten Ihnen in einem Einzelfall Probleme bekanntgeworden sein, bin ich gerne bereit, die Angelegenheit überprüfen zu lassen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stutzer.

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, ist Ihnen nicht bekannt, daß Arbeitsämter diese Berechnung durchgeführt haben?

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Welche Berechnung meinen Sie jetzt?

Hans Jürgen Stutzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hier, was eben gefragt wurde.

Anke Fuchs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000611

Ich wiederhole: Sie können nicht generell davon ausgehen, daß die Bearbeitung stets so lange dauert, wie es in der Frage unterstellt wird. Deshalb wiederhole ich auch mein Angebot: Wenn in einem Einzelfall Probleme aufgetreten sind, wollen wir dem Einzelfall gerne nachgehen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Penner zur Verfügung. Ich rufe die Frage 66 der Frau Abgeordneten Schmidt ({0}) auf: Welche Begründung haben die Arbeitsgerichte gehabt, die Befristung von Arbeitsverträgen für Ausschußvorsitzende der Prüfungsausschüsse für Wehrdienstverweigerung als unzulässig zu erklären?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Frau Kollegin Schmidt, gemäß Sonderregelung 2 y BAT dürfen Zeitangestellte nur angestellt werden, wenn hierfür sachliche oder in der Person des Angestellten liegende Gründe vorliegen. Bei den Zeitverträgen für Ausschußvorsitzende der Prüfungsausschüsse für Wehrdienstverweigerer ist das Bundesministerium der Verteidigung davon ausgegangen, daß sachliche Gründe für einen Zeitvertrag gegeben seien, weil erstens die Einstellung nur zur Aufarbeitung von Rückständen geschah, zweitens nicht abzusehen war, ob nach Zeitablauf die Zuständigkeit in KDV-Sachen auf ein anderes Bundesressort übergegangen sein würde und drittens nicht abzusehen war, ob nach Zeitablauf das Prüfungsverfahren vereinfacht worden wäre. Arbeitsgerichte und zwei Landesarbeitsgerichte haben diese Zeitverträge mit folgenden Begründungen für unzulässig erklärt: Die Arbeitsrückstände seien in der Vertragszeit vorhersehbar nicht aufzuarbeiten gewesen; beim Wechsel der Zuständigkeit auf ein anderes Ressort hätten die Zeitangestellten in diesen Geschäftsbereich versetzt werden können; die Auswirkungen einer Änderung der Prüfungsverfahren auf den Personalbedarf seien bei Vertragsabschluß nicht absehbar gewesen. Gegen die für das Bundesministerium der Verteidigung negativen Entscheidungen sind Rechtsmittel eingelegt worden; die Verfahren sind noch anhängig.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zusatzfrage, bitte.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, beabsichtigt das Verteidigungsministerium jetzt, in der Einstellungspraxis hier schon Änderungen herbeizuführen, oder stellt sich das Verteidigungsministerium auf den Standpunkt, daß diese Zeitbefristung nach wie vor zulässig ist?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Das Bundesministerium der Verteidigung hat durch die Tatsache, daß es Rechtsmittel eingelegt hat, zum Ausdruck gebracht, daß es gewillt ist, eine höchstrichterliche Entscheidung in dieser Frage herbeizuführen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 67 der Frau Abgeordneten Schmidt ({0}) auf: Trifft es zu, daß der Einspruch und die anschließende Klage eines zu einer Wehrübung einberufenen Vaters aus Bayreuth von seiten der Wehrverwaltung u. a. damit begründet und abgewiesen wurde, daß die Versorgung seines Kleinkindes in erster Linie Sache seiner berufstätigen Ehefrau sei?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Frau Kollegin Schmidt, nach meinen Feststellungen bezieht sich Ihre Frage auf einen Unteroffizier der Reserve, der für die Zeit vom 23. März bis 3. April 1981 zu einer Mobilmachungsübung einberufen wurde. Der Wehrpflichtige hatte seinen Widerspruch mit dem täglichen Arbeitsbeginn seiner berufstätigen Ehefrau begründet, der es ihr nicht erlaube, das Kind morgens in den Kindergarten zu bringen. Die Wehrbereichsverwaltung VI hat den Widerspruch unter Hinweis auf eine im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber mögliche Verlegung des Arbeitsbeginns zurückgewiesen und dabei auch die Sorgepflicht erwähnt, die in erster Linie bei der Mutter liege. Das Verwaltungsgericht Bayreuth hat diese Entscheidung bestätigt, da die Versorgung des Kindes für die Dauer der Wehrübung sichergestellt war.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, halten Sie die Begründung dieser Entscheidung, die von seiten der Wehrbereichsverwaltung gegeben worden ist, im Sinne der Gleichberechtigung der Frauen für richtig oder geben Sie mir zu, daß diese Begründung nicht so ganz richtig ist? ({0})

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Der Bundesminister der Verteidigung hat nicht die Absicht, das geltende Familienrecht zu ändern. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete Schmidt, Sie sprachen von der Gleichberechtigung der Frau. Sie meinten doch sicher die Gleichberechtigung von Mann und Frau?

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich meine, die Männer sind sozusagen schon gleichberechtigt, Herr Präsident.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang ähnliche Entscheidungen von Wehrbereichsverwaltungen, die Einsprüche von Einberufenen, die Kleinkinder versorgen müssen, unter Hinweis darauf ablehnen, daß sich eine berufstätige Ehefrau gegebenenfalls für den Zeitraum einer Wehrübung ihres Mannes von ihrem Dienst beurlauben lassen müsse, um in dieser Zeit die Kinder betreuen zu können?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Man müßte jeder einzelnen Entscheidung nachgehen, um eine zuverlässige Beurteilung zu treffen. Ich möchte es mir an dieser Stelle versagen, allgemein auf die Fragen zu antworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich rufe die Frage 68 des Herrn Abgeordneten Thüsing auf: Mit welchen Argumenten begegnet die Bundesregierung dem immer häufiger geäußerten Vorwurf, sie lasse es zu, daß durch den Bau von atomtechnischen Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland die Verteidigungsfähigkeit und -planung dieses Landes ad absurdum geführt werde?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Der Bundesminister der Verteidigung ist nach § 7 des Atomgesetzes beim Genehmigungsverfahren zum Bau von Kernkraftwerken beteiligt. Schon vorher wirkt er bei der Abstimmung von Raumordnungsplänen auch an Standortplanungen für Kraftwerke mit. Damit wird sichergestellt, daß die Belange der militärischen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland bereits bei der Planung von Kernkraftwerken berücksichtigt werden.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Klaus Thüsing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002322, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem der Bundessicherheitsrat bereits Anfang 1976 über die alarmierenden Ergebnisse einer Klausur unter Federführung des Innenministers über mögliche Beeinträchtigungen unserer militärischen Sicherheit durch Atomkraftwerke in Kenntnis gesetzt worden ist, frage ich Sie: Wird die Bundesregierung den zuständigen Parlamentsgremien und der Öffentlichkeit nun endlich sagen, zu welchen Schlußfolgerungen sie in dieser nationalen Sicherheitsfrage gekommen ist?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Herr Kollege, Sie zitieren aus einem Protokoll des Bundessicherheitsrats. Ich kann das, was Sie zitiert haben, weder dementieren noch bestätigen. Ich müßte mich sachkundig machen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jansen.

Prof. Günther Jansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Forderung eines beratenden Ausschusses des Forschungsministeriums aus dem Jahre 1975 nachgekommen, die Verträglichkeit der Errichtung zahlreicher Reaktoren mit unserer militärischen Strategie zu überprüfen, und, wenn ja, mit welchem Ergebnis?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Sie können davon ausgehen, daß das Bundesministerium der Verteidigung gerade die in diesem Zusammenhang auftretenden Probleme ganz sorgfältig prüft. Ihre konkrete Frage müßte ich Ihnen schriftlich beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, stimmt die Bundesregierung der Feststellung von Professor Carl Friedrich von Weizsäcker zu, der gesagt hat - ich zitiere -: „Die NATO ist nach ihrer jetzigen Planung genötigt, gegen einen großen konventionellen Angriff der Sowjets sofort mit taktischen Atomwaffen zu antworten."?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Herr Präsident, ich glaube nicht, daß diese Frage in unmittelbarem Zusammenhang zu der eingebrachten Frage steht. Ich will sie gleichwohl beantworten. Professor von Weizsäcker hat sicherlich schon sehr viel Beachtenswertes gesagt. Ob seine Überlegungen zur Strategie der NATO in diesem Fall zutreffen, möchte ich offenlassen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.

Klaus Thüsing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002322, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Um es vor dem Hintergrund der Frage etwas deutlicher zu machen: Herr Staatssekretär, welchen Schluß zieht die Bundesregierung aus der Erkenntnis der britischen Royal Commission über Umweltgefahren von 1976, daß weite Gebiete Zentraleuropas auch heute noch wegen der Bodenverseuchung mit Cäsium unbewohnbar wären, hätten wir bereits im Zweiten Weltkrieg Atomkraftwerke gehabt, die dann durch konventionelle Waffen zerstört worden wären?

Dr. Willfried Penner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001688

Es ist sicherlich richtig, daß die Massenvernichtungswaffen eine sehr ernste Bedrohung darstellen. Aber es ist ebenso richtig, daß gerade diese furchtbaren Waffen zumindest den Zustand auch haben mit bewahren helfen, den man vielleicht als krieglosen Zustand bezeichnen kann. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Zusatzfragen. Die Fragen 69 des Abgeordeten Biehle sowie die Fragen 70 und 71 des Abgeordeten Dr. Jentsch ({0}) werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Zander zur Verfügung. Die Fragen 72 und 73 des Abgeordneten Gilges, die Fragen 74 und 75 der Abgeordenten Frau Will-Feld und die Fragen 76 und 77 der Abgeordneten Frau Dr. Lepsius werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Lambinus auf: Hat die Bundesregierung konkrete Bemühungen zum Schutz des Bocksbeutels unternommen, oder stimmt der Vorwurf des bayerischen Ministerpräsidenten, daß die Bundesregierung den Bocksbeutel fallengelassen und auf EG-Ebene „in der Verteidigung legitimer deutscher Interessen" das Feld „kampflos und vorschnell" geräumt habe?

Karl Fred Zander (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002581

Herr Abgeordneter, die Vorwürfe des bayerischen Ministerpräsidenten sind unbegründet. Sie überraschen um so mehr, als er - insbesondere durch den in den vergangenen zwei Jahren mit der Bundesregierung geführten Schriftwechsel - laufend und ausführlich über die Bemühungen der Bundesregierung und den gegenwärtigen Verhandlungsstand unterrichtet ist. Schon 1974 ist in die Verordnung des Rates über die Bezeichnung und Aufmachung der Weine und der Traubenmoste eine Ermächtigung an die EG-Kommission aufgenommen worden, bestimmte BeParl. Staatssekretär Zander hältnisformen für bestimmte Weine zu schützen. Bei der Verabschiedung der Verordnung hat der Rat ausdrücklich erklärt, daß diese Ermächtigung dazu dienen solle, Flaschenformen zu schützen, die sich - wie beim Bocksbeutel - zu einem mittelbaren Herkunftshinweis entwickelt haben. Dies war ebenso der Erfolg nachdrücklicher Bemühungen der Bundesregierung wie die dann 1975 von der Kommission im Entwurf ihrer Druchführungsverordnung vorgesehene Schutzvorschrift für den Bocksbeutel. Sie ist auf Betreiben der fränkischen Weinwirtschaftsverbände leider wieder gestrichen worden, weil diese meinten, eine weitergehende Regelung durchsetzen zu müssen. Die Bundesregierung hat danach die Besprechung in Würzburg am 3. September 1976 initiiert, bei der unter Beteiligung hoher Vertreter der EG-Kommission die Grundsätze für eine Schutzvorschrift im Gemeinschaftsrecht und für das weitere Vorgehen mit allen Beteiligten abgestimmt worden sind. Sie hat, weil die darauf eingeleiteten bilateralen Bemühungen mit Portugal nicht zu dem angestrebten Ergebnis geführt haben, nach erneuten Besprechungen mit allen Beteiligten im November 1980 sowohl die bilateralen Bemühungen mit Portugal fortgesetzt als auch einen Antrag an die EG-Kommission gerichtet, eine Schutzvorschrift für den Bocksbeutel in die Durchführungsverordnung aufzunehmen. Die Kommission hat auch einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Leider hat eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die 1975 das deutsche Anliegen noch unterstützt hatten, dem deutschen Antrag widersprochen, so daß die Kommission ihren Vorschlag zunächst zurückgezogen hat. Die Bundesregierung setzt ihre Bemühungen zur Durchsetzung der von ihr beantragten Schutzvorschrift fort. Sie wird hierzu sich bietende Gelegenheiten auf allen Ebenen der Europäischen Gemeinschaft wie auch bei bilateralen Kontakten nutzen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wenn Sie auf eine Zusatzfrage verzichten, kommen wir mit der letzten Frage noch durch.

Uwe Lambinus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001271, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hätte eine Frage.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte.

Uwe Lambinus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001271, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann ich auf Grund Ihrer Antwort davon ausgehen, daß der bayerische Ministerpräsident in einer Fragestunde des Bayerischen Landtags dem Bayerischen Landtag die Unwahrheit gesagt hat?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Lambinus, es steht der Bundesregierung nicht zu, sich hier über Äußerungen in einem anderen Parlament zu äußern. Die Frage wird nicht zugelassen. ({0}) Es geht nicht darum, um welches Land es sich gehandelt hat; dies gilt generell. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Sperling zur Verfügung. Die Frage 79 des Abgeordneten Dr. Jahn ({1}) und die Frage 82 des Abgeordneten Niegel werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Stockleben auf: Ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Entwicklung der Infrarotthermographie bereits so weit gediehen, daß ihr Einsatz bei der Effizienzkontrolle von Wärmedämmungsmaßnahmen an Gebäuden möglich ist, und wenn ja, in welchem Umfang findet ein solcher Einsatz bereits statt?

Dr. Dietrich Sperling (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002196

Herr Präsident, wegen des Sachzusammenhangs möchte ich die Fragen 80 und 81 zusammen beantworten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Da der Fragesteller damit einverstanden ist, rufe ich auch die Frage 81 des Herrn Abgeordneten Stockleben auf: Hält die Bundesregierung Anstrengungen für nützlich, die weitere Verbreitung der Infrarotthermographie zu diesem Zweck zu fördern, und wenn ja, welche Maßnahmen beabsichtigt sie?

Dr. Dietrich Sperling (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002196

Herr Kollege Stockleben, mit der Infrarotthermographie kann man qualitative Aussagen über Schwachstellen in der Gebäudehülle machen. Was die quantitativen Wärmeverluste angeht, so können sie mit dieser Technik nicht ohne weiteres festgestellt werden. Dazu sind komplizierte technische Berechnungen nötig. Folglich wird der Einsatz der Infrarotthermographie bis auf weiteres nur in solchen Fällen in Frage kommen, in denen diese aufwendige Technik wegen besonderer Umstände gerechtfertigt erscheint. Uns ist bekannt, daß einige Technische Überwachungsvereine über mobile Einrichtungen verfügen und mit diesen Thermomobilen Messungen durchführen. Auch einige Städte haben sich diese Thermographieeinrichtungen beschafft und setzen sie im Rahmen der Energieberatung ein.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Stockleben, wir sind in 20 Sekunden am Ende der Fragestunde. Sie muß genau eingehalten werden. Ich möchte aber gern noch den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft aufrufen. Da ist eine mündliche Beantwortung nicht erforderlich; denn die Fragen 84 des Abgeordneten Dr. Jahn ({0}) und 85 und 86 des Abgeordneten Daweke werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Eine einzige Zusatzfrage, bitte Herr Abgeordneter.

Adolf Stockleben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002255, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In dieser Situation verzichte ich auf eine Zusatzfrage, Herr Präsident.

Dr. Dietrich Sperling (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002196

Darf ich vielleicht noch kurz die Frage 83 zu beantworten versuchen, Herr Präsident?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich möchte die Zustimmung des Hauses haben. - Ich sehe keinen Widerspruch. Die Fragestunde wird um eine Frage verlängert. Ich rufe die Frage 83 des Abgeordneten Dr. Jens auf: Ist es richtig, daß mehrfach ein Anschluß der Fernwärmeleitung der Stadtwerke Bonn an das Bundeshaus durch die Bundesregierung abgelehnt wurde, obgleich eine entsprechende Leitung dort unmittelbar vorbeiführt, und ist die Bundesregierung bereit, dafür Sorge zu tragen, daß in Zukunft das „Hohe Haus" nicht mehr mit Öl, sondern mit Fernwärme beheizt wird?

Dr. Dietrich Sperling (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002196

Herr Kollege Jens, von den Gebäuden des Deutschen Bundestages sind das Neue Hochhaus, das Haus IV, das Gebäude der Parlamentarischen Gesellschaft und die Abgeordnetenwohnungen zwischen Saemischstraße und Heussallee an das Fernwärmenetz der Stadtwerke Bonn angeschlossen. Außerdem wird das angemietete Allianz-Hochhaus mit Fernwärme versorgt. Auf den Anschluß der übrigen Gebäude ist aus wirtschaftlichen Gründen und mit Rücksicht auf die geplanten Neu- und Umbaumaßnahmen im Einvernehmen mit der Verwaltung des Deutschen Bundestages bisher verzichtet worden. Nach einer im Jahr 1970 aufgestellten Wirtschaftlichkeitsberechnung lagen die Aufwendungen für den Betrieb und die Amortisation der Anschlußkosten bei Umstellung auf Fernwärme 30 % über den Aufwendungen der eigenen Ölheizung. Auf Grund der eingetretenen Ölverknappung und -verteuerung sollen nunmehr auch die restlichen Gebäude des Deutschen Bundestages an das Fernwärmenetz der Stadtwerke angeschlossen werden. Die hierzu erforderlichen Haushaltsmittel sind im Entwurf des Haushaltsplans 1981 eingestellt und vom Haushaltsausschuß anläßlich der Beratung des Einzelplans dieses Hauses bewilligt worden. Mit den Arbeiten soll im Oktober/November dieses Jahres begonnen werden.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine Zusatzfrage, bitte.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nach den bereits angeschlossenen Gebäuden hatte ich nicht gefragt. Aber können Sie mir bestätigen, daß auch die Kreuzbauten, die Ministerien an der Max-LöbnerStraße, ebenfalls noch nicht an das Fernwärmenetz angeschlossen sind, und werden Sie sich dafür einsetzen, daß diese möglichst bald ebenfalls angeschlossen werden?

Dr. Dietrich Sperling (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002196

Herr Kollege Jens, auch danach hatten Sie nicht gefragt. Ich werde Ihnen eine Antwort darüber zukommen lassen, wie es mit der Wärmeversorgung der Kreuzbauten und der Ministerien ansonsten aussieht.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wir sind am Ende der Fragestunde angelangt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, FDP Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" - Drucksache 9/310 Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Hauck.

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ankündigung der Koalitionsfraktionen, die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" zu beantragen, hat in der Öffentlichkeit ein vielfältiges Echo gefunden. Warum sich daraus sofort wieder ein Parteienstreit entwickeln mußte, die Opposition ihre alten und überholten Vorwürfe erhebt, von Verblendung, Verstocktheit und Halbherzigkeit spricht oder verbreitet, man wolle sich aus der Verantwortung schleichen, ist mir unverständlich. ({0}) Dieses Madigmachen, diese schrille Begleitmusik zum Start eines Vorhabens. das in der Sache notwendig ist und für das die Geschäftsordnung ausdrücklich das parlamentarische Instrument der Enquete-Kommission geschaffen hat, sind für mich mit die Ursachen, die bei einem Teil der jungen Generation den Eindruck entstehen lassen, daß der Parlamentarismus nicht mehr in der Lage ist, mit den Problemen der Gegenwart und der Zukunft fertigzuwerden. ({1}) Warum können wir eigentlich nicht bei einem solchen Anlaß zunächst einen Konsens finden? Schade, daß diese erste Chance vertan worden ist, aber vielleicht werden wir uns dann in der Arbeit zusammenfinden. Lassen Sie mich nun kurz darlegen, warum SPD und FDP diesen Antrag stellen. Der Protest junger Menschen beschäftigt gegenwärtig die Politik in fast allen Metropolen Europas, auch und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland. Besondere Sorge bereitet dabei die Tatsache, daß eine wachsende Anzahl Jugendlicher, die man weder den Kriminellen noch den Staatszerstörern zurechnen kann, ihren Protest auch durch Gewaltanwendungen zum Ausdruck bringt. Hinzu kommen eine verstärkte Hinwendung zu alternativen Lebensformen und zum Teil auch die resignative Abwendung von der Gesellschaft, die sich u. a. durch die Flucht in destruktive Jugendgemeinschaften und in die Alkohol- und Drogenszene dokumentiert. Für mich persönlich ist die Tatsache beunruhigend, daß zur Zeit ein politisches Klima entsteht, welches dazu führen kann, daß viele gleichgültige und passive junge Menschen früher oder später einmal rechten Verführern ausgeliefert werden. Da wir alle diese Probleme kennen, uns um ihre Lösung bemühen, aber keine Patentrezepte haben, ist es doch folgerichtig und legitim, daß sich der Gesetzgeber bemüht, Ursachen und Formen dieser Entwicklung zu untersuchen und sich durch die einzusetzende Kommission Entscheidungshilfen zu verschaffen. Dies ist übrigens auch die Überlegung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der Hauck noch als Justizminister - unser Augenmerk auf die Thesen der eidgenössischen Jugendkommission zu den Jugendunruhen 1980 gelenkt und die Frage aufgeworfen hat, ob es denn keine Möglichkeit gibt, im Parlament eigene Untersuchungen anzustellen. So hat Hans-Jochen Vogel an dieser Initiative einen großen Anteil, und wir sind ihm dafür dankbar. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser Stelle kommt nun der berechtigte Einwand, ob denn schon vorliegende Untersuchungen - Jugendberichte, Studien und dergleichen - mit dem Ziel, Entwicklungen vorherzusehen und Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, ausgewertet wurden. Das ist eine zentrale Frage, und ich will versuchen, eine ehrliche Antwort zu geben. Am 30. April 1968 fand nach den Studentenunruhen des Frühjahrs eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages statt, und es wurde über die innenpolitische Situation nach dem Tod von Benno Ohnesorg, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und nach den Gewaltanwendungen, die sich an Universitäten ereignet hatten, gesprochen. Es wäre interessant, diese Debatte noch einmal nachzulesen; sie gibt wertvolle Hinweise. Der damalige Innenminister Benda sprach von einer Eskalation des Irrsinns und forderte die Parteien auf, alles zu tun, damit dieser Irrweg nicht fortgesetzt wird. Er sprach davon, jeder Staatsbürger, jede politische und soziale Gruppe sei berechtigt, ja sogar verpflichtet, wirkliche oder vermeintliche Mißstände anzusprechen. Er forderte die freimütige Diskussion, und er stellte die kämpferische demokratische Auseinandersetzung vor polizeiliche Maßnahmen. Eine Woche später, am 7. Mai 1968, wurde im Bundestag die Debatte fortgesetzt, und dann stand Bildungspolitik im Mittelpunkt. Von da an wurde die Unruhe der jungen Generation mit den Themen „Studenten", „Hochschulen" und „Bildung" gleichgesetzt, was u. a. dadurch belegt wird, daß fast alle Untersuchungen bis Ende der 70er Jahre nur die Situation der akademischen Jugend beleuchten. Ich sage freimütig auch in die eigene Richtung, daß allgemeine Kinder- und Jugendprobleme nicht ausreichend behandelt wurden, was die Förderung z. B. der außerschulischen Jugendbildung, der Freizeiteinrichtungen, der Beratungsdienste usw. anlangt, auch in der Zeit der Hochkonjunktur und der vollen Kassen, ({3}) wenn auch zugegebenermaßen viel getan worden ist. Die Berichte und Diskussionen wurden immer nur von den Fraktionsexperten gelesen, und viele Vorschläge waren schon in den Fraktionen nicht mehrheitsfähig. So wurde z. B. der ausgezeichnete Bericht der Nationalen Kommission für das Internationale Jahr des Kindes nur ein Nachschlagewerk für eine interessierte Fachminderheit und kein Aufgaben- und Handlungskatalog für kinder-, jugend- und familienfreundliche Politik auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens. Als wir dann schon einmal parlamentarisch so weit waren, das fast 60 Jahre alte Jugendwohlfahrtsgesetz durch ein schon mit Kompromiß beladenes neues Jugendhilfegesetz zu ersetzen, hat es die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat aus ideologischen Gründen scheitern lassen. Nun zu behaupten, die Bundesregierung habe das Scheitern durch Verstocktheit verursacht, ist schon, sehr geehrter Herr Kroll-Schlüter, eine Infamie ({4}) und schmerzt genauso wie Ihre falsche Behauptung von 1980, wir wollten durch das Jugendhilfegesetz den totalen Erziehungssstaat installieren. ({5}) Aber dies ist nur die eine Seite. Viele meiner Freunde und ich erwarten vom Kommissionsbericht eine Standortbestimmung der Jugendsituation 1981/ 82. Deshalb sind die Termine so knapp bemessen. Der Zwischenbericht soll am 31. 12. 1981 und der Schlußbericht am 30.6. 1982 vorgelegt werden. Dabei interessiert mich neben der Protestsituation, zu der meine Kollegen Egert und Schröder noch sprechen werden, die oft gestellte Frage: Verläßt die Jugend unsere Gesellschaft? Die Jugend - das sind 14,7 Millionen junge Menschen zwischen 11 und 25 Jahren. Ich bin von Beruf Sozialarbeiter, war früher Leiter eines Jugendamtes und weiß, daß jedes Einzelschicksal sein eigenes Gewicht, seinen persönlichen Schmerz und seine beklemmende Tragik hat. Wir müssen dies berücksichtigen. Als Politiker bin ich aber auch für das Gemeinwohl und für den Teil des Enquete-Auftrages mitverantwortlich, der lautet, zu untersuchen, „welche Wege möglich und notwendig sind, um die Lage der Jugend zu verbessern, um Spannungen abzubauen, die auf unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebenseinstellungen beruhen". Ich will also wissen, ob meine verneinende Antwort auf die Frage, ob die Jugend unsere Gesellschaft verläßt, ({6}) richtig ist, oder ob ich als „alternder Romantiker" das positive Engagement Millionen junger Menschen für unsere Gemeinschaft falsch einschätze. Auch diese Frage soll untersucht werden. ({7}) Ich will wissen, ob Millionen junger Sportler weniger Beachtung verdienen als ein paar tausend randalierender junger Fußballfans, die nach einer Niederlage Autos demolieren, ({8}) ob Hunderttausende im Rettungswesen, in Jugendfeuerwehren und Sozialeinrichtungen tätige Jugendliche mehr Gewicht haben als Hunderte von Gewalttätern, ob Hunderttausende von bildungsbereiten Jugendgruppenleitern mehr demokratische Substanz hinterlassen als ein paar tausend militan1656 ter - ich unterstreiche militanter - Demonstranten. ({9}) Auch das muß untersucht werden. Ich will dies wissen. Vielleicht werden dann auch unsere öffentlich-rechtlichen Medien angeregt, bei Berichterstattungen ihre Prioritäten etwas anders zu setzen. ({10}) Um nicht mißverstanden zu werden: mir bereitet die zunehmende Gewalttätigkeit ernste Sorge. Das gleiche gilt für die Rand- und Aussteigergruppen. Unser Gemeinwesen muß also auf allen Ebenen alle Anstrengungen unternehmen, um diesen Gruppierungen, die bei 14,7 Millionen Minderheiten sind, bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Das gleiche gilt für die Gemeinschaft. Hier meine ich Elternhaus, Schule, Beruf, Kirche und andere, die mehr Verständnis, Geduld und Einfühlungsvermögen aufbringen müssen, um jungen Menschen Gehör zu schenken, mit ihnen zu sprechen und von der Abkehr abzuhalten. Weil dies so schwierig ist, weil alte Rezepte oft nicht mehr helfen, weil wir in dieser Hoch-Leistungsgesellschaft keine Zeit mehr haben, tun sich Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft oft so furchtbar schwer. Deshalb wird von allen Seiten dramatisch diskutiert, aber nur lasch und zögernd, wenn überhaupt, gehandelt. Deshalb werden die Symptome in den Mittelpunkt gestellt - weil man zu den Wurzeln, den Ursachen, dann nicht vorzudringen braucht. ({11}) - Ich weiß, dies klingt bitter; es ist aber leider so, und ich könnte hier viele Einzelbeispiele bringen. Nun werden Sie bestimmt wissen wollen, was mich am meisten an der derzeitigen Jugendsituation beunruhigt. Mich beunruhigt, daß eine sich schweigend anpassende, zum Duckmäusertum neigende Jugend in unsere Gesellschaft hineinwächst. ({12}) - Nein, das ist keine Beleidigung. - Man muß doch einmal darüber nachdenken, was es bedeutet, das nach der letzten Shell-Umfrage die Mehrheit der jungen Menschen zwischen 17 und 29 Jahren vom Nutzen der freien Meinungsäußerung überzeugt ist, aber dann fast jeder zweite - nämlich 43% - angibt, daß er es nicht für günstig hält, in Schule und Beruf zu sagen, was man denkt, weil man dadurch Nachteile erleidet. ({13}) Und das ist doch ein schwerwiegendes Ergebnis. Ich will wissen, ob dies bestätigt werden kann. Das soll untersucht werden, weil andere Wissenschaftler zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen. So kann meines Erachtens auch das Bild von schrecklichen, gewalttätigen Demonstrationen nicht darüber hinwegtäuschen: Diese junge Generation von heute ist keine rebellische, hat keine rebellische Einstellung, sondern ist tendenziell konservativ und resignativ. ({14}) - Ich sage beides. Man muß es untersuchen. Wie das dann gewertet wird, wird sich zeigen; das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Die Kommission wird untersuchen müssen, ob aus der skeptischen jungen Generation der 50er Jahre, der unruhigen Jugend der 60er Jahre, der selbstbewußten, auf Veränderung drängenden Generation der 70er Jahre die angepaßte, resignierende junge Generation Anfang der 80er Jahre geworden ist. Das ist ein Auftrag. ({15}) Wenn man es insgesamt betrachtet, scheint dies zu stimmen, und man könnte die jeweiligen Rand- und Aussteigergruppen als Extreme des Gesamtspektrums betrachten, z. B. linke und rechte Gewalttäter, politisch Extreme, resigniert in den Freitod, in die Alkohol- und Drogenszene und in destruktive Jugendsekten Fliehende. Kann sich unsere Gesellschaft damit abfinden? Wir alle sagen hier: nein. Da aber die Situation der jungen Generation meistens die Reflexion der Erwachsenenwelt ist, muß die Gesellschaft insgesamt reagieren. Die Gesellschaft muß sich wandeln. Da müssen wir mehr hinhorchen, nachdenken, Fehler eingestehen und darüber sprechen, was die Jugend bedrückt. Und ich, der ich ein sogenannter Jugendpolitiker bin, sage ganz offen: mit jugend-, familien- und bildungspolitischen Programmen allein reißt man die Jugend nicht mit, sondern nur mit dem Bemühen, sie gleichberechtigt und verständnisvoll in unsere Gesellschaft, in die Familie, die Gemeinde, die Kirche, die Gewerkschaft und alle anderen Institutionen zu integrieren, sie mitdenken, mitreden, mitgestalten und mitentscheiden zu lassen. ({16}) Meine Damen und Herren, diese Jugend hat dieselben Wünsche wie wir in der Gesamtgesellschaft. Das zeigt die Shell-Umfrage auch. Es sprachen sich aus für: persönliche Freiheit 85 %, einen befriedigenden Beruf 80 %, die freie Wahl des Arbeitsplatzes 67 %, Familiengründung 65 %, gesellschaftliche Anerkennung 50 %. Die Jugend hat dieselben Sorgen wie wir alle, Sorgen über Verknappung der Energie und Rohstoffe, Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, fehlende Arbeits- und Ausbildungsplätze, Drogen- und Alkoholmißbrauch, Wohnraummangel, gesellschaftliche Verdrängung und Ungerechtigkeiten. Dies sind Punkte, die sich nur auf die persönliche Entwicklung junger Menschen beziehen. Und nun kommt es aber: Frieden und Entspannung, Rüstungskontrolle, Abrüstung, Hilfe für die Dritte Welt, Verständnis für Ausländer, Unterstützung benachteiligter Gruppen sind für junge Menschen oft noch vorrangiger als für die Erwachsenen, und junge Menschen stehen dafür oft noch engagierter ein. ({17}) Von daher muß man verstehen, daß diese jungen Menschen kein Verständnis haben für politische Unaufrichtigkeit, Affären verschiedenster Art, sogenannte Sachzwänge, unverständliche Kompromisse, Ellenbogen-Politik, Filzokratie, Parteiengezänk, Einschränkungen der Freiheitsrechte, um nur einige Beispiele zu nennen. Die junge Generation läßt sich auf Aussagen und Antworten allein nicht mehr ein. Sie will mehr. Sie verlangt einen verständnisvollen Dialog, ({18}) vor allem aber Tatkraft, Entscheidungsfreude und Verständnis für ihre Probleme. Wenn man heute feststellt, daß die Dialogfähigkeit oft schon verlorengegangen ist und Sprachlosigkeit Platz gegriffen hat, dann müssen wir Ursachen und Schuld auch bei uns selber suchen. Die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen kommt in ihren Thesen zu den Jugendunruhen 1980 zu folgender Analyse: Es trifft zu, daß radikale Minderheiten die Unruhen ausgelöst haben, aber die Probleme dieser Minderheiten sind nicht isoliert von den Problemen der Mehrheit. Gewalttätigkeit und Radikalität sind Folgen einer Isolation, unter der in unserer Gesellschaft sehr viele Menschen aller Generationen leiden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies bedeutet für mich, daß partnerschaftliches Zusammenwirken zwischen den Generationen dringend notwendig ist. ({19}) Der Generationenvertrag darf nicht nur für die Rentenversicherung gelten. ({20}) Mehr Verständnis für die Jugend einerseits und mehr Selbstbewußtsein der Jugend andererseits sind notwendig. Vom Staat und von den gesellschaftlichen Gruppen wird mehr Offenheit, Geradlinigkeit, Sauberkeit und Fairneß erwartet. Die Erwachsenen müssen erkennen, daß ihr Verhalten und ihr Beispiel auf die junge Generation reflektieren. Ich wiederhole noch einmal, was ich aus dem Buch von Klaus Mehnert „Jugend im Zeitbruch" schon einmal hier zitiert habe: Wir alle haben Neuland betreten, zum Teil nützen uns die Karten und Regeln von gestern nur wenig. Um in diesem Neuland einen Weg zu finden, bedarf es im Weltmaßstab gesehen der ordnenden Erfahrung der Alten ebenso wie des tabubrechenden Wagemuts der Jungen, ihres Ahnens und Drängens. Das führt zu der Schlußfolgerung, daß unsere Gesellschaft eine Chance hat, wenn wir der jungen Generation eine Chance geben. ({21}) Lassen Sie mich zum Antrag noch eine Schlußbemerkung machen. Wenn der Deutsche Bundestag mit der Einsetzung der Kommission ein Signal setzt, muß er sich darüber im klaren sein, daß er beim Vorliegen eines Ergebnisses auch glaubwürdig bleiben muß. ({22}) Das heißt, die jungen Menschen von heute brauchen am Ende keine neue Studie auf gedrucktem Papier, sondern politisches Handeln. ({23}) Wenn wir den Lebensbereich junger Menschen verbessern wollen, ist hierfür neben vielem anderem auch finanzielle Förderung notwendig. Ich möchte mit einem Zitat aus dem hessischen Wahlkampf schließen. In Frankfurt hat nach einer jugendpolitischen Diskussion mit kritischen Jugendlichen der ehemalige Frankfurter Jugendpfarrer Martin Jürgens sinngemäß folgendes gesagt: Jugendliche haben Schwierigkeiten, sie werden in Zukunft noch zunehmen. Wer dieser Herausforderung der kommenden Jahre einigermaßen gerecht werden will, muß Freizeiteinrichtungen schaffen, ausländische Jugendliche besonders unterstützen, Straßensozialarbeit - aber nicht als verlängerter Arm der Polizei - einführen und Selbsthilfegruppen und Initiativen fördern. Dies alles wird viel Geld kosten, aber es ist bestimmt billiger als alle späteren Folgekosten. ({24}) Ich hoffe, daß wir nach dem Vorliegen des Ergebnisses in diesem Sinne verantwortungsbewußt handeln können.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kroll-Schlüter.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In jedem Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gab es eine besondere Jugendbewegung: Hoher Meißner, die Jugendbewegten, die Bündische Jugend, die, wie Scheisky gesagt hat, skeptische Generation der 50er Jahre, die Protestbewegung der 60er Jahre, ({0}) die Jugend der emanzipatorischen Konfliktpädagogik der 70er Jahre. Was ist jetzt? Zunächst einmal ein Stück Ratlosigkeit. Jeden Tag können wir irgendwo lesen und hören: Es muß mit der Jugend gesprochen werden. Warum erst jetzt? fragen wir. Hier im Deutschen Bundestag haben wir über einen Antrag der SPD- und der FDP-Fraktion auf Einsetzung einer Enquete-Kommission zu befinden. Diese Einsetzung wird ja wohl aus Anlaß der jüngsten Jugendunruhen vorgeschlagen. Herr Hauck, wir stimmen zu, wir unterstützen, aber wir dürfen uns natürlich auch erlauben, diesen Vorgang mit kritischen Fragen zu begleiten. Ich darf einmal daran erinnern, was Sie gemacht, gesagt und wie Sie agiert haben, als es Ende der 60er Jahre Jugendunruhen gab, und daran, wie Sie sich damals gegenüber den Regierenden verhalten haben. Jetzt sollen wir in diesem Zusammenhang so tun, als hätte es keine zwölf Jahre sozialliberale Koalition gegeben. Das geht nicht. ({1}) Ich kann mich noch daran erinnern, daß dieser Tage der Landesminister Zöpel gesagt hat: Wir haben damals mitprotestiert, weil wir gegen einen CDU-Staat protestieren wollten. Wir sagen heute nicht, es gebe einen SPD/FDP-Staat. Wir stellen zunächst einmal - das sei uns gestattet - einige Fragen. Wir fragen zuerst: Brauchen wir eine Kommission, in der über Jugend gesprochen wird? ({2}) Sie haben gesagt, es müsse politisch gehandelt werden. Wir fragen: Sollen denn jetzt zwölf Persönlichkeiten allein die Grundlage dafür schaffen, daß nun wieder politisch gehandelt wird? Es ist seit Jahren an der Zeit, daß politisch gehandelt wird. ({3}) Wir setzen bei den Initiatoren des Antrages die besten Absichten und den guten Willen voraus. Wir unterstützen diesen Antrag und sind zur intensiven Mitarbeit in Sachlichkeit und Ruhe bereit. Wir erwarten einiges von dieser Kommission auch für unser politisches Handeln. Alle Bemühungen sind zu unterstützen, die die Jugend zu einer positiven Einstellung zu den Grundwerten von Staat und Gesellschaft bewegen. Aber muß es dazu eigens - wenn ich „Enquete" übersetzen darf - eine Befragungskommission des Deutschen Bundestages geben? - Wohl. Andererseits, Kommissionen hat es in den vergangenen Jahren genug gegeben. Es gibt in jeder Legislaturperiode einen Jugendbericht der Bundesregierung, wenn auch mit regelmäßiger Verspätung. Haben diese Berichte, Studien, Modelle und Programme der Bundesregierung der jungen Generation genützt? Es gibt ein Bundesjugendkuratorium, das die Bundesregierung in jugendpolitischen Fragen berät. Ich möchte dem Hohen Hause empfehlen, doch einmal diese Terrorstudie dieser Kommission zu lesen und mit diesem Auftrag in Verbindung zu bringen. Was in dieser Studie alles steht, ist eine einzige Beschimpfung dieser Gesellschaft. Sie sei schuld, und vor allem in ihr lägen die Wurzeln des Terrorismus. ({4}) Es gibt das deutsche Jugendinstitut. Welche den jungen Menschen dienenden Ergebnisse sind denn nun wirklich erzielt worden? Es ist zu viel geklagt, geschimpft, ideologisiert und kritisiert worden. Es sollte große jugendpolitische Reformen geben. Aber wie irreführend, sozialpoetisch und wirklichkeitsfremd ist die Diskussion um das Jugendhilfegesetz geführt worden! Noch vor vier Wochen habe ich mich mit Herrn Staatssekretär Zander in einer Diskussion darüber unterhalten dürfen und von ihm gehört: Wir bringen das alte Jugendhilfegesetz unverändert wieder ein. Wir sind sehr gespannt. Merken Sie denn nicht, welche großen Erwartungen Sie bis in die jüngsten Tage hinein immer wieder neu wecken und wie wenig Sie in der Lage sind, Ihre Ankündigungen und Versprechen in die Tat umzusetzen? ({5}) Mir scheint überhaupt der Kardinalfehler der vergangenen Jahre gewesen zu sein, daß hohe Erwartungen geweckt, aber nicht erfüllt wurden. Die Bürger sind enttäuscht, gerade und auch die junge Generation. Sie haben wenige, zu wenige Zukunftserwartungen. Sie können kaum erkennen, wie sie ihre Lebenschancen verwirklichen können. Es ist schwer für junge Menschen, klar formulierte politische Ziele, zu denen Politiker auch stehen, zu erkennen. Politiker scheinen ihnen geschwätzig in den Tag hinein zu leben. Die Politik scheint ihnen zu sehr auf den Alltag fixiert zu sein; zu viel wenn und aber, zwar und dennoch, sowohl als auch. Der klare Standpunkt nach ausgiebiger Diskussion wird vermißt. Für viele junge Menschen erzeugt die gegenwärtige politische Führung ein geistiges Klima, in dem Stillstand als Erfolg und die Korrektur selbstverschuldeter Fehler als Politik ohne Alternative gilt. ({6}) Ich will einmal fragen: Was muß denn ein heute 20jähriger sagen, der zwölf Jahre gehört hat: Entspannung, Abrüstung und Friedenspolitik, und das Ganze ohne Alternative? Das hat er nun lange gehört. Jetzt hört er: Aufrüstung, Nachrüstung, Neutronenbombe, Waffenexport. Er muß sich in seinen guten Erwartungen getäuscht fühlen, bitter enttäuscht; denn der Friedenswille, der Wille, Grenzen zu überschreiten, der Wille, Informationen auszutauschen, ist enorm groß. Nur, diese Erwartungen, die er gern realisieren wollte, sind jetzt eingeengt, abgebrochen. Er ist verwirrt, bitter enttäuscht. Eine wichtige Aufgabe der Kommission wird die Beantwortung der Frage sein, wieweit wir es uns trotz notwendiger Diskussion erlauben dürfen, eine Kluft zwischen Wort und Tat entstehen zu lassen, in der der junge Mensch zerrieben wird, ({7}) gerade in der Außenpolitik. Da sagt der Herr Verheugen: Die Dritte Welt ist vollgepumpt mit Waffenexporten, und dieses Land tut kaum etwas, um den unterentwickelten Ländern zu helfen. ({8}) Woher hat der Mann die Legitimation dazu? Wo stimmt die Sache denn so, wie er es sagt? ({9}) Es mag zwar gefällig sein, vor bestimmten jungen Menschen so etwas zu sagen. Aber ich bitte doch, daran zu denken: Soll dadurch das Engagement zukünftiger Entwicklungshelfer herausgefordert werden? ({10}) Das ist unsere Sorge, die wir haben, die wir als Auftrag geben möchten. ({11}) In allem Ernst, meine sehr verehrten Damen und Herren, und wirklich ohne Polemik: Es ist eben eine verhängnisvolle Irreführung - ich ziele einmal auf die Außenpolitik ab -, wenn der Eindruck erweckt wird, die Union verteidigt den von dieser Regierung mitbeschlossenen Rüstungsbeschluß der NATO, während Sozialdemokraten und Freidemokraten mit bestimmten Gruppen zu Demonstrationen gegen denselben NATO-Beschluß aufrufen. Die Bürger werden verwirrt. Wir müssen doch deutlich machen: Wer für die NATO ist, ist für den Frieden, und nicht umgekehrt; ({12}) und wer für den Rechtsstaat ist, ist nicht für den Polizeistaat. ({13}) Was ist den jungen Menschen Ende der 60er, in den 70er Jahren nicht alles versprochen worden? Ich will das nicht alles wiederholen: Man fange mit der Demokratie erst an, die Vollbeschäftigung könne vom Staat garantiert werden, der Friede sei für immer gesichert, jetzt werde alles besser. Und was mußten sie erleben? - Schwierige Berufswahl, Arbeitslosigkeit, Angst vor der Zerstörung der Umwelt, Verwirrung durch die Diskussion um die Kernenergie, bürokratische Bevormundung. Es wird jetzt gesagt, daß die junge Generation in einer geistig-kulturellen Krise lebe, sich in ihr befinde. Immer stärker tritt die Frage nach dem Sinn des Daseins und des Lebens in den Vordergrund. Vieles führt zur vollen Verneinung aller bisherigen Ordnung. An ihre Stelle tritt nicht ein neuartiger Gehalt, sondern reine Dynamik, Aktion, bloßer Daseinsablauf; eine um sich greifende Sinnkrise, die zu einem Sinnverlust in einer gemachten Welt, in einer Scheinwelt führt. Durch diesen Sinnverlust sind sich viele junge Menschen selbst fragwürdig geworden. Sie haben ihren inneren Halt verloren, und deswegen wird zutreffend von dem Verlust der Mitte gesprochen, ({14}) in der sich Werte begegnen und nicht aneinander vorbeigleiten sollen. Wir dürfen auch einen Blick auf das Erziehungswesen lenken, Herr Hauck. Am besten zitiere ich hierzu den Herrn Bundeskanzler. Wörtlich: Die Realität ist für sie, - die jungen Menschen gemessen an der Realität eines Kambodschaners oder eines Lateinamerikaners recht angenehm. Um so mehr Schwierigkeiten haben die jungen Menschen mit sich selbst. Sie leiden auch darunter, daß diejenigen, die als Erzieher helfen sollen, zu einem erheblichen Teil aus Feigheit auf Widerspruch und Orientierung verzichten, ({15}) Eltern wie Lehrer, Pastoren wie Politiker! Ich werde nicht die Frage stellen, welche Politiker der Bundeskanzler denn wohl gemeint hat, und wer den jungen Menschen vor allem nach dem Munde redet. ({16}) Ich darf aber darauf hinweisen, Herr Bundeskanzler ({17}) - er kann leider nicht hier sein -, daß doch gerade die schulische Erziehung auch nach dem Willen der SPD ({18}) auf den Widerspruch der Jugend gegen Staat, gegen Familie, gegen Wirtschaft, gegen Bundeswehr ausgerichtet war und zum Teil ausgerichtet ist. Dürfen wir fragen, ob es nicht so etwas wie eine kulturrevolutionäre Entwicklung gegeben hat? Dürfen wir fragen, ob nicht heute deutlich und dramatisch die Ergebnisse der emanzipatorischen Pädagogik zutage treten? Ist nicht seit mehr als zehn Jahren das Erziehungswesen wichtigster Kampfplatz im Ringen um die Macht? ({19}) Der Zusammenhang zwischen der Protestbewegung von 1968 und der heutigen, wenn ich sagen darf: Emanzipationsbewegung ist nachgewiesen. Damals wurde auf ein geistiges Klima der Sattheit, der Selbstzufriedenheit geantwortet. Jetzt, so wurde gesagt, müsse die Gesellschaft abgelehnt werden. Man müsse unentwegt Kritik üben. Und nicht nur in der emanzipatorischen Pädagogik wurden die Erscheinungsformen des Bösen, des Krankhaften, des Häßlichen in den Vordergrund gestellt. Es wurde eine Welt der Lieblosigkeit, der Verzweiflung gezeichnet, eine Welt ohne Schönheit, ohne Ordnung, ohne Würde und ohne Liebe. Die extremen negativen Erfahrungen von Außenseitern der Gesellschaft, die Phantasiegebilde der Gescheiterten wurden zur Deutung des Menschen und seines Daseins angeboten. Und jetzt zitiere ich noch einmal einen Sozialdemokraten, den hessischen Ministerpräsidenten Börner, wörtlich: Das Lernziel Emanzipation wurde begeistert auf die Fahnen geschrieben, eine im Grunde spätbürgerliche und linksliberale Vokabel. In der Tradition der Arbeiterschaft hätte es gelegen, als Lernziel Solidarität oder, wenn man nicht so weit gehen möchte, wenigstens das Lernziel Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen zu stellen. Aber diese soziale, mitmenschliche Komponente des Bildungswesens ist nicht in den Vordergrund getreten, sondern verdrängt von der individualistischen, egoistischen Parole der Emanzipation. Es gibt Geisteshelden, die zwei linke Hände haben und nicht imstande sind, mit ihrer Umgebung umzugehen. In meinen Augen sind sie zutiefst ungebildet. Aber ein Betriebsrat z. B., der ein anerkannter Facharbeiter ist, der in der Formulierung und dem Ausgleich der Interessen seiner Kollegen eine bedeutende Rolle spielt, erhält mittlerweile einen Minderwertigkeitskomplex eingeimpft, weil er ein Gedicht von Mörike nicht interpretieren kann, sondern weil er es nur schön findet. ({20}) Die Erkenntnisse kommen noch nicht zu spät. Wir müssen entsprechend handeln. Die Kommission möge uns dabei helfen. Und was wird von Politikern selber über unsere Gesellschaft und unseren Staat gesagt? Wenn ich mal zitieren würde, was allein aus dem Familienministerium in den vergangenen Monaten an negativen Überschriften gekommen ist! Ministerpräsident Rau sagt: Der Rechtsfriede ist in diesem Land gefährdet. Es wird immer nur destruktiv, negativ usw. gezeichnet. ({21}) Aber dieser Hinweis soll mich nicht davon abhalten, Frau Huber, Ihnen Dank zu sagen für die jüngste Studie zu den alternativen Lebensformen in unserem Staat, die Sie dem Bundeskanzler vorgelegt haben. ({22}) Ich empfehle uns allen und der Kommission, diese Studie als Grundlage für ihre Arbeit zu nehmen. Das war mal eine Studie ohne Kommission, wenn ich das sagen darf. Sie war hervorragend, was nicht unbedingt gegen jede Kommission sprechen muß. Die jungen Menschen - so darf ich im Anschluß an das, was ich von Herrn Börner zitiert habe, fortsetzen - sind teilweise entgrenzt worden. Sie leiden unter dem Schwund der Geborgenheit in klarer Orientierung oder im Glauben. Aber Orientierung sowie die Erfahrung des Leids, des Versagens, die Fähigkeit, eine Position zu beziehen, die Fähigkeit, sich zu binden, sind doch Voraussetzungen der Belastbarkeit und des Durchstehvermögens, um eine positive Sache bis zum Erfolg führen zu können. Uns scheint, die geringe Belastbarkeit vieler junger Menschen infolge dieser Entwicklung ist mit ein Grund für ({23}) diese Aggressivität, dieses Unverständnis, dieses Sich-Zurückziehen auf den individuellen und individualistischen Aspekt, dieses Festhalten an der Gegenwart und diese so mangelnde Bereitschaft zum Wagnis für die Zukunft. ({24}) Hier sollte man schon eine Kommission bemühen. Einverstanden. Was wir heute sagen, soll ihnen auch ein wenig Orientierung für ihre Arbeit sein. Bei den Jugendunruhen handelt es sich nicht um die Mehrheit - um auch das jetzt mal zu sagen; Sie haben es sicher nicht so gemeint. Erstens. D i e Jugend gibt es nicht. Zweitens. Bei den Jugendunruhen handelt es sich nicht um die Mehrheit der jungen Generation. Das wird man sagen können. Das unterstreichen wir. Es trifft zu, daß radikale Minderheiten Jugendunruhen ausgelöst haben. Im Grunde haben immer Minderheiten so etwas ausgelöst. Aber es ist die Frage, welche Wirkung sie auf die schweigende Mehrheit haben, wenn ich dieses Wort gebrauchen darf. Wie stark ist ihr Einfluß? Ist ihr Einfluß nicht potentiell deshalb sehr groß, weil so viele verunsichert sind? Wir sollten uns davor hüten, im Zusammenhang mit Hausbesetzungen und gewaltsamen Demonstrationen von d e r Jugend zu reden, ({25}) und zwar auch deshalb, weil wir sonst an sie mit dem Willen zum Gespräch nicht herankommen. Sie wenden sich dann noch weiter ab, weil sie sich nicht verstanden und angesprochen fühlen. Politik muß hier beraten und fragen, aber sie muß natürlich auch Orientierung geben. ({26}) Ich möchte einmal an das erinnern, was Herr Gerstenmaier in seinem jetzt erschienenen Buch, in seinen Memoiren zur geistigen Führung des Staates gesagt hat, wie es auch unser Fraktionsvorsitzender zum Ausdruck gebracht hat. Es geht nicht darum, daß wir immer wissen, daß es so und nicht anders geht, aber die Haltung, die Klarheit der Diskussion, das Stehen zum Ergebnis, das Durchhalten des Ergebnisses ist sehr wohl geistige politische Führung, auf die gerade junge Menschen in einem demokratischen Staat einen Anspruch haben. ({27}) Es ist auch nicht richtig, daß immer von Jugendlichen gesprochen wird; denn tatsächlich ist die Gruppe der 21- bis 30jährigen die stärkste in diesem Zusammenhang der gewaltsamen Proteste. Die tatsächliche oder angebliche Wohnungsnot - darüber ist viel gesprochen worden - ist eine Gelegenheit, sozusagen ein Vorwand. Jede andere Gelegenheit, die sich bietet, wird in der gleichen Haltung angenommen und genutzt. Viele Experten sehen den Hauptgrund für die Beteiligung an Hausbesetzungen und militanten Demonstrationen im veränderten Rechtsbewußtsein, und sie erklären, das Verständnis für die Notwendigkeit der Erhaltung der Rechtsordnung und der dazu notwendigen Schutzmaßnahmen sei nicht hinreichend gewahrt. Nicht die Gewaltäter werden als Kriminelle betrachtet, sondern der Staat wird verurteilt, wenn er für Recht und Ordnung sorgt. Ich darf zum Schluß noch einmal darauf hinweisen, daß viele die Ursachen für diese Entwicklung auch in dem mehr und mehr um sich greifenden schwerwiegenden und verhängnisvollen Wertrelativismus und in den Versäumnissen im Bereich der Erziehung und der Bildung sehen. Ein weiterer Grund dieser Entwicklung - das will ich noch einmal unterstreichen - wird in der Anspruchsmentalität vieler Jugendlicher, aber auch Erwachsener gesehen, die zum Teil in das Maßlose übersteigert wird. Schlußfolgerung an dieser Stelle: Die Sprachlosigkeit und der Opportunismus von Politikern müssen überwunden werden. Es muß der Mut aufgebracht werden, dem Volk auch unbequeme Wahrheiten zu sagen und diese auch durchzusetzen. Durch gezielte Informationen und Aufklärungstätigkeit in der Öffentlichkeit und vor Ort muß eine Differenzierung zwischen dem gewalttätigen Kern und den Mitläufern erfolgen. Letztlich entscheidend ist die Umkehr in der Schul-, Kultur- und Medienpolitik. ({28}) J: Kabelfernsehen! - Weitere Zurufe von der SPD) Solange in Schulen, in den Medien nicht mehr Verständnis für die Demokratie, für den Rechtsfrieden, für die notwendige öffentliche Sicherheit und Ordnung geweckt wird, um eine allmähliche Rückkehr zu einem richtigen Staats- und Rechtsbild zu erreichen, stoßen alle staatlichen Maßnahmen ins Leere, weil sie nicht verstanden werden. Die Kommission möge einen Beitrag dazu leisten, daß wir besser verstanden werden! Wir sind offen, wir sind bereit. Wir haben in Unionskreisen einmal das Wort geprägt, daß wir Partner der jungen Generation sind. Wir sehen in der Kommission eine erneute Aufforderung an uns, der wir uns in der kommenden Zeit, hoffentlich mit Erfolg, im Interesse der jungen Generation und damit auch dieses Staates gern stellen. Vielen Dank. ({29})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den Antrag der Fraktionen der SPD und der FDP wird deutlich gemacht, welche Aufmerksamkeit wir hier, aber auch die Öffentlichkeit auf die Proteste der Jugend richtet. Wir begrüßen diese Kommission und verbinden damit die Hoffnung, daß sie Anstoß gibt zu einer breiten Diskussion über die Probleme, die wir mit der Jugend, beziehungsweise mit einem Teil der Jugend, und umgekehrt Teile der Jugend mit uns haben. Ich will dabei aber nicht verhehlen, daß die Einsetzung einer Kommission aus unserer Sicht nicht ganz unproblematisch ist. Es besteht die Gefahr, daß das Problem und damit die Verantwortung um die Jugend scheinbar auf die Fachleute abgeschoben wird und die Kommission eine Alibifunktion übernehmen soll. Die Jugendpolitik geht aber alle Politikbereiche an und somit auch alle Politiker. Versäumnisse, die vorgekommen sind, sprechen uns alle an. Niemand, keine Partei, kann sich freisprechen. Fehler fallen auf uns alle zurück. Für die Jugend sind wir alle die Etablierten. Wir können deshalb die Diskussion vor den kritischen Augen der Jugend nur dann bestehen, wenn wir nicht der Versuchung erliegen, uns in dieser Frage gegenseitig auf Kosten anderer zu profilieren. ({0}) Ich meine, hier ist Selbstkritik gefordert; aber nicht nur diese. Hier ist auch Ehrlichkeit gefordert in dem Sinn, daß wir offen sagen, was uns persönlich an der Jugend nicht gefällt. Denn ich möchte bei den Jugendlichen nicht den Eindruck erwecken, dies hier sei alles nur eine Masche, um sie zu besänftigen, sie vielleicht als Stimmvieh zu gewinnen. Nein, wir müssen auch bereit sein, uns mit ihr zu streiten. Und ich hoffe, die Jugend ist ebenfalls bereit, mit uns zu streiten. ({1}) Denn wir müssen versuchen, sie zu überzeugen, oder uns überzeugen lassen. Wir müssen der Jugend auch sagen, daß Menschen nur dann friedlich miteinander auskommen können, wenn von allen gewisse Spielregeln anerkannt werden, auch wenn uns diese Spielregeln schwerfallen oder wenn uns das Ergebnis dieser Spielregeln nicht gefällt. ({2}) Diese Kommission wird dann erfolgreich sein, wenn sie eine Kommission der Fragen ist - Fragen der Politiker an die Jugend, Fragen der Jugend an die Politiker. Auch ich will hier einige Fragen stellen. Der Jugend geht es heute besser als je einer Jugend zuvor. Probleme wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Numerus clausus oder Lehrstellenmangel hatten andere Generationen von Jugendlichen auch und oft in stärkerem Maße. Trotzdem waren diese Jugendlichen zum Teil zufriedener. Liegt es vielleicht daran, daß die Bürokratisierung zugenommen hat, daß Freiräume enger geworden sind, daß die Jugend glaubt, keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr zu sehen? Ich habe auch den Eindruck, daß die Funktionäre der Jugendverbände angesichts des Protestes der Jugend sprachlos sind - kein Wunder: auch die Funktionäre der Jugendverbände werden vom protestierenden Teil der Jugendlichen zum Establishment gezählt. ({3}) Von einem Jugendpolitiker erwartet man nun, daß er Politik für die Jugend macht, daß er sie und ihre Probleme anspricht und daß er das alles lösen kann. Jugend und Jugendprobleme seien Aufgaben der Jugendpolitik, so sagt man. Die Wirtschaftspolitiker kümmern sich um die Wirtschaft, die Rechtspolitiker sollen sich um die Fragen des Rechts kümmern, die Wohnungspolitiker um die Fragen der Wohnungspolitik usw. Das ist aber der große Irrtum, dem wir unterliegen können, und es wird höchste Zeit, daß er von uns erkannt wird. ({4}) Was fällt denn eigentlich in die Kompetenz der Jugendpolitiker? Das sind Dinge wie Jugendhilfegesetz, Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge, der Bundesjugendplan, Jugendschutzgesetz und ähnliches. Aber interessiert das die Jugend wirklich? - Natürlich nicht. Die Interessen der Jugend liegen meist woanders. Wenn man Jugendliche ansprechen will, so muß man über Wohnungspolitik, Bildungsfragen, Ausbildung, Berufschancen, Mitbestimmung, Sicherheitsfragen, Rechtsfragen, Umweltpolitik, Entwicklungspolitik sprechen. Aber das Eimer ({5}) fällt alles nicht in die Kompetenz des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit. Damit kein Irrtum entsteht: Ich beklage das nicht; ganz im Gegenteil. Gott sei Dank ist es so. Es wäre schlimm, wenn sich die Jugend nur für das interessierte, was sie unmittelbar angeht. Die Zeit, in der ein Jugendlicher Jugendlicher ist, ist verhältnismäßig kurz. Ich will dies an einem Bild deutlich machen: Ein Jugendlicher ist jemand, der aus dem Kinderzimmer in das Wohnzimmer geht und der gerade im Türrahmen steht. Der Blick ist weder zurück noch auf die Tür gerichtet, sondern nach vorne, auf das, was vor ihm liegt. Was will ich damit sagen? Jugendliche interessieren sich in erster Linie für die Politik, die ihre Zukunft unmittelbar berührt. Politik ist auf lange Frist angelegt. Was wir heute anpacken, wird erst morgen gelöst. Unsere Kinder werden es erleben. Politik ist immer ein Gestalten für die Zukunft. Es ist deshalb verständlich, daß sich Jugend für die Welt interessiert, in die sie hineinwächst. Es ist die Politik als Ganzes, die sie ansprechen muß. Wir Politiker werden Jugendliche aber nur dann ansprechen können, wenn wir Glaubwürdigkeit besitzen. Ich möchte uns deshalb bei dieser Gelegenheit selbst fragen, ob es richtig ist, daß wir zu Naturschützern nur Kernkraftgegner aus unseren Reihen schicken, zu Wehrdienstverweigerern keine Verteidigungspolitiker, zu Sozialverbänden keine Finanzpolitiker, zu Gewerkschaften keine Wirtschaftspolitiker. Gerade Jugendlichen gegenüber müssen wir deutlich machen, daß ein Politiker nicht die Aufgabe hat, Populäres zu sagen, sondern Notwendiges populär zu machen. ({6}) Auch an einer anderen Stelle hat die Politik, wie ich meine, bei den Jugendlichen Glaubwürdigkeit verloren. Ich meine die Art und Weise, wie wir mit dem politischen Gegner umgehen. ({7}) Wenn sich Politiker gegenseitig unterstellen, daß der andere böse, unfähig oder dumm ist, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Jugendliche, die anderer Meinung sind als wir, uns ebenfalls als dumm oder böse hinstellen. ({8}) Nötig wäre es, deutlich zu machen, daß der andere trotz eines anderen Standortes nicht schlecht ist. Nötig wäre es vor allem, die Antriebskräfte des eigenen Handelns deutlich zu machen, die Grundsätze aufzuzeigen, nach denen man Politik macht. Nötig wäre es, diejenigen zu tolerieren, die nach anderen Grundsätzen leben wollen. ({9}) Soweit einige Fragen, die wir an uns selbst richten müssen. Aber wir werden in dieser Kommission auch noch andere Fragen untersuchen müssen. Als ich Jugendlicher war, sagten die Eltern immer wieder: Unsere Kinder sollen es besser haben als wir. Und wir hatten es ohne Zweifel besser. Zu der heutigen Jugend wird das, so habe ich den Eindruck, nicht mehr gesagt. Sie würde vermutlich fragen: zu welchem Preis?, oder: ist das materiell gemeint? Die Jugend hat heute ihre eigenen Zielvorstellungen, so wie sie eigentlich jede Jugend hat. Aber es sind weniger materielle Ziele. Ihr fehlt z. B. die Wärme, die Geborgenheit in unserer Gesellschaft. Diese Ziele sucht die Jugend mit Mitteln zu erreichen, die uns als Protest erreichen. Wir fragen uns dann, ob die Jugend heute nicht zu ungeduldig ist, wenn sie ihre Ziele nicht so schnell erreicht, wie es ihr wünschenswert erscheint, und ihr Leben dann neben der Gesellschaft als Aussteiger gestalten will. Ich frage mich manchmal, ob die Jugendlichen, die aussteigen, die die Leistung verweigern, von uns wirklich richtig beurteilt werden. Sind das wirklich Leistungsverweigerer? Wir bezeichnen unsere Gesellschaft als Leistungsgesellschaft. Leistung muß sich lohnen, Leistung muß belohnt werden. Aber sieht man in unserer Gesellschaft den Zusammenhang zwischen Arbeit bzw. Leistung und Ergebnis dieser Leistung? Leistung wird bei uns sehr abstrakt gemessen. Für den Betroffenen sind Zusammenhänge kaum erkennbar; er erkennt sie allenfalls über den Lohn. Ich meine, daß die sogenannten Aussteiger das Ergebnis ihrer Anstrengungen sehen wollen. Sie wollen das Produkt ihrer Leistung erleben, wenn sie auf Bauernhöfen Gemüse anbauen oder sich handwerklich betätigen. Sie arbeiten dann oft sehr viel mehr und leisten nach unseren Maßstäben weniger. Aber sie haben das Erlebnis, daß sie den Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und dem Erfolg erkennen, daß sie das Gefühl von Leistung selbst erleben. Ich habe den Verdacht, daß sich diese Jugendlichen selbst gar nicht dessen bewußt sind, daß sie Leistung nur konkret und nicht abstrakt begreifen wollen. ({10}) Wir müssen uns, meine ich, zweierlei fragen. Machen wir es uns und den Jugendlichen auch wirklich klar, was wir unter Leistung verstehen: daß die Entlohnung nach Leistung ein Schutz vor einer anderen Gesellschaft ist, die von ihren Mitgliedern möglicherweise Leistung über ideologischen Druck verlangt? Müssen die Jugendlichen heute Leistung nicht als den ideologischen Hammer empfinden, weil Leistung zum Selbstzweck, zur moralischen Forderung wird und weil die vorhin geschilderten Zusammenhänge für Jugendliche oft nicht mehr erkennbar sind? ({11}) Lassen Sie mich weiter fragen: Warum muß denn das alternative Leben neben der Gesellschaft geschehen? Haben wir in unserer pluralen Gesellschaft nicht Raum genug und vor allem nicht Toleranz genug für andere Formen des Zusammenlebens? Haben wir der jungen Generation nicht selbst schlechte Vorbilder geliefert, weil wir Teile der Gesellschaft an den Rand geschoben haben, separiert haben? Ich denke z. B. an die Trennung der Generationen: Die Alten wurden ins Altersheim abgeschoEimer ({12}) ben, Kinder, wenn überhaupt, auf Spielplätze, wo sie die Welt der Erwachsenen nicht mehr stören können. Macht die Jugend möglicherweise nicht das nach, was wir ihr vorgemacht haben? ({13}) Sind das Leben neben unserer Gesellschaft und die Angst, in dieser Gesellschaft zu leben, nicht möglicherweise auch ein Ausdruck der Angst der Jugend, erwachsen zu werden? ({14}) Ist der Protest der Jugend, ausgedrückt durch alternative Lebens- und Produktionsformen, nicht möglicherweise auch eine Folge dessen, daß wir vielleicht unsere Umgebung schneller verändert haben, als wir Menschen uns der von uns veränderten Umgebung anpassen konnten? ({15}) Ich glaube, daß wir Fragen genug haben, die wir in dieser Kommission bearbeiten müssen. Diese Fragen beunruhigen mich aber nicht so sehr; hat doch die Jugend Ansprüche, die nicht nur im Materiellen liegen. Aber ich gestehe, daß es auch Dinge gibt, die mich bei der Jugend und ihren Protesten beunruhigen. Da ist zum Beispiel die Sprachzerstörung, die wir teilweise beobachten müssen. Da spricht man von Zwangsverteidigern, die nur ihre Pflicht tun - im Gegensatz zu Vertrauensanwälten -, man spricht von Bullen statt von Schutzleuten, man spricht von Kaputtbesitzern und Instandbesetzern. Das alles befrachtet die Sprache mit Ideologie, dreht Begriffe um und erschwert die Kommunikation, führt zur Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. ({16}) Aber da ist noch etwas anderes, was mich bedrückt. Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Abiturienten, der für eine große Illustrierte tätig war. In dem Gespräch brachte er seine Vorstellungen über Parteien und Demokratie vor. Er sagte unter anderem: Die machen ja doch nur, was sie wollen, man kann ja doch nichts erreichen, die arbeiten ja doch nur um des eigenen Vorteils willen, und die Parteien streiten nur! Das waren alles Urteile über Parteien und die Demokratie, die ich vorher einem Film über eine Hitlerrede entnehmen konnte. Diese Vorurteile und dieses Gedankengut wurden über zwei Generationen aus dem „Dritten Reich" an die heutige Generation weitergegeben und sind sicher kein Einzelfall. Ich frage mich: Was haben wir falsch gemacht, Eltern, Erzieher, Lehrer, Politiker, daß Demokratie als Konfliktlösungsmechanismus in unserem Volk so schlecht verankert ist, ({17}) daß dies nur als lästiger Parteienstreit gesehen wird, gerade auch bei dem Teil der Jugend, der nicht protestiert und als „angepaßt" gilt? Ist es nicht unsere Aufgabe, der Jugend klarzumachen, daß sie in unserer Gesellschaft etwas verändern kann und wird? Es ist unsere Aufgabe, ihr Gelegenheit und Hilfestellung dazu zu geben, und zwar durch Einblick und Information und auch dadurch, daß man sie selbst etwas tun läßt. Die Enquete-Kommission soll untersuchen, ob der Protest der jungen Menschen neue gesellschaftliche und politische Zielsetzungen verlangt. Ich will der Enquete-Kommission kein Ergebnis vorwegnehmen. Aber ich glaube, daß wir in erster Linie eine neue Atmosphäre brauchen. ({18})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis in den Sommer 1980 hinein hat die empirische Sozialforschung den heranwachsenden jungen Menschen für die letzten Jahre ein erhöhtes Maß an unkritischer Anpassung bescheinigt, bis hin zum Duckmäusertum. Dazu gehört auch die Shell-Studie, die von Herrn Hauck schon erwähnt worden ist. Diese Studie kam zu der Feststellung, daß mehr Jugendliche als je zuvor Angst hätten, unbequeme Meinungen zu äußern und sich politisch zu engagieren. Damals, meine Damen und Herren, wurden viele Krokodilstränen geweint, auch von solchen - das will ich hier einmal sagen -, die zuvor eine Verschärfung im Straf- und Demonstrationsrecht und bei der Einstellungspraxis des öffentlichen Dienstes gefordert hatten ({0}) und die oft, wenn es um die Jugendförderung ging, wenig Toleranz, Liberalität und Geduld gezeigt haben. ({1}) - Ich sage dies, weil Herr Kroll-Schlüter hier einige Bemerkungen gemacht hat, auf die ich auch noch zurückkommen werde. ({2}) Was die Studien betrifft, so gibt es heute ernstzunehmende Leute, die es für gar nicht sicher halten, daß man damals die richtigen Fragen gestellt hat. Heute begrüße ich, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages eine Enquete-Kommission wollen, die von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagen worden ist. Sie wird uns sicherlich ein Stück weiterhelfen. Sie ist nicht dasselbe, Herr Kroll-Schlüter, wie die Jugendberichte, die Sie „Jugendberichte der Bundesregierung" genannt haben. Ich habe hier schon öfter gesagt: Es gibt keine Jugendberichte der Bundesregierung; es gibt nur Berichte von Experten zu bestimmten Themen. Sie haben das gewünscht. Der Deutsche Bundestag hat uns beauftragt, diese Kommission einzusetzen. Es sind aber nicht unsere Berichte. Sie sind viel zu speziell, als daß man sagen könnte, sie seien die Vorläufer dessen, was die Enquete-Kommission will. Wir können davon ausgehen, daß ein Teil unserer Jugend die von uns gebaute Welt jetzt offenbar satt hat. Er fühlt sich eingemauert in zuviel Beton und Paragraphen, glaubt nicht an sogenannte Sachzwänge, lehnt die hochtechnisierte Welt ab, in der der Mensch wie eine Maschine funktionieren soll. Die Jugend sucht Möglichkeiten für kreative Tätigkeit und auch für menschliche Wärme im engeren Lebensraum. Sie artikuliert das zum Teil in neuen Lebensformen und auch im Protest. Junge Leute teilen nicht einfach unsere Überzeugung, unsere Vorstellung vom lebenswerten Leben. Sie wollen keine Schablonen und keine Abziehbilder ihrer Erzieher sein. Wenn wir uns fragen, wie das alles gekommen ist, so stoßen wir sicherlich auf mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten, etwa in selbstbestimmten Jugendzentren ohne zu perfekte Ausstattung, die dann wieder ein starres Reglement bedingt. Wir stoßen auch auf Furcht vor Arbeitslosigkeit, auf das Gefühl von Überflüssigkeit, auf Fehler der Gesellschaft und der Politik - z. B. beim vorschnellen Abriß alter Häuser -, aber auch auf Lebensangst durch Schulstreß und durch Fernsehen statt Familiengespräch. Viele sagen, die jungen Leute von heute seien unpolitisch. Sie seien überwiegend gegen die etablierten Parteien. Aber sie sind auf ihre Art vielleicht doch politisch, indem sie uns ihre Meinung darüber signalisieren, wie der Mensch auf humane Weise und eigentlich anders leben sollte, als wir heute leben. Auch dies wird die Enquete herauszufinden haben. Manche Gruppen haben sogar Gewalt zum Mittel ihrer Sprache gemacht. Das können wir nicht akzeptieren. Aber wir können nicht, meine Damen und Herren, mit der Polizei gegen das vorgehen, was in diesen jungen Leuten vorgeht. ({3}) Im Grunde gibt es einige bemerkenswerte Signale, z. B. einfacher leben wollen, sinnvolle Arbeit tun, mit Problembeladenen solidarisch sein, nicht nur leisten, sondern auch fühlen. Die Enquete-Kommission wird sich auch mit der Frage zu befassen haben, wie repräsentativ dies alles denn ist. Ist dieser Jugendprotest schon eine neue Jugendbewegung? Oder handelt es sich um eine Minderheit, deren radikale Gruppen gerade jetzt Schlagzeilen machen? Widerlegt die schweigende Mehrheit durch ihr bloßes Vorhandensein die Berechtigung des Protestes? Ist die Jugend, wie jemand gesagt hat, der Sozialfall der Politik? Oder geht es nur um akute Probleme derer, die im Moment keinen Ausbildungsplatz oder keinen Arbeitsplatz haben? Allein die Tatsache, daß solche Fragen gestellt werden, ist jedoch bemerkenswert. Nach unserer Studie über die alternativen Bewegungen in der Bundesrepublik - Sie haben sie schon erwähnt, Herr Kroll-Schlüter -, nach dem also, was wir bis jetzt herausfinden konnten, glauben wir, die alternativen Bewegungen drücken mehr aus als nur akuten Protest solcher, die gerade ein persönliches Problem haben. Es kann gar kein Zweifel sein, meine Damen und Herren, daß sich ein 60-Millionen-Volk nicht auf alternative Weise ernähren kann. Die allermeisten Projekte leben von zumindest indirekter staatlicher oder privater Unterstützung. Man kann die Probleme der Nation auch nicht in kleinen Gruppen lösen, die jede Delegation von Entscheidungsbefugnissen ablehnen. Und wir können nicht alle im Grünen sein und die Industrie abschaffen. Aber vielleicht können und sollten wir im Tagesgeschäft innehalten und in Gesprächen herausfinden, was man - besonders vor Ort - besser machen kann. Dazu dient auch die Enquete. Es ist bedrückend, wenn ein beachtlicher Teil unserer Kinder bei insgesamt verbesserter Ausbildung und verbessertem Angebot an qualifizierten Arbeitsplätzen diesem Staat mißtraut, den wir für den freiheitlichsten und auch für den sozialsten halten, den es hier je gegeben hat. Wenn junge Leute den Wunsch haben, Wachstumszwänge aufzulösen, die Produktion in die, wie sie sagen, Naturwelt zu reintegrieren, wenn wirtschaftliche Entflechtung stattfinden soll - Dezentralisierung der Produktion, Entwicklung von Mittel- und Kleintechnologien, Verselbständigung zu kleinen Einheiten -, kurz, wenn die Idee, auf einem niedrigen Niveau besser zu leben, sich dort ausbreitet, dann können wir nichts sagen: Dies alles läßt sich für uns alle machen, und ihr habt alle recht. Aber wir müssen die Signale beachten, daß es Menschen in unserem Lande gibt, die so nicht mehr weiterleben wollen, und wir müssen uns fragen, ob wir nicht Formen finden müssen, die humaner sind als das, was wir jetzt haben. ({4}) Wir dürfen das nicht mit einer Handbewegung abtun und sollten nicht etwa den Kommentaren zustimmen - einer ist hier heute schon indirekt zitiert worden -, die hinter der Jugendbewegung nur Schmarotzer der Wohlstandsgesellschaft vermuten. Es haben sich, zumindest bei einem Teil der Jugend, Wertvorstellungen verändert. Wenn behauptet wird, daß sich ein Wandel zu konservativen Wertvorstellungen vollzogen hat, glaube ich dies eher nicht und füge hinzu, daß die traditionelle Trennung zwischen progressiver und konservativer Auffassung, wie man sie vor 15 Jahren gekannt hat, so wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, daß man in diesen Kategorien nicht mehr denkt und daß es auch - das gebe ich zu - bei vielen Gruppen ein krauses Durcheinander von Vorstellungen gibt. Auch dies wird ein Punkt der Enquete sein. Viele junge Leute wollen aber nicht, daß ihr Leben - auch, wie ich hinzufüge, von den Eltern - so stark verplant wird. Der jugendliche Protest richtet sich nicht nur gegen Rüstung, Atomkraftwerke, Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit; er richtet sich auch gegen die Verplanungs- und Bürokratisierungstendenzen. Trotz der Gewalt, mit der die Jugend manchmal auf sich und ihre Ziele aufmerksam macht, muß man sehen, daß es in dieser Jugend ein großes Engagement für Gewaltlosigkeit und Frieden gibt. ({5}) Man darf sich durch die militanten Formen nicht den Blick dafür verstellen lassen, daß hier Sehnsucht und Angst artikuliert werden. Meine Damen und Herren, es wäre schlimm, wenn diese Angst ohne Brücke auf eine andere Angst träfe, nämlich auf die Angst der Erwachsenen vor der rebellierenden und manchmal randalierenden Jugend. Diese Angst wäre ein schlechter Ratgeber, der nach harten Reaktionen ruft, nach - wie es so heißt - härterer Gangart. Es wäre wirklich schlimm für uns alle, wenn nur dies unsere Reaktion wäre. ({6}) Hier gilt es - und das will ja die Enquete -, nach den Ursachen zu fragen, das Gespräch zu suchen, beiderseitige Lernprozesse zu beginnen. Es ist hier schon gesagt worden, und ich sage es auch: Es gibt natürlich nicht die Jugend, sondern sehr unterschiedliche Gruppen, unterschiedlich in Bildung, unterschiedlich in Schichtzugehörigkeit. Es gibt aber auch einige Hinweise darauf, daß sich die Unterschiede abzuschleifen beginnen. Einige Grundtendenzen, die hier entwickelt werden, sind sicherlich auch ein Grundbedürfnis von Erwachsenen, wie denn überhaupt die Probleme, um die es hier geht, nicht so sehr reine Jugendprobleme sind, sondern Gesellschaftsprobleme; ({7}) manche nennen sie „Sündenbockprobleme". Sie werden von der Jugend nur schärfer artikuliert. Wir Erwachsenen sind - so hat neulich jemand gesagt - politisch so weit sozialisiert, daß wir die Widersprüche unserer Politik, auf die gerade die Jugend aufmerksam macht, gar nicht mehr wahrnehmen. ({8}) Umgekehrt wünschen wir uns - das möchte ich ebenso deutlich sagen -, daß die Jugend und die Gruppen, die das Unbehagen artikulieren, auch etwas mehr Sinn für die Realität entwickeln; dann können wir vielleicht eher zusammenfinden. ({9}) Sinn des von uns gewünschten Dialogs, zu dem die Enquete beitragen soll, ist nicht, daß wir uns in billiger Weise anbiedern und unsere Meinung an der Garderobe abgeben. ({10}) Aber wenn so viele junge Menschen pessimistisch sind - und das sind ja viel mehr als die Aussteiger, die jetzt auf 13% der 5,4 Millionen in Deutschland, die zwischen 17 und 23 Jahre alt sind, beziffert werden -, wenn so viele pessimistisch sind, nicht so leben wollen wie wir und überhaupt nicht mehr mit uns leben wollen, wenn sie sich zum Teil gar nicht mehr vorstellen können, daß Auseinandersetzungen mit uns noch lohnend sind, wenn in manchen Gruppen Zweifel zur Verzweiflung und hier und da zu der Überzeugung wird, man könne diese Gesellschaft gar nicht mehr beeinflussen, sind doch offenbar Probleme vorhanden und ernsthafte Fragen angebracht, auch wenn diese nicht die Mehrheit der Jugendlichen oder gar alle Jugendlichen betreffen. Dabei geht es nicht allein darum, spezifische jugendpolitische Vorhaben umzusetzen oder doch noch über die Bühne zu bringen, obwohl es gut gewesen wäre, wenn eine Partei, die jetzt einen Parteitag zu Jugendfragen vorbereitet, uns beim Jugendhilferecht geholfen hätte. Herr Kroll-Schlüter, es ist ja nicht so, daß wir nicht mit den Fachleuten, mit den Experten der Länder oder auch mit den Kirchen und den Verbänden einig gewesen wären; sie alle haben hier gesagt: Bringt dieses Jugendhilferecht über die Bühne. - Das ist allein daran gescheitert, daß Ihre Fraktion und Ihre Länder im Bundesrat ({11}) es nicht mit beschlossen haben. ({12})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter?

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, können Sie mir eine Kirche oder einen Verband nennen, die wirklich gesagt haben, wir wollen dieses Jugendhilfegesetz?

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Verbände und die beiden Kirchen haben an uns geschrieben, man möge das Jugendhilferecht verabschieden. ({0}) - Es ist klar, daß beim Jugendhilferecht bei so vielen unterschiedlichen Interessen ein Kompromiß angestrebt werden mußte; aber er war da, und bis auf Ihre Länder haben alle ihn getragen. ({1}) Nun stehen Sie heute hier hin und sagen, es muß praktisch gehandelt, es muß Politik gemacht werden. Dem stimme ich zu, aber wir haben sie gemacht. ({2}) - Ich schäme mich nicht, und da habe ich viele hinter mir, die sich auch nicht schämen, wenn hier von konkreter Politik die Rede ist. ({3}) Sie sagen, es muß gehandelt werden. Aber wenn wir auch Ihre Stimmen brauchen, weil es ein zustimmungsbedürftiges Gesetz ist, dann läuft das nicht, obwohl das Gesetz mit vielen in Jahren erarbeitet wurde. ({4})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hauck?

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Minister, können Sie mir zustimmen, daß durch die Absetzung des Jugendhilferechts von der Tagesordnung des Bundesrates die Bundesratsmehrheit verhindert hat, daß der Bundesrat den Vermittlungsausschuß anrufen konnte, obwohl zwei CDU-regierte Länder dies eigentlich wollten?

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Ich kann Ihnen zustimmen. ({0}) - Darüber lachen Sie nun. Mir war das bitterernst. ({1})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Wex?

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, würden Sie uns gerade jetzt bei der Debatte um die Einsetzung der Enquete-Kommission für Jugend zustimmen, daß der Anschauungsunterricht, den wir hier in dieser Art der Auseinandersetzung geben, sicher auch nicht das ist, was die Jugend von diesem Parlament erwartet? ({0})

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Frau Dr. Wex, ich stimme Ihnen völlig zu. Nur waren es wir, die das Jugendhilferecht als konkrete Politik, die hier gefordert wurde, über die Bühne bringen wollten. ({0}) Ich hätte diese Passage hier nicht so betont, Frau Dr. Wex, wenn Herr Kroll-Schlüter nicht gerade dieses Beispiel für konkretes Handeln gebracht hätte. Mein Schlußabsatz sollte anfangen - und das paßt jetzt hier -: Reden allein genügt nicht, meine Damen und Herren, ({1}) und wir dürfen der Jugend nicht nur ein geneigtes Ohr schenken. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir nur das wollten, und praktisch liefe nichts. ({2}) - Es war praktisch, es war sogar sehr praktisch. Viele Kinder warten draußen, und die Fachleute sagen mir, das alte Jugendwohlfahrtsrecht ist total überholt, und sie möchten das neue Instrument. ({3})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Frau Minister, darf der Kollege Dr. Rose eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, wie möchten Sie die Kosten des neuen Jugendhilferechts bezahlen, angesichts der Tatsache, daß Sie im Haushalt nicht einmal die entsprechenden Mittel für den Bundesjugendplan haben?

Antje Huber (Minister:in)

Politiker ID: 11000968

Der Bundesjugendplan hat dieses Jahr einen Zuwachs und kein Minus; dies vorweg. Aber ich will Ihnen sagen: Sie sprechen hier im Parlament, gerade Ihre Fraktion, über die Drogenfrage und solche Probleme. ({0}) Wenn dann die Gemeinden usw. feststellen, daß die Jugendhilfeausgaben um ca. 10 % ansteigen, und wenn viele schon vollziehen, was nicht im alten Gesetz steht, weil sie es in der Praxis schon brauchen, dann ist doch die Kostensteigerung nicht eine Frage unserer Lust am Geldausgeben, sondern eine Frage der praktischen Notwendigkeit. ({1}) Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß kommen. Ich möchte Ihnen aber noch sagen, daß ich den Jugendprotest nicht nur für eine Bedrohung, sondern auch für eine Chance halte. ({2}) Was wir bewegen wollen, gilt der Zukunft. Und wessen Zukunft ist es mehr als die dieser jungen Menschen, die ja erst ins Leben hineinwachsen? Für sie wird das alles zu tragen sein - in Licht und Schatten -, was wir hier beschließen und was die Gesellschaft tut. Das ist ihre Bürde oder ihre Freude. Die bessere Zukunft, die wir meinen, meine Damen und Herren, ist nur wirklich, wenn sie von den Jungen auch als bessere Zukunft empfunden wird. ({3}) Deswegen erhofft sich die Bundesregierung von der Enquete Aufschlüsse über Wege, die wir dann tatsächlich gemeinsam in eine bessere Zukunft gehen können. ({4})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat der Abgeordnete Schröder ({0}). ({1})

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehen Sie, Herr Kollege, genau diese Frage hatte ich erwartet, nicht weil ich keine habe, sondern weil diese Frage - ob ich keine Krawatte hätte -, die Sie eben gestellt haben, die Jugendlichen, über die Sie nur reden, mit Sicherheit nicht verstehen. Und es ist gut so, daß sie sie nicht verstehen. ({0}) Ihr Verständnis von Würde ist ein Verständnis, das sich auf die Form bezieht. Unser Verständnis von Würde des Parlaments, von Würde des Parlamentarismus ist ein Verständnis, das sich auf Inhalte bezieht. ({1}) Schröder ({2}) Sehen Sie, das macht einen der Unterschiede zwischen Ihnen und uns aus, in der Behandlung dieses Problems wie in der Behandlung vieler anderer Probleme. Aber lernen werden Sie das nie, Ihrer Frage nach zu urteilen. ({3}) Herr Kroll-Schlüter, ich wollte auf das eingehen, was Sie hier gesagt haben. Sie haben gesagt, Sie wollten Jugend zur positiven Einstellung zu Staat und Gesellschaft erziehen. Sehen Sie, auch das ist ein Schlüsselsatz für Ihr Politikverständnis. ({4}) Sie wollen verordnen, Sie wollen reglementieren. Wir dagegen wollen zuhören und aus dem Zuhören lernen und aus dem Lernen Handlung entwickeln. Das ist der grundsätzliche Unterschied unserer Art Politik zu machen und Ihrer. ({5})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter?

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Bitte schön.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da Sie zuhören wollen und ich davon ausgehen darf, daß Sie auch in diesem Hohen Hause zuhören, möchte ich Sie fragen, ob das Bestreben zur Erziehung und die Hilfe zur Erziehung etwas mit Reglementierung zu tun haben?

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es geht nicht um das Bestreben, bei der Erziehung zu helfen, sondern es geht nach dem, was Sie gesagt haben ({0}) - nein, ich habe mir das mitgeschrieben -, und nach dem, was hier geäußert wird, darum, daß Sie Werte von oben verordnen wollen, ({1}) daß Sie Jugend ausrichten wollen, ({2}) anstatt ihr durch Gesellschaftspolitik die Möglichkeit zu geben, daß sie zu ihren eigenen Werten finden und aus dieser Wertbezogenheit dann zu eigenverantwortlichem Handeln kommen kann. ({3}) Das ist der fundamentale Unterschied, um den es geht. Sie haben einen weiteren Fehler gemacht. Sie haben hier ein Bild von Jugend gezeichnet, dem ich so gar nicht zustimmen kann. Eine Emnid-Studie aus dem Jahre 1979 z. B. stellt fest, daß 69 % aller 14- bis 24jährigen, aber nur 26 % der über 50jährigen demokratische Erziehungsziele wie Selbständigkeit und freien Willen befürworten. Ich muß zugeben: Eine besondere Quote für die Anhänger der Unionsparteien ist seinerzeit nicht ermittelt worden. ({4}) Allensbach hat im gleichen Jahr mitgeteilt, daß nach dort gemachten Untersuchungen die Zahl derer, die sich gegen Behördenwillkür wehren würden, bei den Jüngeren deutlich größer ist als bei den Älteren. In-fas hat ebenfalls im Jahre 1979 erfragt, daß die Bereitschaft, sich persönlich zu engagieren, bei Jugendlichen viel ausgeprägter ist als bei Älteren. ({5}) 43 % aller 18- bis 24jährigen, aber nur 25 °A) aller über 50jährigen würden z. B. ihre politische Ansicht offen und öffentlich machen. ({6}) Die Daten dieser Untersuchungen zeigen, daß die Jugendlichen demokratische Normen sehr viel stärker akzeptieren und danach leben als Ältere. Angesichts dessen mögen Sie vielleicht von Staatsverdrossenheit reden dürfen, es gibt aber mit Sicherheit keine Demokratieverdrossenheit der Jugend. ({7}) Auf diesem Hintergrund, meine ich, sind der Jugendprotest und der Unwille zum Dialog mit der etablierten Politik zu sehen. Es gibt diesen Protest nicht etwa aus der Lust am Randalieren, aus der Unfähigkeit, sich demokratisch zu verhalten, sondern es gibt diesen Protest, weil es gesellschaftliche Probleme einerseits gibt ({8}) und Versäumnisse der Politik, adäquat zu reagieren, andererseits. Es ist deshalb gut, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin, Jochen Vogel, dies auch in Wahlzeiten offen und öffentlich sagt. ({9}) Es ist schlecht, Ihre pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit zu erleben, ({10}) wenn Sie darauf Antworten geben, die bei Licht betrachtet keine sind. Herr Kroll-Schlüter, Sie haben noch etwas anderes gemacht. Sie haben einen Satz aus dem Bericht der Eidgenössischen Jugendkommission zitiert. Sie haben gesagt: Es trifft zu - ({11}) - Ich kann es Ihnen sagen. Es heißt wörtlich: Es trifft zu, daß radikale Minderheiten die Jugendunruhen ausgelöst haben. Dies war der erste Satz. Es geht dann wie folgt weiter: Schröder ({12}) Es trifft auch zu, daß diese Minderheiten in verschiedener Hinsicht von der Mehrheit auch der Jugendlichen isoliert sind. Dann kommt der entscheidende Satz in dem Dokument, das Sie benutzt haben. Vielleicht sind Sie zufällig dazu gekommen. ({13}) Dieser Satz lautet: ... aber die Probleme dieser Minderheiten sind nicht isoliert von den Problemen der Mehrheit - und zwar einer Mehrheit nicht nur der Jugendlichen. ({14})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Abgeordneter Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rawe?

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber natürlich.

Wilhelm Rawe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001786, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie beklagen hier pharisäerhafte Zustände und arbeiten mit einer Vielzahl von Unterstellungen. Darf ich Sie fragen, ob Sie vielleicht mit dem pharisäerhaften Verhalten das gemeint haben, was der Regierende Bürgermeister von Berlin hier praktiziert hat, nämlich daß er Zustände beklagt, für die er als Mitglied der früheren Bundesregierung eigentlich mit die Verantwortung trägt? ({0})

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie dürfen natürlich fragen; wenn Sie eine Antwort hören wollen, bevor Sie sich umdrehen und weggehen, bekommen Sie sogar noch eine Antwort. ({0}) Ich meine, daß Sie falsch liegen. Was das Verdienst von Jochen Vogel in der jetzigen Auseinandersetzung ist, ist dies: Er hat den Mut, als Politiker nicht so zu tun, als hätte er bereits fertige Antworten auf alle Probleme und als hätten wir - dies geht uns alle an - als Politiker niemals Fehler gemacht. Er hat den Mut, Fehler einzugestehen und daraus zu neuen Lösungen zu kommen. ({1}) Diesen Mut bringen Sie und Ihre Fraktion eben nicht auf. Das ist das Mißliche. ({2}) Herr Präsident, ich möchte jetzt weiterreden. ({3}) - Sie dürfen deshalb keine Zwischenfragen mehr stellen, weil ich fürchte, daß Sie den Unterschied zwischen der Art und Weise, auch Fehler einzugestehen, wie das Jochen Vogel jetzt in Berlin macht, und Ihrer Selbstgerechtigkeit auch dann, wenn ich ihn Ihnen noch einmal erkläre, nicht begreifen werden. ({4}) Welches sind die Ursachen - darum geht es doch - für den Protest und das Mißtrauen der Jugend gegenüber der etablierten Politik? Der Kollege Hoppe hat in der gestrigen Debatte über die Lage der Nation sinngemäß gesagt: Sehnsüchte hätten in der Politik nichts zu suchen; man habe sich an Fakten zu orientieren. - Er steht mit dieser Auffassung sicher in prominenter Gesellschaft. In einer solchen Auffassung von Politik liegt aber eine der Ursachen des Protestes und eine der Ursachen des Abreißens des Dialogs. Es gibt in der Jugend - und nicht nur dort - eine Sehnsucht z. B. nach Frieden, nach einer Welt ohne Waffen. Es darf unsere Sache doch nicht sein, diese Sehnsucht als eine Angelegenheit von Träumern und Spinnern zu denunzieren, mit der ach so realistische Politiker nichts zu tun haben. ({5}) Was ist das, so frage ich, für ein erbärmlicher Realismus, der sich eine Welt ohne Waffen nicht mehr vorzustellen wagt? ({6}) Welche die Jugend ergreifende Kraft soll eigentlich von einem solchen Realismus ausgehen? Müssen uns nicht diejenigen angesichts dessen sehr viel näher sein, die als Teil der Jugendbewegung an die Häuserwände malen: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zu kämpfen? ({7}) Unsere Unfähigkeit, zu begreifen, daß Menschen - junge zumal - sich dagegen wehren, daß ihre Utopien verspottet und mit Zynismus überschüttet werden, verhindert den Dialog. ({8}) Was gefordert wird, ist ja nicht die sofortige Erfüllung der Träume. Was gefordert wird, sind der Respekt vor diesen Träumen und der Versuch, durch Handeln die Realität den Träumen ein Stückchen näherzubringen. ({9}) Eines ist sicher: So unbestreitbar erzielte Erfolge, gerade auch Erfolge der sozialliberalen Koalition sind, so unbestreitbar ist auch, daß der Protest sich aus der Kluft zwischen auch von der Verfassung verbürgten Ansprüchen und einer dem entgegenstehenden Wirklichkeit nährt. Schröder ({10}) Unsere Verpflichtung ist z. B. eine Verpflichtung, Frieden zu stiften. Wer diese Verpflichtung relativiert, handelt nicht menschlich. Weil es Atomwaffen gibt, gibt es jenseits des Friedens keine menschliche Existenz. Wir werden es nicht schaffen, der Jugend zu erklären, daß man erst aufrüsten muß, um dann abrüsten zu können. Wir müssen daher durch Verhandlungen erreichen, daß hier neue Waffen nicht stationiert werden und in der Sowjetunion vorhandene verschwinden. ({11}) Zeit, so denke ich, haben wir dabei nicht zu verlieren. Was wir verlieren können, ist das Vertrauen der Menschen in unseren Willen zur Abrüstung und damit letztlich zum Frieden. Ich sehe leider, daß meine Zeit abläuft. ({12}) Eine und die wichtigste Ursache des Protestes ist die Kluft zwischen Ansprüchen und der Wirklichkeit, für die wir nicht als einzelne, sondern für die wir alle verantwortlich sind. ({13}) Wenn wir es nicht schaffen, durch konkretes Handeln - Frau Huber hat zu Recht auf das Jugendhilferecht hingewiesen; ich weise auf die Reform des Rechts der Kriegsdienstverweigerung und auf die Ausbildungsinteressen der Jugendlichen hin, für die wir Erfolg schaffen müssen - diesen Jugendlichen zu beweisen, daß wir glaubwürdig sind, dann wird man uns mit Heinrich Heine sagen: Worte, Worte, keine Taten, immer Geist und keinen Braten. Dann wird man uns den Dialog, so fürchte ich, weiter verweigern. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauter.

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schröder, zu Ihnen nur ein Wort: Wer anderen Selbstgerechtigkeit vorwirft und so selbstgerecht auftritt, wie Sie es hier versucht haben, der tut sich wohl den kleinsten Gefallen, um überhaupt mit der Jugend in das Gespräch kommen zu können, das an und für sich auch Sie mit ihr führen sollten. Meine Damen und Herren, SPD und FDP halten es in der aktuellen Situation für angebracht, eine Enquete-Kommission zu beantragen, die sich unter dem Arbeitstitel „Jugendprotest im demokratischen Staat" mit der Jugend bei uns beschäftigen soll. Ob dies zur Lösung der Probleme der Weisheit letzter Schluß ist, ob es nicht nur ein zeitweises Davonstehlen vor der Verantwortung darstellt, ob es vielleicht der vordergründigen Beruhigung des möglicherweise vorhandenen schlechten Gewissens dient, ob man lediglich Herrn Vogel einen Gefallen erweisen möchte, der ja im Moment auch für spärlichste Erfolge äußerst dankbar sein muß, ({0}) oder - da denke ich an das, was Sie soeben gesagt haben, Herr Schröder, mit „zuhören, lernen" - ob es sich hier wieder einmal um eine der berühmten Denkpausen der SPD handelt, die regelmäßig eine Pause des Denkens darstellen, aber nie dazu geführt haben, daß es tatsächlich zum Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten gekommen ist, das möchte ich hier dahingestellt sein lassen. ({1}) - Das wird sich erst noch - ({2}) - Das wird sich erst noch herausstellen, Herr Wehner. ({3}) - Was Vorurteile anbelangt, sind Sie sicher um einiges gewiefter als andere hier im Hause. ({4}) - Sie können ja vielleicht einmal abwarten, was ich dazu noch - ({5}) - Warnen tue ich jetzt, Herr Wehner. ({6}) Ich warne nämlich davor, Herr Wehner, daß wir diese Kommission mit zuviel Vorschußlorbeeren belasten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich warne auch davor, daß wir so tun, als ob dies nun der große Wurf ({7}) oder gerade das Gelbe vom Ei sein müßte. ({8}) Ich darf Ihnen versichern, daß die Opposition bestrebt sein wird, das Beste aus dieser Kommission zu machen, und daß wir unseren Beitrag dazu leisten werden, daß sinnvolle Ansätze zur Lösung der Probleme auf den Tisch gelegt werden. Eines möchte ich heute schon festhalten: Diese Kommission wird aus aktuellem Anlaß eingerichtet. ({9}) - Es ist nett, Herr Duve, daß Sie jetzt endlich die tatsächliche Begründung dafür bringen, warum diese Kommission überhaupt eingerichtet werden soll. Das erleichtert das Ganze; dann sieht man auch, auf Sauter ({10}) welche Ergebnisse Sie hinaus wollen. Insofern verstehe ich das nicht mehr, was vorhin Herr Wehner von sich gegeben hat. Sie wird aus aktuellem Anlaß eingerichtet. Es wäre aber falsch, wenn wir den Auftrag dieser Kommission auf den aktuellen Anlaß beschränken würden. ({11}) Das wäre, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach meiner Überzeugung ein Schlag ins Gesicht für die überwältigende Mehrheit der jungen Menschen in unserem Land, die arbeiten, die studieren und die lernen. Daß sich diese Mehrheit im Moment ruhig verhält, darf uns nicht zu dem Schluß verleiten, daß sie auch innerlich ruhig und zufrieden sei. Auch diese jungen Leute haben möglicherweise Angst vor dem, was auf sie zukommt. ({12}) Es darf nicht dazu kommen, daß ein kleiner Teil in die Irre geführter junger Menschen unser politisches Denken und Handeln im demokratischen Rechtsstaat bestimmt. ({13}) Die Kommission verfehlt das Ziel, wenn sie sich nur mit Demonstranten, ({14}) mit Aussteigern, ({15}) - dazu gehören Sie auch, Herr Duve ({16}) mit Krawallmachern, mit Unruhestiftern beschäftigt, wenn sie sich nur mit jenen beschäftigt, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Argumente durch Steine und durch Rechtsbruch ersetzen wollen. Wir dürfen nicht diejenigen unsicher machen, die sich an die demokratischen Spielregeln halten, indem wir sie erleben lassen, daß sie untergehen, daß sie nicht gefragt sind, wenn sie sich nicht so verhalten, wie das bei anderen der Fall ist. ({17}) Wir dürfen nicht die Neigung zu Gewalt und Rechtsbruch großreden, indem wir die zumindest latente Neigung dazu der gesamten Jugend zuschreiben. ({18}) - Ja, das ist ja großartig; dann haben wir eine Übereinstimmung. ({19}) - Ja, es schadet doch nichts, wenn wir feststellen, daß wir in einigen Dingen sogar einig sind. Dann kommen wir vielleicht zu einem einigermaßen brauchbaren Ergebnis. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, daß die Lautstarken die besondere und ausschließliche Aufmerksamkeit in unserem Staat genießen. Alles würde dadurch nicht besser, es würde vielmehr schlechter; es wäre ein indirekter Aufruf zum gewalttätigen Protest und würde dazu führen, daß wir die stille Mehrheit in der jungen Generation zur zweiten Garnitur abstempelten. Deshalb müssen wir nach meiner Überzeugung den Auftrag auf nicht angesprochene Randgruppen hin erweitern, auf diejenigen, die geistig und ethisch orientierungslos geworden sind, auf diejenigen, die keine befriedigende Antwort auf die Fragen nach dem Sinn und den Zielen des Daseins finden, auf diejenigen, mit denen Angst und Unsicherheit umgehen, und auch auf jene, die vor den mageren Jahren, die ihnen ja jetzt in den letzten Wochen vorhergesagt worden sind, Angst haben, die Angst vor den schmerzlichen Einschnitten haben. Für diese Jugend stellt sich das Problem anders. Es stellt sich deshalb anders, weil sie kein Elend kennt, weil sie keinen Hunger kennt und weil sie keine Entsagung kennt. Sie ist hier in einer anderen Situation. Und auch das muß mitberücksichtigt werden. Wir müssen den Auftrag an die Kommission auch auf diejenigen ausdehnen, die nicht fragen, was kann der Staat für mich tun, sondern die Frage stellen, was kann ich für diesen Staat tun. ({20}) Auch die gibt es, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({21}) Wir müssen den Auftrag auf diejenigen ausdehnen, die mitmachen wollen, die sich aber nicht angesprochen fühlen, die aktiv am Staat und an der Gesellschaft teilnehmen und die, meine sehr verehrten Damen und Herren, gefördert werden und gefordert sein wollen. Deshalb darf nach meiner Überzeugung der Arbeitstitel nicht lauten „Jugendprotest im demokratischen Staat". Er muß lauten „Jugend im demokratischen Staat". ({22}) Alle müssen sich angesprochen fühlen. Alle müssen wissen, daß wir uns mehr und verstärkt um sie kümmern wollen und werden. Alle müssen wissen, daß der Deutsche Bundestag sein Hauptaugenmerk auf die Lösung der Probleme der Jugend richtet, weil nur die Lösung dieser Probleme auch den Fortbestand unserer freiheitlichen und sozialen Demokratie sichert. Wir können die Arbeit in der Kommission sicher nur dann bewältigen, wenn wir zunächst nüchtern und vorbehaltlos eine Bestandsaufnahme machen. Es wird etwas schwierig sein, weil es da für SPD und FDP nicht gerade rosig aussieht. Sie sind diejenigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die dazu beigetragen haben, daß Illusionen genährt, Hoffnungen geweckt wurden, eine Anspruchsinflation begründet wurde, die die Machbarkeit erfunden und ständig bekräftigt, die das Blaue vom Himmel versprochen haben, und das bei totaler Versorgung einerseits ({23}) Sauter ({24}) und totaler Entpflichtung andererseits. ({25}) - Dies könnte, meine sehr verehrten Damen und Herren und Herr Wehner, nur dann zutreffen, wenn nicht über zwölf Jahre die Politik so von SPD und FDP betrieben worden wäre. Bitte denken Sie an die Aufbruchstimmung, mit der Herr Brandt vor zwölf Jahren hier seine Regierungserklärung abgegeben hat. Da klang einiges von dem an, was ich jetzt angesprochen habe. Vielleicht wollen Sie sich nicht mehr gern daran erinnern. ({26}) Unser Problem ist sicher das, daß die Jugend kurzfristig materiell gesättigt wurde, langfristig aber immateriell ausgehungert worden ist. Und wenn heute dieser immaterielle Anspruch erhoben wird, sollten wir uns darüber im klaren sein, daß immaterieller und materieller Anspruch für die junge Generation nicht in einem Entweder-Oder-Verhältnis stehen. Sie stehen in einem Sowohl-Als-auch-Verhältnis. Sie führen nämlich zu einem zusätzlichen Anspruch, dem wir gerecht werden müssen. Sie stehen heute in SPD und FDP so da, daß Sie Probleme mitverantworten müssen wie Jugendarbeitslosigkeit, Mangel an Studienplätzen, nicht gebaute Studentenwohnheime, einen Kampf, der sich heute an den Schulen abspielt, wo Hundertstel von Noten über Lebensschicksale entscheiden. ({27}) - Nein. Wissen Sie, was Sie nicht machen? Sie tragen dazu bei, daß wir keine Hochschulplätze haben. Darum muß der Verdrängungswettbewerb schon an den Schulen stattfinden, weil nämlich die Leute nicht studieren können. ({28}) - Überlegen Sie sich doch mal bitte schön, wie Sie heuer die Mittel in all diesen Bereichen gestrichen haben. ({29}) - Da bin ich Ihnen dankbar, daß Sie mir das sagen. Wir könnten in Bayern für jeden, der bei uns Abitur macht, einen Studienplatz zur Verfügung stellen, wenn es nicht andere gäbe, die gern nach Bayern wollen. ({30}) - Ich habe den Eindruck: bei Ihnen gibt es ein paar Schlagworte, wo alles wieder aufwacht: Das ist human, kritisch - und solche Dinge. Also da müssen Sie schon ein bisserl konkreter werden, damit man sich hier entsprechend auseinandersetzen kann. Sonst müßte ich das mit dem „Dünnbrettbohrer" zurückgeben. ({31}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD und FDP, Sie haben es auch zugelassen, daß ein Abbau des Unrechtsbewußtseins stattgefunden hat, und das ist nach meiner Überzeugung mit der Ausgangspunkt für die heutige Eskalation. Ein Problem, worüber wir uns alle gemeinsam Gedanken machen müssen, ist folgendes, daß in den letzten Jahren der moderne Staat zu einem gewaltigen Dienstleistungsunternehmen umfunktioniert worden ist, zu einem Unternehmen, das rational zu erfassen und rational zu steuern ist. In einem Staat, der für Herz und Gemüt, für Gefühle, für emotionale soziale Bedürfnisse nichts zu bieten hat, läßt sich keine politische Heimat finden. In dem muß sich die Jugend alleingelassen fühlen. In dem findet sie keine Geborgenheit und kein Zuhause. Es wird in diesem Zusammenhang viel über Werte und Wertewandel gesprochen, und es ist mit eine unserer Aufgaben, auch dies in den Untersuchungsauftrag einzubauen. Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu dem vielbeschworenen Dialog, zum offenen Gespräch sagen. Ich weiß nicht, ob wir uns bezüglich des Dialogs grundsätzlich so weit einig sind, daß er nicht unbedingt in Anpassung enden darf. Dialog heißt für mich, sich zu stellen, statt sich beklatschen zu lassen ({32}) und so zu tun, als würde man schon deshalb zustimmen, um sich nicht den schwierigen Fragen stellen zu müssen. Dialog heißt - das ist wohl ein gemeinsames Problem vieler -, auf die Jugend zuzugehen und nicht darauf zu warten, daß die Jugend zu uns kommt. Sie setzt Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, Politiker als Vorbilder und Leitbilder voraus, und sie setzt auch - es ist bedauerlich, daß diejenigen, die ich hier ansprechen möchte, dieser Enquete-Kommission doch nicht die Bedeutung zumessen, wie das bei uns der Fall ist - die Fähigkeit zum Dialog mit der eigenen Jugend in der Partei voraus. Ich hätte hier gern Herrn Genscher und Herrn Schmidt befragt, wann sie in den letzten zehn Jahren zum letztenmal bei ihrer eigenen Parteijugend gewesen sind. Wer will denn mit der Jugend reden, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({33}) wenn er nicht einmal mit seiner eigenen Parteijugend ins Gespräch kommt bzw. kommen kann? ({34}) Die Kommission soll nicht über die Jugend, sondern mit der Jugend reden. Deshalb möchte ich hier noch einen Gedanken einbringen, über den vielleicht gesprochen werden kann. Mir erscheint die Sauter ({35}) Zusammensetzung mit 7 Politikern und 5 Sachverständigen als ein zu administratives Korsett. Ich glaube, wir sollten insbesondere nicht die Sachverständigen institutionalisieren. Wir sollten zumindest die Überlegung anstellen, diese Kommission offen zu gestalten, indem wir nicht Sachverständige mit ausschließlicher Zuständigkeit dazunehmen, sondern indem wir von Fall zu Fall, wenn es notwendig, erforderlich und sinnvoll ist, jeweils Sachverständige hinzuziehen. ({36}) Das ist, wie gesagt, nur eine Anregung, von der ich hoffe, daß sie in den Ausschüssen, an die der Antrag überwiesen wird, noch diskutiert werden kann. - Herzlichen Dank. ({37})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat Frau Abgeordnete Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aktueller Anlaß der Einsetzung einer Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" - sind - das wissen Sie alle, ich möchte es zu Beginn nur noch einmal in Erinnerung rufen - Krawalle in deutschen und ausländischen Großstädten, Demonstrationen mit und ohne Gewalt, das Aufblühen von alternativen Werkstätten und Bauernhöfen, die beunruhigende Zahl von Haschischkonsumenten und Heroinabhängigen. Dies zeigt, daß ein Teil - ich betone: ein Teil - der jungen Generation den Protest gegen die bestehende Gesellschaft wählt. Aber diese Enquete soll sich nicht nur mit den Protesten beschäftigen, sondern - das geht aus dem Auftrag ganz klar hervor und ist auch von meinen Vorrednern schon hervorgehoben worden, Herr Sauter - diese Enquete-Kommission soll sich auch mit der schweigenden Mehrheit beschäftigen, der Mehrheit sowohl derer, die sich auch mit der schweigenden Mehrheit beschäftigen, der Mehrheit sowohl derer, die sich in diesem Staat angepaßt verhalten, als auch derer, die ganz bewußt erwachsen werden und mit den Problemen des Erwachsenwerdens allein fertig werden. Vieles von dem, was hier vorgetragen worden ist, stellt eigentlich nur Symptome des Protestes dar, ohne ausreichend Aufschluß über die Ursachen zu geben. Ich erinnere hier nur an die Diskussion über den Nachrüstungsbeschluß der NATO, an die Wohnungsbaupolitik, an die Diskussion darüber, ob die Schule nun zuwenig oder zuviel Leistungsanforderungen an die Jugendlichen stellt. Über die Ursachen - das betone ich noch einmal - wissen wir zuwenig, und, was hier wohl auch einmal ganz klargestellt werden muß, die Proteste richten sich nicht gegen eine Partei, nicht gegen eine Partei dieses Hauses oder sonst eine Partei dieses Staates, sondern gegen alle Parteien, ({0}) sowohl die, die hier im Bundestag vertreten sind, als auch die, die in den Landtagen das Sagen haben, und die, die in den Kommunalparlamenten die Umwelt bestimmen, in der die Jugendlichen aufwachsen. Ich möchte wie mein Kollege Eimer keine Patentrezepte geben, sondern nur ein paar Fragen stellen: Meine Damen und Herren, trägt zu dem Protest der Jugendlichen nicht auch bei, daß wir Erwachsenen, wir, die wir das Geld, die Macht und das Recht auf unserer Seite haben, möglicherweise als Provokation für diese Jugendlichen wirken? Ich will Ihnen nur einige Beispiele aufzählen, wo wir als Provokation wirken können. ({1}) Wir können durch unseren Stolz auf das Erreichte und auf den Wohlstand als Provokation wirken. Und können wir nicht auch als Provokation wirken durch das Aufrechterhalten undurchschaubarer demokratischer Strukturen und Entscheidungsprozesse? Oder dadurch, daß persönlich verantwortete Entscheidungen verschwinden und wir uns zurückziehen auf vermeintliche oder auf echte Sachzwänge? Auch dadurch, daß politische Verantwortlichkeiten - nicht zuletzt durch ständige Zwänge zum Kompromiß zwischen Bundestag und Bundesrat - nicht mehr deutlich werden? Ich erinnere hier nur an die Diskussion über das Jugendhilferecht. Die hitzige Debatte zu diesem Punkt hat doch eigentlich gezeigt, wie hier die Schuld hin- und hergeschoben und die politische Verantwortung nicht mehr sichtbar wird. ({2}) Tragen wir nicht auch durch die Art der politischen Auseinandersetzung zur Provokation bei - ich glaube, die letzten Debattenbeiträge haben hier wiederum ein sehr deutliches Zeichen gegeben ({3}) oder auch dadurch, daß in unserer Gesellschaft eine Doppelbödigkeit zwischen moralischem Anspruch und wirklichem Handeln besteht? Ich möchte hier nur daran erinnern, wie sehr sich offiziell verkündete Meinungen konservativer Kreise zum § 218 von der Art unterscheiden, in der dieser Paragraph selbst durch Mitglieder von Kirchen und durch konservative Kreise gehandhabt wird. ({4}) Provozieren wir die Jugendlichen nicht auch dadurch, daß Häuser geräumt werden, die durch nicht gewalttätige Demonstranten - ich betone: durch nicht gewalttätige Demonstranten - besetzt worden sind, Häuser, die vorher leerstanden und hinterher wieder leerstehen? ({5}) Auch dies kann vielleicht als Provokation gewertet werden. Nicht zuletzt: Provozieren wir nicht dadurch, daß wir immer wieder deutlich machen, wie immobil unFrau Dr. Adam-Schwaetzer sere Gesellschaft ist und daß wir vermeintlich erst dann reagieren, wenn tatsächlich auf Gewalt zurückgegriffen wird? Ich glaube, meine Damen und Herren, durch diese Aufzählung wird deutlich, daß hier die Schuld nicht hin- und hergeschoben werden kann, sondern daß die Verantwortlichkeiten gleichmäßig verteilt sind. Ich möchte andererseits aber auch fragen, ob wir nicht die rechtswidrigen Formen dieses Protestes dadurch unterstützen, daß wir den Jugendlichen nicht scharf genug aufzeigen, wo die Grenzen des rechtlich Zulässigen sind, ({6}) und sie damit im unklaren darüber lassen, welche Konsequenzen ihr Handeln haben kann. Das Beispiel - ich bringe es sehr bewußt - zeigt deutlich, wie unterschiedlich der gleiche Tatbestand bewertet werden kann und auch bewertet werden muß. Meine Damen und Herren, in diesen Fällen müssen wir abwägen, wo die Priorität des Handelns zu setzen ist. Ich möchte hier auch betonen, daß wir möglicherweise den Protest dadurch unterstützen - und die Debatte heute hat auch dafür einige Beispiele gebracht -, daß das, was wir wollen, ständig nur negativ, verzerrt, dargestellt wird, anstatt daß wir versuchen, Verständnis zu wecken für das, was wir als notwendig, handlungsnotwendig erachten. ({7}) Meine Damen und Herren, wann und wo eigentlich haben Jugendliche das letzte Mal für etwas demonstriert und nicht gegen etwas? ({8}) - Das gibt es in eng umgrenzten kleinen Gebieten. Aber wenn Sie zurückdenken, werden Sie zugeben, daß dieser Protest des „Für etwas" früher schon deutlicher war. ({9}) - In Essen ist gegen etwas demonstriert worden, nämlich gegen die Handhabung, gegen die Durchführung eines Gesetzes. ({10}) Hier soll nicht das Wort für irgendwelche staatlich verordneten Leitbilder geredet werden. Doch unübersehbar ist, daß die Welt der Erwachsenen von vielen Jugendlichen wie eine Mauer erfahren wird, vor der sie stehen, deren Sinn sie nicht begreifen und die sie nicht überwinden zu können glauben. Vergleiche sind schon gezogen worden - sie drängen sich auf - zum Jugendprotest der Jahre 1967 und 1968. Ich glaube, viele der Kollegen haben sehr lebhafte persönliche Erinnerungen an diese Zeit. Auch damals galt der Protest der Unbeweglichkeit. Doch die Hoffnung auf einen Wandel zu einer stärker demokratischen Gesellschaft war unübersehbar und vorherrschend. Der Protest damals war lautstark und zunächst weitgehend gewaltfrei. Es wurde diskutiert. Darin scheint mir der entscheidende Unterschied zu dem Protest der heutigen Jugend zu liegen. Der Protest heute äußert sich im Widerstand gegen den Staat, Gewalt gegen Sachen, alternativen Lebensformen, Gewalt gegen sich selbst; denn Heroinabhängigkeit ist eine Art der Gewalt gegen sich selbst. Die Kommunikation zwischen den Protestierenden und den Erwachsenen scheint unmöglich geworden zu sein. Aber das ist nicht überraschend und plötzlich gekommen. Schon Anfang der 70er Jahre waren die Unfähigkeit, aber auch der Unwille, sich zu artikulieren, deutlich. Ich erinnere mich daran noch sehr genau aus meiner Zeit als Assistentin an der Universität in Bonn. Ich bin ganz sicher, daß viele der Kollegen das ebenfalls so empfunden haben. Zu fragen ist - das frage ich auch sehr selbstkritisch -, warum wir damals auf diese Zeichen nicht anders reagiert haben, die auf die Probleme hinwiesen, vor denen wir heute - wobei die Zahl dieser Probleme angewachsen ist - stehen. Der Reformansatz der späten 60er Jahre wurde damals als gescheitert empfunden und die Möglichkeiten der politischen Veränderung von vielen Jugendlichen ausgeschlossen. Das Leben wurde entpolitisiert und privatisiert, nicht ideologisiert, Herr Kroll-Schlüter, wie Sie das eben gesagt haben. ({11}) Alternative Lebensformen, wie wir sie heute finden, entwickelten sich. Diese Jugendlichen mögen heute versuchen, Sinn zu fühlen. Sie finden etwas schön - ich komme damit auf Ihre Rede zurück -, ohne daß sie sich damit stärker auseinandersetzen. Mit dieser Sinnfrage aber - das müssen wir uns ganz klar vor Augen führen - wird in aller Heftigkeit die Sinnfrage nach unserem System gestellt. Der Hinweis, es funktioniere, ist wenig hilfreich. Es kommt heute darauf an, daß durch unser politisches Handeln auch qualitative Verbesserungen gegenüber den vorherrschenden quantitativen Überlegungen zur positiven Gesamtbilanz unserer Gesellschaft beitragen kann. ({12}) Wir können und dürfen es uns nicht leisten, den Teil der Jugendlichen, der protestiert, aus unserer Gesellschaft zu entlassen, wenn wir die Struktur dieser Gesellschaft nicht insgesamt in Frage stellen wollen. Deshalb müssen wir uns mit den Ursachen stärker beschäftigen. Das wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein. Lassen Sie mich aber auch noch etwas zu dem sagen, was ich als eines der vorherrschenden Ziele dieser Kommission empfinde. Es ist schon davon geredet worden, den Dialog mit der Jugend zu führen. Jeder von Ihnen, der in der letzten Zeit Diskussionen mit Jugendlichen bestritten hat, wird mir zugeben, wie unendlich schwer es ist, den Dialog mit der Jugend zu führen. Das heißt, was wir brauchen, sind Strategien, die es uns ermöglichen, diesen Dialog wieder so zu führen, daß er tatsächlich sinnvoll wird. ({13}) Das - damit möchte ich zum Schluß kommen - betrachte ich als eine der wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommission. - Vielen Dank. ({14})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat der Abgeordnete Egert. ({0})

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ein hübscher Zuruf „Der verhinderte Senator". Es stimmt tatsächlich: Ich bin am 15. Januar im Berliner Parlament durchgefallen. Das war wieder ein Beitrag, wie man eine Debatte im Parlament führen kann! Das ist ein Einstieg in Ihr Demokratieverständnis. Es war eine demokratische Entscheidung. Ich bin so naiv gewesen, heute hier in diese Parlamentsdiskussion in der Erwartung zu kommen, wir wollten wirklich über den jugendlichen Protest reden. ({0}) Ich hatte die Hoffnung, Herr Reddemann, daß wir es schaffen, die Souveränität aufzubringen, die das zu dieser Frage bisher als einziges vorliegende Dokument atmet, nämlich der Bericht der Eidgenössischen Jugendkommission. Ich bin belehrt worden: Zu dieser Souveränität sind wir in diesem Parlament nicht fähig. ({1}) Aber die Hoffnung sollten wir nicht aufgeben. Lassen Sie mich aus diesem Dokument einen Satz als Antwort auf Ihren Kollegen Sauter zitieren, der hier in der Debatte allerhand zum besten gegeben hat. ({2}) - Herr Reddemann, Sie hören mir ja auch zu. ({3}) - Das ist lieb von Ihnen. In diesem Dokument heißt es unter 4.5: Jede politische Fehlentwicklung, ja sogar Naturkatastrophen sind willkommene Gelegenheiten zur Propaganda für diejenigen politischen Kräfte, die sich dafür nicht verantwortlich fühlen. Aus den Jugendunruhen politisches Kapital schlagen zu wollen ist aber aus zwei Gründen und in anderem Sinne besonders verantwortungslos: erstens weil sich keine Partei von Unterlassungssünden in der Jugend-, Familien-, Bildungs-, Wohnbau-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Kulturpolitik freisprechen kann. Es gibt bei uns keine einzelne Regierungspartei, der man alle Verantwortung in die Schuhe schieben kann. Es ist zweitens besonders verantwortungslos, weil der Jugend mit solchen Versuchen einmal mehr drastisch demonstriert wird, daß es in der ganzen Politik offenbar primär um Stimmen und damit nur um Macht geht. Wenn diese Erkenntnis unsere Debatte geprägt hätte, wären wir ein Stück näher am Problem. So aber fürchte ich, daß wir uns vom Problem wegheben. Man sollte ein Stück Glaubwürdigkeit dadurch gewinnen, daß Sie gegen die Einsetzung dieser Enquete-Kommission stimmen - das wäre glaubwürdig -; denn Sie wissen ja schon, wer am jugendlichen Protest schuld ist. Sie haben gesagt: Das ist diese Bundesregierung, die hat schuld. Das wissen Sie schon. Dann seien Sie auch konsequent und stimmen gegen die Einsetzung der Enquete-Kommission. Ich weiß nicht, was alles ursächlich für den jugendlichen Protest ist. ({4})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Kollege Egert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Reddemann hat bei mir immer die Freiheit, eine Frage zu stellen.

Dr. h. c. Gerhard Reddemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001790, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. Ich fasse es genauso auf, wie Sie es gesagt haben. Herr Kollege, erinnern Sie sich nicht daran, daß es in den sechziger Jahren Ihre Partei war, die die damaligen Proteste als ausschließliche Proteste gegen die von der CDU geführten Bundesregierungen auffaßte, und meinen Sie nicht, daß es jetzt eigentlich etwas Selbstverständliches ist, wenn man nach elf Jahren, in denen Sie regieren, mindestens einen beachtlichen Teil der Verantwortung bei Ihnen und dieser Regierung sucht? ({0})

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese monokausale Erklärung hat es von meiner Partei nicht gegeben. ({0}) Dies ist offensichtlich der Vorwurf, der Sie betroffen gemacht hat, daß es auch an den Ergebnissen der Politik Ihrer Regierung gelegen hat. Sie hatten doch in den sechziger Jahren den Vorzug - ich bedaure das politisch -, die ersten Jahrzehnte dieser Republik gestalten zu dürfen, die Verfassung ausführen zu dürfen, den Entwurf einer nach mehreren Seiten angelegten Verfassung einseitig reduzieren zu dürfen. ({1}) Dies allerdings hat zur Kritik in der jungen Generation geführt; das gebe ich zu. Das war aber nicht nur ein Gegenstand im parteipolitischen Gezänk, sondern es war sehr prinzipiell zu sehen. ({2}) Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen dazu machen, mit welcher Absicht wir die Arbeit dieser Enquete-Kommission begleiten wollen. Ich will gleich einer Gefahr begegnen. Es ist ja sehr modisch, darüber zu reden: Wo sind die Ursachen des jugendlichen Protestes? Für uns ist dies auch kein taktisches Manöver. Es geht nicht primär um Stimmen, sondern wir wollen prinzipiell wissen, wo die Ursachen liegen, um die Dinge zu verstehen und gegebenenfalls auch aus unseren Versäumnissen zu lernen. Diese Bereitschaft haben wir. Es ist gesagt worden, wir müßten uns stellen. - Natürlich müssen wir uns stellen. Aber wir müssen auch bereit sein, uns in bezug auf das, was wir gemacht haben, in Frage stellen zu lassen. ({3}) Wenn wir schon vorher wissen, daß alles richtig ist, was wir gemacht haben, dann sollten wir kein derartiges Schaumanöver veranstalten. ({4}) - Der Beitrag von Herrn Sauter war so angelegt. Er war in dem, was er alles als richtig wußte, so selbstsicher, daß mich das betroffen gemacht hat. Ich habe diese Selbstsicherheit nicht. Ich habe zu dem, was Auftrag, Arbeit und Umfang dieser Enquete-Kommission sein kann, mehr Vermutungen als feste Erklärungen. In diesen Vermutungen selbst bin ich unsicher. Ich will, daß diese Vermutungen in der Arbeit der Enquete-Kommission entweder bestätigt oder widerlegt werden oder mir Erkenntnisse zuwachsen, die es mir möglich machen, zum politischen Verhalten der jungen Generation wirklich etwas dazuzulernen. Meine erste Vermutung ist, daß zum Beispiel eine der Ursachen in der Formalsprache der Politik liegt, die gerade die junge Generation häufig genug nicht mehr nutzen kann, um zu begreifen, was denn die politischen Absichten der Handelnden sind. Wir fürchten, daß eine Politik, die sich in ihrem positiven Sinn ausschließlich an die Köpfe der Menschen richten will, absichtlich oder unabsichtlich dazu beitragen kann, Gefühle der Menschen zu verletzen. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen verdeutlichen. Ich sehe, daß in Teilen der jungen Generation weit verbreitete Zukunftsängste vorhanden sind und daß sich die junge Generation in diesen Zukunftsängsten von der offiziellen Politik nicht ausreichend ernst genommen fühlt. ({5}) Das ist dann nicht die Frage, zu welcher politischen Variante der Friedenspolitik wir ja oder nein sagen, sondern diese Friedenssehnsucht steht davor. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man pazifistische Denktraditionen in gewisser Weise brandmarkt oder etwa politische Anregungen und Diskussionsbeiträge als Anti-Amerikanismus verdächtigt. Dies ist eine Verkürzung von Politik. Wir sollen um die richtige Politik ringen. Aber wir müssen, wenn wir mit der jungen Generation ringen wollen, zuvor die Legitimität ihrer Bedürfnisse zur Kenntnis nehmen. Ich glaube, daß dies eine wichtige Erkenntnis ist, und hier sind bei der offiziellen Politik Versäumnisse festzustellen. Das gleiche gilt für die energiepolitische Diskussion. Diejenigen, die in der naturwissenschaftlichen Diskussion um die Frage „pro oder kontra Energiepolitik" in einer Formelsprache reden, die kenntnisreicher ist als meine, müssen zur Kenntnis nehmen, daß hier eine nachwachsende Generation wissen will, wie ihre Zukunft aussieht. Das ist also im strengen Sinn eine nicht nur fachliche Debatte um energiepolitische Varianten, sondern es geht um die Frage der Verteilung von Zukunftschancen, an denen diese Generation beteiligt sein will, wo sie mit ihren Bedürfnissen eintritt. Es geht unmittelbar um ihre Bedürfnisse in der Berufswelt, in dem Bildungsbereich, in dem Ausbildungsbereich und im Berufsbildungsbereich. Hier hat diese Generation offensichtlich den Eindruck, daß ihre ureigenen Probleme, ihre Zukunftsperspektiven von der offiziellen Politik nicht in der notwendigen Weise ernst genommen werden. Diese Sprachschwierigkeiten zwischen der offiziellen Politik und der jungen Generation werden nun allzuhäufig mit gewaltsamen Aktionen beantwortet. Dabei wird die eigene Gewalt von denen, die sich daran beteiligen, zunehmend als legitime und die staatliche Gewalt als illegitime Gewalt begriffen. Dieser Vorgang muß uns nachdenklich machen. Da hilft es nichts, daß wir beharrlich sagen: Da ist die Grenze erreicht. Vielmehr müssen wir sehen: Wie kommen wir wieder zu einer anderen Form der Sprache zwischen den Generationen? Wie kommen wir aus dieser Form der gewaltsamen Auseinandersetzung heraus? Diese Umwertung der gewaltsamen Aktionen findet allerdings insbesondere dann Flankenschutz, wenn der Staat von seinen Machtmitteln in unverhältnismäßiger Weise Gebrauch macht. Da ist Nürnberg ein Beispiel. 141 Haftbefehle fördern nicht das Verständnis für den Rechtsstaat, nicht die Einsicht in die Notwendigkeit des Rechtsstaats, sondern sie sind eine Erfahrung junger Menschen für die Willkür des Rechtsstaats, und sie relativieren das Unrechtsbewußtsein beim eigenen Tun. ({6}) - Das ist ein Problem. Ich sage nicht, daß das so richtig ist. Aber das zu verstehen heißt j a nicht unbedingt, es zu billigen; aber man muß es einbeziehen. Hinzu kommt - auch das ist ein Problem, auf das wir reagieren müssen -, daß die Jugendlichen häufig genug erstaunt das Erschrecken der Erwachsenen feststellen können und dies lustfördernd wirkt. Das mag man bedauern oder begrüßen - es ist so. Dies zu ändern ist eine Frage auch an die Originalität von Politik, die andere lustfördernde Beispiele geben kann. Da würde ich meinen, daß wir insgesamt nicht sehr originell sind. Junge Menschen richten sich - das ist meine dritte Mutmaßung über die Hintergründe des Protests der Jugendlichen - auch an den Widersprüchen dieser Gesellschaft aus. Von meinem Freund Rudi Hauck ist vorhin von den Werten gesprochen worden; ich will darauf zurückkommen. Wir haben unterschiedliche Botschaften. Wir, die Sozialdemokraten, haben die Botschaft „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität". Wir vertreten diese Botschaft in einer Gesellschaft, die als Konkurrenzgesellschaft angelegt ist und von daher all diesen Prinzipien notwendigerweise gegnerisch gegenübersteht. ({7}) Diesen Widerspruch erleben junge Menschen, die sich konsequent nach dieser Wertorientierung richten wollen. Wenn sie nun noch ein Problem finden, bei dem soziales Unrecht so evident ist wie bei den Hausbesetzungen - ich meine das soziale Unrecht des Mißbrauchs von Eigentum durch die Hauseigentümer -, können wir uns nicht darüber wundern, daß aus diesem Ernstnehmen von Werten, für die z. B. die Sozialdemokratie einsteht, Formen des Protests oder des Unverständnisses gegenüber der Situation, die da auftaucht, erwachsen. ({8}) In dieser Konkurrenzgesellschaft, in der das Konkurrenzverhalten eine der prägenden Verhaltensweisen ist, in der der Leistungsbegriff einseitig auf Erfolg, Intelligenz, technische Fertigkeit und Durchsetzungsvermögen abstellt, ist es doch kein Wunder, daß dies bei denjenigen zum Widerspruch führt, die Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Phantasie, Originalität, Kooperation und moralische und soziale Empfindsamkeit gleichermaßen wichtig finden ({9}) und aus diesem Widerspruch nicht herausfinden. Wir haben uns - dazu bekenne ich mich mit - bequem in die Unvollkommenheiten dessen eingerichtet, was wir als ein Stück der Ergebnisse unserer politischen Arbeit sehen. Wir haben diejenigen vernachlässigt, die gegenüber diesem erreichten Ergebnis unbequem sein wollen. Sie wollen unbequem sein, und wir geben ihnen keine Verhaltensbeispiele, wie sie das mit unserem Verständnis und mit unserer Toleranz tun können. ({10})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Kollege Egert, Ihre Fraktion hatte für Sie zehn Minuten Redezeit angemeldet. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Schluß kämen.

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Mit diesem Widerspruch geht das Gefühl der jungen Generation einher, daß die Staatsmacht in ihrem Handeln allzu anonym erscheint, daß die arbeitsteilige Gesellschaft zu kompliziert ist. Die jungen Menschen wünschen sich durchschaubares Handeln und überschaubare Organisationseinheiten. ({0}) Sie haben das Empfinden, daß die Bewußtseinsindustrie, die in weiten Teilen die Funktion des Elternersatzes übernommen hat, ({1}) ihre Fragen nicht klärt, sondern ihre Zweifel verstärkt. ({2}) Zum Widerspruch in der Gesellschaft kommt der Widerspruch im Tun. Glaubwürdigkeit ist dann verloren, wenn sich zwischen Worten und Taten der handelnden Politiker Kluften auftun. Die vor uns liegende Aufgabe müssen wir schon deshalb lösen, weil es unsere Kinder sind, nicht in einem sehr konkreten Sinne Ihre, aber Kinder dieser Gesellschaft. Das vorhandene Regelspiel reicht offensichtlich nicht aus, wenn die Mitspieler sich verweigern, und formale Disziplinierungsinstrumente werden diese Aufgabe nicht lösen. Wir dürfen und werden es nicht zulassen, daß Teile der jungen Generation im gesellschaftlichen Abseits stehenbleiben. Wir Sozialdemokraten bringen ohne Selbstgerechtigkeit unsere integrative Bereitschaft in diese Arbeit ein. - Vielen Dank. ({3})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugend sucht rigoros nach neuen Werten", „Junge im Abseits" oder gar „Deutschland ist krank", das sind Schlagzeilen aus deutschen Zeitungen der letzten Wochen. Es geht um die achte Jugendgeneration seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, um die achte Generation der 15- bis 20jährigen in einer Zeit, in der auch Erwachsene über die Zukunft verunsichert sind. Die „Süddeutsche Zeitung" überschreibt einen Bericht über die heute mehrfach zitierte Studie zu Ursachen und Hintergründen der Zürcher Unruhen mit der Titelzeile „Die Zukunftsangst der Jugend ist auch unsere Angst". Wen wundert es dann, wenn das zutreffen sollte - und diese Meinung ist bestimmt nicht unrealistisch -, daß junge Menschen - ohnehin noch auf der Suche nach einem eigenen Weltbild - in einer solchen Zeit ein besonderes Erscheinungsbild bieten? Meine Damen und Herren, mit „Erscheinungsbild" meine ich, Herr Kollege Schröder, nicht die Kleidung. Kleidung ist äußerlich. Auch ich schätze legere Kleidung. Mit „Erscheinungsbild" meine ich Meinungen, meine ich Einstellungen, meine ich Gefühle, meine ich Ängste. ({0}) Dieses Erscheinungsbild ist in der Tat eine Frage, über die man sich ernsthaft unterhalten muß. ({1}) Ich darf ein weiteres als Positives in der Auseinandersetzung sagen. Ich befürchte, Herr Kollege Schröder, daß die Offenheit der Kleidung, daß die legere Haltung, die Sie hier dargestellt haben, in der Tat etwas äußerlich geblieben ist; ({2}) denn als der Kollege Rawe versuchte, mit Ihnen einen positiven Dialog aufzunehmen, da haben Sie in der Meinung einen Absolutheitsanspruch vertreten, was sicherlich keine Vorbildfunktion für die junge Generation in unserem Lande hat. ({3}) Wir beide sind Abgeordnete der Nachkriegsgeneration im Deutschen Bundestag. Ich meine, wir sollten uns darum bemühen, in diesem Hause tatsächlich Vorbildfunktion zu dokumentieren. ({4}) Der Arbeitstitel der heute einzusetzenden Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" wird zwar den besonderen Ereignissen der letzten Wochen gerecht, aber nicht - und der Herr Kollege Sauter ging vorhin schon darauf ein -, weil er nur vom Jugendprotest redet, der gesamten jungen Generation. Die jungen Menschen in unserer Republik sind in ihrem Erscheinungsbild sehr unterschiedlich. Manche demonstrieren friedlich, andere gebrauchen Unrecht und Gewalt, manche steigen aus, andere sind lethargisch; aber viele, viele, und zwar die allermeisten, zeigen sich nicht auf der Straße, sondern diskutieren im Freundeskreis, engagieren sich in Jugendvertretungen, Jugendverbänden, in Gewerkschaften und auch - es sind leider viel zu wenige; eine wichtige Frage - in den politischen Parteien. Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, Sie sprachen vorhin von der schweigenden Mehrheit und sprachen auch - ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe - vom Angepaßtsein. ({5}) Sicherlich ist schweigende Mehrheit und auch das Angepaßtsein eine Problematik. Anpassung ist in der Tat eine Problematik. Aber diejenigen, die nicht laut schreien, als schweigende Mehrheit zu bezeichnen, ist meines Erachtens falsch. Es ist deshalb falsch, weil es viele engagierte Jugendliche gibt, die sich positiv engagieren, ohne laut zu schreien, und die alles andere als schweigend sind. ({6}) Es muß uns alle interessieren, daß sich gewaltsame laute und leise Protestler, Aussteiger, junge Alkoholiker, Fixer oder gar Selbstmörder von unserer Gesellschaft abwenden. Jeder junge Mensch, der uns verlorengeht, ist einer zuviel. Aber wir sollten und dürfen nicht in den Fehler verfallen, uns ausschließlich mit denjenigen zu beschäftigen, die lautstark und mit teilweise ungeeigneten Mitteln auf sich hinweisen, und dabei dann diejenigen zu vergessen, die engagiert und verantwortungsvoll in unserer Gesellschaft mitarbeiten. ({7}) Auch diese jungen Menschen haben Probleme, haben Probleme, die es zu ergründen und, um ihnen zu helfen, anzufassen gilt. Wer, die Jugend im Blick, nur oder überwiegend Unheilsprophetien verkündet, der kennt junge Menschen nicht und - das meine ich vor allem - versteht sie überhaupt nicht. ({8}) Wir sollten realistisch zweierlei festhalten bzw. voraussetzen. Erstens, die allermeisten Jugendlichen in unserem Lande finden sich trotz mancher Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft zurecht. Zweitens, es ist nicht zu dramatisch, wenn Jugend unsicher ist. Eine fragende, kritische Jugend ist besser und normaler als eine Jugend der Sattheit und Selbstzufriedenheit. ({9}) Dabei bleiben viele Fragen offen, vor allem die Frage, welche politischen Entscheidungen Unsicherheiten bei jungen Menschen verstärken. Das ist die Frage, die uns sehr stark angeht. Ziel muß es sein, mehr Sicherheit zu geben. Auf Grund der besonderen Situation war in den ersten Nachkriegsjahren, unter den Bedingungen des Wiederaufbaus, der junge Arbeiter das Leitbild junger Menschen. Dies ist heute, unter vollends gewandelten Bedingungen, natürlich ganz anders. Der junge Arbeiter, der Auszubildende, erleidet viel zu oft die Enttäuschung, daß er, gerade weil er unbeachtet von der Öffentlichkeit seinem Beruf nachgeht und damit stumm gesellschaftliche Leistung erbringt, zu wenig berücksichtigt wird und mit seinen Problemen allein gelassen wird. ({10}) Wie sieht es aus - das ist eine kritische Frage an uns alle als Vertreter politischer Parteien gerade hier im Parlament - mit der Repräsentanz der jungen Arbeiter in den politischen Parteien? ({11}) Gehen wir doch mal ganz kritisch mit uns um! Wir müssen alle darüber nachdenken, meine Damen und Herren, ob wir nicht schon von der Sprache her, ob wir nicht schon von unseren Denkstrukturen her so stark vertheoretisieren, ({12}) daß wir draußen so unattraktiv gerade für junge Arbeiter erscheinen, daß sie mit Politik, mit politischer Auseinandersetzung, mit politischen Entscheidungsprozessen, aber auch mit dem Konsens nicht mehr zurechtkommen. ({13}) Die Jugendlichen hierzulande streben zum überwiegenden Teil eine Berufsausbildung an. Weil das Jugendalter eine besondere Zeit der Erwartungen ist, richten sich diese Erwartungen natürlich auch auf den Beruf. In einer Zeit rasanter technischer Fortentwicklung ist die Wahl des richtigen Berufes, des Berufes, der genügend Flexibilität für die Zukunft gewährleistet, sehr schwer. Wenn wir Jugendlichen in der Schule einen gewissen Schonraum oder Schonräume im Sinne von Ge1678 borgenheit - und die ist sicher sehr wichtig - zugestehen, dann dürfen wir sie nicht so abrupt, ohne ausreichende Vorbereitung, in die rasante Entwicklung unserer Zeit entlassen. Vorbereitung, damit meine ich vor allem eine ausreichende Information und Orientierung über die Berufswelt. Wie können wir den jungen Menschen, die sich in der Phase der Berufswahl befinden, die Kompliziertheit unserer Industriegesellschaft besser erklären, ohne belehrend oder bevormundend - das wäre sicherlich die Gefahr dabei - zu wirken, um ihnen eine freie, weitestgehende sichere Entscheidung zu gewährleisten? Die jungen Berufstätigen in unserem Lande oder auch die Auszubildenden sind sicher keine Phantasten. Ganz im Gegenteil - und ich meine auch, daß das ein sehr positiver beachtenswerter Ansatz ist -, der Ernstcharakter ihrer täglichen Beschäftigung härtet sie gegenüber Unsicherheiten und Enttäuschungen ab. ({14}) Vielleicht ist das gerade das, was akademischer Jugend oft fehlt, meine Damen und Herren. ({15}) Eines müssen wir aber sehr ernst nehmen: Junge Menschen möchten sich mit der Arbeitswelt identifizieren. Sie möchten, daß ihre Arbeit ihnen Spaß macht, Sie möchten vor allem, daß sie bei ihren Kollegen Zuwendung finden. Die Kühle der heutigen Berufswelt, bedingt durch Technisierung, bedingt durch Mangel im zwischenmenschlichen Kontakt, ist sicher ein großes Problem gerade für junge Menschen. ({16}) Wir Erwachsenen stehen mitten in der Arbeitswelt, vielfach zur Flexibilität, zur Umorientierung, zur Umschulung gezwungen. Vielen von uns sind die Höhenflüge vergangen, und manche verzweifeln. Die Jugendlichen, über die wir reden, fangen ihren Weg erst an. Unsere Aufgabe ist es, ihnen Hoffnung zu machen. Reimar Oltmanns nannte sein Buch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie." Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten: Die Möglichkeit, daß immer mehr Bundesbürger aussteigen, alternativ leben und werkeln, ist jedenfalls größer, als daß die Bundesrepublik eines Tages ohne Arbeitslose dasteht. Der Titel und der Inhalt des Buches sind meines Erachtens sehr deprimierend. Damit wird zwar eventuell unser Problembewußtsein gestärkt, aber direkt wird meines Erachtens damit niemandem geholfen. Seit mindestens 2 000 Jahren wissen wir, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Wir müssen uns darum bemühen, daß unsere Seelen mit dem rasanten technischen Fortschritt unserer Zeit Schritt halten. Wir müssen fragen, was zur Erreichung dieses Zieles - sicher eine wichtige Aufgabe für die Kommission - notwendig ist. Nicht nur aussteigende und gewalttätige junge Menschen müssen zur Umkehr gebracht werden. Auch der größte Teil der Menschen aller Generationen muß sich darum bemühen, nachdenklicher und bewußter zu leben. ({17}) Die Tatsache, daß viele Jüngere mit materiellem Wohlstand allein nicht zufrieden sind, ist kein Unheil; sie ist eine Chance - eine Chance für unsere Zukunft. - Ich danke Ihnen. ({18})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Drucksache 9/310 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, den Innenausschuß und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Ist das Haus mit der vorgeschlagenen Überweisung einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung. Es ist dies die letzte Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vor der Osterpause. Ich wünsche Ihnen, ich wünsche Ihren Familien ein frohes und ein segensreiches Osterfest. Ich wünsche allen Mitgliedern des Hauses, besonders jenen, die bis zum Ende dieser Sitzung ausgeharrt haben, ein paar Tage der Ruhe und auch ein paar Tage der Besinnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Mai 1981, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.