Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 4 auf: Bericht zur Lage der Nation
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lorenz, Baron von Wrangel, Jäger ({0}), Graf Huyn, Sauer ({1}), Böhm ({2}), Lintner, Werner, Frau Roitzsch, Lowack, Diepgen, Schwarz, Würzbach, von der Heydt Freiherr von Massenbach, Niegel und der Fraktion der CDU/CSU
Politische Häftlinge in den Haftanstalten der DDR
- Drucksache 9/198 Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist verbundene Debatte für die Tagesordnungspunkte 3 und 4 bis gegen 16.30 Uhr vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle dem diesjährigen „Bericht zur Lage der Nation" ein Wort der Schriftstellerin Christa Wolf voran - viele werden sie kennen als Autorin von „Kindheitsmuster", einem Buch, das im letzten Winter bei uns erschien. Als sie im Herbst in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis erhielt, hat sie vom Gang der Deutschen durch die Geschichte als von einem mühsamen, oft schleppenden und manchmal wüsten Gang gesprochen.
Es war in der Tat ein Gang vieler Generationen auf einem sehr schwierigen Terrain; der Weg eines Volkes, dessen Land wenige natürliche Grenzen, das aber ungewöhnlich viele Nachbarn hat; ein Gang voller Sorgen und Irrtümer, aber auch voller Leistungen, die zu Hoffnung und zu Mut berechtigen.
Zum zweiten zitiere ich einen Arbeiter, 32 Jahre alt, Maschinenfahrer in einem volkseigenen Betrieb, der einem Fernsehjournalisten von seiner Arbeit erzählt, von seinem Alltag, von seiner Familie, stolz auch auf den Aufbau des Sozialismus und des Staates dort in 31 Jahren. Und dann fügt er hinzu: „... in der Geschichte, was sind 31 Jahre; das ist ja noch nicht einmal eine Hundertstel- oder Tausendstelsekunde."
Dieser Sinn für Geschichte, für unseren langen, mühsamen, gemeinsamen Gang durch die Geschichte ist wichtig. Der Sinn für geschichtliche Dimensionen, für die Kürze der Zeit, in der wir leben, ist wichtig, wenn wir über die Nation nachdenken.
Das Interesse an Geschichte hat zugenommen. Man liest Biographien. Man geht in die Museen. Millionen von Menschen haben „Tut-ench-Amun" gesehen, „Die Witteisbacher", „Die Staufer". In einigen Monaten wird in Berlin die „Preußen-Ausstellung" eröffnet, mit dem bescheidenen Untertitel „Versuch einer Bilanz". Hier deutet sich ein Suchen und Tasten an - nach den Wurzeln unserer Existenz, unserer Geschichte, unserer Kultur.
Wir Deutschen können und wollen die historischen Gemeinsamkeiten unseres Volkes und unserer Nation nicht leugnen. Niemand kann sich auch aus der Geschichte wegstehlen.
Ich begrüße es, wenn auch in der Deutschen Demokratischen Republik jetzt parteiamtlich die Forderung nach Erschließung des gesamten historischen Erbes und nach einer differenzierten Bewertung unserer Geschichte erhoben wird. Die Menschen dort merken schon, wohin der Wind weht. Ein Beispiel: In der Lausitz mußte der Wirt eines Gasthauses, das „Zum Alten Fritz" hieß, nach dem Krieg seine Kneipe auf Weisung der SED umbenennen. Er hat dann einfach das Wort „Alten" mit Brettern zugenagelt. Die Leute nannten das Gasthaus daraufhin „Zum Bretter-Fritz". Jetzt hört man, daß der Wirt die Bretter entfernt hat, ohne daß er Anstoß erregte. Man geht wieder „Zum Alten Fritz".
Meine Damen und Herren! Viele werden sich demnächst wohl noch ein bißchen mehr mit Preußen beschäftigen - hoffentlich nicht, um es einfach zu glorifizieren, auch nicht, um uns von Preußen abzuwenden, wie ich ebenso hoffe, sondern um über das Schwarz-Weiß-Bild hinaus eine differenziertere Sicht von Preußen zu gewinnen; Geschichte kann man nicht mit Brettern zunageln.
Gleichzeitig bereiten wir uns auf das Luther-Jahr 1983 vor. Ich begrüße es, daß die Kirchen in beiden
deutschen Staaten dabei zusammenarbeiten; ebenso begrüße ich es, daß die Kirchen in beiden Teilen damit zum Friedensgedanken beitragen.
Unsere Politik für Deutschland ist - sie bleibt es, sie muß es j a bleiben - ein Teil unserer Bemühungen um Friedenssicherung in Europa und in der Welt. Diese Politik muß sich gegenwärtig in einer außerordentlich schwierigen internationalen Umwelt bewähren. Der weltpolitische Horizont hat sich am Ende der 70er Jahre verdunkelt, vor allem weil die Sowjetunion wichtige Prinzipien des internationalen Zusammenlebens außer acht gelassen hat.
Ihre fortlaufende Hochrüstung auf dem Felde der eurostrategischen Waffen verstößt gegen das Prinzip des militärischen Gleichgewichts. Der Einmarsch und der Krieg in Afghanistan verstoßen gegen das Völkerrecht. Die Schaffung neuer militärischer und politischer Abhängigkeiten in Afrika und anderswo verstößt gegen das Prinzip der Unabhängigkeit und Blockfreiheit der Länder der Dritten Welt. Und jeder weiß: Ein etwaiger Versuch, in die Auseinandersetzungen um die innere Erneuerung in Polen mit Gewalt einzugreifen, könnte die Welt verändern und damit auch manche Positionsbeschreibungen ungültig machen, die wir heute vornehmen.
Das friedliche Gelingen in Polen liegt im Interesse aller Völker in Europa.
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Jedes Anheizen der Situation von außen, ob aus dem Osten oder aus dem Westen, ist gefährlich.
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Soziale Reformen ohne gefährliche internationale Verwerfungen zu ermöglichen - auch das gehört zur Friedenssicherung. Nur wenn ein Klima der Zusammenarbeit in Europa erhalten bleibt, können wir im Westen den Polen auch weiterhin bei der Überwindung ihrer sehr großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Hilfe leisten, die sie brauchen.
In der heutigen Lage müssen wir zunächst erhalten, was unsere Deutschlandpolitik erreicht hat, nämlich das Vertrauen unserer Partner im Westen, aber auch das Vertrauen der Sowjetunion und unserer Nachbarn in Osteuropa darauf, daß jedenfalls von der Entwicklung in Deutschland keine zusätzlichen Spannungen ausgehen. Das Vertrauen, das uns heute entgegengebracht wird, ist Ergebnis einer stetigen und berechenbaren Politik, einer Politik ohne Doppelbödigkeit. So haben wir bei unseren Verbündeten und Freunden Verständnis für unsere Deutschlandpolitik erworben. Auf dieser Grundlage haben wir auch mit der Sowjetunion und mit den Ländern Osteuropas die begrenzte, aber verläßliche Zusammenarbeit entwickelt, die unter Staaten möglich ist, welche nach gesellschaftlicher Struktur, nach politischer Zielsetzung Konkurrenten bleiben. Das gilt auch für die DDR.
Kontinuität und Verläßlichkeit unserer Außenpolitik im Westen und gegenüber dem Osten sind und bleiben Grundlage unserer Deutschlandpolitik. In der gegenwärtigen Situation heißt das folgendes:
Erstens. Die Bundesrepublik gehört zum Westen. Nur unsere Zugehörigkeit zum westlichen Bündnis kann unsere Sicherheit, unsere Freiheit, d. h. unsere Handlungsfähigkeit gewährleisten. Nur sie kann das Gleichgewicht bewahren.
Zweitens. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika gibt es keine Sicherheit in Europa. Präsident Reagan und seine Administration wissen, daß sie sich auf die Bereitschaft der Bundesregierung zu umfassender und kontinuierlicher Zusammenarbeit verlassen können, so wie wir uns auf sie verlassen.
Ein intensiver, vielversprechender Konsultationsprozeß ist in Gang gekommen. An den Ergebnissen der Gespräche, welche die Herren Bundesminister Genscher und Apel in Washington geführt haben, läßt sich der schon jetzt erreichte hohe Grad von Übereinstimmung in allen wesentlichen Fragen ablesen. Ich sehe der Fortsetzung dieser engen Abstimmung bei meinem Besuch in den Vereinigten Staaten im Mai mit Zuversicht entgegen.
Drittens. Neben dem Atlantischen Bündnis bleibt die Europäische Gemeinschaft ein Grundpfeiler unserer Politik. Wir haben in der Europäischen Gemeinschaft eine schwierige Periode vor uns, wenn wir gemeinsam mit den Herausforderungen der gewandelten wirtschaftlichen und politischen Umwelt fertig werden wollen.
Viertens. Mit unseren Bündnispartnern stehen wir vor der Aufgabe, das militärische Gleichgewicht zwischen Ost und West zu gewährleisten und - wo dies nötig ist - es wiederherzustellen. Wie es in der deutsch-französischen Erklärung vom Februar heißt, schließen wir dabei die Hinnahme einer Position der Schwäche ebenso aus wie das Streben nach militärischer Überlegenheit.
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Ich sage dies und das Nachfolgende, meine Damen und Herren, vor allem und gleich noch etwas ausführlicher für die DDR und für die Bürger in der DDR, die uns heute in besonderem Maße zuhören, weil es ihnen nämlich angesichts vielfältiger Propaganda schwerfällt, sich ein zutreffendes Bild zu machen.
Fünftens. Bei den Mittelstreckenwaffen ist das Gleichgewicht durch sowjetische Aufrüstung wesentlich beeinträchtigt worden. Besonders eindrucksvoll sind etwa die Zahlen im Bereich der nuklearen Mittelstrecken- oder eurostrategischen Raketen auf dem Lande. 1960 standen in Europa 50 amerikanische Waffen dieser Art 290 sowjetischen Waffen dieser Art gegenüber. Zehn Jahre später - schon seit 1963 - waren die amerikanischen Raketen abgezogen; die Zahl der sowjetischen Raketen war 1970 auf 610 Waffen dieser Art gestiegen.
Heute, wieder zehn Jahre später, verfügt die Sowjetunion über mehr als 600 eurostrategische Raketen - darunter inzwischen schon mehr als 200 SS 20, von denen jede drei Sprengköpfe hat - mit insgesamt über 1000 nuklearen Gefechtsköpfen. Auf westlicher Seite steht dem in Europa, abgesehen von 18 französischen Raketen, nichts Vergleichbares gegenüber.
Dieses Mißverhältnis kann so nicht bleiben!
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Es wird keineswegs durch Flugzeuge oder durch seegestützte Waffen ausgeglichen. Dieses erhebliche militärische Übergewicht stellt eine erhebliche politische Gefährdung dar.
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Das Bündnis hat vor anderthalb Jahren mit dem sogenannten Doppelbeschluß eine neue Komponente in die Sicherheitspolitik eingeführt. Wir wollen nicht zuvor amerikanische Nachrüstung, um erst danach über Rüstungsbegrenzung zu verhandeln. Vielmehr suchen wir, und zwar auf deutschen Vorschlag, schon bevor die erste neue amerikanische Waffe in Stellung gebracht wird, Verhandlungen mit dem Ziel eines militärischen Gleichgewichts auf einem möglichst niedrigen Niveau.
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Diese Gleichzeitigkeit beider Anstrengungen entspricht dem Grundprinzip des Harmel-Berichts aus dem Jahre 1967, nämlich: den Frieden durch militärische Sicherheit zu wahren und zugleich Rüstungskontrolle und Zusammenarbeit zu betreiben.
Ich darf auf Grund der jüngsten Beratungen innerhalb des Bündnisses und auf Grund der Eindrükke, die Herr Außenminister Genscher in Moskau gesammelt hat, davon ausgehen, daß die Gespräche zwischen den beiden Großmächten, die im Oktober letzten Jahres zur beiderseitigen Begrenzung der eurostrategischen Raketen begonnen haben, in relativ naher Zukunft wieder aufgenommen werden. Damit diese Verhandlungen dann zu einem akzeptablen und frühen Ergebnis führen, bleibt es unerläßlich, die Verwirklichung beider Teile dieses Doppelbeschlusses tatkräftig zu fördern. Wenn einer jetzt sagt, die Entspannungspolitik habe an alledem schuld, erst sie habe die sowjetische Hochrüstung gefördert, dann muß der sich die Frage gefallen lassen, wie wohl die sowjetische Rüstung unter den Bedingungen des Kalten Krieges ausgefallen wäre.
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Ich setze hinzu: Wer in Perioden der Entspannung seine Anstrengungen zur Wahrung des militärischen Gleichgewichts vernachlässigt - was übrigens die Bundesregierung nie getan hat, die sozialliberale Koalition nie getan hat -, der hat die zwingende Wechselwirkung zwischen Gleichgewicht und West- Ost- Zusammenarbeit nicht verstanden - die zwingende Wechselwirkung!
Wer umgekehrt meint, Entspannung und Zusammenarbeit könnten bewahrt werden, wenn man nur bereit wäre, hohe östliche Überlegenheit hinzunehmen, der würde eines Tages möglicherweise grausam aus seiner Illusion aufgeweckt werden.
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Sechstens. Nach der Invasion in Afghanistan hat die sozialliberale Bundesregierung keinen Zweifel daran gelassen, daß nach unserer Überzeugung der Dialog mit der Sowjetunion gerade in Krisenzeiten nicht abreißen darf. Hierüber war ich auch vor wenigen Tagen, am 30. März dieses Jahres, erneut einig mit Präsident Reagan und Präsident Giscard. Die Gespräche von Herrn Außenminister Genscher in Moskau in der vorigen Woche fügen sich in dieses Konzept ein, auch in schwierigen Zeiten den Dialog um Gottes willen nicht abreißen zu lassen. Herrn Genschers Gespräche haben wichtige Klarstellungen sowjetischer Positionen im Rüstungskontrollbereich und zur Fortsetzung des KSZE-Prozesses einschließlich der von allen Seiten ins Auge gefaßten Konferenz über Abrüstung in Europa erbracht. Die Sowjetregierung hat ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen ohne Vorbedingung bestätigt.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ich schon im letzten Sommer bei Gelegenheit unseres gemeinsamen Besuchs in Moskau Generalsekretär Breschnew zum Gegenbesuch nach Bonn eingeladen habe. Der Generalsekretär und ich sind jetzt darüber im Gespräch, wann dieser Arbeitsbesuch im Laufe dieses Jahres stattfinden sollte.
Wir begrüßen, daß auch die sowjetische Führung ihr Interesse an der Fortführung des Gedankenaustauschs erneut bekräftigt hat. Wir wissen beide, daß Gespräche zwischen dem sowjetischen Generalsekretär und mir den Kontakt zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Führung nicht ersetzen können und nicht ersetzen sollen. Aber in Kenntnis der Standpunkte unserer Partner und in enger Abstimmung mit ihnen können wir gute Beiträge zum Ost-West-Dialog leisten, so wie unsere Freunde es von uns erwarten.
Siebentens. Der letzte Punkt: Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß wir unseren Beitrag zur Fortführung des notwendigen Dialogs nicht nur leisten können, sondern daß wir ihn auch leisten müssen - nicht zuletzt im Interesse des ganzen eigenen Volkes, nicht zuletzt im Interesse des deutschen Volkes.
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Je intensiver die Beziehungen zwischen West und Ost, je besser die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, desto besser für uns Deutsche.
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Nun haben gleichzeitig die Strukturkrise der Weltwirtschaft und die Folgen der zweiten Ölpreisexplosion Westeuropa wie Osteuropa wie auch unser eigenes Land hart getroffen. Wir in der Bundesrepublik haben Mühe, die seit 1978 eingetretene abermalige Verdoppelung unserer jährlichen Ölrechnung auf 60 Milliarden DM zu verkraften. Unter dem Druck von außen werden auch bei uns Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen in diesem Jahr real etwas zurückgehen. Das gilt für Industrieunternehmen, das gilt für Banken, das gilt für die Landwirtschaft -- und es trifft auch die Arbeitnehmer. Die Sorge um Arbeitsplätze hat zugenommen.
Immerhin: In kaum einem Land Europas sind die Preise so stabil wie hier, in kaum einem Land Europas ist die Arbeitslosigkeit niedriger als bei uns, und außerhalb Europas stehen natürlich die Entwicklungsländer vor noch viel schwerer wiegenden Pro1544
blemen. Die kommunistischen RGW-Länder sind ebenfalls von dieser Strukturkrise erfaßt worden. Nur in Polen ist das für die Außenwelt völlig offenbar geworden; aber es gilt auch für die Deutsche Demokratische Republik und für andere Staaten in Osteuropa.
Unter dem Druck weltweit zunehmender Arbeitslosigkeit wächst weltweit die Gefahr von Rückfällen in handelspolitisch regelwidrigen Ringkampf, in Protektionismus. Auch die Europäische Gemeinschaft oder ihre Mitgliedstaaten kommen in solche Versuchungen. Wir wollen dem widerstehen. Wir alle in Europa haben große Vorteile durch die europäische Gemeinschaft, auch durch das Europäische Währungssystem, und wir wollen gerade in kritischen Zeiten dies alles sehr sorgfältig erhalten - aus wirtschaftlichen und aus weltpolitischen Gründen.
Dabei sind gegenwärtig allgemeine Konjunkturprogramme zur Stimulierung der Nachfrage kein brauchbares Rezept. Das gilt übrigens für Osteuropa genau so, wie wir es gemeinsam für die Europäische Gemeinschaft festgestellt haben und wie es damit auch für uns gilt.
Für uns kommt es vor allem darauf an, unser Leistungsbilanzdefizit zu verringern, es abzubauen. Auf Hochdeutsch: Wir können nicht auf die Dauer höhere Rechnungen an das Ausland bezahlen, als wir selber an Zahlungen aus dem Ausland erhalten. Dies bedeutet vor allem, unsere Einfuhr an Öl weiterhin zu drosseln. Es bedeutet ebenso allgemeine Einsparung von Energie, und es bedeutet ebenso, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte am Weltmarkt nochmals zu verbessern, um mehr verkaufen zu können.
Dieser Kurs wird von allen große Anstrengungen fordern. Aber er wird Arbeitsplätze bewahren und neu schaffen, und er wird die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes sichern. Ich bin zuversichtlich, daß die deutsche Volkswirtschaft diese schwierige Zeit erfolgreich durchstehen wird - besser als die meisten anderen Volkswirtschaften -, und ich will diese Zuversicht begründen:
Erstens. Unsere deutschen Unternehmensleitungen haben zuletzt in der Mitte des letzten Jahrzehnts - nach der ersten Ölpreisexplosion - gezeigt, welch hohe Anpassungsfähigkeit sie angesichts neu sich öffnender Märkte, angesichts veränderter Marktlagen und angesichts der zu Lasten der europäischen Industrieprodukte veränderten Terms of trade aufbringen können. Sie werden auch diesmal ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern durch Energieeinsparung, durch neue Techniken oder Technologien, durch neue Produktionsprozesse, durch neue Produkte, durch besseren Service, durch Innovation, insgesamt durch Pünktlichkeit.
Das gestern in Paris und Bonn beschlossene Programm zeigt dafür nicht nur die Richtung auf, sondern es wird auch bei der Verwirklichung helfen, zumal für mittlere und kleinere Unternehmen.
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Die Franzosen und wir stehen vor sehr ähnlichen, fast vor den gleichen Notwendigkeiten, und deshalb tun wir das gleiche.
Zweitens. Unsere Arbeitnehmer, ihre Betriebsräte und Gewerkschaften, haben bewiesen, daß sie solche Umstellungsprozesse mittragen, weil sie deren Notwendigkeit anerkennen, weil die Betriebsräte für eine sozial verträgliche Durchführung sorgen können, weil sie wissen, daß dies der Sicherung ihrer Arbeitsplätze dient. Die gestern von der Bundesregierung angekündigten Nach- und Umqualifizierungsmaßnahmen am Arbeitsmarkt dienen ebenfalls dieser Umstellung der Arbeitnehmer.
Drittens bin ich auch deshalb optimistisch, weil das soziale Netz eine hervorragende Sicherung solcher Umstellungsprozesse ermöglicht und weil sich Gewerkschaften und Arbeitgeber als freie, als autonome Verhandlungs- und Vertragspartner gegenüberstehen.
Ich füge hinzu: man muß aufpassen, daß das soziale Sicherungsnetz nicht hier oder dort mißbraucht wird. Ich füge auch hinzu, Tarifverhandlungen, bei denen man in Wahrheit nur noch um Zehntelprozente auseinander ist - auch wenn es öffentlich anders dargestellt wird -, sollten sich nicht wie ein endloser Mehltau über alle und über alles ausbreiten. Die rechtzeitig zum 1. Mai geschaffene Klarheit in Sachen Montan-Mitbestimmung und der diesbezügliche Meinungskampf in der CDU/CSU bis hier in das Plenum des Bundestages hinein mag eine Hilfe sein, so hoffe ich.
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- Das werden Sie ertragen, Herr Kohl. Sie haben auch die Rede Ihres gestrigen Unternehmervertreters hier ertragen müssen.
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Es gibt keinen strukturellen Wandel ohne Risiko, nicht für Unternehmensleiter und nicht für Arbeitnehmer. Jeder muß mitwirken und mittragen. Es gibt keine Rückkehr zu hoher Beschäftigung, ohne daß alle mitwirken, auch die Tarifpartner. Dabei sollte heute keine Gruppe versuchen, dauerhafte Vorteile zu Lasten anderer Gruppen aus dieser Lage herauszuschlagen.
Es kann sich angesichts der gegenseitigen Abhängigkeiten aller Länder heute auch kein Staat dauerhafte Vorteile zu Lasten anderer Länder verschaffen. Zur internationalen Zusammenarbeit gibt es in dieser weltwirtschaftlichen Lage keine vernünftige Alternative! Das gilt auch gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik und gegenüber Osteuropa!
Bei uns - und ähnlich in der DDR - gibt es manchen, der sich Sorgen um seine wirtschaftliche Zukunft macht. Angst um den Frieden, Angst um Sicherheit insgesamt kommen hinzu, und dies keineswegs nur unter jüngeren Menschen. Gewiß kann niemand ihnen Sicherheit gegen alle Fährnisse des
Lebens bieten. Es gibt Gott sei Dank kein automatisiertes oder unfallfrei durchprogrammiertes Leben; denn das wäre ganz schrecklich und ganz unmenschlich. Gewiß soll auch keiner die Probleme anderer, zumal ihre Sorgen und Ängste, kleiner schreiben, als sie sind.
Aber es bleibt auch richtig, daß die allermeisten Menschen auf der ganzen Welt ihren Platz gern mit einem Deutschen tauschen würden.
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Auch sollte keiner übersehen, daß im letzten Jahr die Beschäftigung in unserem Land mit 25,8 Millionen Menschen den absolut höchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erreicht hat.
Jeder, der sich um unseren Frieden und um unsere Sicherheit Sorgen macht, der darf wissen: das Bündnis, die Partnerschaft mit unseren Verbündeten, mit den Vereinigten Staaten, gibt uns Sicherheit. Er darf wissen, der Friede ist nicht akut bedroht, und er braucht keinem Angstmacher anheimzufallen, weder den friedenspolitischen Angstmachern noch den wirtschaftspolitischen Angstmachern.
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Es müssen aber zwei Dinge hinzugefügt und verstanden werden: Der Beginn der 80er Jahre stellt an die Gesellschaft Anforderungen von größerer Bedeutung und von anderer Bedeutung, anderer Qualität als der Beginn der 70er Jahre. Die Bürger müssen sich aus dem einseitigen Anspruchsdenken befreien, das die Wachstumsgesellschaft zunächst mit sich gebracht hat.
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Sie müssen lernen, ihre Lebenschancen wirklich zu nutzen, die im Kern etwas wesentlich anderes und wesentlich mehr als nur die Chance zur fortlaufenden Steigerung des Lebensstandards darstellen.
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Ich möchte dazu ermutigen, zum Beispiel den Konsumzwang abzuschütteln, den manche sich selbst auferlegt oder dem sie sich unterworfen haben; aber zum Beispiel auch ermutigen, den Fernsehzwang abzuschütteln, der das Gespräch töten kann.
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Wir haben in der heutigen Gesellschaft große Möglichkeiten zur Verwirklichung jener Entfaltungsideale der Person, wie sie von der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie, wie sie vom freiheitlichen Bürgertum und vom Liberalismus verstanden wurden und verstanden werden. Wer seine Chance zur Selbstverwirklichung bewußt nutzt, der muß keine Angst haben.
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Allerdings kann er dabei nicht allein bestehen. Der Grundwert der Brüderlichkeit ist als Solidarität der Arbeitenden untereinander und der Arbeitenden mit den sozial Schwachen in unsere umfassende
Sozialgesetzgebung weitgehend eingegangen. Aber damit ist er allein noch nicht gesichert. Es gibt zum Beispiel Auswüchse, die bei einigen auf eine verkümmernde Sozialfähigkeit und Sozialverantwortung hinweisen. Das Verhältnis zu den bei uns lebenden und bei uns arbeitenden Ausländern gibt dafür mancherorts beredte Beispiele.
Manche Minoritäten werden bisweilen ziemlich brutal von der Solidarität ausgeschlossen. Sicherlich mangelt es bisweilen auch an der Solidarität gegenüber der Jugend und auch gegenüber künftigen Menschen, die erst noch geboren werden sollen, wenn die Heutigen die natürliche Umwelt bisweilen unbedacht zerstören lassen.
An Solidarität mangelt es bisweilen auch gegenüber Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, wenn zum Beispiel Bundesbürger, weil es ihnen besser geht, jenen herablassend auf die Schulter klopfen. Unsere Landsleute drüben haben an Hitler und haben am Zweiten Weltkrieg ganz gewiß nicht mehr Schuld als die Bundesbürger; aber sie tragen viel schwerer an den Folgen dieser Ereignisse.
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In der DDR gibt es gewiß mehr Deutsche als bei uns, die zwar im wirtschaftlichen Standard relativ beschränkt sind, dafür aber ein großes persönliches, wenn auch privat bleibendes geistiges Wachstum vollbracht haben.
Ohne Solidarität mit den Bürgern in der DDR und mit anderen in Ost und West und Süd blieben wir oberflächliche Zeitgenossen. Und unter der Oberfläche könnte sich in der Tat Angst ausbreiten. Wenn wir uns aber bewußt selbst entfalten, wenn wir brüderlich handeln, wenn wir unsere Pflichten auf uns nehmen, dann ist in der Tat Grund zu Hoffnung und zu Mut.
Wir Deutschen - besonders die jungen Deutschen - können dabei nicht wie manche anderen Völker sehr viel Sicherheit aus der Bindung an die Nation schöpfen. Einigen erscheint der Begriff Nation sogar unhandlich und sperrig. Aber das ist kein Anlaß, diesen Begriff oder gar die Sache selbst beiseite zu stellen. Wer dies täte, nähme die Gefahr späterer nationalistischer Reaktion in Kauf.
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Ich sehe umgekehrt keinerlei Gefahr, daß etwa wir als Nationalisten mißverstanden werden, wenn wir hier im Bundestag von der Nation reden. Wir haben unsere Lektionen in diesem Kapitel gelernt. Wir würden uns jedoch unsicher machen, geschichtslos machen, gesichtslos machen, wollten wir aus der Nation aussteigen. Und wir handelten sehr selbstsüchtig und sehr unsolidarisch gegenüber den Landsleuten in der DDR, für die die Selbstidentifikation mit der einen Nation in höherem Maße als hier eine Lebensnotwendigkeit ist.
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Ich zitiere, was Willy Brandt als Bundeskanzler im Bundestag 1970 in seinem „Bericht zur Lage der Nation" gesagt hat:
25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Hitler-Reiches bildet der Begriff der Nation das Band um das gespaltene Deutschland. Im Begriff der Nation sind geschichtliche Wirklichkeit und politischer Wille vereint. Nation umfaßt und bedeutet mehr als gemeinsame Sprache und Kultur, als Staat und Gesellschaftsordnung. Die Nation gründet sich auf das dauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinne eine deutsche Nation gibt und geben wird, solange wir vorauszudenken vermögen.
Das war 1970.
Ich selbst habe auf dem Hamburger Historikertag vor drei Jahren gesagt: Einheit der Nation bedeute jedenfalls eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit, darin sowohl Stationen, die Anlaß sind zum Stolz, als auch Stationen, die Anlaß sind zum Bedauern oder derentwegen wir uns schämen müssen; und Nation sei ein Anspruch an die Zukunft, den wir stellen, der uns aber auch selbst verpflichtet; und Nation sei auch ein Stück Wirklichkeit in unserer Gegenwart.
Ich füge hinzu: Nation hängt allein vom Willen derjenigen ab, die Nation sein wollen.
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Insofern ist Nation ein fortwährendes Plebiszit. Oder anders gesagt: Die deutsche Nation wird weiterbestehen, solange die Menschen in beiden Teilen Deutschlands dies wollen.
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Ebenso gilt weiterhin das, was ich damals auf dem Historikertag hinzugefügt habe:
Was die Zukunft der deutschen Nation betrifft, so müssen wir nüchtern feststellen, daß die politischen Konstellationen in der Gegenwart keine Möglichkeit bieten, die Teilung Deutschlands in zwei Staaten zu überwinden ... Es gibt keinen anderen Weg, für die Einheit der deutschen Nation politisch Sinnvolles zu tun, als die Politik des Friedens und der Entspannung fortzusetzen und die Wiederherstellung der geistigen, kulturellen, ökonomischen Einheit ganz Europas zu betreiben. Dies war durch Jahrhunderte immer eine Einheit aus der Vielfalt.
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Wenn ich schon beim Zitieren bin, möchte ich noch sehr viel weiter zurückgreifen. Walter Ulbricht hat auf einem SED-Parteitag im Jahre 1954 gesagt:
Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unserer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser Vaterland lieben, weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist und jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt.
So Walter Ulbricht 1954!
In den allerletzten Wochen hat nun der Staatsratsvorsitzende der DDR, Herr Erich Honecker, von einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter sozialistischen Vorzeichen gesprochen.
Die beiden kommunistischen Zitate zeigen - trotz ideologischer Verpackung -, daß die Idee der deutschen Einheit auch in der DDR nicht so tot ist, wie die Abgrenzungspolitiker es uns glauben machen wollen.
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Weil die Bürger in der DDR ohne Identifikation mit der deutschen Nation nicht leben können, können SED-Führung und Staatsführung drüben an dieser Notwendigkeit nicht vorbeisehen, wie oft sie es auch in den vielen Jahren dazwischen immer wieder versucht haben.
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Vor Jahr und Tag hat der Gedanke an Annäherungen zwischen Ost-Berlin und Bonn, zwischen den beiden deutschen Staaten, häufig den Argwohn Dritter ausgelöst: Die deutsche Frage schien den Status Europas zu beunruhigen; sie schien den Frieden Europas zu gefährden. Heute ist das eher umgekehrt: Unruhe und Angst in der Welt und in Europa gefährden das inzwischen erreichte Maß an deutsch-deutscher Zusammenarbeit.
Die von der Regierung der DDR unter diesen Weltumständen im letzten Herbst verfügte Erhöhung und Ausweitung der Mindestumtauschsätze im Reiseverkehr ist dafür ein Beispiel. Sie hat den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten einen erheblichen Rückschlag versetzt. Der Reiseverkehr in die DDR, der sich bis zum Oktober normal entwickelt hatte, ist danach drastisch zurückgegangen, besonders in Berlin. Die Bundesregierung erwartet, daß die Führung der DDR diesen Eingriff in den Bestand an menschlichen Kontakten korrigiert.
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Dies ist wieder einmal ein Rückschlag; es ist kein Ende, kein Scheitern unserer Politik der Minderung von Spannungen und des Interessenausgleichs. Wir haben uns auch früher durch Rückschläge nicht aus dem Gleis werfen lassen, und wir werden auch zukünftig Abgrenzung nicht unsererseits mit eigener Abgrenzung beantworten.
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Wir bieten vielmehr auch für die Zukunft den Ausbau der Zusammenarbeit und der Beziehungen mit der Deutschen Demokratischen Republik an.
Ich lese mit Aufmerksamkeit bei Generalsekretär Honecker, daß die DDR danach strebe, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu normalisieren, und daß Möglichkeiten zur Weiterentwicklung dieser Beziehungen durchaus vorhanden seien.
Tatsächlich ist die Weiterentwicklung der Beziehungen von entscheidender Bedeutung - im Sinne
der gutnachbarlichen Beziehungen, wie wir sie im Grundlagenvertrag gewollt haben.
Nun hat Herr Honecker kürzlich in Gera gefordert, daß wir in einigen Grundsatzfragen die von der DDR seit langem vertretenen Positionen akzeptieren sollen. Ich muß mich dazu heute nicht im einzelnen äußern.
Zu einem Punkt will ich aber in einem Exkurs unsere Position erneut umreißen, nämlich in der Staatsangehörigkeitsfrage. Sie ist durch den Grundlagenvertrag bekanntlich nicht berührt worden. Die Bundesregierung hält unverändert und klar an der deutschen Staatsangehörigkeit fest.
Überall in der Welt gehört es zu den Rechten des Staates, die Bedingungen des Erwerbs, des Besitzes und des Verlustes der Staatsangehörigkeit zu bestimmen. Dementsprechend lassen wir uns nicht das Recht bestreiten, an der deutschen Staatsangehörigkeit festzuhalten, wie sie uns durch das Grundgesetz vorgegeben ist.
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Wir beeinträchtigen damit keine Rechte anderer Staaten, insbesondere keine Rechte der DDR. Es bleibt dabei, daß alle Deutschen, die - woher auch immer in der Welt - zu uns kommen, die Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes und den Schutz der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland erhalten sollen.
Wir wissen, daß die DDR 1967 ein eigenes Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen hat. Aber die DDR muß wissen, daß ihre Staatsbürgerschaftsgesetzgebung weder die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne unseres Grundgesetzes noch unsere Gesetzgebung berühren kann. Unsere Seite wird - damit will ich den Exkurs abschließen - diese beiden Gesichtspunkte bei ihrem Verhalten in der Praxis berücksichtigen.
In der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik wird die besondere Pflicht der Deutschen zur Erhaltung des Friedens erkannt. Beide deutsche Staaten tragen Verantwortung dafür, daß von ihrem Verhältnis zueinander keine zusätzlichen Belastungen für das West-Ost-Verhältnis in Europa ausgehen. Dazu gehört auch, daß an den Grenzen durch Deutschland nicht mehr geschossen wird.
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Außenminister Genscher hat jüngst bei der Eröffnung des KSZE-Treffens in Madrid mit Recht gesagt: „Uns bedrückt, daß die Sperranlagen an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten fortbestehen und weiter perfektioniert werden. Wir können und wollen uns damit nicht abfinden." Ich selbst habe am letzten Wochenende im Landkreis LüchowDannenberg an mehreren Stellen den schier unglaublichen technischen und militärischen Aufwand der DDR an der Grenze erneut in mich aufgenommen. Das ist ein wahrlich abstoßendes Erlebnis.
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Es hilft aber nichts, beide deutschen Staaten müssen sich gleichwohl in ihrem politischen Handeln in besonderer Weise mäßigen, und sie müssen auch in schwierigen Zeiten miteinander reden.
Nach einer Reihe politischer Begegnungen in der ersten Jahreshälfte 1980 und nach einem sehr nützlichen längeren Gespräch zwischen Herrn Honecker und mir in Belgrad mußte mein für August vorbereitetes Treffen mit dem Generalsekretär verschoben werden. Das hatte seinen Grund in erregenden außerdeutschen Entwicklungen in Europa, Entwicklungen, die auch heute noch andauern, die uns heute genauso besorgt machen. Der Entschluß zur Verschiebung dieses Besuchs ist mir um so schwerer gefallen, als das ursprünglich schon für die ersten Monate des Jahres 1980 verabredete Treffen wegen der Zunahme der Spannungen zwischen West und Ost nach dem Einmarsch in Afghanistan auf Wunsch von Herrn Honecker schon einmal hatte verschoben werden müssen. Ich halte daran fest, daß das Gespräch über den Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen unseren Staaten und über aktuelle internationale Fragen zu einem für beide Seiten besser geeigneten Zeitpunkt geführt wird. Dieser Zeitpunkt hängt offenkundig von der internationalen Entwicklung ab.
Wir haben in den letzten zehn Jahren mit der Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition, mit dem Grundlagenvertrag und den anderen Vereinbarungen, ein umfangreiches Netz von Gesprächen und Kontakten zwischen beiden deutschen Staaten entwickelt. Durch diese Politik ist vieles erreicht worden. Manches ist sogar schon selbstverständlich geworden, ohne daß wir uns noch der Veränderungen bewußt sind.
Auch der Handel hat sich im letzten Jahr positiv entwickelt. Beide Seiten können mit der im vergangenen Jahr erreichten Zuwachsrate und mit dem Volumen zufrieden sein. Es ist ganz gut, daß die bilateralen Handelsströme ausgeglichen waren. Das eröffnet günstige Aussichten für die Zukunft. Die Bundesregierung hat den Willen, die Entwicklung und den Ausbau des innerdeutschen Handels auch weiterhin zu fördern.
Auch 1980 haben uns viele Rentner und Rentnerinnen aus der DDR besucht. Millionen von Telefongesprächen werden geführt. Ich betone auch die nichtstaatlichen Kontakte zwischen Sportverbänden, Gewerkschaften, im kirchlichen und kulturellen Bereich, beispielsweise bei den Filmwochen. Wir möchten, daß alle diese Kontakte ausgebaut und verbreitert werden.
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Vor einer langen Zahl von Jahren - im März 1968 bei der ersten Debatte über die „Lage der Nation", die im Bundestag stattgefunden hat - habe ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sprechen dürfen. Ich habe mich damals an die Jugend der DDR gewandt und festgestellt, daß diese Jugend in der DDR unserer Bundesrepublik Deutschland ziemlich kritisch gegenüberstehe, daß ihr oft das Verständnis oder das Einfühlungsvermögen in unsere Gesellschaft, in unsere Gesellschaftsordnung ebenso fehle wie uns hier oft die Maßstäbe, die Begriffe fremd sind, die in der DDR gelten. Ich wies auf
die Gefahr solcher Entwicklungen hin und sagte: „Beide Teile müssen sich befähigen, einander zu begreifen ... Auch dies gehört zur innerdeutschen Friedenspolitik."
Das bleibt auch heute richtig und wichtig: einander gegenseitig zu begreifen.
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Ich weiß, daß aus mancherlei Gründen viele Menschen bei uns kaum je in die DDR reisen. Aber ich bitte alle, die dort Verwandte und Freunde haben - und man muß nicht unbedingt Verwandte und Freunde haben -, ich bitte alle, die sich interessieren, vor allen Dingen unsere jüngeren Mitbürger: Lassen Sie sich nicht entmutigen, reisen Sie bitte auch zukünftig in die DDR, hören Sie zu und sprechen Sie auch selbst!
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Deutschland zwischen Riesengebirge und Ostsee, das ist auch eine Fülle sehr schöner Landschaften und Städte - vor allem aber: die Mecklenburger, die Pommern, die Brandenburger, die Sachsen, die Thüringer, die Berliner, sie müssen im Gespräch unsere Zuneigung spüren können!
({35})
Berlin und den Berlinern gilt das ganz unmittelbare politische, wirtschaftliche und menschliche Engagement des Bundestages und der Bundesregierung.
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Die Mauer in Berlin wurde vor 20 Jahren gebaut. Immer noch wirft sie einen schlimmen Schatten auf unser Land. Und wir werden uns nicht mit dieser Mauer abfinden.
({37})
Vor zehn Jahren, im Herbst 1971, wurde das Viermächteabkommen unterzeichnet, an dem wir festhalten, so wie bisher. Es hat wesentlich zur Stabilisierung der Lage in und um Berlin beigetragen. Die Zahl der Transitreisen hat sich seitdem verdoppelt. Besuche in Ost-Berlin und in der DDR gehören wieder zum Berliner Alltag, und jeden Tag, jeden Abend führen die Berliner Tausende von Telefongesprächen mit Verwandten und Freunden im Ostteil der Stadt und in der DDR.
Maßstab unserer Berlin-Politik ist die sorgfältige Abwägung zwischen dem, was rechtlich zulässig ist, und dem, was politisch vernünftig ist. Wir handeln dabei im engen Einvernehmen mit den Drei Mächten, die auf der Grundlage ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten die Sicherheit und die Freiheit Berlins garantieren.
Die Stabilität Berlins ist auch über Deutschland hinaus wichtig. Der Regierende Bürgermeister Dr. Vogel hat in seiner Regierungserklärung gesagt, Berlin brauche vor allem Hoffnung, Zuversicht und
Selbstbewußtsein. Er hat recht. Und dies gilt für das ganze Volk! Es gilt für Berlin, und es gilt für uns!
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Ich denke, der neue Regierende Bürgermeister und sein Stellvertreter, Bürgermeister Brunner, und der ganze neue Senat können den Berlinern Hoffnung, Zuversicht und Selbstbewußtsein geben,
({39})
ähnlich wie früher Louise Schröder oder Ernst Reuter oder Willy Brandt. Diese drei waren auch nicht in Berlin geboren - aber sie sind zu Berlinern geworden, als wären sie mit Spreewasser getauft.
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- Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Unruhe ist mir verständlich, und sie macht mir Freude.
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Bundesregierung und Bundestag werden den Berlinern weiterhin helfen. Wir haben das Instrumentarium der Bundeshilfe und der Berlinförderung verbessert. Berlin braucht vor allem aber
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das fortwährende Engagement der privaten Wirtschaft. Und wir brauchen wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beiträge für Berlin. Und wir brauchen ebenso wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beiträge aus Berlin für uns alle.
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Die Stadt und ihre Menschen tragen nicht nur die Lasten der Vergangenheit, sie tragen nicht nur Probleme der Gegenwart, sondern sie tragen auch unsere Hoffnungen für die Zukunft. Deshalb stehen wir zu den Berlinern.
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Meine Damen und Herren, die Gesamtlage der Welt und die Lage der Deutschen Nation insgesamt ertragen heute weniger denn je große Worte; vielmehr brauchen wir Mäßigung - auf beiden Seiten. Wir Deutsche müssen behutsam miteinander umgehen, das Erreichte bewahren und ausbauen. Wir müssen beharrlich sein, und wir müssen füreinander berechenbar bleiben. Das gilt für die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik gleichermaßen: füreinander berechenbar bleiben.
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Mäßigung, Beharrlichkeit und Berechenbarkeit sind nicht gerade traditionelle Tugenden der Deutschen. Vielmehr müssen wir sie zu deutschen Tugenden entwickeln, wenn wir in unserer sehr besondeBundeskanzler Schmidt
ren geschichtlichen und sehr besonderen geographischen Situation bestehen wollen. In dieser Situation - nach Hitler, nach Auschwitz, an der Nahtstelle zwischen West und Ost, im Zentrum Europas - können wir Deutsche Europa als Ganzem mehr nützen als viele andere, aber wir Deutsche können Europa auch mehr schaden als viele andere. Wenn es gut geht in Europa, dann können wir Deutsche einen großen Vorteil davon haben. Wenn es schlecht geht, wird die Deutsche Nation am meisten leiden.
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Wir erkennen: Aus unserer geographischen Lage, aus unserer geschichtlichen Situation folgert in besonderem Maße die Pflicht zum Frieden; nicht als illusionärer Pazifismus, sondern als Pflicht zu einer konkreten Politik, die den Frieden nicht als paradiesischen Zustand versteht, auch nicht als Friedhof s-ruhe! Wir erkennen den Frieden vielmehr als einen Zustand, der unter den Staaten immer neu gestiftet werden muß
({47})
durch Erhaltung und Wiederherstellung des Gleichgewichts auf möglichst niedrigem militärischem Niveau, durch Verhandlungen und Verträge, durch die Schaffung gegenseitigen Vertrauens, durch Zusammenarbeit, das heißt: durch die gemeinsame Gestaltung des Friedens.
Gleichgewicht ist eine unerläßliche Voraussetzung. Es wäre ja auch kein Rüstungsbegrenzungsvertrag ohne Gleichgewichtsprinzip, ohne Gleichheitsprinzip vorstellbar. Aber Gleichgewicht allein reicht für den Frieden keineswegs aus. Man muß auch miteinander reden, wenn man den Frieden will. Man muß aufeinander hören. Man muß die Interessen zum Ausgleich und zum Kompromiß bringen. Man muß nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Lösungen suchen.
Dies war der Inhalt des Harmel-Berichts, den das Nordatlantische Bündnis 1967 angenommen hat. Dies ist auch heute immer noch richtig. Es ist auch heute richtig - für die beiden deutschen Staaten und für die eine deutsche Nation.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Zimmermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf den Bericht des Bundeskanzlers „Zur Lage der Nation" - „... im geteilten Deutschland", heißt das - eingehe, möchte ich ein Wort an unsere Nachbarn, an die polnische Nation, richten, die in diesen Tagen und Wochen besonderen Belastungen ausgesetzt ist.
({0})
Das paßt auch deswegen, weil die Polen einen Begriff von Nation haben, es in Hunderten von Jahren wechselvoller Geschichte bewiesen haben. Jeden, der die Sendungen im deutschen Fernsehen gesehen hat, wo Zehntausende das Lied singen „Noch ist Polen nicht verloren", wird es ergriffen haben.
({1})
Wir sind uns in diesem Hause einig im Respekt vor dem polnischen Volk, das seine wirtschaftlichen und politischen Probleme aus eigener Kraft, ohne Pressionen von außen, lösen will. Wir können nicht übersehen, welche gewaltige Druck- und Drohkulisse die Sowjetunion aufgebaut hat. Es ist jedoch nicht nur die Sowjetunion, sondern es sind gerade die früheren Opfer sowjetischer Gewaltanwendung - an der Spitze die CSSR und die DDR -, die gegenwärtig verbal Polen besonders unter Druck setzen.
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Ich hoffe, der Bundeskanzler hat recht, wenn er sagt, die Pflicht der Deutschen zur Erhaltung des Friedens werde auch von der DDR anerkannt. Denn für uns Deutsche in der Bundesrepublik wäre es doch ein unerträglicher Gedanke, wenn die Soldaten der sogenannten Nationalen Volksarmee der DDR vier Jahrzehnte nach dem Überfall auf Polen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges jetzt an einer Aktion gegen Polen beteiligt wären. Wir wollen, daß dies nicht geschieht. Doch niemand kann vorhersagen, wie sich die sowjetische Führung im Kreml entscheidet. Unsere Hoffnungen und Gedanken, unsere geistige Solidarität gelten in dieser Stünde dem polnischen Volk.
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Die Zunahme der durch die Sowjetunion verursachten Spannungen in Europa wirkt sich auf die Deutschen diesseits und jenseits der Elbe aus. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die deutsche Frage eingebettet in das Ost-West-Verhältnis. Wer immer die Illusion hegte, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR könne es unbeschadet der Positionen der Weltmächte ein deutsch-deutsches Sonderverhältnis geben, der hat sich getäuscht. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sind heute auf einem Tiefstand seit dem Abschluß des Grundlagenvertrages angekommen. Alles wirtschaftliche und finanzielle Entgegenkommen der Bundesregierung hat die DDR-Führung nicht von ihrem Abgrenzungskurs abgebracht, im Gegenteil.
Die erste Maßnahme Honeckers nach der Bundestagswahl war eine drastische Erhöhung des Zwangsumtausches für Westbesucher. Das war eine Aktion zur Verhinderung menschlicher Begegnungen, und sie wurde mit dem zynischen Hinweis der SED verbunden, man habe die Bundestagswahl abgewartet, um die Wahlchancen der SPD/FDP-Koalition nicht zu schmälern.
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Die Bundesregierung reagierte auf die Erhöhung des Zwangsumtausches streng nach der internen Dienstvorschrift bei solchen Fällen: zuerst tiefe Bestürzung, dann Bedauern, dann der Hinweis, man werde das nicht hinnehmen. Gleichzeitig wird vorsorglich vor Überreaktionen gewarnt, und am
Schluß kommt der Fetisch, die Entspannung müsse weitergehen, zu ihr gebe es keine Alternative.
({5})
Das kann man wirklich kaum noch hören. Mit solchen Leerformeln rettet sich die Koalition über die Runden.
Jetzt hat der Bundeskanzler, als wäre nichts gewesen, Herrn Honecker Gesprächsbereitschaft ohne Vorbedingungen angeboten. Die Bedingungen brauchen nicht öffentlich erörtert zu werden. Aber es muß sie geben, und ich hoffe, es gibt sie.
({6})
Die Unionsparteien haben der Bundesregierung in der Debatte über die Regierungserklärung am 26. November 1980 eine gemeinsame und ehrliche Bestandsaufnahme in der Deutschlandpolitik angeboten. Ich muß heute zum zweiten Mal feststellen, daß unsere Offerte ohne Antwort geblieben ist. Warum eigentlich? Manchmal, wenn die Lage so geschildert wird, wie der Bundeskanzler es heute tat, könnte man doch den Eindruck haben, daß man auch die Opposition dazu brauchen könnte, wo doch alles schwerer geworden ist. Nein, die Bundesregierung rollt weiter auf den eingefahrenen Gleisen des Zahlens ohne gesicherte Gegenleistung und des Noch-mehr-Zahlens bei Erpressungen. Die SED-Führung weiß genau, daß hier immer etwas herauszuholen ist und daß man die eigene Position stetig verbessern kann.
Die DDR hat zwei Ziele in den Vordergrund gestellt: die Anerkennung einer eigenen Staatsangehörigkeit und die Aufwertung der Ständigen Vertretungen zu regulären Botschaften. Keiner dieser Punkte kann auch nur als Verhandlungsgegenstand akzeptiert werden. Aber immer wieder suchen Politiker der Koalition nach Möglichkeiten, sich am Grundgesetz und am Urteil des Verfassungsgerichts vorbeizulavieren.
Der Kollege Wischnewski will über den Status der Vertretungen „in vernünftiger Weise reden", wie er formuliert. Bei der Staatsbürgerschaft will er „niemand gegen seinen Willen in Anspruch nehmen". Für den Kollegen Ronneburger ist die gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit „nichts weiter als ein Angebot für die Deutschen aus der DDR". Der Außenminister umrundet die Diskussion mit den Worten, er lehne es ab, Deutsche aus der DDR durch Gesetz oder in anderer Weise zu Ausländern zu machen. Von einem klaren deutschlandpolitischen Kurs ist nach diesen Zitaten bedeutender Politiker der Koalition wenig zu spüren.
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Das zeigt sich bei jeder von Honecker bewußt herbeigeführten innerdeutschen Krise, ob es sich nun um Erhöhung des Zwangsumtausches, Behinderungen im Reiseverkehr, Einschränkung der Berichterstattung von Journalisten oder den Ausbau der Tötungsmaschinerie an der Demarkationslinie handelt. Aber wer sich - der Bundeskanzler hat das letztere beklagt; wir stimmen ihm zu - wie die Bundesregierung weigert, auch nur über Gegenmaßnahmen nachzudenken oder darüber im Bundestag gemeinsam zu beraten, darf sich nicht wundern, wenn die DDR ihren Weg des gleichzeitigen Kassierens und Abgrenzens zielbewußt weitergeht.
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Die Bundestagsdebatten der letzten Jahre über die Lage der Nation dokumentieren nach unserer Auffassung einen permanenten deutschlandpolitischen Rückzug von Regierung und Koalition. Auch in der Regierungserklärung des Kanzlers Ende letzten Jahres wurde das deutlich. Der finanziellen Erpressung, aber auch der geistig-politischen Offensive Honeckers hat die Koalition nichts entgegenzusetzen als ihre Nachgiebigkeit.
Vor zwei Jahren rückte man vom angeblich antiquierten Begriff der Wiedervereinigung ab - ein Wort, das übrigens in der letzten Regierungserklärung des Bundeskanzlers nicht vorkam. Prominente Politiker der Koalition sprachen plötzlich von einer „Neuvereinigung" oder schlicht von einer „Vereinigung der beiden deutschen Staaten". Mit einem einzigen Wort wurden hier Bindungen zwischen West- und Mitteldeutschland gekappt und den Abgrenzungsbestrebungen der anderen Seite Hilfestellung geleistet.
Es war der Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Staatssekretär Gaus, der sich mit dem Vorschlag hervortat, nunmehr auf den Begriff der Nation überhaupt zu verzichten.
({9})
Morgen müssen wir uns hoffentlich nicht mit jemandem auseinandersetzen, der die Worte „Deutschland" oder „deutsch" aus dem Sprachgebrauch streichen will.
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- Aber nur für wenige Wochen, Herr Dr. Kohl.
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Meine Damen und Herren, wir dürfen in Deutschland und erst recht in diesem Hause nicht der Gefahr erliegen, die Debatte über die Lage der Nation mit schlechtem Gewissen zu führen. Wir dürfen uns nicht einreden lassen, das sei ein Ritual, das man leider eben hinter sich bringen müsse.
Im Vorfeld der heutigen Debatte hat ein namhafter Leitartikler einer deutschen Tageszeitung die provozierende Frage gestellt „Was soll die Debatte alle Jahre wieder?" und gleich die Antwort dazu gegeben: „eigentlich überflüssig, die Lage der Nation im geteilten Deutschland ändert sich ja nicht."
Da müßten Regierung und Koalition nun wirklich energisch widersprechen; denn ihrer Meinung nach ist doch in den letzten zehn Jahren eine ständige Aufwärtsentwicklung festzustellen.
Der Leitartikel ist aber auch grundsätzlich falsch; denn bekanntlich gibt es in der Politik keinen Stillstand, und wenn jemand sich selbst nicht bewegt,
heißt das noch lange nicht, daß auch die andere Seite den Status quo pflegt.
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In der Deutschlandpolitik ist das ganz und gar nicht der Fall.
Wir dürfen auch der ständigen publizistischen Herausforderung nicht erliegen und nach dem Motto verfahren: Jetzt muß noch etwas Neues gesagt werden. Kein Thema eignet sich weniger zum Experimentieren als die deutsche Frage. Jeder Zentimeter, den wir zurückgehen, jeder Pflock, der von uns leichtfertig oder bewußt umgestoßen wird - die DDR ist sofort da, um das Terrain geistig zu besetzen und ihrerseits neue Pflöcke einzuschlagen.
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Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, sich gegenüber Kommunisten mit Nachgiebigkeit die Ruhe erkaufen zu können oder gar den Menschen mehr Freiheit zu erwirken. Der Kommunismus hat eine offensive Ideologie in Theorie und Praxis. Wir können im Westen auf die Dauer nur bestehen, wenn wir unsere Ideale von Freiheit, von Menschenrechten und in Deutschland den Glauben an die Einheit der deutschen Nation dagegenstellen. Wer an die Wiedervereinigung nicht glaubt, der will sie auch nicht, und wer sie nicht will, wird auch nicht dafür eintreten und wird den Gedanken an sie nicht wachhalten können.
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Die SED-Führung leugnet die Existenz der Nation seit Jahren. Trotz allem ist das gemeinsame Bewußtsein nicht ausgelöscht. Die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland und die Bewohner der DDR fühlen sich als Deutsche, wie alle Umfragen und Informationen zeigen. Wenn eine Bundesligamannschaft irgendwo in Osteuropa zu einem Europacupspiel antritt, dann kommen Hunderte, ja Tausende Schlachtenbummler aus der DDR, um diese Mannschaft zu unterstützen.
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Sie wollen eine deutsche Mannschaft gewinnen sehen. Auch darin äußert sich Gemeinsamkeit.
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Die deutsche Frage ist derzeit nicht lösbar. Niemand gibt sich hier Illusionen hin. Aber niemand kann auch vorhersagen, wie lang der unnatürliche Zustand der gespaltenen Nation andauern wird. Die Aufgabe der frei gewählten Politiker in Deutschland kann es nur sein, das Bewußtsein der einen untrennbaren Nation aufrechtzuerhalten und alles zu unterlassen, was zu einer Zementierung einer Teilung führen könnte.
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Auf diesem Weg hielt die CDU/CSU den Grundlagenvertrag mit der DDR für einen falschen Ansatz. Die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch die Maßstäbe festgelegt und möglichem Mißbrauch einen Riegel vorgeschoben. Der Spielraum für Experimente ist gering. Es hat heute wenig Sinn, noch eine politische Auseinandersetzung über den Grundvertrag oder die Ostverträge insgesamt zu führen. Sie gehören zu den Fakten, die zu setzen eine Regierung und eine Parlamentsmehrheit die Möglichkeit gehabt haben. Der Streit um die Ostverträge ist inzwischen Zeitgeschichte geworden. Aber die Auswirkungen dieser Verträge sind spürbar, und darüber muß natürlich gesprochen werden.
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In kleinem Kreis wird auch bei der Koalition heute zugegeben, daß bei dem hektischen Getriebe um das Zustandekommen der Ostverträge einiges mit heißer Nadel genäht worden ist. Das brauchen wir nicht mehr jeden Tag zu wiederholen, genau so wenig wie eine Debatte über die Stalin-Note von 1952 heute noch einen praktischen Wert hat. Ich erwähne das, weil nach der Bundestagswahl ähnliche Aussagen von Unionspolitikern, u. a. von mir, von manchen als Kurskorrektur in der Ostpolitik mißverstanden wurden. Aber unsere Angebote sind nicht angenommen worden. Das ist das eine. Und das andere ist: wir haben nichts zu korrigieren oder zurückzunehmen; denn wir hatten niemals Illusionen.
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Die Ereignisse in Afghanistan und in Polen sind eine Bestätigung unserer Warnungen vor einer illusionären Entspannungspolitik. Das gleiche gilt im übrigen für die massive Aufrüstung der UdSSR ausgerechnet in der Phase angeblicher Ost-West-Entspannung, einer Aufrüstung, die, wie auch die nukleare Planungsgruppe dieser Tage hier in Bonn festgestellt hat, zu einer ernsten Gefahr für unsere Sicherheit geworden ist.
Wenn ich vorhin feststellte, daß wir in der Deutschlandpolitik nicht leichtfertig Positionen räumen dürfen, weil die DDR sofort das Vakuum füllt, so gilt das vor allem zum Thema Wiedervereinigung und deutsche Nation. Die SED-Führung in der DDR weiß genau, daß auch nach kommunistischem Verständnis die SED-Lesart von der angeblich sich herausbildenden sozialistischen Nation in der DDR ein Unikum ist, das in der Geschichte keinen Bestand haben wird. Die kommunistische Nationentheorie, hergeleitet von Marx und in die politische Praxis umgesetzt von Stalin, läßt dafür keinen Spielraum. Nein, die SED-These von der sozialistischen Nation ist nichts anderes als ein Vehikel, um den Gedanken einer nationalen Einheit in Freiheit zurückzudrängen. Warum bemächtigt sich wohl die DDR der deutschen Geschichte? Jetzt bekennt sie sich zu dem Preußenkönig Friedrich dem Großen und stellt sein Denkmal Unter den Linden in Ost-Berlin wieder auf. Da liegt wohl die Frage nahe, wann der Gestalter des deutschen Kaiserreichs, Otto von Bismarck, zu neuen Ehren kommt, zumal er j a mit den Russen besonders gut gestanden hat. Die SED ist eben die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" und ihr Zentralorgan das „Neue Deutschland". Vor SED-Funktionären hat Honecker, der gebürtige Saarländer, folgendes gesagt:
Und wenn der Tag kommt, an dem die Werktätigen der Bundesrepublik an die sozialistische
Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland
gehen, dann entsteht die Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten vollkommen neu. Wie wir uns dann entscheiden, daran dürfte wohl kein Zweifel bestehen.
Der jubelnde Beifall der versammelten Parteifunktionäre war ihm sicher. Und dann kommt Herr Gaus und rät uns, den Begriff der Nation nicht mehr zu verwenden! Da erübrigt sich jeder Kommentar; das wirkt von selbst!
({20})
Für die Deutschen in der Bundesrepublik gibt es neben der eigenen Existenzsicherung nur eine nationale Zielsetzung: die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit.
({21})
Sie durchzuführen übersteigt heute die Möglichkeiten unserer Politik, und zwar unabhängig davon, welche Bundestagsparteien die Regierung stellen; aber die Älteren haben die Verpflichtung, ihre Lebenserfahrungen an die Jüngeren weiterzugeben. Im Schulunterricht muß die deutsche Frage intensiv behandelt werden. Es war ein erfreuliches Zeichen, daß sich die Kultusministerkonferenz auf eine Darstellung Deutschlands in Schulbüchern und Atlanten geeinigt hat, die sich an der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts orientiert.
({22})
Leider sind einige SPD-regierte Bundesländer dabei, unter dem Druck der linken Parteibasis die vorgegebene Linie des Grundgesetzes wieder zu verlassen, und auch der Bundesregierung liegt offenbar das Verfassungsgerichtsurteil immer noch schwer im Magen.
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- Ich beweise es gleich - mit Ihnen, Herr von Dohnanyi! Mir ist unverständlich, wie Sie, Herr von Dohnanyi, gegen die Abmachungen der Kultusminister mit den Worten polemisieren konnten, dies sei „eine Irreführung des deutschen Volkes", man schreibe schließlich das Jahr 1981, „elf Jahre nach dem Warschauer Vertrag!"
({24})
Das haben Sie gesagt und das haben Sie so gesagt, als sei dieses Datum sozusagen die Stunde Null einer vom Grundgesetz gelösten neuen Ostpolitik!
({25})
Jedes Einknicken in der deutschen Frage, jedes Nachgeben gegenüber DDR-Wünschen in Richtung Aufgabe der einen deutschen Staatsangehörigkeit würde nicht nur unabsehbare rechtliche Folgen nach sich ziehen. Wir haben hier mit Genugtuung die eindeutigen Worte des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland gehört. Wir sind uns darüber klar, daß eine solche Aufgabe auch bei den Deutschen in der DDR das Gefühl des endgültigen
Abgeschiedenseins auslösen würde und das will die SED: den Menschen in ihrem Herrschaftsbereich die Hoffnung nehmen; denn wer keine Hoffnung mehr hat, der ordnet sich besser ein, ist ein bequemerer Untertan.
Unabsehbare Folgen ergäben sich auch für den Status Berlins, das ja angeblich - im Sprachgebrauch der SED - auf dem Territorium der DDR liegt.
Das Viermächteabkommen, meine Damen und Herren, ist kein sanftes Ruhekissen, auf dem es sich bequem in den Tag hineinträumen läßt. Die Bedrohung ist latent vorhanden; immer kann es zu Pressionen kommen. Davor bewahrt uns kein Abkommen. Wichtig ist die Stabilität West-Berlins im Innern. Da muß es besorgt stimmen, wenn sich die Berliner SPD in Erkenntnis der eigenen Schwäche auf Gruppen stützen will, die erklärte Gegner eines von den drei Westmächten geschützten freien Berlins sind.
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Es ist kennzeichnend für die Lage der Berliner SPD auch heute, daß dort Plakate von Regierenden Bürgermeistern hängen, aber vier Regierende Bürgermeister - Suhr, Albertz, Schütz und Stobbe - weggelassen sind. 18 Jahre Berliner Geschichte werden einfach verschwiegen, weil sie nicht ins Bild passen!
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Die SPD in Berlin sollte sich überlegen, ob eine bloße Machterhaltung, eine Minderheitsregierung, gestützt von den Alternativen und Chaoten, Abhängigkeit vom Willen des Herrn Schily und einsitzender Häftlinge, diesen Preis wert ist. Man darf nicht nur vom demokratischen Wechsel reden und ihn bejubeln, wie Herr Brandt 1969, man muß ihn auch ertragen können, wenn man selbst davon getroffen wird.
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Ich glaube, die Union hat hierfür auch im letzten Jahr ein gutes Beispiel gegeben. Die Bundesregierung sollte, die Parteiführungen der Koalitionspartner eingeschlossen, ihren Berliner Freunden dringend raten, bei aller Koalitionsarithmetik nur an die Zukunft Berlins zu denken.
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Eine Debatte zur Lage der Nation muß sich auch mit dem inneren Zustand der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen. Der Bundeskanzler hat es getan. Nach seiner Regierungserklärung nach den Bundestagswahlen hat er das Motto ausgegeben: Mut zur Zukunft. Er hat ein umfangreiches Detailprogramm vorgelegt. Heute ist eine gute erste
Gelegenheit, Zwischenbilanz zu ziehen. Dem Bundeskanzler ist damals bei der Aussprache über die Regierungserkärung auf den sachlichen Hinweis des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU Helmut Kohl, er lasse es an geistiger Führung fehlen, nichts anderes eingefallen, als diesen Verzicht auf geistige Führung auch noch intellektuell zu begründen. Das ist ein schwerwiegender Fehler, wie wir glauben; denn wer geistige Führung ablehnt, wer nicht weiß, in welche Richtung er seine Politik gestalten will, wer sich selbst nur zum Verwalter, sozusagen zum obersten Angestellten der Republik macht, der wird bei den Inhalten der Politik noch Schwierigkeiten bekommen.
Beispiel Nr. 1: Der Kanzler hält die Kernenergie für notwendig; aber ein konkretes Energieprogramm, wo klipp und klar steht, wann, wo, welche Kernkraftwerke entstehen sollen, Fortschreibung des Energieprogramms und wie es mit der Endlagerung aussieht, legt er nicht vor.
({30})
Die Kanzlerpartei ist gleichzeitig für und gegen Kernenergie, für neue Kraftwerke und gleichzeitig gegen neue Kraftwerke. Der Dämonisierung der Kernkraft stellt die Bundesregierung keine Aufklärung entgegen. Da darf man sich nicht wundern, daß sich darin viele junge Leute von den demokratischen Parteien abwenden, wenn man sie nicht informiert, wenn sie von scheinbar alternativen Quellen gelockt werden und nicht ahnen, welche Auswirkungen eine heraufziehende Energiekrise für ihr Leben selbst haben würde. Nichts geht mehr in der Energiepolitik, außer Steuererhöhungen beim Treibstoff, um die leeren Staatskassen zu füllen.
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Die CDU/CSU hat der Bundesregierung ihre Bereitschaft, am gemeinsamen Energiekonzept mitzuwirken, nachdrücklich angeboten. Aber eine Regierungskoalition, wo jeder SPD-Landesverband in eine andere Richtung zerrt, muß natürlich zur Bewegungslosigkeit verdammt sein.
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Kein westliches Land ist so wie die Bundesrepublik Deutschland vom Florieren der Exportwirtschaft abhängig. Seit zwei Jahren weist die Leistungsbilanz nach unten. Wir leben von unserer Devisensubstanz, wir müssen neue Märkte erschließen. Saudi-Arabien hat nicht nur für die deutsche Bauwirtschaft einen gewaltigen Markt. Die Bundesregierung kennt die Wünsche und weiß, daß Ägypten und Saudi-Arabien unsere besten und wichtigsten Partnerländer am Golf sind. Irgendwann muß der Kanzler in dieser Frage Führung zeigen, statt die Dinge treiben zu lassen. Wir haben eine Reputation als zuverlässiger Partner zu wahren.
Auch hier ist die Bundesregierung auf den Grundsatzbeschluß der CDU/CSU zum Rüstungsexport nicht eingegangen. Verteidigungsminister Apel hat schon recht - und nur in dieser Frage hat Verteidigungsminister Apel recht -, wenn er in dieser Frage von seinem Kanzler und vom Außenminister mehr politische Führung wünscht. Und Finanzminister Matthöfer, dem ich von hier aus gute Besserung wünschen darf,
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hat wohlwollende Prüfung empfohlen. Er weiß am besten, warum.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie jetzt zusammen mit Frankreich viele Milliarden leihen und zur Verschleierung der Schuldenaufnahme im Bundeshaushalt das von der Kreditanstalt für Wiederaufbau aufnehmen lassen: Schulden bleiben Schulden, gleich, wo sie verbucht werden.
({34})
In der Nachrüstung haben Sie sich grundsätzlich für die Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts ausgesprochen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie selbst haben Zweifel durch Ihre Moratoriumseinlassungen in Essen geweckt. Das gibt ja selbst Generalsekretär Breschnew sozusagen mildernde Umstände, der darauf verweisen kann, daß Sie eigentlich den ersten, heute von der NATO einhellig abgelehnten Moratoriumsvorschlag gemacht haben.
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Was der Bundeskanzler, was die SPD in den letzten Wochen zur Frage der Nachrüstung an Papieren und Positionen, an Auslegungen und Deutungen produziert haben, kann niemand mehr unterscheiden. Die SPD-Führung weiß natürlich, daß an der NATO-Nachrüstung bei der ungebremsten sowjetischen Rüstung kein Weg vorbeführt; aber die Linken in der SPD wollen es nicht wissen. Aus diesen zwei gegensätzlichen Positionen wird dann ein gemeinsames Kompromißpapier. Da wundern sich die Leute in der SPD, daß unsere Verbündeten mit zunehmendem Mißtrauen auf diese Entwicklung schauen und sich fragen, wohin denn bei uns die Richtung geht!
Die Welle des Neutralismus und des Pazifismus, die wir derzeit erleben, hängt unmittelbar mit dem Richtungsstreit in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammen.
({36})
Auch hier weiß der Bundeskanzler, daß die CDU/ CSU in der Frage der Sicherheit eine geschlossene Haltung einnimmt, er also bei der Nachrüstung eine breite Rückendeckung in diesem Hause hätte. Warum nimmt er hier unsere Bereitschaft, im nationalen Interesse zu helfen, wieder nicht wahr? In den Vereinigten Staaten wäre es undenkbar, so auf den Konsens mit der nicht regierenden, aber stärksten politischen Kraft zu verzichten.
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Diese drei Beispiele einer handlungsunfähigen Regierung in existentiellen Fragen könnten ergänzt werden. Ich erspare mir das aus Zeitgründen. Aber in den drei genannten zentralen Fragen der deutschen Politik - Energie, Export und Sicherheit - haben wir von der Union klare Positionen bezogen.
Wir haben darüber diskutiert. Am Ende stand eine Entscheidung.
Das Wahlprogramm der Union vom letzten Jahr gilt bei uns, wie wir mit unserem Antrag zur Montan-Mitbestimmung bewiesen haben.
({38})
Unsere Politik ist für den Wähler durchschaubar. Wir lassen unsere Entscheidungen nicht zerreden. Wir haben der Bundesregierung auf vielen Feldern Zusammenarbeit angeboten und blieben ohne Resonanz. Die Bundesregierung will offenbar weiterwursteln und Zeit schinden - in der vagen Hoffnung, es werde sich schon irgendwie richten.
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Der Bundeskanzler hat dieser Tage gesagt: Die Deutschen sind verwöhnt. Das hat ein beträchtliches Echo gehabt. Es gab j a viele interessante Aussprüche von Willy Brandt und Helmut Schmidt damals bei der „Lebensqualität",
({40})
Aussprüche über den „Aufschwung", über den „Motor des Fortschritts". Ja, wer hat denn über so viele Jahre die Anspruchsinflation genährt und beschwert sich heute darüber, daß man verwöhnt sei? Wer war denn das? Wo sitzen denn die Leute?
({41})
Jetzt zu sagen, man sei verwöhnt, das ist nicht fair, das ist ungerecht.
Vor zehn Jahren hat die SPD den Wahlkampf noch mit dem Slogan „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land" geführt.
({42})
In der Tat, das, was wir damals nach 20 Jahren übergeben hatten, war ein gutes Erbteil: gefüllte Kassen, Vollbeschäftigung, stabile Preise. Und jetzt? Am 20. März 1978, vor drei Jahren, findet der Bundeskanzler dieses Land provinziell, reichlich kleinkariert, reichlich kleinbürgerlich, ja - man zögert, es auszusprechen - sogar zum Kotzen. Das allerdings, Herr Bundeskanzler, steht in einem gewissen Gegensatz dazu, daß Sie in Ihrer Rede heute gesagt haben: Die allermeisten Menschen auf der ganzen Welt würden ihren Platz gern mit einem Deutschen tauschen. Das paßt nicht dazu, daß Sie so über dieses Land reden!
(
Das ist eine Fälschung! - Zuruf von der SPD: Wieder eine Fälschung, Herr Zimmermann!)
- Das ist am 19. März 1978 in der Friedrich-EbertStiftung in Bergneustadt gesagt worden und am 20. März im „heute-journal" des Zweiten Deutschen Fernsehens von Klaus Bresser aus dem Manuskript wörtlich vorgelesen worden. Schauen Sie bitte nach!
Die Führungsschwäche an der Spitze des Staates findet natürlich auch in einer Orientierungslosigkeit bei Teilen der Jugend ihr Echo. Wie sollen sich die jungen Menschen zurechtfinden, wenn eine „emanzipatorische Pädagogik" alles zuerst einmal „kritisch hinterfragt" und auf die Vermittlung von Werten verzichtet? Es wird nicht mehr vermittelt, daß die Soldaten der Bundeswehr und der Verbündeten den Frieden gesichert haben. Die Pazifisten haben zum Frieden bei uns am allerwenigsten beigetragen.
({0})
Sie sonnen sich in ihrem Gewissen und genießen die Freiheiten, die andere ihnen sichern.
({1})
In dieser Situation verzichtet der Verteidigungsminister auf die öffentlichen Gelöbnisse seiner Wehrpflichtigen und versteckt die Truppe vor den Bürgern! Und er tut das - das ist das Schlimmste - wider besseres Wissen, gegen seine eigene Überzeugung,
({2}) nur auf Grund des Drucks seiner Partei!
({3})
Es ist doch bemerkenswert, daß der Wehrbeauftragte, der frühere Kollege dieses Hauses und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willi Berkhan, ein Vertrauter des Bundeskanzlers, das in seinem letzten offiziellen Bericht absichtlich und ausführlich beklagt und für falsch erklärt. Das sagt doch eigentlich, daß wir von der Union nicht ganz falsch liegen können, wenn wir das auch beklagen.
({4})
Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Deutschland ist eine neue organisierte Protestbewegung entstanden, die dort, wo Führungslosigkeit ist, in die Lücken stößt. Ob gegen Bundeswehr, gegen Nachrüstung, gegen Kernenergie, bei San Salvador oder bei den organisierten Hausbesetzern: Der Kurs wird in fast allen Fällen durch die gleichen linken und kommunistischen Gruppen bestimmt. Wie hieß die Parole beim Kongreß der Hausbesetzer in Münster, bei den organisierten Rechtsbrechern? Es stand zu lesen: „Es geht nicht um Häuser, es geht um das System."
An der Spitze der Anti-NATO-Demonstration in Bonn am letzten Wochenende marschierte der Ableger der SED bei uns, der Vorsitzende Mies von der Deutschen Kommunistischen Partei. In Berlin ließ man den Rechtsbrechern freie Hand. Weit über hundert Häuser sind besetzt. Die Polizei kam staatsanwaltlichen Aufträgen zur Räumung nicht nach. Es erklärt sich jetzt auch, warum der Polizeipräsident das nicht tun wollte: Offenbar war sein eigener Sohn bei einer solchen Hausbesetzung dabei.
({5})
So sind rechtsfreie oder im Sinn der Stadtguerilla sogenannte „befreite Gebiete" entstanden.
Der Bundesinnenminister hat zuerst einmal ungeprüft Protest erhoben, als Franz Josef Strauß feststellte, daß auch Mitglieder der Terrorszene unter den Hausbesetzern seien; er hat sich nachher korrigieren müssen. Die schweigende Mehrheit der JuDr. Zimmermann
gend will mit Hausbesetzern und gewalttätigen Demonstranten nichts zu tun haben.
({6})
Nur: Sie werden sich auch nicht für einen Staat engagieren, für die Demokratie engagieren, wenn die Repräsentanten des Staates Rechtsbrüche hinnehmen, als seien es Kavaliersdelikte.
({7})
Jeder Bürger wird sich fragen: Warum soll ich ein Strafmandat für falsches Parken bezahlen, wenn sich andere ungestraft fremdes Eigentum aneignen können?
({8})
Die für einen Einser-Juristen seltsame Rechtsphilosophie des Berliner Regierenden Bürgermeisters Vogel sieht so aus: Wenn einer eine Scheibe zertrümmert, hat er einen Straftatbestand erfüllt, bei 100 Personen ist das eine Demonstration, wo die Verhältnismäßigkeit gefragt ist.
({9})
Ich glaube nicht, daß diese Philosophie vom Bürger nachvollzogen wird,
({10})
denn 100 Straftaten sind nach unserem bescheidenen Rechtsverständnis unverhältnismäßig mehr als eine.
({11})
Das Jahr 1981 ist von zweierlei gekennzeichnet: von einer Zunahme der Probleme im Innern der Bundesrepublik und in der Weltpolitik. Wir brauchen in Krisenzeiten, meine Damen und Herren, sicher keinen starken Mann, aber wir bräuchten eine starke Regierung. Abwägen ist in der Politik notwendig, aber über einen gewissen Zeitraum hinaus wird Abwägen zum Zögern und dann zum Versagen. Der Kanzler steht kurz vor diesem letzten Schritt. Er weiß das selbst.
Es ist eine verkehrte Welt, in der die Opposition den Kanzler einer anderen Partei, den Chef einer anderen Koalition zum Handeln auffordert.
({12})
Ich tue es trotzdem, weil dieser Staat eine handlungsfähige Regierung braucht und die SPD/FDPKoalition in diesem Haus über die Mehrheit verfügt. Der Kanzler muß von seiner Richtlinienkompetenz wieder Gebrauch machen und sich dann dem Hause stellen.
({13})
Nur so hat die Bundesrepublik Deutschland eine Chance, aus der Stagnation herauszukommen und in der gegenwärtigen weltpolitischen Krisenlage ihren Stellenwert zu behaupten. Am Tage des Berichts zur Lage der Nation wäre es die Aufgabe der Bundesregierung, wenigstens den Versuch zu unternehmen, im Bundestag - ich habe mehrere existentielle Fragen angesprochen - zu einer breiten Mehrheit in den Fragen der nationalen Existenz zu gelangen. Meine Damen und Herren, wer nicht sammelt, der zerstreut - zum Schaden für die Bundesrepublik Deutschland und für die deutsche Nation.
Dieses traurige Fazit müssen wir heute ziehen, aber die stärkste politische Kraft der Bundesrepublik Deutschland in den Städten, in den Landkreisen, in den deutschen Bundesländern und in diesem Haus läßt sich in diesen Fragen nicht an die Seite drängen. Die CDU/CSU wird einig, entschlossen und präsent die Dinge wenden, wenn nicht heute, dann morgen. Dabei wird uns im demokratischen Entscheidungsprozeß auf allen Ebenen unseres Staates niemand aufhalten können, denn der Wechsel wird fällig werden - so wie am 10. Mai in Berlin - gegenüber einer Regierung, die nur mehr schwach reagiert und zur Führung des Landes leider nicht mehr fähig ist.
({14})
Das Wort hat der Regierende Bürgermeister von Berlin.
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand kann sich mit der Lage der Nation, mit der Lage unserer Nation beschäftigen, ohne sich mit der Lage Berlins auseinanderzusetzen. Berlin ist nicht nur eine der großen deutschen und europäischen Metropolen, übrigens der Einwohnerzahl nach unverändert die größte deutsche Metropole und die größte europäische zwischen Warschau und Paris; Berlin ist unverändert auch die Stadt, in der die Folgen eines der dunkelsten Kapitel unserer nationalen Geschichte für Millionen Menschen in ihrem täglichen Leben noch immer spürbare Gegenwart sind.
({2})
Dieses Kapitel hat übrigens nicht, wie manche meinen, im Mai 1945 begonnen. Dieses Kapitel ist am 30. Januar 1933 aufgeschlagen worden.
({3})
Manche geistige und politische Strömung hat schon vor 1933 Beiträge zu diesem Kapitel geschrieben: Herr Hugenberg und seine Pressekonzerne zum Beispiel
({4})
oder der kleindeutsche Geschichtschauvinismus eines Heinrich von Treitschke.
Zu diesen Folgen gehört die Teilung der Stadt, zu diesen Folgen gehört die militärische Präsenz der Drei Mächte, die aus Besatzungsmächten zu Schutzmächten geworden sind, dazu gehört die Lage an der Nahtstelle zweier Bündnissysteme und zweier tief unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen; dazu gehört das Ringen um den Zugang nach Berlin und um den Übergang von der einen Hälfte der Stadt in die andere, dazu gehört auch die Verpflichtung zum Wachhalten geschichtlicher Zusammenhänge und des Wissens um die gemeinsamen Wurzeln nationaler Existenz.
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({5})
Als der durch die Verfassung von Berlin legitimierte Sprecher Berlins danke ich dem Herrn Bundeskanzler und dem Sprecher der Opposition dafür, daß sie Berlin, daß sie der Lage, den Problemen und den Aufgaben Berlins in ihren Ausführungen breiten Raum gewidmet haben. Dem Herrn Bundeskanzler danke ich auch für das, was er gesagt hat, insbesondere für das, was er über und zu Berlin gesagt hat.
({6})
Herr Zimmermann hat sicher Verständnis dafür, daß ich ihn in diesen Dank nicht einschließe.
({7})
Ich stimme dem Bundeskanzler zu: Die Lage Berlins hat sich durch die Vertragspolitik, insbesondere durch das Viermächteabkommen und den Grundlagenvertrag, entscheidend verbessert. Die Fäden der menschlichen Kontakte zwischen den beiden Hälften der geteilten Stadt, die vor 1972 spärlich und leicht zerreißbar waren, sind zu einem festen und haltbaren Gewebe geworden. Der Zugang nach Berlin ist sicherer, die Bindungen Berlins an den Bund sind enger. Sie bestehen nicht nur in der Einordnung Berlins in das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik, Berlin ist auch ein Teil des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Republik.
Die Außenvertretung Berlins ist vertraglich geregelt, und vor allem: Berlin ist nicht mehr automatisch der Mittelpunkt jeder internationalen Spannung und jeder internationalen Krise. Die Kette der Ultimaten und Drohungen hat mit der Vertragspolitik ein Ende gefunden.
({8})
Manche, offenbar auch in diesem Hause, scheinen das zu bedauern. Sie sagen, Berlin sei durch diese Entwicklung an den Rand des Weltinteresses geraten, in den Zeiten der Bedrohung habe man einen demokratischen Grundkonsens gehabt - als ob der heute nicht mehr bestünde -, sie sagen, die Stadt habe ihre Identität verloren. Mag sein, daß Politiker und auch Leitartikler das so empfinden, daß sie spüren, wie sie selber vor allem bei den Jungen immer mehr an den Rand des Interesses rücken, daß sie sich selbst mit der Stadt verwechseln. Die Menschen in Berlin sehen das anders - und die in Ost-Berlin nicht weniger als die in West-Berlin. Die Menschen in beiden Teilen der Stadt, sie sagen es einem - gestern im Bezirksamt Wedding von Berlin, wo 50 OstBerliner auf ihre Begrüßung gewartet haben -, sie sagen es einem spontan. Sie wissen, wem sie diese Fortschritte verdanken. Sie wissen, wer für und wer gegen die Verträge war. Und sie wissen auch, wer im Einzelfall weder dafür noch dagegen war, weil er sich der Stimme enthielt oder an wichtigen Abstimmungen überhaupt erst gar nicht teilnahm.
({9}) Das alles ist nicht vergessen.
Und es ist auch nicht vergessen, daß es ein Berliner Bürgermeister, Willy Brandt, war, der unter dem Eindruck des Mauerbaus diese Politik der menschlichen Erleichterungen auf den Weg gebracht und, gegen bisweilen wütenden Widerstand, zusammen mit Walter Scheel durchgesetzt hat.
({10})
Berlin will, daß diese Politik fortgesetzt wird, realistisch, mit Augenmaß, im Einklang mit unseren Verbündeten, die zugleich auch die Schutzmächte in Berlin sind. Berlin will, daß diese Politik fortgesetzt wird, über Rückschläge und Enttäuschungen hinweg.
Die Erhöhung und die Ausweitung des Mindestumtausches ist ein solcher Rückschlag. Die Maßnahme berührt wichtige Annahmen, von denen man bei den Vereinbarungen über den Reise- und Besucherverkehr ausgegangen ist. Die Maßnahme widerspricht dem Geist der Verständigung und auch den Zielsetzungen der Schlußakte von Helsinki, auf die wir uns im übrigen nur berufen können, weil die Koalitionsmehrheit dieses Hauses den entsprechenden Entschließungen zugestimmt hat.
({11})
Die Maßnahme hat dazu geführt, daß die Zahl der Besuche von West-Berlinern in Ost-Berlin und in der DDR um über die Hälfte zurückgegangen ist. Das ist eine Maßnahme der Abgrenzung, die wir nicht hinnehmen können. Zusammen mit der Bundesregierung wird der Senat von Berlin beharrlich auf die Korrektur der Erhöhung und der Ausweitung hinwirken. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind dagegen, daß Abgrenzung mit Abgrenzung beantwortet wird.
({12})
Damit würden wir den Falschen in die Hände arbeiten. Damit würden wir selbst in das Gewebe der menschlichen Beziehungen hineinschneiden, das wir doch erhalten und stärken wollen.
An Themen für konkrete Bemühungen um weitere Verbesserungen in und für Berlin ist kein Mangel. Ein solches Thema ist die vom Abgeordnetenhaus von Berlin im Februar 1981 ohne Gegenstimmen gutgeheißene Einbeziehung der S-Bahn in das städtische Nahverkehrskonzept und die Integration der dafür geeigneten Strecken in ein Schienenschnellverkehrssystem. Wir arbeiten gemeinsam mit der Bundesregierung an der Umsetzung dieses Beschlusses. Ich bitte schon heute alle Fraktionen des Deutschen Bundestages um Unterstützung, um Unterstützung insbesondere dann, wenn es gilt, bislang für den weiteren Autobahnausbau in Berlin vorgesehene Mittel statt dessen für die Modernisierung von S-Bahn-Strecken zur Verfügung zu stellen.
({13})
Das ist, jedenfalls in Berlin, vielleicht aber sogar über Berlin hinaus, ein Gebot der verkehrspolitischen, der finanziellen und der ökologischen Vernunft.
({14})
An weiteren Beispielen und an weiteren Themen nenne ich: Verbesserungen im Reise- und Besucherverkehr der West-Berliner nach Ost-Berlin, die OfRegierender Bürgermeister Dr. Vogel ({15}) fenhaltung des Grenzübergangs Staaken für den Transitverkehr über 1984 hinaus, die Einbeziehung Berlins in einen Erdgas- oder auch in einen Stromverbund, um die Ölabhängigkeit der Berliner Strom-und Gaserzeugung zu vermindern und schließlich auch die Einbeziehung Berlins in das Intercity-System auf einer dafür zu elektrifizierenden Strecke.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, Berlin ist realistisch. Berlin erwartet keine Lösungen von heute auf morgen. Aber es wird nicht müde werden, immer aufs neue auf weitere Schritte der Normalisierung zu drängen. Auch das ist ein Teil der nationalen Aufgabe Berlins.
Ebenso ist es unsere Aufgabe, zusammen mit der Bundesregierung - ich danke dem Herrn Bundeskanzler für seine Ausführungen zu dieser Frage - auf der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit zu beharren. Sie ist für die Bürger von WestBerlin eine wichtige Klammer zur Bundesrepublik.
({16})
Die kommunalen Probleme Berlins sind angesprochen worden, und zwar verständnisvoll vom Bundeskanzler, polemisch und deutlich allein mit dem Blick auf den 10. Mai 1981 vom Sprecher der Unionsfraktion. Hier ist nicht der Ort, kommunale Sorgen Berlins in der vollen Breite zu erörtern. Ich würde nur die Bitte äußern, daß sich niemand selbstgerecht täuschen möge. Jede kommunale Herausforderung, vor der Berlin steht, ist schon heute auch in den anderen Metropolen und in den anderen großen Städten zu finden. Die Fehlentwicklungen in der Modernisierung und Sanierung richten sich doch nicht nach der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Stadt-, Landes- oder nationalen Regierung. Sind Sie denn blind bei dem Blick in die europäische Situation?
({17})
Die partielle Wohnungsnot läßt sich doch nicht in dem Einfachverfahren jeweils am Parteibuch des jeweiligen Wohnungsbauministers festmachen. Die Hausbesetzungen sind doch nicht allein ein Berliner Problem. Der Jugendprotest ist doch inzwischen eine europäische Erscheinung, die auch die Grenze zwischen Ost und West längst überschritten hat. Ich will nur noch einige weitere Stichworte nennen: die Drogensucht, die Baukostensteigerungen, das Zusammenleben mit Hunderttausenden ausländischer Mitbürger auf engem Raum, die doch nicht alle widerrechtlich gekommen sind, sondern in ihrer Masse da sind, weil wir sie alle gemeinsam mit Prämien eingeladen haben, in unsere Städte und in unser Land zu kommen. Ich nenne das Problem der Sicherung der Arbeitsplätze.
Wer da, ob Opposition oder nicht, mit dem Finger auf Berlin zeigt, möge sich erst einmal zu Hause und in seinem eigenen Wirkungsbereich umsehen und sachkundig machen.
({18})
Einiges, was der Sprecher der Unionsfraktion soeben gesagt hat, kann so nicht stehenbleiben. In Berlin gibt es keine rechtsfreien Räume. Erst recht wird dort das Recht nicht mit Füßen getreten. Der Senat fördert auch nicht, wie hier gesagt wurde, die Begehung von Straftaten. Mit der Fairneß, die vom Spitzenkandidaten der CDU für Berlin in Aussicht gestellt worden ist, sind solche Behauptungen schlechterdings nicht zu vereinbaren.
({19})
Herr Zimmermann hat es für richtig gehalten, an dieser Stelle mitzuteilen - was völlig unstreitig ist -, daß in Berlin von einzelnen Bürgern Straf an-träge gestellt und Strafanzeigen erstattet worden sind, mit der Behauptung, es liege Strafvereitelung im Amt vor. Was soll diese Selbstgerechtigkeit? Ist hier ein Politiker, der irgendwo in Verantwortung gestanden hat, der nicht schon mit den sinnlosesten Strafanzeigen überzogen wurde? Der bayerische Ministerpräsident hat sich immer wieder Strafanzeigen zu erwehren, in denen behauptet wird, er betreibe Volksverhetzung. Sie wissen doch ganz genau, was von solchen Strafanzeigen zu halten ist.
({20})
- Herr Abgeordneter, ich bedanke mich, daß ich im Gegensatz zu Herrn von Dohnanyi von Ihnen im Amt des Oberqualifikators eine positive Zensur erhalten habe. Herzlichen Dank.
({21})
({22})
Im übrigen, da Sie von sublimen Formen reden: Sublime Formen sind Ihnen eigentlich in der Regel verschlossen, Herr Kollege Kohl. Sie lieben mehr die kräftigeren, die plumpen.
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Natürlich, meine Damen und Herren, werden in Berlin Gewalttaten verfolgt. Es werden auch Häuser durchsucht und geräumt. Was es allerdings nicht gibt, sind sinnlose oder gefährliche Aktivitäten, wie etwa kollektive Massenverhaftungen junger Leute,
({24})
die dann später unter Feststellung ihrer Unschuld und der Mitteilung, daß ihnen finanzielle Entschädigung gewährt wird, wieder entlassen werden müssen.
({25})
Dabei denken wir nicht nur an die verheerenden Wirkungen, die solche Staatsdemonstrationen bei jungen Menschen hervorrufen. Meine Damen und Herren, dies sage ich mit dem Ernst, den ich immer wieder in das Gespräch mit der Opposition hineinzutragen suche: Ist Ihnen eigentlich nie in den Sinn gekommen, daß Sie mit solchen Aktivitäten im Ergebnis denen in die Hände arbeiten, die Sie so sehr zu bekämpfen vorgeben?
({26})
Die Junge Union in Berlin weiß das. Sie sagt: Wer
nichts als pauschale Massenverhaftungen und neue
Polizeiwaffen anzubieten hat, der offenbart er1558
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({27}) schreckende Hilflosigkeit. - Dem ist nur zuzustimmen.
({28})
Richtig ist, daß es zwischen dem Generalstaatsanwalt beim Kammergericht in Berlin und dem Justizsenator - Sie, Herr Zimmermann, haben in der sublimen Weise, die Herrn Kohl vorschwebt, darauf aufmerksam gemacht - eine Meinungsverschiedenheit über den richtigen Zeitpunkt einer Durchsuchung gab. Solche Meinungsverschiedenheiten - nun schaue ich die Rechtspolitiker an, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe - gab es doch auch schon anderswo und in anderen Ländern. Es soll der Landesjustizminister aufstehen, der über derartige Fragen, über Fragen seiner Weisungsbefugnis, nicht auch schon in Meinungsverschiedenheiten mit seiner Staatsanwaltschaft gestanden hat.
({29})
Im übrigen, zum Bedauern derer, die dies für ein vordergründig nützliches Thema hielten, hat diese Meinungsverschiedenheit in Berlin mittlerweile ihre Erledigung gefunden.
Herr Kollege Zimmermann hat es für richtig gehalten, auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß sich unter den vorläufig festgenommenen, dann wieder entlassenen Hausbesetzern auch ein Sohn des Berliner Polizeipräsidenten Hübner befand -22 Jahre, volljährig. Der Vater hat sich zu diesem Sohn bekannt - nicht zu seinem Tun, aber zu diesem Sohn - und hat ihm seine Hilfe angeboten. Herr Kollege Zimmermann, spüren Sie eigentlich nicht die peinliche Selbstgerechtigkeit, die in Ihrer Äußerung steckt?
({30})
Soll ich jetzt, Ihrer Peinlichkeit folgend, die Söhne von CDU- oder CSU-Politikern oder die Töchter von CDU- oder CSU-Bürgermeistern unter Nennung der Stadt, in der sie wohnen, aufzählen, die sich ebenfalls in dieser Situation befunden haben? Was ist das für eine vordergründige, peinliche Art der Diskussion!
({31})
Ich brauche doch nur in die Gesichter derer zu sehen,
({32})
die wissen, wovon ich rede, um die ganze Inhumanität dieser Art von Beweisführung deutlich zu machen.
({33})
Wie kann man mit der Not eines Vaters, mit der Not von Eltern, die sich in einem solchen Konflikt befinden, so peinlich vordergründig politische Polemik betreiben!
({34})
Herr Zimmermann, Sie haben dann einen weiteren Beitrag zur Lage der Nation geleistet und das Märchen von der angeblich beabsichtigten Zusammenarbeit der Berliner Sozialdemokraten mit der
Alternativen Liste erneuert. Ich bin Ihnen dankbar für das Stichwort. Ich erkläre von der Tribüne dieses Hauses aus - im übrigen zum wiederholten Male -: Es gibt weder eine Koalition noch eine Zusammenarbeit. Es ist auch nie irgend etwas anderes erklärt worden.
({35})
- Herr Kollege Zimmermann, ich nehme das Stichwort Minderheitsregierung auf. Danke sehr. Dieses Stichwort zeigt mir nur eines: daß die Berliner CDU ihre Hoffnung, die absolute Mehrheit zu erreichen, längst aufgegeben hat.
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Herr von Weizsäcker hat doch dieses Thema überhaupt erst entdeckt, als ihm die Meinungsumfragen bedeutet haben, daß er den Höhepunkt des Januar und unseren Tiefpunkt durch Untätigkeit versäumt hat. Seitdem ist dieses Thema aktuell.
({37})
Im übrigen bekenne ich mich dazu: Wir treiben auch hier keine Politik der Gesprächsverweigerung. Wir bemühen uns um die jungen Leute, die in die Irre laufen. Wir bemühen uns auch, die vernünftigen Gedanken aufzunehmen, die es auch in diesem Bereich gibt.
Wenn Sie es gerne wollen, lese ich viele Zitate vor, in denen Herr von Weizsäcker, Herr Blüm und andere diesem Personenkreis ihr hohes Verständnis - Herr Blüm sogar seine Sympathie - ausgedrückt haben.
({38})
- Aber lieber Herr Abgeordneter Kohl, wenn Sie es gerne wollen, führe ich Ihnen das sogar im Bild vor. Herr Blüm fliegt doch gelegentlich nach Berlin und läßt sich dort in Kreuzberg mit den Hausbesetzern fotografieren, wie er ihnen freundlich zulächelt, wie er ihnen Mut zuspricht.
({39})
- Entschuldigung, ich habe das Stichwort nicht in die Debatte geworfen. Ich habe das Stichwort doch nur aufgegriffen. Es stammt doch von Herrn Zimmermann.
Dann bedanke ich mich für die liebenswürdige Beratung über die sinnvolle Anfertigung von Plakaten. Von Public Relation verstehen Sie etwas, Herr Kollege Zimmermann. Das gestehe ich Ihnen zu. Trotzdem meine ich: Wir sollten die Verantwortung für unsere Plakate jeweils selbst tragen. Sie kriegen ja auch von mir nicht den Rat, Herrn Lorenz oder
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({40})
Herrn Lummer oder Herrn Strauß in Berlin zu plakatieren. Das empfehle ich ja auch nicht.
({41})
Ich möchte sagen: Schuster, bleib bei Deinem Leisten.
Meine Damen und Herren, ich kehre, nachdem ich jetzt nicht mehr auf Stichworte von Herrn Zimmermann Bezug nehmen muß, zur ernsthaften Auseinandersetzung zurück.
({42})
Er hat das Stichwort Jugendprotest in all seiner Tragweite nämlich wieder sehr oberflächlich in die Nähe des Polizei- und Paragraphenthemas gerückt. Bei der Analyse des Jugendprotestes haben bisher fast alle Beteiligten die Thesen der eidgenössischen Kommission für Jugendfragen herangezogen. Ich freue mich, daß die SPD-Fraktion meinen Vorschlag aufgegriffen hat, zur Untersuchung der uns alle beunruhigenden neuen Formen des Jugendprotestes die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu beantragen. Ich hoffe, der Antrag findet, nachdem die FDP-Fraktion ihre Zustimmung erklärt hat, bei der Abstimmung die Billigung des gesamten Hauses.
Wir könnten hier mehr versäumen als bei anderen Themen, die im Deutschen Bundestag breit behandelt werden.
({43})
Nicht umsonst haben die katholischen Bischöfe vor wenigen Wochen in einer Presseverlautbarung folgenden Satz niedergeschrieben, der eigentlich die Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen:
Mit Sorge müssen wir - die Bischöfe feststellen, daß in unserer Gesellschaft vielfach der Dialog zwischen den Generationen zerbrochen ist.
Ein inhaltsschwerer Satz, über den niemand mit irgendeiner eleganten Bemerkung oder gar mit Polemik hinweggehen sollte. Vielleicht, so hoffe ich jedenfalls, trägt die Enquete dazu bei, Zerbrochenes im Verhältnis zwischen den Generationen wieder zusammenzufügen bzw. zusammenzuführen.
Wir wissen in Berlin, daß es zunächst und vor allem unsere Aufgabe ist, mit unseren Problemen fertig zu werden. Wir sind auch selbstbewußt genug, um nicht andere anzusprechen, wo wir selbst gefordert sind. In einzelnen Punkten aber ist Berlin aus Gründen der Kompetenz und der Ausgleichsfunktion des größeren Verbands auf Ihre Hilfe, meine Damen und Herren, und auf die Hilfe des Bundes angewiesen.
Wir brauchen weiterhin, ebenso wie andere Gebiete der Bundesrepublik - Ostbayern, um nur ein Beispiel zu nennen -, den materiellen Ausgleich der Erschwernisse und Nachteile, die sich aus unserer besonderen Lage ergeben. Nur infolge dieses Ausgleichs hat Berlin 1980 den Konkunkturgleichschritt mit der Bundesrepublik halten können, und nur deshalb ist die Investitionsneigung im ersten Quartal 1981 robust geblieben, nach den Feststellungen der Industrie- und Handelskammer sogar mit leicht steigender Tendenz.
Auch für die Zukunft gilt: Ohne die Berlin-Hilfe ist unsere Wirtschaft nicht sicher. Wir wissen, daß Steigerungen dieser Hilfe jetzt schwierig sind. Wir sind Realisten. Aber wir werden nach dem 10. Mai 1981 schon wegen der Arbeitslosenzahlen bitten, die Berlin-Hilfe nicht allein am Umsatz, sondern stärker als bisher an der Sicherung und der Neuschaffung von Arbeitsplätzen zu orientieren.
Wir brauchen außerdem die Änderung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet des Mietrechts. Alle Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses - gestern ist nach Überwindung von Schwierigkeiten diese Einigung zustande gekommen - fordern die Verlängerung der Mietpreisbindung für Altbauwohnungen bis 1990, d. h. nicht ein Einfrieren der Mietpreise, aber den Grundsatz, daß die Obergrenze angesichts der teilweisen Mangellagen nicht durch das freie Spiel der Kräfte, sondern durch einen politischen Beschluß der dafür Berufenen festgelegt wird.
({44})
Ich bitte sie sehr herzlich, diesem gemeinsamen Wunsch aller drei Fraktionen des Abgeordnetenhauses bald Rechnung zu tragen. Sie würden damit in Berlin viele Mieter, vor allem alte Menschen, vor Unruhe und Angst bewahren.
Ebenso brauchen wir einen besseren Umwandlungsschutz für Mieter von Altbauwohnungen. Auch hier sind alle Fraktionen in Berlin einig. Die unionsregierten Länder, vor allem das Land Rheinland-Pfalz, das sich hier zum Sprecher des Widerstands gegen diese vernünftige Lösung gemacht hat, sollten ihren Widerstand aufgeben. Ich bitte Sie darum, daß Sie mithelfen, hier zu einer Lösung zu kommen, die alle drei Berliner Fraktionen einhellig anstreben.
({45})
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe von den beiden großen Aufgaben Berlins gesprochen. Beide Aufgaben sind eng miteinander verbunden. Berlin kann seine ihm aus der jüngeren Geschichte zugewachsene Aufgabe nur ausreichend erfüllen, wenn es seine kommunalen Probleme bewältigt. Nur als eine menschliche Metropole kann es eine Stadt der Pluralität, der Liberalität, des Friedens und der Freiheit sein, deren Botschaft auch den Menschen um Berlin, den Menschen in ganz Deutschland etwas zu sagen hat; denn Berlin ist Teil der Geschichts-, der Gefühls-, der Kultur- und der Sprachgemeinschaft, die wir Deutschen auch im vierten Jahrzehnt nach der von Hitler verursachten und verschuldeten Teilung unverändert darstellen
({46})
- nein, ich muß mich korrigieren: nicht darstellen, sondern sind. Diese Definition, die ich eben gegeben habe - die Geschichts-, Gefühls-, Kultur- und Sprachgemeinschaft -, ist nämlich die verständlichste und lebensnächste Definition des Begriffes „Nation", jedenfalls dann, wenn man diesen Begriff
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({47})
nicht als Kampf-, als Abgrenzungsbegriff, sondern als etwas Verbindendes, als etwas Zusammenführendes verwendet und in der politischen Sprache einsetzt.
({48})
Die Frage nach der Identität von Nation und Staat ist in der Geschichte unterschiedlich beantwortet worden. Es gab mehrstaatliche Nationen, es gab Staaten, die mehrere Nationen in sich vereinigten, und es waren und sind nicht die schlechtesten, wenn wir an den ost- und südosteuropäischen Bereich denken. Es gab aber auch Staaten, die Nationalstaaten waren.
Für uns gilt - das sage ich für Berlin und ich befinde mich dabei im Einklang mit der Bundesregierung -: Wir anerkennen die DDR als Staat. Es gibt zwei deutsche Staaten. Das ist ein Tatbestand,
({49})
den wir im Grundlagenvertrag akzeptiert haben und den das Verfassungsgericht bestätigt hat. Mühsam genug hat sich dazu auch die Union durchgerungen.
Dessen ganz unbeschadet sagt das Grundgesetz in seiner Präambel:
Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Dem sind wir auch in Berlin verpflichtet.
({50})
- Ich möchte schon aus zeitlichen Gründen keine Zwischenfragen zulassen. Ich bin aber sehr gerne bereit, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, vielleicht in Berlin oder auch sonst öffentlich oder nicht öffentlich, mit Ihren Fragen auseinanderzusetzen, damit wir einander gut verstehen.
Einen ganz ähnlichen Begriff, nämlich den der Vereinigung beider deutscher Staaten, hat kürzlich - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - der Staatsratsvorsitzende der DDR benutzt. Die Vorstellungen über die Voraussetzungen und die Ergebnisse der Vereinigung sind sicher grundverschieden. Aber wer selber den Begriff benutzt, der kann anderen nicht Annexionismus oder Revanchismus vorwerfen, wenn sie das gleiche tun.
({51})
Ich sprach von der Geschichtsgemeinschaft. Das ist doch keine Schimäre. Es gibt doch genug aktuelle Beispiele dafür, daß sich beide Seiten der gleichen gemeinsamen historischen Persönlichkeiten erinnern, auch wenn sie ihr Wirken und ihre Motivation ganz unterschiedlich deuten. Ich nenne nur die Namen Martin Luther, Bach, Goethe, Yorck, Clausewitz, Scharnhorst und zuletzt Friedrich den Großen und Freiherr vom Stein.
({52})
Herr von Weizsäcker hat dazu gesagt, wir hätten keinen Grund, mit Überheblichkeit festzustellen, daß andere gemeinsame Personen aus der gemeinsamen Geschichte unter ihrem Aspekt in Anspruch nehmen. Die innerdeutschen Beziehungen, so fuhr er von dieser Stelle aus fort, seien keineswegs immer nur ein einseitiges Lerngeschäft von West nach Ost. Auch wir hätten unseren Teil zu lernen. Herr von Weizsäcker hat recht, und ich sehe keinen Anlaß, das etwa deshalb zu bestreiten, weil wir beide jetzt miteinander in einem Wahlkampf stehen.
Aber ich frage, wie es da eigentlich mit der Einheit von Reden und Handeln steht. Wir haben anläßlich des 200. Geburtstags Karl Friedrich Schinkels mit dem Gedanken der Geschichtsgemeinschaft Ernst gemacht. Wir haben in Erinnerung an die gemeinsame Geschichte Berlins den größten Baumeister dieser Stadt dadurch geehrt, daß wir die Wiederherstellung eines seiner großen Bauwerke, nämlich der Schloßbrücke, in seiner vom Genius Schinkels entworfenen und gewollten Erscheinungsform ermöglichen, indem wir es möglich machen, die im Osten stehende Brücke und die bei uns in einem Magazin lagernden Figuren wieder zur Einheit zusammenzufügen, wenn Sie so wollen: wiederzuvereinigen
({53})
zu der Einheit, als die sie Schinkel konzipiert hat, zu der Einheit, als die sie Generationen von Berlinern vertraut war.
Es war für mich wieder aufschlußreich, daß die Ost-Berliner gestern im Bezirksamt von Wedding von sich aus dies ansprachen und begrüßten. Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, das ist ein Akt lebendiger Geschichtsgemeinschaft, den wir in Bälde tatsächlich vollziehen werden.
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Die Berliner Union, von der ich Zustimmung zu einer solchen Unterstreichung einer großen Linie unserer Geschichte - es war eine Verneigung vor der Geschichte und vor Schinkel - erwartet hätte, reagierte eher verlegen. Ihr Berliner Sprecher, der Fraktionsvorsitzende, redete von einer Stümperei und verwies auf einen Paragraphen der Landeshaushaltsordnung, der nicht beachtet worden sei. Das war alles.
Die Frage nach unserem eigenen Geschichtsbewußtsein gehört übrigens für mich zur Frage nach der Lage der Nation. Manches deutet erfreulicherweise daraufhin, daß eine lange Phase der Gleichgültigkeit gegenüber unserer Geschichte und des mangelnden Geschichtsbewußtseins inzwischen ihren Höhepunkt überschritten hat. Es bricht sich zunehmend die Einsicht Bahn, daß nur der das Heute verstehen und für morgen Ziele entwickeln kann, der das Gestern begriffen hat. Begreifen setzt eben Kennen, setzt ein Mindestmaß auch von tatsächlichem Wissen voraus. Wer die Geschichte nicht zur Kenntnis nimmt, wer nur im Heute lebt, der gerät in Gefahr, seine augenblicklichen Maßstäbe als absolut zu setzen, der entbehrt in Zeiten der Krise und der Bedrängnis des Halts und der Sicherheit, die aus dem Wissen fließen, daß andere vor ihm schwereren Prüfungen ausgesetzt waren.
({55})
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({56})
Wer die Geschichte kennt, der ist stärker gegen Selbstmitleid und Überreaktionen gewappnet und der hört schneller den falschen Ton aus der Tagespolemik heraus. Wer die Geschichte kennt, der ist auch nicht schon deshalb dazu verurteilt, Fehler und Irrtümer früherer Generationen zu wiederholen, weil er versäumt hätte, das Mögliche aus diesen Fehlern und Ereignissen zu lernen.
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Die Geschichte Berlins und die Geschichte Preußens - und ich glaube, dies ist ein Punkt, in dem wir völlig übereinstimmen - ist reich an Beispielen sowohl für das eine wie für das andere. Die PreußenAusstellung, die am 15. August 1981 in Berlin eröffnet wird, wird mannigfach Gelegenheit geben, sich damit zu beschäftigen. Immerhin - lassen Sie mich das als landsmannschaftlicher Bayer ganz unbefangen sagen -: Preußen, das war ja nicht nur, wie es Theodor Fontane einmal formuliert hat, eine Armee, die sich einen Staat hielt. Preußen, das waren auch Kant, Hardenberg, der Freiherr vom Stein und die Gebrüder Humboldt; das waren Bismarck, Windhorst, Lasalle und August Bebel; das waren Dichter, Maler, Architekten und Bildhauer vom Range eines Heinrich von Kleist, eines Karl Friedrich Schinkel, eines Andreas Schlüter. Das alles gehört doch auch zu unserer Geschichtsgemeinschaft. Das alles kann und soll doch nicht aus unserer geschichtlichen Tradition ausgeschlossen und ausgesperrt werden!
({58})
Ich sprach von der Kultur- und Sprachgemeinschaft. Auch sie ist wichtig. Es ist wichtig, daß Peter Hacks und Hermann Kant bei uns gelesen werden; Christa Wolf hat der Bundeskanzler schon genannt. Es ist für diese Sprach- und Kulturgemeinschaft ebenso wichtig, daß man drüben Günter Grass und Siegfried Lenz und Heinrich Böll und viele andere liest.
Wichtig - und es wird noch wichtiger - ist auch das fortdauernde Gespräch der Kirchen über die Grenzen hinweg und ihre Gemeinschaft im Glauben - ein die Kultur- und geistige Gemeinschaft unglaublich stabilisierendes Element in der Wirklichkeit unserer Nation.
({59})
Ich sprach schließlich von der Gefühlsgemeinschaft. Zu ihrer Pflege gehören die menschlichen Begegnungen und Kontakte, gehören die Besuche, die Anrufe, die Zusammenführung von Familien auch in schwierigsten Fällen, die humanitären Akte, über die nur derjenige vordergründig polemisch reden kann, der nicht weiß, welches Elend und welcher Jammer von Menschen hinter jedem einzelnen dieser Fälle steckt.
({60})
Dazu gehört, daß wir nicht nur das uns fremde und unseren Vorstellungen elementar zuwiderlaufende System der DDR und seine Funktionäre sehen, daß wir nicht nur die Mauer, die Grenzanlagen, ihre Bewacher, nicht nur das Schießen an der Mauer sehen, sondern daß wir auch die Millionen Menschen in diesem Staat sehen: die Thüringer, die Mecklenburger, die Brandenburger, die Sachsen etwa, ohne alle aufzuzählen, die unter schwierigsten Bedingungen Leistungen erbracht haben, über die - und ich bin dankbar, daß es gesagt wurde - gönnerhaft zu urteilen uns keineswegs zusteht.
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Es heißt keineswegs - ich sage das, weil hier wieder vordergründige Polemik droht - dem Kommunismus huldigen, wenn man beispielsweise, wie ich das getan habe, nach Besichtigung des Alexanderplatzes in Ost-Berlin feststellt, daß es bei uns und in anderen Ländern bessere, ganz sicher aber auch schlechtere städtebauliche Lösungen gibt, als sie dort verwirklicht worden sind - an die Adresse der Menschen, die sich darum bemüht haben. Es wurde gesagt, die Sowjetunion wolle Berlin nicht von außen einnehmen.
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- Ich bin manchmal traurig, verehrte Anwesende, daß die Zwischenrufe für die Zuhörer draußen nicht voll verständlich sind. Ich glaube, daß es unglaublich erhellend wäre, wenn jeweils der behandelte Gegenstand und der Zwischenruf voll zur Kenntnis unserer Bürgerinnen und Bürger gebracht würden. Vielleicht wäre es für die Beurteilung des jeweiligen Niveaus ein deutlicher Anhaltspunkt.
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In Berlin wurde in der Auseinandersetzung gesagt, die Sowjetunion wolle Berlin nicht von außen einnehmen. Sie setze vielmehr darauf, daß ihr die Stadt - ich glaube, es ist ein wörtliches Zitat von Ihnen, Herr Kollege von Weizsäcker - infolge innerer Auszehrung von allein zufalle. Nur die Union, so wird dann ausgesprochen oder sublim unausgesprochen hinzugefügt, könne diese Auszehrung aufhalten. Das ist nun nicht Ihr Zitat. Das sagen die weniger Sublimen, in der Eissporthalle etwa. Sie sagen das dann kräftiger in dieser Form. Welche Verblendung!
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Es mag sein, daß die Sowjetunion über innere Schwierigkeiten bei uns nicht zu Tode betrübt ist, aber das gilt wohl umgekehrt ebenso, wenn ich das realistisch sehe. Aber wie kommt eigentlich eine Partei und wie kommen gerade die Sprecher von denen sich die Jugend immer stärker abwendet, die der Bundesvorsitzende Ihres eigenen Jugendverbandes ermahnt, sie sollten mehr als bisher das Grundverständnis, das Grundwertverständnis christlicher Demokraten vorleben und einen ernsthafteren Dialog mit der Jugend suchen, nur wenn sich die Union stärker den Interessen junger Menschen öffne, könne sich die Jugend wieder schrittweise mit der Union identifizieren, zu der Behauptung, gerade sie könnten der Auszehrung steuern?
Unser Weg, der Weg des Gesprächs, des Eingeständnisses von Fehlern, der Korrektur von Fehlern, der mitunter mühsamen Integration, die leicht Angriffsflächen für polemische Verdächtigungen bie1562
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({65})
tet, ist da viel eher eine Antwort auf die Gefahr der Auszehrung.
({66})
Eine Stadt, die ihre Jugend verliert, ist ausgezehrt und wird an der Auszehrung zugrunde gehen.
({67})
Lassen Sie uns doch zusammenarbeiten, um dieser Auszehrung zu begegnen!
Es wurde weiter gesagt, wir würden in Berlin dem Antiamerikanismus Vorschub leisten und der Politik Helmut Schmidts in den Rücken fallen. Das weise ich zurück. Wir wissen um die Bedeutung der Vereinigten Staaten als Schutzmacht unserer Stadt, wir wissen um die Bedeutung des militärischen Gleichgewichts, und wir wissen, wie wichtig es für den Frieden ist, daß unsere Politik im westlichen Bündnis und die Politik der Supermächte berechenbar bleiben. Die Unberechenbarkeit - ich stimme dem Bundeskanzler zu - ist auch für uns in Berlin die größte Gefahr. Es geht um die Berechenbarkeit der Politik. Genau das haben die Berliner Sozialdemokraten in ihrem Wahlprogramm gesagt. Was ist denn daran zu beanstanden? Herr von Weizsäcker ist doch selbst mit einer Delegation des Rats der Evangelischen Kirche Deutschlands unter Leitung des Vorsitzenden, Bischof Lohse, im Februar mit der Absicht nach Amerika geeilt, die Vereinigten Staaten auf den zweiten Teil des NATO-Beschlusses hinzuweisen und sie zu Abrüstungsgesprächen zu ermutigen. So berichtet uns jedenfalls der „Evangelische Pressedienst" in seiner Ausgabe vom 4. März 1981 ohne Widerspruch. Da ich Ihre Auffassungen kenne, haben Sie dies sicher auch getan. Aber warum attackieren Sie dann andere, die mit ihren Worten und mit ihrer Sprache das gleiche tun?
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Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mit einem Dank schließen. Berlin dankt durch mich von der Rednertribüne des Deutschen Bundestages aus seinen Freunden, die Stadt dankt den Schutzmächten, sie dankt den alliierten Soldaten und ihren Angehörigen in der Stadt. Berlin dankt der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik, die der Stadt in so zuverlässiger Weise helfen. Berlin dankt auch allen, die geschlossene Verträge strikt einhalten und voll anwenden. Berlin stattet diesen Dank nicht nur mit Worten, sondern auch durch das ab, was es auf seine - zugegebenermaßen mangelhafte und unzulängliche - Weise für die Menschlichkeit, den Frieden und die Freiheit leistet. Berlin wird stets auf der Seite des Friedens, der Freiheit und der Menschlichkeit stehen. Das ist unser Beitrag zur Lage und zur Zukunft der Nation.
({69})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wegen der Rede, die der Kollege Zimmermann heute morgen hier im Bundestag gehalten hat - oder richtiger sollte ich vielleicht sagen: trotz dieser Rede -, möchte ich noch einmal auf die Frage zurückkommen, Herr Kollege Zimmermann, wer denn eigentlich die von Ihnen zur Zusammenarbeit ausgestreckte Hand zurückgewiesen hat. Waren nicht Sie selbst es, der in der Debatte über die Regierungserklärung das, was Ihr Fraktionsvorsitzender vormittags erklärt hat, im Laufe des Nachmittags bereits wieder korrigiert hat?
({0})
Haben Sie heute nicht abermals Ihrem Fraktionsvorsitzenden widersprochen? Wie verträgt sich denn das, was Sie über den Grundlagenvertrag heute hier gesagt haben, mit dem, was Sie, Herr Kollege Dr. Kohl, in der Debatte über die Regierungserklärung ausgeführt haben?
({1})
Ich darf zitieren: „Der Moskauer Vertrag, so hat Herr Kollege Kohl gesagt, der Warschauer Vertrag, der Grundlagenvertrag mit der DDR, der Brief zur deutschen Einheit, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, der UNO-Beitritt und die Schlußakte von Helsinki sind nicht nur geltendes Recht, an das wir uns halten, sie sind wesentliche Komponenten der deutschen Außenpolitik,
({2})
die völker- und verfassungsrechtlich richtig ausgelegt, aber auch politisch intensiv im Interesse unseres Volkes und des Friedens genutzt werden müssen."
({3})
Dies, Herr Kollege Zimmermann, sollten Sie einmal mit dem vergleichen, was Sie heute wörtlich zum Grundlagenvertrag ausgeführt haben.
({4})
Wir haben die ausgestreckte Hand nicht zurückgewiesen; aber ich sage Ihnen, daß es uns allerdings schwerfallen wird, dieses Angebot der Zusammenarbeit ernst zu nehmen und zu nutzen, wenn Sie, Herr Kollege Zimmermann, heute sagen, Sie könnten den Begriff der Entspannung nicht mehr hören.
Ich sage Ihnen, ich bin bereit, mit jedem darüber zu sprechen, in welchen Zusammenhang von Realitäten wir das stellen, was wir als Politik der Entspannung, als Politik der Friedenssicherung auch weiter betreiben werden.
Wenn aber hier die Rede davon war, die Opposition brauche nichts zurückzunehmen, sie habe keine Illusionen gehabt, frage ich: Wer hat denn eigentlich Illusionen aufgebaut?
({5})
Und ist es nicht eine Illusion, von der Sie heute ausgegangen sind, als Sie davon gesprochen haben, wie es denn z. B. mit der Staatsbürgerschaftsfrage sei? Sie haben mich kritisiert, weil ich die deutsche Staatsangehörigkeit als ein Angebot bezeichnet habe, von dem jeder Deutsche Gebrauch machen kann.
({6})
Aber Sie haben verschwiegen, was Sie denn mit einem Deutschen tun würden, der aus der DDR zu uns kommt und nichts anderes sein will als ein Staatsbürger der DDR. Diese Frage haben Sie nicht beantwortet.
({7})
Diese Illusion geht genau in die gleiche Richtung, in der Herr Kollege Jäger ({8}) vor kurzer Zeit mit einem Leserbrief an „Die Welt" herangetreten ist, in dem er dieser überparteilichen deutschen Tageszeitung
({9})
Mut bescheinigt hat, weil sie den Begriff DDR immer noch in Gänsefüßchen setzt.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, es gehört mehr Mut dazu, die Gänsefüßchen wegzulassen.
({10})
Es gehört mehr Mut dazu, sich zu den Realitäten zu bekennen, nicht, weil man diese Realitäten für alle Zeit als unveränderlich betrachtet, sondern weil man, Herr Kollege von Weizsäcker, nur dann Erfolg in seiner Politik haben wird, wenn man Realitäten in sein politisches Kalkül einbezieht
({11})
und mit diesen Realitäten arbeitet.
Das, worum es uns geht, ist nicht, die deutsche Teilung hinzunehmen, sondern ist, sie zu überwinden, indem wir von dem ausgehen, was wir in unserer Umgebung, in unserer Welt heute vorfinden.
Deswegen mache ich noch einmal den Versuch, zu definieren, was denn eigentlich die Ziele unserer Deutschlandpolitik sein könnten. Ich will versuchen, das in drei Punkten auszusprechen und aus diesen drei Punkten auch bestimmte Folgerungen, die wir bezüglich dieser Politik sehen, abzuleiten.
Das erste Ziel ist nach meiner Überzeugung und der Überzeugung meiner Freunde ein Beitrag für eine friedliche Entwicklung in Mitteleuropa.
Das zweite Ziel ist eine Milderung der Folgen der Teilung für die davon betroffenen Menschen. Hier geht es j a wohl vor allen Dingen um die Einwohner West-Berlins und um die Deutschen in der DDR, von denen der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung heute mit Recht gesagt hat, daß sie die Folgen des Krieges so viel schwerer, so viel nachdrücklicher haben spüren müssen als wir in der Bundesrepublik Deutschland.
Das dritte Ziel scheint mir dann die Überwindung der deutschen Teilung zu sein - sicherlich ein langfristiges Ziel, von dem niemand von uns sagen kann, ob z. B. meine Generation seine Verwirklichung noch erleben wird. Das, was ich „Ziel 1" und „Ziel 2" genannt habe - Frieden in Mitteleuropa und Milderung, Erträglichmachen der Folgen der deutschen Teilung -, ist meiner Überzeugung nach allerdings die Voraussetzung dafür, daß wir dieses dritte Ziel überhaupt je erreichen können.
Lassen Sie mich zunächst auf die Frage der Entspannung, des Abbaus von Spannungen in Mitteleuropa, eingehen. Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers hat hierzu mit vollem Recht gesagt, es sei Aufgabe der Bundesrepublik, aber auch aller Deutschen, in Europa dafür zu sorgen, daß von uns aus nicht eine zusätzliche Eskalation von Spannungen ausgeht, sondern die Lage hier in Mitteleuropa zu einer friedlichen Entwicklung auch über den engen europäischen Raum hinaus beitragen kann.
Meine Damen und Herren, wenn ich dann versuche, die Koordinaten unserer Deutschlandpolitik auszumachen, möchte ich das folgendermaßen tun. Diese Koordinaten sind: die gesamte westliche Osteuropapolitik, die sowjetische Westeuropapolitik, der Stand der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und der deutsch-sowjetischen Beziehungen, die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses insgesamt, das Viermächteabkommen, die mit der DDR getroffenen Verträge und Vereinbarungen sowie der Auftrag unseres Grundgesetzes.
Wenn es also wirklich unsere Aufgabe ist, wenn wir etwas dafür tun können, daß der Friede in Mitteleuropa gesichert bleibt, bedeutet das allerdings gleichzeitig, daß die Bundesrepublik nicht gewillt und auch noch nicht einmal in der Lage ist, zwischen den Großmächten eine Sonderrolle zu spielen. Die beiden deutschen Staaten sind in unterschiedliche Bündnissysteme des Westens und des Ostens eingebunden. Trotzdem ergibt sich aus der gemeinsamen deutschen Geschichte - gerade der jüngsten Geschichte mit ihren Belastungen - bis heute für uns Deutsche eine besondere Verantwortung für die Sicherung und Erhaltung des Friedens.
Deswegen habe ich mit großen Bedenken die Stellungnahme des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 5. Januar gehört, in der er die Äußerung des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung kritisierte, wo es geheißen hatte, er, der Bundeskanzler, habe gemeinsam mit Honecker für alle Deutschen feststellen können, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe. Wer schon diese Äußerung als eine Darstellung der deutschen Spaltung ansieht, wer dabei übersieht, daß hier in Wirklichkeit ein ganz wichtiger Punkt der Gemeinsamkeit der beiden deutschen Staaten angesprochen wird, der allerdings, meine Damen und Herren, erweist der gemeinsamen deutschen Sache einen schlechten Dienst.
({12})
Es wird darauf ankommen, genau an diesem Brennpunkt weltpolitischer und in unserem besonderen Interesse liegender Ereignisse den Dialog
nicht abreißen zu lassen. Dies ist mit dem Ziel der Friedenssicherung wohl Hauptkernpunkt unserer Politik.
Ich meine, wir sollten an dieser Stelle auch einmal sehr deutlich die Bemühungen des Bundesaußenministers um den Dialog zwischen Ost und West würdigen. Seine Reisen nach Washington, nach Prag, nach Warschau, nach Moskau, sein Auftreten in Madrid bei der KSZE-Folgekonferenz - alles dies ist Bestandteil einer einheitlichen Politik, der es darum geht, eben dieses Gespräch nicht abreißen zu lassen oder es wieder in Gang zu bringen, wo es heute nicht mehr stattfindet.
Ich bin der Auffassung, wir sollten auch einmal mit aller Vorbehaltlosigkeit anerkennen, daß unsere Solidarität im Bündnis uns die Gelegenheit bietet, den deutschen Standpunkt, die besonders prekäre Situation Deutschlands im Bündnis auch gegenüber der neuen Administration in den USA darzulegen. Zugleich bedeutet diese Solidarität, daß die neue Administration bereit ist, diese unsere Ausführungen, diese unsere Darlegungen anzunehmen und in ihre Gesprächsbereitschaft einfließen zu lassen.
Der Bundeskanzler hat heute schon einmal aus der gemeinsamen Erklärung anläßlich der 37. deutsch-französischen Konsultationen zitiert. Ich möchte diesem Zitat, Herr Bundeskanzler, noch einige Sätze im Anschluß an das, was Sie zitiert haben, hinzufügen. Es ist da die Rede von der „Forderung nach sicherheitspolitischem Gleichgewicht". Ich zitiere:
Diese Forderung - so heißt es hier setzt voraus, daß die Bemühungen um Rüstungsbeschränkung und Rüstungsverminderung dem Prinzip des globalen Kräftegleichgewichts Rechnung tragen. Sie verlangt Wachsamkeit und Dialog gleichermaßen.
Ich glaube, das ist genau das, was in der Außenpolitik dieser Bundesregierung immer wieder zum Ausdruck kommt. Daß unsere Stimme hörbar wird, bedeutet keine Überschätzung unserer eigenen Position. Aber ich würde genauso davor warnen, unsere eigenen Möglichkeiten zu unterschätzen.
Das gemeinsame Kommuniqué, das nach dem Besuch von Bundesaußenminister Genscher bei Außenminister Haig in Washington herausgegeben worden ist, zeigt an einigen Punkten sehr deutlich das, was ich soeben darzulegen versucht habe. Es heißt dort:
Beide Minister stimmten darin überein, daß substantielle und verifizierbare rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen ein wichtiger Faktor der Sicherheitspolitik sind. Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland unterstützen beide Teile des Bündnisbeschlusses vom 12. Dezember 1979 betreffend Mittelstreckenraketen. Außenminister Genscher begrüßte die Zusicherung von Außenminister Haig, daß die Vereinigten Staaten beabsichtigten, auch weiterhin enge Konsultationen mit
ihren Verbündeten über die Durchführung beider Teile dieses Beschlusses zu führen.
Gerade mit einem Blick auf Berlin zitiere ich noch eine andere Stelle, die mir gerade in dem Jahr wichtig erscheint, in dem das Viermächteabkommen zehn Jahre besteht. Es heißt an dieser anderen Stelle:
Beide Minister waren übereinstimmend der Auffassung, daß der Aufrechterhaltung der ruhigen Lage in und um Berlin besondere Bedeutung zukommt, was von entscheidender Wichtigkeit für die Sicherheit in Europa, das Ost-West-Verhältnis und die internationale Lage als Ganzes ist. Außenminister Haig bekräftigte erneut die unerschütterliche Verpflichtung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit und das Wohlergehen West-Berlins.
Dies mit unseren Verbündeten gemeinsam auszusprechen und als einen Kernpunkt unserer Deutschlandpolitik zu betrachten, Herr Dr. Vogel, ist, glaube ich, etwas, was an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich ausgesprochen werden sollte.
Wenn wir so Friedenspolitik, eine Politik des Abbaus von Spannungen, als unser Ziel betrachten, dann sollten wir uns ebenso darüber klar sein, daß es nicht Ziel unserer Politik sein kann, den heute bestehenden prinzipiellen politischen und ideologischen Gegensatz zwischen Ost und West aufzuheben. Es kann auch nicht in unserem eigenen Interesse liegen, durch unsere Ost- und Deutschlandpolitik in Osteuropa eine innere politische Destabilisierung herbeizuführen. Denn sowohl alle Versuche, die bestehenden Gegensätze zu verwischen, als auch eine politische Destabilisierung durch unser eigenes Verhalten zu verursachen, würden für die Menschen in Osteuropa gefährliche Folgen haben und letztlich auch die Sicherheit der westlichen Welt erheblich beeinträchtigen.
Ich sage dies, ohne zu verschweigen, daß in den Ländern des Ostblocks von der Schlußakte von Helsinki bestimmte Wirkungen ausgehen, die zu einer evolutionären Entwicklung in diesen Ländern führen können. Das Beispiel Polen zeigt aber sehr deutlich, daß unser Interesse darin liegen kann und liegen muß, mit unserer Politik dem Frieden zu dienen und den betroffenen Menschen zu helfen und damit mehr für eine gute Entwicklung zu tun, als wenn wir versuchten, mit Einwirkung von außen diese Entwicklungen zu beeinflussen.
Es kann nach meiner Überzeugung kein Zeichen von Schwäche sein, wenn wir uns bei all unseren Initiativen zur Verbesserung der Lage der Menschen immer wieder klarmachen, von welchem Standpunkt unser jeweiliger Verhandlungspartner ausgeht, und wenn wir die Punkte sorgfältig analysieren, bei denen bei ihm besondere Empfindlichkeiten oder Schwierigkeiten vermutet werden müssen. Unsere Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland ist es, nicht nur Gemeinsamkeiten in Sonntagsreden zu suchen, sondern die gemeinsam definierten Interessen und Zielsetzungen in der täglichen Kärrnerarbeit in praktische Politik umzusetzen.
Herr Kollege Zimmermann, dazu sage ich aus voller Überzeugung: Die bisherigen Erfolge der deutsch-deutschen Politik der letzten elf Jahre zeigen doch wohl, daß hier nicht von dem geredet werden kann, was Sie vorhin den Tiefpunkt der deutschdeutschen Beziehungen oder der Deutschlandpolitik genannt haben.
({13})
Es ist in dieser Zeit, Herr Dr. Zimmermann, gelungen, weder durch Überheblichkeit, noch durch Druck oder Muskelspiel, sondern durch Verständnis, durch Blick für das in der jeweiligen Situation Machbare und durch Werben um ein Mindestmaß an Vertrauen weitgehend tragbare Lösungen für die Menschen zu finden. Ich sage dies auch angesichts der Tatsache, daß die Erhöhung des Zwangsumtausches einen Eingriff in das bisher Vereinbarte bedeutet und daß diese Erhöhung des Zwangsumtausches auch gleichzeitig eine Rücknahme bestimmter Vorstellungen auf beiden Seiten gebracht hat, eine unsoziale Maßnahme, durch die diejenigen besonders getroffen werden, die nur ein geringes Einkommen zur Verfügung haben. Die DDR sollte sich deswegen darüber im klaren sein, daß bei den wieder zu eröffnenden Gesprächen die Frage des Zwangsumtausches auf unserer Liste der Tagesordnungspunkte stehen wird.
Auf jeden Fall sollten wir versuchen, durch eine konsequente, eine berechenbare Politik, die auch Rückschläge einkalkuliert, unsere Ziele weiter zu verfolgen. Denn wenn die Frage gestellt worden ist: „Wozu dieser jährliche Bericht, wozu diese jährliche Debatte?", dann geht es eben genau darum, die Frage der Deutschlandpolitik offenzuhalten, auch in unserer eigenen Bevölkerung das Bewußtsein dafür zu erhalten, daß es hier nicht nur um einen Rückgriff auf nationalstaatliche Überlegungen geht, sondern daß wir als Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland, die wir die Möglichkeit der freien Entscheidung haben, auch die Verpflichtung haben, eine Politik zu treiben, die diese deutsche Frage offenhält.
Und dies ist mehr als eine Pflichtübung jedes Jahr; denn ich bin - leider - nicht so überzeugt wie der Kollege Zimmermann, daß alle Deutschen in Ost und West uneingeschränkt an der Idee der deutschen Einheit festhalten. Ich registriere zu meinem Bedauern, daß es immer mehr Menschen innerhalb Deutschlands, aber auch in unseren Nachbarstaaten gibt, die mit dem Begriff Deutschland auf einmal nur noch das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verbinden und für die die DDR ein Staat außerhalb dieser Grenzen ist. Wenn es uns nicht gelingt, das Bewußtsein dafür aufrechtzuerhalten, daß Deutschland nicht an der Elbe endet, sowenig wie Europa an der Oder-Neiße-Linie, meine Damen und Herren, dann werden alle Bemühungen der Deutschlandpolitik, die wir gemeinsam oder einzeln unternehmen, zum Scheitern verurteilt sein.
({14})
Ich sage an dieser Stelle noch einmal -, um nicht mißverstanden zu werden -, mit einem ganz besonderen Blick auf die Deutschlandpolitik, daß unsere
Handlungsfähigkeit auf diesem Gebiet von unserer unbestrittenen und unbezweifelbaren Rolle im westlichen Bündnis abhängt. Die Vorstellung, die Deutschen könnten sozusagen eine Position zwischen den Blöcken einnehmen, ist eine Illusion und wäre ein Ende jedes vernünftigen Handlungsspielraums für uns in diesem Bereich. Alles, war wir deutschlandpolitisch tun, tun wir aus dem westlichen Bündnis heraus und als einer der Staaten, die ihre Solidarität in diesem Bündnis nicht bezweifeln lassen. Ich habe das, was ich in diesem Sinne unter Solidarität verstehe, eingangs bereits beschrieben.
Aber zu unserer Handlungsfähigkeit gehören natürlich auch unsere wirtschaftliche Konsolidierung und unsere wirtschaftliche Situation. Es ist von dem Abbau des Handelsbilanzdefizits in der Erklärung der Bundesregierung die Rede gewesen. Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich die Beschlüsse des Bundeskabinetts, die gestern zu diesem Bereich gefaßt worden sind. Ich will sie hier gar nicht im einzelnen erläutern, aber ich will sehr deutlich dazu sagen, daß wir sie deswegen begrüßen, weil wir davon überzeugt sind, daß sie nicht ein falsch verstandenes Konjunkturprogramm darstellen,
({15})
sondern eine Aufforderung zur Leistung, zum Handeln. Übrigens, Herr Kollege Dr. Barzel, war das keine überraschende Entscheidung der Bundesregierung in dieser Richtung. Man könnte aus dem Jahreswirtschaftsbericht zitieren, man könnte aus der Haushaltsrede des Bundesfinanzministers zitieren, und man würde genau vorgezeichnet finden, was jetzt Inhalt dieser Beschlüsse ist. Unsere Handlungsfähigkeit ist gefragt und unsere Bereitschaft zur Leistung und dies besonders auch auf unserer Seite, weil wir damit überhaupt erst in die Lage versetzt werden, unserer Verantwortung gegenüber den Deutschen gerecht zu werden, die in einer schlechteren Situation sind als wir.
Aber lassen Sie mich noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob wir denn wirklich von einem Tiefpunkt des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten reden können oder von einem Scheitern der Entspannungspolitik. Wer so argumentiert, der übersieht völlig, daß von dem, was in den letzten elf Jahren zwischen den beiden deutschen Staaten vereinbart worden ist, etwa 90 % auch heute uneingeschränkt und unangetastet funktionieren und zum Besten der Menschen in beiden Teilen Deutschlands ablaufen.
({16})
Ich habe den Eingriff, den die Erhöhung des Zwangsumtausches gerade in dem Bereich menschlicher Beziehungen und Kontakte bedeutet, vorhin bereits dargestellt und unsere Haltung dazu unmißverständlich, wie ich meine, geschildert. Aber ist es denn nicht so, daß der Transitverkehr von und nach Berlin reibungslos verläuft? Gibt es nicht nach wie vor auch Ost-West-Reisen von Rentnern und in dringenden Familienangelegenheiten, teilweise sogar mit steigender Tendenz? Funktionieren nicht die Familienzusammenführung und - lassen Sie mich
das nur am Rande sagen - die besonderen Maßnahmen? Werden die Gespräche über den Abschluß eines Abkommens über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit fortgeführt? Ich nenne weiter die regelmäßigen Arbeitsbesprechungen der verschiedenen Kommissionen, Kontakte auf Grund spezieller Vereinbarungen, den weiteren Ausbau des Telefonverkehrs in die DDR, technische Gespräche über Verkehrsfragen, Abbau von Kali und Braunkohle, Vereinbarungen im Umweltschutz über die Werraversalzung und Elbeverschmutzung. Es gibt eine Fülle von Themen, wozu ich besonders sagen würde, daß es wichtig ist, daß das Viermächteabkommen unangetastet bleibt.
Aber es ist auch wichtig, daß wir in Fragen des kulturellen Austausches, in Fragen der Bewältigung unserer Geschichte auf unserer Seite mehr tun, als wir in der Vergangenheit getan haben. Ich könnte mir vorstellen, daß ein solcher kultureller Austausch auch unterhalb der Ebene eines offiziellen Abkommens stattfinden könnte. Aber ich weiß nur zu genau - dies ist der Punkt, an dem die gegensätzlichen Zielsetzungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland nur zu sichtbar werden -, daß die DDR zu einer solchen Zusammenarbeit zur Zeit nicht bereit ist. Dafür gibt es einen, wie sie meint, sehr einleuchtenden Grund. Die partielle, selektive Inanspruchnahme bestimmter Abschnitte der deutschen Geschichte durch die DDR hat ganz eindeutig das Ziel, das fehlende Nationalbewußtsein der DDR zu ersetzen.
Für diese Inanspruchnahme gibt es ein sehr deutliches Beispiel. Wenn Sie an die Vorbereitungen der DDR für das Luther-Jahr denken, dann werden Sie nicht übersehen können, daß die DDR hier wiederum versucht, eine bestimmte Figur, eine Wurzel gemeinsamer Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland für sich in Anspruch zu nehmen. Das beste, was nach deren Vorstellung dabei erfolgen kann, ist etwa das Schicksal, das damals dem Türken auf dem Kreuzzug Barbarossas geschah, nämlich daß Luther von oben bis unten durchgeteilt wird: zur Rechten wie zur Linken sieht man einen halben Luther heruntersinken.
Ich meine, daß wir in der Zukunft hier mehr werden tun müssen und uns sorgfältiger mit der Frage befassen müssen, welche Wurzeln in der Vergangenheit mit Wirkungen in beide Teile Deutschlands hinein vorhanden sind. Luther kann weder von der einen noch von der anderen Seite für sich in Anspruch genommen werden. Sein Wirken zeigt bis in unsere Gegenwart, daß diese beiden Teile Deutschlands nicht etwa nur durch ein nationalistisches Denken miteinander verbunden sind, sondern daß es Gemeinsamkeiten gibt, die auch durch Argumentation, durch Erpressung oder was auch immer nicht aus der Welt geschafft werden können.
Wir sollten uns um diese Fragen exakter kümmern. Wir sollten, auch wenn diese Zusammenarbeit mit der DDR im Augenblick nicht möglich ist, notfalls auch zu einem Wettbewerb in diesen Fragen bereit sein und unsere Position sehr deutlich machen.
Realitäten zu erkennen, mit ihnen zu arbeiten ist die Aufgabe, vor der wir in der Deutschlandpolitik stehen. Ich habe auf die Ziele 2 und 3 hingewiesen: Erträglichmachung der Folgen der Teilung und ihre langfristige Überwindung. Aber ich möchte Ihnen an dieser Stelle keinen Zweifel darüber lassen, daß diese beiden Ziele in einem bestimmten Spannungsverhältnis zueinander stehen können. Wenn es uns nicht gelingt, den Deutschen im anderen Teil Deutschlands sichtbar und erkennbar zu machen, daß ihr Schicksal uns wichtiger ist als das Innehaben von Rechtsstandpunkten, als das Beharren auf gewissen überkommenen Vorstellungen, wenn uns dies nicht gelingt, dann werden wir den Willen zur Zusammengehörigkeit der Nation, den die Regierungserklärung des Bundeskanzlers noch einmal sehr deutlich herausgestellt hat, nicht aufrechterhalten. Und dann könnte alles das wirkungslos werden, was wir an Gemeinsamkeiten übernommen haben, an gemeinsamer Geschichte gemeinsam erlebt oder erlitten haben, was uns an gemeinsamer Tradition, Kultur und Sprache verbindet. Deswegen gibt es für uns nach unseren Vorstellungen eine Deutschlandpolitik nicht nur in der Frage der Regelung der Verhältnisse zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, sondern es gibt diese Aufgabe auch hier bei uns im Lande. Das Bewußtsein für das deutsche Problem wachzuhalten, ist sicherlich auch eine Frage der Bewältigung und der Behandlung der Geschichte. Es ist eine Frage, wie wir mit dem gemeinsamen Kulturerbe umgehen und wie wir deutlich machen, welches Gewicht ihm auch heute noch zukommt. Dies ist Zusammenarbeit oder Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, wir haben hier keine leichte Aufgabe vor uns und keine Aufgabe, von der wir exakt sagen könnten, wann wir sie gelöst haben werden. Möglicherweise wird es erst die Generation nach uns sein. Aber eines sage ich sehr deutlich: Wir sollten uns keine Illusionen machen, und wir sollten wissen, daß wir uns und daß sich unsere junge Generation mehr mit der deutschen Geschichte befassen müssen, als wir es getan haben, wenn es auch eine deutsche Zukunft geben soll.
({17})
Dies, meine ich, sollte unser gemeinsames Ziel sein. - Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte meinen Beitrag zu unserer heutigen Debatte über die Lage der Nation beginnen mit dem Blickpunkt, den wir von Berlin aus auf diese uns so bewegende Frage haben. In Berlin hat sich j a in der Nachkriegszeit immer wieder und unter wechselnden äußeren Bedingungen die Aufgabe gestellt, fertig zu werden mit den Herausforderungen, die nicht immer die gleichen waren und auch nicht immer die gleichen bleiben.
In den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit waren es die harten Prüfungen der Blockade, der Ultimaten, des Mauerbaus - im wesentlichen Prüfungen in Verbindung mit von außen erzeugten Krisen. Das war die Zeit, in der sich die Berliner in ihrem Bollwerk der Freiheit bewährt, die Bewunderung, aber auch die Unterstützung der freien Welt errungen haben. Es war im wesentlichen eine Bewährung, die gar keine andere Wahl ließ, als sich in der Gegenwart zu sichern und zu behaupten.
In der Lage, in der wir jetzt sind, meine ich, genügt eine solche Gegenwartssicherung nicht. Entscheidend müssen hinzutreten die Perspektive und die Gestaltung der Zukunft. Gerade deshalb ist eine Debatte über die Lage der Nation, ist ein Ausblick auf die Zusammenhänge der Berlin- und Deutschlandpolitik für uns in Berlin von so entscheidender Bedeutung.
Die Perspektive für die Zukunft unserer Stadt ist etwas, was nach meinem Gefühl in der jüngsten Regierungserklärung des amtierenden Senats insoweit zu kurz gekommen ist, als dort gesagt wurde, im Bereich der Grundfragen und der kommunalpolitischen Fragen habe Berlin es mit Problemen zu tun, wie sie andere Metropolen auch hätten. Das ist, wie mir scheint, eine Betrachtung, die aus einer anderen als einer Berliner Erfahrungswelt stammt und die für Berlin nicht ausreicht.
({0})
Selbstverständlich gibt es Wohnungsnot, Generationenkonflikte, Suchtkrankheiten, Planungsprobleme und vieles andere mehr auch woanders. Aber die exponierte Lage Berlins, in der Mitte geteilt, ohne Umland, durch Hunderte von Kilometern von dem einen, durch Mauer und Stacheldraht vom anderen Teil Deutschlands getrennt, unter der Souveränität von Schutzmächten, ohne eigenen Beitrag zur Verteidigung - das alles ist ohne Beispiel in Deutschland, j a in der Welt.
Es verändert die Lebensgewohnheiten. Es hat Einfluß auf die Bevölkerungsstruktur, auf die Altersentwicklung. Die Motive für Menschen, die Berlin verlassen, und umgekehrt für solche Menschen, die nach Berlin kommen - das alles unterscheidet sich gründlich gegenüber jeder anderen Stadt. Es gibt bei uns dieselben Probleme wie woanders auch. Aber sie bekommen bei uns ein qualitativ völlig anderes Gesicht.
({1})
Wenn die Lösungen solcher Probleme in anderen Metropolen verfehlt werden, gibt es Ausweichmöglichkeiten im Umland und anderwärts. In Berlin ist es anders. Wir können eben nicht ausweichen; wir sind rings vom sowjetischen Einflußgebiet umgeben. Die langfristige Zielsetzung der Sowjetunion und der DDR gegenüber dem freien Teil Berlins hat sich, wie ich meine, nicht geändert.
Herr Dr. Vogel hat mich vorhin zitiert, und ich will das von mir aus noch einmal aufgreifen: Ich bin der Überzeugung, man verfolgt das Ziel der Isolierung von Berlin ({2}) gegenüber der üblichen Bundesrepublik Deutschland zur Zeit nicht durch Berlin-Krisen von außen, sondern man setzt in der Tat auf eine langsame innere Auszehrung unserer Stadt.
({3})
Das heißt: Mit unseren Fehlentwicklungen und Mängeln im Inneren mit Hilfe unserer Stadtpolitik fertig zu werden ist zugleich auch Bedingung für unsere Sicherheit nach außen.
({4})
Nur in Berlin gibt es diesen untrennbaren Zusammenhang von der inneren Kraft und der äußeren Existenzmöglichkeit. Oder positiv gewendet: In der Aufgabe, die Anziehungskraft des Standortes Berlin so gut wie möglich zu lösen, tun wir nicht nur den Menschen, die davon profitieren, etwas zugute, sondern sichern wir zugleich die Bedingungen unserer Existenz in Berlin. Deswegen hat die derzeitige innerstädtische Situation auch unmittelbar etwas mit dem Thema der heutigen Debatte, mit der Berlin-und Deutschlandpolitik, mit der Lage der Nation im ganzen zu tun.
({5})
Es entscheidet sich eben sehr viel für unsere Kraft zum Leben in Berlin, aber damit zugleich auch sehr viel für die Deutschen in bezug auf Berlin, wenn es um die Frage geht, wie es mit dem sozialen Frieden in unserer Stadt steht, wie wir mit Unruhen, die es natürlich auch woanders gibt, fertig werden und wie wir die Aufgabe der Rechtssicherheit bewältigen.
Niemand leugnet, daß es zu den großen und schweren Aufgaben der heutigen Zeit gehört, sich auch mit Teilen einer jüngeren Generation darüber auseinanderzusetzen, wozu das Recht denn nötig und wozu es da ist. Wir Älteren begegnen j a gelegentlich im Gespräch mit jüngeren Menschen der Auffassung: Wie, das Recht? Das ist doch nur ein Instrument der Herrschenden gegen die freien Bürger. Manche jungen Menschen wissen gar nicht, daß es genau umgekehrt ist, daß es nämlich freie und demokratische Bürger waren, die ihrerseits das Recht gegen die Herrschenden und Diktatoren erkämpft haben.
({6})
Die Menschen in Ost-Berlin wissen das sehr wohl, denn sie spüren, was sie selber nicht an Recht haben. Um so wichtiger ist unsere Verantwortung, dieses Recht auch zu sichern, dieses Recht als den eigentlichen Fortschritt des liberalen Rechtsstaats hochzuhalten.
({7})
Wenn wir heute in Berlin über diese Fragen auch unter den demokratischen Parteien streiten, dann doch nicht über den Punkt, als ob wir nicht alle miteinander wüßten, daß wir die gemeinsame Aufgabe haben, mit der jungen Generation über diese Aufgabe des Rechts zu reden. Aber wir können nicht dieses Gespräch und seine Ergebnisse abwarten und in der Zwischenzeit mit der Handhabung des Rechts uns selber bremsen. Wir können nicht im Hinblick auf Verständigungsmöglichkeiten Konzessionen in bezug auf den Rechtsfrieden machen, die j a gerade darauf hinausliefen, daß eben der Fortschritt dieses
demokratischen Kampfes um das Recht wieder in Frage gestellt würde. Wir können kein Faustrecht gebrauchen, bei dem sich der Stärkere rücksichtslos durchsetzt, sondern wir brauchen ein Recht, bei dem in erster Linie der Schwache den Schutz bekommt.
({8})
Deshalb ist die Mahnung von unserer Seite eine Mahnung, die zugleich auch der frühere Bürgermeister von Hamburg neulich mit den Worten ausgedrückt hat: daß es eine falsche Duldsamkeit wäre, um des Gesprächserfolgs willen mit der Handhabung des Rechts etwas kürzerzutreten. Wehret den Anfängen, hat er gesagt - ehe es zu spät ist in Berlin, muß man hinzufügen.
({9})
Meine. Damen und Herren, wir haben, was diese stadtpolitischen Probleme mit berlin- und deutschlandpolitischer Auswirkung anbetrifft, auch immer daran zu denken: Berlin war nicht nur die deutsche Hauptstadt, sondern Berlin war ein Mittelpunkt des Geisteslebens, und zwar eines Geisteslebens, das von vornherein eine universale europäische Ausrichtung hatte. Hieran mit unserem geistigen Leben in einem universalen europäischen Sinn wieder anzuknüpfen, erweitert durch die heutigen Horizonte in der Welt im ganzen, gehört zu den entscheidenden stadtpolitischen Aufgaben in Berlin, auch im Interesse der Lage der Nation und nicht nur der Menschen in Berlin selber.
Wir haben, wie jedermann weiß, die Nofretete; wir haben, wie auch jedermann weiß, die Philharmoniker und vieles andere Gute mehr. Wir haben, um ein ganz anderes Beispiel zu nennen, ein Bundesamt für Materialprüfung, das auf einem sehr hohen Niveau arbeitet. Dorthin kommen viele Menschen aus den Ländern des Warschauer Paktes und erkundigen sich. Das ist gut so.
Früher waren wir in Berlin auch ein Zentrum für Slawistik, für Osteuropaforschung, für die Geographie im ganzen. Die Technik und die Naturwissenschaft haben in Berlin eine ganz besonders starke Verankerung gefunden und eine Ausstrahlung zustande gebracht, die weit über Berlin und Deutschland hinaus ihre Bedeutung hatte.
Das sind Dinge, die wir auch im Rahmen der heute gegebenen politischen Verhältnisse in Berlin stärken können. Es geht ja nicht in erster Linie um die große Zahl, sondern um die Qualität. Je größer die Qualität auch im Sinne einer auf universale europäische Zielsetzung gerichteten geistigen Lebendigkeit ist, desto größer die Lebenskraft und desto besser für die Lage der Nation.
({10})
Deshalb dürfen wir uns im ganzen in Berlin nicht darin erschöpfen, einfach eine funktionierende moderne Großstadt zu sein. Damit verbundene Gefahren einer Provinzialität sind j a zum Glück dem Wesen des Berliners ohnehin zutiefst fremd.
Meine Damen und Herren, ich habe, was die Lage der Nation anbetrifft, natürlich nicht die Absicht, hier die Dinge auszufechten, die wir, wie es sich unter Demokraten gehört, zur Zeit im Wahlkampf unter den Wettbewerbern austragen. Ich möchte nur auf eine Bemerkung von Herrn Dr. Vogel eingehen, die er hier gemacht hat. Ich wäre von mir aus nicht darauf gekommen. Das betrifft die Frage nach den möglichen Koalitionen und Minderheitsregierungen.
Also, Herr Vogel, was Sie da über die Erwartungen in bezug auf einen Wahlausgang gesagt haben, hat j a mehr Heiterkeit als alles andere ausgelöst. Daß die Union um die Mehrheit kämpft, wissen Sie so gut wie ich. Daß Sie derjenige waren, der das Stichwort einer möglichen Minderheitenregierung in die Berliner Öffentlichkeit gebracht hat, auch das wissen Sie so gut wie ich.
({11})
Aber das ist ja Ihr gutes Recht angesichts einer Situation, wo Sie eben auf andere Aussichten sich offenbar nicht einstellen zu können glauben.
Nur, was die Koalitionen betrifft, möchte ich doch einmal ganz klarstellen, wie die Diskussionslage in Berlin wirklich ist. Mit Recht haben Sie darauf hingewiesen, daß Sie schon früher - das haben Sie jetzt hier wiederholt - gesagt haben: Nein, mit der Alternativen Liste wollten Sie nicht koalieren. Ihr Landesvorsitzender, Herr Glotz, hat dasselbe gesagt. Nur, Herr Glotz - Ihr Landesvorsitzender immerhin - hat eines hinzugefügt. Er hat nämlich gesagt: Ja, aber Arrangements mit der Alternativen Liste könnten doch vielleicht in Frage kommen.
({12}) Das ist mehrfach veröffentlicht worden.
({13})
- Herr Dr. Vogel, Sie kennen das Thema doch. Sie können doch in aller Ruhe zuhören. - Und dann ist er gefragt worden: Was für Arrangements denn? Und dann hat er selber gesagt: Arrangements derart, daß ein Minderheitensenat von SPD und FDP durch Stimmen aus der Alternativen Liste getragen werden könnte.
({14})
Ich möchte Sie doch bitten, vor der Wahl vor den Berliner Wählern klarzustellen, was denn nun stimmt.
({15})
Ist die Alternative Liste, wie Sie sagen, Ihr politischer Gegner? Oder ist die Alternative Liste, wie Ihr Landesvorsitzender sagt, für Arrangements zur Stützung eines Minderheitensenats unter Ihrer Führung vorgesehen? Das müssen nämlich die Wähler wissen. Denn wenn es so bleibt, wie Herr Glotz sagt, kann ich nur sagen: Wer die Alternativen nicht will, der darf natürlich auch nicht SPD wählen.
({16})
Ich möchte nach diesem von Ihnen hervorgerufenen Ausflug zu der Ost-West-Beziehung im ganzen
zurückkommen und von Berlin aus dazu noch folgendes sagen.
Berlin hat in diesem Ost-West-Verhältnis hervorragende Bedeutung und ist immer wieder als Gradmesser für das Ost-West-Klima bezeichnet worden. Auch dies bedeutet doch eine ganz einzigartige Wechselwirkung. Einerseits wirken sich weltpolitische Entwicklungen oft genug unmittelbar auf unser Berliner Leben aus, auch hier ohne Vergleich zu irgend einer anderen Metropole. Andererseits wäre es von schwerwiegenden Folgen weit über unsere Stadt hinaus, wenn wir in Berlin unserer inneren Probleme nicht Herr würden. Berlin liegt geographisch, politisch und geistig mitten in Deutschland. Was uns in Berlin widerfährt, ist für das Schicksal aller Deutschen entscheidend.
({17})
Daher kann sich auch niemand, der in Westdeutschland lebt, ohne eigenen Schaden von Berlin distanzieren. Eben deshalb haben wir in Berlin aber auch einen Vorrang an Verantwortung für die Zukunft aller Deutschen. Wir haben von Berlin aus ein Lebensinteresse besonderer Art an Frieden und Sicherheit. Deshalb sind wir in Berlin auch berufene Mahner, wenn jemand den untrennbaren Zusammenhang aus dem Auge verliert, der zwischen einer Entspannungsbemühung einerseits und der Sicherheit andererseits besteht. Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht zur Lage der Nation vom Harmel-Bericht gesprochen. Mit Recht. Daran müssen wir immer wieder anknüpfen, vor allem deshalb, weil dieser Zusammenhang seit der Erstattung dieses Berichts allzu oft aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Es kann Sicherheit eben nur geben, wenn das Menschenmögliche geschieht, um Spannungen abzubauen. Es kann aber nur Entspannung geben, wenn sie durch ein Gleichgewicht der Kräfte gesichert wird; sonst wird die Entspannung zur Unterwerfung. Für beides sind in Berlin vor allem unsere Beziehungen zu den Schutzmächten von entscheidendem Gewicht.
Herr Dr. Vogel, ich freue mich, daß Sie sich in dieser heutigen Debatte zu den Schutzmächten und vor allem auch zu der Schutzmacht der Vereinigten Staaten von Amerika bekannt haben. Ich möchte nur hinzufügen, daß ich es bedaure, daß Sie auch heute nicht Gelegenheit genommen haben, eine Thematik klarzustellen, die uns in Berlin nicht nur als Deutsche bedrückt, sondern auf die man auch immer wieder von Amerikanern angesprochen wird; denn es ist nun einmal so, daß auf dem SPD-Landesparteitag in Berlin Ende Februar dieses Jahres unter Ihrer Anwesenheit in einem einstimmig angenommenen Beschluß der Moratoriumsvorschlag von Breschnew in der Nachrüstungsfrage ausdrücklich begrüßt wurde.
({18})
Wenige Tage später hat der deutsche Außenminister zusammen mit dem amerikanischen Außenminister ein Kommuniqué unterzeichnet, in dem das genaue Gegenteil steht - wie sich überhaupt die Bundesregierung in bezug auf dieses Moratorium in der genau umgekehrten Weise ständig und mit Recht geäußert hat. Ich kenne kein anderes Beispiel, bei dem sich die Haltung der Bundesregierung und die Haltung der zur Zeit noch führenden Berliner Koalitionspartei in einem wichtigen Punkt so diametral widersprochen haben.
({19})
Ich füge etwas anderes hinzu, was für das Bewußtsein der Berliner und unserer Schutzmächte auch von Gewicht ist. Es hat eine Unterschriftenaktion gegeben, die führende Mitglieder der Berliner SPD und auch ein Mitglied des derzeit amtierenden Berliner Senats unterzeichnet haben und worin es heißt, es sei zu befürchten, daß in den Vereinigten Staaten die Kräfte die Oberhand gewinnen könnten, welche eine Strategie des begrenzten Atomkrieges möglich machen und durchsetzen wollten.
({20})
Selbstverständlich ist es unser Recht und unsere Aufgabe, mit unseren Bündnispartnern über die beste Form der Sicherheit und infolgedessen auch über die beste Form der Bereitstellung von Waffenarsenalen zu sprechen und zu diskutieren. Wenn man aber - und das von Berlin aus und als ein Mitglied der Berliner Regierung! ({21})
erklärt, die Kräfte in Amerika könnten die Oberhand gewinnen, die einen begrenzten Atomkrieg nicht nur möglich machen, ja, die ihn durchsetzen wollten - welche Reaktion soll dies eigentlich bei unserer wichtigsten Schutzmacht in Berlin auslösen?
({22})
Ich will die Motive von niemandem, der unterzeichnet hat, näher analysieren; was ich aber möchte, ist, daß die doch unter Parlamentariern und in der Demokratie gegebene Gelegenheit zur Ausräumung solcher Dinge genutzt wird, daß man sich hinstellt und sagt, was damit gemeint ist und was nicht, und daß man diese Sache - obwohl wir sie immer wieder vorbringen - nicht einfach mit Schweigen übergeht.
({23})
Ich möchte nun auf die innerdeutschen Beziehungen eingehen, wie sie sich uns, von Berlin her gesehen, darstellen. Wir haben einen besonders nahen, engagierten und betroffenen Blick dafür und sollten dazu unsere Beiträge, wie ich meine, auch geben.
Über den erhöhten Zwangsumtausch ist schon gesprochen worden. Er betrifft natürlich uns Berliner in besonderem Maße, aber allgemein alle Westdeutschen und insbesondere auch den sogenannten kleinen Grenzverkehr. Er ist ein Verstoß nicht nur gegen Wort und Sinn von Vereinbarungen - von der Besuchsvereinbarung bis zum Dokument von Helsinki -, sondern er ist vor allem ein Verstoß gegen die Substanz der Beziehungen schlechthin. Ein System, das sich selber sozialistisch nennt, hat zu verantworten, daß wegen dieses erhöhten Zwangsumtausches Leute mit niedrigen Einkommen von dem
Besuch von Ost-Berlin oder der DDR einfach ausgeschlossen sind, während Vermögende den erhöhten Zoll bezahlen können und manche Firmenvertreter überhaupt ganz umsonst hereingelassen werden.
Wir wissen, daß die SED wegen der extrem unsozialen Tendenz dieser Maßnahme auch bei ihren eigenen unteren Parteiorganen schwere Vorwürfe aus ihrer eigenen Bevölkerung darüber zu hören bekommt. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hat sich laut und vernehmlich geäußert und darauf hingewiesen, daß die Menschenrechte, daß einmal eingeräumte Verbesserungen auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen insbesondere dann nicht einfach zurückgenommen werden dürfen, wenn sie im Zeichen einer Friedensförderung doch gemeint oder zumindest angekündigt gewesen sind. Aber die bisherige Hartnäckigkeit der SED, sich diesen Mahnungen nicht zu öffnen, nicht einfach nach dem altbekannten Prinzip zu verfahren, erst einmal eine Krise auszulösen und sich dann die Beilegung einer selbst ausgelösten Krise irgendwie bezahlen zu lassen, zeigt, daß es andere Gründe gibt, die für diesen erhöhten Zwangsumtausch maßgeblich sind.
Da gibt es manche Leute bei uns, die meinen, es wäre besonders klug, jetzt ständig und vor allem auch öffentlich darüber nachzudenken, was wir vielleicht bieten könnten, um damit die Rücknahme dieser Erhöhung des Zwangsumtausches zu bewirken. Manche sprechen darüber, ob vielleicht mit einer möglichen Reise des Bundeskanzlers oder mit einer Erhöhung des Swings oder mit anderen Dingen hier etwas zu erreichen wäre. In Wahrheit gehen solche Spekulationen an der Wurzel, an der Ursache dieser Maßnahme völlig vorbei und sind nur geeignet, im Zwischenfeld drüben gespitzte Ohren anzutreffen, damit man solche Vorschläge vielleicht irgendwann einmal taktisch ausnützen kann.
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In Wahrheit möchte die SED gar nicht so gern so unsozial genannt werden, wie sie mit dieser Zwangserhöhungsmaßnahme unsozial ist. Aber sie hat wichtigere Gründe, um den damit verbundenen schlechten Ruf erst einmal in Kauf zu nehmen. Das sind Gründe, die durch Maßnahmen von unserer Seite nur schwer zu beeinflussen sind. Es ist in erster Linie die wachsende Sorge, wie die SED ihre eigene Herrschaft besser stabilisieren könne, wie sie sich gegenüber einem langsamen, stetigen Rückgang ihrer Autorität bei ihrer eigenen Bevölkerung, insbesondere bei der dortigen jungen Generation, schützen könne. Es hat ja durch einige Jahre hindurch so etwas wie eine relative Kompromißpolitik gegeben. Da hat die SED dann der eigenen Bevölkerung in Ermangelung wirksamer ideologischer oder gar nationaler Zielsetzungen, die die Bevölkerung der SED nicht abnimmt oder nicht dankt, dafür einen relativen wirtschaftlichen Vorsprung vor den anderen Warschauer-Pakt-Staaten angeboten. Daher rührt auch ein Grund für manche Vereinbarungen von Ost-Berlin mit uns, zu einem Austausch zwischen kräftigen, finanziellen Strömen in der einen Richtung und ein bißchen mehr Bewegung in der anderen zu kommen.
Wenn wir uns heute die Lage in Ost-Berlin ansehen, so meine ich, muß festgestellt werden, daß in der SED offenbar mancher kalte Füße bekommen hat. Es ist so etwas wie eine rückläufige Wartestellung, eine relative Funkstille festzustellen. Von den Großprojekten, von denen schon viel die Rede war, die Elektrifizierung der Eisenbahn, ein Braunkohlenkraftwerk und anderes mehr, ist aus Ost-Berlin zur Zeit wenig zu hören. Gehen wir auf die Messen, so ist das, was uns dort von Ost-Berliner Gesprächspartnern begegnet, ein Interesse mehr an Lieferungen der DDR an uns als umgekehrt an Bezügen von uns nach drüben. Es gibt eine Art der abwartenden, der reservierten, auf Eigensicherung bedachten Haltung. Einerseits wird das mit dem bevorstehenden Parteitag der SED zusammenhängen, der ja am Sonnabend eröffnet wird. Auf der anderen Seite ist es, wie wir alle wissen, auch die Entwicklung in Polen. Es ist die Sorge bei der SED nicht nur im Hinblick auf mögliche Folgen einer etwaigen Intervention von außen in Polen, sondern es ist vielleicht erst recht eine Sorge vor dem Übergreifen eines Bazillus, wenn in Polen ohne Intervention Reformpläne durchgesetzt werden, an denen sich j a die polnische Arbeiterpartei selber, wie öffentlich zu lesen ist, beteiligt.
Dies alles ist nicht durch unsere Angebote als ein Hemmschuh zu beseitigen; aber selbstverständlich haben wir über alle diese Dinge nun auch nicht unsererseits irgendwie mit Häme zu reden. Das wäre nicht die geringste Hilfe.
Wir haben natürlich unsere Wünsche und Ziele, auch für die kürzere Frist. Ich möchte einige nennen, auch solche, von denen Herr Dr. Vogel schon gesprochen hat, also den Verbund von S- und U-Bahn in Berlin; jawohl. Die Berliner CDU hat das schon im Jahre 1971 vorgeschlagen, dann im Jahre 1979 in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Wenn die Koalition das jetzt übernommen hat, dann ist das gut. Wir können auf diese Weise zu einer sachgemäßen Behandlung dieser Probleme vorstoßen und werden, wie ich zuversichtlich hoffe, nicht etwa einen Wahlwettbewerb von gegenseitig sich überbietenden Angeboten an die Adresse der SED machen.
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Wir müssen hier zu einer Lösung kommen, die unterhalb der Statusprobleme mit dem verkehrspolitischen und volkswirtschaftlichen Unsinn aufhört, S-Bahn und U-Bahn parallel zueinander auszubauen. Die Kosten werden dabei weit niedriger sein. Und wenn es Auswirkungen auf den Personen- und Güterfernverkehr von und nach Berlin gibt, so möchte ich dazu nur sagen: solche Auswirkungen wären mir willkommen.
Weiter, Herr Vogel, haben Sie von den Fragen des Energieverbundes und der Erdgasversorgung und vom Grenzübergang Staaken gesprochen, den wir offenhalten müssen, nicht zuletzt aus Gründen unserer eigenen innerstädtischen Situation in Tegel. Ich denke, das sind alles Punkte, in denen wir gemeinsam weiter kommen werden als nur im Gegeneinander.
Ich möchte noch hinzufügen: Die Bürokratisierung für die Berliner bei dem Antragsverfahren,
wenn sie nach Ost-Berlin oder in die DDR wollen, ist immer wieder schrecklich und zermürbend; auch hier muß eine Verbesserung eintreten.
Ich nenne weiter den Umweltschutz. Wir wollen halt das Schwefeldioxid aus Ost-Berliner Kraftwerken in Neukölln, wo wir ja beide kandidieren, nicht immer hinnehmen. Da können nämlich Filter draufgebaut werden. Sie sind bloß nicht darauf. Dies alles kann, wie ich meine, mit Phantasie, mit klaren Standpunkten und mit dem Willen zur Verständigung über Fragen dieser Art gefördert werden.
Dennoch: ob sich etwas bewegt, was sich bewegt und in welcher Richtung sich etwas bewegen kann, das hängt weitgehend nicht davon ab, was wir anbieten können, was für Forderungen wir aufstellen oder wie wir uns verhalten, sondern das ist weitgehend bestimmt durch innere Vorgänge, innere Spannungen, innere Sorgen und Krisen, die das Verhältnis in der SED zu ihrer eigenen Bevölkerung kennzeichnen.
Ich meine, es ist in diesem Zusammenhang wichtig, gerade bei einer Debatte über die Lage der Nation zu sehen, was unsere öffentliche Diskussion über die Fragen der deutschen Nation denn bewirkt und bedeutet. Das Selbstbewußtsein, das Selbstvertrauen, die Möglichkeit für die Deutschen in der DDR, sich mit dem eigenen Staat zu identifizieren, das alles hat immer zu den Hauptproblemen der SED gehört. Zwar gibt es einige Parallelen zwischen der SED und den anderen kommunistischen Herrschaftsparteien im Warschauer-Pakt-Bereich. Sie sind nämlich alle miteinander nicht durch Revolution und auch nicht durch Legitimation des Bürgerwillens an die Macht gekommen, schon gar nicht durch Legitimation derer, nach denen sie sich nennen, der Arbeiter und der Bauern. Aber anders als die Schwesterparteien im Warschauer-Pakt-Bereich hat die SED eine zusätzliche Schwierigkeit. Die kann sich nicht auf eine nationale Identität berufen. Sie kann also nicht - wenigstens an einem Punkt - die Distanz zwischen Bevölkerung und Führung etwas verringern, wie das anderen kommunistischen Führungen im Warschauer-Pakt-Bereich möglich ist. Die Ideologie schafft es für die SED gegenüber der eigenen Bevölkerung je länger, desto weniger. Aber der Gedanke an die eigene Nation kann es eben auch nicht schaffen, denn nicht nur wir sind, sondern auch die DDR ist Bestandteil einer geteilten Nation, und sie hat die Alternative täglich, jeden Abend, vor Augen.
In dieser Lage gibt es nun immer wieder einige westdeutsche Politiker, die nach Wegen suchen, wie man innerdeutsche Fortschritte dadurch erzielen kann, daß man auch für diesen wunden Punkt der SED mehr Verständnis zeigt. Der Kollege Bahr, den ich hier heute nicht unter uns sehe, hat in den letzten Jahren häufiger davon gesprochen, selbstverständlich solle man die SED nicht lieben, aber man müsse sie gegebenenfalls stärken; denn nur durch die SED und folglich nur durch eine hinreichend selbstsichere SED ließen sich Fortschritte im innerdeutschen Verhältnis erzielen.
In diesem Zusammenhang ist auch das zu nennen, was nach sechseinhalb Jahren der jetzige Hochschulsenator von Berlin, Herr Gaus, gemeint hat, als er sagte: Wir müssen unsere inneren Vorbehalte gegen diesen Staat aufgeben, wir dürfen ihm unsere Zuneigung nicht verweigern, auch wenn er uns mißfällt;
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ja, überhaupt müßten wir darauf verzichten, den Begriff der Nation weiter zu verwenden.
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Meine Damen und Herren, ich möchte auch in diesem Zusammenhang nicht in eine Motivforschung eintreten. Was ich aber sagen möchte, ist dies: Was nutzen uns interessante, mit Teilwahrheiten ausgestattete Fragen, wenn die Antworten darauf falsch sind? Und diese beiden Antworten sind falsch, sie sind grundfalsch!
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Sie sind vor allem aus einem - dem, wie ich meine, nächstliegenden - Grunde falsch: Die Deutschen in der DDR selbst machen so nicht mit.
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Gewiß, diese Deutschen drüben müssen sich arrangieren. Diese Deutschen drüben wollen auch, daß wir uns ihrer ungeliebten Führung bedienen, um für sie, für diese deutschen Bürger drüben, etwas Nützliches zu erreichen. Aber eines wollen sie in ihrem eigenen Interesse nicht: nämlich daß wir mit einem solchen Entgegenkommen, wie es aus den Gedankengängen der Kollegen Bahr und Gaus spricht, den Grundwiderspruch aufheben, unter dem die SED dort leben muß.
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Natürlich gibt es Fälle, wo die SED der eigenen Bevölkerung ein bißchen entgegenkommt. Sie muß es ja tun, z. B. durch etwas weniger ideologischen Druck da und dort, durch eine gewisse Erleichterung in den wirtschaftlichen Bedingungen, wenn auch mit großen Schwankungen, durch eine geringfügige Zunahme in der Bewegungsfreiheit, durch eine stärkere Ermöglichung, auch private Existenzen - in einer Nische - zu führen. Aber das alles ist doch nicht einfach die Folge einer selbstsicher gewordenen, von uns in ihrem Selbstbewußtsein gestärkten SED, sondern das ist doch in erster Linie Folge eines Drucks, unter dem die SED steht.
Ich leugne doch nicht - und habe nie geleugnet -, daß das Schlußdokument von Helsinki wichtige und positive Auswirkungen mit sich gebracht hat, aber doch nicht in der Weise, daß es zu einer Stärkung der SED gekommen ist oder kommen würde, wenn wir auf die Nation verzichten.
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Das Entscheidende ist, daß es mit den Menschenrechten weitergeht.
Der Kontakt, den der Generalsekretär Honecker mit dem Bund der Evangelischen Kirchen im März 1978 aufgenommen hat, ist sehr bedeutungsvoll.
Aber er ist doch nicht die Folge eines gestiegenen Selbstbewußtseins der SED.
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Nein, umgekehrt, er ist die Folge einer wachsenden Problematik, in der sich die SED befindet.
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Es ist der Versuch einer besseren Abstützung bei eigenen Problemen gegenüber der Bevölkerung durch einen wirklich unabhängigen Gesprächspartner, nämlich durch den Bund der Evangelischen Kirchen. Das ist schwer genug für alle Beteiligten, aber ein Vorgang, den wir doch richtig verstehen müssen.
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Ich meine, wir sollten die Debatte über die Nation und über die Frage, wie es zu einer Einheit kommen kann, natürlich in aller Offenheit führen, aber wir müssen uns dabei doch auch deutlich unsere Meinungen sagen. Da gibt es eben in demselben Interview von Herrn Gaus noch einen anderen Satz, den ich überhaupt nur mit größtem Befremden gelesen habe. Er sagt:
Wenn es nicht zu einer Katastrophe kommt, dann wird sich an der Tatsache, daß es zwei deutsche Staaten gibt, zu unseren Lebzeiten nichts ändern.
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Meine Damen und Herren, niemand von uns weiß, mit welchen Zeiträumen wir rechnen müssen, und niemand kann für sich in Anspruch nehmen, auch wenn er weit jünger ist als ich, daß sich eine grundlegende Veränderung zu seinen Lebzeiten vollziehen würde; nicht das ist es, was ich zu kritisieren habe. Aber wenn man davon ausgeht, daß, wenn es nicht zu einer Katastrophe kommt, sich an der Tatsache, daß es zwei deutsche Staaten gibt, in dem und dem Zeitraum nichts ändern wird - ja, bitte, das ist ja nicht so gemeint, aber das klingt doch so und wird in den falschen Mündern, falschen Köpfen und falschen Händen dann so benutzt, daß es in Wirklichkeit nur entweder den Frieden oder einen Weg zur Einheit gibt.
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Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein anderes Zitat in diesem Zusammenhang von jemand vortragen, von dessen Parteizugehörigkeit ich gar nichts weiß, aber dessen Stimme ich häufiger, etwa in dem Organ der Berliner SPD, lese; ich meine Peter Bender, der sich im „Spiegel" vor einigen Wochen zu derselben Frage wie folgt geäußert hat - ich darf zitieren -:
Als ob nicht jeder wissen müßte: Die deutsche Einheit gerät, sobald sie politisch oder auch nur rhetorisch verfolgt wird, mit den vorrangigen Zielen in Konflikt, mit dem Frieden und mit der Annäherung beider Teile Europas. Frieden wie Europa verlangen Entspannung, Entspannung verlangt Gleichgewicht, doch das Gleichgewicht verlangt die weitere Teilung Deutschlands.
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Scharfe Betonung der deutschen Einheit, dauernde Beschwörungen der deutschen Nation und das ewige Reden vom „Offenhalten" der deutschen Frage bewirken das gerade Gegenteil ihres Zwecks. Sie stören die Entspannung und hemmen beides: Besserung in Europa und Besserung in Deutschland.
Meine Damen und Herren, wir hatten hier im Deutschen Bundestag schon einmal eine kurze Aussprache über diesen Punkt, weil sich nicht mit denselben Worten, aber mit demselben Gedanken, daß es nämlich das Gleichgewicht sei, welches uns an der Verfolgung unserer deutschlandpolitischen Zielsetzung hindere, auch der frühere, im derzeitigen SPD-Geschichtsbewußtsein der Berliner SPD allerdings wegdividierte Regierende Bürgermeister Stobbe geäußert hatte.
Ich möchte noch einmal sagen, weil mir das so wichtig erscheint: Unsere Politik zielt - dazu bekennen wir uns ohne Einschränkung - auf Überwindung der Trennung.
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Dies geschieht ausschließlich mit friedlichen Mitteln; denn wir wissen doch, daß wir des Friedens bedürfen, auch des Friedens in einem größeren, über unsere beiden deutschen Teilstaaten hinausweisenden Rahmen. Nicht zuletzt deshalb suchen wir als Deutsche Einfluß auf die internationale Lage, und zwar einen Einfluß durchaus im Sinne der Stärkung des Friedens. Mit anderen Worten: Eine Deutschlandpolitik, die der Überwindung der Gräben dient, eine Deutschlandpolitik, die Ausdruck des Gefühls der Zusammengehörigkeit der Deutschen ist, ist für uns wesentlicher Motor, um eine friedensfestigende Wirkung auf die internationalen Beziehungen anzustreben. Man kann das noch anders ausdrücken. Hätten wir nicht das elementare - ({39})
- Hören Sie mir doch bitte in Ruhe zu! Das wäre bei dieser Debatte viel vernünftiger. - Hätten wir nicht das elementare Bedürfnis, die Teilung Schritt für Schritt zu überwinden, und wären wir ohne besondere Zusammengehörigkeit über die Blockgrenzen hinweg, dann wäre unser Wille und wohl auch unsere Kraft, in Richtung auf den Frieden zu wirken, in Wahrheit schwächer und nicht stärker, und das heißt: Gleichgewicht ist Voraussetzung für den Frieden - das stimmt - , aber Gleichgewicht und damit Frieden ist nicht Ursache dafür, daß die Teilung fortbesteht. Vielmehr brauchen wir Frieden, um die Teilung von Stadt, von Land und von Kontinent schrittweise zu überwinden und damit dem Frieden Stück für Stück das zu geben, was ihn ausmacht, nämlich seine substantielle menschliche Gerechtigkeit.
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Sybille Wirsing hat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestern in einer Analyse der in erster Linie geistig-kulturellen Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Teilstaaten - bezeichnenderweise ist dieser Artikel im Feuilleton erschienen, obwohl er hochpolitischen Charakters war - u. a. gesagt - der Artikel war überschrieben „Die deutsche Mein-und -dein-Frage"; Herr Ronneburger,
da ist wieder von den beiden Hälften Luthers die Rede; Luther ist kein Schwabe; ich fand das Bild nicht so glücklich, aber immerhin auch ganz anregend -,
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wir sollten uns doch nicht der Prestigepsychose der SED anschließen und sie uns zu eigen machen mit solchen Formulierungen wie denen, die Herr Gaus gebraucht hat. Wir dürfen die SED eben nicht so weit entlasten, sie nicht so weit aus der Vergangenheit und Zukunft der deutschen Nation freigeben, daß sie schließlich nicht mehr unter einem auch für die Bürger, auch für Deutsche in der DDR sich immer wieder als heilsam erweisenden Druck steht, sondern schließlich machen kann, was sie will. Der Druck der Teilung, die Alternative auf der anderen Seite zu haben, das ist auf der einen Seite eine große Sorge, aber es ist auch ein Zwang für die SED, ein Ansporn, der sich immer mal wieder im Interesse unserer Landsleute auswirkt.
Meine Damen und Herren, unsere deutschen Landsleute drüben wissen, wie ihre SED mit dem Thema Nation als politischem Thema umgeht. Der Bundeskanzler hatte ein Zitat aus früherer Zeit von Walter Ulbricht genannt. Ich möchte ihm eines hinzufügen. Ulbricht hat auch gesagt: „Die Arbeiterklasse wird einst vereinen, was die Imperialisten gespalten haben." Sie alle kennen ja die Äußerungen von Honecker, die quasi mindestens zeitlich als Antwort auf Gaus kamen, als er gesagt hat: „Seid vorsichtig, der Sozialismus klopft eines Tages auch an eure Tür, und wenn der Tag kommt, an dem die Werktätigen der Bundesrepublik an die sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland gehen, dann steht die Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten vollkommen neu. Wie wir uns dann entscheiden, daran dürfte es wohl keinen Zweifel geben".
Meine Damen und Herren, ich zitiere das doch nicht deshalb, weil ich der Meinung wäre, irgendeiner von uns oder gar ich wüßte, was daraus für die Frage der Nation in welcher Zeit die Folge ist. Aber was wir wissen, das ist, daß, wenn wir mit unserer Lebendigkeit und Zielsetzung auf diesem Gebiet nachlassen, andere dieses Thema übernehmen und dann in einem Sinn übernehmen, von dem wir dann nicht mehr sagen können, das würde sich mit unserem Ziel einer Einheit der Deutschen in Einklang bringen lassen können.
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Unsere deutschen Landsleute drüben leben von einer Perspektive in die Zukunft, zu der das Wort der deutschen Nation gehört. Auch wir in Berlin leben von der Perspektive, zu der der Begriff der Nation gehört. Berlin ist die Stadt der Hoffnung aller freiheits- und friedensliebenden Deutschen in Ost und in West. Berlin will Brücke und Klammer sein. Berlin will Symbol sein der nationalen Einheit.
Niemand kennt den Inhalt und den Zeitpunkt einer Antwort auf die offene deutsche Frage. Wir werden eine europäische Architektur anstreben, bei der kein Nachbar vor den Deutschen Angst zu haben braucht. Aber niemandem sollten wir erlauben, sich über unsere Unbeirrbarkeit zu täuschen, daß in der geschichtlichen Perspektive die Teilung von Stadt, von Land und von Kontinent überwunden werden muß. Wir in Berlin haben und wir vertrauen auf diese Kraft. - Ihnen hier bei der Debatte über die Lage der Nation dies von Berlin aus zuzurufen, das ist unser Beitrag zu dieser Debatte, mit dem wir uns bekennen zu einer deutschen Nation des Friedens.
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Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat wird eine Mittagspause eingelegt. Wir unterbrechen die Sitzung. Der Deutsche Bundestag tritt um 14 Uhr wieder zusammen.
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Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Wir fahren im Tagesordnungspunkt 3 fort: Bericht zur Lage der Nation.
Das Wort hat Herr Bundesminister Franke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die innerdeutschen Beziehungen befinden sich seit Oktober 1980 in einer schwierigen Phase. Es sind zwei Vorgänge, die eine insgesamt über zwölf Jahre positive Entwicklung schwer beeinträchtigt haben, nämlich die Neuregelung des Mindestumtausches und das Herausstellen von Grundsatzforderungen durch die DDR-Führung.
Diese Beeinträchtigungen, so ernst sie auch sind, dürfen uns nicht dazu verleiten, die Deutschlandpolitik verärgert in die Ecke zu stellen oder gar abzuschreiben.
Viele vergessen rasch, wie die Lage Mitte der 60er Jahre war, als die Sozialdemokraten in die Bundesregierung eintraten. War die Entfremdung zwischen den Deutschen in der DDR und hier bei uns nicht in erschreckendem Maße fortgeschritten? Hatte nicht der Bau der Mauer in Berlin 1961 vor aller Augen die Teilung Deutschlands besiegelt? Die Folgen waren Resignation und das Gefühl der Ausweglosigkeit. Die bis dahin betriebene Deutschlandpolitik war tatsächlich an ihr Ende gelangt. Sie steckte in der Sackgasse. Das war ein Tiefpunkt. Wenn Herr Dr. Zimmermann hier heute diesen Begriff schon einmal benutzt hat, dann mag er sich bitte an diese Zeit erinnern.
Und wie sah es auf den Autobahnen nach Berlin aus? War es nicht angebracht, sich jedesmal vor und nach einer solchen Transitfahrt bei den Angehörigen telefonisch zu melden, um ihnen die Gewißheit zu geben, daß man ungeschoren hindurchgekommen war? Das war die Wirklichkeit in jenen Jahren, als die sozialliberale Koalition begann, sich mit der Praxis vertraut zu machen und an die Aufgaben heranzugehen, um die es ging, um wenigstens das zu erreichen, was möglich war.
Wie oft standen die Ampeln auf Rot! Langes Warten an den Grenzübergangsstellen gehörte zum täglichen Brot der Fernfahrer, so daß Überlegungen angestellt wurden, von welcher Stundenzahl an für Wartezeit Entschädigung gezahlt werden sollte, um dann die Fahrt nach Berlin antreten zu können. Das weiß heute kaum noch jemand. Es ist noch gar nicht so lange her.
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Daran kann man ermessen, welche praktischen Bereiche erfaßt wurden, um das Geschehen der damaligen Zeit durch aktive Politik zu korrigieren.
Herr Zimmermann sprach vorhin von einem „guten Erbe", das von der sozialliberalen Koalition zu Beginn ihres Wirkens übernommen und später vertan worden sei. Wenn das alles zu diesem „guten Erbe" gehört, dann spricht das für sich und läßt erkennen, wie sehr Herr Zimmermann bemüht ist, einen neuen Ton in die Debatte zur Deutschlandpolitik zu bringen. Ich möchte meinen, der Weg zur Gemeinsamkeit scheint noch sehr weit zu sein, wenn das so weitergehen soll.
Mein Vorgänger im Amt, Herbert Wehner, hat vor Jahren von dieser Stelle aus von dem steinigen Gelände gesprochen, auf dem sich die Deutschlandpolitik bewegen müsse. Er hat hinzugefügt, es sei notwendig, notfalls mit den Fingernägeln nach den kleinsten Erfolgen zu kratzen. Meine Damen und Herren, das war die Relativierung dessen, was möglich war, und am Anfang stand keine Illusion, sondern die ganz nüchterne Einschätzung und Beurteilung der Wirklichkeit. Ich glaube, all jene, die während der Jahre bis heute versucht haben, uns nachzusagen, wir hätten Illusionen geweckt und wir hätten übertrieben, waren daran interessiert, falsch zu spielen, um Illusionen zu wecken und damit die Enttäuschung bei vielen Menschen hervorzurufen,
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die auf etwas warteten, indem man sagte: es gibt da noch irgend etwas, nur die jetzt Regierenden nutzen diese Möglichkeiten nicht.
Nein, meine Damen und Herren, obwohl die Wirklichkeit so war - oder gerade darum -, sind wir Sozialdemokraten mit den Freien Demokraten zusammen an die Arbeit gegangen und haben uns auf den Weg gemacht - frei von Illusionen. Ab 1969 haben wir dann gemeinsam die Deutschlandpolitik aus dem Tiefpunkt, aus der Sackgasse herausgeführt und den Beitrag der Bundesrepublik dazu erbracht, daß die praktischen Lebensumstände in Deutschland und vor allem in Berlin entschieden verbessert werden konnten.
Die Bundesregierung hat eine Menge Verträge und Vereinbarungen mit der DDR geschlossen - und fast alle gegen den erbitterten Widerstand der CDU/CSU-Opposition. Auch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, bis in den Oktober 1980 hinein, war das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten von einer weiteren Ausgestaltung der Beziehungen geprägt. Daran haben gelegentliche Stagnationen und Rückschläge nichts geändert. Probleme wurden geregelt, Vereinbarungen wurden abgeschlossen, die jedesmal wieder ein kleines Stück
Normalität und vor allem den Menschen in beiden Staaten Nutzen brachten.
Richtig ist: Wir hatten in dieser Zeit auch eine Menge Schwierigkeiten, Rückschläge und Enttäuschungen in den innerdeutschen Beziehungen. Das Ergebnis bleibt trotzdem: Wir Deutschen haben in diesen 70er Jahren erfahren, daß Entspannung zwischen Ost und West nicht nur ein Wort ist, sondern etwas Reales, etwas für die Menschen Nützliches, Greifbares und Wohltätiges.
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Und die Menschen haben davon Besitz ergriffen. Sie bauen und hoffen darauf, bauen auf dieses erreichte Mehr an Kontakt und Verbindung.
Nehmen wir als Beispiel für das erreichte Mehr den Telefonverkehr. 1980 wurden allein in West-OstRichtung 23 Millionen Gespräche geführt; das ist das 46fache gegenüber der Ausgangslage im Jahre 1969. - Damals alles noch handvermittelt, mit den Schwierigkeiten der Überprüfung, der Überwachung der Gespräche, den langen Wartezeiten; jetzt immer mehr im Selbstwählverkehr. Oder anders gesagt - diese Zahl läßt sich auch noch anders deuten -: 63 000 Gespäche pro Tag von West nach Ost. Das sind Zahlen! Und es lohnt sich, meine Damen und Herren, darüber zu sprechen und darüber nachzudenken, was in der Zwischenzeit alles zusätzlich gebaut wurde, um den Kontakt zwischen den Menschen zu festigen und weiter zu verbesseren. Das ist wichtiger als jede Theorie, die von noch so hohen und höchsten Begriffen durchdrungen sein mag.
Nehmen wir für das erreichte Mehr auch die generelle Verbesserung des Reiseverkehrs in die DDR, beginnend mit 1972: Besuchs- und Reisemöglichkeiten für West-Berliner, Besuchsreisen nicht mehr nur zu Verwandten, sondern auch zu Bekannten! Bei den Besuchsreisen der Berliner ist noch besonders hinzuzufügen, daß die West-Berliner zehn Jahre lang überhaupt keine Möglichkeit hatten, in den Ostteil der Stadt zu kommen. Dieses sind doch wohl Ergebnisse,
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die wir zwar nicht übermäßig stolz feiern sollten, die wir aber wenigstens als ein gemeinsames Bemühen registrieren sollten,
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die Wunden, die uns durch den Zweiten Weltkrieg geschlagen worden sind, wenigstens für die Menschen auszuheilen und wieder etwas erträglicher werden zu lassen. Dem, was der großen Politik vorbehalten sein mag, um es einst zu überwinden, stehen wir nicht im Weg. Aber darauf zu warten, um hundert Jahre lang schöne Lieder zu singen und zu meinen, dann löse sich das Problem, um das es uns geht, das reicht nicht aus. Wir wollen etwas für die lebenden Menschen bewirken,
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und darum gehen wir auch immer wieder an diese so schwierige Aufgabe heran, bei der wir wirklich nicht davon sprechen können, daß wir dabei als Partner Freunde aufzuweisen haben. Aber das muß ich auch
sagen, damit das nicht verschüttet wird: Bei diesen Bemühungen gibt es kein Ergebnis, ohne daß auch die DDR dem zustimmt; denn sie hat über dieses Gebiet und über das, was es dort an Problemen gibt, ein gewichtiges Wort mitzureden.
Nehmen wir als weiteres Ergebnis: Tagesaufenthalte mit Mehrfachberechtigungsscheinen für die Bewohner von Berlin ({6}) und die Bewohner der grenznahen Kreise der Bundesrepublik Deutschland, Touristenreisen, Reisen aus besonderen Anlässen wie Kultur- und Sportveranstaltungen, Öffnung von vier zusätzlichen Straßenübergängen, Erleichterung der Reisemodalitäten, mehrmalige Einreise im Rahmen des 30-Tage-Kontingents pro Jahr, Aufenthaltsgenehmigung in der Regel für die ganze DDR, nahezu freie Pkw-Benutzung und Pauschalierung der Straßennutzungsgebühr, Transit durch die DDR in andere Länder mit Übernachtungsmöglichkeit, in der Regel freie Wahl des Übergangs.
Vergessen wir vor allem nicht: Entspannung in Deutschland war und ist entscheidend die Verbesserung für die Lebensbedingungen von West-Berlin.
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Das ist rechtlich gesicherter Zugang zu Wasser und zu Lande mit dem Ergebnis, daß im Transitmassenverkehr endlich Ruhe eingekehrt ist. Wer anderes behauptet, sollte seine Gläser putzen. Bei insgesamt 140 Millionen Transitreisenden seit 1972 hat es 1 060 Festnahmen - die meisten wegen Transitmißbrauchs - und 794 Zurückweisungen gegeben. Das sind dreizehn/Zehntausendstel Prozent. Mit anderen Worten: Auf eine Million Reisende entfallen sechs Zurückweisungen und sieben Festnahmen.
Entspannung in und für Berlin - das ist größere Bewegungsfreiheit für die Bürger der Stadt in die nähere Umgebung, in den Ostteil Berlins und in die DDR zu Menschen und in die Landschaft; das ist Telefonieren von West-Berlin nach Ost-Berlin im Selbstwählverkehr, ab 1. April 1981 auch zum Billigtarif. Wohlgemerkt in Berlin, wo im Jahre 1952 alle Telefonleitungen, sogar die Telefonverbindungen der Feuerwehr, gekappt wurden, um den Abgrenzungsprozeß durchzuführen!
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Das ist inzwischen wieder in einen relativ normalen Zustand gebracht worden, und zwar dadurch, daß beide Seiten dazu beigetragen haben; sonst könnte so etwas nicht gelingen.
Gewöhnen wir uns doch bitte daran, daß auch andere ihre Interessen zu vertreten bemüht sind. Wir kriegen Ergebnisse nur zustande, wenn wir dieses Prinzip zu handhaben wissen.
Entspannung in und für Berlin ist mehr Weltoffenheit für West-Berlin, mehr Einbeziehung in den internationalen Austausch von Wirtschaft, Kultur und Sport. Schließlich ist Entspannung in und für Berlin buchstäblich das Näherrücken Berlins an den Bund durch Ausbau und Verbesserung der Verkehrsverbindungen auf Straße und Schiene: Grunderneuerung der Autobahn Berlin-Hannover, Bau der Nordautobahn Berlin-Hamburg, Beschleunigung des Eisenbahnverkehrs durch Streckenverbesserungen.
Das alles ist höchst sinnfällig und greifbar. Ich kann die Ängste und Sorgen gut verstehen, das mühsam genug Erreichte könne durch eine Verschlechterung der internationalen Lage wieder verlorengehen. Dabei wissen alle: Das Erreichte ist nicht der Idealzustand. Da kann man mit mir nicht konkurrieren. Ich könnte für mich viel bessere Zielvorstellungen entwickeln, als das jetzt so mancher in der öffentlichen Diskussion tut. Aber wenn wir schon, wie Herr Kohl das in einer Debatte gefordert hat, reale Grundlagen zur Leitlinie unserer praktischen Politik machen sollen, hat es keinen Zweck, auf der einen Seite Wunschschlösser und Träume zu entwikkeln, um auf der anderen Seite hinterher mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden und wieder ganz klein und bescheiden anfangen zu müssen.
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Bleiben wir gleich bei den realen Grundlagen, dann wecken wir keine Illusionen und enttäuschen vor allen Dingen nicht jene Menschen, die selber kaum in der Lage sind, sich an der offenen Diskussion zu beteiligen. Fühlen wir uns für sie mitverantwortlich!
Ich weiß, wünschenswert ist sehr viel mehr. Aber wir sollten dabei nicht vergessen: selbst das Machbare mußte gegen starken Widerstand der Opposition durchgesetzt werden. Daran fühlte ich mich heute morgen lebhaft erinnert, als ich Herrn Zimmermann zuhörte. Der Weg zur Gemeinsamkeit, Herr Zimmermann - ich sagte es schon einmal; da waren Sie noch nicht hier -, scheint noch sehr lang und weit zu sein. Ich glaube, nicht die Bekundung der Gemeinsamkeit reicht aus, sondern eine erste Voraussetzung zur Gemeinsamkeit ist, die Realität, die wir beide nicht geschaffen haben, die uns aber zwingt, Politik zu betreiben, zu erkennen. Solange Sie die ignorieren, fehlt Ihnen die elementarste Voraussetzung, Ihren Anspruch auch umsetzen zu können.
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Meine Damen und Herren, wenn ich sage, wir Deutsche haben das Gute der Entspannungspolitik erfahren, dann meine ich auch unsere Landsleute in der DDR. Wenn auch die Reisefreiheit unserer Landsleute in der DDR nach Westen nicht wesentlich ausgeweitet wurde, haben sie doch die Wirkungen der Entspannung zwischen Ost und West eher noch intensiver gespürt und erlebt als wir. Das ist aus ihrer ganzen Situation heraus nur allzu verständlich. Das bedeutet aber auch, daß die Deutschen in der DDR es wären, die von einer neuen Konfrontation und ihren Folgen am härtesten getroffen würden.
Ich empfinde es so, daß dieser Sachverhalt allen politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland die besondere moralische Verpflichtung auferlegt, die Ergebnisse der bisherigen Politik, der Vertragspolitik, die j a auch nach Herrn Kohls Worten ein wichtiges Instrumentarium für die Politik sein muß, nachdem wir sie haben, nach besten Kräften zu bewahren und nicht zu ignorieren. Es geht, um es deutlich zu sagen, nicht um die Frage des
Erfolgs der Politik der sozialliberalen Bundesregierung. Diese Frage hat sich inzwischen durch den meßbaren Erfolg erledigt. Die Notwendigkeit der neuen Deutschland- und Ostpolitik von 1969 ist längst von der großen Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland eingesehen, und zwar unter dem Eindruck der Ergebnisse, die diese Politik für die Menschen und insbesondere auch für Berlin gebracht hat.
Das geht so weit - und ich begrüße das -, daß die ehemaligen Gegner dieser Politik um die Bewahrung ihrer Ergebnisse heute ebenso besorgt sind wie wir, also diejenigen, die diese Politik von Anfang an betrieben und durchgesetzt haben.
Dies sind Gründe genug, an der Politik der Verständigung festzuhalten. Dies ist ein Gebot der nationalen und menschlichen Solidarität. Deshalb gilt es, die Bereitschaft und Fähigkeit zu dieser Politik zu behalten. Das sind die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Dialog und die Fähigkeit und Bereitschaft zum Ausgleich der Interessen.
Das bedeutet wiederum zweierlei: 1. es ertragen zu können, daß auch die andere Seite mit ihren Interessen zum Zuge kommt; 2. zu den Kompromissen zu stehen, die einem selber etwas abverlangen.
Wenn wir zur Entspannungspolitik weiterhin bereit und fähig bleiben sollen, müssen wir uns weiterhin ehrlich bemühen. Wir müssen bemüht sein und bleiben um eine Haltung des Entgegenkommens. Wir müssen unverdrossen nach Ansatzpunkten suchen, die es vielleicht ermöglichen, einen Schritt voran zu tun, mag er auch noch so geringfügig erscheinen.
Ich bleibe bei dieser Formulierung, die ich seit 1969 ständig vertreten habe: Jeder, auch der geringste Fortschritt ist besser als das lauteste Wort, das überhaupt nichts bewegt, sondern nur den, der es ausschreit, von einem inneren Druck befreit.
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Es muß nicht immer Neues, Spektakuläres, Umfangreiches wie eine 100-Kilometer-Autobahn auf der innerdeutschen Tagesordnung stehen. Wir haben den Grundlagenvertrag. Im Rahmen dieses Vertrages läßt sich, an das inzwischen Bestehende anknüpfend, noch vieles denken und wünschen, was die innerdeutsche Situtation weiter verbessern kann.
Zu einer solchen Politik gehört es, die Interessen der anderen Seite zu bedenken und danach, wenn ich so sagen darf, die Zumutungen zu bemessen. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn es gegenseitig geübt wird. So hat die DDR mit der Neuregelung des Mindestumtauschs die Grenzen des Zumutbaren überschritten. Unerläßlich ist es aber auch, die lebenswichtigen Interessen und Bindungen der jeweils anderen Seite in Rechnung zu stellen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Eine kooperative Nachbarschaft zwischen den beiden deutschen Staaten ist nur dann denkbar und möglich, wenn jede Seite die Bündniszugehörigkeit der anderen Seite nicht in Frage stellt. Da sollte sich niemand täuschen.
Ich habe daran erinnert, was die Vertragspolitik seit 1969 für die Deutschen und insbesondere für die Berliner gebracht hat. Wir sind uns bewußt, daß wir dies nicht hätten erreichen können ohne die Einbindung in das westliche Bündnis. Wenn wir - wie es der Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen beharrlich tun - im Bündnis unsere deutschen Gesichtspunkte und Anliegen einbringen, hat das ganz und gar nichts mit Neutralismus zu tun, wie man versucht, uns das zu unterstellen, sondern das sind die Besonderheiten, die wir im nationalen Interesse wahrzunehmen haben und mit unseren Partnern sehr fair und loyal besprechen können. Dieses Bündnis ist nicht schwächer, sondern stärker geworden. Mit Neutralismus würden wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.
Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß die Ursachen für den jüngsten Rückschritt außerhalb der innerdeutschen Beziehungen liegen. Wir müssen in der Tat feststellen, daß sich die unvermeidlich gegebene Verflechtung des innerdeutschen Verhältnisses mit der internationalen Gesamtlage noch nie so nachteilig ausgewirkt hat wie gegenwärtig. Zu Beginn der neuen Deutschlandpolitik Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war es gerade umgekehrt. Damals hat sich die internationale Entspannungstendenz fördernd auf die Anbahnung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ausgewirkt; fördernd auch für das Zustandekommen der Berlin-Regelung von 1971. Wir, die sozialliberale Bundesregierung, waren uns immer darüber im klaren und haben es auch schon damals, zum Beispiel in der Antwort auf eine Große Anfrage im Jahre 1974, ausgesprochen, daß die internationale Gesamttendenz die Politik der vertraglichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten überhaupt erst ermöglicht habe und auch weiterhin bedinge.
Wir dürfen uns dennoch nicht einfach mit der Feststellung abfinden, daß die internationale Lage der Politik des Ausgleichs in Europa und damit auch zwischen den beiden deutschen Staaten jeden Freiraum genommen hat. Nach meiner Überzeugung besteht auf östlicher Seite aus inneren Gründen heraus ein genügend starkes Interesse an Zusammenarbeit mit Westeuropa. Darauf können wir bauen und brauchen uns deshalb durch weitergehende Ansinnen nicht beirren zu lassen. Die Stabilisierung, die von einem guten innerdeutschen Verhältnis auf die Lage in Europa ausgeht, kommt beiden Seiten zugute.
In dieser Debatte ist viel von der Nation die Rede. Ich darf daran erinnern, daß sich in der Debatte vor zwei Jahren das Wort „Wiedervereinigung" einer ähnlichen Aufmerksamkeit erfreute. Immerhin war die Diskussion damals nicht umsonst, denn sie brachte im Ende doch erfreuliche Klarstellungen über das, was wir unter der deutschen bzw. unserer nationalen Frage heute verstehen. Wir verstehen darunter das Problem der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Daraus folgt: Unsere nationale Frage ist primär weder ein territoriales Problem noch kann ihre Lösung nur in der Wiederherstellung des Bismarckschen Nationalstaats von 1871 gesucht werden.
Wir sollten diese Klarstellungen in die heutige Diskussion über die Nation mit herübernehmen. Im übrigen sehe ich keinen Grund, mich an selbstquälerischen Zweifeln, ob es überhaupt noch eine deutsche Nation gebe, zu beteiligen. Die deutsche Nation ist historisch ausgewiesen. Wir sind eine alte europäische Nation. So empfinden wir uns selbst, und so sehen uns auch unsere Nachbarn. Insoweit steht das historische Selbstbewußtsein, das wir Deutsche mit anderen europäischen Nationen teilen, auf festem Grund. Ferner ist es, so glaube ich, gemeinsame Überzeugung aller Demokraten, daß es ein nationales Interesse außerhalb von Freiheit und Demokratie nicht gibt. Das gilt selbst für das Interesse an der staatlichen Einheit. Niemals wieder dürfen es Demokraten zulassen, daß sich Nichtdemokraten oder auch nur demokratisch indifferente Kräfte zum Sachwalter dessen aufwerfen, was sie als die angeblich wahren nationalen Interessen postulieren.
({12})
Ich sehe nicht, meine Damen und Herren, wie diese unsere Haltung Fortschritte im innerdeutschen Verhältnis verhindern oder auch nur behindern sollte. Die beiden deutschen Staaten haben zu einer Reihe von grundsätzlichen Fragen unterschiedliche Auffassungen, und zu diesen grundsätzlichen Fragen gehört die nationale Frage. Dennoch haben beide Staaten 1972 miteinander den Vertrag über die Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen geschlossen. Mit anderen Worten: Unterschiedliche Auffassungen zur nationalen Frage haben weder den Abschluß des Vertrages verhindert, noch haben sie seitdem gemeinsame Fortschritte bei der Erfüllung des Vertrages verhindert, noch werden sie - wenn es nach uns geht - die beiden deutschen Staaten künftig daran hindern, wie vereinbart normale gutnachbarliche Beziehungen auf der Basis der Gleichberechtigung zueinander zu entwickeln.
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, und die Deutsche Demokratische Republik sind zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden. Jeder dieser Staaten auf deutschem Boden ist vom anderen unabhängig; jeder ist als Staat vor dem Völkerrecht so souverän wie der andere.
Wir lassen uns aber nicht abhandeln, in der Deutschen Demokratischen Republik den deutschen Nachbarstaat zu sehen. Dort leben Deutsche, die bis 1945 dieselbe Geschichte erlebt haben wie wir, die von dem Krieg ebenso betroffen sind wie wir und von dessen Folgen wohl noch schwerer. Das können und das wollen wir auch in unserer Einstellung gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik nicht vergessen.
Die Bundesregierung redet und handelt so aus dem guten Gewissen heraus, damit dem Frieden in Europa einen Dienst zu erweisen. Dies erfordert nach unserer Auffassung, der Teilung dadurch Rechnung zu tragen, daß ihre menschlichen Folgen gemindert werden. Mehr Kontakte und Verbindungen machen die Teilung erträglicher, und nichts anderes ist unsere Absicht.
Bei einer redlichen Bestandsaufnahme wird niemand bestreiten, daß wir in dieser Absicht in den letzten zehn Jahren vorangekommen sind. Niemand kann aber auch bestreiten, daß diese Absicht und ihre schrittweise Verwirklichung von großem politischem Gewicht sind; denn jedes Stück Normalisierung zwischen den beiden deutschen Staaten schafft ein Stück Befriedung für Deutschland und Europa. Diese friedenssichernde Wirkung ist von uns so gewollt; denn damit ziehen wir die angemessene Konsequenz aus unserer jüngsten nationalen Geschichte. Hitlers Eroberungskrieg im Osten Europas hat machtpolitische Tatsachen hinterlassen, an denen nicht nur wir Deutschen als Nation leiden. Einheit ist nicht alles; wichtiger sind Freiheit und Unabhängigkeit. In dieser Hinsicht haben die Folgen von Hitlers Krieg auch andere Völker getroffen, die nicht weniger europäisch sind als wir.
Das besondere deutsche Normalisierungsziel, das die beiden Staaten untereinander laut Grundlagenvertrag anstreben, steht im Einklang mit dem KSZE-Konzept der Entspannung in Europa. Es könnte sein, daß der jüngste innerdeutsche Rückschlag Vorbote oder Ausdruck einer allgemeinen Krise der Entspannungspolitik zwischen West und Ost in ihrer bisherigen Ausprägung ist, wie wir sie exemplarisch in der KSZE-Schlußakte niedergelegt finden.
Das KSZE-Modell verbindet zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit praktischen Verbesserungen für die Menschen. Wir halten es gerade im Hinblick auf die besonderen Notwendigkeiten der innerdeutschen Normalisierung für unverzichtbar. So verstanden, gibt es für diese Politik keine Alternative.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige Worte zu zwei speziellen Themen.
Ich trete seit Jahr und Tag für die besondere Förderung des Zonenrandgebietes ein. Es geht dabei erst in zweiter Linie um Fragen der regionalen Wirtschaftsförderung; in erster Linie ist die Zonenrandförderung als ein deutschlandpolitisches Anliegen zu sehen. Dieser Raum ist auf Grund der Teilung aus der Mitte Deutschlands an den Rand gerückt. Deutschlandpolitik für das Zonenrandgebiet will, daß dieses Gebiet nirgends zurückfällt, sondern zumindest sein Niveau behält, wo nötig sogar verbessert. Dieser Grundsatz muß meines Erachtens auch in Zeiten haushaltsmäßiger Verknappung gewahrt bleiben.
Zum Schluß möchte ich einige Worte zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion über politische Häftlinge in den Haftanstalten der DDR sagen. In der Begründung zu dem Antrag heißt es, der Deutsche Bundestag habe einen Anspruch darauf, über die Situation dieser Häftlinge umfassend unterrichtet zu werden. Niemand bestreitet diesen Anspruch. Aber ich glaube, ich bin es meinem Amt schuldig, darauf hinzuweisen, daß auch die einsitzenden Häftlinge einen Anspruch haben: den Anspruch, daß auf unserer Seite das Effektivste und Nützlichste unternommen wird, um so vielen von ihnen wie möglich ihre Lage zu erleichtern.
({13})
Zwischen diesen beiden Ansprüchen muß es einen Weg geben.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie die Methode der öffentlichen Anprangerung der DDR nicht für geeignet halten, die humanitären Probleme zu lösen. Darin bestärken uns auch die Ergebnisse, die wir 1980 wieder bei unseren besonderen Bemühungen erzielt haben. Das ist vielen von Ihnen, meine Damen und Herren, aus Ihrer Abgeordnetenerfahrung bestens bekannt. Ich darf an die Korrespondenz erinnern, die viele mit mir führen oder die ich mit Ihnen führe. Insgesamt, die Familienzusammenführung hinzugezählt, haben wir 1980 wieder mehreren tausend Menschen helfen können.
Diese Zahl läßt sich exakt belegen. Auch das sollte uns immer bestimmen, wenn wir zu diesem Thema sprechen, damit wir nicht Wege verschütten, die sich bewährt haben. Darum, meine Damen und Herren - vor allen Dingen appelliere ich an Sie, meine Kollegen von der Opposition -, sorgen Sie darür, daß wenigstens dieser Bereich der innerdeutschen Beziehungen von öffentlichkeitswirksamen Profilübungen freigehalten wird!
({14})
Sorgen Sie dafür, daß hier bewährte Wege intakt gehalten und nicht verschüttet werden! Es gereicht uns allen zum tätigen Erfolg, wenn wir diese Erkenntnisse berücksichtigen. Ich danke sehr.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Aus gegebenem Anlaß möchte ich, weil auch die Lage draußen hier eine Rolle spielt, mit dieser Feststellung beginnen: Wenn wir heute über den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland diskutieren, in der längsten Zeit des Friedens seit langem und in freiheitlichem Wettbewerb der Meinungen um den besten Weg für das ganze Deutschland ringen können, dann ist dies möglich, weil wir mit dem Westen, im Westen und durch den Westen Frieden und Freiheit gesichert haben. Das aber heißt ganz zuerst, den USA zu danken und sich nicht in die Reihe derer einzureihen, die draußen eine üble Kritik an unserem Hauptverbündeten üben.
({0})
Eigentlich sollten sich alle Protestler und Demonstranten draußen diesem Dank anschließen; denn sie können sich nur entfalten, weil wir Frieden und Freiheit und mit beidem die Chance für Reform und friedliche Veränderung haben. Wäre es anders, so wären sie längst verstummt - wohl besser: verstummt worden. Freilich müssen wir alle wissen - dies sage ich mit dem Blick auf die Debatte über Berlin und andere Fragen -: Frieden - das ist die Rücksicht auf das Recht des anderen: und der Frieden nach außen beginnt zu Hause, verehrte Damen und Herren.
({1})
Mit dem Blick auf die Debatte draußen erinnere ich an folgendes: Dies scheint mir notwendig, weil diese Debatte hier hineinschwappt. Über lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA allein Atomwaffen. Sie haben das aber nicht zu Krieg, zu Bedrohung oder Erpressung benutzt. Heute verleitet dagegen die Sowjetunion ihre militärische Überrüstung zum Krieg in Afghanistan, zur Gewaltandrohung gegen Polen, zu Druck und Subversion an vielen Plätzen der Welt, - und die DDR scheut sich nicht, sich dieser beschämenden Teilhaberschaft öffentlich zu rühmen.
In der Zeit der US-Übermacht gab es z. B. den helfenden Marshall-Plan für Europa. Die Überrüstung der Sowjetunion ist begleitet u. a. von 15 Millionen Flüchtlingen überall in der Welt. Die Bundesregierung schweigt dazu.
So will ich mich Ihnen, Herr Bundeskanzler - auch als Kollege auf dieser Bank -, nun direkt zuwenden. Sie haben heute morgen einen Arbeiter aus der DDR zitiert. Das finde ich ganz interessant. Ich will einen anderen Arbeiter zitieren, den Arbeiter Engelhard von den Hydrier-Werken von Zeiss zu Jena, der am 17. Juni 1953 den Funktionären zurief: „Wir wollen leben wie die Menschen, weiter wollen wir nichts!"
Ich denke, dies ist das Thema des Tages: Wir wollen leben wie die Menschen; weiter wollen wir nichts.
({2})
Der Herr Bundeskanzler hat unlängst eine Rede über Kant gehalten. Ich zitiere daraus nach dem Bulletin der Bundesregierung:
Für mich besagt das nichts anderes, als daß der Politiker, der verantwortlich handeln will, zugleich die Folgen seines Handelns für die anderen berücksichtigen soll.
Er fährt fort:
Der Politiker trägt nicht nur Verantwortung für seine guten Vorsätze oder seine gute Gesinnung, sondern vor allem trägt er Verantwortung für die Folgen seines Handelns oder Unterlassens.
Ich kenne, Herr Bundeskanzler, sehr gut Ihre Vorsätze; aber ich kenne auch sehr gut die Folgen Ihrer Politik, und ich kenne die Volksweisheit: Der Weg zur Hölle ist oft mit guten Vorsätzen gepflastert.
({3})
Unser Grundgesetz legt uns fest auf Selbstbestimmung, Einheit und Freiheit und Vollendung dessen in Deutschland. Ich könnte den Brief zur deutschen Einheit zitieren, der Bestandteil des Moskauer Vertrages ist, unsere völkerrechtliche Entschließung, ohne die diese Verträge ja nicht zustande gekommen sind, die völkerrechtlich wirksam geworden ist. Ich zitiere sie:
Das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Verträge nicht berührt. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland, die eine friedliche Wiederherstellung der nationalen Einheit im europäischen Rahmen anDr. Barzel
strebt, steht nicht im Widerspruch zu den Verträgen, die die Lösung der deutschen Frage nicht präjudizieren.
Warum, Herr Bundeskanzler, kommt von alledem in Ihrer Regierungserklärung von heute morgen nichts vor? Dies ist doch um so bemerkenswerter, als wir in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.7. 1973 die Passage, die ich hier zitiere, festzustellen haben:
Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken - das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten - und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.
Herr Bundeskanzler, haben Sie den Eindruck, daß Ihre Regierungserklärung heute dieser Forderung des Bundesverfassungsgerichts entspricht? Der Forderung, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten, wenn dieses Wort im Bericht zur Lage der Nation 1981 nicht einmal vorkommt?
({4})
Da gibt es doch andere Politiker - auch Staatsmänner und Kirchenfürsten -, die sehr wohl wissen, was die Bedingungen des Friedens heute sind, die sich aber nicht scheuen, Ziele zu nennen und Konzeptionen zu verkünden. Kennedy sagte: Frieden durch Menschenrechte. Warum kommt das bei der Regierung nicht vor? Der gegenwärtige Papst sagt: Frieden durch Freiheit - und der kennt und achtet doch die Grenzen der Rücksicht, die man auf regierende Kommunisten nimmt. Von der Vereinigung beider deutscher Staaten spricht Herr Honekker. Warum spricht der Kanzler nicht davon?
Herr Bundeskanzler, Sie schulden der Nation, und besonders der Jugend, die volle Wahrheit; das Ja zum Richtigen wie das Nein zum Falschen; und das nicht irgendwie beurteilt, sondern nach dem, was uns alle bindet: Der Wertmaßstab unserer Ordnung ist die Würde des Menschen in der sozialen Wirklichkeit des Alltags.
Der Kanzler lehnt - mein Kollege Zimmermann hat ihn heute früh darauf angesprochen; vielleicht hören wir dazu noch etwas -, wie man aus seinen Einlassungen hier, aber auch an anderen Stellen, weiß, „geistige Führung" im Sinne weltanschaulicher Wegweisung ab
({5})
- Herr Ehmke -; das passe nicht zu unserem weltanschaulich neutralen Staat; und das möge er nicht wegen seiner Erfahrungen als Jüngling im „Dritten Reich". Diese Begründung, Herr Bundeskanzler, lasse ich insoweit ausdrücklich gelten. Nur: Unser Staat ist nicht wertneutral!
({6})
Unsere Verfassung normiert verbindliche Ziele und Maximen, und dazu darf keiner schweigen, auch der Kanzler nicht! Diese geistig-politische Führung - wenigstens diese - ist er auch in unseren nationalen Fragen schuldig.
Herr Bundeskanzler, in dem Bericht, den wir heute hörten, vermag ich beim besten Willen die reale Lage der ganzen deutschen Nation nicht wiederzuerkennen.
({7})
- Bitte, keine voreiligen Zurufe; warten Sie doch einmal ab!
Der Bericht war, wie ich meine, pflichtwidrig, weil er dem Auftrage des Parlaments, einen Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu erstatten, nicht entsprach, weil er ihn willkürlich verengte und weil er auch das Gebot des Bundesverfassungsgerichts überging. Der Bericht war - verzeihen Sie - dürftig, weil er weder Horizonte noch Wege aufwies, und der Bericht war kaum eine halbe Wahrheit, weil er Unrecht verschwieg.
Ich will das begründen. Für mich ist dieser Bericht, Herr Bundeskanzler, beschämend. Ich habe etwas aus einem anderen Lande, aus den USA, mitgebracht. In den USA ist eine Kommission von Experten im Auftrage des Auswärtigen Amtes tätig, die jedes Jahr beiden Auswärtigen Ausschüssen des Parlaments einen Bericht über die Lage der Menschenrechte in der ganzen Welt erstattet. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler und verehrte Kolleginnen und Kollegen, diesen Bericht zur Hand nehmen und in diesem Bericht nur die Passagen über die DDR - die kommt nach dem Alphabet zuerst - und uns lesen, haben Sie mehr Bericht über die reale Lage der Nation, als uns die eigene Bundesregierung hier heute gegeben hat.
({8})
Ich möchte nur aus der Einleitung zitieren. Man kann das nicht alles zitieren, aber vielleicht gibt es - etwa durch einen Antrag - einen Weg, wenigstens diese Passagen über Deutschland dem ganzen Hause zugänglich zu machen. Es heißt also in diesem Bericht der USA:
Die Deutsche Demokratische Republik ist ein fest kontrollierter kommunistischer Staat mit wesentlichen Beschränkungen bei der Ausübung von Bürger- und politischen Rechten. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ({9}) kontrolliert alle Bereiche der Gesellschaft außer der Kirche, die noch über eine gewisse Autonomie verfügt.
Ich zitiere nur verschiedene Passagen:
Es gibt ca. 400 000 sowjetische Soldaten auf dem Territorium der DDR. Gleichzeitig gibt es tiefe geschichtliche, kulturelle und familiäre Bindungen zwischen den Menschen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, welche die 35 Jahre alte Teilung Deutschlands nicht ausrotten konnte.
Ein anderer Satz:
Wie die Berliner Mauer bezeugt, überwacht die DDR Auswanderung und Reisen sehr streng. Über das letzte Jahrzehnt hinweg
- ich zitiere auch etwas Positives hat es für die westlichen Besucher einen deutlich wachsenden Zugang zur DDR gegeben, obwohl die Devisenumtauschquoten in der DDR kürzlich kräftig erhöht wurden.
Heute werden trotz Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki von 1975 die Möglichkeiten ihrer Bürger im arbeitsfähigen Alter zum Reisen in den Westen und zur Auswanderung von der DDR sehr streng begrenzt.
Diejenigen, die die Grenze illegal zu überschreiten versuchen, riskieren Gefängnis oder Tod durch die Grenzposten und die automatischen Schußanlagen, obwohl die bewaffneten Grenzzwischenfälle in den letzten Jahren bedeutend weniger geworden sind.
Es gibt eine vollständige Zensur der Medien und der Veröffentlichungen. DDR-Bürger werden regelmäßig inhaftiert wegen der Kritik an der Regierung oder an der Partei, und im Jahre 1979 verschärfte die DDR die Strafgesetzgebung, um Kritik am Staat oder Weitergabe von nicht nützlichen Ansichten oder Informationen an Menschen aus dem Westen durch Bürger der DDR zu entmutigen.
Ich höre auf, Auszüge zu zitieren. Dies ist ein Teil der realen Lage im gespaltenen Deutschland.
({10})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was uns - die Bundesrepublik Deutschland - betrifft, so ist das, was dort steht, fast schmeichelhaft. Deshalb zitiere ich nur einen Satz, damit man sieht, daß auch wir vorkommen:
Folglich gibt es ein fundamentales Einvernehmen im Volk und eine klare politische Bestimmung in der Regierung, die Menschenrechte zu schützen und zu erhalten.
Auch das sollte man einmal an die Adresse all derer sagen, die die Bundesrepublik Deutschland mieszumachen sich angewöhnt haben.
Verehrte Damen und Herren, ich will ein anderes Dokument in die Debatte einbeziehen. Da gibt es andere, die nicht einmal Deutsche sind, die nicht einmal irgendwo einem Parlament politisch verantwortlich sind; es sind freie Bürger der Welt. Ich spreche von amnesty international. Den Vertretern dieser Organisation hören wir hoffentlich nicht nur dann zu, wenn sie uns etwas über Chile sagen. Diese Organisation hat uns im Februar aus London einen Bericht über die Menschenrechtslage in der DDR vorgelegt. Hieraus zitiere ich auch nur die Einleitung. Das andere ist alles schlimm genug. - Ich sehe den verehrten Kollegen Jahn; er wird das sicher in seinen Akten haben, wenn er demnächst zur UNO-Menschenrechtskommission fährt.
- Das ist nicht zum Lachen; ich bin sicher, daß er das macht.
amnesty international
- so das Zitat -
ist über eine Reihe von Menschenrechtsproblemen in der DDR besorgt, insbesondere über die folgenden:
a) Die Existenz von Gesetzen, die für eine große Zahl von Handlungen, und zwar auch für die Ausübung von Menschenrechten ({11}), Freiheitsentzug vorschreiben;
b) die Anwendung dieser Gesetze, um Menschen ins Gefängnis zu bringen, die diese Rechte gewaltlos, aber in einer von den Behörden nicht gebilligten Weise ausüben;
c) die Unzulänglichkeiten der Rechtsschutzgarantien für politische Gefangene;
d) Fälle grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung von politischen Gefangenen;
e) die Beibehaltung der Todesstrafe für eine Reihe von Straftaten, darunter einige politische.
Das wird dann seitenweise belegt. Ich hätte das sehr gerne von der eigenen Regierung gehört, denn die ist wohl für Deutschland verantwortlich, verehrte Damen und Herren.
({12})
Ein drittes Dokument. - Herr Wehner, Sie gukken mich so grimmig an, es ist schon das letzte Dokument hierzu.
({13})
- Dann freut mich das sehr, Herr Kollege Wehner, ich war sonst andere Zwischenrufe von Ihnen gewöhnt.
({14})
- Ein drittes Dokument, meine Damen und Herren, kommt von Betroffenen selbst. Man konnte es hier in den Zeitungen lesen, sonst würde ich es nicht in die Debatte einführen. Die katholischen Bischöfe in der DDR haben Anfang März ein „Hirtenwort zur österlichen Bußzeit 1981" von den Kanzeln verlesen lassen. Daraus möchte ich zitieren in der Hoffnung, daß viele junge Menschen beider Konfessionen, die in diesen Tagen über Frieden und solche Dinge diskutieren, auch dies in die Hand nehmen und sich im Gewissen prüfen, bevor sie sich für irgend etwas in Anspruch nehmen lassen. Ich zitiere daraus auch nur ganz kurz diese Auszüge:
Besorgt fragen uns christliche Eltern: Was nützt es, wenn Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Verfassung garantiert und durch Gesetzeskraft rechtlich gesichert sind, unsere Kinder aber trotzdem schutzlos der Zugluft atheistischer Erziehung ausgesetzt bleiben? Auch der Staat muß bei seinen Erziehungszielen den WilDr. Barzel
len der Eltern beachten. Entspricht es dem Elternrecht und der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Religionsausübung, wenn christliche Kinder, deren ethische Lebensnorm die Liebe ist, zum Haß erzogen werden? Wir können als Christen niemals j a sagen zum Haß. Haß schafft Feindschaft, und Erziehung zum Haß zerstört den Friedenswillen und den Frieden selbst. Noch schwerwiegender greift in das Recht der freien Religionsausübung ein die von tausenden katholischen Eltern und Kindern leidvoll erfahrene Praxis in der Frage der Jugendweihe. Immer wieder wird erklärt: Die Teilnahme an der Jugendweihe ist freiwillig. Nehmen aber katholische Eltern und Kinder diese Freiwilligkeit in Anspruch, sind sie meist seitens der Schule, der Betriebe, in denen die Eltern arbeiten, oder seitens anderer gesellschaftlicher Institutionen einem solchen moralischen Druck ausgesetzt, daß von Freiwilligkeit nicht mehr die Rede sein kann.
Verehrte Damen und Herren, dies, denke ich, bedarf keines Kommentars.
Für mich wenigstens sagen diese drei Dokumente mehr über die reale Lage der Nation im gespaltenen Deutschland als der dürftige Bericht der Bundesregierung.
({15})
Gegenüber dieser Verhaltenheit, Herr Bundeskanzler, ist doch eine offensive Deutschlandpolitik der DDR zu registrieren. Sie verlangt jetzt von uns - ich mache das ganz konkret -, Salzgitter aufzulösen, die Elblinie neu zu ordnen und in der Staatsangehörigkeitsfrage dem Grundgesetz ade zu sagen.
Weiß eigentlich die Bundesregierung davon nichts, oder - andernfalls - warum verschweigt sie die für die Menschen in der DDR hilfreiche und nützliche Tätigkeit dieser Einrichtung, der Erfassungsstelle für Unrecht drüben durch die Landesjustizverwaltung in Salzgitter? Zahlreiche Deutsche suchen in Salzgitter ihr Recht, melden ihr Recht wenigstens an, das sie in der DDR nicht finden, auf das sie aber als Deutsche - wann auch immer -, als Angehörige unseres Volkes, einen Anspruch haben.
({16})
Dies ist doch ein integrierender Bestandteil des Rechtsschutzes im ganzen Deutschland. Ich hoffe, hier sitzt niemand, dem es nicht schon zu Ohren gekommen ist, daß mancher Funktionär in der DDR sich scheut, Unrecht anzuwenden, weil der denkt: „Das geht nach Salzgitter, kommt dort in die Akten und wird eines Tages zu meiner Strafverfolgung führen."
({17})
Wer Salzgitter abschafft - und ich weiß, warum ich das als erstes hier sage, Herr Bundeskanzler -, vermindert den Rechtsschutz der Menschenrechte im ganzen Deutschland und damit die Menschenrechte selbst.
Das andere, die innerdeutsche Trennlinie an der Elbe, ist doch nach der Rechtslage Deutschlands keine Sache, über die wir zu befinden haben. Hier können wir bestenfalls feststellen, was die Siegermächte verfügt haben. Wer sich hier Rechte anmaßen will, etwas neu zu ordnen, der muß zuerst an Berlin denken, verehrte Damen und Herren. Wir haben hier keinen Handlungsspielraum. Dies soll ganz deutlich gesagt werden.
({18})
Dasselbe gilt in der Frage der Staatsangehörigkeit. Da ist doch nicht nur auf das Grundgesetz hinzuweisen - da stimmen wir Gott sei Dank überein -, sondern es ist darauf hinzuweisen, daß wir mit der DDR wie mit den anderen Ländern nur einen „Modus vivendi" haben. Wer solche Fragen - wie die der Staatsangehörigkeit - lösen will, muß den deutschen Souverän fragen, und das ist das deutsche Volk.
Ich finde Ihren Bericht, Herr Bundeskanzler, den ich über Mittag noch einmal gelesen habe, eben nicht in Ordnung, wenn Sie dieses Unrecht verschweigen, wenn das Selbstbestimmungsrecht da nicht vorkommt, wenn da von Wiedervereinigung, von deutscher Einheit nicht die Rede ist, ja nicht einmal von Menschenrechten, und wenn der HarmelBericht, der zweimal vorkommt, doch etwas verkürzt erscheint. Dies ist ein wichtiges Dokument, dem damals alle zugestimmt haben und, wie ich hoffe, auch heute noch alle zustimmen. Er ist aus der Zeit unserer Regierung. Er enthält das Paar „Abschreckung und Zusammenarbeit", aber Zusammenarbeit nicht einfach als Gespräch um des Gesprächs willen, sondern, wie es dort heißt, „Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können". Ziel von Zusammenarbeit ist also, Spannungsursachen abzubauen. Daran muß man doch erinnern, wenn man Beziehungen aufnehmen und Gespräche führen will, meine Damen und Herren. Da ist jetzt das ganze Zitat in der Debatte.
Was ist nun zu tun, um die Lage zu verbessern? Gewiß, man muß mit der DDR reden, mit Moskau, mit Warschau usw. - da bauen Sie ja wohl keinen Popanz mehr auf, daß wir das nicht wollten -, aber doch bitte reden im Lichte unserer inzwischen gemachten Erfahrungen. Die Erklärung von Ihnen, Herr Bundeskanzler, bereit zu sein zur Reise in die DDR, auch ohne ein Ergebnis in der Sache Zwangsumtausch, ist doch nicht im Lichte unserer Erfahrungen gesprochen.
({19})
Wir dürfen doch nicht wieder, wie ich das hier einmal genannt habe, Kasse gegen Hoffnung machen. Das hat doch alles nur Sinn bei Leistung und Gegenleistung. Ich habe hier jetzt nicht von formalisierten, gar öffentlichen Vorbedingungen gesprochen.
({20})
- Herr Wehner, ich freue mich auf Ihren Diskussionsbeitrag hier. Sie werden das, was Sie mir eben zugerufen haben, nicht beweisen können.
({21})
Ich möchte zu Inhalt und Methode dieser innerdeutschen Probleme an die Stufenpläne erinnern, die wir hier ausgebreitet haben. Der Kanzler kennt sie doch. Bei der Autobahn Berlin-Hamburg und zurück wollen wir z. B. wissen, bevor wir zahlen: Wer soll eigentlich darauf fahren,
({22})
und in welcher Richtung soll dort gefahren werden? Dann wollen wir die Beträge in Tranchen aufteilen. Die Tranche Nr. 2 gibt es, wenn die Zusagen für Nr. 1 erfüllt sind. Das ist ein Stufenplan, verehrte Damen und Herren.
({23})
Dann heißt es, von deutschem Boden dürfe kein Krieg mehr ausgehen. Gut so! Nur, verehrte Damen und Herren, er geht doch aus. Zwar nicht hier, aber überall in der Welt ist die DDR im Interesse Moskaus und des Weltkommunismus gewaltsam tätig und rühmt sich dessen auch noch. Die Regierung kennt das, sagt aber heute kein Wort dazu. Verehrte Damen und Herren, wen wundert es da, daß sich z. B. Afrikaner enttäuscht abwenden und dies auch in Bonn erklären?
Dann haben Sie kürzlich, wie mit einer Siegesfanfare, einen erneuten Besuch des Herrn Breschnew in Bonn angekündigt. Herr Bundeskanzler, der Präsident der USA, Reagan, will da erst sprechen, wenn er vorher weiß, was dabei wann herauskommen soll. Er will nicht sprechen, solange die Realität in Afghanistan und Polen nicht durch die Sowjetunion verbessert ist. Hier aber soll nun der dritte Besuch in acht Jahren ins Haus stehen. Käme bei all dem mehr für Deutschland und die Deutschen heraus, dann könnte es meinetwegen schon ein Dutzend sein, aber das ist ja leider nicht der Fall. Ich habe einen schlechten Geschmack auf der Zunge, daß hier durch die Quantität, durch die Häufigkeit der Besuche, diese Quantität in Qualität umschlägt und Fragezeichen in bezug auf die Qualität unserer internationalen Einordnung und Politik entstehen können, verehrte Damen und Herren.
({24})
Ich kann mir wenigstens nicht vorstellen, daß dieser Besuch stattfindet - mit dem Blick auf den Vorrang, wie ich hoffe, der westlichen Solidarität, mit dem Blick auf die Verletzung des Moskauer Vertrages durch den Krieg in Afghanistan - ich kann mir nicht vorstellen, daß er stattfindet, falls Drohung und Gewalt gegen Polen anhalten und ansteigen, falls der Krieg in Afghanistan andauert.
Bevor wir über neue vertrauensbildende Maßnahmen diskutieren, würde ich gerne erst einmal sehen, daß die Sowjetunion ihre vertrauensverletzenden Maßnahmen einstellt.
({25})
Wenn deutsche Ostpolitik mehr sein soll als das Hinnehmen kommunistischer Westpolitik, wenn sie weiterkommen will, muß zuerst die Rechnung im Westen aufgehen. Wir wiegen in Moskau so viel, wie wir im Westen, im Bündnis und in der Gemeinschaft vornehmlich, gelten. Da ist vieles im argen: Im Bündnis fragt man nach der Verläßlichkeit des deutschen Partners. Die Gemeinschaft ist in einer Krise, nicht durch unsere Schuld. Wegen der Streichungen in unserem Verteidigungshaushalt drohen europäische Kooperationsprojekte Schaden zu nehmen. Frankreich zeigt das Ende der Zusammenarbeit in Fragen der friedlichen Verwendung der Kernenergie an, weil es bei uns zu einem abredewidrigen Defacto-Stopp des Ausbaus gekommen sei.
Im Westen hört und liest man die immer häufigeren Warnungen des Herrn Vizekanzlers; das ist der Bundesminister des Auswärtigen. Ich nehme nur diese eine aus der Debatte vom vorigen Mittwoch, einen Satz nur:
Unser Platz ist an der Seite des Westens und im Westen, aber nicht gleich weit entfernt von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten.
Wenn das jemand im Westen liest, fragt man sich, nachdem man das monatelang hört: Warum sagt der Bundesaußenminister das dauernd? Das sagt er nicht gegen Sie, Herr Kohl, das sagt er nicht gegen Herrn Strauß, das sagt er gegen keinen von uns, das sagt er auch nicht gegen Mitglieder seiner Partei. Wen meinen Sie, Herr Bundesaußenminister? Es kann sich doch nur um Ihren Koalitionspartner handeln.
({26})
Ihre Sätze, Herr Bundeskanzler, liegen einfach auf dem Tisch. Ich habe sie öfter zitiert, über „Brükkenfunktion", Kölner Parteitag, Ihre Sätze nach Ihrem Triumph in Nordrhein-Westfalen erst im vorigen Jahr, „ausgleichend zwischen Ost und West zu wirken". Das sind doch diese Zwischengeschichten. Da würde es sehr kalt und sehr einsam und sehr gefährlich, wenn wir uns zwischen die Stühle setzen würden.
({27})
Herr Bundeskanzler, wenn ich nun Ihr langes und - Sie verzeihen, ich finde - etwas säuerliches Interview in der „Süddeutschen Zeitung" ansehe und da Ihre Worte finde - ich zitiere:
Wenn es etwa in diesem Jahr nicht zu Verhandlungen käme, würde es nicht nur innenpolitisch für mich schwieriger werden, es würden dann auch Schwierigkeiten im Verhältnis zur Regierung der Vereinigten Staaten eintreten. Aber ich sehe das nicht so kommen.
Herr Bundeskanzler, das muß wohl heißen: innerparteilich.
({28})
Hier stellt sich doch nun die Frage: Ist Ihre Außen-, Verteidigungs- und Deutschlandpolitik also weitgehend eine Folge des Zustands Ihrer Partei, zumal Sie nach diesem Interview - das steht da ja - gegen einen Teil Ihrer Partei regieren?
Verehrte Damen und Herren! So gehört zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland 1981 die Lage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1981.
({29})
Ich gucke jetzt einmal den Kollegen Wehner und auch die älteren Mitstreiter in diesem Hause an. Herr Kollege Wehner, ich finde, Parteien sind Nachbarn. Ich sage das ohne Häme: Es gab eine Situation 1966, an die wir uns beide sehr gut erinnern. Damals waren, ehrlich gesgt, wir nicht in der besten Form unserer Zeit in diesem Hause. Da trat der Kollege Wehner hier auf und hielt eine Rede an uns, sehr ernst, nannte einige Namen - Sie kennen die Rede genau - und redete uns ins Gewissen. Darin kam der Satz vor, Herr Kollege Wehner - ungefähr so, wie ich mich erinnere -: „Sie müssen aufpassen, daß Sie nicht Ihre Krise auf den Staat übertragen."
Wir haben das ganz ernst gehört. Ich habe das damals nicht polemisch zurückgewiesen. Und was machen Sie heute, Herr Kollege Wehner? Sie übertragen die Krise Ihrer Partei auf den Staat.
({30})
Wenn heute, meine verehrte Kolleginnen und Kollegen, Wohnungen nicht gebaut, Investitionshemmnisse nicht beseitigt, energiepolitische Erpreßbarkeit produziert, so - zusätzlich - Arbeitslosigkeit und Finanzschwäche im System unserer sozialen Sicherheit bewirkt, soziale Sicherheit morgen finanziell in Frage gestellt, außenpolitische Verläßlichkeit und Berechenbarkeit sowie unser Handlungsspielraum wegen der galoppierenden Haushaltsprobleme verengt werden, so ist das alles kein uns vom Himmel auferlegtes Ereignis zur Prüfung unserer Leidensfähigkeit, sondern die Folge der weitgehenden bundespolitischen Handlungs- und Regierungsunfähigkeit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
({31})
Ich habe hier, bevor sich jemand aufregt, den Originalton Wehner; aber ich verzichte darauf.
Hier unterbleibt das Nötige wie das Mögliche. Die deutsche Politik schrumpft zusammen zu dem der Koalition Möglichen, korrekter: zu dem der Hauptregierungspartei Möglichen.
({32})
Das ist zuwenig für Deutschland, meine Damen, meine Herren.
({33})
Ich leugne nicht, Herr Bundeskanzler, daß wir auf Grund der außenwirtschaftlichen Situation Schwierigkeiten haben; wer wollte das übersehen? Aber wenn hier Wohnungen nicht gebaut werden, hat das nichts mit der OPEC zu tun. Nötige und mögliche Entscheidungen werden vertagt: Wohnungsbau, Kernenergie, Abbau von Investitionshemmnissen. Frühere Entscheidungen werden zerredet und zerzweifelt, z. B. was Nachrüstung und Waffenexport angeht.
Ihr neues ökonomisches Programm - im Ausland Geld pumpen und hier dann den Zins verbilligen - offenbart, daß der Haushalt nichts mehr hergibt, daß Sie am Parlament vorbei zum Schattenhaushalt als Strohhalm greifen, daß Sie steuerliche Anreize weder wollen noch geben zu können glauben, vor allem daß Sie sich außerstande sehen, das Vernünftige, z. B. das, was Graf Lambsdorff im Jahreswirtschaftsbericht und in seiner Rede dazu hier gesagt hat, zu tun. Was Sie vorlegen, ist eine Ausflucht, aber nicht ein neuer Anfang. Wer so regiert, verehrte Damen und Herren, verschlimmert die Lage der Nation.
Meine Damen und Herren, ich möchte gern noch etwas zur Situation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sagen. Wir sind nach dem Krieg eine neue und junge Partei gewesen. Wir haben damals auf Sie geguckt und gefragt: Wie machen die das eigentlich? Dann haben wir Lassalle gefunden: Ein Problem erst lernen, dann begreifen, dann diskutieren, dann entscheiden - mit Mehrheit entscheiden -, dann aber handeln, und zwar möglichst einmütig handeln. So haben wir es gelernt. Das ist die Identität der deutschen Sozialdemokratie in der deutschen Geschichte. Diese Identität, Herr Kollege Wehner, schulden Sie diesem freiheitlichen Rechtsstaat. Das ist doch auseinandergelaufen.
Ich könnte jetzt Carlo Schmid von einem Parteitag zitieren. Aber ich habe mich hier mit meinen Zetteln vertan. Immerhin habe ich das Zitat dabei; ich gebe es Ihnen gern nachher. Er sagte, das Wesentliche dieser Partei sei, daß sie nach einer buntscheckigen Diskussion und Entscheidung dann miteinander handelt. - Diese Fähigkeit haben Sie verloren.
Wir haben nach dem Grundgesetz die Aufgabe, an der Willensbildung mitzuwirken. Wer Willen bilden soll, muß einen haben.
({34})
Meine Damen und Herren, dann lese ich, wie sich Ihr neuer Bundesgeschäftsführer, der verehrte frühere Kollege Glotz, rühmt, daß in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Optionen dafür und dagegen zugleich möglich seien. Verehrte Damen und Herren, das kann nicht sein! Wenn man in der Phase des Handelns ist - z. B. beim NATO-Beschluß -, dann kann man das, was man einmal beschlossen hat, doch nicht wieder in Frage stellen. Wer soll sich international sonst darauf verlassen? Wo kommen wir eigentlich hin, wenn man die Option dafür mit der Option dagegen verbindet? Dann wird doch das Offenhalten der Optionen an und für sich zur politischen Tugend. Das aber hat mit politischem Handeln nichts mehr zu tun. Das ist der Weg, auf dem man sich, wenn man fair ist, freiwillig in die Opposition begibt, Herr Kollege Wehner.
({35})
Meine Damen und Herren, ich schulde an dieser Stelle dem Bundeskanzler noch ein Wort, weil ich mich, als er in der letzten Woche am Mittwoch sprach, für meine Verhältnisse hier sehr erregt habe. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen da über die vier Minister Ihrer Regierung, die Sie wieder eingebunden hätten. Da habe ich Ihnen nach dem Proto1584
koll zugerufen: „Verbalakrobatik!" und: „Zwei Wahrheiten auf einmal!". Wenn ich mich bei der Durchsicht der Unterlagen vergaloppiert hätte, würde ich mich nicht scheuen, mich zu entschuldigen. Aber ich sehe keinen Anlaß dazu.
Die entscheidende Passage im Beschluß des Landesvorstands der SPD von Baden-Württemberg, dem die vier Herren zugestimmt haben, zitiere ich nach dem „Sozialdemokratischen Pressedienst" vom 24. März, Seite 9:
Ein zeitlich begrenztes Moratorium bezüglich der Stationierung eurostrategischer Waffen kann ein sinnvoller Bestandteil dieser Verhandlungen sein.
Der NATO-Beschluß vom 12. Dezember 1979 lautet nach dem Bulletin - ich zitiere -:
Der TNF-Bedarf der NATO wird im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft werden.
Wenn ich Deutsch kann und den Bundesaußenminister bisher richtig verstanden habe, dann sind dies zwei fundamental verschiedene Welten. Dann kann man nicht in Stuttgart für das eine und hier in Bonn für das andere sein. „Hier stehe ich, ich kann auch anders" - das ist keine Politik, meine Damen und Herren!
({36})
Herr Kollege Ronneburger, ich glaube, daß Sie heute eine ganz bemerkenswerte Rede gehalten haben. Sie sollten wirklich nicht versuchen, den Kollegen Zimmermann mißzuinterpretieren. Wenn Sie einen Vorwand, einen Popanz brauchen, um Ihren Wählern Ihre Koalitionsrealität weiter verkünden zu können, dann nehmen Sie bitte nicht diesen Teil der Politik. Denn das, was der Kollege Kohl für uns alle gesagt hat, gilt weiter. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Wir sagen nicht nur „pacta sunt servanda". Wir sind nicht bereit, diese Verträge, Ostverträge, unter der Überschrift „pacta sunt servanda" zum Verstauben in eine Schublade zu legen. Diese Verträge sind für uns alle, wenn sich die Seiten ändern werden, Instrumente der deutschen Politik. Legen Sie hier bitte nicht irgend etwas hinein, was nicht stimmt. Herr Kollege Ronneburger, ich wollte dies sagen. ({37})
Meine Damen und Herren, wir alle erleben - ich finde das erregend und habe das in anderen Debatten ja schon angedeutet - die Grenzen äußerer Gewalt und allein materieller Macht. Wir haben das in Persien und in Polen erlebt, und ich bin sicher, die deutsche Geschichte wird den Tag kennen, an dem wir das in Deutschland erleben.
Ich habe hier früher in anderen Zusammenhängen davon gesprochen, daß man, obzwar groß, mächtig und stark, bei vollen Taschen gleichwohl mit leeren Händen dastehen könne. Ich habe von hier aus früher - das ist ja aufgegriffen worden - das christlich-jüdisch-islamische Gespräch angeregt. Die Dimension Geist hält also wieder Einzug in die Politik, und sie wird - dessen bin ich sicher - Deutschland auf Dauer nicht aussparen.
Wieder wird sie die Frage herausfordern: Warum leben wir in Deutschland gegen unseren Willen in Dresden anders als in Köln? Warum dürfen wir als Volk nicht vereint in einem Staat, in dem wir selbst bestimmen, zusammenleben? Niemand hier und niemand draußen täusche sich: Die Frage lebt, und sie wird wirken. Sie kann man behindern, sie kann man verdrängen, sie kann man aber nicht erschießen. Auch die nächste Generation erfüllt diese Frage wie die Sehnsucht nach der Antwort. Ich bin sicher, daß sich die nationale Frage Gehör verschaffen und eine Antwort finden wird.
Dann wird man zurückfragen, was die Verantwortlichen - zum Beispiel 1981 - getan und gewollt haben, um die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu mildern, zu verbessern, zu überwinden. Sicherlich ziemt uns eine Politik frei von Gewalt, voll von Friedfertigkeit und Geduld, aber ebenso eine Politik, die uns im Gewissen auf die Verantwortung für alle Deutschen festlegt.
In dieser Dimension von Geist und Geschichte und Gewissen erscheinen mir Politik und Bericht der Bundesregierung - Verzeihung! - erbärmlich.
Herr Bundeskanzler, Sie schrieben früher und reden heute gern vom Gleichgewicht als der Voraussetzung des Friedens. Dazu gehört jetzt und mehr noch in der Zukunft: Geist und Religion und Wille zur Selbstverwirklichung erweisen sich zunehmend als wirkkräftige Faktoren des internationalen Lebens. Die Dimension Geist hat - wie gesagt - die Weltpolitik deutlich erfaßt. Aus diesem Grunde sollte man mit Konsequenz erkennen, daß das Modewort „Gleichgewicht" keine feste, statische, allein materielle Größe aus Militär- plus Wirtschaftskraft ist, auch keine Größe, die man einmal für immer festlegen kann. Zum Gleichgewicht gehören heute auch Sozialordnung und moralische Verfassung der Völker, Überzeugungen und die Kraft immaterieller Werte, kulturelle Entfaltung und - nicht zu vergessen - politischer Wille, der keine weißen Flecken offenläßt.
({38})
So gehört zu unserer Ost-Politik und zu diesem sogenannten Gleichgewicht unser fortdauernd erkennbarer Wille auf Menschenrechte für alle Deutschen.
({39})
Der gegenteilige Wille ist ohnehin vorhanden; das haben wir unlängst von Herrn Honecker wieder gehört. Bleibt dieser Wille aus Bonn auf Dauer - ich formuliere vorsichtig - kaum wahrnehmbar - es tut mir leid, aber das ist mein Eindruck seit zehn Jahren -, so stört diese folgenschwere Unterlassung auch das Gleichgewicht zwischen Ost und West. Koexistenz ist nach Meinung von Kommunisten zugleich Zusammenarbeit und Kampf. Wer im Westen bestehen will, darf sich nicht nur auf Zusammenarbeit beschränken; sonst wird er verlieren.
Die Unterlassung, die ich Ihnen eben vorgeworfen habe, zerstört zugleich unsere Glaubwürdigkeit nach draußen; denn niemand in aller Welt nimmt uns ab, daß wir nun etwa aufgegeben hätten, wo der
Gedanke der Selbstverwirklichung eine ganz neue, positive Runde um die Welt macht. Man vermutet, wir betrieben - oder hätten es wenigstens vor - ganz finstere Dinge im Geheimen. Das ist nicht so, wie ich weiß. Aber wir müssen von dieser Frage wieder reden, wenn man uns draußen glauben soll. Das gehört auch zur Moral zu Hause, Herr Bundeskanzler.
Damit komme ich wieder zu dem, was ich eingangs sagte: Wenn die amtliche Politik weder von der Bedrohung durch die Kommunisten noch von der wirklichen Lage der Deutschen in der DDR spricht, wenn Kommunisten hierzulande voll ins Geschirr gehen - subversiv, ideologisch, agitatorisch, demonstrierend -, dann erscheint jungen Menschen hierzulande, die unsere Erfahrungen Gott sei Dank doch nicht mehr haben - es tut mir leid, das überzeichnet sagen zu müssen - die Bundeswehr eben vielleicht eher als eine Einrichtung zum Nutzen vorwiegend von Politikern, Admiralen und Generalen statt das, was sie wirklich ist, nämlich die notwendige Anstrengung, um hier mit der sozialen Alltagswirksamkeit der Freiheit die Möglichkeit zu Kritik und Reform zu erhalten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koaliton, wenn man Kommunisten zu „kritischen Demokraten" befördert, um sie dann als Lehrer einzustellen, darf man sich nach geraumer Zeit doch weder wundern noch gar öffentlich entrüsten, daß junge Menschen nun lauthals dem Paradox des „aggressiven Pazifismus" anhängen, den Wehrdienst also verweigern und wegen Kernenergie zuschlagen.
Dieser Tage legen Schriftsteller der freien Welt - ich gebrauche dieses Wort, weil es sie gibt - einen Aufruf vor. Darin heißt es - ich zitiere das zustimmend -:
... sind wir der Überzeugung, daß der Kampf für die Freiheit nicht auf dem Schlachtfeld verloren oder gewonnen wird, sondern in Büchern, Zeitungen, in den Massenmedien und im Schulzimmer sowie in allen öffentlichen Institutionen, wo der Wille, frei zu bleiben, gefestigt oder geschwächt wird.
In Ihrem lesenswerten Interview in den „Evangelischen Kommentaren" haben Sie, Herr Bundeskanzler, nicht nur die bedauerliche völlige Fehlanzeige im Verständnis von Theologie und Kirche angemeldet, sondern Sie haben dort beherzigenswerte Sätze gesagt. Zwei davon will ich zitieren. Der eine lautet:
Man muß in der Tat von den Regierenden Orientierung erwarten, ...
({40})
Ich habe sie heute nicht vernommen oder vielleicht vergeblich gesucht, Herr Bundeskanzler.
({41})
Der andere Satz aus diesem Interview lautet:
Na sicher, reden kann jeder Politiker, aber man
muß das auch fertigbringen, wovon man redet.
So Ihr Wort, und so ist es, Herr Bundeskanzler. Ich
frage Sie - ich tue das ganz verhalten -: Werden
Sie, Herr Bundeskanzler, etwa nach diesem richtigen und selbst gewählten Maßstab scheitern, weil Sie die Rücksicht auf in die praktische Politik verirrte Resolutionäre ernster nahmen, als das für Deutschland jetzt Mögliche und Nötige zu sagen, zu wollen und durchzusetzen?
({42})
Ich sehe die rote Lampe aufleuchten; also möchte ich mit diesen Sätzen zum Schluß kommen.
({43})
- Das finde ich aber ganz liebenswert. Wissen Sie, zur Tugend der Demokratie gehört, einander zu ertragen. Was meinen Sie, wie schwer es mir heute fiel, eine Rede von 60 Minuten zu ertragen, in der nichts von der realen Lage der Nation im gespaltenen Deutschland enthalten war.
({44})
Wir haben hier j a manche Debatte geführt, seit Sie Bundeskanzler sind, früher auch in verschiedenen Funktionen und Positionen. Ich möchte gern aus der Debatte, die wir über Ihre erste Regierungserklärung am 20. Mai 1974 hatten, dies in Erinnerung rufen:
In unserem demokratischen Gemeinwesen muß nicht nur die Kasse stimmen, so wichtig die Kasse ist!
Sie reden vom Machbaren und vom Möglichen, ohne zu sagen, möglich wozu und machbar warum. Sie reden nirgendwo von einer Perspektive, von einer Konzeption, vom Sinngehalt von Einschränkungen und Opfern - zu all dem - warum Verzicht, wofür - kommt kein Wort. Kein kulturrelevantes Wort kommt in Ihrer Regierungserklärung über Ihre Lippen. Und der Stabilitätsbegriff schrumpft auf den rein materiellen Stabilitätsbegriff zusammen ...
Ich hatte eigentlich ... vom ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der wie ich zur Kriegsgeneration gehört, etwas mehr erwartet: ein Wort zu den geistigen Spannungen dieser Zeit, zu unseren Erfahrungen, zu dem, was wir jungen Menschen hier und in der DDR über den Vorrang von Menschlichkeit vor jeder Politik zu sagen haben. Denn wir haben doch miteinander gelernt, daß einer der Punkte, an denen es mit der ersten Republik nicht so gut ist, die leider berechtigte Mahnung von Max Scheler aus dem Jahre 1925 war, wo er vom „konstitutiven Gegensatz von Macht und Geist"
- in Deutschland sprach. Herr Bundeskanzler, ich glaube, hier müssen Sie noch etwas nachholen.
Ich stelle heute fest: Sie haben das nicht vermocht, Sie haben das in sieben Jahren nicht vermocht. Ich sage deshalb: Es tut mir leid, die deutsche Nation hat Anspruch, bei diesem historischen Tagesordnungspunkt ernster genommen und mit Qualität wie mit Perspektiven bedient zu werden.
({45})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von Herrn Kollegen Barzel gebrauchte bittere Vokabel zur Kennzeichnung der Regierungserklärung will ich ihm nicht im Blick auf seine Rede zurückgeben. Doch reizt die Rede, aber ich will mich angesichts unseres Themas hier nicht reizen lassen.
({0})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, daß ich bei diesem Stand der Debatte einige zusammenfassende Bemerkungen aus der Sicht der Freien Demokratischen Partei mache.
({1})
Das geschieht in der Hoffnung, daß in diesem Hause doch noch so etwas wie ein Konsens in der Lebensfrage der Nation vorhanden ist. Ich bin immer noch davon überzeugt, daß von übereinstimmender Auffassung quer durch alle Parteien mehr vorhanden ist, als es in den Redebeiträgen des Kollegen Barzel und des Kollegen Zimmermann deutlich geworden ist.
({2})
Herr Barzel, wer DDR-Positionen wie jene zur Staatsangehörigkeit, Elbgrenze und Salzgitter in die Debatte einführt, der zeigt doch, daß er nur das Show-Geschäft liebt.
({3})
- Herr Sauer, hören Sie gut zu: Die DDR-Führung nennt diese Themen immer nur dann, wenn sie sich selbst für verhandlungsunfähig hält,
({4})
weil sie weiß, daß über diese Themen nicht diskutiert wird, denn sie kennt die klare und eindeutige Position der Bundesregierung.
({5})
Der Kollege Zimmermann sendet offenbar auf derselben Wellenlänge und für das Kontrastprogramm der Opposition. Für die realen Fortschritte in der Deutschlandpolitik ist der Kollege von Weizsäkker zuständig. Er hat diese Position in Berlin ja auch bitter nötig. Die Bestandsaufnahme, zu der wir uns doch wohl mit einer Verpflichtung nicht gegenüber unseren Parteien, sondern gegenüber der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten immer wieder zusammenfinden, muß aber mehr sein, als ein bereitwillig aufgegriffenes Wahlkampfthema. Das gilt auch für Berlin. Dabei wird von mir durchaus nicht verkannt, daß Erfolg oder Mißerfolg der Deutschlandpolitik in Berlin am deutlichsten zu spüren sind. Das war in der Vergangenheit der Fall und das wird auch in der Zukunft so sein.
Wir sollten auch nicht vergessen, daß 1963 die sozialliberale Koalition mit dem Passierscheinabkommen in Berlin die Tür zur Vertragspolitik aufgestoßen hat,
({6})
einer Politik, die den Berlinern unbestreitbare Erleichterungen und Verbesserungen gebracht hat. Es wäre aber nicht nur für die Berliner, sondern für alle Deutschen gut, wenn die Vertragspolitik bewahrt und fortgeführt werden könnte. Deshalb ist es dringlich, sich endlich zwischen den Parteien auf Grundsätze für eine gemeinsame nationale Position zu einigen.
Dabei sollte inzwischen für alle Parteien die Feststellung zum Allgemeingut gehören, daß sich eine erfolgversprechende Deutschlandpolitik nur innerhalb jenes Koordinatensystems bewegen kann, das durch die europäischen und weltpolitischen Fakten vorgegeben ist. Zu den Rahmenbedingungen gehört ebenso die Einbindung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Bündnisse. Weiterhin haben die Abmachungen Gewicht gewonnen, die in den 70er Jahren zwischen Ost und West zustande gekommen und in den die Blöcke übergreifenden KSZE-Prozeß eingemündet sind. Speziell gilt dies für die vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Staaten des Warschauer Pakts, angefangen bei Moskau, über Warschau und Prag bis hin zu Ost-Berlin
Entscheidend aber bleibt, daß vor allem die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen Spielraum und Entfaltungsmöglichkeiten der deutsch-deutschen Politik bestimmen. Im Klartext: Wir können uns keinen innerdeutschen Sonnenschein erhoffen, wenn zwischen den Machtblöcken oder innerhalb eines Blocks - wie jetzt in Polen - dunkle Wolken aufziehen. Bei Blitz und Donner werden wir im geteilten Deutschland immer zuerst im Regen stehen.
({7})
Dennoch gibt es so etwas wie ein besonderes deutsch-deutsches Verhältnis. Diese besondere Lage stand ja auch unübersehbar am Anfang der Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition. Sie fand in der Politik der kleinen Schritte, im Ringen um Verständigung und Zusammenarbeit ihre allmähliche Bestätigung in der Praxis. Daß dieses besondere deutsch-deutsche Verhältnis existiert, hat erst vor wenigen Wochen der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker selbst anerkannt, als er vor der Ost-Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz über die Möglichkeiten und Bedingungen einer „Vereinigung beider deutschen Staaten" nachdachte. Ich will diese Frage in der Sache hier nicht vertiefen, allerdings auch nicht verschweigen, daß wir der Wiedervereinigungsidee unter sozialistischen Vorzeichen bereitwillig und ohne Verlegenheit unser demokratisches Modell als - wie wir meinen - bessere Alternative entgegenstellen.
({8})
Aber es ist nicht der doch mehr akademisch anmutende Disput über Formen und Konstruktionen künftiger deutscher Gemeinsamkeiten, der mir in diesem Augenblick besonders aufregend erscheint,
sondern es ist vielmehr der erstaunliche Umstand, daß sich Honecker jetzt nach so vielen Jahren des Verschweigens dieser Problematik auf dieses Thema wieder eingelassen hat. Es empfiehlt sich nicht, außergewöhnliche Erwartungen daran zu knüpfen; doch werden immerhin Verbindungsstränge und - wenn man so will - auch Elemente der Kontinuität in der DDR-Politik sichtbar.
Aus gutem Grund hat, wie mir scheint, der Herr Bundeskanzler die Ausführungen Walter Ulbrichts auf dem IV. SED-Parteitag im Jahre 1954 heute in seiner Regierungserklärung zitiert. Wenn ich dieses Zitat, in dem die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit bezeichnet wird, noch einmal aufgreife, dann geht es mir nicht darum, Hoffnungen auf deutsch-deutsche Sondertouren zu nähren. Ich meine allerdings, daß mit dieser Erklärung Beziehungen sehr eigener Art, wie sie zwischen den beiden deutschen Staaten tatsächlich bestehen, beschrieben werden, Besonderheiten, die auch nicht durch die gegenüber den Supermächten bestehenden Abhängigkeiten aus der Welt geschafft werden konnten. Allerdings ist der deutsch-deutsche Spielraum nur gradueller Natur. Eine substantiell andere Qualität ist schon deshalb nicht zu erreichen, weil die Breschnew-Doktrin für die DDR enge Grenzen setzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die internationale Lage ist, wie wir ja jeden Tag spüren, derzeit voller Spannungen und Ungewißheiten. Sie ist voller Versuche der Neuorientierung, und sie ist mitten in machtpolitischen Klärungsprozessen. Deshalb muß im Augenblick unser Augenmerk, muß unsere politische Kraft vor allem darauf konzentriert werden, das Erreichte in der Deuschlandpolitik zu bewahren und zu stabilisieren. Konkret heißt das: immer verständigungsbereit, gesprächsbereit und verhandlungsbereit sein. Wir haben uns im Interesse der Menschen mit aller Kraft darum zu bemühen, durch Gespräche mit der DDR-Führung die von ihr einseitig errichteten Hürden allmählich wieder abzubauen. Der erhöhte Zwangsumtausch ist das markanteste Beispiel. Wenn auch die DDR-Führung diesen Anschlag auf den Bereich der menschlichen Kontakte penetrant mit finanzpolitischen Argumenten zu kaschieren versucht, so weiß sie in Wirklichkeit doch sehr genau, daß sie mit dieser Maßnahme politisch überreizt hat. Aber die von uns nicht zu akzeptierende Erschwernis des Besuchsverkehrs erfüllt doch ganz offensichtlich eine Funktion, die sich der rein deutsch-deutschen Behandlung entzieht. Die DDR-Führung wird sich erst dann wieder bewegungsfähig zeigen, wenn die polnischen Erschütterungen abgeklungen sind und die von ihnen ausgehenden Verkrampfungen, Erstarrungen und Abschottungen von ihr nicht mehr als erstes Gebot der Existenzsicherung des Systems betrachtet werden.
Die Krise in Polen geht an die Wurzeln des Selbstverständnisses und vor allem der Selbstsicherheit der kommunistischen Staaten. Dies objektiv festzustellen heißt nicht, auf eine um sich greifende Destabilisierung zu hoffen. Ein Ausbreiten der Beben
wäre vielmehr für das vernunftorientierte Reden und Handeln über die deutsch-deutschen Grenzen hinweg auf unabsehbare Zeit störend und würde es behindern, wenn nicht unmöglich machen. Das Erreichte in der Deutschlandpolitik zu stabilisieren heißt deshalb auch, durch kluges Verhalten und ohne den Versuch der inneren Einmischung den Menschen in Polen dabei zu helfen, ihre wirtschaftlichen Probleme und ihre Versorgungsnöte zu lösen.
({9})
Jedweder Versuch des Hineinredens oder des Hineinregierens verbietet sich vom Westen wie vom Osten.
({10})
Achtung der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts haben sich 35 Staaten Ost- und Westeuropas, die USA und Kanada durch die Unterschrift ihrer Staats- und Regierungschefs unter das Schlußdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gegenseitig zugesichert, ebenso die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Wer an dieser Verpflichtung rüttelt, zieht sich als vertrauenswürdiger Gesprächs- und Verhandlungspartner selbst aus dem Verkehr.
({11})
Meine Damen und Herren, verändert sich die Lage in Polen, verändert sich die Welt. Wir müssen deshalb alles in unseren Kräften Stehende tun, um durch eine den Frieden sichernde Politik die Voraussetzungen für eine Fortentwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen zu verbessern. Dazu gehört in erster Linie unser Engagement in der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik. Nur wenn auf diesem Gebiet in Richtung neuer Gesprächs- und endlich auch einer praktischen Kompromißbereitschaft Bewegung einsetzt, ist ein militärisches Gleichgewicht in Ost und West auf möglichst niedrigem Niveau überhaupt erreichbar.
({12})
Nur dann entgehen wir einer Eskalation der Spannung und der Konfrontation. Niemand in Europa würde darunter mehr als die Deutschen leiden.
({13})
Keine Nation sonst ist deshalb zur Wahrung ihrer Einheit so sehr auf strikt vernunftorientierte Politik wie wir angewiesen. Deutschlandpolitik versteht sich aus der Sicht der Freien Demokraten immer zugleich als Friedens- und Entspannungspolitik, und dies wird für uns eine nie endende Aufgabe sein. Sie muß gerade dann geleistet werden, wenn die Verständigung zwischen Ost und West Gefahr läuft zu versanden oder gar in einen atomaren Rüstungswettlauf umzuschlagen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist gewiß keine Großmacht; sie hat aber durch ihre Politik der Verläßlichkeit und der hohen Leistungsfähigkeit im westlichen Bündnis sowie ihre Dialogbereitschaft
und faire Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas so viel an Gewicht gewonnen, daß sie zur Überwindung der Gesprächsstörungen und der Klimaverschlechterung wirksame Hilfe leisten kann.
Außenminister Genscher hat in den letzten Tagen und Wochen die konstruktive Politik der Bundesregierung in Washington und Moskau mit Erfolg deutlich gemacht.
({14})
Mehr noch, er hat mitgeholfen, einen Klärungsprozeß in Gang zu bringen, der es erleichtern soll, aus dem Stadium der Mutmaßungen und Irritation zwischen Ost und West in eine Phase der konkreten Gespräche über die Herstellung eines militärischen Gleichgewichts zu gelangen.
Diese Unternehmung war nur möglich - und sie ist überhaupt nur erfolgversprechend -, weil die Position der Regierung Schmidt/Genscher eindeutig und kalkulierbar ist für West und Ost. Das geradlinige Einstehen für den NATO-Doppelbeschluß war und bleibt die Voraussetzung für jeden Versuch, der Überrüstung der Sowjetunion im Bereich der nuklearen Mittelstreckenraketen zu Leibe zu rücken.
({15})
Wir haben uns auf eine langwierige und mühsame Prozedur gefaßt zu machen. Es ist dies sozusagen eine Jahrhundertaufgabe. Sie wird aber nur zu bewältigen sein, wenn von beiden Seiten viel Vernunft und genauso viel Disziplin in diesen Prozeß eingebracht werden.
Meine Damen und Herren, mit einem einseitigen Vertrauensvorschuß, wie er dem Gefühlsbereich einiger durchaus wohlmeinender Parteimitglieder und auch engagierter Christen entspringen mag, wäre dabei nichts gewonnen.
({16})
Sehnsüchte und Spekulationen haben in der Politik noch nie als tragende Elemente weitergeführt. Wer politische Verantwortung trägt, muß sein Handeln an den Fakten ausrichten.
({17})
Die derzeit bekannten Fakten lassen nicht den Schluß zu, daß guter Wille und freundliche Appelle an die Sowjetunion allein ausreichen, das dramatische Ungleichgewicht im eurostrategischen Bereich zu beseitigen.
({18})
Um unserer Sicherheit und unserer Glaubwürdigkeit willen müssen wir weiterhin innerhalb der NATO und von dort aus gegenüber dem Warschauer Pakt die Gleichgewichtigkeit beider Positionen des NATO-Beschlusses vertreten. Ich unterstreiche, daß wir der festen Überzeugung sind, nur auf diesem Wege zu einer Parität im Mittelstreckenbereich und dadurch auch zu einem Abbau von Mißtrauen zwischen den Machtblöcken zu gelangen. Diese Sisyphusarbeit muß geleistet werden. Ohne sie wird sich die Atmosphäre nicht reinigen. Wir müssen aufpassen, daß unsere Freiheit auch auf diesem Feld durch eine mit Waffen verseuchte Atmosphäre, wie sie vom Ostblock erzeugt wurde, keinen Schaden nimmt.
({19})
Jeder Schritt, den West und Ost hier vorankommen, wird Anschlußschritte auch zwischen den beiden deutschen Staaten möglich machen. Diese Politik des praktischen Abbaus von Spannungen und rüstungspolitischer Gigantomanie wird die Chance eröffnen, auf dem Felde der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und auch der wissenschaftlichen und technologischen Kooperation bislang noch anderweitig gebundene Kräfte zum Nutzen der Menschen frei zu machen und einzusetzen.
({20})
Zu dieser Politik der Verständigung, der Verhandlungen und des fairen Interessenausgleichs sind und bleiben um der Bewahrung der Einheit der Nation willen die Deutschen verurteilt. Es gibt kein wichtigeres Ziel, als die Friedensfähigkeit zu erhalten. Wer dieses Ziel aus den Augen verliert, verspielt die Zukunft Europas und die Zukunft der Deutschen.
Deutschlandpolitik in dieser schwierigen Zeit heißt also: unbedingter Einsatz für die politische Regelung von Konflikten, Wahrnehmung jeder Chance zum Abbau von Mißtrauen, Aufgeschlossenheit für jede Gesprächsmöglichkeit. Sicherung des Friedens und Gewinnung von möglichst viel Freiheit und Verbundenheit für alle Deutschen bleiben die erklärte Aufgabe der sozialliberalen Koalition. Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Arbeitsmotto könnte von jenem großen Deutschen stammen, der in Frankfurt am Main und in Weimar zu Hause war: „Dies ist der Weisheit letzter Schluß, nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß."
Nur dann, wenn wir den Frieden erhalten, können wir die Chance bewahren, daß das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dies ist unsere nationale Aufgabe der Gegenwart und der Zukunft.
({21})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dieser Diskussion über die Lage der Nation zeigt sich erneut, wie richtig das Wort Gustav Heinemanns war, daß wir ein schwieriges Vaterland haben. Es mag außerhalb der Bundesrepublik oder außerhalb Deutschlands z. B. einiges Erstaunen erregen, daß der Bundeskanzler heute dieses Problem der Nation an Hand von Zitaten aus der Bundesrepublik
und aus der DDR dargestellt hat. Ich glaube, daß dieses Problem der Nation für uns wie für alle Europäer, lange ein Problem bleiben wird, und ich bin der Meinung, wir sollten es nicht dadurch schwieriger machen, daß wir noch einmal eine doch eher gespenstische Debatte führen.
Herr Kollege Zimmermann und Herr Kollege Barzel, wie oft wollen wir denn noch das wiederholen,
was über das Thema „Wiedervereinigung" gesagt worden ist? Der erste, der gesagt hat - und ich habe ihn dafür hier vor vielen Jahren gelobt -, daß man nicht von Wiedervereinigung im Sinne der Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1871 reden kann, war Franz Josef Strauß. Davon ist auch nichts zurückzunehmen. Ich komme auch nicht auf die alte Debatte darüber zurück, ob die Adenauer-Politik nun eigentlich der Wiedervereinigung gedient oder umgekehrt die Teilung Deutschlands mit vertieft hat. Es hat doch keinen Zweck - auch dann nicht, wenn man das so formvollendet macht wie Sie, Herr Kollege Barzel -, diese alten Themen ständig zu wiederholen.
({0})
Die zweite Frage: Gerade dann, wenn man versteht, daß die Zusammengehörigkeit der Nation, die Geschichte, die wir gemeinsam erlitten haben, ein Faktor ist, der über unser Land hinaus in die Zukunft wirkt, spielen, Herr Kollege Barzel, Menschenrechte sicher eine große Rolle. Aber ich sage: Auch diese Diskussion haben wir doch lange hinter uns. Wir haben Ihnen hier oft vorgehalten, daß wir nicht über Menschenrechte uneins sind, sondern daß Sie im Kalten Krieg 20 Jahre lang eine Politik gemacht haben, bei der Sie gegenüber der DDR das Transparent „Menschenrechte" hochgehalten haben, ohne irgend etwas zu ändern. Ich sehe heute, daß Sie seit diesen Debatten keine neuen Argumente hinzubekommen haben.
({1})
Und die Berufung des Kollegen von Weizsäcker auf Helsinki wäre natürlich sehr viel überzeugender, wenn er sich wenigstens an der Abstimmung darüber beteiligt hätte.
({2})
Ich glaube, daß beides, die Frage der Nation und die Frage der Menschenrechte, eine große Rolle spielt, aber das ist doch nicht der Gegenstand des Streits - beseitigen Sie doch endlich einmal diese sterilen Barrieren zwischen uns! -, sondern der Streit ging und geht darum, in welcher Form man dies in die Politik in Europa und in einen Prozeß der europäischen Wiederannäherung einbringen kann. Ich denke, bei diesem Thema sollten wir bleiben.
De Gaulle ist seinerzeit sehr angegriffen worden, als er in bezug auf Westeuropa von einem „Europa der Vaterländer" gesprochen hat. Ich glaube, daß dieses Bild so angreifbar nicht war und daß es zusätzliches Gewicht gewinnt, wenn man unter „Europa" auch Osteuropa einbezieht. Und da gehören zu dieser Geschichte nun einmal ebenso wie der vom Kollegen Zimmermann mit Recht betonte polnische Nationalwille die Schwierigkeiten, die, Herr Zimmermann, die Deutschen mit ihrer Nationsbildung gehabt und über die wir hier auch schon oft gesprochen haben.
Beide Elemente - die europäische Tradition der Nationen wie die der Menschenrechte - spielen in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine große Rolle. Hier ist über verschiedene Formen der Stabilisierung Osteuropas gesprochen worden.
Es ist meine feste Überzeugung, daß auch die Sowjetunion die Situation in Osteuropa nicht anders stabilisieren kann als durch Reformen. Man kann mit Panzern keine Streiks brechen, geschweige denn die Produktion ankurbeln oder die Versorgung sichern. Man kann durch Panzer auch keine Investitionen ersetzen.
Die Frage ist, ob wir alle zusammen etwas dazu beitragen können - das wäre dann eigentlich der Testfall für den Erfolg der Entspannungspolitik -, in Europa eine Situation zu schaffen, in der Reformen möglich sind, ohne daß eine der beiden Seiten glaubt, sich in ihrer Sicherheit bedroht fühlen zu müssen.
Herr Kollege Barzel, daß die Sozialdemokraten in dieser Auseinandersetzung von den Kommunisten sehr viel ernster genommen werden als die Konservativen, liegt daran, daß wir eben nicht bei verbalen Erklärungen bleiben, sondern daß wir eine Politik treiben, die praktisch wirksam ist.
Herr Kollege Barzel, jetzt komme ich einmal auf die alten Diskussionen zurück. Damals war Ihre Angst: Wenn Ihr das macht, dann werdet Ihr uns mit dem anstecken, was von drüben kommt. Sie haben gesagt: Wir müssen hier nein sagen, da gibt es gar nichts zu reden, das ist ein diktatorisches System. - Sie lachen. Sie haben früher gefordert, daß erst freie Wahlen abgehalten werden sollten, bevor man mit denen redet.
({3})
Wir sagen dagegen: Die Stärke liegt auf unserer Seite. Wir brauchen keine Berührungsangst zu haben. - Herr Kollege Barzel, wer hat denn nun recht behalten? Wo sind denn nun die ideologischen, sozialen Erschütterungen in der Entspannungspolitik eingetreten? Im Osten oder im Westen? Wie sieht es denn in Polen und sonstwo im Ostblock einschließlich der Sowjetunion heute aus?
({4})
Das heißt: Diese Politik, die keine großen Worte macht, sondern die in Tuchfühlung geht, die das Miteinander-Reden zum Ziel hat, ändert nicht die grundsätzlichen Machtverhältnisse - das sage ich nicht -, aber sie hat Wesentliches in der politischen, ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West verändert.
({5})
Darum bin ich der Meinung, es wäre sehr viel besser, wir würden einmal von der Tatsache ausgehen, die doch unbestreitbar ist, daß die SED, aber auch die KPdSU zu Zeiten des Kalten Krieges bei ihrer Politik sehr viel ruhigere Zeiten gehabt haben, als sie sie heute nach zehn Jahren Entspannungspolitik haben.
Nun hat aber - darauf müssen wir gemeinsam aufpassen - diese Betonung und dieses Beharren auf der deutschen Frage sowohl im Sinne der historischen Nation wie im Sinne der Demokratie und der Menschenrechte auch eine Bedeutung nach Westen. Es gibt im Westen auch Mißtrauen, übrigens nicht nur im Westen. Bei dem, was die DDR-Füh1590
rung tut, darf man auch nicht vergessen, daß auch sie in ihren deutsch-deutschen Beziehungen sehr argwöhnisch daraufhin betrachtet wird, wie selbständig sie sich macht.
({6})
- Ich vergleiche es nicht, aber ich vergesse es nicht. Ich vergesse auch nicht, wie Ulbricht zu seinem politischen Ende kam. Sie kennen die Rostocker Rede, die er damals gehalten hat, so gut wie ich.
Im Westen kommt zunächst einmal die Frage: Wenn die Deutschen ihre eigenen Probleme betonen - die Gefahren im geteilten Land, die Waffen, die hier angehäuft sind, die Sondersituation in Berlin -, steckt dahinter nicht eine Art von Neutralismus? Ich bin der Meinung, das sollten Sie eher - ({7})
- Wie bitte?
({8})
- Natürlich wird diese Frage gestellt. Lesen Sie z. B. keine französische Presse? - Die Frage kommt ja in Wellen immer wieder, nämlich ob die Deutschen im Grunde nicht doch aus dem westlichen Gefüge ausscheiden wollten. Ich bin der Meinung, sie sollten mithelfen, klarzustellen, daß es das bei kleinen Gruppen gibt, aber daß es bei den tragenden politischen Kräften der Bundesrepublik nicht der Fall ist.
Bei der Wiederbewaffnung und bei Eintritt der Bundesrepublik in die NATO gab es diese Diskussion. Ich wiederhole nicht das Thema: Was wäre gewesen, wenn ...? Das kann keiner beweisen. Es ist Geschichte, es ist anders gemacht worden. Wir wissen heute: Die großen Fragen der Teilung Deutschlands, der Teilung Europas und der Teilung der Welt sind nur im weltpolitischen Rahmen zu lösen. Für mich heißt das heute, daß diese Fragen nur in Verhandlungen von Block zu Block zu lösen sind. Jede Idee, unser oder ein anderes Land würde seine Position durch eine Neutralität, durch ein Ausscheren verbessern, verkennt, daß die Möglichkeiten, in Verhandlungen zu einer Entspannung, zu einem Modus vivendi über den hinaus, den wir bereits erreicht haben, zu kommen, nur verschütten würde.
Es gibt aber eine Frage, die noch nicht so klar beantwortet ist und über die wir auch selbst noch diskutieren: das ist die Frage der weltpolitischen Rolle der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist inzwischen eine Mittelmacht von erheblichem ökonomischen und militärischen Gewicht geworden. Wir diskutieren das jetzt, etwa bei der Frage der Waffenexporte: Muß sich daraus nicht auch eine Änderung unserer Haltung ergeben? Ich bin der Meinung, daß in der Tat mit mehr Macht und mehr Gewicht auch die Verantwortung wächst. - Ich glaube, das ist unbestritten. - Aber der Streit geht darüber, wie wir diese gesteigerte Verantwortung wahrnehmen.
Wenn Sie so tun, als ob das kein Problem sei, erinnere ich daran: Aus Ihren Reihen ist die Raketendebatte damit begonnen worden, daß Herr Kollege
Wörner in Amerika gesagt hat, die Raketen sollten hier hingestellt werden, ohne daß man noch lange über Rüstungskontrollverhandlungen nachdenkt. Die Diskussion über die Sicherheit in der Golfregion ist von einzelnen von Ihnen mit der Forderung begonnen worden, wir sollten deutsche Soldaten an den Golf schicken.
({9})
- Das ist die Wahrheit, ich gebe aber gerne zu, daß das Dregger-Interview hinterher zurückgenommen wurde.
Ich sage, das ist das, worüber wir reden müssen und wo wir aufpassen müssen, Sie wie wir, daß die deutschen Überlegungen draußen richtig verstanden und berücksichtigt werden. Ich sehe dort Herrn Kollegen Mertes sitzen: Ich darf mich bei ihm bedanken, weil er diese deutsche Position in Princeton so klar, ruhig und unparteiisch dargelegt hat. Wir müssen alle dafür sorgen, daß unsere Umsicht und Zurückhaltung draußen verstanden werden, daß unsere Haltung in dieser Frage nicht als Drückebergerei mißinterpretiert werden kann.
Vor allem unseren amerikanischen Freunden sage ich immer wieder, daß sie den demokratischen Aspekt dieser Sache nicht übersehen dürfen. Dies ist ein Land, das unter einem furchtbarem Regime, Hitler und Konzentrationslager, besiegt worden ist; ein Land, das dann geteilt worden ist. Wenn manchmal draußen der Eindruck entsteht, daß - etwa jetzt in der Friedensbewegung - manches arg idealistisch sei, dann muß man daran erinnern, daß die „Re-education" dieser Bundesrepublik nach dem Kriege auch arg idealistisch war.
({10})
Wenn manches heute nach dieser Seite ausschlägt - ich sage das auch zum Verständnis der Friedensbewegung -, dann liegt das natürlich auch daran, daß hierin eine Korrekturbewegung gegenüber der deutschen Geschichte zum Ausdruck kommt. Was waren denn die Lieblings-Antinomien des deutschen Konservatismus: deutsche Kultur gegen oberflächliche westliche Zivilisation, deutsche Gemeinschaft gegen utilitaristische westliche Gesellschaft, deutscher Staat gegen westliche Demokratie. Kollege Vogel hat Treitschke ganz zu Recht zitiert.
({11})
- Ich bin kein schrecklicher Vereinfacher, ich sage, daß es das gegeben hat und daß es jetzt einen Ausschlag in die andere Richtung gibt. Die pazifistischen Strömungen vor allem innerhalb der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik wären j a wohl auch nicht zu verstehen, wenn diese Kirche nicht eine so lange Tradition des Fahnen- und KanonenSegnens, der Verbindung von Thron und Altar gehabt hätte.
({12})
Das muß sich bei uns erst noch einpendeln. Es ist
eine unserer gemeinsamen Aufgaben, es nicht zu
solch extremen Ausschlägen nach der anderen Seite kommen zu lassen.
({13})
Ich will jetzt einen Satz von Kurt Schumacher zitieren, den ich nicht selbst gehört habe. Aber unser gemeinsam verehrter Kollege Carlo Schmid hat in der Einleitung zu Schumachers Schriften im ersten Band berichtet, wie er als junger Student Schumacher zum erstenmal gehört hat. Er beschreibt, wie dieser schwerkriegsbeschädigte Mann auf dem Rostrum stand. Plötzlich sei die eine Hand vorgeschnellt - Carlo Schmid schreibt: „wie eine Degenklinge, die nach einem Herzen zuckt" - und Schumacher sagte einen Satz, der Carlo Schmid für sein Leben beeindruckt hat und mich seit der Lektüre von Carlo Schmid auch: „Die Möglichkeiten der Demokratie in einem Volke sind proportional zu dem Maße der Selbstachtung, die dieses Volk für sich aufbringt und zu verteidigen bereit ist."
({14})
Darin sind wir einig, und ich bin der Meinung, daß dies nicht nur nach innen gilt, sondern auch nach außen.
({15})
Es gilt z. B., Herr Kollege Kohl - und Herr Mertes weiß, daß ich das auch im Ausland so sage, auch im Inland und auch auf SPD-Parteitagen -, gegenüber Beeinflussungsversuchen der Sowjetunion: Ein System, in dem die Bürger nicht die geringste Mitsprache darüber haben, ob Raketen aufgestellt werden oder nicht, kann bei uns mit seinen Beeinflussungsversuchen nicht sehr ernstgenommen werden, wenn wir unsere Entscheidungen auf diesem Gebiet zu treffen haben.
({16})
Ich sage aber auch unseren amerikanischen Freunden, die noch dabei sind, ihre Politik neu zu formulieren: Auch hier gibt es Grenzen der deutschen Selbstachtung.
({17})
Wir müssen unseren amerikanischen Freunden bei jeder Gelegenheit sagen, daß sie nicht durch unbedachte Äußerungen, die vielleicht bei ihnen in die Landschaft passen, hier den Eindruck erwecken, als ob wir nur eine Art westlicher Ausgabe von Satellit seien. Auch das gehört zur Selbstachtung.
({18})
- Ich komme gleich noch darauf, Herr Kohl. - Ich bin der Meinung, daß das auch in bezug auf Berlin ganz wichtig ist. In Berlin hat sich doch beides gezeigt: Wir hätten die Stadt nicht halten können und könnten sie nicht halten ohne das Bündnis mit Amerika. Jeder, der meint, man könnte nun zurückkommen auf die Idee einer Abkopplung von Amerika und zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft - ich sehe, daß Herr Strauß das neuerdings wieder hochbringt, diesmal allerdings parallel zu linken Europa-Parlamentariern; es gibt ja nichts, was es nicht gibt, ich verfolge das mit Interesse -, der kann sich gerade an Berlin deutlich machen,
({19})
daß dies eine Illusion ist. Das ist nicht eine Waffenfrage, das ist eine Frage der geostrategischen Position. Dieses Westeuropa als der Wurstzipfel am eurasischen Kontinent wird geopolitisch nie in der Lage sein, seine Sicherheit allein, ohne die Vereinigten Staaten, zu garantieren.
Es bleibt auch dabei, daß die westliche Großmacht - darüber sind wir uns mit einigen unserer amerikanischen Freunde in Princetown einig gewesen - über das Bündnis hinaus - denn die NATO ist kein Großmacht-Ersatz - die Aufgaben hat: die Abschreckung durch eine strategische Nuklear-Streitmacht, den Schutz der Meere und die Verteidigung westlicher Interessen außerhalb des NATO-Bündnisses; dazu gehört Berlin.
Aber Berlin zeigt auch, verehrte Kollegen, daß es damit allein nicht getan ist. Gerade Berlin beweist, daß zu diesem einen Bein - zu diesem Standbein, wie Herbert Wehner einmal gesagt hat - das zweite Bein der Entspannung kommen muß. Darüber besteht doch kein Streit, daß die Lage in Berlin heute, nach dem Viermächteabkommen, sehr viel sicherer und ruhiger ist, als sie es vorher war.
({20})
Nun verstehe ich, daß einige Leute bedauern - sie sind schon vom Kollegen Vogel apostrophiert worden -, daß Berlin aus den weltpolitischen Schlagzeilen heraus ist. Aber Spannung kann doch, auch wenn sie Schlagzeilen macht, nicht das sein, was wir unter Lebensqualität verstehen. Sie ist doch eher etwas, was uns davon fernhält. Die Frage ist daher: Findet Berlin in relativ ruhigen Zeiten seine eigene Selbstsicherheit? Das ist natürlich nicht von den außenpolitischen Bedingungen loszulösen. Daher unterstreiche ich, was Kollege Weizsäcker schon gesagt hat: Es ist gefährlich, wenn wir in Berlin „alternative" Stimmen hören, die Schutzmächte sollten nach Hause gehen. Wer das sagt, hat sich vorher nicht überlegt, was die weltpolitische Situation in Europa und in Berlin ist.
({21})
Aber für die Entspannung gilt das genauso. Auch auf sie kann nicht verzichtet werden.
Nun haben die Kollegen Vogel und Weizsäcker hier über Berlin sehr unterschiedlich gesprochen, der eine konkret aus seiner Regierungserfahrung und -verantwortung heraus, der andere etwas mehr - ({22})
- Jochen Vogel, ich nehme an, Herr Stark, Sie lesen die Presse, ist der Regierende Bürgermeister von Berlin - und wird es übrigens auch bleiben.
({23})
Kollege Zimmermann hat heute schon mit der Frage der Minderheitsregierung Ihre eigene Skepsis deutlich gemacht. Ich sage aber auch im Berliner Wahlkampf: Egal, wie die Wahl ausgeht, so wie die Berliner Lage ist, sollten beide großen Parteien sich darauf einrichten, daß sie sich, in welcher Rolle sie sich auch immer nach der Wahl finden werden, beide noch dringend nötig haben werden, um Berlin wieder in Ordnung zu bringen.
({24})
- Frau Berger, wollen Sie mir erzählen, daß die CDU in Berlin keine Probleme hat? Hat nicht auch Ihre Partei genau die Probleme, die ganz Berlin hat? Ich bin da nicht selbstgerecht; seien Sie es bitte auch nicht.
Herr Kollege Vogel hat in großer Eindringlichkeit gegenüber dem Jugendprotest, der in die Friedensbewegung hineinreicht, seine Position dargelegt. Sehen Sie, da war ich enttäuscht, von Herrn Weizsäkker, der gern als Liberaler firmiert, keine Antwort zu hören.
({25})
- Im Wahlkampf kommt jetzt doch nur, daß dies, was Vogel macht, mangelnde Stärke sei. Herr Zimmermann bringt dann den Sohn vom Polizeipräsidenten ins Spiel, damit die Infamie nicht fehle; alles wie gehabt! Ich könnte Ihnen einmal die Familiengeschichten der Terroristen erzählen; aber die kennen Sie j a auch selbst.
Bezüglich der Friedensbewegung, die natürlich in ihrer Meinung weitergeht als ich - es wäre ja auch schlimm, wenn ich dafür ein bindender Maßstab wäre oder wenn Sie es wären, Herr Kollege Kohl -, bin ich für mehr Toleranz, zumal sich Herr von Weizsäcker doch im kirchlichen Bereich zu meiner großen Freude selber sehr stark engagiert.
({26})
Was sollen denn Ihre Worte, wir übertrügen unsere Krise auf den Staat? Bei Ihnen ist sofort eine Krise da, wenn mal nicht alle strammstehen, wenn diskutiert wird, dann geht es schon - ({27})
- Natürlich ist das bei Ihnen so.
({28})
- Es ist in schwierigen Situationen immer wieder Ihr „Schnee", daß Sie auf solche Bewegungen - zum Teil anarchische Bewegung, zum Teil „bunte" Bewegung - immer wieder autoritär reagieren und damit die Spirale hochschrauben.
({29})
Ich warne Sie auch in Berlin vor einem. Auch da hat mich Herr von Weizsäcker enttäuscht, und der meist ruhige, ausgeglichene Kollege Mertes spricht sogar selbst davon: Das seien alles „Sozialisten" und „Pazifisten" und natürlich von Moskau ferngesteuert. - Verehrte Kollegen, die werden sich das sicher nicht entgehen lassen. Und Herr Mies von der DKP war natürlich mit dabei auf dem Bonner Marktplatz. Nur: Wer diese Diskussion nicht ernst nimmt, wer diese Fragen mit Verteufelung oder mit strammer Haltung zur Militärmacht, zu dem amerikanischen Verbündeten und mit Strammheit bezüglich der Staatsanwaltschaft zu beantworten sucht, wird das Gegenteil von dem erreichen, was in Berlin notwendig ist.
({30})
Ich kann nur sagen: ich freue mich, daß unser Freund Hans-Jochen Vogel jetzt Verantwortung in Berlin trägt, ein Mann, der beides zu verbinden weiß, Autorität in der Ausübung des staatlichen Amts und Augenmaß im Umgang mit kritischen Bürgern.
({31})
Wenn ich mir das in der deutschlandpolitischen Perspektive ansehe, muß ich fragen: was soll dann unsere Antwort auf das SED-Regime sein? Eine Verteufelung all derer, die jetzt mit den drei Bundestagsparteien nicht mitmachen wollen? Eine Verteufelung all derer, die in SPD und FDP, vielleicht auch einmal in der Jungen Union - sie selbst hat das kritische Bewußtsein j a noch nicht erreicht - schwierige Fragen stellen? Oder werden wir uns nicht, um zu zeigen, was Demokratie in der Diskussion leisten kann und warum Toleranz gerade auch gegenüber dem Andersdenkenden ein Element der Stärke ist, gerade in Berlin um sorgfältige, ruhige und faire Diskussionen sogar mit solchen Strömungen bemühen müssen, die wir für die Stabilität des Ganzen für bedenklich halten? Das scheint mir die eigentliche Aufgabe zu sein.
({32})
Herr Kollege Kohl, ich übersehe nicht die Probleme, die SPD und FDP haben. Wir hatten sie schon öfter. Wir hatten sie auch in APO-Zeiten und wir haben sie durchgestanden. Wir werden auch diese Diskussion durchstehen.
({33})
Aber in der Arbeitsteilung zwischen den beiden großen Parteien wäre es mir viel interessanter, wenn Sie, statt mit dem Finger auf die SPD zu zeigen, die sich dieser gesellschaftlichen Diskussion öffnet, uns und den Menschen draußen einmal erklärten, wie es eigentlich kommt, daß von der gesellschaftlichen Diskussion in diesem Lande viele Themen, ob das nun die Ökologie ist - ich erinnere an das Schicksal von Herrn Gruhl - oder ob das die Atomwaffen sind, ihren Weg in die CDU nicht finden. Man hat den Eindruck: Zwischen dieser Gesellschaft und Ihrer Partei liegt eine Art Folie, die die Berührung verhindert. Vielleicht gibt es eine Erklärung dafür; es wäre interessant, sie von Ihnen zu hören.
Ich unterschätze nicht die Protestbewegung, die voraussichtliche Härte und die Länge der Auseinandersetzung. Ich weiß auch, daß sie im wesentlichen von der Koalition getragen werden muß. Das ist nicht ihre Schuld. Aber daß Sie dieses Nichtberührtsein von den Angsten und Sorgen der Menschen draußen für ein Element der Stärke halten,
({34})
ist einer der großen Selbsttäuschungen Ihrer Partei.
({35})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lorenz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war eigentlich sehr gespannt, was ein so großer Mann wie Professor Ehmke, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, als erster Redner seiner Fraktion - bisher hatten ja der Herr Bundeskanzler und der Herr Regierende Bürgermeister Vogel gesprochen - hier nun zur Lage der Nation sagt. Ich muß sagen: Ich bin sehr enttäuscht. Herr Ehmke, Sie haben eigentlich überhaupt nicht zur Lage der Nation gesprochen, sondern mehr zur Lage in der SPD und in der FDP.
({0}) Mir tut es leid.
({1})
Dabei möchte ich einmal daran erinnern, daß wir uns über die Lage der Nation im geteilten Deutschland unterhalten. Seit mehreren Jahren schon hält es die Bundesregierung für angebracht, das in der Überschrift ihres Berichts nicht mehr zu erwähnen. Ich möchte gern einmal fragen: Warum eigentlich nicht? Ist es Rücksichtnahme auf irgendwelche Empfindlichkeiten jenseits der innerdeutschen Grenze oder die Befürchtung, daß eine ausdrückliche Bezugnahme auf das geteilte Deutschland nicht so recht in die Entspannungslandschaft paßt, oder will man nicht mehr vom geteilten Deutschland reden, sondern nur noch von den - wie man immer sagt - beiden deutschen Staaten ausgehen wollen?
Meine Damen und Herren, tun Sie das bitte nicht als Begriffsklauberei ab; denn bekanntlich wird doch mit Begriffen Politik gemacht.
({2})
Hier ist heute schon oft gesagt worden, daß, wenn es nach Herrn Gaus ginge, wir uns heute auch gar nicht einmal mehr über die deutsche Nation unterhalten dürften. Es geht doch hier nicht um eine Fortschreibung einer allgemeinen Regierungserklärung, sondern es geht um den Bericht zur Lage der Nation, der einmal im Jahr gegeben wird. Hüten wir uns davor, das Besondere dieser Diskussion undeutlich werden zu lassen.
({3})
Die politische Lage, wie sie zwischen den beiden Staaten im geteilten Deutschland entstanden ist, ist nach unserer Auffassung nicht nur ein Betriebsunfall, wie das die Koalition in manchen Debattenbeiträgen hier zu meinen scheint, sondern es ist eine Situation, die zu größter Besorgnis Anlaß gibt.
Die verschärfte Abgrenzungspolitik der SED hat die Lage in unserem geteilten Land wieder frostig werden lassen, und das, Herr Bundeskanzler, ist nicht nur ein Rückschritt, sondern das ist nach unserer Meinung ein schwerer Rückschlag Ihrer Politik. Der Grundlagenvertrag und andere innerdeutsche Abkommen werden von der anderen Seite mißachtet, inhaltlich verdreht oder - um es mit den Worten von Egon Bahr zu sagen - schrecklich durchlöchert.
Nun wäre es leicht, nachzuweisen, daß die CDU/ CSU vieles von dieser fatalen Entwicklung warnend vorausgesehen und damit leider auch recht gehabt hat. Aber es geht uns nicht um Rechthaberei, es geht uns darum, die menschlichen Kontakte im geteilten Deutschland, die heute sehr gefährdet sind, gegen alle Abgrenzungsversuche der DDR-Machthaber zu verteidigen.
({4})
Auch wir werden dazu beitragen, daß der Abgrenzungspolitik der anderen Seite keine freiwillige Abgrenzung auf unserer Seite entgegengesetzt wird.
({5})
Das bedeutet aber nicht, daß wir bereit wären, die destruktive Politik der SED einfach hinzunehmen. Wir sind der Auffassung, daß flexible Reaktionsmöglichkeiten gefunden werden müssen, die auch in angemessener Weise der DDR in Aussicht gestellt und notfalls auch angewendet werden müssen.
({6})
Das betrifft sowohl wirtschaftliche wie auch finanzielle Maßnahmen und ebenso gegebenenfalls Handlungsmöglichkeiten auf internationaler Ebene. Um nicht mißverstanden zu werden: Wir reden keiner, wie immer gearteten, Vergeltungspolitik das Wort; denn die würde natürlich den innerdeutschen Beziehungen nicht nützen, sondern nur schaden. Aber, meine Damen und Herren, wir wollen eine Politik, die sich nicht immer wieder den Plänen der SED ausliefert,
({7})
die nicht die eigene Handlungsunfähigkeit sozusagen zur Maxime erhebt, sondern die aktiv und - wenn es sein muß - auch offensiv unsere deutschlandpolitischen Interessen betont und auch zu einem bestimmenden Faktor der innerdeutschen Verhandlungen macht.
({8})
- Meine Damen und Herren, Sie wundern sich darüber. Wir reden doch in den letzten Monaten immer nur von Honeckers Plänen - der will den Grundvertrag nachbessern, die Staatsangehörigkeit ändern - oder wir reden von Honeckers Handlungen, nämlich bezüglich der Erhöhung des Zwangsumtauschs,
der Reglementierung von Journalisten. Wir wollen, daß im innerdeutschen Gespräch von unseren, den Vorlagen und Initiativen der Bundesrepublik Deutschland so geredet wird, daß sich auch der Osten damit auseinandersetzen muß. Das ist unser Ziel.
({9})
Nun ziehen Sie sich nicht wieder auf die Formel zurück, zur Entspannungspolitik gebe es keine Alternative! Ich habe in der „FAZ" gelesen, der Herr Bundesaußenminister habe bei seinen Verhandlungen in Moskau peinlich darauf geachtet, daß das Wort „Entspannung" oder „Entspannungspolitik" nicht verwendet wird. Man kann wohl davon ausgehen, daß diese Formel heute eine leere Hülse ist. Sie wird auch durch ständiges Wiederholen nicht inhaltsreicher.
({10})
Man kann doch nicht ernsthaft eine politische Haltung einnehmen, die friedliche Alternativen zu einer gescheiterten oder jedenfalls nicht mehr funktionierenden Politik von vornherein ausschließt. Wer sich auf so etwas einläßt, bindet sich doch selbst die Hände. Das dürfen wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht.
Blicken Sie auf die Realitäten, werden Sie uns zustimmen müssen, daß uns die östliche Seite ihre Alternative zur bisherigen Entspannungspolitik leider mit aller Härte und Konsequenz vor Augen führt, besonders in den letzten Monaten. Dieser politischen Entwicklung kann man nicht mit einer bloßen Leerformel begegnen.
Wir begrüßen es, daß der Bundeskanzler im Interesse des Friedens auf die unmenschliche Mauer und die Sperranlagen in Deutschland hingewiesen hat. Diese in der Welt ohne Beispiel existierende menschenverachtende Trennlinie mahnt uns, auf nationaler und internationaler Ebene ständig alles zu ihrer Beseitigung zu tun und uns immer wieder für die Rechte gerade auch der Menschen in der DDR einzusetzen.
({11})
So müssen Sie, Herr Bundesminister Franke, auch unseren Antrag verstehen, die Verhältnisse der Häftlinge in den Gefängnissen der DDR zu verbessern. Natürlich will dabei keiner irgendeine Profilneurose pflegen. Ich will mich mit Ihnen jetzt gar nicht darüber streiten, welche Methoden zweckmäßig sind und angewandt werden sollten. Aber es gibt auch andere Beispiele als das von Ihnen genannte. Ich bin z. B. der festen Überzeugung, daß Nico Hübner heute noch nicht frei wäre, wenn wir nicht immer wieder überall in Deutschland für seine Freilassung getrommelt hätten. Solche Beispiele gibt es noch mehr.
({12})
Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen gesagt, daß trotz aller Belastungen der innerdeutschen Beziehungen immer wieder miteinander geredet werden müsse. Das ist gewiß richtig. Auch wir sind der Meinung, daß man den innerdeutschen Gesprächsfaden nicht abreißen lassen darf, daß auch weiterhin alle Möglichkeiten partieller Verständigung geprüft werden müssen. Aber man kann den Wert des Miteinander-Redens letzten Endes nicht vom Gesprächsresultat trennen.
({13})
Der Dialog ist doch kein Wert an sich. Entscheidend ist, was dabei praktisch herauskommt.
({14})
Auf die gegenwärtige Situation bezogen heißt das: Alle Gespräche mit der DDR-Führung müssen jetzt ganz gezielt darauf gerichtet sein, den erhöhten Zwangsumtausch zurückzunehmen und andere Abgrenzungsschikanen zu beseitigen.
({15})
Wir sind der Auffassung - das sollte klar sein -, daß es vorher keine neuen Vereinbarungen mit der DDR geben darf. Das ist unsere Überzeugung.
({16})
Zu einem Zeitpunkt, da sich die SED stark abgrenzt, wäre es nicht nur sinnlos, sondern auch taktisch verfehlt, den DDR-Machthabern nachzulaufen. Sie muß mit allem Ernst auf die Konsequenzen ihrer Politik hingewiesen und vor die Alternative gestellt werden, ob sie die Beibehaltung und Weiterentwicklung der Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen oder Rückschritte zum gegenseitigen Schaden will. Die SED darf nicht den Eindruck gewinnen, daß sie ihre Abgrenzungspolitik folgenlos betreiben kann: den Zwangsumtausch verdoppeln, die Zahl der menschlichen Begegnungen dadurch halbieren, die Bewegungsfreiheit ihrer eigenen Bürger immer mehr einengen und unter dem Strich gleichwohl unverkürzt bei uns abkassieren. Das darf nicht so bleiben.
({17})
Insbesondere muß der DDR-Regierung unmißverständlich deutlich gemacht werden, daß sie die Vorteile der innerdeutschen Beziehungen weiterhin nur dann genießen kann, wenn sie zur gegenseitigen Geschäftsgrundlage zurückkehrt. Die Geschäftsgrundlage ist als Entwicklung normaler, gutnachbarlicher Beziehungen im Grundlagenvertrag definiert, und zwar zum Wohle der Menschen, wie es in der Präambel heißt. Natürlich wissen wir, daß die SED zur Zeit Kontakte zwischen den Menschen in Deutschland soweit wie möglich verhindern möchte und daß ihr das Bewußtsein der Menschen in unserem gespaltenen Land, einem Volk anzugehören, zur Zeit ebenso unwillkommen ist. Um so nachdrücklicher aber müssen wir der DDR-Regierung klarmachen, daß der menschliche Zusammenhalt der Deutschen ein Kernstück deutscher Politik ist und daß seine Blokkierung den gegenseitigen Beziehungen die Grundlage und die Motivation nähme. Man kann doch nicht von Interessenausgleich reden, wenn unser entscheidendes Interesse kaum noch oder so gut wie gar nicht mehr von der anderen Seite berücksichtigt wird. Deshalb muß die SED wissen, daß unsere Duldungsbereitschaft Grenzen hat. Wenn diese Grenzen überschritten werden und unsere zentralen ZielLorenz
setzungen in der Deutschland-Politik blockiert werden, dann erlischt auf unserer Seite auch die Bereitschaft, der DDR wirtschaftliche und finanzielle Vorteile zu gewähren. Also muß sich die SED entscheiden, ob sie diese Vorteile weiterhin genießen oder ob sie Konfrontation und Abgrenzung will. Beides zugleich sollte sie nicht haben können, meine Damen und Herren!
({18})
Deshalb wäre es auch verfehlt, die Beziehungen zur DDR isoliert unter ökonomischen Gesichtspunkten fortzuentwickeln, wie der Staatsratsvorsitzende Honecker das auf der Leipziger Messe vorgeschlagen hat. Dann gäbe man ein entscheidendes Instrument aus der Hand, mit dem die DDR auch zu humanitären Zugeständnissen veranlaßt werden kann. Vordergründige wirtschaftliche Argumente müssen hier zurücktreten. .
Herrn Honecker muß klargemacht werden, daß die gegenseitigen Beziehungen eine Einheit bilden; mehr noch: daß erst auf Grund befriedigender Gesamtbeziehungen ein Klima entstehen kann, in dem auch Wirtschaftsbeziehungen gedeihen können.
({19})
Auch in anderer Hinsicht sollten wir uns von Herrn Honecker nicht auf eine falsche Spur locken lassen. Ich meine damit die von Ost-Berlin erhobenen Statusforderungen in bezug auf die Staatsbürgerschaft, die Elbe-Grenze und den Botschafteraustausch. Hier ist schon mehrfach davon gesprochen worden. Ich möchte nur noch einmal den Kollegen Ronneburger ansprechen, der sich zu Unrecht vom Kollegen Zimmermann, wenn ich ihn richtig verstanden habe, angesprochen fühlte. Herr Kollege Ronneburger, die deutsche Staatsangehörigkeit ist eben nicht nur ein Angebot, sondern sie ist eine Rechtstatsache.
({20})
Vielleicht stimmen wir in dieser ganzen Frage bei näherer Diskussion sogar überein. Es kommt uns auf folgendes an: Wir sollten uns keine Diskussion aufdrängen lassen, die der anderen Seite doch nur nützt, wenn wir unterschiedliche Vokabeln benutzen.
({21})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ronneburger?
Bitte, Herr Kollege Ronneburger.
Herr Kollege Lorenz, wenn Sie das so äußern, dann möchte ich Sie fragen, ob Sie die Absicht haben, irgend jemanden mit unserem Prinzip der deutschen Staatsbürgerschaft in Rechte und Pflichten einzubinden, die einzugehen er nicht bereit ist. Sind Sie bereit, wenn Sie das nicht wollen, zuzugestehen, daß es sich eben doch um ein Angebot an alle Deutschen handelt?
Herr Kollege Ronneburger, es handelt sich nicht nur um ein Angebot. Jeder Deutsche, auch in der DDR, hat die deutsche Staatsbürgerschaft.
({0})
Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Ich bin überzeugt: Sie hätten die Mehrheit der Bevölkerung der DDR gegen sich, wenn Sie es anders sähen. Die wollen ja in Wahrheit alle die deutsche Staatsangehörigkeit haben.
Um Ihre Frage zu beantworten: Wir zwingen keinen Bürger der DDR, sich auf seine deutsche Staatsangehörigkeit zu berufen, wenn er das nicht will. Das ist unser Verständnis von seiner Freiheit und unserer Verfassung.
({1})
Eine weitere falsche Spur in den innerdeutschen Beziehungen wäre auch eine deutsch-deutsche Abrüstungsdebatte, wie sie die SED offenbar in Gang setzen will. Das ist natürlich kein Thema, das allein im deutsch-deutschen Verhältnis besprochen werden kann. Dafür fehlt von beiden Seiten die Kompetenz. Man hat den Eindruck, als ob eine solche Abrüstungsdebatte zu einem innerdeutschen Ersatzthema werden soll, das von anderen schwerwiegenden Problemen in den menschlichen Beziehungen ablenken soll. Das müssen wir jetzt verhindern, meine Damen und Herren.
Zu einer erfolgreichen Deutschlandpolitik gehört nicht zuletzt, daß wir die ideologische Herausforderung des Kommunismus annehmen und die geistige Auseinandersetzung offensiv suchen. Meine Damen und Herren, wir haben überhaupt keinen Anlaß, uns hier zurückzuhalten und damit der anderen Seite das Feld zu überlassen. Wenn Herr Honecker meint, der Sozialismus werde „eines Tages auch bei uns an die Tür klopfen", so mag er doch getrost diese Hoffnung hegen. Wir setzen zuversichtlich unsere Hoffnung dagegen, daß bei der SED und der DDR die Menschenrechte immer unabweisbarer an die Tür klopfen.
({2})
Die Tatsache, daß Honecker den Begriff der Nation wieder ins Spiel bringt, sollte als Warnung verstanden werden. Es wurde heute schon darauf hingewiesen, daß die SED drauf und dran ist, die deutsche Nation und die deutsche Geschichte unter kommunistischen Vorzeichen zu vereinnahmen. Ich stimme nicht mit Herrn Regierenden Bürgermeister Vogel überein - leider, muß ich übrigens sagen -, wenn er sagt, daß das auf ein besser werdendes Geschichtsbewußtsein - wenn ich ihn richtig verstanden habe - der jungen Generation stößt. Im Gegenteil, ich befürchte, daß das in einer Zeit geschieht, in der immer mehr junge Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ohne ein gründlich von der Schule vermitteltes Verständnis der deutschen Geschichte und über Kenntnisse der historischen Zusammenhänge verfügen.
({3})
Das ist eine sehr schlechte Ausgangssituation für eine Auseinandersetzung in Deutschland. Wir sind alle aufgerufen, alles in die Wege zu leiten, damit wenigstens die nachwachsenden Jungen ein anderes Verständnis als das, das viele andere der heutigen jungen Generation in Deutschland leider haben, von der deutschen Geschichte bekommen.
({4})
Deshalb beginnt Deutschlandpolitik bei uns zu Hause. Die CDU/CSU betrachtet es als wichtige deutschlandpolitische Aufgabe, das gesamtdeutsche Bewußtsein und den Willen zur nationalen Einheit zu stärken. Das geht alle an: die Parteien, die Schulen, die Bildungseinrichtungen, die Länder und die Medien. Es darf nicht dahin kommen, wie das auf anderen politischen Gebieten, z. B. bei der Stärkung des europäischen Bewußtseins, heute vielleicht schon der Fall ist,
({5})
daß wir uns eines Tages vorwerfen müssen, wir hätten in diese entscheidende nationale Aufgabe zu wenig investiert.
({6})
Leider haben die Länder Hamburg und Bremen ein schlechtes Beispiel gegeben. Sie haben jetzt offenbar gemeint, den gemeinsamen Beschluß der Kultusministerkonferenz über die Darstellung der Grenzen Deutschlands nachträglich aufkündigen zu müssen. Ich halte diese Sache deshalb für besonders bedenklich, weil man sich doch fragen muß, wie es eigentlich in der Deutschlandpolitik zu mehr Gemeinsamkeit kommen soll, wenn eine mühevoll gefundene Gemeinsamkeit so leichtfertig wieder zerstört wird.
({7})
Herr Bundeskanzler, ich würde Sie sehr bitten, Ihren Parteifreunden in Bremen und Hamburg nahezulegen, diese Frage noch einmal zu überprüfen, denn ich halte sie für sehr wichtig.
Herr Staatsminister von Dohnanyi, es hat heute eine Diskussion über Ihre Äußerung in der Fragestunde am 2. April gegeben. Sie haben dort die Richtigkeit dieser Beschlüsse in Zweifel gezogen und haben erklärt, die Durchführung des Beschlusses könne möglicherweise zur Irreführung der Jugendlichen über die Realitäten in Europa führen.
({8})
Wir müssen Sie wirklich fragen, Herr Staatsminister, ob sich die Politik der Bundesregierung in dieser Frage ändert oder ob sie kontinuierlich die bisherige Politik weiterführt, was wir bezweifeln. Realität ist doch - das sollte allen jungen Menschen vermittelt werden -, daß die deutsche Frage völkerrechtlich offen ist und daß erst ein Friedensvertrag über das endgültige Schicksal des deutschen Reiches völkerrechtlich entscheiden kann.
({9})
Meine Damen und Herren, Herr Staatsminister, es gibt nicht nur eine Realität der Tatsachen, sondern es gibt auch eine Realität des Rechts. Das muß man gerade der jungen Generation bis hin zu den Hausbesetzern heute immer wieder sagen.
({10})
Gerade die Bundesregierung hätte doch die besondere Aufgabe, diese Realität des Rechts allen Deutschen immer wieder auch und gerade in Erfüllung ihrer gesamtdeutschen Verpflichtung darzustellen. Das fordern wir, Herr Staatsminister.
({11})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Dohnanyi?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Lorenz, ist Ihnen klar, daß, wenn Sie den Text der Antwort in der Fragestunde lesen, überhaupt kein Zweifel daran bestehen kann, daß ich auf der einen Seite für die Bundesregierung die Rechtslage deutlich dargestellt, auf der anderen Seite aber hinzugefügt habe, daß nicht nur dem Recht durch die Darstellung Genüge getan werden muß, sondern daß auch eine Darstellung vermieden werden muß, durch die eine Irreführung über die politischen Realitäten entstehen kann. Das ist das, was ich gesagt habe.
({0})
Man konnte das nicht unbedingt so verstehen, Herr Staatsminister.
({0})
Ich nehme Ihre Interpretation und Ihre Darstellung zum Anlaß - ich darf das hoffentlich -, festzustellen, daß die Bundesregierung ihre Auffassung in dieser Frage nicht geändert hat und daß die Bundesregierung bemüht bleiben wird, gemeinsam mit den deutschen Ländern einen Weg zu finden, auf dem klar gemacht wird, welche Rechtssituation für Deutschland in Europa heute besteht. Wenn das der Fall ist, dann sind wir uns darüber einig, und dann kann ich nur hoffen, daß das so bald wie möglich geschieht.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Dohnanyi?
Frau Präsidentin, ich nehme an, daß dieses Leuchtzeichen vor mir bedeutet, daß meine Redezeit abgelaufen ist.
({0})
Vielleicht lohnt es sich; aber wenn Sie nicht wollen, dann können wir das nicht tun. Die Minute können Sie jedoch gern noch dazubekommen. Dr. von Dohnanyi ({0}): Herr Kollege Lorenz, würden Sie mir bestätigen, daß das, was ich eben gesagt habe, dem Wortlaut meiner Feststellungen in der Fragestunde entspricht, und hätten Sie die Freundlichkeit, auf der Grundlage dieses Wortlauts meiner
Antwort in der Fragestunde den Kollegen Zimmermann darauf hinzuweisen, daß er heute morgen mein Zitat verzerrt hat?
({1})
Herr Staatssekretär, ich kann Ihnen jetzt nicht bestätigen, daß das der Wortlaut ist, weil ich ihn nicht hier habe;
({0})
aber ich will nicht in Zweifel ziehen, daß Sie ihn richtig vorgelesen haben. Ob er aus dem Zusammenhang gerissen oder im Zusammenhang gelesen worden ist, weiß ich nicht. Ich bin aber gern bereit, wenn ich feststelle, daß Ihre Auffassung stimmt, dem Kollegen Zimmermann dazu weitere Ausführungen zu machen. - Ich glaube, damit sollten wir diese Debatte jetzt beenden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte noch zu Ihren Schlußbemerkungen. Die Redezeit ist abgelaufen; aber eine Minute haben Sie gut.
({0})
Ich darf zum Schluß noch einmal von mir aus sagen, welche drei Prinzipien uns bis zur Überwindung der Teilung Deutschlands leiten.
Erstens. Die Politik der CDU/CSU wird immer versuchen, ein Höchstmaß an menschlichen Begegnungen, an Möglichkeiten des Austauschs von Meinungen und Informationen im geteilten Deutschland zu verwirklichen. Menschliche Begegnungen tragen entscheidend dazu bei, die Einheit der Nation trotz Mauer und Stacheldraht zu erhalten.
Zweitens. Unsere Politik hat auch und insbesondere das Ziel, den Landsleuten in der DDR zu einem erträglichen Leben zu verhelfen. Das gilt nicht nur für die materielle Situation, sondern in erster Linie gehört dazu der zähe, keine Chance auslassende Kampf um ein jedes bißchen mehr praktizierte Menschenrechte in der DDR.
({0})
Drittens muß jede innerdeutsche Politik zum Ziel haben, die Lebensfähigkeit des freien Berlin zu sichern. Das gespaltene Berlin wird für uns immer das Symbol dafür bleiben, daß wir das eine und unteilbare Deutschland anstreben.
Wir wünschen Berlin und den Berlinern, daß der 10. Mai das Datum eines guten Neuanfangs dazu wird.
({1})
Meine Damen und Herren! Das Wort hat der Abgeordnete Junghans.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach diesen polemischen Darlegungen meines Herrn Vorredners möchte ich gern zu den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zurückkommen.
Der Herr Bundeskanzler hat sich in seinem Bericht zur Lage der Nation ausführlich über die wirtschaftliche Lage geäußert. Das war richtig, denn der Bericht wäre unvollständig, wenn nicht über das gesprochen würde, was unsere Bevölkerung intensiv diskutiert, nämlich die Sicherheit der Arbeitsplätze, die Energiepreisentwicklung, die wirtschaftlichen Aussichten und den Kurs, den die Bundesregierung zukünftig steuern wird.
Aussagen zur wirtschaftlichen Lage sind auch von Interesse, weil Wirtschaft und Politik nicht zu trennen sind. Dies wird häufig übersehen. Häufig wird nicht daran gedacht, daß die Bundesregierung das politische Gewicht, das sie heute in internationale Verhandlungen einbringt, und das Gehör, das sie dort findet, zum großen Teil der Tatsache verdankt, daß die Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, großen wirtschaftlichen Erfolg erzielt hat.
Wenn ich schon daran erinnere, daß politisches und wirtschaftliches Gewicht eng miteinander zusammenhängen, dann lassen Sie mich noch hinzufügen: Auch unsere Verteidigungsfähigkeit innerhalb des NATO-Bündnisses und damit unser politisches Gewicht im NATO-Bündnis sind eng mit unserer wirtschaftlichen Kraft verbunden.
Man kann uns nicht mit diversen Boykottforderungen kommen, damit die Absatzmöglichkeiten unserer Unternehmen beschneiden, auf diese Weise die Arbeitsplätze gefährden und so auch die Höhe der öffentlichen Einnahmen verringern wollen und in demselben Atemzug die Übernahme höherer Verteidigungslasten verlangen. Beides zusammen würde uns schnell den Atem ausgehen lassen.
Natürlich lebt unsere Politik nicht nur von unserer wirtschaftlichen Leistungskraft; auch das Umgekehrte gilt. Besonders deutlich wird das im Osthandel. Der konnte sich erst dann stürmisch entwickeln, nachdem wir - wie Willy Brandt es formulierte - uns „Einsicht in die Wirklichkeit" zu eigen machten und eine konstruktive Ostpolitik entwickelten. Natürlich - das gebe ich gern zu - wäre diese deutsche Ostpolitik ohne die allgemeine Besserung des Klimas zwischen Ost und West damals nicht möglich gewesen. Aber wir können uns zugute halten, die Zeichen der Zeit damals rechzeitig erkannt, genutzt und auch die Zeichen mitgesetzt zu haben, soweit wir das konnten. Ich betone ausdrücklich „soweit wir das konnten"; denn die Bundesregierung kann - genausowenig wie der Deutsche Bundestag - allein entscheiden, sondern beide stehen in Abhängigkeiten.
Abhängigkeiten - das kann man hier nicht oft genug wiederholen - kennzeichnen auch unsere Wirtschaft. Unser deutscher Absatzmarkt ist begrenzt. Unsere Unternehmen und damit unsere Arbeitsplätze sind auf den Export angewiesen. Ich füge hinzu: Auch unser Wohlstand ist auf den Export angewiesen. Die USA mit ihrem riesigen Binnenmarkt sind nicht in diesem Ausmaß auf den Export angewiesen. Die USA exportieren rund 8 % ihres Bruttosozialproduktes
({0})
- ich komme noch darauf zu sprechen -, meistens Rohstoffe und Halbfabrikate, also selten das, was der Bundeskanzler einmal intelligente Produkte genannt hat. Auch Japan hat nur einen Außenhandelsanteil von 10 %. Bei uns in der Bundesrepublik sind es 27 %. Rund jede vierte D-Mark - das ist oft genug gesagt worden - und jeder vierte Arbeitsplatz hängen von unseren Verkaufserfolgen und unserer Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt und dem Funktionieren des Weltmarktes überhaupt ab. Das kann man nicht oft genug wiederholen. Ich sage es hier ganz deutlich: Da können der Bundestag und die Bundesregierung beschließen, was sie wollen, von diesen Abhängigkeiten kommen wir nicht weg.
Damit hängt unsere Wirtschaftslage zwangsläufig von der weltwirtschaftlichen Entwicklung ab.
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- Entschuldigen Sie, der Herr Bundeskanzler hat ausführlich über die wirtschaftliche Lage gesprochen.
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Im Energiebereich ist unsere Abhängigkeit bekanntlich noch größer. Auch das kann man nicht oft genug wiederholen. Herr Kollege Barzel hat dazu vorhin eine abwertende Bemerkung gemacht. Öl macht rund die Hälfte unseres gesamten Energieverbrauchs aus; Erdgas kommt zu zwei Dritteln aus ausländischen Quellen; 95 % unseres Öls werden eingeführt; Uran kommt praktisch ausschließlich aus dem Ausland. Nur Kohle haben wir selbst, aber wegen der geologischen Bedingungen ist sie sehr teuer. Hier muß ich fragen, wie es heute mit unserer Kohle aussähe, wenn wir, die sozialliberale Koalition, damals den rigorosen Verdrängungswettbewerb durch das 01 weiter zugelassen hätten. Dann stünde keine Zeche mehr hier. Ich erinnere daran, damals kostete das Heizöl für den Verbraucher 8 Pfennig pro Liter, heute sind es 70 Pfennig. In den USA ist das anders. Sie sind reich an Energie und Rohstoffen und könnten bei entsprechender Politik im Energie- und Rohstoffbereich nahezu autark sein.
Ich erwähne diese deutsche wirtschaftliche Abhängigkeit von der Weltmarkt- und von der Energie- und Rohstoffpreisentwicklung, weil ich deutlich machen will, daß es zwischen uns und den Vereinigten Staaten sehr unterschiedliche Grade wirtschaftlicher Abhängigkeiten gibt und daß es deshalb, gerade was den Osthandel anbetrifft, auch sehr unterschiedliche Interessen geben muß und für unsere Interessenlage sollten wir gemeinsam, auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, für mehr Verständnis werben.
Unsere Ölrechnung hat sich auf Grund des OPEC-Preisdiktats von 1978 bis heute auf über 60 Milliarden DM mehr als verdoppelt.
({3})
Auch dies kann man nicht oft genug wiederholen. Entschuldigen Sie, Herr Kollege, diese 30 Milliarden
DM stehen für die deutsche Wirtschaft nicht mehr
zur Verfügung. Das ist ein realer Kaufkraftentzug.
- Gleichzeitig bescherte uns - der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - die erneute Ölpreisexplosion ein Leistungsbilanzdefizit von rund 28 Milliarden DM.
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- Ich spreche von 1980, entschuldigen Sie.
Für die Deutsche Bundesbank war dies Anlaß, den internationalen Zinswettlauf mitzumachen, um Kapitalbesitzer zu Kapitalanlagen in der Bundesrepublik zu ermuntern, um dadurch das Defizit in der Leistungsbilanz zu finanzieren. Die Folge ist: Wir haben heute extrem hohe Realzinsen. Diese hohen Zinsen sind für mich eigentlich das Investitionshemmnis Nummer eins. Sie verzögern die notwendige Umstrukturierung unserer Wirtschaft; denn Fernwärme und andere Investitionen zur Ölsubstitution rechnen sich nicht bei 11 bis 13 % Zinsen; bei 6 % würde sich das schon rechnen. Dasselbe gilt natürlich auch für den Wohnungsbau.
Dies war für meine Fraktion Anlaß, in dieser Woche wirtschaftspolitische Vorschläge auf den Tisch zu legen, und zwar nicht Vorschläge für ein weiteres Konjunkturprogramm, sondern Vorschläge zur Förderung des Prozesses der Anpassung der Wirtschaft an die veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen. Diese Vorschläge haben zwei Ziele, die sich dekken: erstens rationelle Energieverwendung zur Entlastung unserer Leistungsbilanz und Modernisierung unserer Wirtschaft zur Steigerung unserer Export- und Wettbewerbsfähigkeit. Zweitens: Schaffung von Arbeitsplätzen. Ich freue mich und danke dem Herrn Bundeskanzler namens unserer Fraktion, daß in der gestrigen Kabinettsitzung wesentliche Teile unserer Vorschläge aufgegriffen worden sind. Er hat dies heute dargelegt.
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- Ich rede j a sachlich und über Sachprobleme; da erwartet man im Bundestag im allgemeinen keinen Beifall, gerade auch nicht von Ihrer Seite.
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Die Energieprobleme - ich meine Menge und Preis -, die die Weltwirtschaft ins Schleudern gebracht haben, sind nicht nur Probleme des Westens, sondern auch Probleme des Ostens. Auch darauf hat der Herr Bundeskanzler hingewiesen. Dort herrscht ebenfalls der Zwang zur rationalen Energieverwendung, zumal die RGW-Staaten, was häufig übersehen wird, neben den Vereinigten Staaten dort heute noch Entwicklungsrückstände haben. Denn je Produktionseinheit - ich habe das mal ausrechnen lassen - benötigen sie im Ostblock heute noch dreimal so viel Energie wie wir in der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, die Energieprobleme werden dort langfristig und mittelfristig sehr, sehr unbequem. Dort wird genauso nach alternativen Energiequellen und Energietechnologien gesucht wie bei uns. Die ölpreisbedingten Leistungsbilanzprobleme, die die westlichen Ölimportländer haben, gibt es geJunghans
nauso in Osteuropa - auch hierauf hat der Bundeskanzler hingewiesen - bis auf die UdSSR selber.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lintner?
Herr Kollege Junghans, gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie hier über die Lage der Salzgitter AG und nicht über den Bericht zur Lage der deutschen Nation im geteilten Deutschland sprechen?
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Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich bitte Sie, sie zu wiederholen.
Herr Kollege, fahren Sie doch fort.
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Ich halte das für eine dem Parlament nicht angemessene Frage - wenn ich Ihnen das mal so zurückgeben darf. Ich darf hier als Arbeitskreisvorsitzender meiner Fraktion wohl zu den Teilen, die der Bundeskanzler hier ausgeführt hat, in sachlicher Weise sprechen, ohne mich hier auf Ihren Zwischenruf einzulassen.
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Wenn man diese Zusammenhänge sieht und die Energieversorgung und die Energieverwendung so, wie es notwendig ist, unter einem weltweiten Blickwinkel betrachtet, dann muß man zu dem Ergebnis kommen, daß der Westen Entwicklungsrückstände im Energiebereich im Osten nicht einfach übersehen darf. Ganz im Gegenteil, wir müssen auch im Energiebereich wesentlich stärker mit dem Osten kooperieren und unser technisches Können einbringen, damit die enormen östlichen Reserven an Erdgas, Kohle und Öl und auch an mineralischen Rohstoffen erschlossen und auch für uns selber verfügbar gemacht werden können.
Jetzt komme ich zu dem Thema, das Sie wohl gemeint haben; wahrscheinlich haben Sie es geahnt. Das Erdgas-Röhren-Geschäft, über das zur Zeit verhandelt wird, ist konkrete Kooperation. Ich kann die Bundesregierung nur ermuntern, an ihrer Zustimmung zu diesem Geschäft festzuhalten.
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Ich teile nicht die - auch von amerikanischer Seite geäußerte - Meinung, die Bundesrepublik würde dadurch energiepolitisch zu stark von Rußland abhängig und damit politisch erpreßbar.
Erstens nämlich haben wir - darauf haben auch andere schon hingewiesen - Ausweichmöglichkeiten. Die Belieferung von Großabnehmern, die ihre Anlagen auf Öl umstellen können, kann unterbrochen werden. Im Notfall haben wir die Möglichkeit, aus Holland mehr Gas zu beziehen. Kurzfristig helfen außerdem unsere eigenen Erdgasspeicher,
Schwierigkeiten - z. B. beim Einfrieren von Ventilen in Sibirien - zu überwinden.
Zweitens. Die Sowjetunion würde sich in den eigenen Finger schneiden. Ihr Ansehen als verläßlicher Handelspartner würde weltweit erschüttert, und jährlich gingen ihr rund 20 Milliarden DM an Deviseneinnahmen aus Gasverkäufen verloren.
Drittens müssen wir ohnehin mit Energierisiken leben. Kein Gasgeschäft mit der Sowjetunion bedeutet zunehmende Abhängigkeit von den OPEC-Staaten.
Zum Thema „Energierisiken" möchte ich einmal ein Zitat des Herrn Bundeskanzlers aus einem Referat, das er am 12. März 1981 vor der Friedrich-EbertStiftung gehalten hat, verlesen. Ich stimme dem voll zu, denn es wird viel zuwenig über die Risiken - beispielsweise auch die ökologischen - anderer Energien gesprochen. Der Herr Bundeskanzler hat damals ausgeführt:
In der Bundesregierung glaubt niemand, daß wir aller Sorgen ledig wären, wenn wir nur voll und ganz auf die Kernenergie setzten. Aber es gibt in dieser Bundesregierung auch niemanden, der glaubt, daß die anderen Energiearten ohne Risiken seien. Jeder Energieträger bringt entweder ökologische Risiken oder politische oder wirtschaftliche oder soziale Risiken mit sich oder mehrere Risiken davon gleichzeitig. Über diese Risiken lassen sich keine absolut sicheren Voraussagen machen. Da das nicht möglich ist, ist es nötig, die Risiken, wenn es geht, zu streuen, um das Gesamtrisiko zu minimieren.
Viertens. Beim Thema „Erdgas-Röhren-Geschäft" sollten wir auch nicht vergessen, daß wir hiermit Arbeitsplätze sichern, nicht nur bei Mannesmann, sondern auch bei den vielen mittelständischen Firmen, die im Osthandel engagiert sind. Denn es ist wohl keine Frage, daß das Erdgasgeschäft unseren Osthandel wieder etwas in Schwung bringen könnte. Notwendig wäre das, denn nach der stürmischen Entwicklung in den 70er Jahren - wir haben in einem Jahrfünft den Handel praktisch vervierfachen können - droht zur Zeit Stagnation. Die Gründe dafür sind bekannt: teilweise hohe Westverschuldung der osteuropäischen Staaten, zunehmender Devisenmangel, unzulängliches Fertigwarenangebot des Ostens und als Folge davon zunehmend Kompensationspraktiken, die manches Geschäft scheitern lassen.
Hier wäre anzusetzen, um diese Schwierigkeiten abzubauen. Ich nenne z. B. die Kooperation deutscher Unternehmen mit Betrieben des RGW auf Drittlandmärkten. Hier sind die bisher bescheidenen Ansätze in erheblichem Umfange ausbaufähig. Ich nenne als Stichworte Vertrieb und Marketing, aber auch die Gründung einer der Hermes-Versicherung ähnlichen Einrichtung für osteuropäische Lieferanteile.
In einer Zeit, in der die westlichen Industrieländer unter Wachstumsschwächen leiden und die Entwicklungsländer von der Last der Ölrechnungen wirtschaftlich erdrückt werden, können wir nicht auch noch eine sogenannte harte Position beziehen
und den Osthandel - auch den innerdeutschen Handel - zur Disposition stellen.
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat beenden, das dieser wirtschaftlichen Argumentation ein politisches Argument hinzufügt. Das Zitat lautet:
Der Handel ist es, der am schnellsten den Krieg zum überwundenen Standpunkt macht. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die große Ausdehnung und das schnelle Wachstum des internationalen Handels eine Hauptgarantie für den Frieden ist.
({2})
- Ich sage es Ihnen gleich; seien Sie nicht so neugierig. - Dieses Zitat stammt von dem englischen Nationalökonomen John Stuart Mill, der im vorigen Jahrhundert lebte. Für die ersten 100 Jahre nach dieser Äußerung in seinem Buch hat er leider nicht recht bekommen. Ich gebe das zu. Dennoch teile ich seine Auffassung, denn stabile Wirtschaftsbeziehungen bedeuten persönliche Begegnungen, Kontakte, vor allem aber gemeinsame Interessen, und fördern daher die Verständigungsbereitschaft. Und gerade in schwierigen Zeiten wie heute werden Kontakte und Begegnungen und Verständigungsbereitschaft für uns, so sehen wir es jedenfalls, zu einer Oberlebensfrage. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 4 der Tagesordnung: Antrag der CDU/CSU - Politische Häftlinge in den Haftanstalten der DDR -. Hier schlägt der Ältestenrat Überweisung an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens
- Drucksache 9/221 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({0}) Innenausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Das Wort zur Einbringung hat Frau Senatorin Leithäuser.
Senator Frau Leithäuser ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Beratung steht der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens. Lassen Sie mich dazu in meiner Eigenschaft als Beauftragte des Bundesrates gemäß § 33 der Geschäftsordnung des Bundesrates folgendes ausführen.
Politisch Verfolgte genießen in der Bundesrepublik Deutschland Asylrecht. Mit der Aufnahme dieses Rechts in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes haben - das sollte nie vergessen werden, meine ich - die Verfassungsgesetzgeber Konsequenzen auch aus den leidvollen Erfahrungen zahlreicher Deutscher gezogen, die vor den Verfolgungen der nationalsozialistischen Diktatur im Ausland Schutz fanden und nur dadurch überlebt haben. Inzwischen sind in Erfüllung dieser Verpflichtung, die auch in Zukunft unter keinen Umständen eingeschränkt werden sollte, Zehntausende politisch Verfolgter als Asylberechtigte anerkannt worden.
In den letzten Jahren ist jedoch eine Entwicklung eingetreten, die das freiheitliche Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland vor eine sehr ernste Bewährungsprobe gestellt hat. Das Problem liegt, um es auf eine ganz kurze Formel zu bringen, in dem weder vorhersehbaren noch vorausberechenbaren sprunghaften Ansteigen der Zahl der Asylbewerber, von denen der ganz überwiegende Teil aus asylfremden Motiven Aufenthalt in der Bundesrepublik erstrebt, und, dadurch bedingt, der immer noch zu langen Dauer der Asylverfahren.
Infolge dieser Entwicklung stehen Länder und Gemeinden, die die Asylbewerber unterzubringen haben, inzwischen vor kaum lösbaren, jedenfalls nur sehr schwer lösbaren Aufgaben. Eine menschenwürdige Unterbringung und Betreuung der Asylbewerber gestaltet sich zunehmend schwieriger. Wir nähern uns dem Zeitpunkt, daß unsere sozialen, organisatorischen und auch finanziellen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen werden, um mit diesen Problemen fertig zu werden. Da die Länder und Gemeinden in erster Linie betroffen sind, hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, der unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze Abhilfe schaffen soll.
Der Weg zu dieser Gesetzesinitiative war lang und mühsam. Ihr liegen im wesentlichen zwei Gesetzentwürfe von Hessen und Baden-Württemberg zugrunde, deren Lösungsvorschläge zum Teil erheblich divergieren. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Auffassungen der übrigen Länder. Auf breiter Basis zu einer konsensfähigen Lösung zu gelangen war nur möglich, weil alle Länder im Interesse einer zügigen Einbringung des Gesetzentwurfs bereit waren, Bedenken zurückzustellen und aufeinander zuzugehen. Sie haben deshalb einstimmig beschlossen, den vorliegenden Gesetzentwurf im Bundesrat einzubringen. Dabei lag die gemeinsame Erkenntnis zugrunde, daß es zwingend geboten ist, die Dauer der Verfahren unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze durch gesetzgeberische Maßnahmen weitestmöglich zu verkürzen, um zu erreichen, daß wirklich Verfolgte sobald wie möglich ihre Anerkennung als Asylberechtigte erhalten, Asylbewerber jedoch, bei denen eine politische Verfolgung nicht vorliegt, unser Land so früh wie möglich wieder verlassen.
Es bestand Einigkeit darüber, daß zur Verfahrensbeschleunigung und zur Entlastung der Gerichte auch neue Wege beschritten werden müssen, wobei allerdings zum Teil auf Modelle zurückgegriffen
Senator Frau Leithäuser ({2})
wurde, die im Zuge der geplanten großen Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch allgemein für das verwaltungsgerichtliche Verfahren in Frage kommen.
Erstens möchte ich zur Asylproblematik im einzelnen folgendes sagen: Der Zustrom an Asylbewerbern ist in den letzten Jahren, wie wir alle wissen, über alle Maßen gestiegen. Waren es 1973 noch 5 595 Personen, so stieg die Zahl 1976 auf 11 123, 1979 auf 51 493 und 1980 gar auf 107 818. Das bedeutet gegenüber dem Jahre 1973 eine Steigerung um mehr als das 19fache, gegenüber 1979 immer noch eine Steigerung um mehr als das Doppelte. Zwar trifft es zu, daß in der zweiten Hälfte des Jahres 1980 der Zustrom der einreisenden Asylbewerber merklich abgeflaut ist. Eine Zahl von monatlich 3 000 bis 4 000 Asylbewerbern wie in den Monaten November 1980 bis Februar 1981 ist jedoch noch immer unvertretbar hoch.
Auf die derzeit höchst prekäre Belastungssituation bei den Verwaltungserichten hat dieser Rückgang der Asylbewerberzahlen aber - das muß man deutlich betonen - zunächst überhaupt keine praktischen Auswirkungen. Wenn man berücksichtigt, daß allein im Jahre 1980 107 818 Asylanträge gestellt worden sind, so kann man sich vorstellen, welch eine Verfahrenswelle noch auf die Verwaltungsgerichte zukommt.
({3})
Der Anteil der Asylanträge, denen ein echter Verfolgungstatbestand zugrunde liegt, ist nach wie vor sehr gering. Die Statistiken des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte weisen aus, daß fast 90 % der Asylanträge unbegründet sind. Die Bundesrepublik Deutschland übt eben wegen ihrer Wirtschaftskraft, ihrer günstigen sozialen Bedingungen und auch der Freiheitlichkeit ihrer Lebensformen auf viele Ausländer eine große Anziehungskraft aus. Maßgebend dafür ist, daß die Lebensbedingungen im Bundesgebiet selbst bei Bezug von Sozialhilfe durchweg erheblich besser sind als in den Heimatländern der Ausländer, in denen zum Teil - das muß man eben sehen - eine kaum vorstellbare Not herrscht.
Um den anders nicht zu erreichenden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wenigstens für die Dauer des Verfahrens zu erreichen, täuschen Asylsuchende zunehmend Asylgründe unter Ausnutzung aller gegebenen Möglichkeiten lediglich vor. Auch Schlepperorganisationen, die aus der Not der Ausländer Profit ziehen, sind - man muß das ironisch sehen - gegen „Honorar" bei der Einreise behilflich. Der überwiegende Teil der abgelehnten Asylbewerber schöpft den gerichtlichen Instanzenzug einfach voll aus. Wegen der langen Dauer des Verfahrens können Asylbewerber in der Regel immer noch einen mehrjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erzwingen, auch wenn sie letztlich keinen Asylgrund geltend machen können. Bei Ausschöpfung aller Rechtsmittel ziehen sich die Verfahren in einer Vielzahl von Fällen jahrelang hin. Dies muß auf Ausländer, die aus wirtschaftlichen Gründen einen längeren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland anstreben, als Anreiz wirken.
Der Mißbrauch des Asylrechts wirkt sich zum Nachteil der tatsächlich verfolgten und auch derjenigen Ausländer aus, die nach Abschluß des Asylverfahrens aus politischen, humanitären oder sonstigen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland verbleiben, etwa weil inzwischen die Ehe mit einem bzw. einer deutschen Staatsangehörigen geschlossen wurde.
Diesem Mißbrauch muß, um das Asylgrundrecht in seinem derzeitigen Umfang zu erhalten und nicht durch eine neu entstehende Ausländerfeindlichkeit etwa in Frage gestellt zu sehen, wirksam entgegengetreten werden.
({4})
Zweitens. Die bisherigen Maßnahmen sind - darüber sind sich alle Länder einig - nicht ausreichend, um dem Mißbrauch des Asylrechts Einhalt zu gebieten. Zwar hat das Zweite Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens bereits insgesamt zu einer gewissen Beschleunigung des Verfahrens beigetragen und damit zu einer Abschwächung des Anreizes für Asylbewerber geführt, die ausschließlich aus asylfremden Motiven einreisen, doch haben die Maßnahmen dieses Gesetzes in erster Linie zu einer Entlastung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge geführt. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß nach diesem Gesetz nicht mehr Ausschüsse, sondern einzelne Bedienstete des Bundesamtes über Asylanträge zu entscheiden haben.
Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist dagegen im Gesetz weitestgehend ausgespart worden. Insoweit ist lediglich die Zusammenführung der gerichtlichen Verfahren über die Asylgewährung und über die Maßnahmen der Ausländerbehörde zur Beendigung des Aufenthalts zu einem gemeinsamen Verfahren vorgesehen.
Diese Regelungen reichen jedoch nicht aus, der immer stärker werdenden Belastung der Verwaltungsgerichte und damit einer weiteren Verlängerung der gerichtlichen Verfahren in Asylsachen zu begegnen.
({5})
Drittens. Es bedarf nunmehr zusätzlicher Maßnahmen, dem Anwachsen der Rückstände bei den Verwaltungsgerichten entgegenzuwirken und den Abbau der bereits aufgelaufenen Rückstände zu beschleunigen. Die Verwaltungsgerichte haben bereits aus dem Jahre 1980 ganz erhebliche Rückstände. Allein in den zwölf Monaten dieses Jahres sind insgesamt 48 781 Klagen abgewiesener Asylbewerber eingegangen. Es muß damit gerechnet werden, daß diese Asylverfahren die Verwaltungsgerichte noch im Jahre 1981 voll auslasten. Bei dieser Prozeßflut werden die Gerichte auch in noch nicht absehbarer Zeit ständig einen Berg unerledigter Verfahren vor sich herschieben müssen.
Senator Frau Leithäuser ({6})
Durch diese Entwicklung wird ein angemessener verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz auf Jahre in Frage gestellt werden, wenn es nicht gelingt, durch gesetzgeberische Maßnahmen die Verwaltungsgerichte wirksam zu entlasten.
Die Länder haben erhebliche Anstrengungen unternommen, um durch eine Verstärkung ihrer für Asylsachen zuständigen Verwaltungsgerichte die zunehmende Belastung der Verwaltungsgerichte aufzufangen. Sie sind dabei an die Grenzen des personell noch Machbaren und auch haushaltsmäßig Vertretbaren gelangt. Jetzt wird es darauf ankommen, die vorhandene richterliche Arbeitskraft so effektiv wie möglich einzusetzen.
Aus diesem Grund ist der Bundesrat der Auffassung, daß im asylrechtlichen Verfahren grundsätzlich der Einzelrichter entscheiden sollte, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung und keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist.
Daneben sind unter Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes prozeßverkürzende Maßnahmen geboten, um den Anreiz, das Asylverfahren wegen des damit verbundenen Aufenthalts aus ausschließlich wirtschaftlichen Gründen zu betreiben, weiter abzuschwächen.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf hat zum Ziel, mit der Änderung des bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens bereits im Verwaltungsverfahren eine möglichst schnelle Entscheidung über offensichtlich unbegründete bzw. rechtsmißbräuchliche Anträge durch die insoweit sachkundigen Ausländerbehörden herbeizuführen. Gleichzeitig soll das gerichtliche Verfahren, und zwar sowohl das Eil- als auch das Hauptverfahren, unter Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes weitestgehend beschleunigt werden. Dabei sollen auch die erstinstanzlichen Gerichte, die derzeit die Hauptlast der Asylverfahren zu tragen haben, entlastet werden.
Im einzelnen sieht der Gesetzentwurf folgende Maßnahmen vor:
a) Den Ausländerbehörden wird eine gesetzliche Grundlage dafür gegeben, Asylanträge unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere wenn sie offensichtlich rechtsmißbräuchlich oder offensichtlich unbegründet sind, ohne Einschaltung des Bundesamts als unbeachtlich zurückzuweisen und sofort vollziehbare aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen. Eine diesbezügliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts im vorläufigen Rechtsschutz ist unanfechtbar.
b) Die Kammer des Verwaltungsgerichts überträgt in asylrechtlichen Verfahren den Rechtsstreit einem Einzelrichter zur Entscheidung, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist.
c) Die Berufung in Asylstreitigkeiten ist nur zulässig, wenn das Verwaltungsgericht sie bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zuläßt. Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung ist unanfechtbar.
Viertens. Dieser Entwurf beruht, wie ich schon eingangs gesagt habe, auf einem Kompromiß. Dabei haben die CDU/CSU-regierten Länder im wesentlichen auf die Zurückweisungsmöglichkeit durch die Grenzbehörde unmittelbar an der Grenze, auf die Verkleinerung des Spruchkörpers im vorläufigen Rechtsschutz - sogenannte Grenzrichter - und den generellen Berufungsausschluß in Asylsachen verzichtet. Bei den SPD/FDP-regierten Ländern dagegen bestanden Vorbehalte, u. a. gegen die gesetzliche Festschreibung der Zurückweisungsgründe, insbesondere bei offensichtlich rechtsmißbräuchlicher oder offensichtlich unbegründeter Antragsstellung, gegen die Unanfechtsbarkeit der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz, gegen die obligatorische . Überweisung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter und gegen die Einführung der Zulassungsberufung ohne die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde. Auch diese Länder haben ihre Bedenken - zum Teil mit Vorbehalten für das weitere Gesetzgebungsverfahren - im Interesse der beschleunigten Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens zurückgestellt.
Fünftens. Abschließend darf ich darauf hinweisen, daß der vorliegende Gesetzentwurf wiederum nur Lösungsvorschläge für einen Teil der Asylproblematik enthält. Weitere Maßnahmen werden erforderlich sein. Ich denke hier z. B. unter anderem an das Problem der gerechten Verteilung der Asylbewerber auf die Länder sowie an die Frage des rechtlichen Status der Asylbewerber während der Dauer des Verfahrens. Insoweit kann den Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Asylwesen zuversichtlich entgegengesehen werden.
Sechstens. Die Länder haben nach allem ein gemeinsames Interesse bekundet, daß möglichst bald die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um dem Mißbrauch des Asylrechts entgegenzuwirken. Aber gerade auch im Interesse der wirklich politisch Verfolgten muß erreicht werden, daß diesen schneller als bisher die Anerkennung als Asylberechtigte verschafft wird.
Im Auftrag des Bundesrats darf ich Sie deshalb bitten, diesem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu geben. - Ich danke Ihnen.
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Ich danke Ihnen, Frau Senator.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Bötsch.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast in jeder Plenarsitzung sieht sich das Hohe Haus veranlaßt, sich mit irgendeinem Vorhaben, irgendeinem Antrag oder einem Gesetzentwurf zu beschäftigen, der darauf zurückzuführen ist, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien nicht in der Lage waren, und vielfach auch heute nicht in der Lage sind, Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Diese Beobachtung muß der Bürger machen, dem vor der Wahl in fast allen Bereichen der politischen Landschaft, insbesondere in der Innenpolitik, erzählt wurde, es sei ja gar nicht so schlimm und es werde sich alles schon von selbst lösen.
Diese generelle Feststellung gilt auch für die Materie, mit der wir uns heute auf Grund eines Gesetzentwurfs des Bundesrats zum wiederholten Mal zu beschäftigen haben, nämlich für die Frage, in welcher Form und mit welchen Mitteln wir der steigenden Flut von Asylbewerbern Herr werden wollen.
Frau Senatorin, ich hatte bei Ihrer Einbringungsrede manchmal den Eindruck, als hätten Sie bei der Vorbereitung der Rede etwa Vorlagen des Kollegen Spranger oder auch von mir zu Hilfe genommen; denn zumindest einen Teil dessen, was die Tatsachen anbelangt, haben wir hier wiederholt - allerdings bei Ablehnung durch die Koalition - vorgetragen.
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Es wäre reizvoll, jetzt alle Aktivitäten der CDU/CSU aus den vergangenen Jahren aufzuzählen. Aber ich will mir dies wegen der zur Verfügung stehenden Zeit ersparen. Es sei jedoch die Anmerkung erlaubt, daß all das, was dann ab und zu mit beschwichtigenden Erklärungen auf die Seite geschoben wurde, nicht überraschend und nicht unerkennbar gekommen ist - da befinde ich mich, wenn ich sie richtig verstanden habe, in einem Gegensatz zur Frau Senatorin -, sondern daß wir seit etwa einem Jahrzehnt an Hand der Zahlen feststellen können, daß die Bundesrepublik Deutschland für Asylsuchende eine immer größere Attraktivität gewonnen hat. Wir hatten im Jahre 1971 noch ganze 5 400 Asylbewerber, und das Jahr 1980 hat die von der Frau Senatorin genannte Steigerung auf 107 000 gebracht.
Mindestens seit dem Jahre 1977 haben wir in verschiedenen Gesetzesanträgen versucht, den Instanzenzug zu verkürzen, weil wir der Auffassung waren und sind, daß in der Dauer der Verfahren der Hauptgrund - natürlich neben den wirtschaftlichen Gegebenheiten bei uns - für diese genannte Attraktivität zu suchen ist. Irreführenderweise wurde uns dabei immer alles Mögliche vorgeworfen, wurde uns vorgeworfen, wir würden durch eine Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstaat aushöhlen und denen, die mit gutem Grund bei uns Asyl suchen, auch diese Möglichkeit verwehren. Um es zum wiederholten Male klarzustellen und festzustellen: Keinem, der für eine Beschleunigung der Verfahren bei Asylsachen eintritt, kann mit guten Gründen nachgesagt werden, daß es ihm etwa darum gehe, den Rechtsschutz für diejenigen zu verkürzen, die begründet und aus beachtlichen Erwägungen heraus versuchen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl zu erhalten. Wir sind aber nach wie vor der Auffassung, daß gerade viele von denen, die in den letzten Jahren die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland überschritten haben, um sich bei uns niederzulassen, die im Grundgesetz vorgesehenen Gründe eben nicht vorbringen können.
Wir sind der Auffassung - dies ist in Übereinstimmung mit dem bereits Vorgetragenen -, daß zum Rechtsstaat und zum Rechtsschutz nicht nur ein ordentlich in Paragraphen geregeltes Verfahren mit möglichst vielen Instanzen gehört, sondern auch, daß dieser geregelte Rechtsschutz in einer angemessenen Zeit gewährt wird. Dies war aber in den vergangenen Jahren bei einer Verfahrensdauer von fünf bis sieben Jahren eben nicht der Fall, da die Kapazitäten der Gerichte auch nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens und des anschließenden Änderungsgesetzes bei weitem nicht ausreichen.
Wenn wir die gestrigen Meldungen ernst nehmen, dann kommen gerade Berlin und Hamburg auch mit den bisherigen gesetzlichen Möglichkeiten nicht weiter, wenn es stimmt, daß in Hamburg im vergangenen Jahr nur etwa 200 Fälle entschieden wurden und in Berlin etwa 300 Fälle. Ob dies auf Grund der jetzt schon gegebenen Möglichkeiten nicht doch etwas wenig ist, das bleibe einmal dahingestellt. Aber ich darf hier vielleicht noch einmal daran erinnern, welche Leistungen beim Anfang des Anschwellens des Asylbewerber-Stroms gerade der Freistaat Bayern mit seinem Verwaltungsgericht Ansbach erbracht hat, wo ja zu Anfang diese gesamten Asylverfahren zentral abgewickelt werden mußten.
Nun haben wir gestern - ich habe das jedenfalls in einer Zeitung gefunden, in der „Frankfurter Neuen Presse" - das mit dem Namen des Kollegen Schöfberger verbundene Patentrezept als Vorschlag gefunden, zu dem es da heißt, daß man in einer Kommission vorschlägt - aber vielleicht wird Kollege Schöfberger dazu noch Stellung nehmen -, jetzt allen Asylbewerbern, die sich zu einem bestimmten Stichtag in der Bundesrepublik aufhalten, ohne jegliches Aufnahme- oder Prüfungsverfahren eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, das heißt, alle hunderttausend anhängigen Verfahren damit praktisch - so wird es in der „Frankfurter Neuen Presse" zitiert - für erledigt zu erklären und all denen ohne Prüfung Asyl zu gewähren.
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- Das kann ich nicht beurteilen, Herr Kollege Erhard. Aber ich frage mich - vielleicht kann man das erläutern -: Wo bleiben da eigentlich die Grundsätze eines rechtsstaatlichen, mit unserer Verfassung übereinstimmenden Verfahrens? Das muß man uns natürlich schon etwas näher erläutern.
Die Frau Senatorin hat im einzelnen dargestellt, was der Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf will. Ich will mir das deshalb ersparen. Ich möchte nur noch einmal auf einen Punkt besonders hinweisen, nämlich auf die Forderung, die Zuständigkeiten der Verwaltung für die Anerkennung des Rechts auf Asyl zu erweitern, d. h. den Versuch - der, meine ich, zu Recht gemacht wird -, das Nadelöhr des Bundesamtes in Zirndorf zu beseitigen, auch wenn dort jetzt nur mit einem Mann entschieden wird. Die jeweiligen Ausländerbehörden sollen unbeachtliche Asylanträge nach einer Art Vorprüfung abweisen können, wobei ein Asylantrag unbeachtlich u. a.
dann sein soll, wenn der Ausländer schon in einem anderen Lande Schutz vor Verfolgung gefunden hat, wenn sein Antrag offensichtlich rechtsmißbräuchlich ist oder wenn er seinen Mitwirkungspflichten schuldhaft nicht nachkommt. Nur diejenigen Fälle, die in diesem Sinne nicht unbeachtlich sind, sollen dann nach Zirndorf weitergegeben werden.
Ich kann heute in der ersten Lesung für unsere Fraktion zusagen, daß wir in den Ausschüssen ohne Vorbehalt an die Prüfung des Gesetzentwurfes, und zwar in all seinen Bestimmungen herangehen, und auch der Bitte des Bundesrates gerne nachkommen, diese Prüfung zügig durchzuführen; denn wir erkennen die Problematik hinsichtlich der Zukunft durchaus.
Beim Lesen der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Gesetzentwurf konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich folgenden Satz fand
- ich zitiere -:
Der Entwurf des Bundesrates befaßt sich mit einem wichtigen Teilaspekt, kann aber das Asylproblem insgesamt nicht lösen.
Angesichts der Vorgeschichte, die ich darlegen durfte, ist eine solche Zensur der Bundesregierung doch etwas eigenartig, vor allem hinsichtlich der Hinhaltetaktik, die jahrelang betrieben wurde.
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- Er hat sich dieser Problematik ja jetzt vielleicht an anderer Stelle verstärkt zu widmen, um Ihren Zwischenruf, Herr Kollege Erhard, über den früheren Justizminister aufzunehmen.
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Ich darf sagen, daß auch der Hinweis, der in diesem Zusammenhang in der Gegenäußerung der Bundesregierung auf die beabsichtigte Neuordnung des Verwaltungsprozeßrechts getätigt wird, nicht hilfreich sein kann; denn selbst dann, wenn dieser Entwurf wie geplant in der zweiten Hälfte des Jahres 1981 den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet wird, ist ja nicht gleich am nächsten Tag eine Entscheidung zu erwarten. Bei der Gründlichkeit, mit der wir uns dieser Materie widmen müssen, kann man wohl davon ausgehen, daß die Beratungen nicht vor Ende 1982 abgeschlossen sein werden.
Die Bedenken, die die Bundesregierung insbesondere gegenüber der Regelung geäußert hat, die ich bereits anführte, nämlich der Regelung mit den Unbedenklichkeitsgründen und den Verwaltungsbehörden, dürften zumindest teilweise unbegründet sein. Soweit hiernach nämlich die Ausländerbehörden befugt sein sollen, in bestimmten, eng umgrenzten und Zweifel ausschließenden Fällen im Rahmen einer sogenannten Inzidenzprüfung über Asylbegehren zu entscheiden, soll weitgehend lediglich gesetzlich normiert werden, was schon bisher in den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz stand und damit teilweise dem geltenden Rechtszustand entsprach. Insofern hat der Entwurf weitgehend klarstellenden und den bisherigen Rechtszustand verfestigenden Charakter.
Die FDP hat zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates sehr schnell - schon im Dezember 1980 - durch den Kollegen Hirsch, den ich hier sehe, erklärt, daß er in der vorliegenden Form kaum akzeptabel sei. Er berücksichtige in zwar hervorragender, aber ebenso rücksichtsloser Weise das verständliche Interesse der Länder und Gemeinden, die Zahl der Asyslsuchenden zu verringern. - So ändert sich, Herr Kollege Hirsch, die Betrachtungsweise sehr schnell, wenn man den Wechsel von der Bundesratsbank in die Bänke etwa der Koalition im Bundestag vollzieht. Das darf ich vielleicht als persönliche Anmerkung dazu sagen.
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- Ob der Wechsel ganz freiwillig war, will ich dahingestellt sein lassen.
Er hat weiter ausgeführt, der Entwurf lasse die Achtung vor dem Schicksal der Menschen vermissen, die bei uns Zuflucht suchen. Ich bezweifle, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen
- insbesondere von der Koalition -, ob ein solches Herangehen an den Gesetzentwurf mit polemischen und ungerechtfertigten Vorwürfen, bevor man überhaupt in die Beratung eingetreten ist, eine richtige und vorurteilsfreie Prüfungsmöglichkeit ergibt.
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Ich habe im Gegenteil den Verdacht, daß eine solche Stellungnahme nicht die Achtung vor dem Schicksal der Menschen, sondern die genaue Kenntnis des Entwurfs und dessen Intentionen vermissen läßt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Sinne bitte ich Sie alle, unvoreingenommen an die Prüfung heranzugehen. Ich sage nochmals für uns: Wir sind bereit, unvoreingenommen zu prüfen und die Beratungen im Ausschuß sehr schnell zu einem Abschluß zu führen. - Danke schön.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schöfberger.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Bötsch, wir Sozialdemokraten haben die Probleme, die sich aus dem Zustrom ausländischer Menschen und aus dem Aufenthalt ausländischer Menschen unter unseren Mitbürgern ergeben, nie verkannt. Ich muß allerdings sagen: Bevor wir an das Bundesamt und seine Arbeitsweise, bevor wir an die Verwaltungsgerichte denken, denken wir zunächst an die Menschen, die in den weniger feinen Vorstädten wohnen und sich in ihrem Mietshaus über Jahr und Tag in einem türkischen Viertel wiederfinden.
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Wir denken allerdings, Herr Kollege, weniger an die feinen Villenvororte, in denen man nur bei Gelegenheit der Mülltonnenräumung oder der Räumung der Versitzgrube mit ausländischen Menschen in Kontakt kommt - wenn überhaupt.
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Wir wissen auch, was die Länder leisten müssen, um dieses Problem zu bewältigen. Wir würdigen dies. Wir haben daher mit der ersten Beschleunigungsnovelle und mit dem Zweiten Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens zusammen mit dem Sofortprogramm der Bundesregierung vom August des vergangenen Jahres erfolgreich gehandelt.
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Herr Kollege Bötsch, im Februar 1980 gab es 13 363 Asylbewerber und im Februar 1981 gab es 3 161 Asylbewerber, weniger als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahresmonat. Ich meine, da kann man sich doch nicht hier hinstellen und von einer steigenden Flut der Asylbewerber reden und dabei der Bundesregierung wie auch den Koalitionsparteien Handlungsunfähigkeit vorwerfen. Wenn es uns gelungen ist - vielleicht auch auf Grund von Entwicklungen in der Türkei -, die Zahl der Asylbewerber auf 23 % der Vorjahreszahl zu senken, dann können Sie nicht sagen, es sei nichts geschehen. Wenn Sie es dennoch tun, hat das mit Polemik nichts mehr zu tun. Sie bewegen sich an der Grenze der eigenen Skurrilität.
In der Tat ist es ein Problem der Türkei gewesen, und es wird auch ein Problem der Türkei bleiben. 1980 waren 53,6 % der Asylbewerber Türken. Die nächste Volksgruppe, die der Pakistani, machte 1980 nur 6,3 % aus. Durch die Einführung der Visapflicht im Sofortprogramm der Bundesregierung und durch die Verweigerung der Arbeitsaufnahme konnte der Zustrom aus der Türkei erfolgreich abgebremst werden. Dies ist viel wichtiger als die Beschleunigung von Verfahren, wenn die Menschen einmal hier sind. Das wollte die Bundesregierung sagen, wenn sie in ihrer Stellungnahme äußerte, daß das, was der Bundesrat vorschlägt, nur einen Teil der Probleme aufgreift.
Das eigentliche Problem - da stimme ich Ihnen zu - ist folgendes. Ein Asylanerkennungsverfahren muß folgende Kriterien erfüllen: Erstens muß es rechtsstaatlich einwandfrei sein, darf weder das Asylrecht in Art. 16 noch die Rechtsweggarantie in Art. 19 des Grundgesetzes antasten. Da sind wir uns wohl einig. Es muß zweitens unter dem Gesichtspunkt der Humanität eine menschlich erträgliche Behandlung der betroffenen Menschen ermöglichen. Es muß drittens innerhalb einer erträglichen Zeitspanne entweder zur endgültigen Anerkennung oder aber zur endgültigen Versagung und notfalls zur Ausweisung führen.
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Dies letztere liegt auch im Interesse der betroffenen Menschen, nach dem altrömischen rechtlichen Grundsatz „bis dat qui cito dat": es gibt mehr Recht der, der es schnell gibt.
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- Lassen Sie doch Ihre saudummen Zwischenrufe!
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Es liegt also auch im Interesse nicht berechtigter Asylbewerber, wenn sie innerhalb weniger Monate erfahren, ob und daß sie wieder weg müssen. Die Verfahren sind mit sechs bis acht Jahren - Sie müssen nur einmal die Berichte über die Verfassungsbeschwerden aus Karlsruhe lesen, in denen steht, wie lang das dauert - unerträglich lang. Das ist die eine Seite, über die wir beraten müssen.
Herr Bötsch, es wäre gut gewesen, wenn Sie in Ihrer Rede folgendes gesagt hätten: Wir von der CDU/ CSU wollen nicht nur im Parlament, sondern auch draußen an den Stammtischen bei der Diskussion dieser Probleme zusammen mit Ihnen jeder Art von Fremdenfeindlichkeit energisch widerstehen.
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- Da gibt es andere Ursachen. Lesen Sie den Sinus-Bericht über den Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland und über die Rolle, die die Fremdenfeindlichkeit innerhalb rechtsradikaler Tendenzen spielt.
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Es wäre auch sehr gut gewesen, wenn Sie hier gesagt hätten, daß Sie sich bei aller Sorge um ein schnelleres Verfahren - mit oder ohne Einzelrichter; das sind Detailfragen - aus Ihrer christlichen Verantwortung heraus auch und gerade um die armen Teufel kümmern. Wenn Barmherzigkeit nötig ist, ist es gar nicht wichtig, ob die Menschen hergeflohen oder von Schlepperorganisationen hierher verführt worden sind. Es handelt sich in den allermeisten Fällen um arme Teufel, die unseres Mitleids und unserer Fürsorge bedürfen, auch wenn sie wieder gehen müssen.
Es wäre auch gut gewesen, wenn wir nicht nur en passant, sondern an erster Stelle hier wie draußen immer wieder betonten, daß es sich beim Asylrecht um ein hochrangiges Menschenrecht unserer freiheitlichen Verfassung handelt, daß es sich dabei um einen Gradmesser für Humanität und Rechtsstaatlichkeit handelt - um einen von mehreren Gradmessern -, daß dieses Asylrecht Ausdruck und Wesensmerkmal der politischen Kultur unserer Republik ist,
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daß dieses Asylrecht zudem auf leidvoller Erfahrung vieler Emigranten in der jüngeren deutschen Geschichte beruht und daß dieses Asylrecht nicht durch einen „kurzen Prozeß", der freilich populär wäre, angetastet werden darf. Der „kurze Prozeß" wäre ein Prozeß, der das Asylrecht aushöhlt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Bötsch.
Herr Kollege Schöfberger, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß es bei dieser Passage sicherlich zwischen den von Ihnen gemachten Aussagen und denen der CDU/CSU überhaupt keinen Dissens gibt, daß aber, wenn Sie hier einen Gegensatz aufbauen wollen, auch ein Gegensatz zu dem besteht, was Sie selbst gesagt haben: daß zu einem rechtsstaatlichen Verfahren auch eine angemessene, d. h. möglichst kurze Verfahrensdauer gehört - nicht in dem negativen Sinn, wie Sie jetzt den „kurzen Prozeß" hier in die Debatte eingebracht haben.
Herr Kollege Bötsch, ich stimme Ihnen völlig zu und habe nur die Hoffnung, daß wir auch draußen in den Versammlungen und an den Stammtischen gemeinsam jeden Versuch unterlassen, der grassierenden Fremdenfeindlichkeit Vorschub zu leisten. Dann sind wir uns in dieser Sache einig.
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Bei der Beratung sollten wir auch von dem Grundsatz ausgehen, daß das Asylrecht nach Art. 16 nicht unter Gesetzesvorbehalt steht und deshalb durch einfaches Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes nicht eingeschränkt und in seinem Wesensgehalt nicht angetastet werden kann.
Ich meine auch noch folgendes: Nachdem die zweite Beschleunigungsnovelle erst ein paar Monate alt ist - sie ist am 23. August 1980 in Kraft getreten -, sollten wir uns hüten, mit gesetzgeberischen Bocksprüngen in wenigen Monaten von Novelle zu Novelle zu springen und damit das Asylrecht zu zertrampeln. Es ist nämlich jetzt Zeit, daß man die Erfahrungen sammelt, die mit der zweiten Asylrechtsbeschleunigungsnovelle gemacht werden
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- wie die Statistik beweist, sind das keine schlechten Erfahrungen -, und daß wir diese Erfahrungen in ein nahtloses Anschlußgesetz einmünden lassen, das zum 1. Januar 1984 sowieso in Kraft treten muß, weil die zweite Beschleunigungsnovelle zum 31. Dezember 1983 ausläuft. Wenn wir diesen Zeitrahmen ansteuern, sollten wir inzwischen nicht wieder aus der Hüfte schießen und auf die Beschleunigung noch eine Beschleunigung setzen.
Ich darf mit folgendem Gedanken schließen, den der Regierende Bürgermeister von Berlin heute vormittag schon eingeführt hat.
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Wir haben in den Jahren von 1958 bis zum absoluten Anwerbestopp im Jahre 1974 4 Millionen Menschen, Familienangehörige eingerechnet, in unser Land geholt. Demgegenüber sind 1980 12 488 Menschen, das sind genau 16,3 % aller Asylbewerber, als asylberechtigt anerkannt worden. 4 Millionen gegen 12 488! Die einen haben wir hereingeholt - oder, besser gesagt, hereinholen lassen -, weil der Import von Menschen offenbar profitnützlicher war als der Kapitalexport. Wir alle haben das auch gutgeheißen, weil die ausländischen Arbeitnehmer die schlechtbezahlten Dreckarbeiten billig und willig verrichtet haben. Da müssen Sie, wenn es jetzt um die Größenordnung von 12 000 geht, schon Ihre ganze Kraft zusammennehmen, um den xenophobischen Gaul draußen nicht durchgehen zu lassen.
Sie haben mich noch wegen der Häufung von Restverfahren aus dem Jahre 1980 angesprochen. „Rest" kann man hier gar nicht sagen. In der Tat hängen beim Bundesamt 53 000 Verfahren und bei den Verwaltungsgerichten einschließlich der Instanzen wiederum 53 000 Verfahren an. Das Hauptproblem in der Beratung wird sein, wie wir diesen Rückstau bewältigen. Denn nachdem der Neuzustrom erheblich - auf 23 % - abgesunken ist, müssen wir mit aller Energie versuchen, die bestehenden Verwaltungs- und Gerichtsapparate wieder für die Behandlung der Neuzugänge freizumachen.
Bei diesem Problem sollte man meines Erachtens tatsächlich überlegen, was denn besser ist, nachdem die Menschen sowieso schon vier, fünf oder sechs Jahre, wie Sie auch sagten, hier sind: ob man das Ganze nicht gleich auf ein anderes Gleis, nämlich das der Anerkennung oder der Aufenthaltserlaubnis, schiebt. Ein fertiges Rezept habe ich weder bei mir noch habe ich es verkündet. Darüber müssen wir beraten.
Zum Abschluß möchte ich zu dem, was der Bundestag vorschlägt, folgendes sagen. Jeder einzelne Vorschlag des Bundesrates ist erwägenswert und prüfenswert, vom Einzelrichter bis zur Einführung der Zulassungsberufung an Stelle eines ordentlichen Rechtszuges. Aber in der Gesamtwirkung, einschließlich dessen, was wir beim ersten und zweiten Beschleunigungsgesetz bereits gemacht haben, begegnen die Vorschläge des Bundesrates bei uns erheblichen Bedenken; denn man muß sich immer den schlechtesten Fall eines solchen Verfahrens vorstellen, um diese Vorschläge rechtsstaatlich zu testen.
Den schlechtesten Fall könnte ich mir so vorstellen: Die Innenminister haben die Quote der Anerkennung und die vollen Sammellager im Auge. Sie geben deshalb den Ausländerbehörden, bei denen in Zukunft die erste Entscheidung gefällt werden soll, eine generelle Anweisung, besonders streng vorzugehen oder möglichst wenig zum Bundesamt gelangen zu lassen. Die Mehrzahl der Anträge könnte dann mit formularmäßiger Begründung als „unbeachtlich" zurückgewiesen werden. Dagegen gibt es kaum Rechtsschutz. Es ist kein Widerspruch möglich, weil wir den schon lange abgeschafft haben. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung, einstweilige Anordnung, und auch die Anfechtungsklage hätten keine aufschiebende
Wirkung. Das heißt, ein möglicher Prozeß müßte - das Bundesamt war noch nicht eingeschaltet - vom Ausland aus geführt werden. Der eigentliche Rechtsschutz findet dann nur noch vor dem Einzelrichter statt. Eine Berufung gibt es nicht. Es gibt eine Zulassungsberufung, die der Herr Einzelrichter im Regelfall sicher nicht zuläßt. Das gibt insgesamt ein Verfahren, bei dem die Substanz des Asylrechts und die Substanz der Rechtsweggarantie nicht mehr gewahrt werden kann. Deshalb habe ich die herzliche Bitte, daß wir über jeden einzelnen Vorschlag des Bundesrates an Hand der praktischen Erfahrungen draußen beim Bundesamt und bei den Verwaltungsgerichten sehr intensiv beraten, daß wir uns aber hüten, eine Gesamtwirkung entstehen zu lassen, die das Asylrecht aushöhlt und die Rechtsweggarantie untergräbt.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen, verehrter Herr Kollege Bötsch, sofern Sie Probleme mit der Kontinuität der FDP-Fraktion haben sollten, wie es in Ihrem Redebeitrag anklang, wird Sie vielleicht die Tatsache beruhigen, daß die FDP heute ebenso wie in der Debatte vom 2. Juli des vergangenen Jahres durch mich hier vertreten ist. Ob und inwieweit das - das ist ein rein formaler Vorgang, wenn Sie so wollen - eine inhaltliche Entscheidung bedeutet, werden Sie vielleicht am Ende meiner Ausführungen oder am Ende der Beratungen sehen, zu denen dieser Gesetzentwurf Veranlassung bietet.
Wer die Debatte vom 2. Juli des vergangenen Jahres noch in Erinnerung hat, der wird mir bestätigen, Herr Kollege Bötsch, daß es bei allen Meinungsverschiedenheiten - sie waren natürlich da, das bestreite ich gar nicht - die übereinstimmende Meinung aller war, daß die Probleme des Asylverfahrens, die im Laufe des Jahres 1980 ein, wie ich sagen möchte, überdimensionales Maß angenommen hatten, sicherlich nicht allein mit der zweiten Beschleunigungsnovelle gelöst werden konnten. Daran haben wir nie einen Zweifel gelassen. Die zweite Beschleunigungsnovelle war u. a. auch deswegen ein Zeitgesetz. Nun beraten wir also heute den Entwurf des Bundesrates zur Änderung dieses zweiten Beschleunigungsgesetzes in einer ersten Lesung.
Sicher besteht Einigkeit bei allen mit der Materie Vertrauten, daß hier einer der schwierigsten und zugleich sensibelsten Bereiche zur Lösung ansteht. Die Lage des vergangenen Jahres hat sich trotz der erfreulichen Zahlen im Prinzip doch gar nicht so sehr geändert. Damals, 1980: Die von Monat zu Monat stürmisch angestiegene Zahl von Asylsuchenden zwang sicherlich zu einem schnellen Handeln, um die Anerkennungsverfahren gegenüber der Novelle von 1978 weiter abzukürzen. Aber die besondere Problematik liegt unverändert auch heute noch in der Tatsache begründet, daß das durch die Verf as-sung garantierte Grundrecht auf politisches Asyl zu einem besonders sorgfältigen Umgang mit den tragenden rechtsstaatlichen Elementen des Anerkennungsverfahrens verpflichtet. Das heißt mit anderen Worten, daß im Grunde - und dabei bleibe ich auch heute noch - das Verfahrensrecht, insbesondere das Recht des gerichtlichen Verfahrens, für sich - ich sage: für sich - nicht das geeignete Operationsfeld ist, um des zunehmenden Stromes von Asylbewerbern in unserem Lande Herr zu werden.
Die steigende Zahl von Asylbewerbern in unserem Lande beruht doch zu einem ganz wesentlichen Teil, wie wir wissen, nicht auf politischer Verfolgung. Es stehen Probleme des Arbeitsmarktes sowie die gegenüber vielen Ländern der Dritten Welt unvorstellbar großen Vorzüge unseres Systems der sozialen Fürsorge ganz entschieden im Vordergrund - um nur einige Beispiele zu nennen. An diesen Grundtatsachen hat sich auch heute nichts geändert. Wenn die Zahl der Asylbewerber in den letzten Monaten sehr stark rückläufig geworden ist - die Zahlen wurden genannt -, so beruht dies wohl nur zu einem - ich sage dies hier einmal einschränkend - geringen Teil auf den Beschleunigungsgesetzen von 1978 und 1980. Es waren vielmehr die flankierenden Maßnahmen der Exekutive: Visumzwang, schließlich auch gegenüber der Türkei, Versagung der Arbeitserlaubnis für ein Jahr - um nur die wichtigsten zu nennen.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine Ausführungen vom 2. Juli des vergangenen Jahres, in denen ich darzustellen versucht habe, daß wir nur durch ein aufeinander abgestimmtes Bündel von Maßnahmen, von denen das Verfahrensrecht nur ein Teil sein kann, die Asylprobleme vernünftig, gerecht und schnell zu lösen vermögen. Dieses Bündel bleibt weiterhin notwendig. Deswegen ist auch heute die Frage einer Änderung des Verwaltungs-und Gerichtsverfahrens allein nicht der Ansatzpunkt für eine Lösung der Probleme.
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Aber ich unterstreiche: Das Ziel, das wir erreichen müssen, Herr Kollege Erhard, ist, daß wir in einem kurzen und überschaubaren Zeitraum zu einer rechtskräftigen Entscheidung kommen, ob Asyl gewährt werden kann oder nicht.
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- Das bestreite ich auch nicht. Ich erkenne an, daß auch die Bundesregierung an dieser Konzeption festhält,
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das Bündel von Maßnahmen, meine ich jetzt
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- nein, bitte, sie tut es ja -, indem sie durch den inzwischen im Kabinett verabschiedeten Gesetzentwurf zum Arbeitsförderungsgesetz - das sogenannte Wartezeitgesetz - eine gesetzliche Grundlage für eine einjährige Verweigerung der Arbeitserlaubnis für Asylbewerber schaffen will. Dies erscheint notwendig, da nach einer inzwischen sich
verfestigenden Rechtsprechung die bisher nur auf den Beschluß der Bundesregierung gestützte Versagung der Arbeitserlaubnis für Asylbewerber offenbar nicht durch § 90 des Arbeitsförderungsgesetzes gedeckt ist.
Meine Damen und Herren, es steht außer Zweifel, daß Länder und Kommunen zum entscheidenden Teil die Belastungen zu tragen haben, die sich aus dem verstärkten Zustrom von Asylbewerbern ergeben. Schon aus diesem Grunde werden auch wir Freien Demokraten den heute vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates vorurteilsfrei und sehr gründlich mitberaten. Ich erblicke zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Einigkeit der Länder vor allem darin, ein beschleunigtes Asylverfahren zu bewirken. Wenn ich es recht sehe, treten deshalb auch bei den Ländern gewisse Meinungsverschiedenheiten im Detail noch gegenüber dem vorrangigen Bestreben zurück, das Gesetzgebungsverfahren zunächst einmal über einen Initiativantrag des Bundesrates auf den Weg zu bringen. Bewegungsspielraum erblicke ich deshalb auf allen Seiten.
In einer ersten Lesung möchte ich mich auf einige wenige Gesichtspunkte beschränken. So teilen wir entschieden die Bedenken der Bundesregierung, ob es richtig ist, die Zuständigkeit für die Meldung und die Antragstellung durch die Asylbewerber bei einigen wenigen Ausländerbehörden zu konzentrieren. Es ist auch für eine Beschleunigung späterer Gerichtsverfahren von entscheidender Bedeutung, die einzelnen Fälle bereits im Verwaltungsverfahren so gut wie nur irgend möglich aufzuklären und aufzubereiten. Über den Asylantrag dürfen, wie ich auch heute meine, nicht Stellen entscheiden, die nicht hinreichend hierauf vorbereitet und hierfür ausgestattet sind. Deswegen sollte nach unserer Überzeugung die Entscheidung in jedem Falle bei der Bundesanstalt in Zirndorf verbleiben.
Der zweite Punkt: Im Grundsatz wäre nichts dagegen einzuwenden, bestimmte Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz, nach denen die Verwaltungsbehörde Asylanträge als unbeachtlich behandeln darf, in das Beschleunigungsgesetz zu übernehmen. Mit der Befugnis indessen, einen Antrag als unbeachtlich zu behandeln, wenn er offensichtlich unbegründet ist, geht der Bundesratsentwurf erheblich über die bisherige Regelung in den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz hinaus. Das muß hier festgehalten werden. Außerdem, meine Damen und Herren, halten wir eine solche Regelung für sehr schwer vereinbar mit den hohen Anforderungen, die vor dem Hintergrund des Art. 16 des Grundgesetzes an ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren zu stellen sind. Bedenken Sie bitte - auch Herr Schöfberger hat darauf hingewiesen -, daß gegen die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Behörde kein Widerspruch stattfinden kann und daß die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat. Wir werden bei allem Verständnis für eine notwendige Beschleunigung der Verfahren gerade diesen Teil der Vorlage mit der größten Sorgfalt zu bedenken haben.
Nicht problemlos ist desgleichen die Vorschrift, Entscheidungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen obligatorisch einem Einzelrichter zu übertragen. Mit dieser Vorschrift wird an ein Grundproblem des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gerührt. Mit der Bundesregierung bin ich der Auffassung, daß die gedachte Vorschrift einen effektiveren Einsatz der richterlichen Arbeitskraft möglich machen kann. Indessen wissen wir, daß die Bundesregierung für eine Änderung der Verwaltungsprozeßordnung etwas anders geartete Vorstellungen über die künftige Funktion des Einzelrichters im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entwickelt hat. Ich will hierauf nicht näher eingehen. Man muß nicht so weit gehen wie der Deutsche Richterbund, der davor warnt, das Asylrecht praktisch zum Experimentierfeld für diese Frage zu machen.
Hinzu kommt dann aber auch für manchen Kollegen die Frage, ob dies wirklich an dieser Stelle oder besser im Rahmen der geplanten Neufassung der Verwaltungsprozeßordnung geregelt werden sollte. Um Ihnen meine Meinung hierzu zu sagen: Ich würde vor einer derartigen Überlegung eher warnen. Ein solcher Weg müßte entweder eine Beschleunigungsregelung für Asylverfahren behindern oder umgekehrt einen sonst nicht notwendigen Zeitdruck auf die Behandlung der noch einzubringenden Verwaltungsprozeßordnung ausüben.
Einer besonderen Beachtung bedarf schließlich die vorgesehene Einführung der Zulassungsberufung. Für uns Freie Demokraten ist dies heute ebenso wie bei den Erwägungen des vergangenen Jahres eine Lösung, mit der wir uns nur sehr schwer würden befreunden können. Sicher kann die Einführung der Zulassungsberufung eine beträchtliche Verkürzung der gerichtlichen Verfahren bewirken, obwohl schon das erste Beschleunigungsgesetz von 1978 gewisse Beschränkungen der Berufungsmöglichkeiten - und zwar, wie ich meine, sehr wirksame - gebracht hat.
Sollte man indessen in der Zulassungsberufung ein zulässiges und geeignetes Mittel zur Straffung gerichtlicher Verfahren erblicken, halten wir - hier stimme ich wiederum der Bundesregierung zu - einen Verzicht auf eine Nichtzulassungsbeschwerde für nur sehr schwer vertretbar. Ich weiß - das will ich gleich einfügen, da wir in einer ersten Beratung sind -, welche Probleme daraus für Oberverwaltungsgerichte entstehen können. Nach all dem wird in den Beratungen in den zuständigen Ausschüssen noch sehr vieles zu bedenken sein.
Darüber hinaus möchte ich darauf verweisen, daß es Problembereiche gibt, die der Entwurf des Bundesrates überhaupt nicht aufgreift. Die Frau Senatorin hat darauf schon in ihrer Einbringungsrede hingewiesen. Diese Bereiche betreffen allerdings nicht das Verfahrensrecht im strengen Sinne. Ich denke z. B. an die Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Länder. Wenn es richtig ist, daß der länderinterne Ausgleich z. B. auch deswegen nicht funktioniert, weil sich etwa das Land Bayern nicht daran beteiligt und daher 10 000 Bewerber zuwenig aufgenommen hat,
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muß man es bedauern, daß der Versuch gescheitert ist, eine gesetzliche Regelung der Aufnahmequoten durch einen Initiativantrag des Bundesrates in das Gesetzgebungsverfahren des Bundestages einzuführen.
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Auch hieran sollten wir denken, wenn wir an die Beratung der Bundesratsvorlage gehen. Das hieße, meine Damen und Herren, mit anderen Worten: Einfügung einer zusätzlichen Vorschrift, in der ein bestimmtes Quotierungssystem gesetzlich vorgeschrieben wird.
Vor allem aber - dies, meine Damen und Herren, zum Schluß - kommen wir um eine Frage nicht herum. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe existiert fort. Sie arbeitet in vier Arbeitskreisen an den Problemen des Asylrechts: Verwaltungsverfahren, Gerichtsverfahren, Arbeitsmarktfragen und Sonstiges, wozu Unterbringung, Verteilung, Sozialhilfe und Kindergeld gehören. Die Ergebnisse dieser vier Arbeitsgruppen werden uns möglicherweise alle zu weitergehenden Ergebnissen führen, als uns heute zur Verfügung stehen. Dann könnte sich die in dem Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Lösung sehr bald wiederum als zu eng erweisen. Darüber hinaus könnte ich mir vorstellen, daß uns die Bundesregierung ihrerseits - auch auf den Ergebnissen der Arbeitsgruppen der Bund-Länder-Kommission aufbauend - eine umfassende Regelung anderer Fragen im Zusammenhang mit dem Asylproblem sehr bald in Gestalt eines eigenen Entwurfs vorlegen wird. Dies müßte, meine Damen und Herren, keine größere Verzögerung bedeuten. Ich meine nicht: 1. April 1984. Schon dies aber - 31. Dezember 1983 als Zeitgesetz - nötigt uns zu einem schnellen Handeln.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Wir wollen keineswegs beschleunigende und zugleich rechtsstaatlich saubere Lösungen für das Asylverfahren behindern oder erschweren, wir wollen uns aber auch nicht alle Jahre wieder mit Gesetzentwürfen befassen, die jeweils für sich nur Stückwerk sind.
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Das Grundrecht des Art. 16 des Grundgesetzes nehmen wir, die Freien Demokraten, sehr ernst.
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Ich weise auf viele Sätze hin, die Redner meiner Fraktion wie auch ich selber in früheren Debatten hierzu geäußert haben. Wir wissen, daß dieses Grundrecht, wie übrigens jedes andere Grundrecht auch, durch eine dauernde mißbräuchliche Inanspruchnahme in seinem Wert vermindert werden kann, und zwar sowohl objektiv als auch subjektiv in der Beurteilung durch die Bevölkerung.
Deshalb ist die Fraktion der Freien Demokraten an einer baldigen und umfassenden Lösung, die Behörden und Gerichte entscheidend entlastet und zu einer wirklichen Beschleunigung der Verfahren führt, interessiert. Sie will dies auch zu dem Zweck, meine Damen und Herren, daß die Fälle wirklicher politischer Verfolgung, um die es uns bei der Verwirklichung des Grundrechts nach Art. 16 im Kern geht, um so gründlicher, um so zügiger und damit um so gerechter behandelt werden können. - Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. de With.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung versteht, Frau Senatorin, die Besorgnisse der Länder wegen der Belastung der Verwaltungsgerichte mit Asylsachen, zumal wir wissen, daß rund 90 % der Anträge ungerechtfertigt sind und über 90 % von den Verwaltungsgerichten abgewiesen werden, und zumal auch eine Prozeßwelle auf das Bundesverwaltungsgericht zugeht. Nur dürfen wir die folgenden drei Dinge nicht übersehen.
Erstens. Das Grundrecht auf Asyl steht für uns nicht zur Disposition.
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Wir müssen darum besorgt sein, daß es auch nicht ausgehöhlt wird. Durch ein zu sehr verkürztes Verfahren ist dies, Herr Kollege Erhard, nämlich möglich.
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Zweitens. Wir haben den Verfahrensgang bereits zweimal mit dem Ziel der Beschleunigung geändert, zuletzt mit Wirkung vom 23. August letzten Jahres. Dazu haben wir zu Teilen die Visumspflicht eingeführt. All das beginnt bereits zu wirken. Die Zahl der Zugänge ist von über 13 000 auf etwas mehr als 3 000 geschmolzen. Wenn wir dann noch berücksichtigen, daß die Ministerpräsidenten eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben, die alles in allem prüfen soll, und wenn wir außerdem noch im Gedächtnis haben, daß wir noch in dieser Legislaturperiode die Verwaltungsprozeßordnung - auch mit dem Ziel der Beschleunigung des Verfahrens - ändern, dann haben wir überhaupt keinen Grund, durch eine schnell eingebrachte dritte Beschleunigungsnovelle überhastet vorzugehen.
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Drittens. Wir sollten bei alledem nicht vergessen, daß wir selbst mehr als 4 Millionen Fremde ins Land geholt haben, damit unser Wohlstand steigt. Gemessen daran sind die rund 200 000 Asylsuchenden keine allzu große Zahl.
Die Bundesregierung ist mit Ihnen der Meinung, daß im einzelnen die Vorschläge des Bundesrates sehr sorgfältig geprüft werden müssen. Nur: Wir haben Bedenken dagegen, daß im Verwaltungsverfah1610
ren die Asylanträge in sehr weitgehendem Umfang als unbeachtlich nicht mehr zum Bundesamt kommen sollen, das als erfahrener gelten muß als die Ausländerbehörden. Wir haben Bedenken dagegen, daß mit dem einstweiligen Verfahren, wenn es um die Frage der Vollziehbarkeit und damit der Ausweisung geht, praktisch über die Hauptsache, nämlich den Asylantrag, entschieden wird. Hier geraten wir in Gefahr, daß damit „kurzer Prozeß" gemacht wird, und wir haben Bedenken dagegen, daß die Zulassungsberufung derart eingeschränkt wird, und vor allem, daß gegen die Nichtzulassung zur Berufung keine Beschwerde mehr möglich sein soll.
Wir sagen ganz klar, daß der Einzelrichter, wie es hier vorgeschlagen wird, unserem Prozeßrecht nicht fremd ist und daß die Zulassungsberufung als solche eine akzeptable Lösung sein kann.
Bei allem sollten wir bedenken, daß wir keinen Grund haben, das Kind mit dem Bade auszuschütten. - Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates liegen Ihnen in der Tagesordnung vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und FDP
Ächtung der Todesstrafe - Drucksache 9/172 Im Ältestenrat ist eine Aussprache von je zehn Minuten für die Fraktionen beschlossen worden. Das Wort zur Begründung und zur Aussprache hat der Herr Abgeordnete Klein ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Punkte 5 und 6 unserer Tagesordnung haben einen gewissen inneren Zusammenhang. In beiden Fällen - bei den Artikeln 16 und 102 GG geht es um die Unversehrtheit des Lebens. Die Koaltionsfraktionen fordern mit diesem Antrag die Bundesregierung auf, auch künftig die Abschaffung der Todesstrafe in allen Ländern zu betreiben, d. h., wir verdeutlichen mit unserem Antrag, daß dies nicht nur eine Sache der Bundesregierung, sondern auch unseres Parlaments ist. Wir wollen mit diesem Antrag unterstreichen, daß alle Absichten und alle Aktivitäten der Regierung in der Vergangenheit von uns, der Volksvertretung, voll mitgetragen werden. Unser Antrag ist also eine Ermunterung, auf dem bisherigen Wege aktiv weiterzugehen.
Meine Damen und Herren, in einem Taschenbuch, das unser Bundestagskollege Freimut Duve herausgegeben hat, wird ein anschaulicher Überblick gegeben, wie die Realität der Todesstrafe in den rund 140 Ländern der Erde aussieht. Derzeit haben genau 18 Länder, in denen ca. 8 % der Weltbevölkerung leben, die Todesstrafe abgeschafft. Für mehr als 90 % der Weltbevölkerung ist also die Todesstrafe in Krieg und Frieden eine Realität und ein Bestandteil der jeweiligen Rechtsordnung.
Auch die jungen Staaten Afrikas, die in den letzten Jahren ihre Selbständigkeit erlangt haben, kennen die Todesstrafe, haben sie eingeführt oder von früherer Zeit beibehalten. Das heißt, die Zahl der Länder, die in den letzten Jahren auf die Todesstrafe verzichtet haben, ist nicht geringer geworden. Aber eine deutliche Änderung trat im Inhalt, trat in der Praxis ein.
Wir Sozialdemokraten begrüßen es, daß beispielsweise in Italien, in Spanien und Liechtenstein Entwicklungen eingeleitet worden sind, die darauf hoffen lassen, daß es dort in absehbarer Zeit keine Todesstrafe mehr geben wird.
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- Verzeihen Sie, Herr Kollege Erhard, auch die kleinen Länder zählen in diesem Konzert von 140 Ländern mit. Liechtenstein ist in dieser Aufzählung enthalten.
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Wir sollten auch den Respekt vor den Kleineren nicht vergessen.
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Meine Damen und Herren, wenn wir verständlich machen wollen, welche quanititativen Entwicklungen eingetreten sind, dann zeigt sich ein Fortschritt auch in der Weise, daß eine ganze Reihe von Ländern, die die Todesstrafe beibehalten hat, sie auch verhängt, sie aber so gut wie nicht mehr vollstreckt. Darin sehen wir einen gewissen Fortschritt.
Die Zahl von 18 : 122 verdeutlicht natürlich, daß sich Bundesregierung und Parlament bei uns eine Menge vorgenommen haben, wenn wir heute von diesem Hohen Hause aus den Appell an die Öffentlichkeit richten, auf die drakonischste Form der Bestrafung zu verzichten. Natürlich drängt sich auch die Frage auf, ob wir als Deutsche einen Anlaß haben, in dieser Weise initiativ zu werden - nach all dem, was geschehen ist. Ich vergesse nicht, daß Paul Celan vor rund 40 Jahren in der „Todesfuge" gedichtet hat: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland."
Dennoch, wir haben Anlaß, aus der Praxis der letzten 32 Jahre seit der Abschaffung der Todesstrafe in unserem Lande aus den Erfahrungen, die wir gesammelt haben, bestimmte Schlüsse zu ziehen und ganz bestimmte Empfehlungen und Ergebnisse weiterzugeben.
Erstens. Dies gilt für die Einstellung der Bevölkerung zur Todesstrafe. Das gilt ebenfalls für die Entwicklung der Kriminalität gegen das Leben in den Ländern mit und ohne Todesstrafe. Das gilt schlicht auch für Erfahrungen, die ein Land in einer InduKlein ({3})
striegesellschaft mit mehr als 62 Millionen Bürgern sammeln kann.
Bleiben wir zunächst einmal bei dem Meinungswandel im eigenen Land. Allensbach, das wie in vielen anderen Dingen auch hier Meinungen registriert hat, stellte fest, daß in den letzten 30 Jahren ein deutlicher Wandel im Meinungsbild eingetreten ist. Haben 1950 und 1952 - in einer Zeit, als auch in diesem Hause intensiv darüber diskutiert worden ist, ob der Art. 102 des Grundgesetzes wirklich so glücklich geraten ist - nur 30 % der Bevölkerung die Abschaffung der Todesstrafe bejaht, so waren es Ende der 70er Jahre mehr als 50 %. Das heißt, die Praxis in diesem Lande hat mitgeholfen, bestimmte Vorstellungen, bestimmte Meinungen der Bevölkerung zu verändern. Ich meine, wir können aus dieser Entwicklung einen Schluß ziehen und eine Empfehlung an andere geben.
Wir haben erlebt, daß Teilnehmer des 6. UN-Kongresses über Verbrechensverhütung in Caracas im letzten Sommer erzählten, daß es durchaus eine ganze Reihe von reformwilligen und reformbereiten Ländern gibt, die aber mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in ihrem Land sagen: wir können dies heute nicht durchsetzen. Wir meinen, daß eine Änderung der Rechtsordnung, die von bestimmten Informationsmöglichkeiten und überzeugenden Informationen begleitet ist, Schritt für Schritt dazu beitragen kann, daß sich dort ein Einstellungswandel vollziehen mag.
Zum zweiten. In der Debatte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im April letzten Jahres haben die Kollegen Reddemann von der CDU und Bardens von der SPD ganz deutlich nachgewiesen - ich will es mir versagen; das im Detail darzustellen -, daß die Todesstrafe jedenfalls nicht die Abschreckungswirkung hat, wie manche Verfechter glauben. Das zeigen viele Erfahrungen, das zeigen viele Beobachtungen.
Schließlich: Wir als Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, in der Industrie und verdichtetes Wohnen unsere Gesellschaft bestimmen, können auch aus dem Erleben dieser Zeit sagen, daß wir nach Brasilien das größte Land sind, das aus den letzten 30 Jahren Rückschlüsse ziehen kann. Deshalb ist es erlaubt - das mag die Begründung sein -, daß wir als Deutsche einen Ratschlag an andere geben - mehr als ein Ratschlag soll dieses ja nicht sein -, eben auf die Todesstrafe in absehbarer Zeit und Schritt für Schritt zu verzichten.
Die Aktivitäten der Bundesregierung liegen auf verschiedenen Ebenen, nicht etwa in zweiseitigen Verhandlungen. Wir wissen, daß die Europäische Justizministerkonferenz schon eine Fülle bewegt hat und noch weiterhin bewegen wird. Wir wissen auch - ich will es mir angesichts der Zeitnot versagen, das im Detail darzustellen -, daß auf der Ebene der Vereinten Nationen eine Reihe von Aktivitäten mit unterschiedlichem Erfolg eingeleitet worden ist. Wir hoffen und setzen darauf, daß Bundesaußenminister Genscher auf der nächsten UN-Vollversammlung im Herbst dieses Jahres Erfolg haben wird mit dem neuen Anlauf, daß der Art. 6 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte im Sinne der Antragstellung geändert werden kann.
Meine Damen und Herren, im Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe ist uns, ist den initiierenden Parteien im Parlament und der Bundesregierung eine ganze Reihe von Ermutigungen zugewachsen. Ich möchte daran erinnern, daß sich auch die Haltung des Vatikans in den letzten Jahren deutlich geändert hat, wie eine Erklärung von Monsignore Cardinale auf der letzten Europäischen Justizministerkonferenz im Mai 1980 in Luxemburg verdeutlichte. Er sagte - ich darf zitieren -:
Die Kirche glaubt jedoch, daß die Politiker auf ihre Unterstützung zählen sollten, wenn es darum geht, die Strafjustiz menschlicher zu gestalten. Insbesondere sollten die sozialen, psychologischen und juristischen Bedingungen geschaffen werden, um die Todesstrafe überflüssig zu machen und ihre Abschaffung zu ermöglichen.
An anderer Stelle heißt es:
... wenn auch bisher die allgemeine kirchliche Doktrin das Prinzip der Todesstrafe nicht verurteilt hat, ... so werden gegenwärtig theologische Studien betrieben, die erreichen sollen, daß diese Position noch überdacht wird.
({4})
- Herr Kollege Erhard, wir sehen also, daß Bewegung auch in den Kreisen vorhanden ist, die Ihnen näherstehen als mir, die Meinung mit beeinflussen und mit bewegen. Wir können hoffen, daß dort in der nächsten Zeit Veränderungen eintreten werden.
Meine Damen und Herren, eine abschließende Bemerkung. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland jetzt 32 Jahre lang Erfahrungen mit der Abschaffung der Todesstrafe sammeln können. Gestatten Sie mir, daß ich hier einen Vergleich ziehe, auch auf die Gefahr hin, daß er etwas makaber wirkt.
Wenn wir einmal die Praxis der Jahre 1947/48/49 zugrunde legen, ergibt sich, daß es im Gebiet der heutigen Bundesrepublik damals 125 Todesurteile und 24 Hinrichtungen gegeben hat. Auch auf die Gefahr hin, daß dieser Vergleich makaber wirkt, darf ich sagen: Wenn wir die Erfahrungswerte dieser Zeitspanne einmal zugrunde legen und auf die Jahre 1950 bis 1980 hochrechnen, ergibt sich, daß bei Fortdauern des alten Rechts in diesem Land möglicherweise 1 000 bis 1 200 Bürger zum Tode verurteilt worden wären und eine beträchtliche Zahl mit Sicherheit auch hingerichtet worden wäre.
Meine Damen und Herren, diese rückschauende Betrachtung macht nicht nur die reale, sondern zugleich die moralische Dimension des Problems deutlich. Wenn auch nur ein einziger von diesen möglicherweise 1 200 Todeskandidaten Opfer eines Justizirrtums geworden wäre und wenn auch nur ein einziger den Weg in die Gesellschaft wieder zurückgefunden hätte, dann würde diese Zahl allein bestätigen, daß die Väter des Grundgesetzes vor mehr als 30 Jahren richtig entschieden haben, in1612
Klein ({5})
dem sie die Todesstrafe damals aus unserer Rechtsordnung verbannten.
Unsere Rechtsordnung kennt viele Formen der Strafe, die sich an der Schwere der Tat und auch an ihrer Sozialschädlichkeit orientieren. Aber keine Tat kann so schwer und so verwerflich sein, daß sie dazu führen sollte, das Leben des Täters auszulöschen. Wenn wir, meine Damen und Herren, eine Lehre aus der verbrecherischen Praxis der Jahre 1933 bis 1945 nachhaltig gezogen haben, dann doch die, daß wir eine klare Regelung gefunden haben, nämlich die Todesstrafe in unserem Land nie mehr zuzulassen.
Die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte sollten auch andere Länder und andere Regierungen ermuntern, zu ähnlichen Schlüssen zu kommen und die nötigen Gesetze in der nächsten Zeit zu verabschieden.
({6})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält den Gegenstand des uns zur Beratung vorliegenden Antrags, nämlich die Forderung nach weltweiter Abschaffung der Todesstrafe, nicht für ein Thema der deutschen Innen- und Rechtspolitik, sondern für ein Thema der auswärtigen Politik. Deshalb hat mich meine Fraktion als ihren außenpolitischen Sprecher beauftragt, hier zu diesem Tagesordnungspunkt Stellung zu nehmen.
Wir schlagen vor, den Antrag dem Auswärtigen Ausschuß als federführendem Ausschuß zu überweisen. Unsere Gründe sind diese:
Erstens. Art. 102 des Grundgesetzes bestimmt klar und deutlich: „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Diese Entscheidung des Verfassungsgebers im freien Teil Deutschlands, an der hier niemand rütteln will und die auch niemand zum Thema machen will, beruht auch auf den schrecklichen Erfahrungen, die das deutsche Volk mit dem massiven politischen Mißbrauch der schärfsten aller strafrechtlichen Sanktionen gemacht hat.
Zweitens. Wir als Fraktion haben Bedenken, ob es außenpolitisch klug und richtig ist, wenn wir das Thema „Weltweite Ächtung der Todesstrafe" - etwa nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" - über die deutsche Initiative bei den Vereinten Nationen und die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats von 1980 hinaus - beides tragen wir mit - hierzulande an die große Glocke hängen. Warum? Die Erfahrungen des deutschen Volkes mit zwei Formen totalitärer Herrschaft auf deutschem Boden verpflichten uns, weltweit für die Achtung der Menschenwürde einzutreten. Aus demselben Grund aber dürfen wir auch nicht mit erhobenem Zeigefinger vor die Weltöffentlichkeit treten. Wir müssen unsere menschenrechtspolitischen Ziele klar und beharrlich, aber ohne schulmeisterliche Besserwisserei verfolgen.
({0})
Wir dürfen nicht übersehen, daß viele Staaten mit demokratisch-rechtsstaatlicher Grundordnung, darunter auch zahlreiche mit uns befreundete und verbündete Länder, die Todesstrafe - wenn auch nur sehr restriktiv und aus Gründen, die wir zu respektieren haben - praktizieren. So zum Beispiel Frankreich: letzte Vollstreckung 1977; Belgien: letzte Vollstreckung 1918 - ausgenommen Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Vergehen gegen das Marinegesetz -; Griechenland: letzte Vollstreckung 1972; Irland: letzte Vollstreckung 1954 - beschränkt auf Kapitalverbrechen -; Kanada: seit 1976 nur noch für den Militärbereich, also wegen Spionage, Meuterei; Israel: beschränkt auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen das jüdische Volk; Japan: für 13 Straftaten, darunter Mord und Brandstiftung. In Australien haben drei von den sechs Staaten die Todesstrafe beibehalten - für Mord, Verrat, Piraterie. In den USA hat die Mehrheit der Einzelstaaten die Todesstrafe beibehalten. Der Supreme Court befand 1976 mit sieben gegen zwei Stimmen, daß die Todesstrafe für Mord nicht in allen Fällen eine „grausame und ungewöhnliche Betrafung" darstelle und daher die Verfassung der USA nicht unbedingt verletzen müsse.
Diese Liste der Gesetzgebung und Praxis der Todesstrafe in demokratischen Staaten - nur von ihnen habe ich hier gesprochen - ist keineswegs vollständig.
Meine verehrten Kollegen, wir müssen den Eindruck vermeiden, als rückten wir diese Staaten auch nur irgendwie in die Nähe derjenigen Länder, die die Menschenwürde auf Grund ihres politischen Systems täglich mit Füßen treten. Im Bereich der Justizgrundrechte gibt es erheblich Wichtigeres als das Verbot der Todesstrafe.
({1})
Ich denke etwa an die Garantie eines rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens, die schon seit langem im Völkerrecht verankert ist. Lesen Sie daraufhin die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 nach. Ich durfte für meine Fraktion die Zustimmung zu diesem Pakt hier begründen.
Die Geschichte lehrt, daß überall dort, wo rechtsstaatliche Gerichtsverfahren nicht existieren, die Todesstrafe an der Tagesordnung ist. Umgekehrt - und bitte achten Sie darauf, verehrte Kollegen - gilt jedoch keineswegs, daß die Zulässigkeit der Todesstrafe automatisch mit Schreckensherrschaft gleichbedeutend ist. Auch die Kollegen der SPD und der FDP wissen sehr wohl, daß es Länder mit langer freiheitlich-demokratischer Tradition gibt, die am Institut der Todesstrafe festhalten und auch festhalten wollen. Wer macht uns Deutsche zum Ankläger und Richter dieser alten Demokratien?
Dr. Mertes ({2})
Drittens. Ein letzter Punkt: Das Problem der Todesstrafe ist - wie gesagt - infolge des Art. 102 des Grundgesetzes kein aktuelles Thema unserer Rechtspolitik und soll es auch nicht werden. Es geht vielmehr - wie es auch die Antragsbegründung in ihrem vorletzten Absatz deutlich macht - um eine völkerrechtspolitische, d. h. um eine außenpolitische Initiative.
Immerhin hat sich noch kürzlich der Vorsitzende des Rechtsausschusses der Französischen Nationalversammlung, der Kollege Foyer, gegen die Absicht des Europäischen Parlaments zu einer ähnlichen Initiative gewandt, und zwar mit dem Argument, das Strafrecht sei Sache der souveränen Staaten.
Die Konvention des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 spricht in Art. 2 davon, daß abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden dürfe. Diese Ausnahme garantierte erst die Zustimmung der Länder zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die die Todesstrafe noch haben.
Eine unbestrittene weltweite Ächtung der Todesstrafe außerhalb des Rahmens der Europäischen Konvention von 1950 könnte von den befreundeten Staaten, die sie - sicherlich nicht aus Gründen mangelnder Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit - noch haben, als unfreundlicher Akt ausgelegt werden. Für wichtig halte ich auch den Hinweis, daß die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 keinen Hinweis darüber enthält, ob der Völkermord mit Todesstrafe geahndet werden darf. In Israel darf er es noch.
Wir ersuchen die Bundesregierung, zunächst einmal den Auswärtigen Ausschuß über die Ergebnisse und Chancen der bisherigen Bemühungen in Sachen weltweiter Ächtung der Todesstrafe zu unterrichten, und zwar auch unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Opportunität einer Initiative des Deutschen Bundestages für eine grenzübergreifende, weltweite Ächtung der Todesstrafe. Wir werden konstruktiv mitwirken. Wir werden dann weitersehen. - Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Bergerowski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Stellungnahme zum vorliegenden Antrag bekundet nicht nur jede Fraktion, sondern jedes einzelne Mitglied dieses Hauses seine Position zu einer ganz elementaren Frage der Humanität und der Menschenrechte.
Nun kann man die Frage stellen - das hat Herr Mertes in seinem Beitrag eben auch getan -, ob wir Deutschen denn angesichts der Tatsache, daß die Bundesrepublik die Todesstrafe in der Verfassung abgeschafft hat - also seit 1949 -, eine solche Diskussion überhaupt anfangen und über unsere Grenzen hinaustragen müssen. Ich meine j a, weil es für uns, die wir an der Gestaltung dieser Welt mitwirken, wichtig ist, daß wir diese Aufgabe, wenn wir sie zu einer zentralen Frage der Humanität und der Menschenrechte machen, auch wahrnehmen und das, was die Bundesregierung in den letzten Jahren angefangen hat, durch einen eigenen Beitrag, durch eine Diskussion im Bundestag unterstützen.
Wenn wir unsere eigene Geschichte ansehen, zeigt sich, daß es einer mehr als 100 Jahre dauernden Diskussion bedurft hat, bis es zu der Feststellung kam, die wir heute in Art. 102 des Grundgesetzes haben, nämlich daß für uns die Todesstrafe abgeschafft ist. Die Deutsche Nationalversammlung hat sich schon damals, 1848, in der Paulskirche zur Abschaffung der Todesstrafe bekannt. Dann folgt in unserem eigenen Land ein Auf und Ab in Verwirklichung dieses Zieles. Es gab dann einen Tiefpunkt in der Zeit - 1933 bis 1945 -, in der nicht nur Millionen unrechtmäßig Opfer des Naziterrors wurden, sondern eben auch mehr als 16 000 Menschen von der Justiz zu Tode gebracht wurden.
Für die Abschaffung der Todesstrafe gibt es in diesem Lande inzwischen eine erfreuliche Mehrheit. Darauf haben die Kollegen hingewiesen. Die Umfragen zeigen, daß die Zustimmung zur Abschaffung der Todesstrafe zunimmt und ihre Wiedereinführung in diesem Lande nicht zur Debatte steht. Aber wir sehen auch, daß es immer wieder Phasen gibt, in denen sich die Menschen in diesem Land mit dieser Frage beschäftigen. Terrorismus und anderes haben in diesem Zusammenhang zu Meinungsänderungen geführt.
({0})
Die FDP hat in der Vergangenheit immer die Auffassung vertreten, daß die Todesstrafe in der Bundesrepublik nicht in Betracht kommen kann. Ich meine, daß nicht nur unsere eigene Vergangenheit uns Mahnung sein muß, sondern auch das, was wir weltweit sehen. Wie es weltweit mit der Todesstrafe aussieht, ist etwa von amnesty international dargestellt worden. Vorhin wurde bereits die Zahl genannt, die auch ich zu erwähnen mir vorgenommen hatte, nämlich daß von 130 Staaten 17 oder 18 die Todesstrafe uneingeschränkt abgeschafft haben. Darunter befinden sich Länder aus allen Kontinenten, aus Mittel- und Südamerika und viele Länder in Europa.
Die FDP und die Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament haben sich uneingeschränkt für eine Zurückdrängung der Todesstrafe in den Staaten ausgesprochen, die diese Strafe heute noch anwenden. Nun weiß ich genau - das ist auch die Auffassung meiner Fraktion -, daß wir gegenüber diesen Ländern, die die Todesstrafe heute noch haben, nicht anmaßend auftreten dürfen; denn sie verhalten sich durchaus legal. Wir haben eben kein internationales Recht, das ein Verbot der Todesstrafe ausspricht. Ist aber die Vernichtung menschlichen Lebens auf Grund eines vermeintlichen staatlichen Strafanspruchs durch die längst widerlegte These von der Abschreckung legitimiert? Wir erleben die Vernichtung menschlichen Lebens mit der Begründung, dies sei wegen der Sicherheit des Staats und des Funktionierens des Staates notwendig.
Ich möchte noch ein paar Gedanken zur Begründung der Todesstrafe vortragen, weil sie zum Verständnis unseres Bemühens notwendig sind. Die Todesstrafe hat nach dem, was wir heute wissen, keine Abschreckungswirkung. Wir wissen, daß sich derjenige, der eine Tat sorgfältig plant, bei seinem Entschluß zur Tat nicht von der Todesstrafe abschrekken läßt; er geht vielmehr von der Wahrscheinlichkeit aus, daß seine Tat nicht entdeckt wird.
({1})
- Ich will das einmal verdeutlichen, damit der Sinn einer solchen Diskussion hier klar wird.
Wir haben andere Täter, die im Affekt handeln; wir haben Überzeugungstäter, die gerade das Märtyrertum wollen. Wir erleben das derzeit wieder bei unseren Terroristen, die bereit sind, in den Tod zu gehen.
({2})
- Man kann das doch zur Begründung einer solchen weltweiten Diskussion sagen. Man kann die Frage stellen: Was hat die Wiedereinführung der Todesstrafe in Kalifornien denn gebracht? Das sind die vielzitierten Beispiele. Die Straftaten, um die es ging
- etwa Mord -, sind zahlenmäßig nicht zurückgegangen.
({3})
- Herr Erhard, wenn wir hier eine Rechtfertigung suchen, auch in bezug auf andere Länder über diese Frage zu diskutieren, müssen wir noch einmal selber darstellen, welche Gefahren nach unserer Meinung mit der Todesstrafe verbunden sind. Ich glaube, das ist wert, in einer solchen Situation dargestellt zu werden.
Ich teile das, was vorhin der Vertreter der SPD gesagt hat, daß uns besonders all das erschrecken muß, was mit Justizirrtum zu tun hat, wieviel Menschen durch die Todesstrafe auf Grund eines Urteils, das nicht richtig war, umgekommen sind.
Ich meine, es muß in diesem Zusammenhang auch besorgt machen, daß in vielen Teilen der Welt die Todesstrafe auch zur Beseitigung von politisch und religiös Andersdenkenden dient, daß illegale Exekutionen von politischen Gegnern und bloßen Verdächtigten durch die bewaffnete Macht Tatsache sind und oftmals auch unter Billigung der jeweiligen Regierungen geschehen. Meine Damen und Herren, die Zahl dieser Vorgänge hat eher zu- als abgenommen. Auch dies ist eine Legitimation dafür, daß wir uns Gedanken über Tendenzen in der Welt machen. Deshalb führe ich dies hier aus.
Ich will auch das noch hinzufügen: Die Todesstrafe muß man ablehnen, weil sie grausam und verrohend ist. Das führt mich zu einem Punkt, von dem ich meine, daß er in einer solchen Diskussion angesprochen werden muß. Ich meine den Gesichtspunkt der weltweiten Folter. Wir wissen, daß diese ebenfalls - darin sind wir uns sogar einig - ein wesentlicher Verstoß gegen die Menschenrechte ist. Die Folter hat eher zu- als abgenommen. In den meisten Gefängnissen dieser Welt wird gefoltert.
({4})
Auch das ist ein Grund dafür, daß wir heute darüber reden, wie mehr Menschlichkeit in die Welt hinausgetragen werden kann.
Ich habe vorhin gesagt: Es ist nicht unsere Aufgabe, anmaßend zu sein. Es ist aber unsere Aufgabe, ein Problem mit zu diskutieren, das in der Welt vorhanden ist. Wir können davor die Augen nicht verschließen.
In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat Bundesaußenminister Genscher darauf aufmerksam gemacht, daß andere geschichtliche Entwicklungen, andere Rechtstraditionen und andere religiöse Überzeugungen in anderen Staaten auch zu einem anderen Verhältnis zur Todesstrafe führten. Das dürfe, hat Herr Genscher weiter gesagt, niemanden daran hindern, den Mißbrauch zu sehen, der vielfach mit der Todesstrafe getrieben werde. Er könne wirksam nur durch die gänzliche Abschaffung der Todesstrafe verhindert werden.
Meine Damen und Herren, dem kann ich nur zustimmen, und das kann ich nur unterstreichen. Die Liberalen handeln in dieser Frage aus der Überzeugung, daß kein Staat, keine menschliche Macht und kein System das Recht haben kann, Leben und Gesundheit per Gesetz und Beschluß zu nehmen. Deshalb begrüßen wir die vielfachen Initiativen des Bundesaußenministers seit 1979 vor der UNO zur Stärkung und Verwirklichung der Menschenrechte und insbesondere zur Abschaffung der Todesstrafe.
Ich begrüße ausdrücklich die Arbeit vieler Organisationen, darunter auch von amnesty international, die seit Jahren in aller Welt gegen Folter und Todesstrafe gerichtet ist. Diese Arbeit braucht nicht nur unsere Unterstützung, sondern auch die der ganzen Bevölkerung und auch die unserer Jugend. Wenn in vielen Teilen der Welt Menschen durch staatliche Gewalt getötet und gefoltert werden, so dürfen wir hiervor die Augen nicht verschließen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist nach meiner Auffassung ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Humanität weltweit. Für den, der Grundrechte und ihre Verwirklichung ernst nimmt, darf es in dieser Frage nur nach dem Motto gehen: Wir müssen die Todesstrafe abschaffen; wir müssen darauf hinwirken, daß Hinrichtungen in Europa und anderswo nicht mehr möglich werden.
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, den Antrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Drucksache 9/172 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Der Kollege Mertes hatte darüber hinaus beantragt, den Auswärtigen Ausschuß zu beteiligen. Die Fraktionen haben sich darVizepräsident Windelen
auf geeinigt, daß die Vorlage an den Rechtsausschuß - federführend - und an den Auswärtigen Ausschuß - mitberatend - überwiesen werden soll. Ist das Haus mit der vorgeschlagenen Überweisung einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Spranger, Dr. Miltner, Dr. Jentsch ({0}), Dr. Laufs, Dr. George, Neuhaus, Dr. Bötsch, Broll, Biehle, Linsmeier, Regenspurger und der Fraktion der CDU/CSU
Prüfung der Notwendigkeit von Gesetzgebungsvorhaben
- Drucksache 9/156 Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. - Sie sind damit also einverstanden. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Dies ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Miltner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU möchte mit ihrem Antrag einen praktischen Beitrag leisten, damit bei künftigen Gesetzgebungsvorhaben ein strengerer Maßstab bei der Prüfung angelegt wird, ob Gesetze auch wirklich unerläßlich sind oder nicht. Es genügt für uns nicht, wenn wir in vielen Reden ständig die ausufernde Bürokratie, die Flut von Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Erlassen oder die damit zusammenhängende Vermehrung des öffentlichen Dienstes beklagen. Wir, das Parlament, müssen uns selbst einen heilsamen Zwang auferlegen, und zwar zur strengeren Überprüfung der Notwendigkeit von Gesetzen.
({0})
Gesetze und Verordnungen werden heute vom Bürger nicht mehr nur als Wohltat empfunden. Im Gegenteil, ein immer größerer Teil unserer Bevölkerung empfindet sie als Belastung oder sogar als Belästigung. Daß dabei die Achtung vor der Rechtsordnung schwindet, darf uns eigentlich nicht wundern.
Wir wissen, daß neben der Fülle von Vorschriften natürlich oft auch die Kompliziertheit der Materie entsprechende differenzierende Regelungen verlangt, die vom Bürger nicht mehr oder nur schwer durchschaut werden können. Die auf solchen komplizierten Vorschriften basierenden Verwaltungsentscheidungen stoßen daher oft auf das Unverständnis des Bürgers. Es irritieren ihn also sowohl die Fülle als auch die Kompliziertheit der Vorschriften und Entscheidungen in Verwaltung und Rechtsprechung. Die Entfremdung des Bürgers von seiner Verwaltung bedeutet aber letztlich auch die Entfremdung vom Staat und seinen Repräsentanten.
Wenn man den Gründen nachspürt, warum so viele Gesetze beschlossen worden sind, warum sich eine solche Bürokratie entwickeln konnte, stößt man natürlich auf vielfältige Ursachen. Beim Aufbau des Staatswesens 1949, also bei der Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaats, war der Gesetzgeber gefordert. Der Höhepunkt des Aufbaus war aber in der Zeit zwischen 1965 und 1967 erreicht. Es ist daher paradox, daß trotz des Abschlusses der Aufbauphase danach die Flut der Regelungen und die Erweiterung der Bürokratie in einem bisher nicht gekannten Ausmaß eingesetzt hat. Seit dieser Zeit ist die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um mehr als eine Million angestiegen, mit dem Ergebnis, daß heute der Anteil der Personalkosten in den einzelnen Haushalten auch entsprechend hoch ist. Die nach der Aufbauphase einsetzende stürmische Entwicklung zu einer ausufernden Bürokratie hat zunächst ihre Ursache darin, daß ein Anspruchsdenken in dem Sinne geweckt wurde: Der Staat kann fast alles. Danach setzte die Phase der allzu eilfertigen Erfüllung der Forderungen ein, die zuvor vom Anspruchsdenken her geweckt worden waren. Nicht genug damit: Gesetze wurden immer mehr im Zuge einer zügellosen Reformeuphorie als Instrumente, als Transmissionsriemen für angestrebte gesellschaftliche Veränderungen verstanden.
({1})
Im Gegensatz dazu wurden in früheren Jahren Gesetze in erster Linie als Endpunkt einer Entwicklung verstanden, die sich in der Gesellschaft vollzogen hatte und deren potentielle Konflikte verbindlich geregelt werden mußten.
Diese Reformitis in den letzten zehn Jahren führte nicht nur zu einer vermeidbaren Vermehrung von Rechtsnormen, sondern sie führte auch immer mehr zum Abbau der Autonomie des Menschen mit seinen Freiräumen. Wir dürfen auch die Augen nicht davor verschließen, daß viele, die heute die Flut der Gesetze und Verordnungen beklagen, dieselben sind, die noch gestern in der Öffentlichkeit oder auf andere wirksame Art und Weise mit Nachdruck versucht haben, uns davon zu überzeugen, daß ein Gesetzgebungsvorhaben notwendig sei.
Schließlich muß man fairerweise auch darauf hinweisen, daß ein Teil der Gesetze natürlich notwendig war, weil sie die Ansprüche der Bürger gegen den Staat, ihre Gleichbehandlung vor dem Gesetz sichern sollten. Es hieße auch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wenn man nunmehr einen radikalen Kahlschlag vornehmen wollte. Dann würde die Verantwortung ja doch bloß vom Gesetzgeber auf die Justiz verlagert werden. Ein allzu umfangreiches Richterrecht würde die Gewichte der drei Gewalten in einem nicht zulässigen Maße auf die Schale der Justiz verlagern. Das wäre auch ein Kneifen des Gesetzgebers vor seiner politischen Verantwortung.
Was wir aber brauchen, ist ein Gesetzgeber, der sich seiner Verantwortung bewußt ist und nur die Gesetze erläßt, die für die Fortentwicklung des Rechts und die Gleichbehandlung der Bürger vor dem Gesetz unerläßlich sind. Was wir brauchen, ist aber auch ein Staat, der den Bürger wieder in die mündige Verantwortung entläßt und darauf verzichtet, mit Detailregelungen in alle Lebensbereiche hineinzuregieren.
Meine Fraktion ist daher der Meinung, daß dieses Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn auf jeder Ebene des Gesetzgebungsverfahrens die notwendigen Instrumente geschaffen werden, um die Zahl der Rechtsvorschriften auf das unerläßliche Maß zu beschränken. Die Gesetze werden nur dann einfacher und verständlicher - oder sie werden vielleicht auch gar nicht erst erlassen -, wenn in jedem Abschnitt des Gesetzgebungsverfahrens ihre Notwendigkeit geprüft und auch begründet werden muß.
Mit dem Ihnen vorliegenden Antrag schlägt meine Fraktion also die Maßnahmen, die notwendig sind, vor. Ich beziehe mich insoweit auf diesen Antrag.
Der Zwang zur schriftlichen Rechtfertigung wird übereifrige Aktionisten und Gesetzesschreiber auf jeden Fall dazu zwingen, sich ihr Vorhaben nochmals durch den Kopf gehen zu lassen.
({2})
Das Anliegen des Unionsantrages betrifft alle Parteien und Fraktionen. Wenn Sie es, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der FDP, mit Ihren Wünschen und guten Worten zum Abbau der Flut der Gesetze und Verordnungen ernst meinen, würden wir es begrüßen, wenn Sie unserer Initiative zustimmen und sie bei der Beratung gemeinsam unterstützen könnten.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kübler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre sicherlich recht reizvoll, zu Beginn mit einem Beispiel in dieses Thema einzuführen; aber ich gestehe, trotz eifriger Suche kein sehr reizvolles Beispiel gefunden zu haben. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu diesem Thema stellt, wie es auch der Herr Kollege Miltner zum Ausdruck gebracht hat, nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus dem viel größeren Thema dar, wie sich der Bürger zu unserem Staat stellt.
Ich möchte gleich zu Beginn fünf Punkte ansprechen, aus denen für uns alle, wenn wir an dieses Thema positiv herangehen, praktisch ersichtlich ist, daß schon eine ganze Menge getan ist. Ich stimme zu, daß dies eine Daueraufgabe ist, der sich jeder von uns laufend zu stellen hat.
Die Bundesregierung hat sich dieses Themas seit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers aus dem Jahre 1976 erneut in besonderer Weise mit Erfolg angenommen. Die Länder, die Kommunen und die öffentlichen Organisationen, die hier genauso gefordert sind - es ist nicht nur der Bund -, haben eine entsprechende Beschlußfassung mit Veranlassung im Jahre 1979 bewirkt. Der hessische Ministerpräsident hat sich beispielsweise geäußert: „Die rechtsstaatliche Ordnung darf sich nicht selbst gefährden, indem sie sich in den Netzen ihres ausufernden Rechtsstoffes verstrickt." Das Bundeskabinett hat am 31. Dezember 1978 beschlossen, daß die Ressorts künftig vermehrte Aufmerksamkeit der Frage zuwenden sollen, ob es im Einzelfall einer vorgesehenen Regelung überhaupt oder im vorgesehenen Umfang bedarf. Der bisherige sozialdemokratische Bundesminister der Justiz Jochen Vogel hat 1979 Hinweise und Empfehlungen für die ganz praktische Gesetzesarbeit erlassen.
({0})
Ich bin mir sicher - ich weiß, daß die Opposition hier immer wieder Ansatzpunkte sucht und sie nicht ohne Geschick auch findet und glaubt, hier vielleicht nur allein dem Bürger aus dem Herzen zu sprechen -, daß hier manchmal in der Gesetzgebung zuviel getan wird. Ich gehe auch sicher nicht fehl in der Annahme, daß damit immer wieder auch der Eindruck erweckt werden soll, als ob gerade eine sozialliberale Bundesregierung durch angeblich zuviele Gesetze individuelle Freiheit, Kreativität und Eigenverantwortung einengt. Warum wird sonst - ich bitte, dieses recht zu verstehen - der im Grundgesetz geforderte soziale Rechtsstaat oftmals mit Formeln, wie Wohlfahrtsstaat, Kollektivismus, Betreuungsstaat, Gesetzesfabrik oder ähnlichem, ich unterstreiche: diskreditiert?
({1})
Dieses von der Opposition - ich muß dies einfach sagen - genährte Mißtrauen gegen den Gesetzesstaat, zielt sicherlich politisch gegen die Regierung. Dies ist auch das gute Recht der Opposition, dies wäre auch noch erträglich. Viel schlimmer und in meinen und in den Augen vieler anderer gefährlich ist es aber, daß diese Kampagne einfach Staats- und Systemverdrossenheit, den Blind- und den Nichtwähler und obrigkeitsstaatliche Tendenzen mit fördert.
({2})
Diese Regierung hat bei der Eindämmung der Gesetzesflut Erfolge gehabt. Ich will dies noch einmal wiederholen. Die Zahl der Bundesgesetze ist nicht nur konstant geblieben, sondern sie ist in der letzten, der 8. Legislaturperiode sogar erheblich - ich war selbst darüber überrascht, das gebe ich zu - zurückgegangen.
({3})
Dieser Rückgang an Gesetzen ist um so bedeutsamer, als auf der anderen Seite - dies wird wohl keiner bestreiten - die Regelungstatbestände in einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und in einem vom Grundgesetz geforderten Rechtsstaat und in einem vom Grundgesetz geforderten Sozialstaat einfach größer sind und auch größer werden. Auch die bewährte innerstaatliche Dreigliederung in Bund, Länder und Gemeinden hat mehr Gesetze zur Folge. Ebenso müssen wir unsere Einbindung in die Europäische Gemeinschaft und in die internationale Welt auch mit Gesetzen mit erkaufen.
Im Hinblick auf diesen vielfältigen Regelungsbedarf muß sich der Gesetzgeber natürlich um so mehr
ständig selbst überprüfen, ob, wann und wie er Gesetze macht. Ich muß gestehen, daß mir der Antrag der CDU/CSU-Fraktion und die in ihm gewählten Ansätze wenig hilfreich erscheinen, weil sie erneut bürokratische Ansätze bringen.
({4})
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß Lösungsansätze primär wohl bei uns selbst und bei unserem politischen Handeln zu suchen sind, daß wir nicht neue Bürokratien, keinen Oberabgeordneten und auch kein neues Bundesamt für richtige Gesetze brauchen, sondern daß wir uns da selbst an die Brust klopfen müssen und jeder einzelne von uns dies als seine ureigenste und Hauptaufgabe betrachten muß. Und ich meine, daß jemand, der neu ins Parlament kommt, diese Hoffnung vielleicht noch viel ehrlicher und offener und ausdrücklicher hat. Aber ich glaube, auch dies ändert nichts daran, daß diese Aufgabe primär Aufgabe der einzelnen Abgeordneten ist.
({5})
Meine Damen und Herren, wir sollten auch so ehrlich sein, dem Bürger zu sagen, daß die Frage der Notwendigkeit neuer Gesetze primär eine politische und nicht eine bürokratische oder gesetzestechnische ist.
({6})
Wenn die Opposition - ich will zwei oder drei Beispiele nennen - das Demonstrationsrecht einschränken und Vermummungsverbotsvorschriften
- es fällt mir schwer, das lange Wort auszusprechen
- bis unter die Nase oder über die Nase erlassen will, so ist die SPD nicht unbedingt von der Notwendigkeit solchen Übereifers überzeugt.
({7})
Oder wenn die Opposition das Mieterschutzrecht aufweichen will, so tut sie vielleicht etwas mehr für die Freiheit des Vermieters, aber sehr viel weniger für die Freiheit des Mieters.
({8})
Und wenn sie weniger Umweltschutzregelungen will, so schafft sie vielleicht mehr unternehmerische Freiheit, aber sicher weniger Schutz für Mensch und Natur.
Ich habe den Eindruck, daß die Opposition immer sehr rasch die Notwendigkeit von Gesetzen bejaht, die den Staat oder Unternehmen oder die Wirtschaft angeblich schützen, während sie sich viel schwerer tut, Gesetze mitzutragen, die die Freiheit des einzelnen, mehr Selbstbestimmung und auch mehr Lebensqualität bewirken.
Ich will in diesem Zusammenhang noch etwas sagen. Die sozialdemokratische Aussage, mehr Freiheit und mehr Demokratie zu wagen, bedeutet auf der anderen Seite - und dies sage ich vor allen Dingen auch für unsere Bürger -, weniger Vorschriften dem einzelnen zu machen, ein wenig mehr politisches Vertrauen vor administrative Kontrolle zu setzen.
Herr Kollege Dr. Kübler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Erhard?
Herr Kollege, könnten Sie uns staunenden Zuhörern verraten, ob die Bundesregierung, vor allem der Bundesjustizminister in seinem Gesetzgebungsprogramm, mehrere und in verschiedenste Richtung gehende Änderungen des Mietrechts vorschlägt, oder ob das die CDU getan hat?
({0})
Ich habe in meinen Ausführungen zum Ausdruck gebracht, daß die Frage mehr Mietrecht oder weniger Mietrecht je nach dem, welchen politischen Ansatz, nicht welchen quantitativen Ansatz man wählt, einmal mehr Freiheit für den Vermieter bedeuten kann - darüber kann man durchaus sprechen - oder mehr Freiheit für den Mieter bedeuten kann. Mein Ansatz ist der: ich will einfach zum Ausdruck bringen, daß man die Diskussion nicht an der Oberfläche führen darf, sondern daß die Diskussion an den politischen Grundeinstellungen geführt werden muß.
Gestatten Sie, Herr Kollege Dr. Kübler, eine Zwischenfrage des Kollegen de With?
Können Sie mir bestätigen, daß eines dieser Gesetze - es sind nur zwei - ein Bereinigungsgesetz ist und genau dem dient, wofür hier gestritten wird?
Herr Staatssekretär, ich bestätige dies gern.
({0})
Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Die Diskussion über die Gesetzesflut wird nicht allenthalben ehrlich geführt. Wir wollen sie führen. Daran besteht gar kein Zweifel. Aber ich appelliere an Sie, sie echt, ehrlich und politisch zu führen. Als überflüssige Vermehrung der Normenflut wird mit Vorliebe der Gesetzentwurf der jeweils anderen Seite bezeichnet. Ein selbstkritisches Zurückhalten des eigenen Entwurfs ist seltener.
In dieser Diskussion werden aber auch Meinungen vertreten, die, jedenfalls im Ergebnis, nicht so sehr die in erster Linie angesprochene Unübersichtlichkeit der Gesetzgebung, sondern eher die Veränderung unserer Rechts- oder Gesellschaftsordnung beklagen und durch die Identifizierung der Begriffe „Normenflut", „Bürokratie" usw. konservativen Auffassungen Vorschub leisten wollen.
Übrigens wird mit der damit einhergehenden Bürokratiekritik von der Opposition gern auch die Kritik am angeblich zu großen und zu wenig leistungsfähigen öffentlichen Dienst verbunden. Die Opposition muß sich doch fragen lassen, was denn sonst Parolen wie „Weniger Staat durch Privatisierung" oder
„Weniger Bürokratie durch weniger Staat" bedeuten.
Die Überschaubarkeit des Rechts ist ein berechtigtes und bedeutsames gemeinsames Anliegen. Ich glaube, wir stimmen auch darin überein, daß gerade die Schwächeren in unserer Gesellschaft bei Unübersichtlichkeit besonders betroffen sind.
({1})
Aber dies liefert nur Argumente gegen überflüssige, zweifelhafte und komplizierte Gesetze, nicht mehr. Die wohlüberlegte und harmonische Fortentwicklung des Rechts nach den Wertvorstellungen des Grundgesetzes, nach den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaates bleibt eine andauernde Aufgabe.
Die Diskussion gerade dieses Themas zu Beginn einer neuen Legislaturperiode begrüßen wir sehr. Wenn sie dazu führt, daß politische Kontrollmechanismen stärker Platz greifen, erfüllt sie ihre Aufgabe. - Meine Fraktion stimmt dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates zu. - Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Abgeordnete Wolfgramm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Anliegen der Verringerung und Vereinfachung der Gesetze eint uns sicher, und es werden ja die Presse und überhaupt die Medien und auch wir selbst nicht müde, mit Beispielen darauf hinzuweisen, wie problematisch die Vielfalt und die Vermehrung auf diesem Gebiet sind. Es gibt da Messungen und Wägungen; es werden die höchsten Berge als Zielvorstellung für die Papiermengen und der Äquator als Umfangsbestimmung benutzt.
Wie gesagt, das Anliegen eint uns. Natürlich ist inzwischen, seit 1957, seit die Bundesregierung - Herr Kollege Miltner, Sie haben das ja sicher noch mit einbezogen - eine Kommission eingesetzt hat, viel Wasser den Rhein heruntergeflossen, und wir alle hätten uns gewünscht, daß diese Anregungen unmittelbar umgesetzt worden wären.
Übrigens ist das Problem wahrscheinlich so alt wie die Bürokratie und die Verwaltung selbst. Als Niedersachse möchte ich mir erlauben, dem Hause einen Originalerlaß von Georg dem Anderen vorzutragen, von „Georg dem Anderen, von Gottes Gnaden König von Großbritannien, Frankreich und Irland, Beschützer des Glaubens, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, des Heiligen Römischen Reiches Erzschatzmeister und Kurfürst". Sie sehen also, ein Herr mit einer ganzen Anzahl von Funktionen und Aufgaben.
({0})
Er sagt dazu:
Nachdem Wir mißfällig vernommen haben, wasgestalt einestheils die Untertanen auf dem Lande ihre Gemeine-gelder und Einkünfte nicht zu dem Behuf, wozu sie gewidmet sind, anwenden, auch alle und jede, die an solchen Gemeine-geldern theil haben, nicht einst erfahren, wohin sie verwendet werden, so wollen und befehlen Wir, daß von Gesetzes wegen achtzuhaben ist, daß daraus kein unnötiges Laufen, Zitieren und unverständliches Wesen entstehen wolle.
({1})
Dieser Erlaß stammt immerhin vom 22. März 1752.
({2})
Übrigens unterschreibt, um die Gültigkeit festzustellen, hier auch ein Minister A. v. Münchhausen, aber der Erlaß ist - Sie können das feststellen - echt.
Ich sagte, das Anliegen eint uns. Aber die Art und Weise der Durchführung, Herr Kollege Dr. Miltner, die Sie hier vorschlagen, findet nicht uneingeschränkt unseren Beifall; sie kann ihn nicht finden.
Ich stelle fest: Sie haben diesen Antrag ja schon einmal am 19. März 1980 eingebracht. Die Begründung ist unterschiedlich, wie ich mir beim Nachlesen zu bemerken erlaube. Der Antrag selbst ist unverändert. In der damaligen Debatte hat mein Kollege Kleinert bereits darauf hingewiesen, daß allein durch Perfektionismus und durch eine neue Regelung, mit der man anderen Regelungen zu Leibe gehen soll, noch keine Hilfe dafür entsteht, daß dies auch so geschehen kann.
({3})
Sie haben ja in dem Antrag dargetan, daß Sie am 26. Februar 1980 eine Fraktionsgruppe eingerichtet haben, der diese Prüfungsaufträge obliegen und die dafür Sorge zu tragen hat, daß, wie Sie fordern, die jeweilige Notwendigkeit, Praktikabilität und Verständlichkeit und Wirksamkeit aller Gesetzesvorhaben geprüft wird.
({4})
Es wäre vielleicht auch nützlich gewesen, wenn Sie eine Erfolgsbilanz hätten vortragen können.
Ich habe mir die Mühe gemacht und Gesetzentwürfe, die Sie nach dem 26. Februar 1980 im Bundestag vorgelegt haben, herauszusuchen. Da finden wir den Entwurf eines Gesetzes über die Bereinigung des Bundesrechts. Das ist ein sehr umfangreicher Entwurf. Darin steht, wie das im einzelnen zu regeln ist. Ich darf dabei festhalten, daß im Zuge der Bereinigung des Bundesrechts, von der ich vorhin sprach, im Bundesministerium der Justiz drei Bedienstete des Höheren Dienstes, sechs Bedienstete des Gehobenen Dienstes und zusätzlich Bedienstete des Mittleren Dienstes und Schreibkräfte mit dieser Aufgabe über einen längeren Zeitraum hinweg befaßt gewesen sind.
({5})
Wir haben eben die Zeitabfolge gesehen; das ist ein
ziemlich aufwendiges, kostenträchtiges UnterfanWolfgramm ({6})
gen. Die Haushälter würden bei diesen Zahlen nicht sehr glücklich sein, wenn sich diese heute wieder präsentieren sollten.
Sie haben übrigens in Ihrem Gesetzesentwurf festgestellt, daß keine Kosten anfallen würden. Dies hätte der Prüfstelle in der Fraktion auffallen müssen, denn es fallen natürlich Personalkosten an, wie ich mir soeben darzustellen erlaubt habe.
({7})
Sie haben am 19. März einen weiteren Entwurf auf den Weg gebracht, der den Abbau des Formularwesens zum Ziel hatte. Da führen Sie von der höflichen Anredeform des Bürgers, die Sie gesetzlich verankert sehen wollen, und deren Kontrolle - eine Fülle von Wunschvorstellungen an, die sich bei 10. auch noch in a) und b) gliedern. Auch hier stellen Sie fest, daß keine weiteren Aufwendungen erforderlich seien. Auch das wird bei einer so geforderten perfekten Anwendung des Gesetzes, natürlich zu einem Kostenaufwand führen müssen.
Ich will das jetzt nicht vertiefen. Ich könnte vielleicht noch auf Ihren Antrag eingehen, der zur Rechtsdebatte geführt hat. Aber das möchte ich jetzt nicht tun.
Ich möchte vielmehr darauf eingehen, daß wir den Ursachen nachgehen müssen. Die Ursachen - wir sind da alle schuldig - liegen bei uns selbst. Wir sollten uns für die Beratungen mehr Zeit nehmen, wir sollten uns nicht unter Druck setzen lassen, und wir sollten mehr Gespräche untereinander führen, um das eine oder andere Problem auf unbürokratische Weise zu lösen und nicht in perfektionistischer Weise. Mein Kollege Kleinert hat dazu sehr grundsätzliche und sehr nachdrückliche Ausführungen gemacht.
Aber, Herr Kollege Dr. Miltner, Sie haben sehr engagiert für Ihren Bereich gesprochen und auch für sich selbst, wie ich dabei annehme. Hier liegt mir nun eine Verordnung aus dem Lande Baden-Württemberg vor. Sie sind Abgeordneter aus diesem wichtigen Bundeslande und waren ja auch früher Beamter im Landratsamt Tauberbischofsheim.
Hier hat nun dieses Land Baden-Württemberg am 13. Februar 1981 im Landtag eine Verordnung debattiert, die die Landesregierung, die, wenn ich recht sehen, ausschließlich von Ihrer Partei getragen wird, zum Sammeln von Weinbergschnecken - helix pomatia - erlassen hat. Diese Verordnung sieht sehr perfektistisch einen Schneckenmeßring von etwa 30 Millimeter Innendurchmesser - nicht etwa nur Durchmesser, nein, auch ein Innendurchmesser wird hier festgestellt, weil ein Durchmesser die Schneckengröße vielleicht nicht ganz korrekt anzeigen könnte - vor. Sie hat dann zu einer Kleinen Anfrage geführt, die feststellen wollte, ob dann die Schnecken mit dem Vorder- oder Hinterteil durch diesen besonderen Meßring gezogen oder geführt werden sollen.
({8}).
Ich habe das Beispiel einfach nur deshalb gebracht, weil es zeigt das es bei dem Problem der Gesetzesvereinfachung sehr schwierig ist, das eigene
Haus rein- und sauberzuhalten. Bei allem guten Willen schleicht es sich eben sehr leicht ein, daß diese Dinge sich anders entwickeln. Ich glaube eben nicht, daß das Verfahren und die Perfektionierung, die Sie vorschlagen, hierzu eine Hilfe bietet.
({9})
Statt dessen bietet der gesunde Menschenverstand, den wir schärfen sollten, eine Hilfe. Er wäre vielleicht auch bei der Landesregierung eine Hilfe gewesen, um die Verunsicherung bei den Schneckensammlern und bei den Schnecken selbst zu beseitigen; wer möchte denn schon durch einen Meßring von 30 Millimeter Dichte wandern? - Ich jedenfalls würde das ablehnen, Frau Kollegin.
({10})
Ich meine also: weniger Perfektionismus, kein Aufbau eines Apparates, um andere Apparate zu kontrollieren, sondern einfach unsere Möglichkeiten nutzen.
Zum Trost kann ich mich auf Bismarck berufen, der einmal in einem Brief formuliert hat - wir haben nämlich gute Beamte hier -: „Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten läßt sich immer noch regieren, bei schlechten Beamten aber helfen uns die besten Gesetze nichts mehr."
({11})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell und gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat wird vorgeschlagen, den Antrag der Abgeordneten Spranger, Dr. Miltner, Dr. Jentsch ({0}) und weiterer Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 9/156 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe dann den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Berufsbildung durch Planung und Forschung ({1})
- Drucksache 9/279 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({2}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache je ein Beitrag für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe, das Haus ist damit einverstanden. Zur Einbringung hat Herr Bundesminister Engholm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz ist weniger umfangreich als der eben vom Präsidenten etwas genüßlich verlesene lange Titel. Ich bitte Sie also, nicht zu verzweifeln. Es ist ein kleines überschaubares Gesetz.
Mit diesem Gesetzentwurf will die Bundesregierung die Rechtsgrundlagen wiederherstellen, die das Verfassungsgericht in Karlsruhe im Dezember letzten Jahres mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz aufgehoben hatte. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß wir die Grundlagen, die in diesem Gesetz enthalten sind, benötigen, weil wir Instrumente haben müssen, um auch in den kommenden Jahren die Berufsbildungspolitik zugunsten einer sehr großen Zahl von Jugendlichen weiter entwickeln zu können. Ich will ganz kurz darstellen, um welche vier wesentlichen Instrumente es sich in diesem Gesetz handelt.
Da ist erstens der Hauptausschuß, angesiedelt beim Bundesinstitut für Berufsbildung, den ich deshalb erwähne, weil in zunehmendem Maße die sonst getrennten Gruppen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer, des Bundes und der Länder hier eine gemeinsame Adresse gefunden haben. In einer Zeit, wo Bildungspolitik überwiegend zwischen den Gruppen als Streitpunkt gehändelt wird, ist die Tatsache, eine solche gemeinsame Adresse zu haben, ein gutes Zeichen für die Konsensfähigkeit in der beruflichen Bildung.
({0})
Dieser Hauptausschuß hat wesentlich dazu beigetragen, in den letzten schwierigen Jahren mehr Kapazitäten zugunsten der jugendlichen Nachfrager nach Ausbildung zu mobilisieren. Diese gute Adresse in Berlin, der Hauptausschuß, hat auch dazu beigetragen, die Qualität in Form der Verbesserung der Ausbildungsordnungen mit zu beflügeln. Schließlich haben wir durch dieses Gremium in Berlin eine verbesserte Abstimmung zwischen der Wirtschaft und den Schulen, den beiden tragenden Pfeilern des dualen Systems der beruflichen Ausbildung.
Zweitens. Ich nenne hier ganz besonders und nachdrücklich die Arbeit des Instituts für Berufsbildung in Berlin und in Bonn. Was dort in den letzten Jahren an Forschungsarbeit, an Entwicklungsarbeit und an praktischen Förderungshilfen für die Verbesserung der Berufsbildung entwickelt worden ist, verdient nicht nur ausdrückliches Lob der Bundesregierung, sondern auch des Parlaments. Das Institut hat wirklich hervorragend gearbeitet.
({1})
Ich will auch sehr begrüßen, daß, obwohl es dem Institut nicht leichtgefallen ist, man dort doch begriffen hat, daß die Forschung nur die eine Seite der Medaille ist. Wir haben immer ein bißchen darauf drängen müssen, daß im Institut - besonders in Berlin - mehr praktische, auch Alltagsarbeit geleistet wird. Das wird inzwischen beides vom Institut gemacht; die beiden Seiten der Medaille, Forschung und praktische Alltagsarbeit, passen dort sehr gut zusammen.
Wir halten diesen Gesetzentwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben, schon deshalb für besonders wichtig, weil auf Dauer dieses Institut ohne eine Rechtsgrundlage nicht existieren kann. Wir können nicht über 300 hochqualifizierte Mitarbeiter auf längere Sicht im rechts- und luftleeren Raum stehenlassen. Das dient nicht der Arbeit, das nimmt den Leuten die Motivation; deswegen muß dieses Gesetz schnell verabschiedet werden.
({2})
Zum dritten nenne ich als wichtiges Instrument den Berufsbildungsbericht, den einer meiner Vorgänger, Helmut Rohde, einmal als das Hauptbuch der beruflichen Bildung beschrieben hat. Wer von Ihnen die Geschichte der Kaufmannsfamilien kennt, der weiß, welche Rolle das Hauptbuch bei Kaufmannsfamilien spielt.
({3})
Man braucht nicht nur auf die „Buddenbrooks" und Thomas Mann zu verweisen. Wenn das Hauptbuch in Ordnung ist, dann ist das Haus insgesamt in Ordnung gehalten. Ich glaube in der Tat, daß dieser Berufsbildungsbericht dazu beigetragen hat, uns erstmals - und zwar nicht nur uns als Politikern, sondern auch den Gruppen im Lande - feste Orientierungsgrößen und Planungsdaten für die berufliche Bildung vorzugeben.
Viertens steckt hinter diesem Berufsbildungsbericht die Berufsbildungsstatistik, die manche Kritik ihres Umfangs wegen gefunden hat. Aber ich glaube, daß es wichtig ist, immer wieder und ohne Übertreibung darauf hinzuweisen, daß wir noch vor fünf Jahren in Deutschland gewußt haben, wie viele Buchen und Pappeln in diesem Lande stehen, wie groß und wie dick sie sind, welchen Umfang und Durchmesser und welche Lebenserwartung sie haben, aber wir haben nicht gewußt, wie viele Lehrlinge im Lande es gibt, wie sie sich verteilen, welche Besetzung die Ausbildungsberufe haben, wie sich der Ausbildungsmarkt entwickelt, welche Probleme vorhanden sind. Hier hat die Statistik mit den neuen Grundlagen dazu beigetragen, uns zum erstenmal wirklich das Feld der beruflichen Bildung einsichtig zu machen. Erst auf einer solchen neuen Grundlage kann man bescheiden anfangen, berufliche Bildung mit staatlichen Mitteln zu planen.
({4})
Ich beschränke mich auf diese vier Punkte. Wer diese vier Punkte richtig gewichtet, der sollte nicht abschätzig, wie es zur Zeit in der Öffentlichkeit geschieht, von einem Rumpf- oder gar von einem Rumpf-Rumpf-Gesetz reden. Es ist legitim, daß jemand für dieses Gesetz mehr fordert, aber ich glaube, wir sollten das durch dieses Gesetz kurzfristig Erreichbare nicht auf dem Altar einer ferneren Utopie opfern.
Das sage ich auch mit Deutlichkeit an die Adresse vieler Gewerkschaftskollegen, die glauben, man könne kurzfristig viel größere Berge versetzen. Ich meine, das verhindert nur die nötige Sicherung des Bundesinstituts und der wesentlichen Instrumente.
Auch die Kritik an den Kosten, die für das Berufsbildungsinstitut in Berlin aufgewendet werden müssen, ist meiner Meinung nach wenig plausibel. Das Institut kostet über den Daumen gerechnet per anno etwa 30 Millionen DM. Aber es ist das einzige große wissenschaftliche Institut für die berufliche Bildung, das zugleich die Zusammenarbeit aller Beteiligten regelt. Wenn wir uns umschauen, was allein der Bau eines einzigen Instituts an einer deutschen Hochschule kostet, dann würde ich sagen: Hier wird mit den Steuermitteln günstig umgegangen. Wenn man das noch in Relation setzt zu zur Zeit 1,7 Millionen Lehrlingen in Deutschland, 500 000 Ausbildern und den vielen Ausbildungsbetrieben und zu einer großen, doppelstelligen Milliardensumme von Ausgaben der Wirtschaft für die Berufsbildung, dann sollte man mit seiner Kritik an diesem 30-Millionen-Topf eher zurückhaltend sein und nicht übertreiben.
({5})
Ich verstehe - um das ganz deutlich zu sagen - die Enttäuschung derjenigen, die geglaubt haben, wir könnten hier eine alte oder eine neue große Berufsbildungsumlage mit diesem Gesetz schaffen. Es ist legitim, darüber enttäuscht zu sein. Nur wäre es auf der anderen Seite falsch, der Bundesregierung und insbesondere meinem Vorgänger, Dr. Jürgen Schmude, vorzuwerfen, sie hätten leichtfertig und ohne Bedacht auf diese Umlage verzichtet. Das ist nicht der Fall.
Ich will noch einmal vier Gründe nennen, die die Bundesregierung dazu gebracht haben, zunächst einmal auf das Wiederaufleben der Umlage zu verzichten.
Erstens muß man ganz deutlich sagen: Die Umlage ist in den schlechten Jahren, als wir Riesenprobleme hatten, nicht angewendet worden. Es wäre illusionär, zu glauben, in den jetzt besser gewordenen Jahren würde man die Umlage, die in schlechten Zeiten nicht angewendet wurde, nun besonders dringlich anwenden.
Zweitens. Es gibt Urteile von vielen Kennern der Materie, die sagen: Die Umlage hat zwar in den Jahren als Droh- und Druckinstrument ihre Funktion gehabt, ist aber in der jetzigen Situation für eine Anwendung materiell untauglich geworden, weil sie zu klein ist, weil sie zu undifferenziert ist, weil sie denen, die dadurch Geld empfangen könnten, zuwenig Impulse gäbe.
Drittens. Es gibt inzwischen eine Reihe interessanter neuer Erfahrungen, etwa auf dem Sektor der Tarifverträge. Die Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden und die Bauwirtschaft haben Verträge abgeschlossen, die sehr kurzfristig zu einer Erhöhung der Ausbildungsquote in diesem Bereich geführt haben. Wir sollten auch diese selbstverwalteten Elemente einer Berufsbildungsfinanzierung nüchtern und sorgsam gewichten und in eine mögliche Neuüberlegung einbeziehen.
Viertens. Wenn neue Fragen auftauchen und größere Problemkomplexe mit Finanzierungsinstrumenten zu lösen sein sollten - wie etwa der Gesamtbereich Qualität der Ausbildung -, dann bedarf es einer längeren Diskussionsphase, um diese
Modelle vernünftig auf die Beine zu stellen. Niemand wird vom Parlament erwarten, daß ohne Rücksprache mit den Beteiligten und Betroffenen hier eine solche Lösung übers Knie gebrochen werden könnte.
Ich will deshalb ähnlich wie Jürgen Schmude noch einmal ausdrücklich bekräftigen: Die Finanzierungsdiskussion ist mit diesem Gesetz nicht zu Ende.
({6})
Das Bundesinstitut für berufliche Bildung in Berlin ist seit längerer Zeit dabei, über die Grundfragen der Finanzierung unter Einbeziehung aller vier dort beteiligten Gruppen zu diskutieren.
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat mehrfach im Ausschuß angeboten, mit seiner fachlichen und wissenschaftlichen Kapazität zuzuarbeiten, wenn solche Fragen auftreten.
Weiter erinnere ich daran, daß gerade heute Professor Edding in einem Schreiben an mich vorgeschlagen hat, zu überlegen, ob man nicht ähnlich wie in der Vergangenheit zu weiteren offenen Fragen der Berufsbildung erneut eine Sachverständigenkommission - etwa durch das Parlament - berufen könnte. Das heißt: Möglichkeiten der Diskussion gibt es. Aber es gibt wenig Möglichkeiten, kurzfristig zu technisch und politisch befriedigenden Lösungen zu kommen.
Ich bitte deshalb das Parlament, dem vorliegenden Gesetzentwurf in seiner jetzigen Fassung zuzustimmen und vor allen Dingen für eine schnelle Behandlung zu sorgen, damit das Bundesinstitut in Berlin und die anderen Dinge, die ich genannt habe, gesichert werden.
Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung machen. Ich möchte auch in diesem Jahr an dieser Stelle mit Nachdruck an die Wirtschaft, d. h. an die Betriebe, die Kammern, die Innungen und die Wirtschaftsverbände, aber auch an die Gewerkschaften, insbesondere an die Betriebsräte in den Betrieben vor Ort, an die Schulen und an die öffentlichen Arbeitgeber appellieren, trotz einer erkennbaren Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation in den Anstrengungen zur Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen nicht nachzulassen.
({7})
Wir haben die Durststrecke noch nicht komplett überwunden, und wir haben vor allem eine immer noch zu große Zahl von Jugendlichen, die ohne Qualifizierung bleiben.
Nun will ich auch deutlich sagen, daß ich unglücklich bin, wenn draußen in der Öffentlichkeit ein großer Prügel geschwungen und gesagt wird, wir produzierten hier in Bonn leichtfertig Jugendausbildungs- und Arbeitslosigkeit. Wir haben vor 25 Jahren eine Nichtqualifiziertenquote von fast 25 % eines Altersjahrganges gehabt, und wir haben, seit unsere Bildungsminister zu arbeiten angefangen haben, diese Nichtqualifiziertenquote auf fast 10 % herunterge1622
drückt. Das ist ein enormer qualitativer Sprung nach vorn.
({8})
Wir wollen dennoch nicht darüber hinwegreden, daß gut 10 % eines Jahrganges ohne Ausbildung bleiben und daß hier besonders Hauptschüler ohne Abschluß, Sonderschüler, junge Ausländerkinder betroffen sind, aber in einem ganz besonderen Spektrum auch Mädchen. Ich appelliere an alle diejenigen, die Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen: Nehmt nicht nur die Guten und die Starken mit den besten Abschlüssen, nehmt auch die, die es im Leben ohnehin schwerer als andere haben; gebt denen eine Chance!
Das - so glaube ich - ist eine große moralische Frage, eine soziale Verantwortung der Gesellschaft, und es ist für die Wirtschaft selbst ja auch auf Dauer eine ökonomische Notwendigkeit, sich Facharbeiternachwuchs auch aus diesem Bereich zu schaffen.
({9})
Meine Damen und Herren, wenn die Anstrengungen so wie im letzten Jahr weiterlaufen, dann werden wir am Ende dieses Jahres eine Bilanz haben, mit der wir uns - ob Politiker, Wirtschaftler oder Gewerkschafter - wirklich sehen lassen können. Ich meine, wir sind es den jungen Leuten schuldig, bis zum Jahresende weiter zu trommeln, damit noch mehr passiert. - Vielen Dank.
({10})
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. - Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie werden sicherlich nicht davon ausgehen, daß wir mit Ihren Ausführungen einiggehen. Denn in der Tat: Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Rumpfgesetz eines Rumpfgesetzes. Sie wissen doch, daß nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz bekanntlich wiederum die Regelungen des Berufsbildungsförderungsgesetzes von 1969 gelten.
Es ist offenbar weitgehend in Vergessenheit geraten, daß sich dieses Gesetz sieben Jahre lang sehr wohl bewährt hat, und es kann wohl auch kein Zweifel daran bestehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das Ausbildungsplatzförderungsgesetz nicht in erster Linie deshalb verabschiedet worden ist, weil man jetzt die zur Debatte stehenden Tatbestände für besonders regelungsbedürftig gehalten hätte.
({0})
Bekanntlich war j a bereits das Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom 7. September 1976 als Rumpfgesetz dazu ausersehen, das heftig umstrittene Berufsbildungsgesetz, das vom Bundesrat am 14. Mai 1976 abgelehnt worden war, in seiner wesentlichen Substanz über die Runden zu bringen.
Die Bundesrgierung und die sie tragenden Koalitionsparteien -
Herr Kollege, ich möchte Sie einen Augenblick unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thüsing?
({0})
Herr Präsident! Herr Kollege! Auch eingedenk der Zeit, die jetzt gegenüber derjenigen, die zunächst vorgesehen war, noch beschnitten wurde, bitte ich, von Zwischenfragen abzusehen.
({0})
Ich möchte nochmals sagen, daß der Bundesrat dieses Berufsbildungsgesetz, den damaligen Neuentwurf, am 14. Mai 1976 abgelehnt hat. Um ihn dann in seiner wesentlichen Substanz über die Runden zu bringen, wurde eben dieses Ausbildungsplatzförderungsgesetz eingebracht und erlassen.
Das Bundesverfassungsgericht hat das Ausbildungsplatzförderungsgesetz mit Urteil vom 10. Dezember 1980 erwartungsgemäß für nichtig erklärt. Und es ist offenbar schon ein erschreckendes Verfassungsverständnis, wenn die Bundesregierung diese abermalige Zurechtweisung durch das höchste deutsche Gericht noch quasi als Erfolg für sich in Anspruch nehmen möchte.
({1})
Gute Gesetze, meine sehr verehrten Damen und Herren, lösen Konflikte; wir haben es soeben gehört. Aber durch schlechte Gesetze werden eben Konflikte erst noch geschaffen und neu in die Welt gesetzt.
Ich möchte Sie deshalb bitten, mit mir gemeinsam darüber nachzudenken, ob die Verhältnisse unseres beruflichen Bildungswesens politisch zufriedenstellend geordnet sind. Bedarf es da - wie wir eben gehört haben und wie es in der Meinung der Bundesregierung vorzuherrschen scheint - wirklich noch der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs, um den nötigen Interessenausgleich in der Berufsbildung herbeizuführen? Oder bedürfen wir, wie es die Sozialdemokratische Partei und der Deutsche Gewerkschaftsbund eben behaupten, wiederum einer ergänzenden gesetzlichen Finanzierungsregelung, weil nur so die Qualität der Berufsausbildung gewährleistet werden kann? Oder aber - diese kritische Fragestellung ergibt sich natürlich aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion - sind all diese Reglementierungen nicht letztlich darauf gerichtet - oder zumindest geeignet -, das bewährte duale System der Berufsausbildung in seiner Substanz auszuhöhlen?
Sowohl der damalige Minister für Bildung und Wissenschaft, Herr Rohde, als auch Sie, Herr Minister - damals als Abgeordneter - haben seinerzeit zur Begründung des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes geradezu beschwörend darauf hingewiesen, daß der bis 1980 demographisch bedingte Zusatzbedarf an Ausbildungsplätzen nur durch eine gesetzlich verankerte Finanzierungsumlage sichergestellt werden könne. Es stellt sich doch die Frage, wie ernst die Bundesregierung genommen werden will,
wenn z. B. der Bundeskanzler anläßlich der Verleihung des goldenen Ehrenrings des Deutschen Handwerks darauf hingewiesen hat, daß nie ernsthaft daran gedacht gewesen sei, diese im Ausbildungsplatzförderungsgesetz festgelegten Finanzierungsbestimmungen anzuwenden.
({2})
Wie ernst will die Bundesregierung ferner genommen werden, wenn sie, wie man es j a landauf, landab hört, fast noch stolz darauf ist, ein Gesetz erlassen zu haben, dessen bloße Existenz, nämlich die Androhung einer Ausbildungsumlage, die Wirtschaft angeblich veranlaßt haben soll, die erforderlichen Ausbildungsplätze bereitzustellen?
({3})
Wer in der Sache derart verquer und unlogisch argumentiert, ist offensichtlich bereits das Opfer seiner eigenen partei- und koalitionspolitischen Doppelzüngigkeit geworden.
({4})
Diese Doppelzüngigkeit hat j a in der Zwischenzeit keinesfalls an Brisanz verloren. Im Gegenteil: Sie wird heute raffinierter und virtuoser denn je praktiziert.
Ich wäre auf das Finanzierungsproblem in dieser Art gar nicht eingegangen, wenn diese Frage nicht nach wie vor hochaktuell wäre. Hat nicht erst Mitte März die SPD-Bundestagsfraktion im Alleingang den Beschluß gefaßt, im Rahmen der Beratungen des neuen Berufsbildungsförderungsgesetzes der Vorlage der Bundesregierung doch noch eine Finanzierungsregelung hinzuzufügen? Konnte sie sich dabei in der Sache nicht zu Recht auf einen SPD-Vorstandsbeschluß vom Mai letzten Jahres berufen?
({5})
Wir sind deshalb gespannt, ob und wie lange es in der FDP noch möglich ist bzw. es ihr gelingt, sich in dieser Frage querzulegen. Einerseits heißt es, der Parteivorsitzende Genscher habe die Vereinbarung der SPD- und FDP-Bildungspolitiker im letzten Moment abgeblockt, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens in das Berufsbildungsförderungsgesetz doch noch eine „Lehrlingsabgabe" einzufügen. Hiergegen hat aber inzwischen der bildungspolitische Sprecher der Bundes-FDP, der Berliner Schulsenator Rasch, doch sehr geharnischt Stellung bezogen. Wie auch die SPD setzt sich Herr Rasch dafür ein, den Fortbestand der bisherigen Umlagefinanzierung zu sichern oder zumindest eine Ermächtigung für eine entsprechende Rechtsverordnung vorzusehen. Schon aus früheren Erfahrungen sind deshalb erhebliche Zweifel an der bildungspolitischen Standfestigkeit des FDP-Vorsitzenden angebracht.
Vor diesem Hintergrund ist es deshalb auch wenig beruhigend, wenn der neu ernannte Bundesminister für Bildung und Wissenschaft die Diskussion um einen Finanzierungsfonds zunächst einmal dadurch abzublocken versucht, daß er das eingeleitete Gesetzgebungsverfahren künstlich unter Zeitdruck stellt.
({6})
Herr Bundesminister, Sie werden sich im Gegenteil fragen lassen müssen, ob die Finanzierungsdiskussion bei Wiederaufleben des Bundesinstituts für berufliche Bildung in seiner alten Form nicht zwangsläufig wieder an Brisanz gewinnen muß; denn diesem Institut ist im Ausbildungsplatzförderungsgesetz ausdrücklich die Aufgabe zugewiesen worden, die Berufsbildungsfinanzierung durchzuführen.
Sie dürfen nicht vergessen, wer die Betroffenen sind, nämlich die Ausbildungsbetriebe und die jungen Menschen, die an eine Ausbildung herangehen wollen. Ich bin der Meinung, daß sich sozialistische Bildungsplaner einfach nicht mit dem Gedanken abfinden können, daß ein Betrieb in der Lage ist, eine vernünftige, gute und qualifizierte Ausbildung zu vermitteln, daß sie darin vielmehr ein Greuel sehen.
({7})
Sie wissen, daß Ende der sechziger Jahre die betriebliche Ausbildung ganz bewußt als „Ausbeutung" diskreditiert wurde.
({8})
Ihre „Qualität" sollte mit Hilfe eines allgemeinen Finanzierungsfonds verbessert werden. Zum Nachweis dieser „Mißstände" wurde doch seinerzeit die sogenannte Edding-Kommission eingesetzt. Als diese Kommission Anfang der siebziger Jahre zu dem überraschenden Ergebnis kam - das ist in der Tat sehr lustig -, daß die betriebliche Ausbildung im Schnitt wesentlich mehr kostet, als sie einbringt, sollte der überbetriebliche Finanzierungsfonds für einen „gerechten Lastenausgleich" bei den einzelbetrieblichen Ausbildungskosten sorgen. Dadurch sollte insbesondere der angebliche Mißstand behoben werden, daß sich nur 16 % der Betriebe - das war doch Ihr Reden die ganze Zeit - an der Berufsausbildung beteiligen. Anscheinend wurde übersehen - aber das wurde sehr schnell mit nachgewiesen -, daß diese 16 % der Ausbildungsbetriebe mehr als 80 % aller Arbeitnehmer beschäftigen und für nahezu 90 % aller Auszubildenden eine entsprechende Ausbildung durchführen bzw. anbieten.
Nachdem die Wirtschaft auch ohne das Instrument einer Umlagenfinanzierung genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen konnte und die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in absehbarer Zeit drastisch sinken wird - wir haben die Zahlen j a bereits jetzt vorliegen -,
({9})
wird die Notwendigkeit einer Finanzierungsumlage nunmehr wiederum mit angeblichen qualitativen Erfordernissen begründet.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind doch Widersprüche in sich.
({11})
Herr Minister, Sie werden sich deshalb fragen lassen müssen, ob der vorliegende Entwurf eines Berufsbildungsförderungsgesetzes als geeignetes Instrument dafür angesehen werden kann, das duale System der Berufsausbildung in seiner bewährten Form zu erhalten.
Sie wissen alle, daß der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 13. März 1981 ganz erhebliche Bedenken gegen den vorliegenden Gesetzentwurf angemeldet hat. Er hat insbesondere Zweifel an der Konstruktion, Funktion und Effizienz des darin erneut vorgesehenen Bundesinstituts für Berufsbildung zum Ausdruck gebracht. Nach Ansicht des Bundesrats hat die bisherige Praxis erwiesen, daß die Umstrukturierung des Forschungsinstituts in eine zum Teil weisungsgebundene Bundesbehörde mit Verwaltungs-, Beratungs- und Forschungsfunktion zu einer schwerfälligen und kostspieligen Organisation der beruflichen Bildung beigetragen und insbesondere die Effektivität der Forschungsarbeit beeinträchtigt hat.
({12})
Ich kann Ihnen wegen der Kürze der Zeit jetzt nicht mehr näher darlegen, was der Bundesrat weiter ausführt.
Sie wissen, daß es, ebenso wie in manchen gleichgelagerten Fällen, auch beim Bundesinstitut für Berufsbildung durchaus so ist, daß die darin eingebundenen Organisationen, vor allem aber natürlich deren Repräsentanten, ein durchaus verständliches Interesse daran haben, ihre Arbeit in der Öffentlichkeit positiv darzustellen. Ich betone noch einmal ausdrücklich, daß dies durchaus legitim und aus den verschiedensten Gründen, die wir natürlich auch anerkennen, verständlich ist.
Nur sollten wir uns hier kein X für ein U vormachen lassen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir an der Existenz des Berliner Instituts, die im Berufsbildungsgesetz von 1969 geregelt ist, nicht rütteln und nicht zweifeln wollen.
({13})
Wir wollen auf jeden Fall nicht das, was der Hamburger Senator Apel von sich gegeben hat, als er scheinbar in Unkenntnis der Sachlage die Existenznotwendigkeit dieses Bundesinstitut für Berufsbildung damit begründet hat, daß es in den vergangenen zehn Jahren hervorragend gearbeitet und rund 100 neue Ausbildungsverordnungen für 131 Berufe und etwa 700 000 Auszubildende geschaffen habe. Nur scheint ihm entgangen zu sein, daß wir bis 1976 ein Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung gehabt haben und das Institut in seiner neuen Form erst seit 1976 besteht.
({14})
Sie wissen ganz genau - ich darf Sie noch einmal darauf hinweisen -, daß im § 25 des Bundesbildungsgesetzes ausdrücklich ausgesagt wird, daß der Bundesminister für Wirtschaft die Verantwortung für die Gestaltung von Ausbildungsverordnungen trägt. Wir sind der Meinung, der Bundesminister für Wirtschaft wäre richtig beraten, wenn er sich für die Ausgestaltung dieser Ausbildungsverordnungen vermehrt einsetzt. Gerade das Bundesministerium für Wirtschaft sollte der Gralshüter - wenn ich das einmal so nennen darf - dafür sein, daß wir das duale System der Ausbildung beibehalten können, um in den Betrieben die qualifizierte Ausbildung so, wie sie immer vermittelt wurde, auch weiterhin vermitteln zu können.
Ich möchte zum Schluß kommen und kurz zusammenfassen.
Erstens. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung verzichtet im Vergleich zur bisherigen Regelung des verfassungswidrigen Ausbildungsplatzförderungsgesetzes auf eine Finanzierungsregelung. Nicht zuletzt deshalb ist bei Ihnen in der Regierungskoalition dieser Gesetzentwurf so umstritten.
Zweitens. Hauptziel der gesetzlichen Neuregelung ist offenbar die Absicherung des Bundesinstituts für Berufsbildung als Exekutivorgan und verlängerter Arm des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Die für die Notwendigkeit seiner Existenz angeführten Argumente - ich möchte die Stichworte noch einmal kurz wiederholen: Berufsbildungsbericht, Berufsbildungsstatistik, überbetriebliche Lehrwerkstätten, Ausbildungsordnungen - vermögen als vorgeschobene Begründungen nicht zu überzeugen.
Drittens. Nach der gegebenen Rechtslage gilt das Berufsbildungsgesetz von 1969. Darin ist in den §§ 60 ff. ein Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung geregelt. Auch für die an der Berufsbildung beteiligten Partner sind hinreichende Instrumente zur Koordinierung vorgesehen.
Zum letzten und vierten Punkt. Wichtig ist vor allem, daß die ressortsmäßigen Zuständigkeiten in der Berufsbildung gewahrt und wieder hergestellt werden.
Vor allem muß der Anspruch der Wirtschaft auf Autonomie, Einheitlichkeit und Effizienz des betrieblichen Teils der Berufsausbildung sichergestellt werden. Hierfür trägt der Bundeswirtschaftsminister die Hauptverantwortung. Alle Versuche, das duale System der Berufsausbildung in das allgemeine Bildungssystem zu integrieren, müssen von uns allen schärfstens zurückgewiesen werden.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Weinhofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es hat den Anschein, als
ob Berufsbildungspolitik eine bayerische Angelegenheit sei.
({0})
Ich meine, daß wir uns, wenn wir ein derartiges Gesetz beraten, darüber Gedanken machen sollten, wer letztlich davon betroffen ist. Jugendliche, die vor dem Übergang von der Schule ins Berufsleben stehen, stellen sich die Frage: Für welchen Beruf soll ich mich entscheiden? Lohnt es sich, länger auf die Schule zu gehen? Verbessert ein höherer Abschluß meine Berufschancen und Berufspositionen? Wie und wo finde ich eine geeignete Ausbildungsstelle? Werden mit der heutigen Berufsentscheidung endgültig die Weichen für die berufliche Zukunft gestellt? Vor diesen und ähnlichen Fragen stehen die Jugendlichen vor dem Übergang ins Berufs- und Arbeitsleben.
In Art. 12 GG steht: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen." Berufliche Bildung, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein Teil allgemeiner Bildung und darum gleichwertiger und gleichberechtigter integrierter Bestandteil des gesamten Bildungswesens.
({1})
Der Staat hat deshalb für die Berufsausbildung ebenso Verantwortung zu übernehmen wie für das übrige allgemeine Bildungswesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich meine, daß ich mich als Sozialdemokrat in sehr guter Gesellschaft befinde, wenn ich die Denkschrift mit dem Titel „Denkzettel" der Christlichen Arbeiterjugend Bayerns zitiere, in der geschrieben steht: „Damit die Chancen der Berufsausbildung nicht von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage abhängen, ist die Hauptverantwortung für die berufliche Bildung in die öffentliche Hand zu legen."
({2})
Es muß doch zu denken geben, daß hier der Kollege Rossmanith wieder von einer sogenannten „sozialistischen Bildungsplanung" spricht, wenn wir Sozialdemokraten nur mehr öffentliche Verantwortung verlangen.
({3})
Was weiß ein Jugendlicher vor dem Schulabgang über die künftigen Berufsmöglichkeiten, über die Arbeitsbedingungen, die beruflichen Anforderungen und Weiterbildungsmöglichkeiten, über die durch technologische Neuerungen hervorgerufenen Veränderungen der Berufsstrukturen? Welche Ansprüche stellt er an die künftige Tätigkeit, und welche Erwartungen hat der Jugendliche hinsichtlich seiner beruflichen Gestaltungsfreiheit, seiner Aufstiegschancen und seines Einkommens?
({4})
- Ich komme noch darauf.
Diese und ähnliche Fragen zeigen, daß Berufsbildung und Beschäftigungssystem zuwenig aufeinander abgestimmt sind. Die zentrale Fragestellung ist doch meiner Meinung nach diejenige: Welche Ausbildung nützt dem Jugendlichen für die Zukunft? Gerade diese Frage müssen wir uns angesichts der kritischen Wirtschaftslage und der bedrohlichen Lage auf dem Arbeitsmarkt ins Bewußtsein rufen. Deshalb muß in Zukunft mehr die soziale und wirtschaftliche Komponente unseres Bildungssystems in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt werden.
({5})
Seit den ersten Forderungen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes im Juli 1919 in Nürnberg und dem sich daran anschließenden Antrag der SPD-Fraktion im Jahre 1922 an die Reichsregierung,
({6})
einen Gesetzesentwurf über die berufliche Bildung Jugendlicher vorzulegen, vergingen Jahrzehnte, Herr Kollege, bis das erste Berufsbildungsgesetz als Kompromiß der Großen Koalition am 14.8. 1969 verabschiedet wurde. Beinahe ein halbes Jahrhundert ging ins Land!
({7})
Und auch dieses Gesetz hatte einen Vorlauf von sieben Jahren, Herr Dr. Probst, zurückdatiert bis zum Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom 11. April 1962.
({8})
Weil man sich der Mängel dieses Kompromisses bewußt war, legte das Bundeskabinett am 15. November 1973 die sogenannten Markierungspunkte als Grundsätze zur Neuordnung der beruflichen Bildung vor.
({9})
Unter anderem strebte es die befriedigende Regelung der Finanzierung der betrieblichen und außerbetrieblichen Berufsausbildung zur Sicherung eines strukturell ausgewogenen und regional ausgeglichenen Angebots an Ausbildungsmöglichkeiten an.
Interessant ist, was man in den entsprechenden Drucksachen der Opposition vorfindet. Ich zitiere aus der Drucksache vom 29. März 1974:
Die berufliche Bildung ist finanziell so sicherzustellen, daß Ungerechtigkeiten und Strukturverzerrungen abgebaut werden sowie die Verbesserung der Ausbildung durch eine sachgerechte Verteilung der Ausbildungslasten gewährleistet ist.
Der zunehmenden Konzentration der Ausbildungsmöglichkeiten in den Ballungsgebieten ist
zugunsten der ländlichen Gebiete entgegenzuwirken.
({10})
Das war damals offensichtlich eine rein verbale Absichtserklärung im Zeitgeist der Opposition, gemessen an den Verhaltensweisen und Taten heute.
({11})
Wir kennen das Resultat der bildungspolitischen Absichten nach dem Scheitern des novellierten Berufsbildungsgesetzes im Mai 1976. Es war das Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom 7. September 1976. Der Finanzierungsteil, der gerade von Ihnen stets als überflüssig bezeichnet wurde, erwies sich trotz gegenteiliger Prognosen als wirkungsvolles Instrumentarium, um in den nachfolgenden Jahren die Zahl der Arbeitsplätze zu erhöhen.
({12})
Niemand von uns hatte zu jener Zeit erwartet, daß die in Aussicht genommenen finanziellen Mittel ausreichen würden, tatsächlich etwas zu bewegen. Aber der Abschreckungseffekt dieser Absichtserklärung hat zweifelsfrei Wirkung gezeigt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, meine Herren Kollegen von der CSU.
({13})
Das Ausbildungsplatzangebot stieg von rund 526 000 im Jahre 1976 auf 677 000 im Jahre 1979. Die Opposition ließ damals durch Müller ({14}) verkünden - ich zitiere -:
Die CDU/CSU-regierten Länder haben konsequent ein Gesetz abgelehnt, das seiner Zielsetzung, die berufliche Bildung zu verbessern, nicht gerecht werden kann und, wenn es Gesetz würde, eher Ausbildungsplätze vernichten als neue Lehrstellen schaffen würde.
({15})
Die Lehrlinge werden davon nichts haben, und die Jugendarbeitslosigkeit hat mit diesem Gesetz sowieso fast nichts zu tun.
({16})
Das vorgesehene Feuerspritzenprinzip bei der Umlagenfinanzierung ist eher dazu angetan, Ausbildungsplätze zu verhindern, als neue zu schaffen.
({17})
- Sie klatschen an der falschen Stelle, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({18})
Denn gerade die Realität der letzten Jahre hat gezeigt, daß die Zahl der Ausbildungsplätze durch dieses Gesetz um über 150 000 erhöht worden ist.
({19})
Wegen zweier relativ unbedeutender Verfahrensvorschriften wurde dieses Gesetz vom Bundesverfassungsgericht am 10. Dezember 1980 für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz den Kläger Bayern bezüglich der angeblichen Verfassungswidrigkeit der sogenannten Sonderabgabe bitter und herb enttäuscht.
({20})
Ich zitiere:
Es kann zur Zeit noch nicht davon ausgegangen werden, daß die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der möglichen Erhebung der Sonderabgabe „Berufsbildungsabgabe" inzwischen wieder entfallen sind; denn es ist noch nicht abzusehen, ob die Anstrengungen der Wirtschaft, eine hinreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zu schaffen, andauernden Erfolg haben werden. Eine Pflicht des Gesetzgebers, im Wege des Nachfassens die Abgabenregelung nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz zu modifizieren oder aufzuheben, ist damit gegenwärtig noch nicht festzustellen.
({21})
Die Konsequenz daraus ist, daß die Berufsbildungsabgabe nicht eine verdeckte Steuer, wie von der Opposition behauptet, sondern Rechtens ist, wenn die Gruppennützigkeit erfüllt ist.
({22})
Ich frage Sie: Warum sollte es bei einer qualitativen Ausweitung des Ausbildungsplatzangebotes verfassungsrechtliche Bedenken geben, wenn sie bei einer quantitativen Ausweitung nicht gegeben sind?
({23})
- Denken Sie einmal über das nach, was ich vorher gesagt habe! Daran werden wir Sozialdemokraten bei den weiteren Beratungen in den Ausschüssen festhalten.
Der gerade in der letzten Zeit beklagte Facharbeitermangel macht meiner Meinung nach eine Regelung um so notwendiger, als auch der Berufsbildungsbericht 1981, ein heute unverzichtbarer Bestandteil einer vorausschauenden Berufsbildungspolitik, den anhaltenden Mangel an qualifizierten Ausbildungsplätzen bestätigt. Hier sehe ich doch einen Widerspruch zwischen den Ausführungen des Kollegen Rossmanith und der Presseerklärung unserer Kollegin Dr. Wilms; denn in dieser Presseerklärung steht eindeutig: Meine Fraktion bejaht die Notwendigkeit der Berufsbildungsstatistik.
({24})
- Ja, sicher: Nur sollten wir uns vor allzu großem Perfektionismus hüten.
({25})
Den Perfektionismus könnten wir natürlich ausdehnen. Sie haben ihn aber auch nicht näher erläutert.
({26})
Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir nicht die Augen vor den knallharten Zahlen des Berufsbildungsberichtes verschließen dürfen. Die Konzentration der Auszubildenden auf wenige Berufe ist unverändert. 26 % der männlichen Auszubildenden entschieden sich für nur fünf Berufe: Kfz-Mechaniker, Elektroinstallateur, Maschinenschlosser, Tischler, Maler und Lackierer; aber 42 % der weiblichen Auszubildenden finden sich in den folgenden fünf Berufen:
({27})
Verkäuferin - erste Stufe -, Friseuse, Verkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk, Bürokauffrau und Industriekauffrau.
Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir uns fragen müssen: Wer von uns trägt denn die Verantwortung dafür, daß wir heute die Umschüler von morgen ausbilden?
({28})
Die Verantwortlichen in den Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern können nicht weiterhin so tun, als sei alles in Ordnung.
({29})
Eine Politik der Entscheidungen ist meines Erachtens für die Zukunft notwendig, damit nicht die kürzlich in einem deutschen Nachrichtenmagazin erschienene Schlagzeile recht behält: „Gesucht: Arbeitslose mit Gesellenbrief". - Ich meine, Sie sollten jetzt etwas aufmerksamer sein und nicht immer mit unflätigen Zwischenrufen stören.
({30})
Der Mangel an Fachkräften wird von der Kölner Handwerkskammer allein in ihrem Bereich auf 20 000 berechnet. Auf 20 000 wird der Bedarf an Facharbeitern allein von der Kölner Handwerkskammer berechnet! Insgesamt sind rund drei Fünftel der derzeit 1,2 Millionen Erwerbslosen Bundesbürger ohne qualifizierte Ausbildung. Ich frage Sie: Kann es sich eine Industrienation wie die Bundesrepublik Deutschland leisten, daß 60 % der Ausbildungsplätze im Handwerk angeboten werden, davon ein Großteil - und da, glaube ich, ist ein Konsens vorhanden - in perspektivlosen zukunftsunsicheren Berufen?
({31})
- Auf Grund der Statistik. Ohne eine finanzielle Regelung ist meines Erachtens keine präventive Berufsbildungspolitik unter qualitativen Aspekten möglich.
({32}) - Wo bleibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie jetzt so erregt tun, Ihre gesellschaftliche Verantwortung für die Auswirkungen eines Wirtschafts- und Ausbildungssystems, das ausschließlich nach konjunkturellen, gewinnorientierten und klassenspezifischen Interessen handelt?
({33})
Wir Sozialdemokraten nehmen eine andere Position ein
({34})
und wollen dem aus folgenden Gründen eine verstärkte Verantwortung für die Ausbildung und Prüfung entgegenstellen. Lassen Sie mich hier sechs Punkte entgegenstellen und dies begründen.
Erstens. Die Steigerung der Quantität während der letzten Jahre ging zu Lasten qualifizierter, zukunftsorientierter Berufe.
Zweitens. Die Steigerung der Quantität verbesserte nicht die Ausbildungschancen bestimmter Problemgruppen wie Ausländer, Mädchen, Lernbehinderte und Jugendliche, Jugendliche aus
({35})
sozialmilieugestörten Teilfamilien und Familien. Der Berufsbildungsbericht '81 stellt fest, daß 115 000 - das sind 11 % - Schulabgänger der Sekundarstufe I ohne volle berufliche Qualifizierung ins Arbeitsleben starten.
({36})
Hinzu kommt, daß weitere 6 % ihre Ausbildung abbrechen, so daß zirka 200 000 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren ohne volle berufliche Ausbildung ins Leben gehen.
Drittens. Die Steigerung der Quantität verbesserte - insbesondere in den herkömmlichen Handwerksberufen - nicht die Ausbildungsstätten und ihre Ausstattung.
Viertens. Die Steigerung der Quantität verbesserte nicht die Ausbildungsmaßnahmen durch Verbreiterung der beruflichen Grundbildung. Die Vertiefung der Fachbildung brachte nicht eine Verbesserung der Relation Ausbilder/Auszubildende.
({37})
Fünftens. Die Steigerung der Quantität, Herr Kollege Pfeifer, verbesserte nicht das Bildungsangebot in bestimmten Regionen.
({38})
Sechstens. Die Steigerung der Quantität verbesserte nicht das Los der ca. 100 000 arbeitslosen Jugendlichen.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, nützt es nichts, wenn wir an der alleinigen Verfügungsgewalt der Arbeitgeber über die Ausbildungsplätze festhalten.
Herr Kollege, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen!
Herr Präsident, ich komme sofort zum Schluß.
Danke schön.
Wir als politisch Verantwortliche dürfen uns die Entscheidung, ob, wieviel und in welchen Berufen ausgebildet wird, nicht abnehmen lassen. Berufliche Bildung ist insoweit eine öffentliche Aufgabe.
({0})
Um diese Ziele zu erreichen, wollen wir Sozialdemokraten, daß die Berufsausbildung in den nächsten Jahren eine zentrale Stellung in der Wirtschaft und in der Gesellschaft einnimmt.
({1})
Deshalb müssen die bildungspolitischen Entscheidungen sowie die daraus folgenden strukturpolitischen Entscheidungen mit denjenigen abgestimmt werden, die schließlich auch die Folgen zu tragen haben, mit den Arbeitnehmern und mit ihren Gewerkschaften. Ansätze sind schließlich vorhanden; ich glaube, die Diskussion der letzten zehn Jahre bietet genügend Ansatzpunkte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Finanzierungsteil, die Ausbildungsabgabe des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes, -
Ich darf Sie noch einmal bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich bin beim Schlußsatz, Herr Präsident. - Die Ausbildungsabgabe gehört deshalb auch in Zukunft nicht in die Leichenhalle der Bestattungsunternehmerpartei eines Stückes sozialen Fortschritts.
({0})
Wir Sozialdemokraten werden die folgenden Ausschußberatungen dieser Legislaturperiode nutzen, damit die Ausbildungsabgabe nicht in der Antiquitätenkammer der Koalition verschwindet. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Popp.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in dem heute vorliegenden Entwurf des Berufsbildungsförderungsgesetzes die umstrittene Finanzierungsregelung fallengelassen. Die FDP-Fraktion begrüßt dies. Herr Rossmanith, dazu hat es nicht eines Abblockens unseres Parteivorsitzenden bedurft; denn Genscher ist nicht Fraktionsvorsitzender und schon gar nicht Fraktionsdiktator. Bei uns wird diskutiert, und dann gibt es Mehrheitsentscheidungen.
({0})
Freilich, meine Damen und Herren, gibt es in meiner Fraktion unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob der vorliegende Gesetzentwurf durch die
Finanzierungsregelung ergänzt werden sollte. Eine Reihe von Bildungspolitikern in der FDP und in der SPD tritt dafür ein, den Status quo ante wenigstens so lange aufrechtzuerhalten, bis die größten quantitativen Probleme bei der Versorgung der geburtenstarken Jahrgänge mit Ausbildungsstellen überwunden sind.
Der bayerischen Staatsregierung - und insofern, Herr Kollege Weinhofer, ist zwar weniger die Berufsbildung, aber dieses Gesetz doch wohl ein bayerisches Problem - ist es jedenfalls durch ihre Normenkontrollklage gelungen, zur Unzeit, nämlich vor der endgültigen Überwindung der quantitativen Probleme, ein Gesetz zu Fall zu bringen, das unstreitig wirksam zur Ausweitung des Ausbildungsplatzangebots beigetragen hat.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat - das muß wiederholt und betont werden - entgegen den bayerischen Hoffnungen die politische Substanz des Gesetzes nicht in Frage gestellt,
({2})
sondern hat im Gegenteil die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Berufsbildungsumlage als einer, wie es heißt, erzwungenen Selbsthilfe der Wirtschaft ausdrücklich bestätigt.
({3})
Für die Beibehaltung der alten Finanzierungsregelung, die bekanntlich nicht in Kraft gesetzt wurde, die aber sicher mit zur Ausweitung des Ausbildungsplatzangebotes, vor allem auch zur Zusammenarbeit aller an der Berufsbildung Beteiligten beigetragen hat, gibt es natürlich eine Reihe guter Argumente.
({4})
Die Wiedereinbringung der alten Finanzierungsregelung sollte nach der Auffassung unserer Bildungspolitiker dazu beitragen, die Diskussion um künftige Konzeptionen zur Lösung quantitativer und qualitativer Fragen in der Berufsbildung zu versachlichen. Bekanntlich fordern ja die Gewerkschaften eine umfassende Berufsbildungsfinanzierung über einen zentralen Fonds, während die Unternehmerseite von derartigen Plänen überhaupt nichts hält. Sicher scheint mir, daß auch in den kommenden Jahren weder die Maximalforderungen der Gewerkschaften noch die Maximalforderungen der Arbeitgeberseite realisiert werden können oder sollten.
({5})
Bei der politischen Gesamtabwägung ist meine Fraktion und bin auch ich selbst zu dem Ergebnis gekommen, die alte Finanzierungsregelung fallenzulassen. Diese Finanzierungsregelung diente so gut wie ausschließlich der Lösung quantitativer Probleme. Hier war sie, wie bereits gesagt, wirksam. Bis Mitte der 80er Jahre wird die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen jedoch zurückgehen. Dann stehen nicht mehr die quantitativen, sondern die qualitatiPopp
ven Probleme der Berufsausbildung im Vordergrund.
({6})
Die Einfügung des alten Finanzierungsmodells würde der Situation in zwei oder drei Jahren nicht mehr gerecht, und sie würde Neuüberlegungen eher behindern als fördern. Alle an der beruflichen Bildung Beteiligten - Bund, Länder, Arbeitgeber und Gewerkschaften - haben durch die Zusammenarbeit im Bundesinstitut für Berufsbildung und durch viele Initiativen deutlich gemacht, daß sie ihre gemeinsame Verantwortung für die Bildungschancen der jungen Generation erkannt und akzeptiert haben. Dafür gebührt ihnen unser Dank. Wir gehen deshalb davon aus und appellieren an alle Beteiligten, diese Zusammenarbeit fortzusetzen, auch wenn unmittelbar keine Berufsbildungsabgabe als Damoklesschwert droht.
Schließlich war auch das zu erwartende Verhalten der CDU/CSU-Opposition und der Unionsmehrheit im Bundesrat ein wichtiges Argument für die Entscheidung meiner Fraktion.
({7})
Mit dem Berufsbildungsförderungsgesetz sollen nach unserem Willen die bewährten Instrumente des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes möglichst schnell wieder auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden.
({8})
Das gilt vor allem für das Bundesinstitut für Berufsbildung.
Eine Einfügung des alten Finanzierungssystems hätte mit Sicherheit zu einer Verzögerung des Gesetzgebungsverfahrens geführt. Die CDU hat zwar bereits auf ihrem Bundesparteitag im Jahre 1973 in Hamburg eine Berufsbildungsfinanzierung beschlossen. Aber wir sind uns nicht sicher, ob alle CDU-Mitglieder des Bundesrates diesen Beschluß kennen.
In der politischen Gesamtabwägung kommen wir deshalb zu dem Ergebnis, daß der vorliegende Gesetzentwurf nicht mit Finanzierungsregelungen bepackt werden sollte, daß wir uns aber im Dialog mit Arbeitgebern und Gewerkschaften und auch im Dialog mit allen Parteien darum bemühen müssen, Lösungen zu finden, die vor allem zur qualitativen Verbesserung der Berufsbildung beitragen.
({9})
Im Ausschuß werden wir deshalb auch über Finanzierungskonzepte - seien es gesetzliche, seien es tarifliche oder anderer Art - nachdenken müssen. Die Behauptung, Qualifikationsverbesserungen der beruflichen Bildung seien nicht kostenintensiv und hätten nichts mit Finanzierung zu tun, ist mit Sicherheit nicht richtig.
Zum dualen System der beruflichen Bildung, das wir nachdrücklich bejahen, gehört auch eine duale Verteilung der Kosten. Grundsätzlich finanziert der
Staat den schulischen Bereich, die Wirtschaft den betrieblichen Bereich. Daneben gibt es aber auch heute schon eine Vielzahl ergänzender Finanzierungsformen, die sich auch bewährt haben, z. B. tarifvertragliche Formen in der Bauindustrie und im Bauhandwerk - das wurde heute schon einmal erwähnt - oder auch das bayerische Gesetz zur regionalen Ausbildungsplatzförderung oder Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit. Die FDP wird ihren Beitrag zu einer konstruktiven Beratung des Gesetzentwurfes und zu einer Weiterentwicklung der beruflichen Bildung leisten.
Eine ganz wesentliche Aufgabe des Bundesinstituts ist und bleibt natürlich die Mitwirkung an der Erstellung des Berufsbildungsberichtes. Dieser Bericht dient der Berufsbildungsplanung, deren wesentliches Element ich darin sehe, daß wir gesicherte Informationen über die Ausbildungsplatzsituation und die qualitativen und quantitativen Entwicklungen der Berufsbildung erhalten.
Lassen Sie mich ein paar Probleme beispielhaft herausgreifen. Die unterschiedlichen Ausbildungsvergütungen mit einer Spannbreite von 160 bis 900 Mark pro Monat bewirken eine unterschiedliche Attraktivität der Berufe, die vielfach nicht den Zukunftsaussichten der jeweiligen Berufe entspricht. Über die tatsächlichen Ausbildungskosten in den einzelnen Sparten gibt es überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse. Der Konzentration auf nur wenige Ausbildungsberufe - auch das wurde bereits kurz angeschnitten -, bei den Mädchen noch stärker als bei den Jungen, muß gegensteuert werden. Die Ausbildung von Mädchen in traditionell nichtweiblichen Berufen muß gefördert werden.
({10})
Auch das Problem der großen regionalen Unterschiede in Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage bedarf einer Lösung. - Eine Fülle von Problemen also, meine Damen und Herren, die das Berufsbildungsinstitut aufdeckt und für die es Lösungen zu erarbeiten hat!
({11})
Besondere Aufgaben erwachsen dem Berufsbildungsinstitut durch die Problemgruppen. Neben den Behinderten, deren sich bereits ein eigener Ausschuß annimmt, sind dies die ausländischen Jugendlichen und die Minderbegabten. Gerade auch der Berufsausbildung Minderbegabter werden wir uns in Zukunft bei zunehmenden Leistungsanforderungen annehmen müssen. Die Lösung dieser Aufgaben, meine Damen und Herren, können wir nicht mit einem Forschungsinstitut schaffen, das mehr oder weniger unverbindliche Forschungsergebnisse liefert; dazu brauchen wir ein Institut, in dem Forschung, Beratung und Förderung unter einem Dach sind, wie wir es im Institut für Berufsbildung verwirklicht haben.
({12})
Die örtliche Zweiteilung dieses Instituts auf Bonn und Berlin führt sicher gelegentlich zu Schwierigkeiten und auch zu erhöhten Kosten. Wir sollten aber aus nationalen Gründen daran festhalten und
von Verlegungen oder vom Hin- und Herschieben von Abteilungen absehen. Das Institut für Berufsbildung, der Hauptausschuß, der Berufsbildungsbericht und die Bundesstatistik in nunmehr gestraffter Form sind wichtige Instrumente, die Probleme der Zukunft auf dem Feld der Berufsbildung zu bewältigen. Sie werden durch das vorliegende Gesetz auf eine rechtliche Grundlage gestellt. Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb diesen Gesetzentwurf und hofft auf eine sachliche Beratung.
({13})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 9/279 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe dann den nächsten Punkt der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte ({0}), Windelen, Dr. Dollinger, Pfeffermann, Weirich, Neuhaus, Bühler ({1}), Linsmeier, Maaß, Lintner, Dr. Riedl ({2}), Dr. Schwarz-Schilling, Dr. Köhler ({3}), Frau Dr. Wilms, Frau Dr. Wisniewski, Dr. Stavenhagen, Niegel, Röhner, Spilker, Dr. Bugl und der Fraktion der CDU/CSU
Aufhebung des sogenannten Verkabelungsstopps der Bundesregierung
- Drucksache 9/174 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP
Enquete-Kommission „Neue Informations-und Kommunikationstechniken"
- Drucksachen 9/245, 9/314 Berichterstatter: Abgeordnete Krey Dr. Nöbel
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen ({5}) Innenausschuß
Ausschuß für Forschung und Technologie
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Dies ist nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für eine verbundene Aussprache für die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b je ein Beitrag bis zu 15 Minuten vereinbart worden. Hier sind durchweg Beiträge bis zu zehn Minuten je Fraktion angemeldet worden. Darf ich davon ausgehen, daß das Haus damit einverstanden ist? - Ich stelle dies fest.
Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Dann treten wir in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Weirich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen diesen Antrag mit der Zielsetzung ein, daß der 1979 vom Bundeskanzler angeordnete Verkabelungsstopp für elf deutsche Großstädte endlich aufgehoben wird. Dieses Verdikt des Kanzlers ist ausschließlich aus medienpolitischen Gründen geschehen und war massiv gegen die Interessen der Bürger und der deutschen Wirtschaft gerichtet. Es ist übrigens gegen den Willen des Bundespostministers Gscheidle durchgesetzt worden.
Heute, 1981, gilt noch viel mehr, was 1979 von Staatssekretär Elias zur Begründung gegenüber den Regierungschefs der Länder gesagt worden ist: Es geht um ein leistungsfähiges Fernmeldenetz für neue Telekommunikationsdienste, die im übrigen eindeutig kein Rundfunk sind, also Datenübertragung in vielfältiger Form und Bildfernsprechfunk beispielsweise. Dies liegt im eindeutigen Interesse der deutschen Wirtschaft.
Herr Elias hat dann weiter gesagt: Es geht um eine neue technische Generation im öffentlichen Fernmeldenetz. Insbesondere sei dies wichtig für die Innovations- und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie im Export.
Das alles sind Fragen von drängender Vitalität. Es sind auch richtige Erkenntnisse der Bundesregierung. Nur, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat aus ihren richtigen Erkenntnissen keine Konsequenzen gezogen. Das bedauern wir, und deswegen haben wir diesen Antrag heute im Parlament eingebracht.
({0})
Warum hat der Bundeskanzler keine Konsequenzen daraus gezogen? Weil mit der Verkabelung als positiver zusätzlicher Nebeneffekt für Zuhörer und Zuschauer auch mehr Rundfunk- und Fernsehprogramme ausgestrahlt werden; weil der Bundeskanzler weiß, daß mit dem Aufkommen der neuen Medientechnologien die Beschränktheit der Frequenzen, die bei den Fernsehurteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1961 und 1971 die tragende Voraussetzung für die Begründung des öffentlich-rechtlichen Monopols war, entfällt; weil der Bundeskanzler weiß, daß dann in Zukunft die Beteiligung freier und privater Initiativen unaufhaltsam sein wird;
({1})
und weil der Bundeskanzler weiß, daß es dann mit dem öffentlich-rechtlichen Monopolidyll, in dem es sich für die SPD ganz gut leben läßt, vorbei ist und der publizistische Wettbewerb endlich die Chance für die Selbstheilung für das in der Krise befindliche öffentlich-rechtliche System bietet.
Der frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, Herr Bahr, hat jedenfalls auf dem Parteitag der SPD 1979 deutlich gesagt: Wenn wir freies Fernsehen beWeirich
kommen, dann wird das außerordentlich schädlich für die SPD,
({2})
weil wir dann auf den Bildschirmen die gleiche Vielfalt haben werden wie auf dem deutschen Zeitungsmarkt.
Meine Damen und Herren, der frühere Parteisprecher der SPD, Herr Barsig, hat dazu gesagt - ich kann das nur bestätigen -: Das ist ebenso kleinkariert wie spießig. Deswegen möchte ich Sie sehr herzlich bitten, Herr Wehner, Sie und Ihre Fraktion, von dieser kleinkarierten und spießigen Politik in der Zukunft abzugehen.
({3})
Das Problem bei Ihrer Medienpolitik, Herr Wehner, ist, daß das Wort „Kabeln" in der SPD mit zwei b geschrieben wird und daß wir deswegen zu keiner vernünftigen Medienstruktur von morgen kommen.
({4})
Es ist nicht die Sorge um die Familie, wie dies in Ihrer Partei - der SPD - vorgeschoben wird. Es ist nicht einmal Medienkulturpessimismus. Es ist schiere Parteitaktik, daß die neuen Technologien mit Verve und damit mit unübersehbaren Folgen für unsere Wirtschaft und die Bürger blockiert und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft beeinträchtigt werden
({5})
und es ist schon gar nicht die Sorge um die Presse; denn die Presse drängt auf eine Beteiligung an den neuen Technologien. Wenn es die Sorge um die Presse wäre, meine Herren von der SPD, dann würde nicht in vielen Medienpapieren der SPD gefordert, die Presse künftig öffentlich-rechtlich zu organisieren und damit die gleichen Fehler des Monopolsystems im öffentlichen Bereich künftig auch noch auf die elektronischen Medien zu übertragen.
Deswegen plädiere ich für eine liberale Medienpolitik. Der SPD-Parteivorsitzende Brandt hat Anfang der 70er Jahre immer wieder den mündigen Bürger bemüht. Und jetzt wird gesagt, der mündige Bürger habe allzuviel stürmischen Fernsehkonsum zu erwarten. Ich meine, Sie sollten den Bürger für so mündig halten, daß er die segensreichste Einrichtung jedes Rundfunk- und Fernsehgeräts, nämlich den Ein- und Ausschaltknopf, selber bedienen kann. Das verstehen wir nämlich unter der Mündigkeit des Bürgers.
Lassen Sie mich auf den Antrag zurückkommen. Der Verkabelungsstopp des Kanzlers verstößt eindeutig gegen das Postverwaltungsgesetz. Nach diesem Gesetz ist es Aufgabe der Post, ihre Anlagen ständig auf dem neuesten technischen Stand zu halten.
Wir stehen mit unserer Forderung nach der Aufhebung des Kabelstopps nicht allein. Auch der Deutsche Industrie- und Handelstag hat dies gefordert. Auch die FDP übrigens; der Generalsekretär der FDP, Herr Verheugen, hat einen entsprechenden Appell an den Kanzler gerichtet. Graf Lambsdorff hat in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung gesagt, die Blockade der neuen Medientechnologien sei neben der Verzögerung des Ausbaus der Kernenergie das größte Investitionshindernis.
({6})
Der Wirtschaftsminister spricht bei der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts für die Bundesregierung. Ich frage Sie aber: Für welche Bundesregierung spricht er denn, wenn der Kanzler das eine und der Wirtschaftsminister das andere sagt? Deswegen möchten wir als Opposition hier einmal nachfragen dürfen, für wen Herr Lambsdorff in der Bundesregierung in dieser Frage eigentlich gesprochen hat.
({7})
Deswegen sind wir sehr gespannt, ob die FDP ihren richtigen und erfreulichen verbalen Deklamationen nun endlich Taten folgen läßt.
({8})
Es geht nämlich nicht nur um die Entscheidung des Kanzlers, die die Post augenzwinkernd dadurch zu umgehen versucht, daß sie trotz des Stopps bereit war, ihre Breitbandkabel zu verlegen und sogenannte Inselnetze, die praktisch eine große Gemeinschaftsantennenanlage darstellen, aufzubauen. Es geht vor allem auch um einen zügigen Ausbau der neuen Medientechnologien.
Gestern schrieb der Journalist Norbert Middeke im Düsseldorfer „Handelsblatt" einen Kommentar mit der Überschrift „Der Kanzler kneift" - ich zitiere daraus mit Genehmigung der Frau Präsidentin -:
Die Bonner Spatzen pfeifen es mittlerweile von den Dächern, daß Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff die medienpolitische Lethargie des Bundeskanzlers unter beschäftigungspolitischen und technologischen Gesichtspunkten längst für obsolet hält. So soll Lambsdorff beim Koalitionsgespräch von einem „Rieseninvestitionsstau im Bereich der Individualkommunikation" gesprochen haben.
Ich frage deshalb Sie von der SPD: Wie lange will der Kanzler eigentlich das rechnerische Argument noch überhören, wonach das erforderliche Investitionsvolumen für die Einrichtung der Infrastruktur für neue Nachrichtenübermittlungssysteme zwischen 60 und 90 Milliarden DM beträgt?
Herr Middeke schließt mit dem Satz:
Offenbar ist der Widerstand gegen die mit einem Ausbau des Kabelnetzes mögliche Vergrö1632
ßerung der Programmvielfalt - vor allem im Fernsehbereich - beim größeren Koalitionspartner noch so stark, daß Schmidt hier einem Kräftemessen mit der Fraktion und der Partei so lange wie möglich aus dem Weg gehen will.
({9})
Im Bereich der neuen Medien zu kneifen, nützt aber genauso wenig wie auf anderen Feldern der. allgemeinen Innen- und Wirtschaftspolitik.
Ich würde Ihren Zuruf nicht so rasch interpretieren wollen. Denn heute gibt der Kanzler erstmals in einem Interview mit der „Hör zu" zu verstehen, daß er doch bereit ist, hier Ausbauplänen zuzustimmen, allerdings noch in verhaltener Form; aber auch in anderen Fragen wie der Energiepolitik und ähnlichem hat er wohl erkannt, daß er die alte, rigorose Position im Interesse der deutschen Wirtschaft und der Bürger nicht länger halten kann.
({10})
Ich füge hinzu: Parallelen zur Blockade des Ausbaus der Kernkraft sind unübersehbar. Und ich frage mich, wieviel Durchsetzungskraft der Wirtschaftsminister in dieser Koalition hat - ich frage das auch im Hinblick auf die Lockerung des Post-Monopols -, um die richtige Politik in der Zukunft durchzusetzen.
Dann gibt es da noch das vorgeschobene SPD-Argument, man wolle jetzt nicht die veralteten Kupferkabel verlegen, sondern später gleich auf die moderne Glasfasertechnologie übergehen. Das klingt gut, meine Damen und Herren, ist aber falsch.
({11})
Ich halte- Ihnen hier ein Zitat Ihres Parteifreundes Franz Barsig, des früheren SPD-Sprechers und späteren Intendanten des Senders Freies Berlin entgegen. Ich zitiere ihn wörtlich:
In Wirklichkeit werden wir bis zum Jahre 2000 drei Übermittlungsformen haben: Das Schmalband,
- die schmalbandige Kommunikation also das Telefonkabel mit seinen zusätzlichen Nutzungsformen, wie etwa Bildschirmtext, Rundfunk und Fernsehen über den Äther, einschließlich Satellitenfernsehen, und Rundfunk mit neuen Bodenempfangsanlagen. Daneben das Kupferkoaxialkabel, das eben noch lange nicht Schrott, sondern eine moderne und leistungsfähige Technologie ist.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Erst ganz langsam wird ab Mitte der 80er Jahre die Glasfasertechnik folgen, und das suggerierte Motto „Kupfer raus, Glasfaser rein" ist einfach falsch. Vernachlässigen wir auch nur einen Zweig neuer Technologien, werden uns die Japaner und die Amerikaner den Rang ablaufen.
Lassen Sie mich einen abschließenden Satz hinzufügen.
({0})
Erstens. Wir wollen, daß der Verkabelungsstopp aufgehoben wird. Zweitens. Wir wollen, daß es zu einem zügigen Ausbau der neuen Technologien kommt.
({1})
Drittens. Wir halten das öffentlich-rechtliche Rundfunk-Monopol für ebenso überaltet wie das Post-Monopol.
({2})
Auch dort muß es zu einer Lockerung durch eine Liberalisierung des Fernmeldeanlagengesetzes kommen.
Jede neue Technologie hat Chancen und Gefahren. Es ist Aufgabe der Politik, die Chancen im Interesse der Bürger zu nutzen und die Gefahren möglichst einzudämmen. Wir sind bereit, über die Gefahren zu reden. Sind Sie aber auch bereit, mit uns über ein vernünftiges Medienkonzept von morgen zu reden,
({3})
das die Beteiligung freier und privater Initiativen im Interesse von uns allen einschließt? - Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Paterna.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zur Drucksache 9/174 zu. Wir bitten um Zustimmung zur Empfehlung des Innenausschusses zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Neue Informations-und Kommunikationstechniken" und begrüßen, daß nunmehr die Aussicht auf einvernehmliche Beschlußfassung besteht.
Nun, Herr Kollege Weirich, zur Opposition. Das, was Sie hier heute von sich gegeben haben und in den letzten Monaten verlautbaren ließen, das zeugt entweder von totaler Unkenntnis oder von bewußter Irreführung.
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Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Mit den Tatsachen haben die Vorwürfe gegen die SPD, gegen die Bundespost und gegen den Bundeskanzler jedenfalls nichts zu tun. Ich wäre deshalb im Interesse der Sache sehr dankbar, wenn Sie einmal folgende Klarstellung zur Kenntnis nehmen würden.
Es ist unsinnig, von einem Verkabelungsstopp zu reden;
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das leuchtet doch wohl hoffentlich schon deshalb unmittelbar ein, weil man Verkabelung von Gebieten j a nur da stoppen kann, wo es noch keine Verkabelung gibt. Jedes Kind weiß, daß die gesamte Bundesrepublik bereits verkabelt ist, nämlich durch das Telefonnetz.
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Gestoppt werden könnte also allenfalls eine Doppeloder eine Dreifachverkabelung, und gegen die allerdings haben wir etwas. Da haben wir den Nagel auf den Kopf getroffen.
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Außerdem versucht die Opposition, der Bevölkerung einzureden, es gebe bei der Post einen Investitionsstau, seitdem das Kabinett beschlossen habe, die beabsichtigte flächendeckende breitbandige Verkabelung von elf Großstädten vorerst nicht durchzuführen.
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- Seien Sie doch nicht so aufgeregt; hören Sie doch mal zu!
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Räumt man solche Schlagwörter vom „Investitionsstau" und vom „Verkabelungsstopp" beiseite, dann ergeben sich folgende Tatsachen: Die Investitionssumme für die Maßnahmen in den elf Großstädten hätte über acht Jahre hinweg insgesamt 1,2 Milliarden DM betragen, also 150 Millionen DM im Jahr. Die Deutsche Bundespost investiert allein in diesem Jahr allein im Fernmeldebereich 10,5 Milliarden DM. Das ist das Siebzigfache des Betrages, über den die Opposition nun seit zwei Jahren lamentiert. Angesichts dieser Größenverhältnisse von Hunderttausenden gefährdeter Arbeitsplätze zu reden, ist einfach lächerlich. Außerdem ist es ja nicht so, daß diese fraglichen 150 Millionen DM nicht investiert worden wären. Sie wurden nur nicht auf die elf Großstädte konzentriert, sondern überall in der Bundesrepublik dem tatsächlichen Bedarf entsprechend angelegt.
Wen das immer noch nicht überzeugt, dem sage ich, daß die breitbandige Verkabelung von Inselnetzen - nun hören Sie einmal genau zu, meine Damen und Herren von der Opposition - auch seit 1979 weitergeht, und zwar auf Grund des neuen § 49 a der Fernmeldeordnung vom 20. Dezember 1979. Sie werden staunen, daß dieser neue Paragraph im Postverwaltungsrat mit Ihrer Zustimmung beschlossen worden ist. Was regen Sie sich also so auf?
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- Lesen Sie das einmal nach.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die vollständige breitwandige Verkabelung der elf Städte möglicherweise der Post den Vorwurf eingetragen hätte - das klang bei Ihnen ja auch an -, sie würde die von den Bundesländern beschlossenen vier Pilotprojekte unterlaufen. Da verstehe ich nun einiges nicht mehr. Wenn gerade Sie immer wieder darauf pochen, die Post habe sich medienpolitisch gefälligst absolut neutral zu verhalten, können Sie sich doch in diesem Falle nicht herstellen und sagen, da hätte sich die Post gefälligst einmal über medienpolitische Bedenken hinwegsetzen sollen. Das paßt j a wohl nicht zusammen.
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Der nächste Vorwurf aus dem Propagandaarsenal der Opposition lautet, die SPD und die Bundespost seien fortschrittsfeindlich. Auch diese Behauptung wird durch ständige Wiederholung nicht weniger falsch. Die Tatsachen sind wie folgt.
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- Nein, vielen Dank. Angesichts der zur Verfügung stehenden zehn Minuten muß ich mir die Zeit schon nehmen, Ihnen auch die Wahrheit zu sagen.
Wir sind für den Ausbau des derzeitigen schmalbandigen Telefonnetzes zu einem breitbandigen in Glasfaser. Dieses Netz wird, wie Sie wissen, von praktisch unbegrenzter Übertragungsfähigkeit sein und alle heutigen und zukünftigen möglichen Bedürfnisse befriedigen: vom Telefonieren über Datenfernübermittlung bis hin zu der Übertragung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen. Der Aufbau dieses integrierten Glasfasernetzes wird ab etwa 1985 möglich sein. Die SPD sagt klar und eindeutig, daß sie dieses Netz will. Sie fordert unsere Industrie auf, sich auf diese neue technologische Entwicklungslinie zu konzentrieren. Soweit es dabei auf die Bundespost ankommt, wird sie alles tun - davon gehe ich aus -, um diese Entwicklung zu beschleunigen.
Der Vorwurf, hier werde aus medienpolitischen Gründen etwas verzögert, ist deshalb völlig aus der Luft gegriffen. Im Gegenteil: Noch vor wenigen Jahren mußte die deutsche Industrie getreten werden, sich um diese Lichtwellenleitertechnik überhaupt intensiv zu kümmern. Glaube doch niemand, daß unsere Großindustrie jeweils der Hort des technischen Fortschritts sei und die Post sie daran hindere, international wettbewerbsfähig zu sein.
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Da gibt es nun wirklich genügend Gegenbeweise; ich erspare es uns und der Industrie, sie einmal öffentlich aufzuzählen. Dieses integrierte Netz aufzubauen - in erster Linie für die Individualkommunikation und für den Geschäftsbedarf - wird unser Anliegen sein. Ich habe das bereits im vergangenen Monat hier ausgeführt.
Nicht die Bereitschaft, Herr Kollege Weirich, flächendeckende Breitbandkupfer verteil netze aufzubauen, entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, sondern die Fähigkeit
zum Aufbau des Individualkommunikationssystems. Wir sagen j a dazu, und ich wäre dankbar, wenn Sie dieses Ja endlich einmal zur Kenntnis nehmen wollten.
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Damit Sie auch über Quellen verfügen und nicht dauernd obskure zitieren müssen, lese ich einfach einmal vor, was das Bundeskabinett gestern beschlossen hat. Ich zitiere:
Die Deutsche Bundespost wird ihr Fernmeldenetz insbesondere für Individualkommunikation im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zügig ausbauen. Sobald die technischen Voraussetzungen vorliegen, wird sie auf Grund eines langfristigen Investitions- und Finanzierungsplans den zügigen Aufbau eines integrierten Breitbandglasfaserfernmeldenetzes vornehmen.
Ich weiß nicht, was Sie daran auszusetzen haben. Vorgestern hat die SPD-Fraktion zustimmend eine Vorlage unserer Arbeitsgruppe „Beschäftigungspolitik" zur Kenntnis genommen, aus der ich auch einmal wörtlich zitieren will, damit Sie über die notwendigen Quellen verfügen:
Um für den zukünftigen Bedarf an individueller und geschäftlicher Kommunikation die notwendige Infrastruktur zu schaffen, ist der Ausbau des derzeitig schmalbandigen Telefonnetzes zu einem breitbandigen integrierten Netz in Glasfaser mit digitalisierter Übertragungstechnik so rasch wie möglich vorzunehmen.
Für die Bundespost, Industrie, Banken, Versicherungen, Handel, Handwerk und Verwaltung liegen große Chancen in diesem Bereich: Kommunikationsdienst für Wirtschaft und Verwaltung, Übertragung von Daten und Texten, Ausbau von Dialog- und Abrufdiensten, Konferenzschaltungen und schnelles Fernkopieren. Damit wird auch ein deutliches Signal für die Endgerätehersteller gegeben.
Ich kann Ihnen den vollen Wortlaut zur Verfügung stellen. Was daran fortschrittsfeindlich ist, vermag ich wirklich nicht zu entdecken.
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Richtig ist allerdings, daß wir gegen eine Doppelverkabelung sind. Neben einem solchen dienstintegrierten Breitbandvermittlungsnetz der Zukunft, wie wir es wollen, ein reines Verteilnetz für Hörfunk und Fernsehen aufzubauen, ist nach unserer Auffassung schon allein wirtschaftlich nicht zu vertreten; denn ganz egal, wer die 50 Milliarden DM und mehr bezahlen soll - sie sind doch nicht beliebig vorhanden. Ob die Post investiert, ob die Werbewirtschaft investiert, ob die Mediengroßkonzerne investieren, es zahlt letztlich immer der Bürger, entweder über Gebühren oder Preise. Dieses ist doch völlig klar. Dann wird nämlich das Gegenteil von dem eintreten, was Sie wollen: Es wird dadurch, daß Sie in ein solches im Grunde überholtes Netz investieren, für das Netz der Zukunft nicht genügend Geld da sein. Ich meine, dieses ist wirtschaftlich unvernünftig. Wir werden in der Enquete-Kommission genügend Zeit haben, uns darüber zu unterhalten.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Angesichts der unbestreitbaren Tatsachen entlarven sich die Schlagworte der Opposition vom „Verkabelungsstopp", vom „Investitionsstau" und von der „Fortschrittsfeindlichkeit" der SPD als das, was sie sind, nämlich reine Propaganda. Sofern die Opposition Forderungen, die j a so schön klingen, wie „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie" und „Informationsfreiheit für den mündigen Bürger" - die wir gewährleisten - nur als trojanische Pferde benutzt werden,
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um damit eigene machtpolitische Ziele und kommerzielle Interessen von Großkonzernen, die Sie sehr vornehm „private" Anbieter nennen, durchzusetzen,
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wird es unsere Aufgabe sein, dies als Roßtäuschertrick zu entlarven. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Frau Kollegin! Meine Herren! Als letzter Redner am Ende eines schönen Debattentages freue ich mich, feststellen zu können, daß alle finsteren Mächte hinreichend beschworen und zurückgewiesen worden sind, so daß ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken kann.
Ich halte den Begriff „Verkabelungsstopp" eigentlich auch für eine polemische Formulierung, mit der die irrige Vorstellung erweckt und unterhalten werden soll, als ob eine ungeheure Investitionssumme in diesem Bereich künstlich zurückgehalten worden sei. Das ist sicherlich nicht der Fall, sondern die Bundespost hat die zur Verfügung stehenden Investitionsmittel zum Ausbau der Inselnetze verwendet, wie das hier vorgetragen worden ist.
Es ist zweifellos richtig, daß die Entscheidung des Kabinetts, um die es hier geht, mit medienpolitischen Überlegungen im Zusammenhang stand, nämlich mit der Verabredung der Ministerpräsidenten, durch vier Pilotprojekte zunächst einmal technisch, organisatorisch und auch gesellschaftspolitisch auszuloten, welche Konsequenzen sich aus der Verkabelungstechnik für unser gesellschaftliches Leben ergeben. Ich bedaure etwas, daß dieser Konsens, der ursprünglich bestanden hat, durch die Pilotprojekte etwas mehr Klarheit in die medienpolitischen Entwicklungen zu bekommen, zu zerbröckeln beginnt. Man muß das im Interesse eigentlich aller bedauern.
Die damalige Entscheidung der Bundespost hat nicht auf der Glasfasertechnik aufgebaut, sondern
auf der konventionellen Verkabelungstechnik. Die Glasfasertechnik ist erst später greifbar geworden. Es ist vorgetragen worden, daß sie erst Mitte der 80er Jahre - 1983/84 - tatsächlich zur Verfügung stehen wird. Es ist also die wirtschaftliche und die technische Frage zu prüfen, ob es sinnvoll ist, zunächst zwei unterschiedliche Netze nebeneinander auf- und auszubauen. Wir meinen, daß sich die Bundespost wirtschaftlich sinnvoll, also nachfragegerecht verhalten muß. Wir würden es ebenso dankbar begrüßen, wenn die Bundespost bezüglich der Endgeräte die Empfehlung der Monopolkommission beachten würde, sich in diesem Bereich auf die Fernsprechhauptanschlüsse zu beschränken und im übrigen die freie Wirtschaft walten lassen sollte.
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Zur Einführung der Glasfasertechnik muß man sagen, daß sie in der Bundesrepublik nicht allein aus medienpolitischen Gründen unterbleiben sollte. Niemand beabsichtigt das. Dies enthebt uns allerdings nicht der Notwendigkeit, zu sagen, daß wir nicht blind jeder technischen Entwicklung folgen wollen, sondern daß wir verpflichtet sind, sehr sorgfältig zu prüfen und zu entscheiden, wie diese technischen Entwicklungen akzeptabel, vertretbar und sinnvoll gemacht werden können.
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Man muß doch sehen, daß der blinde Fortschrittsglaube nicht nur in diesem Bereich einige harte Proben zu bestehen gehabt hatte.
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- Ja, in dieser Frage ist die Koalition in der Tat fortschrittlich. Sie sind unglaublich konservativ. Sie stellen sich unsere Zukunft wie die lineare Verlängerung des 19. Jahrhunderts vor. Damit werden Sie scheitern.
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Zu der Frage, welche Bedingungen für die medienpolitischen Entscheidungen maßgebend sind, kann man Grundsätze nennen: Der freie Fluß der Informationen auch über die Grenzen hinweg darf nicht behindert werden. Es muß verhindert werden, daß es medienpolitische Informations- oder Meinungsmonopole gibt oder daß die bestehenden Monopole in diesem Bereich verstärkt werden. Die Existenz der Zeitungen und Zeitschriften muß gesichert werden. Dies bedeutet auch, daß wir das Eindringen der Werbeträger in Programmentscheidungen verhindern müssen und verhindern wollen. Ein solches Eindringen kann nicht der Sinn einer modernen Medienpolitik sein.
Alle diese Fragen werden wir in der Enquete-Kommission behandeln, die wir gleichzeitig einsetzen. Es kann dabei nicht Sinn dieser Kommission sein, notwendige Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Sie darf nicht vor sich hintrendeln, sondern wir werden alles tun, damit sie den gesteckten Zeitrahmen einhält, um sinnvolle Entwicklungen zu ermöglichen. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Becker ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Herren!
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- Entschuldigung, Frau Kollegin Pack. - Der Herr Kollege Weirich hat eben einige Ausführungen gemacht, zu denen ich doch noch ein paar Sätze sagen muß.
Für ein Konjunkturprogramm der Bundesregierung wurde 1978 der Vorschlag der Deutschen Bundespost eingebracht, in rund einem Dutzend Orten eine Breitbandverkabelung vorzunehmen und zu erproben. Der Investitionsaufwand wurde mit etwa 1,2 Milliarden DM angesetzt. Der Ausbauzeitraum sollte acht Jahre betragen. Gegen diese Breitbandverkabelung hatten die Länder Einspruch erhoben, weil sie befürchteten, daß die Ergebnisse der von den Ministerpräsidenten im Jahre 1978 beschlossenen Pilotprojekte präjudiziert würden, insbesondere die Akzeptanz zusätzlicher Fernsehprogramme. Auf Grund dieser Einsprüche hat die Bundesregierung am 26. September 1979 beschlossen, die flächendekkende Breitbandverkabelung von elf Orten zunächst nicht weiter zu verfolgen.
({1})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Becker Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen: Nein, ich möchte das wirklich schnell zu Ende bringen.
Es ist unverständlich, wie dies insbesondere von der CDU/CSU immer wieder als Verkabelungsstopp interpretiert wird, obwohl sie doch die Hintergründe am besten kennen müßte. So hat sich das Land Rheinland-Pfalz
({0})
- ja, aber das liegt mir doch vom Ministerpräsidenten vor! - zuerst und am schärfsten gegen diese Verkabelung gewandt.
Eine Investitionsbeschränkung ist hierdurch nicht eingetreten, weil anstelle des flächendeckenden Ausbaus verschiedener Städte inselförmige Breitbandverteilnetze zur Versorgung von Fernsehteilnehmern - jedoch nur mit den ortsüblich empfangbaren Fernseh- und Hörfunkprogrammen - mit einem in etwa gleichen mittelfristigen Investitionsvolumen angelegt wurden. Die Deutsche Bundespost hat dadurch jegliches medienpolitische Präjudiz vermieden, gleichzeitig jedoch die Arbeitsplätze in Industrie und Handwerk gesichert.
Die andere Behauptung, die Deutsche Bundespost entwickle ihre Anlagen nicht auf künftige Anforderungen hin weiter, ist ebenso unhaltbar, weil die bereits errichteten Breitbandnetze technisch so konzipiert sind, daß die Inseln als Bestandteile des zu1636
künftigen Breitbandkommunikationssystems zusammengeschaltet werden können.
Eine weitere Bemerkung: Die Bundesregierung hat sich gestern auch mit der Frage beschäftigt, die hier eben noch einmal eine Rolle spielte: wie der Endgerätemarkt zu bedienen ist. Die Bundespost hat bereits grundsätzlich klargestellt, daß ihre Beteiligung am Endgerätemarkt dessen freie Entwicklung nicht behindern soll und daß die Deutsche Bundespost auch durch ihre Tätigkeit als Zulassungsbehörde die Voraussetzungen für diese Entwicklung und für künftig notwendige Innovationen fördern wird.
Letzte Bemerkung: Über die medienpolitischen Fragen wird die Bundesregierung am 13. Mai 1981 beraten und - ich bin sicher - auch entscheiden.
({1})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Die Überweisungsempfehlung des Ältestenrates für die Vorlage unter Punkt 9 a finden Sie auf der Tagesordnung. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Zu dem Punkt 9 b, Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP betreffend Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken", liegt auf Drucksache 9/314 eine Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Einsetzung einer Enquete-Kommission vor. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und zu dem Europäischen Übereinkommen vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland
- Drucksache 9/68 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 9/298 Berichterstatter: Abgeordnete Broll Dr. Wernitz
({1})
Wird dazu das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Europäischen Übereinkommens vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und des Europäischen Übereinkommens vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland
- Drucksache 9/69 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 9/299 Berichterstatter: Abgeordnete Broll Dr. Wernitz
({3})
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe auf die §§ 1 bis 10, Einleitung und Überschrift, mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dies ist so beschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Danke. Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dies ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Wiener Abkommen vom 12. Juni 1973 über den Schutz typographischer Schriftzeichen und ihre internationale Hinterlegung ({4})
- Drucksache 9/65 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 9/301 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Klejdzinski Dr. Wittmann
({6})
Herr Berichterstatter Dr. Klejdzinski wünscht dazu das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem Ihnen vorgelegten Entwurf ist das Datum des Inkrafttretens offengeblieben.
Der Ausschuß hat am 8. April 1981 einstimmig beschlossen, diese Lücke auszufüllen. Die Inkrafttretensklausel, Art. 3 Abs. 2 Satz 1, soll lauten: „Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft". Diese Ergänzung wird von beiden Berichterstattern beantragt.
Danke schön, Herr Berichterstatter.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3 mit der soeben beschlossenen Ergänzung, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dies ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Genf am 13. Mai 1977 unterzeichneten Fassung des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken
- Drucksache 9/70 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 9/302 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Klejdzinski Dr. Wittmann
({1})
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Schlußabstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes
- Drucksache 9/246 Das Wort wird nicht gewünscht. Der Überweisungsvorschlag des Ältestenrates lautet: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Sammelübersicht 9 des Petitionsausschusses ({2}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 9/289 Das Wort wird nicht erbeten. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 9/289 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um
ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Dies ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({3}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Reichseigenes Grundstück Berlin 52 ({4}), Ollenhauerstraße 97/99;
hier: Verkauf an das Land Berlin - Drucksachen 9/101, 9/261 Berichterstatter:
Abgeordnete Grobecker Carstens ({5})
Der Berichterstatter wünscht nicht das Wort. Das Wort wird auch sonst nicht gewünscht. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 9/261 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({6})
- Den Zwischenruf hatte ich erwartet. ({7})
Es ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 und 19 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung ({9}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({10}) Nr. 2727/75 über die Gemeinsame Marktorganisation für Getreide
- Drucksachen 9/108 Nr. 13, 9/274 Berichterstatter:
Abgeordneter Sauter ({11})
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({12}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Durchsetzung von internationalen Normen für die Sicherheit im Seeverkehr und die Verhütung von Meeresverschmutzung in bezug auf den Schiffsverkehr in den Häfen der Gemeinschaft
- Drucksachen 9/87, 9/300 Berichterstatter:
Abgeordneter Fischer ({13})
Das Wort wird nicht gewünscht. Wir stimmen über die Vorlagen gemeinsam ab. Wer den Beschlußempfehlungen der Ausschüsse auf den Drucksachen 9/274 und 9/300 zuzustimmen wünscht, den bitte ich
Vizepräsident Frau Renger
um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dies ist einstimmig so beschlossen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Beratungen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. April, 8 Uhr ein. Wir beginnen mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist geschlossen.