Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich folgendes bekanntgeben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung am Freitag ergänzt werden um die Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Montan-Mitbestimmungsgesetzes und des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes - Drucksache 9/241 -. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft
- Drucksache 9/124 Es wird beantragt, den Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft der 8. Wahlperiode auf Drucksache 8/4461 im Plenum zu behandeln und an die zuständigen Fachausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Im Ältestenrat ist für die Debatte heute eine Redezeit von vier Stunden vereinbart worden. Ist das Haus auch damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Dies ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Timm.
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- Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wex. Wir sehen, die Frauen sind sich von Anfang an schon untereinander einig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Parlament hat 1973 auf Antrag der CDU/CSU eine EnqueteKommission Frau und Gesellschaft eingesetzt, deren Empfehlungen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft wir heute beraten. Die Enquete-Kommission wurde 1974 konstituiert und legte 1976 einen Zwischenbericht vor. 1977 wurde auf Antrag aller Fraktionen erneut eine Enquete-Kommission eingesetzt, die die in der 7. Wahlperiode begonnene Arbeit weiterführte und abgeschlossen hat. Ich spreche sicher in Ihrer aller Namen, wenn wir den Kollegen und den Sachverständigen, besonders aber auch den beiden Vorsitzenden in den beiden Legislaturperioden, Frau Timm und Frau Schleicher, hier unser aller Dank für die geleistete Arbeit aussprechen.
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Die Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft wurde in der Erkenntnis eingesetzt, daß die Aufbereitung des ebenso umfangreichen wie bedeutenden. aber auch so komplexen Problemkreises der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau in Staat und Gesellschaft notwendig und geboten ist. Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission hat das Parlament von seinem Recht Gebrauch gemacht, durch Abgeordnete aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen sowie durch nichtparlamentarische Sachverständige eine vielschichtige und bedeutende Materie, wie sie die Gleichberechtigung der Frau darstellt, zu untersuchen, überschaubar darzustellen und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission hat das Parlament auf die außerordentliche Bedeutung der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau hingewiesen.
Der vorliegende Bericht zeigt, daß der Deutsche Bundestag fähig und in der Lage ist, Probleme aufzugreifen, von denen, zumal unter jüngeren Mitbürgern, die Meinung verbreitet ist, Politiker täten nicht genügend, um sie wirklich zu lösen. Heute wird viel davon gesprochen, junge Menschen hätten keine Ziele mehr, für die es sich einzusetzen lohne. Der Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft zeigt ein solches Ziel auf: unsere Zukunft durch mehr Partnerschaft zwischen Mann und Frau menschlicher zu gestalten. Wir Politiker sind uns bewußt: Allein mit den Mitteln der Gesetzgebung werden wir diese Partnerschaft nicht erreichen. Wir brauchen die Mitwirkung aller Bürger. Wir brauchen vor allem die Mitwirkung junger Menschen, die diese Partnerschaft ja auch leben und verwirklichen sollen.
Der vorliegende Bericht spiegelt die vielfältige Diskussion wider, die das Thema Gleichberechtigung und Emanzipation im vergangenen Jahrzehnt durchgemacht hat. Es ist nicht verwunderlich, daß auch hier in Mehrheits- und Minderheitsvoten verschiedene Positionen zum Ausdruck kommen. Dies klärt die Situation und fördert die Diskussion, die an die verschiedene Einschätzung der Sachthemen geknüpft werden muß.
Wir haben die breite Bewegung für Emanzipation zu Beginn der 70er Jahre erlebt, in der die Meinung vorherrschte, die Frau könne sich vor allem im Beruf, oft nur unter erschwerten Bedingungen für die Familie, manchmal auf Kosten der Kinder, emanzipieren. Wir haben die Bewegung erlebt, die bei der Diskussion um den § 218 einen Umfang annahm, der mit dem der Studentenunruhen der 60er Jahre vergleichbar war. Wir haben erlebt, daß die Gleichberechtigungspolitik vor allem als Sozialpolitik verstanden wurde, die nur mit viel Geld verwirklicht werden könne.
Dies alles hat sich geändert. Zu Beginn der 70er Jahre, als die Enquete-Kommission beschlossen wurde, ging es um den Ausbau des sozialen Netzes, ging es um den Einsatz modernster Technologien für den wirtschaftlichen Fortschritt.
Die heutige Szene sieht anders aus. Heute geht es um die Sicherung des sozialen Netzes. Heute geht es um die Auswirkung von Technisierung und Automation auf die Situation des einzelnen Menschen in der Arbeitswelt, Familie und Freizeit. Heute geht es darum, wie in naher und mittlerer Zukunft eine ausreichende Menge an Energie zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung gestellt werden kann. Heute geht es um die Reduzierung der Bürokratie auf ein für den Bürger und die Wirtschaft sinnvolles Maß. Ging es damals um die große, so geht es heute auch um die kleine Welt.
Der Bericht muß Grundlage sein, um eine Politik des menschlichen Maßes zu entwickeln. Heute muß eine realistische Politik davon ausgehen, daß wir in den nächsten Jahren niedrigere Wachstumsraten als bisher haben werden.
Auf der Grundlage des vorliegenden Berichts brauchen wir ein Konzept, wie in einer veränderten ökonomischen Lage unsere politische Handlungsfähigkeit in Sachen Gleichberechtigung erhalten und gesichert werden kann. Diese Probleme hängen mit der Frage zusammen, wie wir den sozialen Frieden erhalten können, wie wir die zusätzlichen Aufgaben etwa im Umweltschutz in der Verteidigung und in der Entwicklungshilfe bewältigen können.
Trotzdem müssen wir fragen: Was ist an politischen und institutionellen Veränderungen notwendig, um unter geänderten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen eine Politik zu betreiben, die dem Verfassungsauftrag der Gleichberechtigung gerecht wird, ihn vorantreibt und nicht zurückwirft?
Eine solche Politik muß anders als die der letzten Jahre aussehen. Wir stehen vor einer neuen Qualität der Politik. Diese Politik muß den Übergang von einer wachstumsorientierten Gesellschaft zu einer gleichgewichtsorientierten Gesellschaft finden. Wir können keine Politik machen, die die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten negiert und nicht zur Kenntnis nimmt, welche Aufgaben wir allein durch die Notwendigkeit vor uns haben, den aufgehäuften Schuldenberg zu tragen oder abzubauen.
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Eine Politik für die Frauen darf nicht davon absehen, daß die Sicherung der Renten und der Sozialleistungen ein wesentlicher Faktor unserer Politik ist und daß der finanzielle Handlungspielraum des Staates eingeengt worden ist. Das heißt aber nicht, daß eine Politik für die Gleichberechtigung der Frau etwa am Ende ist. Das heißt: Wir brauchen neue Strategien. Wir brauchen neue Verbündete.
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Wir können nicht einfach sagen - wie in letzter Zeit schon gehört -: Die soziale Sicherung für alle Frauen kann nun nicht mehr gemacht werden, weil der finanzielle Spielraum zu eng geworden ist. Nein. Wir müssen sagen: Die eigenständige soziale Sicherung aller Frauen muß sichergestellt werden, obwohl der finanzielle Spielraum enger geworden ist. Notwendig ist ein neuer Anlauf für ihre Verwirklichung, der den veränderten Bedingungen Rechnung trägt. Unsere Gesellschaft wandelt sich. Das Bedürfnis nach überschaubaren Einheiten wächst. Diese Tatsache sollte uns ermutigen, eine Politik für die Partnerschaft auch unter geänderten Bedingungen durchaus als eine Chance zu begreifen.
Es ist nicht zu übersehen, daß der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau heute immer noch nicht verwirklicht ist, und viele Frauen sehen das auch selbst so. So fühlen sich 38 % der Frauen von den in Bonn vertretenen Parteien in ihren Belangen nicht mehr ausreichend vertreten. So sind 72 % der Frauen der Ansicht, sie seien im Beruf und im gesellschaftlichen Leben gegenüber den Männern benachteiligt. Diese Zahl ist eine erhebliche Steigerung gegenüber der von vor acht Jahren. Obwohl Fortschritte gemacht worden sind, wie etwa bei den Löhnen und Gehältern der berufstätigen Frauen, verstärkt sich das Gefühl der Benachteiligung. Diese Zahlen sollen alarmieren, denn hier wird deutlich, daß es unter den Frauen ein großes Potential gibt, dessen Vertrauen in die politische Gestaltungsfähigkeit schwindet. Hier könnte der Prozeß der politischen Verweigerung sich ausweiten, wie wir ihn zum Teil in der jungen Generation zur Zeit schon erleben. Hier liegt eine Herausforderung für unsere Politik. Was wir brauchen, ist eine neue Wahrhaftigkeit in der Politik um mehr Partnerschaft.
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Grundlagen für diese neue Wahrhaftigkeit kommen durchaus im Bericht der Enquete-Kommission zum Ausdruck. So besteht zwischen den Fraktionen Einigkeit, daß wir Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf ermöglichen müssen. Dies ist ein großer Fortschritt. Wahlfreiheit ist aber nur dann garantiert, wenn wir alle anerkennen, daß die innerhäusliche Tätigkeit der außerhäuslichen gleichwertig ist. In Zukunft darf es nach diesen Vorstellungen kein Gesetz mehr geben wie zum Beispiel das zum MutFrau Dr. Wex
terschaftsurlaub, das die Hausfrauen über Gebühr benachteiligt.
Politik - hier ist das ganze Parlament angesprochen - muß sich an Prinzipien orientieren, um die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu erreichen:
der Entscheidungsfreiheit von Mann und Frau, ihre Rolle in Gesellschaft, Ehe und Familie selbstverantwortlich zu finden und zu gestalten,
der anerkannten und gemeinsam wahrgenommenen Verantwortung von Mann und Frau für die Gestaltung und Ordnung innerhalb der Familie,
der Möglichkeit zur intensiven Hinwendung zum Kind von Mann und Frau durch Anerkennung einer für die Gesellschaft erbrachten Leistung und
der Schaffung von Rahmenbedingungen, die den Frauen helfen, ihren Lebensweg so zu gestalten, daß sie auf familiengerechte Weise ihre Aufgaben in der Familie mit ihrem Wunsch nach außerhäuslicher Erwerbstätigkeit verbinden können.
An wen wendet sich der Bericht? Der Bericht wendet sich zuerst einmal an uns, den Deutschen Bundestag. Wir müssen ein abgestuftes Programm zur Erreichung der Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft entwickeln. Der Bericht wendet sich zweitens an die Bundesregierung, die in einer gleichgewichtigen Politik für die Frau und die Familie in den letzten Jahren sich zu oft versagt hat. Sie hat hier eine Richtschnur ihres politischen Handelns. Und drittens wendet sich der Bericht an die Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen. Vieles, was wir erreichen müssen - etwa eine bessere Abstimmung zwischen Familien- und Arbeitswelt, so z. B. durch Ermöglichung von Teilarbeitszeit und Jobsharing, wie aber auch eine verstärkte Vertretung in den jeweiligen Organisationen, so z. B. in den Betriebs- und Aufsichtsräten - ist eine Sache der Sozialpartner. Auch für sie gilt, daß die Gleichberechtigung über 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes noch nicht erreicht ist, und an dieser Verantwortung haben auch sie mitzutragen.
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Viertens wendet sich der Bericht an jeden einzelnen Bürger. Wir können noch so viele Gesetze machen - wenn das Bewußtsein für diese Probleme nicht geschärft, wenn die Bereitschaft, sie zu lösen, nicht gegeben ist, dann werden uns alle Gesetzes nichts nützen.
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Überhaupt möchte ich an dieser Stelle davor warnen, den sensiblen Bereichen des Verhältnisses zwischen Mann und Frau, zwischen Partnern und ihren Kindern, lediglich gesetzestechnisch in den Griff bekommen zu wollen. So halte ich auch in Übereinstimmung mit der Enquete-Kommission ein „Antidiskriminierungsgesetz" für entbehrlich.
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Keine neuen Bürokratien errichten, sondern die Verantwortlichen in die Pflicht nehmen! Dieses Indie-Pflicht-Nehmen bedeutet aber vor allem, daß wir dafür sorgen, daß allen bewußt wird, wie wichtig
diese gesellschaftliche Aufgabe für die Zukunft unserer gesamten Gesellschaft ist. Gemeinsam müssen wir zeigen: eine freiheitliche Gesellschaft, die auf der Sozialen Marktwirtschaft aufbaut, ist auf eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau geradezu angewiesen. Wir dürfen Soziale Marktwirtschaft nicht allein aus der Sicht der Steuer- und Finanzpolitik, allein aus der Sicht mächtiger Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen interpretieren, sondern die Soziale Marktwirtschaft muß auch aus der Sicht der Familien, der Männer und Frauen definiert werden.
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Dieser Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft bietet eine Chance zu einem Pakt für die Gleichberechtigung, einem Pakt, an dem sich die Politik, die Sozialpartner, die Kirchen, die Landesregierungen, jeder einzelne Betrieb beteiligen müssen, wenn wir über eine angemessene Zeit Erfolge erzielen wollen, wenn wir bei der Mehrheit unserer Bevölkerung glaubwürdig bleiben wollen. Wir brauchen auch die Wahrhaftigkeit, mit der jeder Verantwortliche sich selber fragt, was er in Sachen Gleichberechtigung getan hat und was er tun will und kann.
Hierzu gehört vor allem, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, daß alle Maßnahmen gleich mit Geld verbunden sein müssen. Ich erinnere daran, daß die Kommission eingehend den Vorschlag der Enquete-Kommission Verfassungsreform diskutiert hat, nach z. B. bayerischem Vorbild bei den Bundestagswahlen die begrenzt offene Liste einzuführen. Das könnte die Möglichkeit eröffnen, mit der Zweitstimme einen bestimmten Listenbewerber innerhalb der Liste, die man wählt, zu kennzeichnen, um damit die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste zu verändern.
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Hier bestünde die Möglichkeit, durch den Wählerwillen mehr Frauen in die Parlamente zu entsenden. Das ist auch ein Beispiel, das zeigt, daß wir eine intensive Diskussion um den richtigen Weg der Gleichberechtigung führen müssen.
Dieser Bericht hat - das sollten wir ohne Zögern zugeben - auch Mängel. So kommt der internationale Aspekt zu kurz; die Einbindung in die gesamtgesellschaftliche Diskussion ist nicht immer geglückt. Aber insgesamt haben wir eine Grundlage, mit der wir arbeiten können.
Sicherlich ist der Bericht nicht in allen Bereichen der so komplexen Materie zu einer einheitlichen, überzeugenden Antwort gekommen. Aber das gerade sollten wir aus meiner Sicht begrüßen. Der Bericht sollte nicht als Ende einer Diskussion, sondern vielmehr als Beitrag zu einer begonnenen und noch nicht vollendeten Diskussion verstanden werden.
Die Aufnahme dieses Berichts wird uns sicher auch in die Lage versetzen, in vielem die Gewichte anders zu verteilen. So stellt sich das Problem der Gleichberechtigung von Mann und Frau heute nicht nur als Problem im Bereich der Erwerbstätigkeit
dar, sondern umgreift eben besonders auch die Rechtsstellung der Nichterwerbstätigen, die sich der Erziehung der Kinder widmen und damit einen gesellschaftlich unverzichtbaren Dienst leisten, seien es nun Mann oder Frau.
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Die CDU/CSU hat von Anfang an ihre konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Sie hat u. a. vor einiger Zeit einen Vorschlag für ein Zehn-Jahres-Programm zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau vorgelegt, ein Programm, das in vielen Punkten Ergebnisse des Berichtes unterstreicht.
Ich weiß, daß die allgemeinen und speziellen Zielsetzungen, die auch im Bericht der Enquete-Kommission aufgezeigt werden, nicht von heute auf morgen zu verwirklichen sind. Zu groß ist zum Teil ihre Abhängigkeit von Faktoren z. B. wirtschaftspolitischer oder sozialpolitischer Natur, die ohne Schaden nicht beliebig schnell geändert werden können. Das festzustellen heißt aber nicht, den Bericht der Kommission etwa zu den Akten zu legen.
In Zukunft wird es darum gehen, das, was in dem Bericht der Enquete-Kommission beschrieben worden ist, auch weiterhin beharrlich und mit dem Blick für die Notwendigkeit der stets aufgegebenen Reformen als unser aller Aufgabe anzusehen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt ({0}).
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! In Deutschland wurde der internationale Tag der Frau erstmals am 19. März 1911 gefeiert. Es ist also ein historisches Datum, an dem wir heute den Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft diskutieren, historisch in zweierlei Hinsicht: Weil heute der 70. Jahrestag dieses Datums ist und weil der Forderungskatalog der Frauen des Jahres 1911 nur sehr lückenhaft erfüllt worden ist. Vieles von dem, was damals gefordert wurde, findet sich in anderen Worten, auf unsere heutige Gesellschaft zugeschnitten, in den Empfehlungen der Enquete-Kommission wieder. Einige Probleme sind gelöst, andere hinzugekommen. Aber wie ein roter Faden zieht sich durch die Veröffentlichungen der Frauenbewegung die Forderung nach Gleichstellung im Beruf, nach Recht auf Arbeit.
Wie sieht es heute damit aus? Die Arbeitslosenquote der Frauen betrug im Februar 1981 6,4 %, die der Männer 5 % und dies bei einer wesentlich geringeren Erwerbstätigkeit der Frauen. Hinzu kommt die Anzahl der Frauen, die es längst aufgegeben haben, einen Arbeitsplatz zu suchen, weil sie keinerlei Aussicht haben, eine Teilzeitarbeit zu bekommen, sei es, weil sie bereits mit 40 Jahren nach längerem Ausscheiden aus dem Beruf als zu alt angesehen werden, sei es, weil es in ihrem Beruf zu den von ihnen gewünschten Zeiten keine Arbeitsplätze gibt.
Damit sind wir bei einem Teil der Ursachen der unverhältnismäßig hohen Arbeitslosigkeit der Frauen, wie sie auch die Enquete-Kommission festgestellt hat. Erstens suchen Frauen in großem Ausmaße Teilzeitarbeit in den Vormittagsstunden, weil sie es eben nach wie vor sind, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren müssen. Die Berufsausbildung der Frauen ist nach Aussetzen der Arbeit in dem Beruf in großem Ausmaße entwertet. Das Management der Haushaltsführung, die Kenntnisse der Kindererziehung, die sich diese Frauen angeeignet haben, werden von kaum einem Arbeitgeber anerkannt. Die weiteren, ganz wesentlichen Gründe sind folgende: Mädchen haben zwar in den letzten Jahren bei den Schulabschlüssen mit den Jungen beinahe gleichgezogen; aber das sagt leider nur teilweise etwas über die Lehrinhalte aus. Mädchen werden immer noch durch Schulbücher und Curricula auf ihre herkömmlichen Rollen festgelegt. In Bayern z. B. sieht es dann so aus. In Art. 131 der bayerischen Verfassung steht auch heute noch: Die Mädchen sind außerdem in der Säuglingspflege, der Kindererziehung und Hauswirtschaft zu unterweisen.
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Zwar ist es seit wenigen Jahren endlich möglich, daß Mädchen und Jungen gemeinsamen Handarbeitsunterricht haben; aber auch da sieht der Lehrplan Unterschiede vor. Die Mädchen lernen Nähen und Häkeln, die Jungen plastisches Gestalten und Papier- und Stoffdruck. So zieht sich das durch die gesamte Schullaufbahn. Der Junge im Wahlpflichtfach Hauswirtschaft und Kochen bleibt die Ausnahme, und der sozialwissenschaftliche Zweig der Gymnasien steht nur Mädchen offen. Arbeitslehre, in der die Kinder etwas über Berufe erfahren, wie sie heute aussehen, findet kaum statt. Wie sollen auch Lehrer darüber Auskunft geben können, kennen sie doch die betriebliche Praxis nur in den seltensten Fällen!
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Wen wundert es dann, daß sich Mädchen im Berufsleben auf einige wenige Berufe konzentrieren, daß sie das Beispiel ihrer Mütter übernehmen, kurze Ausbildungszeiten suchen, sich auf Dienstleistungsberufe beschränken, die - zu Recht oder zu Unrecht - schlechter bezahlt sind und weniger Aufstiegschancen haben?
Als Betriebsrätin habe ich bei der Begrüßung der neuen Auszubildenden immer wieder dasselbe erlebt. Bei den kaufmännischen Berufen, in denen unser Betrieb ausgebildet hat, waren die Mädchen immer in der Überzahl. Bei den Gesprächen mit den neuen Auszubildenden hat sich dann herausgestellt: die Mädchen wollten Bürokaufmann oder Verkäuferin werden, die Jungen Datenverarbeitungskaufmann oder Einzelhandelskaufmann. In den gewerblichen Berufen habe ich in der Bekleidungsfertigung keinen einzigen Jungen gesehen. Nähenlernen ist eben nach wie vor Mädchensache. Bei den Rundfunk- und Fernsehmechanikern habe ich kein einziges Mädchen gesehen. Die Mädchen gehen also in Berufe, die von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen sind, die wenig Zukunftschancen haben, die zwar nach kurzer Ausbildungszeit schnellen Verdienst versprechen, der aber wegen mangelnder
Frau Schmidt ({2})
Aufstiegschancen und Unterbewertung kaum steigt.
Meine Herren, meine Damen, in der Struktur- und Arbeitsmarktpolitik sind zwar in der Zwischenzeit Erfolge zu verzeichnen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kommen zunehmend auch Frauen zugute. Der Bericht der Enquete-Kommission bemängelt aber zu Recht, daß staatliche Fördermittel nach wie vor nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, daß die Arbeitslosenquote von Frauen bei der Wahl von zu fördernden Regionen keine Berücksichtigung findet, daß Unternehmen keine Auflagen erhalten, auch Dauerarbeitsplätze für Frauen bei Inanspruchnahme von Fördermitteln einzurichten. Ein Zusammenwirken aller Beteiligten, der Betriebs- und Personalräte, der Selbstverwaltungsorgane, der Kommunalparlamente, findet nicht statt. Was hilft es, wenn dann sogar Arbeitsplätze für Frauen entstehen, diese aber nicht von den Frauen besetzt werden können, weil die Frauen dort Kindergärten vorfinden, die Öffnungszeiten von 8 bis 12 Uhr und von 14 bis 16.30 Uhr haben, wenn Ganztags- und Gesamtschulen fehlen, wenn die nächste Einrichtung, in der die Frau sich weiterbilden und umschulen lassen kann, 50 km entfernt ist und dort selbstverständlich die Möglichkeit fehlt, Kinder mitzubringen und betreuen zu lassen?
Meine Herren, meine Damen, lassen Sie mich noch einige Worte zur Unterbewertung von Frauentätigkeiten sagen. Die Bundesregierung hat ein erfolgreiches Modellvorhaben „Mädchen in Männerberufen" durchgeführt. Diese Mädchen und Frauen werden in dem neuen Beruf mit großer Wahrscheinlichkeit dasselbe verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - dagegen verstößt kaum mehr ein Arbeitgeber. Aber gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit ist noch lange nicht verwirklicht.
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Das liegt einmal am geteilten Stellenmarkt, der bestehen bleiben wird, solange nur Kann- und SollBestimmungen das untersagen, und dieser geteilte Stellenmarkt führt dazu, daß Tätigkeiten eben nach wie vor beinahe ausschließlich von Frauen ausgeübt werden.
Wir schlagen deshalb - und wir meinen das ernst - auch ein Modellvorhaben „Männer in Mädchenberufen" vor. Nur wenn der Stenotypist nicht nur im Bundestag genauso normal ist wie die Stenotypistin, wenn in der Datenerfassung nicht nur die Abteilungsleiter Männer sind, sondern an den Terminals auch Männer und Frauen sitzen, wenn nicht mehr nur Sekretärinnen, sondern auch Sekretäre gesucht und gefunden werden, wird sich hier Grundlegendes ändern. Erst als im Bereich der Krankenpflege zunehmend auch Männer beschäftigt wurden, hat sich die Bewertung dieser Tätigkeit und damit ihre Bezahlung geändert. Die derzeitige Arbeitsplatzbewertung hat weitgehend nichts mit objektiven Maßstäben zu tun. In afrikanischen und asiatischen Ländern, wo schwere körperliche Arbeit wie z. B. Straßenbau Frauensache ist und jede Art von Bürotätigkeit Männersache, ist selbstverständlich auch einfachste Bürotätigkeit besser bezahlt als von Frauen ausgeübte Schwerstarbeit.
Wir nehmen deshalb gern die Empfehlung der Enquete-Kommission auf, neue Grundsätze der analytischen Arbeitsplatzbewertung zu entwickeln. Wir wollen uns dabei aber nicht auf eine Aufforderung an die Tarifvertragsparteien beschränken. Wir fordern die Bundesregierung auf, Rahmenrichtlinien für eine objektive Arbeitsplatzbewertung zu entwikkeln. Selbstverständlich wollen wir damit nicht in die Tarifautonomie der Sozialpartner hineinregieren. Wir wollen aber Hilfestellung für die Tarifpartner geben, zu einer gerechten Einordnung der Tätigkeiten in den einzelnen Branchen zu kommen.
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Gerade Tarifkommissionen, meist auf Länderebene, sind oftmals überfordert, diese grundsätzliche Arbeit zu leisten. So sitzen sich z. B. seit mehr als zwei Jahren Arbeitgeber und Gewerkschaften gegenüber und versuchen zu klären, ob die Tätigkeit einer im Akkord beschäftigten Versandpackerin gleich hoch zu bewerten ist wie die eines Lagerarbeiters.
Noch einen Grund gibt es, hier allgemeinverbindliche Rahmenrichtlinien zu erlassen. Gehen wir einmal davon aus, daß doch die eine oder andere Frau nach dem arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetz versucht, ihre Rechte durchzusetzen. In § 612 Abs. 3 BGB ist festgeschrieben: Für gleichwertige Arbeit muß gleicher Lohn gezahlt werden. Wie lange wird es dauern, wenn Richter in jedem Einzelfall und immer wieder feststellen müssen, ob das der Fall ist, wenn derartige Rahmenrichtlinien nicht existieren?
Damit bin ich schon bei dem Punkt: Was soll geschehen? Erstens: Wir fordern die Bundesregierung auf, keine zweistufigen Ausbildungsordnungen für die Erstausbildung mehr zu erlassen, da sich hier gezeigt hat: Das wirkt sich beinahe ausschließlich auf Mädchen aus.
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Betroffen davon sind immerhin beinahe 130 000 Ausbildungsplätze.
Zweitens. Wir wollen, daß der Bildungsausschuß, der Minister für Bildung und Wissenschaft und die Kultusministerkonferenz Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung der Lehrer entwickeln. Es soll sichergestellt werden, daß Lehrer als wichtige Bezugspersonen für ihre Schüler besser Auskunft geben können über Berufe, die Arbeitswelt, berufliche Möglichkeiten für Mädchen. Dies sollte für alle Lehrer unabhängig von der Schulart gelten.
Betriebspraktika für Schüler sollten allgemeinverbindlich werden. In den Gymnasien darf der hauswirtschaftliche Unterricht, dürfen Erkenntnisse über Erziehung und Familienführung für Mädchen und Jungen nicht vollständig unter den Tisch fallen. Und weiterhin darf es nicht immer nur bei Absichtserklärungen bleiben - die wir alle miteinander schon häufig genug abgegeben haben -, rollentypische und rollenfestlegende Inhalte aus den Schulbüchern zu entfernen.
Frau Schmidt ({6})
Drittens. Frauen, die zeitweise mit der Berufstätigkeit aussetzen, müssen in dieser Zeit die Möglichkeit der Aus- und der Weiterbildung, des Auf-demlaufenden-Bleibens, erhalten.
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Vielleicht könnte dazu ein Modellvorhaben aufgelegt und vor allem Frauen aus ländlichen Bereichen berücksichtigt werden. Die von den Frauenverbänden ins Leben gerufene Aktion „Neuer Start mit 35" sollte geprüft und sinnvoll unterstützt werden.
In diesem Zusammenhang auch noch ein Wort an die Arbeitgeber: Verschließen Sie sich nicht dem Wunsch nach Arbeit der Frauen, die aus familiären Gründen längere Zeit nicht berufstätig waren. Frau Kapteina, Autorin der Serie „Mädchen in Männerberufen" einer Tageszeitung und Preisträgerin der Bundesanstalt für Arbeit, hat in ihrer Rede sehr richtig gesagt:
Man kann doch nicht gerade diesen Frauen, die eine Familie versorgt, Kinder erzogen und durch die Schule gebracht, einen Haushalt geführt haben, unterstellen, nicht arbeitswillig oder gar unzuverlässig zu sein.
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Viertens. Den Empfehlungen der Kommission zur Struktur- und Arbeitsmarktpolitik schließen wir uns an. Uns erscheint besonders wichtig, in der Strukturpolitik alle Beteiligten einzubeziehen. Die Befugnisse der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit müssen bei der Vergabe von Fördermitteln erweitert werden. Es sollte die Pflicht bestehen, Betriebs- und Personalräte vor jeder Entscheidung anzuhören. Eine gute Anregung scheint uns zu sein, Unternehmen zu verpflichten, über ihre Anstrengungen, wie sie Frauen gleiche Chancen eingeräumt haben, zu berichten.
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Manch ein Unternehmen wird vielleicht dadurch überhaupt erst den Anstoß erhalten, etwas zu tun. Wir schlagen vor, zu prüfen, welche Unternehmen in eine solche Berichtspflicht aufgenommen werden können, und Wege aufzuzeigen, wie diese Berichtspflicht durchgesetzt werden kann.
Fünftens. In einem Punkt gehen unsere Vorstellungen über die der Enquete-Kommission hinaus. Wir halten eine Quotierung von Ausbildungs- und von Arbeitsplätzen für möglich und wünschenswert. Diese positive Diskriminierung, die in meinen Augen nur bisherige Verstöße gegen das Grundgesetz heilen hilft, sollte zumindest teilweise durchzusetzen versucht werden, z. B. immer da, wo in irgendeiner Form staatliche Zuschüsse gegeben werden.
({10})
Wir empfehlen, zu prüfen wo Quotierungen sinnvoll vorgeschrieben werden können, ohne eine riesige Bürokratie entstehen zu lassen.
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Weiterhin bitten wir den Rechtsausschuß, die juristischen Bedenken gegen eine derartige Quotierung zu klären.
Sechstens. Teilzeitarbeit für Frauen ist für uns keine Möglichkeit, die Gleichstellung der Frau im Beruf zu erreichen. Teilzeitarbeit führt dazu, daß die Aufgabe, Familie und Beruf zu vereinen, weiter alleinige Aufgabe der Frauen bleibt.
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Teilzeitarbeit führt insgesamt zu weniger und nicht zu mehr Arbeitsplätzen, solange nicht Betriebsräte Mitbestimmung in allen wirtschaftlichen Fragen und bei der Personalplanung haben. Teilzeitarbeit führt nicht zu mehr, sondern zu weniger sozialer Sicherheit der Frauen, solange sich Arbeitgeber durch das Sparen von Beiträgen zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung selbst noch einen zusätzlichen Vorteil verschaffen. Die Beschäftigten der Putzkolonnen, die Reduzierung der Arbeitsplätze im Einzelhandel, wo überdurchschnittlich viele Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden, sind Beispiele dafür, wie wir uns Gleichstellung der Frau im Beruf nicht vorstellen.
Meine Herren, meine Damen, die sozialdemokratische Fraktion ist der Auffassung: Der wichtigste Schritt zur Gleichberechtigung von Mann und Frau ist die Gleichstellung im Beruf. Ohne Gleichstellung im Berufsleben wird sich für die Frauen auch auf allen anderen Gebieten nichts ändern.
Lassen Sie mich zur Illustration noch ein ganz klein wenig literarisch werden und mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus einem Gedicht zitieren:
Du hast Hände, die schreiben und streicheln und bauen können.
Du hast einen Mund, der sprechen und küssen und lächeln kann.
Du hast Beine, die gehen und stehen und tanzen können.
Du hast Augen, du hast einen Kopf.
Du kannst sehen, denken, rechnen, überlegen und fordern.
Du kannst erfinden, dichten, erkennen, verändern.
Eigentlich bist du ein Mensch,
keine Kuh, kein Staubsauger, keine Kaffeemaschine, keine Legehenne, keine Puppe.
Du bist ein Mensch.
Du kannst sogar einen Menschen zur Welt bringen.
Deshalb bist du arbeitslos,
deshalb bekommst du weniger Ausbildung, weniger Lohn.
Du bist eine Frau.
Tun wir gemeinsam alles dafür, daß Frauen nicht weitere 70 Jahre warten müssen, bis derartige Gedichte der Geschichte angehören!
Die sozialdemokratische Fraktion wird in den Ausschußberatungen über die Empfehlungen der Enquete-Kommission konstruktiv mitarbeiten und geht davon aus, daß diese Mitarbeit endlich auch in
Frau Schmidt ({13})
gesetzgeberische Initiativen mündet. - Danke fürs Zuhören.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn heute der Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft vorgelegt und diskutiert wird, so verfolgen wir damit mehrere Ziele. Der Gesetzgeber kann zum Teil unmittelbar über Gesetze zu einer Verbesserung der Situation der Frau beitragen. Diese Möglichkeiten wollen wir offenlegen. Wir wollen zeigen, was zu tun ist, wo wir als Gesetzgeber gefordert sind und wo wir uns neuen Aufgaben stellen müssen. Dies ist aber nur ein Teil der Debatte. Sie muß vor allem ein weiteres Ziel haben. Gleichberechtigung ist unserer Überzeugung nach nur dann zu erreichen, wenn auch eine Veränderung des Verhaltens von Männern und Frauen erreicht wird. Bundestag und Parteien sind ganz ohne Zweifel Meinungsbildner. Diese Debatte muß dazu beitragen, hier weiterzukommen. Ich möchte mich sehr herzlich bei Frau Kollegin Wex bedanken, weil auch sie auf diese Aspekte sehr deutlich hingewiesen hat.
Dazu ist aber nötig, daß wir nicht nur versuchen, uns auf Kosten des anderen zu profilieren, sondern wir müssen mit Sachlichkeit die unterschiedlichen Anschauungen aufzeigen. Nur so wird dies nicht zu einer internen Veranstaltung, sondern hat auch Wirkungen nach außen. Ich glaube, die ersten Beiträge haben diesen gemeinsamen Willen zur Sachlichkeit sehr deutlich gezeigt.
Ich gehe davon aus, daß wir uns über das Ziel, das wir erreichen wollen, einig sind. Die Unterschiede können aber darin bestehen, wie wir dahin kommen wollen.
Lassen Sie mich bitte aber noch einige Worte darüber verlieren, wie wir zu der heutigen Rollenverteilung von Mann und Frau gekommen sind. Manchmal hört man immer noch die Meinung, daß der Mann für den Unterhalt zu sorgen habe und die Frau an den Herd gehöre. Es ist aber so, daß die Frau zu allen Zeiten und in allen Kulturen zum Erwerb des Lebensunterhaltes beizutragen hatte. Nur wenige Privilegierte waren davon ausgenommen.
Eines hat sich allerdings geändert. Die Arbeitsplätze von Mann und Frau, der Platz des Wohnens und der Ort der Kindererziehung fielen ursprünglich zusammen, z. B. in der Landwirtschaft oder im Haushalt der Handwerker. Beide Ehepartner teilten sich die Arbeit.
Durch die Abtrennung des Arbeitsplatzes erfolgte auch eine Änderung des Rollenverhaltens von Mann und Frau. Wir haben bis heute noch keine Organisationsform gefunden, die trotz dieser Abtrennung des Arbeitsplatzes des Erwerbstätigen - meist des Mannes - zu einer gleichberechtigten Teilhabe von Mann und Frau am Arbeitsprozeß, an der Haushaltsführung und der Kindererziehung, zumindest aber zur Freiheit in der Wahl der Rolle führte, die man leben will.
Es ist die eigentliche politische Aufgabe, die wir haben, durch Gesetze die Voraussetzungen zu schaffen und die Meinungsbildung voranzutreiben, damit wir dazu kommen, daß die gleichberechtigte und gleichgewichtige Teilnahme von Mann und Frau an der Führung des Haushalts und der Erziehung der Kinder ermöglicht und die Diskriminierung der Frau abgebaut wird. Obwohl uns bewußt ist, wie ungeduldig die Frauen mit Recht werden, weil dies noch zu lange dauert, kann diese Umwälzung, so befürchte ich, nicht so schnell abgeschlossen werden, wie wir uns das wünschen.
Wir waren uns alle einig, daß jeder Bürger, Mann oder Frau, die Möglichkeit haben muß, in Absprache mit dem Ehepartner die Rolle zu spielen, die seinem Menschenbild entspricht. Die Freiheit der Wahl der Rolle, ob voll berufstätig, teilzeitbeschäftigt, als Hausmann oder als Hausfrau, ist der Grundsatz, auf den wir uns geeinigt haben. Obwohl hier im Hause offensichtlich Unterschiede in der Vorstellung bestehen, welche Rolle eine Frau und Mutter spielen soll, will man die Wahl dem Betroffenen selbst überlassen.
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Dieses Verhalten ist löblich. Es entspricht auch und vor allem liberalen Grundsätzen.
Aber ich meine, wir müssen auch selbstkritisch prüfen, ob unser Wunschrollenbild nicht die konkrete Gesetzesarbeit bewußt oder unbewußt beeinflußt und diese Wahlfreiheit im Endeffekt in Frage stellen kann. Dies betrifft bereits verabschiedete Gesetze genauso wie die, die noch vor uns liegen. Wer den Bericht der Enquete-Kommission genau liest und die unterschiedlichen Mehrheits- und Minderheitsvoten gewichtet, der kann dies deutlich herauslesen, besonders bei der Frage der Arbeitszeitregelung.
Gestatten Sie mir, etwas scherzhaft, aber doch mit einem ernsten Hintergrund ein Beispiel einer sogenannten Wahlfreiheit auf einem ganz anderen Gebiet aufzuzeigen. Da gibt es bei Zauberkünstlern, bei Magiern, bestimmte Tricks, bei denen der Zuschauer aus Requisiten auswählen kann, Tricks, die aber nur dann funktionieren, wenn der Zuschauer ein ganz bestimmtes Requisit auswählt. Nun haben die Zauberer, die Magier, eine Reihe von Verfahren entwickelt - und ich hoffe, daß ich jetzt nicht böse Briefe von Magiern wegen Geheimnisverrats bekomme -, bei denen der Zuschauer gezwungen wird, natürlich von ihm selbst nicht bemerkt, so zu wählen, daß der Trick auch funktioniert. In Magierkreisen heißt das Fachwort dafür die „erzwungene Wahl".
Wir müssen darauf achten, daß wir nicht zu den gleichen Methoden greifen und offiziell von Wahlfreiheit sprechen, die Gesetze aber so abfassen, daß im Grunde genommen den Frauen nur die Wahl eines ganz bestimmten Rollenbildes und eines ganz bestimmten Rollenverhaltens übrig bleibt.
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Bei Magiern freuen wir uns über diese Tricks. Wir Politiker dürfen nicht so verfahren.
Eimer ({2})
Ich will hier gleich ein Beispiel bringen. Wenn Frauen ein Erziehungsgeld nur dann gegeben werden soll, wenn sie nicht berufstätig sind, dann wird ein ganz bestimmtes Rollenbild vorgegeben, wenn sie nicht bestimmte finanzielle Nachteile in Kauf nehmen wollen. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für den Fall, daß eine Frau nur dann Geldleistungen erhält, wenn sie vorher berufstätig war. Wenn man Erziehungstätigkeit finanziell unterstützen will, dann muß dies nach dem Prinzip der Wahlfreiheit unabhängig davon gewährt werden, ob eine Frau vorher im Beruf stand; denn sonst wäre das wie bei den Zauberkünstlern eine erzwungene Wahl.
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Wir meinen z. B., daß eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit für Frauen und Männer die Chancen der Frauen verbessern und bessere Voraussetzungen für eine gleichgewichtige Wahrnehmung von Haushalts- und Familienpflichten zwischen Männern und Frauen schaffen würde.
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Wir wissen aber auch, daß manchen aus diesem Grund die Teilzeitarbeit ein Dorn im Auge ist. Aber wir meinen, wir sollten hier nichts vorgeben. Wir verkennen die Probleme der Teilzeitarbeit nicht, wir sehen sie genau. Aber wir müssen auch sehen, daß viele Personen, vor allem Frauen, gern zu dieser Form der Beschäftigung greifen, weil sie nach ihrem Rollenverständis, nach der Form, in der sie leben wollen, Vorteile bringt.
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Deshalb muß das Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen wegen des großen Bedarfs und der nicht befriedigten Nachfrage gefördert werden.
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Wer dies für zweckmäßig hält, wer danach leben will, darf nicht durch andere Vorstellungen behindert werden. Dazu kommt, daß nach unserer Meinung die Kommission nicht beurteilen konnte, ob aus gesamtgesellschaftlichen Gründen eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, die sicher wünschenswert ist, zur Zeit möglich ist und welche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sich daraus ergäben.
Das gleiche, was ich zum Thema Teilzeitarbeit gesagt habe, gilt auch für andere Formen unterschiedlicher Arbeitszeitgestaltung. Wir unterstützen jede Flexibilität, jedes freie Angebot wie z. B. gleitende Arbeitszeit oder job sharing. Aber es geht nicht nur um die Flexibilität im Angebot von Arbeitsplätzen und Arbeitszeitordnungen. Es geht auch darum, beim Austritt aus dem Beruf z. B. zum Zwecke der Kindererziehung ohne Angst zu sein, und vor allem beim Wiedereintritt flexibel zu sein, wenn dies für möglich oder wünschenswert gehalten wird. Das bedeutet aber, daß die Berufsfähigkeit vor allem der Frauen in der Zeit erhalten bleiben muß, in der sie Kinder erziehen, und daß sie dann wiederhergestellt wird, wenn sie zurück in den Beruf wollen.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist gar nicht so sehr ein Problem der mangelnden Berufserfahrung, etwa weil sich der Beruf so sehr verändert hätte, sondern eher die Angst, sich in eine neue Umgebung wieder einzuarbeiten, weil man den sozialen Kontakt zu den Mitarbeitern verloren hat.
Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Die Personaldecke ist bei den meisten Betrieben aus Kostengründen so knapp, daß bei Urlaub oder Krankheit nur über Leiharbeitnehmer ausgeholfen werden kann. Wäre es nicht zweckmäßiger, wenn Betriebe in solchen Fällen ausgeschiedene Mitarbeiterinnen anschrieben, die wegen Kindererziehung zu Hause sind?
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Ich meine, das hätte Vorteile für beide: Für den Betrieb wäre es billiger - er kennt die ehemalige Mitarbeiterin -, und die Frau hat für die Zeit der Urlaubsvertretung eher die Möglichkeit, jemanden zur Beaufsichtigung der Kinder zu bekommen, und sie erhält über den sozialen Kontakt und über die Arbeit ihre Berufsfähigkeit mindestens genausogut wie über spezielle Eingliederungslehrgänge der Arbeitsämter. Diese Lehrgänge sind natürlich nicht zu ersetzen. Aber auch die Arbeitsämter können mithelfen, diese Urlaubsvermittlungen durchzuführen, wobei ich allerdings darauf hinweisen möchte, daß diese Urlaubsvertretungen etwas anderes sind als die bereits vorhandenen Jobvermittlungen.
Die Auswirkungen des Haushaltsstrukturgesetzes hatten eine Einschränkung der Weiterbildungsmöglichkeiten zur Folge, die auch in der 5. AFG-Novelle nicht voll aufgehoben wurde. Wir geben zu bedenken, ob man nicht unterscheiden sollte zwischen solchen Personen, die freiwillig in den Beruf zurückkehren, und solchen, die das unter wirtschaftlichem Zwang tun.
Ein wichtiger Punkt der Benachteiligung der Frau liegt aber auch darin, daß wichtige hochqualifizierte Berufe im Handwerk den Frauen wegen vorhandener Schutzgesetze verwehrt sind. Dies trifft vor allem für das Bauhandwerk zu und hier besonders im Ausbaugewerbe. Wir meinen, daß sich Schutzgesetze allzuoft gegen die zu Schützenden auswirken.
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Dies geschieht vor allem dann, wenn sie auf eine ganz bestimmte Personengruppe abgestimmt sind. Ob jemand am Bau arbeiten darf oder nicht, darf eben nur von seiner körperlichen Konstitution und nicht vom Geschlecht abhängen.
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Ich kann mir nur wenige Berufe und nur wenige Bereiche vorstellen, in denen ein geschlechtsspezifischer Schutz notwendig wäre. Gerade in Berufen, in denen z. B. wegen ionisierender Strahlungen Frauen besonders gefährdet sind - z. B. in Röntgenabteilungen -, arbeiten besonders viele junge Frauen.
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Wir meinen also, daß die Schutzgesetze, die geschlechtsspezifisch ausgelegt sind, möglichst schnell
Eimer ({12})
überprüft und gegebenenfalls geändert werden müssen.
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Von den Berufen, in denen man Frauen ausbildet, hängt es entscheidend ab, welche Stellung Frauen später im Erwerbsleben haben können. Eine Änderung ist in den meisten Fällen aber auch ohne Gesetz möglich. Der Arbeitsminister kann dies mit einer Rechtsverordnung tun. Er hat dabei die volle Unterstützung der Freien Demokraten. Ich will auch betonen, daß dies nichts mit einer Neuregelung der wöchentlichen Arbeitszeit zu tun hat, wie das manchmal zu hören ist.
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Auch soziale Kosten, die auf einen Arbeitgeber zukommen, wenn er Frauen einstellt, mindern die Chancen auf gleichen Lohn für Frauen. Wenn ein Arbeitgeber für Frauen - z. B. für den Mutterschutz -
mehr Sozialleistungen tragen muß als für Männer, wird eine Frau auf dem Arbeitsmarkt erst dann konkurrenzfähig, wenn sie mit weniger Lohn zufrieden ist.
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Das können wir nicht hinnehmen. Solche Kosten und eine solche Situation entstehen durch arbeitsrechtliche Lösungen. Diese Situation kann vermieden werden, wenn Sozialkosten durch versicherungstechnische Lösungen gestreut und bei jedem Arbeitnehmer - ganz gleich, wer eingestellt wird, ob Mann oder Frau - gleich sind. Dann kann man auch die Chancen für eine gleiche Bezahlung bei gleicher Tätigkeit besser als heute erreichen. Ich meine, es wäre notwendig, daß wir uns alle auch einmal über diesen Gesichtspunkt Gedanken machen.
Der geteilte Arbeits- und Stellenmarkt wurde bereits angesprochen. Er trägt unserer Meinung nach entscheidend dazu bei, daß es typische Männer- und typische Frauenberufe gibt. Das muß verschwinden. Wie Sie aus dem Bericht der Kommission lesen können, waren wir uns einig, daß eine Quotierung nicht in Frage kommt. Wir meinen aber, daß die Betriebe oder die Handwerkskammern bei sich selbst prüfen sollten, wie bei ihnen das Verhältnis von Männern zu Frauen in einzelnen Berufen und bei einzelnen Arbeitsplätzen aussieht. Sie sollten durch eine freiwillige Zielvorgabe - die Amerikaner haben etwas Ähnliches gemacht: affirmative action plans - sich selbst in die Pflicht nehmen und selbst anstreben, Frauen in qualifizierte Berufe zu nehmen. Ich meine, die geburtenschwachen Jahrgänge, die in Kürze in den Beruf drängen, werden auch bei Unternehmen die Bereitschaft stärken, mehr Frauen in solche Berufe zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bei den konkreten Vorschlägen im Grunde genommen auf Maßnahmen beschränkt, die die Voraussetzungen für die Gleichbehandlung von Mann und Frau sind. Das bedeutet aber für uns nicht, daß dort, wo gegen das Gebot der Gleichberechtigung verstoßen wird, gesetzliche Sanktionen nötig sind. Darauf wie wir uns das vorstellen, wird Frau Matthäus-Maier noch im einzelnen eingehen. Ich möchte jedoch, bevor ich abschließe, noch einmal auf etwas hinweisen, was ich zu Beginn dieser Rede gesagt habe, daß nämlich nur ein Teil über gesetzliche Regelungen zu erreichen ist und daß im Grunde genommen ein Sinneswandel bei Männern und Frauen notwendig ist, wenn wir das Ziel der Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft erreichen wollen. Dazu müssen wir als Parlament die Voraussetzungen schaffen; wir alle müssen dazu beitragen. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Gleichberichtigung der Frauen darf kein Exklusivthema für Frauen sein;
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vielmehr ist die Gleichberechtigung der Frauen ebenso ein Anliegen der Männer. Aus diesem Grunde habe ich in dieser Enquete-Kommission mitgearbeitet, aus diesem Grunde spreche ich heute hier.
Wie Sie wissen, hat diese Kommission über 100 Vorschläge, Anregungen vorgelegt. Ich kann hier an meinen Herrn Vorredner anschließen: Alle diese Forderungen müssen unter einem Generalpostulat stehen, das ich folgendermaßen formuliere: Wir brauchen einen Bewußtseinswandel in den Köpfen und Herzen der Menschen, wobei mit „Menschen" natürlich Männer und Frauen gemeint sind. Diese Kommission war so gut, wie es nun gelingt, ihre Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Lassen Sie mich zu dieser Aufgabe, die uns alle angeht, kurz zehn Grundthesen nennen.
Erstens: Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wer die Gleichberechtigung der Frauen will, muß die Gleichberechtigung von Frau und Mann, also jedweder Person, wollen, denn natürlich kann das Recht des einen das Recht und die Möglichkeiten des anderen mindern. Die Gleichberechtigung ist kein Tummelplatz für Klassenkampfgesänge und -gefühle. Nicht das Gegeneinander der Geschlechter, sondern die gleichberechtigte Partnerschaft in Familie, Erwerbsleben und in der Gesellschaft ist umfassend anzustreben. Dies macht es ja gerade Männern leicht, gern und leidenschaftlich für dieses Recht der Frauen einzutreten.
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Zweitens: Gleichberechtigung statt Gleichmacherei. Die Welt wäre langweilig und wohl auch zum Aussterben bestimmt, wenn Mann und Frau wirklich gleich wären. Sie sind auch nicht gleichzumachen.
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Diese Feststellung verbinde ich mit einem Bild aus der griechischen Antike: Mann und Frau sind wie zwei unterschiedliche, individuelle Hälften einer Kugel. Erst wenn sie sich zusammenfügen und ein1160
Gerster ({3})
ander ergänzen, bilden sie ein harmonisches Ganzes. Beide Kugelhälften sind gleichwertig, gleich wichtig und gleichberechtigt. Da bei einer Kugel niemals eine Hälfte immer oben und die andere immer unten ist, schließt sich der Kreis, es sei denn natürlich, diese Kugel sei eingeklemmt. Soweit etwa in unserer Gesellschaft Verklemmungen bestehen, sind diese zu lösen, damit eben beide Seiten gleichberechtigt werden, ohne dabei gleich werden zu müssen.
Drittens: Gleichberechtigung bedeutet Wahlfreiheit. Gleichberechtigung sollte nie bedeuten, daß jemand - das wurde bereits hier ausgesprochen - in eine bestimmte Rolle gedrängt wird. Vielmehr soll jeder und jede gleiches Recht in der Rolle finden, die sie oder er ausfüllen will. Früher drängten Rollenklischees den Mann ins Erwerbsleben und die Frau in den Haushalt. Man sprach von einer Ungleichheit zu Lasten der Frauen. Aber auch der Eintritt in einen Zweitberuf hat vielen Frauen nicht mehr Gleichheit gebracht. So leiden viele erwerbstätige Hausfrauen und Mütter heute unter einer Doppel- und DreifachBelastung, während eine kürzere Arbeitszeit des Mannes nicht unbedingt zu seinem stärkeren Engagement in Haushalt und Kindererziehung geführt hat. Daran dürfte auch eine weitere Arbeitszeitverkürzung für den Mann nichts ändern, weshalb die CDU/CSU nicht glaubt, daß hier ein probates Mittel für mehr Gleichberechtigung liegt.
Aus der Ungleichheit der Beschäftigungsqualität - Beispiel: Mann im interessanten Beruf, Frau bei einer eintönigen Hausarbeit - wurde die Ungleichheit der Belastungsquantität. Der Ehemann hat in der Regel weniger Arbeit, die Ehefrau dagegen eine Mehrfachbelastung. Die Probleme wurden also nicht gelöst, sondern verschoben. Daher setze ich mehr auf die Wahlfreiheit von Mann und Frau, für die Freiheit der Wahl für Erwerbsleben oder Familiendienst, als auf die einseitige Arbeitsüberlastung vieler Frauen.
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Viertens. Ein Antidiskriminierungsgesetz wird Probleme nicht lösen. Die Ursachen mangelnder Gleichberechtigung sind viel zu vielfältig, als daß man mit einem generalklauselartigen Gesetz der Lösung näherkommen könnte. Diese Methode ist ungeeignet. Ein derartiges Gesetz hätte die Wirkung eines Bundestagsbeschlusses, der beinhaltet, daß der Rhein von Holland in die Schweiz fließt; das heißt, die Wirkung wäre nach unserer Auffassung Null. Ein derartiges Gesetz würde ins Leere treffen. Der Vielfalt unzähliger Einzelprobleme folgend, hat deshalb die Kommission viele Maßnahmen angeregt und allen Antidiskriminierungsvereinfachern eine Absage erteilt.
Fünftens. Frauen sind keine Randgruppe. Frauen dürfen nicht in die Rolle einer besonders förderungswürdigen Minderheit oder Randgruppe gedrängt werden.
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Sie sind die vollberechtigte Mehrheit der Bevölkerung. Dies war für uns Grund genug, Quotierungsbestimmungen, die ja im wesentlichen Minderheitenanteile der Frauen vorgeschrieben hätten, abzulehnen, und zwar sowohl bei privaten wie bei öffentlichen Arbeitsverhältnissen. Ebensowenig darf die bessere Berücksichtigung berechtigter Fraueninteressen auf Frauenbeauftragte oder vergleichbare Institutionen beschränkt werden. Hier sind alle betroffenen Stellen und Organe in die Pflicht genommen.
Sechstens. Wir müssen in allen gesellschaftlichen Bereichen von Alibi-Funktionen und Alibi-Frauen wegkommen. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Frauen dürfen nicht dadurch in Frage gestellt werden, daß man sich auf sogenannte Alibi-Frauen zurückzieht. Hier sind alle gesellschaftsrelevanten Gruppen aufgerufen, vergangene Personalentscheidungen selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen. Wer Frauen beruft, damit auch eine Frau dabei ist, schafft keine Chancengleichheit, sondern wahrt einen Anschein, um Ungleichheit fortzuschreiben.
Siebtens. Ungleichheit und ungleiche Behandlung von Hausfrauen ist gerade heute zunehmend festzustellen. Die Begrenzung des Mutterschaftsurlaubs auf erwerbstätige Frauen ist Beispiel einer eindeutigen Benachteiligung aller Hausfrauen,
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die zugunsten ihrer Kinder und Familien auf einen eigenen Verdienst verzichten. Diese materielle Benachteiligung geht mit einer mangelhaften Anerkennung der Leistungen der Hausfrauen und Mütter einher. Ich behaupte, die Tätigkeiten als Mutter, Betreuerin, Erzieherin, Nachhilfelehrerin sowie in Haushalt und Familie sind mindestens so verantwortungsvoll und aufreibend wie manche der sogenannten Frauenberufstätigkeiten. Dennoch werden vollberufliche Mütter und Hausfrauen immer noch diskriminiert. Daher sollte sich niemand wundern, wenn Frauen seltener und Männer fast nie zum Dienst als Hausperson bereit sind. Dieser Dienst, der unsere Kinder und Jugendlichen vor Verhaltensstörungen bewahren hilft und manches Folgeproblem erspart, muß eine öffentliche Belobigung und Anerkennung erfahren.
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Dabei sollten auch Männer ermuntert werden, sich dieser Aufgabe vermehrt zu stellen. Sie können zwar keine Kinder kriegen, ihre Kinder haben aber genauso Anspruch auf ihren Vater wie auf ihre Mutter.
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Jedenfalls sollte endlich mit dem Unsinn aufgehört werden, Männer oder Frauen seien erst dann von inneren Zwängen befreit, wenn sie aus dem Haushalt heraus in einen Fremdberuf eingetreten seien.
Achtens. Auch im Erwerbsleben besteht keine Chancengleichheit. In den letzten zehn Jahren wuchs der Wunsch vieler verheirateter Frauen, auch mit eigenen Kindern, im Erwerbsleben zu bleiben. Dafür gibt es viele Gründe. Wenn auch der Ausbildungsstand der Frauen im Durchschnitt heute höher als früher liegt, so wurden doch ihre Berufschancen geringer. Sie wurden in Zeiten der HochkonGerster ({9})
junktur in den Arbeitsprozeß gebeten und beim Abschwung als erste wieder hinauskomplimentiert. Während die Kommission Vorschläge zum Abbau von Nachteilen der Frauen im Berufsleben entwikkelte, zog eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik vielen berufstätigen Frauen den Boden unter den Füßen weg.
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Man kann auch sagen: während wir am Bug des Schiffes ein kleines Leck stopften, ging das Heck des Schiffes bereits unter. So unterschiedlich Männer auf der einen und Frauen auf der anderen Seite sein mögen, zwei Entwicklungen sind nicht naturgewollt: erstens, daß Frauen immer als erste arbeitslos werden müssen und zweitens, daß Männer in der Regel die oberen und Frauen die unteren Positionen im Berufsleben zu bekleiden haben.
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Zu diesem Problem hit die Kommission viele Forderungen erhoben, die besonders rasch aufzugreifen sind, wenn weiterer Schaden durch zusätzliche Benachteiligung der Frauen verhindert werden soll.
Neuntens. Alle Forderungen sollten wir Politiker zunächst an unsere eigenen Parteien richten. Bevor Parteien und Politiker Forderungen zur Durchsetzung von mehr Gleichberechtigung an andere stellen, sind sie zuerst und in ihrem eigenen Bereich gefragt und gefordert. Es muß schon zu denken geben, daß vor Einführung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Grundgesetz der Anteil der Frauen im Bundestag relativ höher war, als er heute ist.
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Ich sage dies bewußt als Kreisvorsitzender meiner Partei, die in diesem Kreisverband überdurchschnittlich viele Frauen für den Stadtrat nominiert und in Vorstände gewählt hat. Hier muß der Appell an unsere Mitglieder, aber auch an die Frauen selbst gehen. Etwas mehr Hilfen für die Frauen in den Parteien, aber auch etwas mehr Interesse der Frauen selbst könnte helfen, daß die Parteien mehr Vorbild für alle anderen gesellschaftsrelevanten Gruppen werden können.
Zehntens. Partnerschaft, keine arrogante Gönnerschaft ist gefragt. Die Enquete-Kommission hat ein Programm vorgelegt, das viel Mut, Kraft und Ausdauer zur Durchsetzung braucht. Wir Männer sollten uns bei der Verwirklichung von mehr Gleichberechtigung von Mann und Frau durchaus und dankbar bewußt sein, was wir den Frauen, von der Mutter bis zur Ehefrau, zu verdanken haben.
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Daher ist jede arrogante Gönnerhaltung unangebracht und jedwede großzügige Partnerschaft gefragt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen wurde in den deutschen Medien eine Frau gewürdigt, die sich kurz nach dem Krieg darum bemühte, in der Verfassung der kommenden Bundesrepublik Deutschland zu verankern, daß Männer und Frauen gleichbehandelt werden. Die Stunde, in der ihr das gelang, bezeichnet Elisabeth Seibert, die in diesem Jahr 85 Jahre wird, als die Sternstunde ihres Lebens. Heute, 33 Jahre später, diskutiert der Deutsche Bundestag zum erstenmal in vierstündiger Debatte die Frage der Verfassungswirklichkeit. Das ist die Frage, ob und wieweit die Frauen in unserem Lande tatsächlich gleichbehandelt werden.
Unsere Erkenntnis stützt sich dabei u. a. auf die Frauen-Enquete, die zweite Untersuchung dieser Art in unserem Lande, die in diesem Jahrhundert und überhaupt stattgefunden hat. Ihr Ergebnis ist nicht, um es vorweg zu sagen, daß es nur Negatives zu berichten gibt. Positive Entwicklungen hat es im Ehe- und Familienrecht und im Arbeitsleben gegeben. Die Frau hat sich in wichtigen Familienfragen nicht mehr der Entscheidung des Mannes zu beugen. Zu der Zeit, als meine Großmutter jung war, da brauchte sie eine Sondergenehmigung zum Studieren; sie konnte nicht Vereinen beitreten, kein Wahlrecht ausüben. Das war alles in unserem Jahrhundert. Heute sind mehr als ein Drittel der Berufstätigen Frauen; die Mehrheit der Wähler sind Frauen, und sie üben ihr Wahlrecht selbstverständlich aus.
Vor 30 Jahren riefen ungelernte Metallsortiererinnen in einem Betrieb vergeblich nach einer Betriebsrätin. Man sagte ihnen, daß der männliche Betriebsrat vollauf genüge, um auch die Interessen der Frauen zu vertreten. Ein Teil dessen, was in der Enquete steht, bezeugt, daß das wohl doch nicht genug war. Aber ich hebe hervor, daß es heute ganz selbstverständlich Betriebsrätinnen gibt. Sie haben nicht die früher befürchtete überflüssige Unruhe, sondern konstruktive Kritik in die Betriebe gebracht und lassen sich darin von Männern nicht übertreffen.
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Frauen erobern heute schon Berufe, die ihnen früher verschlossen waren. Als Lehrlinge, Gesellen, Facharbeiter und öfter schon als Meister sind sie Tischler, Dachdecker, Elektriker, Tapezierer, Stukkateure, Feinmechaniker, Galvaniseure, Dreher. Wer hätte das vor 15 Jahren gedacht? Sie leisten anerkannte Arbeit auch in diesen Berufen. Manche hat man anfangs ein bißchen zur Dekoration und als Alibi eingestellt. Aber die Vorurteile, die man früher an solche Gedanken geknüpft hat, sind nicht bestätigt worden. Im Gegenteil, hier ist ein Einstieg in die notwendige breitere Öffnung der Berufe für Mädchen im gewerblichen Bereich geschehen.
Frauen bekleiden auch Ehrenämter, nehmen neben Beruf und Kindererziehung auch öffentliche Aufgaben wahr: als Schöffen, als Elternvertreter, in Verbänden aller Art. Sie erobern Mandate in den Parteien und in Wahlkreisen und machen gute parlamentarische Arbeit.
Sie leisten den Löwenanteil der Kindererziehung. Sie sind meistens der Finanzminister ihrer Fami1162
lien. Ein Fünftel aller Familien wird von Frauen durch das Leben gesteuert, nämlich bei den Alleinerziehenden.
Es gibt also, wie gesagt, Positives zu berichten. Dies darf bei einer solchen Debatte nicht verschwiegen werden. Aber es muß ehrlicherweise und ebenso deutlich gesagt werden, daß die meisten jungen Mädchen, die in diesem Land aufwachsen, schon bald, manchmal schon vor dem Erwachsenwerden, nicht ohne Bitterkeit erkennen, daß sie mit mehr Schwierigkeiten im Arbeitsleben und mit mehr Belastungen in der Familie rechnen müssen als die Männer. Auch dort, wo sie rechtlich gleichgestellt sind - und das ist weitgehend der Fall -, sind ihre praktischen Chancen durchaus nicht ebenbürtig. Der Art. 3 unserer Verfassung setzt sich in ihrem Alltag noch wenig um. Die Briefe, die der Arbeitsstab „Frauenpolitik" in meinem Hause erhält, sind ein beredtes Zeugnis dafür, wie diese Alltagsprobleme aussehen.
Trotz guter Zeugnisse finden Mädchen schwerer einen Ausbildungsplatz, geschweige denn einen interessanten. Die Möglichkeit, arbeitslos zu werden, ist für Frauen erheblich größer als für Männer. Die Furcht, trotz formaler Gleichheit schlechter bezahlt zu werden, besteht immer noch. Und die Angst, gegen Unrecht aufzubegehren, weil man eventuell mit unerwünschten Folgen rechnen muß, ist kein Hirngespinst. Diskriminierungen werden in Prozessen ausgetragen. Diese Prozesse zeigen uns aber nur einen Bruchteil der wirklichen Erfahrungen.
Leider gibt es anscheinend - außer den Frauen selbst - noch nicht allzuviele, die es als bedrückend empfinden, daß die eine Hälfte der Bevölkerung oft mit großer Willenskraft gegen Widerstände ankämpfen muß, sich um gleiche Rechte bemühen muß und um Positionen kämpft, die früher unter Männern allein aufgeteilt wurden. 1980 gab es eine Untersuchung in der Europäischen Gemeinschaft, nach der in der Bundesrepublik sechs von zehn berufstätigen Frauen sich noch immer benachteiligt fühlen und jede vierte sich unter ihren Fähigkeiten eingesetzt fühlt.
Die im Zug der Entstehung außerhäuslicher Erwerbstätigkeit sich bildende neue Situation von Hausfrauendasein einerseits und Berufstätigen mit einer erbärmlich bezahlten Minderheit von Hilfsarbeiterinnen andererseits hat manche Vorteile gebracht, nur nicht den Frauen, die ja bildungsmäßig bis in unser Jahrhundert hinein diskriminiert wurden, was noch heute psychologische und praktische Folgen hat. Wäre sonst in unserer Bundesrepublik noch immer fast die Hälfte aller Frauen, die jetzt leben, ohne jede Ausbildung? Gäbe es noch sonst so viele Vorurteile von den Chefzimmern bis in die Witzblätter hinein?
Aber nun muß man sich entscheiden, meine Damen und Herren. Aufrichtig für die Gleichberechtigung zu sein, verbietet gleichzeitig, mit vordergründigen Vorwänden gegen die lästige Konkurrenz der Frauen vorzugehen.
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Frauen finden sich heute nicht mehr mit der geteilten Welt ab, die alle Chancen und Möglichkeiten nur für die eine Hälfte der Bevölkerung reserviert.
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Das Unbehagen ist breit und ist nicht abzuqualifizieren als die Frustration einer Gruppe von Feministinnen, die dafür auf die Straße gehen.
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Besonders die jungen Frauen sind mobilisiert und bereit, für die praktische Umsetzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu kämpfen. Sie haben kein Verständnis für eine ideologische Diskussion, die ihnen als ausschließliche, weil „eigentliche" Aufgabe nur den Haushalt und die Kindererziehung zuweist.
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Im Gegensatz zu der bürgerlichen Frauen-Avantgarde von vor 80 bis 100 Jahren, die für die Frauen den Zugang zur Bildung und zu neuen Berufen erkämpft hat, entscheiden sich die Frauen von heute aber nicht mehr für den Beruf oder die Familie. Sie sind nämlich auch ganz persönlich nicht gegen Familie, nicht gegen Kinder haben und Familiengründung, sondern sie suchen im Gegenteil nichts dringender als vernünftige Kombinationsmöglichkeiten von Beruf und Familie, von Erwerbstätigkeit und Familienaufgaben.
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Kindererziehung ist ihnen im Gegensatz zu dem, was ich im Pressedienst von Herrn Rose las, nicht eine lästige Aufgabe, aber sie fassen sie auf als eine Aufgabe beider Eltern. Der Gesetzgeber darf dies keinesfalls übersehen, auch wenn manche Wünsche nur schrittweise erfüllt werden können.
Die Diskussion der Enquete-Kommission liefert uns hier Ansatzpunkte zumal sie - gut gegliedert - nach den analytischen Kapiteln ihre Empfehlungen an elf Stellen zusammenfaßt, so daß man den roten Faden sehr gut entdecken kann. Schon der äußere Umfang der Darstellung macht deutlich, daß der Arbeitsbereich bei zunehmender Berufstätigkeit von Frauen und Müttern eine herausragende Rolle in der Frauenproblematik einnimmt. Die Gründe für die Benachteiligung, nämlich mangelnde Berufsbandbreite, fehlende Mobilität, Vorurteile, zu wenig Vor- und Weiterbildung, sollen - so fordert die Enquete - stärker analysiert werden. Arbeitslosigkeit soll durch mehr Ausbildung, durch Abbau falscher Schutzzäune, durch bessere Arbeitsplatzangebote, auch durch Teilzeitarbeit in weniger rationalisierungsanfälligen Bereichen vermindert werden.
Die Regierung wird sich bemühen, einer ganzen Reihe von Forderungen Nachdruck zu verleihen und manches umzusetzen, wenn auch nicht in einem Zuge alles. Arbeitsmarktpolitik, sagt die Enquete, soll noch stärker auch Frauen einbeziehen, und regionale Förderung soll unter Berücksichtigung der Arbeitslosenquote verbessert werden. Wie wichtig das ist, kann ich Ihnen als Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet nur bestätigen.
Die in der 5. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes neu eingeführten Informations-, Motivations- und Qualifizierungsmaßnahmen werden von der Enquete ausdrücklich begrüßt. Konsequenzen sind künftig zu ziehen aus den auch öffentlich anerkannten Erfolgen des Modellversuchs des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft mit Mädchen in 63 Männerberufen - in 63 Männerberufen!- der sowohl in den Betrieben als auch bei den Mädchen selbst erfolgreich ist. Er wäre vielleicht noch erfolgreicher, wenn auch die Gewerbeordnung daraufhin überprüft würde, ob alle für Mädchen hinderlichen Vorschriften wirklich nötig sind.
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Die Bundesregierung hat - das hebt die Enquete hervor - bereits damit begonnen, Arbeitsschutzvorschriften für Frauen zu überprüfen. Nahezu 30 Verordnungen sind überprüft und zum großen Teil aufgehoben worden. Damit sind aber noch nicht alle Probleme, z. B. der Arbeitszeitverordnung hinsichtlich der unterschiedlichen Regelung der Nachtarbeit und der Arbeit am Bau, gelöst. In diesem Prozeß werden wir noch fortfahren. Die Bundesregierung wird die Empfehlung der Enquete-Kommission ernst nehmen und die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen und Einschränkungen, auch bei neuen Technologien, für Frauen und Männer zu überprüfen.
Das Kapitel Mutterschutz und Mutterschaftsurlaub spiegelt, wie erwartet, die Debatte wider, die wir zu diesem Thema hier gehabt haben. Für den Fall von Arbeitszeitverkürzungen kann ich aber nachdrücklich unterstreichen, daß wir die Empfehlung, besonderes Augenmerk auf die Erwerbstätigen mit Familienpflichten zu legen, voll und ganz unterstützen.
Arbeitszeit ist für Eltern ein kardinaler Punkt. Der Wunsch vieler Frauen, in diesem Bereich Erleichterungen zu bekommen, wird in den Wünschen nach mehr Teilzeitarbeit deutlich. Wir haben darüber hier oft gesprochen. Elternfreizeit ist Entfaltungsspielraum für die Kinder.
Im Abschnitt Lohnfindung richtet sich eine Reihe von Empfehlungen natürlich an Gewerkschaften, an Betriebsräte. Der Gesetzgeber wird aufgefordert, Fristen zu überprüfen, z. B. bei der Verjährung der Lohnnachzahlung und hinsichtlich der Voraussetzungen für Betriebsrenten. Das ist für Frauen wichtig, wie überhaupt die praktischen Aspekte für die Frauen wichtig sind und nicht so sehr die generellen Beteuerungen, man sei für Gleichberechtigung.
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Wichtiger noch als diese zwei Punkte, die ich eben erwähnte, wird sein, wie das EG-Anpassungsgesetz in der Praxis umgesetzt wird. Einer Aufforderung des Parlaments, darüber zu berichten wie auch über Benachteiligungen von Frauen im Schulwesen, in den Medien, in der Werbung, bei Dienstleistungen - wie z. B. der so wichtigen Wohnungsvergabe -, beim Wirtschaftsverkehr und Kreditwesen wird die Regierung selbstverständlich nachkommen.
Mit Vorschlägen, die sich mit Quotierungen, Frauenaktionsplänen mit Richtliniencharakter, Berichtspflichten beschäftigen, wird sich das Kabinett noch befassen. Hierzu kann ich daher heute keine Stellungnahme abgeben.
Was den Bildungsbereich angeht, enthält die Enquete gute Ansätze, die zum Teil natürlich die Länder betreffen, zum Teil aber auch uns. Bessere Aus-, Fort- und Weiterbildung wie auch Berufsberatung sind ganz wesentliche Voraussetzungen für die Chancengleichheit der Mädchen.
Wichtig ist im Kapitel Familie das Thema Wahlfreiheit. Auch ich bin der Ansicht - und jeder kann das in seiner Nachbarschaft beobachten -, daß unter heutigen Bedingungen wirkliche Wahlfreiheit trotz wachsender Befähigung zur Berufstätigkeit nur für eine kleine Minderheit besteht.
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Soll die Familie nicht leiden, andererseits aber auch die Frau für Männer selbstverständliche Chancen, Kontakte und Freiräume nicht missen, so ist neben staatlichen Einrichtungsangeboten auch die stärkere Teilung der häuslichen Aufgaben notwendig. Aber eine wirkliche Teilung und nicht eine solche, wie sie in einer Umfrage deutlich wurde. Danach sagten 70 % der befragten Männer, sie hülfen zu Hause, während von den dazugehörigen Frauen nur die Hälfte dieser Ansicht war.
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Ich begrüße, daß die Enquete-Kommission die verstärkte Berücksichtigung des Partnerschaftsgedankens in Erziehung und Erwachsenenbildung sowie eine realitätsgerechte Darstellung in Schulen und Medien empfiehlt. Das heißt aber, daß auch der Vater einmal am Kochtopf und die Mutter am Schreibtisch oder an der Werkbank dargestellt wird.
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Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, daß beides naiv wäre: die bloße Erwerbstätigkeit der Frau schon als Emanzipation zu deklarieren und das Aufgabenfeld der Familienmutter schlicht als Idylle darzustellen.
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Familie - das ist doch unser Zuhause mit all seinem Sonnenschein und all seinen Schattenseiten.
Die Kommission empfiehlt eine Aufwertung der Erziehungstätigkeit der Eltern. Das kann ich nur nachdrücklich unterstreichen. Die einzelnen - unterschiedlich gewerteten - Förderungsvorschläge in diesem Kapitel sind zum Teil aber schon praktizierte Wirklichkeit. So muß z. B. die Regierung alle zwei Jahre über die Entwicklung des Kindergeldes berichten. Es sind niemals so viele Kindergeldverbesserungen erfolgt wie in den letzten sechs Jahren.
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Die Struktur der Kindergeldverbesserung weist übrigens deutlich darauf hin, daß der Regierung nicht daran gelegen ist, die Hausfrau zu benachteiligen.
Teilweise hindern uns natürlich finanzielle Engpässe, aber auch Länderzuständigkeiten daran, gute Einrichtungen anders als in Form von Modellen zu finanzieren. Hier erinnere ich an das Tagesmüttermodell, das gute Auswirkungen gehabt hat und dessen Ergebnisse in die Gesetzgebung über unser Pflegekinderwesen eingegangen sind. Daß trotz solcher Engpässe aber kein Stillstand eintritt, beweist u. a. die Tätigkeit des Arbeitsstabes Frauenpolitik in meinem Hause, über dessen Arbeit j a kürzlich in der Fragestunde eine umfassende Bilanz gezogen werden konnte.
Es wundert mich nicht, daß die Enquete-Kommission ihre Aufmerksamkeit auch der sozialen Sicherung geschenkt hat. Selbstverständlich ist Gleichberechtigungspolitik - da gebe ich Ihnen recht, Frau Wex - keineswegs mit Sozialpolitik zu verwechseln. Die Debatte über die Rentenreform werden wir ja in dieser Legislaturperiode führen. Auch die Anmerkungen zum Besteuerungssystem werden diskutiert werden. Der Prüfauftrag bezüglich einer vollständigen Harmonisierung des Steuersystems mit den Transferleistungen wird allerdings nicht kurzfristig zu erfüllen sein.
Frauen sind an Transferleistungen besonders interessiert. Durch Kindererziehung haben sie Berufsunterbrechung und Berufsabbruch und wegen Pflege kranker Angehöriger auch oft keine Chance, im Erwerbsleben tätig zu sein. Deswegen haben sie häufig kleine Einkommen und kleine Renten. Die Frage der eigenständigen Sicherung erhält ihren großen Druck von hier. Das kann man nur unterstützen.
Die Frauen stellen auch die große Mehrheit der Geringverdienenden, der mehrfach Belasteten und der Alleinerziehenden. Von den Alleinerziehenden sind 82 % Frauen. Sie führen 10% aller Familien, und diese Zahl nimmt zu. Deswegen freue ich mich, daß der Bericht der Enquete-Kommission auch diesen Frauen ein Kapitel gewidmet hat. Wir haben uns in mehreren Debatten hier anläßlich von Steuerverbesserungen oder auch bei den Unterhaltskassen ihrer Sorgen angenommen. Die Regierung ist bereit, auch bei späteren Anlässen über diese Gruppe gesondert nachzudenken, besser nachzudenken.
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Auch die Enquete-Kommission ist wie andere Kommissionen, deren Berichte ich dem Deutschen Bundestag in den letzten Jahren vorgelegt habe, der Auffassung, daß bessere Kombinationsmöglichkeiten zwischen Beruf und Familie für alle Frauen, aber insbesondere für diese Frauen, eine zentrale Frage ist. Dies ist für Frauen von heute überhaupt die entscheidende Frage, an der die Gleichberechtigung ihren praktischen Wert erhält. Die Chancen, die Frauen sich hier erhoffen, kann der Staat allerdings nicht durch Förderung bei Hausfrauen ausgleichen, obwohl uns nichts ferner liegt, als Frauen zu diskriminieren, die sich nur Familienaufgaben widmen. Das gibt es ja jetzt schon, daß sich auch Männer solchen Familienaufgaben widmen, und die Regierung hält viel von gemeinsamer Elternverantwortung.
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Unsere jungen Mädchen und Frauen wollen lernen. Sie suchen Arbeitsplätze und suchen auch Aufstieg, wo sie nicht zu sehr belastet sind. Sie wollen aber auch eine Familie haben und wollen neben der Familie auch noch Chancen, ein eigenes Leben zu gestalten. Daß die Frauen und Mädchen dies wollen, ist überhaupt nichts Besonderes. Damit wollen sie nur das, was Männer schon immer tun.
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Frauen wollen am Leben teilhaben wie die Männer und ihren Haushalt nicht als Reservat betrachten. Das wollen sie auch dann, wenn sie sich allein der Kindererziehung widmen und sich im Augenblick nicht für Berufstätigkeit entschieden haben.
Die Regierung hat aufmerksam verfolgt, was die Enquete zur Einführung eines allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes - besser: Gleichstellungsgesetzes - sagt. Ich betone, von Generalklauseln halten wir genausowenig wie die Mitglieder der Enquete-Kommission. Man muß es konkret und am praktischen Punkte anpacken.
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Ob man nun, wie vorgeschlagen, neue Regelungen bei der Novellierung bestehender Gesetze trifft oder mehrere solcher Regelungen in einem Artikel-Gesetz zusammenfaßt, oder ob man neue Institutionen braucht und womit sie ausgestattet werden sollen, dies sind Fragen, die unter gemeinsamer Federführung des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und des Bundesministers des Innern noch in diesem Jahr mit Hilfe von Anhörungen geprüft werden sollen.
Ausländische Beispiele sind hier nur bedingt anwendbar. Indessen ist es bei uns sicherlich nicht so gut, als daß es nicht noch besser werden könnte. Die Errichtung eines Netzwerkes von Gleichberechtigungsstellen in der ganzen Bundesrepublik halte ich für sinnvoll. Eine Institution sui generis wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf, die von so erheblicher Bedeutung sind, daß man ohne deren Prüfung nicht zu einem Urteil kommen kann.
Die Regierung begrüßt die Einbringung der Enquete in den Deutschen Bundestag als Zeichen dafür, daß die Probleme der Frauen nicht unter den Teppich gekehrt werden sollen. Sie werden sich nicht wie durch ein Wunder von heute auf morgen lösen. Aber sie würden sich überhaupt nicht lösen lassen ohne das unablässige Mühen von Politikern, Gewerkschaftern, Verbänden und einzelnen, die offenkundige oder versteckte Benachteiligungen von Frauen an der Schwelle des dritten Jahrtausends für unwürdig halten.
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Es ist erstaunlich, hat Elisabeth Selbert gesagt - und sie hat das in einer Fernsehsendung in diesen
Tagen wiederholt -, mit welchem Ernst im Gegensatz zum späteren Bundestag der Parlamentarische Rat die Fragen der Frauen abgehandelt hat. Meine Damen und Herren, dies gibt mir zum Nachdenken Anlaß. Ich hoffe, dieser Bundestag wird eine solche Meinung widerlegen. Die Enquete ist ein Anfang und ein Einstieg dazu.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik für Frauen ist ein Teil der Gesellschaftspolitik, sie ist ein Teil Sozialpolitik. Frauenpolitik ist nicht mehr nur Familienpolitik; denn mittlerweile steht an jedem dritten Arbeitsplatz eine Frau. Zunehmend machen Frauen ihren Anspruch auf einen qualifizierten Arbeitsplatz geltend, nachdem sie sich in wachsendem Maße den Mühen einer Berufs- und Hochschulausbildung unterzogen haben.
Die Erfahrungen, die Mädchen in der Berufswelt machen, führen häufig dazu, daß sie als junge Ehefrau und Mutter eine ausschließliche Bindung an Haus und Familie als Isolation empfinden. So hat sich die Erwerbsquote der verheirateten Frauen nach dem Krieg kontinuierlich nach oben bewegt und ist bei den heute 20- bis 45jährigen, also bei den Frauen im gebärfähigen Alter, in den letzten zehn Jahren um über 10 % auf jetzt insgesamt 50 % gestiegen.
Dieser neuen Wirklichkeit entsprechend fordern Frauen auch eine eigenständige soziale Sicherung, die ihre Leistungen für die Gesellschaft, die sie bei der Kindererziehung erbringen, mehr als bisher anerkennt und bis ins Rentenrecht berücksichtigt. Die Rentenreform 1984 wird diesem Anspruch der Frauen Rechnung tragen müssen.
Die Enquete-Kommission hat sich diesen neuen Fragen in erfreulicher Offenheit gestellt und versucht, viele konkrete Wege zu Lösungen aufzuzeigen. Wir alle wissen: Es gibt kein Allheilmittel. Was geleistet werden muß, ist mühsame Kleinarbeit. Weil sicher keiner von uns die Weisheit gepachtet hat, kann es auch nicht darum gehen, Patentrezepte mit Ewigkeitswert zu liefern.
Lassen Sie mich aber dennoch hier den Versuch machen, aufzuzeigen, wo wir als Christlich Demokratische Union und als Christlich-Soziale Union andere Wege zu beschreiten gedenken als Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Wir bekennen dabei, daß diese anderen Lösungsmöglichkeiten sicher auch mit anderen Werthaltungen und daher mit anderen Vorstellungen von einer humanen Gesellschaft verbunden sind.
Ich nenne ein Stichwort: Frauenarbeitslosigkeit. Wir wissen, daß die Arbeitslosenquote der Frauen seit 1970 ständig und überproportional angestiegen ist. Wir wissen aber auch, daß diese überproportionale Frauenarbeitslosigkeit einer neuen Form von Arbeitslosigkeit, nämlich der Teilzeitarbeitslosigkeit, entspringt, die bereits über 15 % ausmacht. Seit Jahren hört man zwar von der Bundesregierung hin und wieder schöne Appelle an die Arbeitgeber, auch an die öffentlichen, mehr Teilzeitarbeitsplätze einzurichten. Ich kenne aber keine besonderen Anstrengungen der Bundesregierung für diese Arbeitslosen, die - wie wir j a wissen - ganz überwiegend Frauen sind. Die Halbherzigkeit gegenüber den teilzeitarbeitsuchenden Frauen und auch - ich muß es leider sagen - das noch überwiegende Desinteresse der Gewerkschaften an dieser Frage halten wir Frauen in der Union für unhaltbar.
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Wenn weiterhin einseitig nur der Vollzeitarbeit von der Bundesregierung Augenmerk geschenkt wird, weil Teilzeitarbeitsuchende angeblich auf das Einkommen aus dieser Tätigkeit nicht angewiesen sind - empirische Untersuchungen beweisen übrigens das Gegenteil -, dann heißt das in unserer anhaltend schwierigen Arbeitsmarktsituation für diese Frauen der unfreiwillige Marsch an den häuslichen Herd und in die sogenannte stille Reserve als Puffer für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt, bis es wieder einmal bessere Zeiten gibt. Mit dieser Lösung des Problems können wir angesichts des verständlichen Wunsches vieler Frauen, wenigstens teilweise im Erwerbsleben zu bleiben oder zurückzukehren, ganz und gar nicht einverstanden sein. Ich weiß, Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sind es auch nicht, wenn ich Sie richtig verstehe. Viele von Ihnen träumen von einer generellen, also für alle Arbeitnehmer geltenden Verkürzung der Arbeitszeit von heute in der Regel acht auf sechs Stunden, natürlich mit Lohnausgleich, damit dann auch der Mann Familienpflichten übernehmen und die Ehefrau und Mutter ohne Doppel- oder Dreifachbelastung einer vollen Erwerbstätigkeit nachgehen kann.
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Wir halten, einmal abgesehen von den wirtschaftlichen Problemen im Lohnbereich, von diesem so schön klingenden Modell der sogenannten familiengerechten Arbeitszeit, wenn es allgemeinverbindlich und per Gesetz für alle, also Mann und Frau, gelten soll, gar nichts, weil es in unseren Augen einen entscheidenden Nachteil für die Frauen mit sich bringt: die Zwangsjacke der Ganztags- und Vollberufstätigkeit. Wir sehen keinen Sinn darin, daß das Heil für alle Frauen in einer lebenslänglichen Berufstätigkeit gesucht und gefunden werden soll. Damit würden nur alte Rollenzwänge durch neue ersetzt.
Dieses Modell uniformer Arbeitszeitgestaltung, das gleichzeitig als Instrument aktiver Arbeitsmarkt- und Familienpolitik propagiert wird, könnte nur funktionieren, wenn man staatliche Kontrolleure einsetzte, die überwachten, daß auch ja nicht mehr als sechs Stunden gearbeitet würde; ich überzeichne einmal bewußt. Konsequent wäre es dann auch noch, die Familie zu kontrollieren, ob dort auch tatsächlich - ich möchte es einmal scherzhaft so nennen - Familie und Freizeit von Mann, Frau und Kind gemeinsam veranstaltet wird. Diese neue Idylle kann doch im Ernst nicht funktionieren.
Als politisch verantwortlich Handelnde finde ich es unredlich, diesen Traum, diese Utopie Frauen heute als Realpolitik anzubieten. Sie weichen damit den heutigen Problemen aus und bleiben den Frauen die Antwort auf unter heutigen Bedingungen mögliche Lebensalternativen schuldig. Es ist doch eine schreckliche Vereinfachung und dazu eine Verkennung der Lebenswirklichkeit, wenn heute propagiert wird, daß immer mehr Arbeitszeitverkürzung zu immer mehr Humanität führe.
Worum es gegenwärtig in der Frauenpolitik vielmehr geht, ist die Frage, ob es nicht einen dritten Weg für Frauen gibt, der sie weder gänzlich von Haus und Familie noch vom Beruf trennt. Eine Antwort auf diese Frage ist für uns, wie gesagt, die Teilzeitarbeit. Noch sind mit dieser Beschäftigungsform viele Nachteile verbunden, wie geringe Aufstiegschancen, weniger qualifizierte Tätigkeiten, größere Probleme der Mobilität. Notwendig ist eine attraktive Gestaltung dieser Arbeitsplätze, damit auch Männer in Zukunft mehr Wahlfreiheit erhalten.
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Das verstehen wir unter einer freiheitlichen und humanen Gesellschaft: Bedingungen zu schaffen, daß Mann und Frau unter verschiedenen Möglichkeiten im Arbeitszeitangebot - das können z. B. auch 60-oder 80 %ige Arbeitsplätze statt der heute üblichen 50- oder 100 %igen sein - in verantwortlicher Partnerschaft wählen können, wie sie gemeinsam das Familieneinkommen erwirtschaften und den Familienpflichten gerecht werden. Hier bietet sich ein Betätigungsfeld für staatliche Hilfen. Hinweise für die Richtung der Bemühungen gibt es bereits genug.
Viele Betriebe begegnen der Teilzeitarbeit heute noch mit erheblichen Vorbehalten, u. a. weil sie von einer Verschlechterung der Kostensituation ausgehen. Eine Untersuchung des Landes RheinlandPfalz über Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung in der Wirtschaft konnte dieses noch weit verbreitete Vorurteil widerlegen, weil kürzere Arbeitszeiten auch die Effizienz der geleisteten Arbeit steigern. Zudem hat das Gutachten nachgewiesen, daß auch qualifizierte Arbeitsplätze teilbar sind, soweit Informationsverluste keine Rolle spielen.
Ich habe den Eindruck, daß ein Umdenkungsprozeß bereits begonnen hat, an dem erfreulicherweise auch die Bundesanstalt für Arbeit mitwirkt, die das vom Land Rheinland-Pfalz initiierte Modell Teilzeitarbeit mitfinanziert, das in diesen Tagen vor dem Abschluß steht und sehr interessante Ergebnisse verspricht.
Auch möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich Versuche begrüßen, die Idee des aus dem Amerikanischen kommenden sogenannten. „lob sharing" bei uns umzusetzen und in unsere deutschen arbeits- und sozialrechtlichen Vorstellungen einzupassen. Wir müssen abwarten, ob und wie sich der Musterarbeitsvertrag, den uns z. B. die Arbeitgeberverbände der chemischen Industrie vorlegten, in der Praxis bewährt.
Ich komme zu einem anderen Punkt, dem wir große Bedeutung beimessen und der eng mit dem bisher Gesagten verknüpft ist: der beruflichen Wiedereingliederung. Wir, die Union, wollen, daß alle Frauen, die den Wunsch haben, nach Jahren ausschließlicher Familientätigkeit wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren, auch tatsächlich die Chance dazu bekommen und daß ihnen dieser Weg mehr als bisher erleichtert wird.
Es kann doch nicht angehen, daß eine Frau, die sich einmal für Kindererziehung entschieden und sich deshalb aus dem Berufsleben für einige Jahre zurückgezogen hat, damit einen irreversiblen, einen fürs ganze Leben nur schwer wiedergutzumachenden Schritt getan hat. Wir wollen nicht, daß die Gesellschaft allein der Frau, die sie überfordernde Alternative „berufliche Karriere oder Familie" aufbürdet. Deshalb ist eine verstärkte Bemühung der politisch Verantwortlichen um die Integration von Frauen ins Beschäftigungssystem dringend notwendig.
Verheerend haben sich die durch das Haushaltsstrukturgesetz von 1975 verringerten Möglichkeiten und Anspruchsvoraussetzungen des Arbeitsförderungsgesetzes auf die Wiedereingliederung von Frauen ins Erwerbsleben ausgewirkt. Diesen Rückschlag hat auch die Fünfte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes mit dem wieder verbesserten Zugang von Frauen zu Maßnahmen der beruflichen Bildung noch nicht beseitigt. Bisher gelingt Frauen die Rückkehr in eine qualifizierte Tätigkeit nach längerer Unterbrechung nur mit außergewöhnlichen Anstrengungen auch psychischer Art. Die positiven Ergebnisse der einschlägigen Modellversuche geben jedoch zu gewissen Hoffnungen Anlaß. Das Schlüsselproblem wird auch hier bleiben, ob es gelingt, genügend qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen.
Nach einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit wollen 75% der möglichen Rückkehrerinnen in den Beruf am liebsten in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sein. Diesen Frauen, deren Kinder heranwachsen, muß allerdings gesagt werden, daß sie dem Arbeitsmarkt auch zu ungünstigeren Zeiten, also etwa am Nachmittag, zur Verfügung stehen müßten, damit nicht die Vollzeitbeschäftigten im Betrieb die Last der Teilzeitbeschäftigung eines Teils der Belegschaft zu tragen haben.
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Lassen Sie mich noch einen weiteren Bereich ansprechen, der hier schon eine Rolle spielte und bei dem wir, die Opposition, offensichtlich einen anderen Standpunkt einnehmen als etwa die sozialdemokratische Fraktion. Es scheint mir, daß diese hier in Bremserhäuschen sitzt. Das finde ich erstaunlich genug. Ich meine das Problem des Arbeitsschutzes speziell für Frauen, im besonderen die in der Arbeitszeitordnung enthaltenen Regelungen. Wohlgemerkt, meine Damen und Herren, ich spreche nicht vom Mutterschutz; damit dies nicht wieder mißverstanden wird.
Offensichtlich will die Bundesregierung die Frauen diskriminierenden Bestimmungen erst ändern, wenn der kleine Koalitionspartner bereit ist, die Arbeitszeitordnung insgesamt zu ändern. Wie
Sie wissen, hat auch die Enquete-Kommission die Empfehlung ausgesprochen, die Beschäftigungsverbote für Frauen z. B. auf Baustellen aufzuheben. Der technologische Wandel hat erfreulicherweise auch in diesen Berufen Veränderungen in bezug auf die körperlichen Anforderungen und Belastungen mit sich gebracht. Daß der Ton dort angeblich rauher ist als sonstwo, mein Gott, kann j a wohl nicht ernsthaft ein Grund sein, Frauen den Zugang zu sogenannten Männerberufen zu verwehren, wenn wir gleichzeitig die Ausbildung von Mädchen in Männerberufen modellartig fördern.
Ich räume gern ein, daß das generelle Beschäftigungsverbot für Frauen auf Baustellen, nachdem gewisse Auswege durch Neuinterpretationen von Verordnungen im Baunebengewerbe gefunden wurden, ein Randproblem darstellen mag, und bisher nur eine kleinste Minderheit betrifft. Für mich ist dies jedoch eine Frage der Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers. Schließlich haben wir erst im Sommer vergangenen Jahres gemeinsam ein arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz verabschiedet, das die Gleichbehandlung von Mann und Frau am Arbeitsplatz gewährleisten soll. Sie wie wir sind uns doch hoffentlich darüber im klaren, daß jetzt auch noch das geltende Frauenarbeitsschutzrecht, das dem Frauenbild der Nationalsozialisten entstammt, der heutigen beruflichen Wirklichkeit angepaßt werden muß, wenn wir die Überwindung des geschlechtsspezifisch geteilten Arbeitsmarkts ernstlich wollen.
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Nach unserer Auffassung ist der Arbeitsschutz keine Frage allein für Frauen, sondern eine Frage der menschengerechten Gestaltung der Arbeitswelt für Männer und Frauen. Man kann durchaus über weitere, in der Arbeitszeitordnung ebenfalls noch vorhandene Beschäftigungsverbote für Frauen reden. So habe ich mir beispielsweise über das geltende Nachtarbeitsverbot noch kein abschließendes Urteil gebildet. Eines muß aber an dieser Stelle gesagt werden: Das Nachtarbeitsverbot wird ständig durchbrochen. In großer Zahl arbeiten Frauen in Wechselschichten, die bis in die Nacht dauern. Im öffentlichen Dienst werden Frauen sogar die ganze Nacht beschäftigt, z. B. bei den Paketpostämtern. Diese Frauen heben und tragen dort die ganze Nacht hindurch ständig auch schwere Lasten.
Unglaubwürdig ist diese Bestimmung noch aus einem anderen Grund. Sie gilt nur für Arbeiterinnen in der freien Wirtschaft, nicht aber für die Angestellten. Jede Krankenschwester darf Nachtschicht und dabei auch noch körperliche Schwerstarbeit leisten.
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- Sehr wahr, muß. - Ich habe Verständnis dafür, daß die Gewerkschaften die Nachtarbeit möglichst generell einschränken und deshalb keine weiteren Dämme einreißen lassen wollen. Aber unverkennbar ist, daß zur Zeit das Nachtarbeitsverbot bei immer mehr Frauen auf Ablehnung stößt, nicht zuletzt weil es auch in gerichtlichen Auseinandersetzungen
als Argument für niedrige Frauenlöhne mißbraucht wird.
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Wir müssen aufpassen, daß wir die Frauen nicht zu Tode schützen und sie damit aus dem Arbeitsmarkt verdrängen. Solange nicht auch für Männer andere Arbeitsschutzbedingungen gelten, kann ich nur vor der Bumerangwirkung von einseitigen Schutzgesetzen für Frauen warnen.
Lassen Sie mich abschließend meine Grundüberlegungen zusammenfassen. Politik hat die Aufgabe, den Freiheitsraum für das Individuum zu sichern. Sie muß sich am Menschen orientieren und nicht an Systemen und Ideologien. Die Lebensbedingungen für alle, für Männer und Frauen, müssen so gestaltet werden, daß der Mensch seine Rechte auch wahrnehmen kann. Das gilt heute besonders für die Probleme der Frau.
Die Aufgabe, mehr Gerechtigkeit für Frauen zu verwirklichen, darf aber nicht an naiven Gleichheitsforderungen ansetzen. Gerade in der Geschichte des Kampfes um die Gleichwertigkeit der Frau und um ihre Position in der Gesellschaft ist schon viel Törichtes geschehen. Man denke z. B. an die Begründung der sogenannten Leichtlohngruppen, wo man vom Begriff der Schwere der Arbeit, d. h. von der aufgewandten Muskelkraft, den Anspruch auf gleichen Lohn abgeleitet hat und zum Teil heute immer noch ableitet. Heute wissen wir, daß der Maßstab falsch ist, daß Gleichwertigkeit auch bei unterschiedlicher Leistung gleichen Anspruch begründen kann.
Das Beispiel sollte auch der Politik für die Frau Richtung geben. Unterschiedlichkeit der Geschlechter verlangt unterschiedliche Bemühungen. Wer solche Unterschiede auslöschen will, gefährdet zugleich auch Freiheit und menschliche Selbstbestimmung.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Fromm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft wurde zur Vorbereitung von Entscheidungen eingesetzt, die zur Verwirklichung der vollen rechtlichen und sozialen Gleichberechtigung in der Gesellschaft führen sollen. Die Empfehlungen liegen uns vor. Auf folgendes will ich eingehen: 1. An den Vorstellungen über die Rollenverteilung hat sich nichts geändert. 2. Die Strukturen unserer Gesellschaft müssen verbessert werden, um den Frauen den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. Wir alle sind aufgefordert, Maßnahmen zu treffen.
Schon in der Weimarer Verfassung werden den Frauen grundsätzlich die gleichen Rechte wie den Männern eingeräumt. Art. 119 besagt, daß die Ehe auch auf der Gleichberechtigung der Geschlechter beruhen sollte. Frauen sollten Zugang zu allen Berufen haben. Meine Damen und Herren, Sie hören richtig: „sollten", sollten ... Ich meine, es ist genug Zeit verstrichen, um endlich von „müssen" zu spre1168
chen. Frauen müssen gleiche Rechte eingeräumt werden.
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Die Rechte der Frauen aus der Weimarer Verfassung wurden dann im Dritten Reich beschnitten. Die Frau in der damaligen Politik fand sich in der Rolle der Gebärerin wieder. Ihr Platz beschränkte sich auf die Familie.
Doch wie sieht die Situation heute in der Bundesrepublik Deutschland über 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes aus? In Art. 3 GG steht:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechts ... benachteiligt oder bevorzugt werden.
Doch dieser Gleichheitsgrundsatz regelt nur das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Er bezieht sich nicht auf die gesellschaftlichen Bereiche. Daher ist das Parlament aufgerufen, durch gesetzliche Bestimmungen den Gleichheitsgrundsatz in allen gesellschaftlichen Bereichen anzuerkennen und durchzusetzen.
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1972 wurde der Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Frau erstattet, 1974 die Enquete-Kommission eingesetzt, im August 1980 wurde der Abschlußbericht vorgelegt. Das Ziel soll die Verwirklichung der vollen Gleichbereichtigung der Frau in der Gesellschaft sein.
Meine Damen und Herren, die Liberalen haben nicht bis heute gewartet. Wir haben 1972 in Freiburg Thesen zur Rolle der Frau in der Gesellschaft aufgestellt, und wir haben erklärt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau erfordere neben der Änderung von Rechtsvorschriften vornehmlich die Ausweitung von praktischen Möglichkeiten und eine Veränderung des allgemeinen Bewußtseins. Erziehung und Ausbildung vermitteln immer noch das aus der vorindustriellen Zeit übernommene und während des Nationalsozialismus glorifizierte Rollenbild der Geschlechter und tragen so dazu bei, das traditionelle Rollenverhalten aufrechtzuerhalten.
1978 haben wir unsere Vorstellung zur Situation der Frau in der Gesellschaft erweitert und den Abbau der Benachteiligung mit einem Antidiskriminierungsgesetz und einer dazu gehörigen Kommission begründet und gefordert. Und das, meine Damen und Herren, fordern wir auch heute. Wir Freien Demokraten verlangen die Aufhebung der traditionellen Rollenfixierung. Wir wollen nicht ein neues Rollenbild verordnen. Wir wollen nicht bevormunden. Was wir aber wollen, ist eine Neubesinnung über die gleichen Rechte und Pflichten von Mann und Frau in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft und in der Politik. Heute haben Mann und Frau gemeinsam eine Doppelrolle zu bewältigen. Der Mann ist Teil der Familie. Dann werden wir endlich nicht mehr die „vaterlose Familie" und die „mutterlose Gesellschaft" beklagen müssen.
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Aus liberaler Sicht muß Familienpolitik auf Grund der sich wandelnden Lebensverhältnisse für neue Formen und Inhalte offen sein. Alle Menschen müssen die Form ihres Zusammenlebens frei von staatlicher und gesellschaftlicher Reglementierung selbst bestimmen können. Die Forderung nach Selbstbestimmung bedeutet auch die Übernahme von Verantwortung. Nützen wir die Möglichkeiten der Gleichberechtigung, und nehmen wir Verantwortung in allen Lebensbereichen auf uns! Voraussetzung dafür sind die Bereitschaft und Unterstützung aller Menschen.
Meine Damen und Herren, Gleichberechtigung will keine Umkehr von Wertvorstellungen, sondern die Besinnung auf menschliche Werte, z. B. auch Werte wie Ehre und Würde. Die Ehre des Mannes wird verteidigt, die Ehre der Frau - vergessen?
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Wie sieht es im täglichen Leben mit der Würde der Frau aus? Ich sehe keinen Grund dafür, daß Standesbeamter ein Männerberuf ist, daß die Bewerbung einer Frau für einen solchen Posten mit dem Argument beantwortet wird, ein Mann strahle mehr Würde aus.
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Meine Damen und Herren, unser Grundgesetz spricht nicht von Männer- und Frauenwürde, sondern in Art. 1 unseres Grundgesetzes steht: „Würde des Menschen". Handeln wir danach!
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Beseitigen wir endlich Widerstände und Vorurteile, denen Mädchen und junge Frauen immer noch begegnen: in der Schulausbildung, in den Berufswünschen. 85% der weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren drängen sich in die zehn bis zwanzig „typisch weiblichen" Berufsarten. Eltern wehren sich gegen den sogenannten „unweiblichen" Beruf ihrer Tochter. Meine Damen und Herren, hier haben wir noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Vor allem müssen wir endlich die Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen von 1938 neu fassen.
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Darin heißt es z. B.: „Frauen dürfen nicht mehr als 10 kg heben." Wenn Frauen aber Kleinkinder, schwere Einkaufstaschen oder Wäschekörbe tragen, dann kümmert sich niemand um Schutzbestimmungen.
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Als viele Frauen nach dem 2. Weltkrieg als Trümmerfrauen für den Aufbau unserer Städte ihre Gesundheit opferten, dachte auch niemand an die Schutzbestimmung von 1938. Daher packen wir es da an! Fassen wir die Arbeitsschutzbestimmungen neu!
Wir müssen nicht nur die Situation der Frau in der Arbeitswelt verbessern, sondern auch die Situation, die Stellung der Frau im gesellschaftlichen Bereich wie in den Medien, in der Werbung, im Rechtswesen,
im Strafvollzug. Die Medien müssen sich endlich auf ihre Verantwortung im- Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung besinnen. Viel zu wenig wird die Frau in der partnerschaftlichen Rolle im täglichen Leben dargestellt. Die Rolle der Frau als hörig und bevormundet findet sich in katastrophaler Weise in Teilen der Werbung wieder.
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Wenn z. B. die Werbung einer Bausparkasse lautet: „Für Leute mit Zukunft" und ich auf dem Plakat keine einzige Frau abgedruckt sehe, dann frage ich mich doch: Wo haben Frauen heute eine Zukunft?
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Fragen der Gleichberechtigung werden von unseren öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in den Haupteinschaltzeiten kaum behandelt.
Die Enquete-Kommission hat, wie sie erklärt, nicht alle gesellschaftlichen Bereiche auf die Situation der Frau hin untersuchen und sie hat auch nicht die Probleme aller gesellschaftlichen Gruppen behandeln können. Ich meine, wir sind es den Frauen schuldig, daß wir uns die Zeit nehmen, ihre Probleme anzuhören und Lösungen zu bieten.
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Wenn wir tatsächlich die Situation der Frau in der heutigen Gesellschaft verbessern wollen, dann handeln wir heute und verschieben nicht die Antworten auf morgen! Warten wir auch nicht wieder auf das Drängen der EG zum Handeln! Ich finde es beschämend für die Bundesrepublik, wenn wir erst auf Druck der Europäischen Gemeinschaft reagieren.
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Meine Damen und Herren, wir leben in einer Europäischen Gemeinschaft. Daher vergessen wir nicht die ausländischen Frauen unter uns!
Die Geduld der Frauen wird auf eine nun schon lange Probe gestellt. So wie Anfang der 70er Jahre Frauenorganisationen und die Frauenbewegung gegen den § 218 protestierten, fordern sie uns immer wieder auf, Benachteiligungen endlich abzubauen. Denn es ist bekannt, daß es immer noch Benachteiligungen in der Erziehung, in der Bildung, in der Arbeitswelt, in der Alterssicherung gibt. Es ist bekannt, daß es immer noch zu Diskriminierungen in der Werbung und den Medien kommt. Weiterhin ist bekannt, daß es immer noch Benachteiligungen im Justizwesen und im Strafvollzug gibt. Dagegen können wir vorgehen, wenn wir ein Antidiskriminierungsgesetz mit einer dazugehörigen Kommission schaffen, ausgestattet mit einem eigenen Klagerecht, mit einem Prozeßhilferecht, mit Offenlegung von Diskriminierungen und mit der Prüfung der Gesetzestexte. Deshalb fordern wir Freien Demokraten zur Beseitigung der Benachteiligung der Frauen ein Antidiskriminierungsgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Bei der heutigen Diskussion ist vielfach das Problem Verfassung und Verfassungswirklichkeit zum Ausdruck gekommen. Ich möchte hoffen, daß die Zahl der anwesenden Abgeordneten nicht auch ein Ausdruck für die Wirklichkeit in unserer Gesellschaft ist; denn sonst müßten wir mit der Bewußtseinsbildung in diesem Parlament beginnen.
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Allerdings darf ich mit Freude feststellen, daß der Bundeskanzler durch seine Anwesenheit ein Stück Wirklichkeit zum Ausdruck bringt.
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- Aber immerhin wird der Bundeskanzler, wie ich gehört habe, das Wort hierzu ergreifen. Das unterstreicht die Wichtigkeit des Themas und insbesondere die Realisierung des Themas.
In den Ausführungen der Enquete-Kommission spielt die Arbeitswelt hinsichtlich der Chancengleichheit eine bedeutsame Rolle. Die Ausführungen von Frau Verhülsdonk haben bei mir den Eindruck erweckt, als wäre das Problem Teilzeitarbeit wirklich das Problem hinsichtlich der Chancengleichheit.
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Sie hat der Koalition unterstellt, wir seien gegen Teilzeitarbeit schlechthin und unterdrückten sie. Ich darf ausdrücklich feststellen: Wir sind gegen Teilzeitarbeit, wenn sie die beruflichen Chancen der Frauen beschränkt und zum Hemmschuh der Frauen in der Arbeitswelt wird. Ich darf darauf hinweisen, daß es die Koalition war, die Verschlechterungen, die sich in die Arbeitsförderung eingeschlichen hatten, durch die Fünfte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz beseitigt hat. Wir waren es auch, die den Sozialversicherungsschutz für Teilzeitbeschäftigung verbessert haben. Ich darf den Sozialversicherungsschutz für 15 Stunden erwähnen; dazu habe ich von Ihnen keine Vorschläge gehört. Wir sind gegen die „Zwangsjacke" - um Ihre Vokabel zu gebrauchen - der Teilzeitarbeit. Sie ist nicht das Problem in der Arbeitswelt für Frauen.
Der Bericht hat der Arbeitswelt zu Recht einen breiten Raum gegeben. Einen besonderen Abschnitt können wir hier herausheben. In diesem Bereich hat er dem Arbeitsschutz eine besondere Bedeutung beigemessen. Arbeitsschutz - auch dies ist heute morgen von den Vorrednern und Vorrednerinnen schon zum Ausdruck gebracht worden - ist ein wesentlicher Beitrag zur Humanisierung der Arbeitswelt. Der Bericht macht allerdings deutlich, daß teilweise der besondere Arbeitsschutz im Arbeitsleben oft herangezogen wird, um Benachteiligungen von Frauen zu begründen. In der Praxis wird, wie bekannt wurde, in vielen Fällen die unterschiedliche
Bezahlung von Männern und Frauen mit unterschiedlichen Arbeitszeitbestimmungen, Verbot von körperlich schweren Arbeiten begründet.
Daher muß man fragen, ob der Arbeitsschutz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben und damit den geteilten Arbeitsmarkt fördert. Erweisen sich gesetzliche Normen, die früher erforderlich waren, als Belastung? Wäre dies so eindeutig der Fall, dann müßte man uneingeschränkt für eine Aufhebung plädieren. Man muß doch auch hier - wie in allen anderen Bereichen - sehr genau untersuchen, ob noch alle Vorschriften des Frauenarbeitsschutzes den gewandelten Verhältnissen in der Arbeitswelt gerecht werden.
Die Enquete-Kommission empfiehlt eine Überprüfung. Meine Fraktion begrüßt diesen Überprüfungsauftrag. Sie bittet, dabei und auch bei den Ausschußberatungen folgende Ziele nicht außer acht zu lassen: Gleiches Recht auf Arbeit für Männer und Frauen, und zwar auf eine humane Arbeit. Gleiche Chancen im Arbeitsleben für Männer und Frauen, entsprechend ihren Interessen, Fähigkeiten und ihrer Eignung.
Der Arbeitsschutz hat hier einen sehr wesentlichen Beitrag zu leisten. Das bedeutet, daß sich der Arbeitsschutz den geänderten Arbeits- und Produktionsbedingungen anzupassen und sich vor allem an den gesundheitlichen Belangen aller Arbeitnehmer, d. h. an den Belangen der Frauen u n d Männer, zu orientieren hat. Der heutige Frauenarbeitsschutz trägt sicherlich noch in vielen Bereichen die Handschrift überkommener Rollenvorstellungen über die Frauen in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie, verflochten mit objektiv schutzbedürftigen Tatbeständen. Wir können oft noch - heute morgen sind schon manche Zitate gebracht worden - die Handschrift feststellen, frei nach Schiller: Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, und drinnen waltet die züchtige Hausfrau.
Der Arbeitsschutz wird daher zunehmend von Frauen kritisiert. Man wird zwischen einem notwendigen, berechtigten Arbeitsschutz und einem inzwischen überholten und darum benachteiligenden Arbeitsschutz zu unterscheiden haben. Hier wäre die heute noch gültige unterschiedliche Pausenregelung für Männer und Frauen beispielhaft anzuführen.
Ich betone jedoch ausdrücklich, meine Fraktion will keinesfalls die Regelungen des Frauenarbeitsschutzes abbauen, die Frauen speziell in bezug auf das werdende Leben als Schwangere und Mütter schützen.
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Im Gegenteil muß hier alles getan werden, damit die Schutzbestimmungen eingehalten werden, und es muß klar sein, daß auch die Arbeitgeber mit der Einhaltung dieser Schutzbestimmungen eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe zu leisten haben.
Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von Widersprüchlichkeiten im Arbeitsschutz, die dringend zu überprüfen sind. Ich unterstreiche „dringend", denn ich möchte die Ungeduld der Frauen an dieser Stelle ganz deutlich hervorheben. Dazu darf ich einige Beispiele nennen: unterschiedliche Arbeitszeitregelungen für Männer und Frauen, z. B. Ruhepausen, Frühschluß vor Sonn- und Feiertagen sowie das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen in der privaten Wirtschaft, genereller Ausschluß von Frauen in bestimmten Wirtschaftszweigen, z. B. in der Bauwirtschaft.
Es geht darum, humane Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Nachtarbeit ist für Männer und Frauen gleichermaßen schädlich. Ich halte es für falsch verstandene Gleichberechtigung, Arbeiterinnen generell auch nachts arbeiten zu lassen. Dagegen wird man enge Sonderregelungen für Einzelbereiche - ich will ein Beispiel nennen -, z. B. für weibliche Bäcker, vorsehen müssen. Mir ist es nicht verständlich, daß zwar eine Auszubildende eine andere Arbeitszeit hat, dann aber, sobald sie die Prüfung hat, die Arbeitszeit für die Gesellin eingeschränkter ist.
Die Aufgabe von künftigen Arbeitszeitregelungen kann daher nicht eine Ausdehnung um jeden Preis sein, sondern das Ziel muß eine Einschränkung insbesondere für Nachtarbeit bei Männern und Frauen sein; denn Nachtarbeit ist für Männer und Frauen gesundheitsschädlich.
Ruhepausen sind für Männer und Frauen arbeitsmedizinisch gleichbedeutend. Die Anpassung der Regelungen für Männer an die Pausenregelung für Frauen ist angezeigt. Hier geht es um die. Gleichberechtigung der Männer. Bei Männern ist nämlich erst nach sechs Stunden eine Ruhepause vorgeschrieben. Ich meine, daß es dringend angezeigt ist, die Pausenregelung so zu gestalten, daß eine Pause wie bei Frauen mindestens nach viereinhalbstündiger Arbeitszeit notwendig ist.
Das Beschäftigungsverbot für Frauen im Baugewerbe und in anderen Wirtschaftszweigen bedarf einer intensiven Überprüfung hinsichtlich der Gesundheitsgefährdung. Jetzt vorhandene Ausnahmen von den Schutzvorschriften haben gezeigt, daß auch Frauen in diesen gewerblich-technischen Berufen erfolgreich tätig sein können und wollen. Die Ausdehnung der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen an Hochöfen und in Bergwerken verstehe ich allerdings nicht als sozialen Fortschritt im Arbeitsleben. Eine solche Forderung wird meistens von solchen Frauen erhoben, die selbst nie in die Gefahr kämen, ihr Geld wirklich an diesem Arbeitsplatz verdienen zu müssen.
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In den vergangenen Jahren sind bereits eine Reihe von Verordnungen überprüft worden, und sie sind den Verhältnissen der heutigen Arbeitswelt angepaßt worden. Dies muß kontinuierlich weitergehen. So sind von den 451 Ausbildungsberufen heute 420 für Männer und Frauen gleichermaßen zugänglich. Die angelaufenen Arbeitsmöglichkeiten im Baunebengewerbe sind ein Schritt in die richtige Richtung. Die Empfehlungen der Enquete-Kommission hinsichtlich einer generellen Zulassung im
Bauhauptgewerbe muß jedoch sehr differenziert gesehen und bei den weiteren Ausschußberatungen sorgfältig überprüft werden. Man sollte sich auch davor hüten, eine Aufhebung nur deshalb zuzulassen, weil Tätigkeiten in manchen Bereichen für Männer heute unattraktiv geworden sind.
Ich betone noch einmal: Die persönliche, körperliche und gesundheitliche Eignung wird bei dem stärker zu beachtenden individuellen Arbeitsschutz für Männer und Frauen im Vordergund zu stehen haben. Dabei werden wir übrigens verstärkt darauf zu achten haben, ob das Arbeitssicherheitsgesetz hier eigentlich schon seine Aufgabe erfüllt. Wir werden uns dabei überlegen müssen, welche Verbesserungen wir in diesem schon bestehenden Gesetz vorzunehmen haben. Auch dies ist also eine Aufgabe bei den weiteren Beratungen über den Enquete-Bericht und der Entwicklung des Arbeitsschutzes schlechthin. Wohin müssen wir im Arbeitsschutz gehen, wenn Frauen gleiche Chancen auf einem ungeteilten Arbeitsmarkt haben sollen?
Erstens. Wir brauchen ein umfassendes Arbeitsschutzgesetz für Männer und Frauen, das für alle Wirtschaftszweige und Tätigkeiten gilt. Auch der öffentliche Dienst darf nicht ausgeschlossen bleiben. Es kann nicht länger angehen, daß der privaten Wirtschaft besondere Anstrengungen auferlegt werden und der öffentliche Dienst außen vor bleibt. Zweitens. Neue Regelungen müssen der Humanisierung des Arbeitslebens dienen. Soweit erforderlich und möglich, sollten Verbote durch einen individuellen Gesundheitschutz ersetzt werden, der für Frauen und Männer in gleicher Weise gilt.
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Das heißt also: Unser Grundsatz muß lauten: Abbau der Arbeitsbelastung für Frauen und Männer gleichermaßen; Beschränkung auf das technisch unumgängliche Mindestmaß an gesundheitlichen Risiken für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in sämtlichen Bereichen der Arbeitswelt.
Zusammenfassend: Arbeitsschutz ist ein wesentlicher Teil menschengerechter Gestaltung der Arbeitswelt. Arbeitsschutz ist kein frauenspezifisches Thema. Menschengerechte Arbeitswelt ist Grundlage der Humanisierung der Arbeitswelt. Diese ist für Männer und Frauen gleichermaßen bedeutsam. Sie geht uns alle an.
Meine Fraktion begüßt die Empfehlung der Enquete-Kommission. Die SPD-Fraktion wird wie immer intensiv daran mitarbeiten, daß aus diesen Empfehlungen möglichst bald die notwendigen gesetzlichen Konsequenzen gezogen werden.
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Damit geschieht wieder ein Stück Fortentwicklung in der Sozialpolitik.
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Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur zu einem einzelnen Punkt der Enquete etwas sagen und in Wirklichkeit etwas wiederholen, was ich im ganzen Land seit vielen Jahren, viele hundert Jahre, viele hundert Male schon
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- viele hundert Male schon; ja; nicht hundert Jahre; aber doch mindest über 10 Jahre lang! - gesagt habe.
Zwei Vorbemerkungen: Ich denke, daß hier bei gewissen kontroversen Untertönen, die man nicht überhören kann, andererseits auch wohl doch Übereinstimmung darin besteht, daß das vor vier Jahren verabschiedete, jetzt geltende Ehe- und Familienrecht zwar in der Alltagspraxis die partnerschaftliche Gleichstellung der Frauen natürlich nicht in befriedigendem Maß schon hat bewirken oder verbessern können - dazu bedarf es, wie hier vielfach gesagt worden ist, weitestgehend des Umdenkens der vielen einzelnen in der Gesellschaft insgesamt und der Abkehr von traditionellen Rollenvorstellungen und so fort -, wenngleich diese Gesetzgebung manches gebessert hat.
Zum zweiten möchte ich vorweg bemerken, daß mir scheint, daß der Trend zur partnerschaftlichen Grundeinstellung in der Arbeitswelt, auch in der Familie, auch im Haushalt doch zugenommen und sich in den letzten Jahren eigentlich erheblich verstärkt hat und daß die Kolleginnen im Bundestag daraus eigentlich ein wenig Ermutigung schöpfen sollten. Man sollte es nicht so darstellen, als ob alles unverändert so sei wie zu Schillers Zeiten, aus dessen „Glocke" wir eben zitiert gehört haben, und, Frau Steinhauer, ich werde das Zitat noch ein bißchen fortsetzen; da fehlt nämlich noch ein entscheidender Teil. Ich finde, wir sollten diesen Trend konstatieren. Er ist von allen Seiten positiv zu bewerten. Man soll ihn zum Anlaß für Ermutigung nehmen, man soll ihn fördern.
Ich möchte mich insbesondere wenden an die Frauen selbst, an die Mütter. Es gibt in dem Bericht der Enquete diesen Schlüsselsatz, daß die Analyse der Situation gezeigt habe, daß die eigentlichen Ursachen für die mangelnde Chancengleichheit der Frauen nach wie vor in der traditionellen Rollenfixierung zu suchen seien, ein Klischee, nach dem der Mann für Gelderwerb verantwortlich, die Frau verantwortlich sei für Haushalt und Kindererziehung. Das ist wohl weitgehend richtig. Die Frau Kollegin Steinhauer zitierte soeben Schiller „... hinaus muß ins feindliche Leben". Das geht aber noch ein bißchen weiter, was den Mann betrifft:
Muß wirken und streben Und pflanzen und schaffen, Erlisten, erraffen, ...
Und was die Frau betrifft, geht es auch weiter, als Sie zitiert haben. Da heißt es nämlich:
Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen ...
Und das ist Punkt, an dem ich anknüpfen möchte.
({1})
Also der Schiller mit der „Glocke" hat hier mit unseren heutigen Vorstellungen nicht mehr viel zu tun.
Ein besonders schlimmes Hindernis auf dem Wege zur tatsächlichen Gleichstellung ist die Vorstellung, die in der letzten Zeile eben vorkam: die Hausfrau lehret die Mädchen! Es ist nicht so, daß, wenn die Mutter die Mädchen lehrt, das ausreicht für das weitere Leben der Frau. Dies wäre ein Fehler. Inzwischen weiß man, daß es für die Töchter ganz gewiß unverzichtbar ist, was sie von der Mutter erfahren, was sie von der Mutter lernen können, daß die Verbindung zur Mutter unverzichtbar ist, daß es aber für den weiteren Verlauf des Lebens, eben für die Verwirklichung der Chance zur Gleichstellung entscheidend ist, was sie für den Beruf lernen.
({2})
Was einer Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen, wenn sie aus der Schule kommt, an Ausbildung verweigert wird, das kann nur im Ausnahmefall später im Leben nachgeholt werden. In der Mehrzahl der Fälle kann sich eine Frau von dieser Benachteiligung, die ihr in der Jugend zugefügt worden ist, später nicht mehr erholen. Insbesondere dann nicht, wenn sie später, wenn etwa die Kinder aus dem Hause sind oder wenn mit der Familie etwas schiefgegangen ist oder aus was für Gründen immer, wieder ganz in den Beruf gehen möchte, um auf eigenen Beinen zu stehen, und sich dann plötzlich in der Situation befindet, daß sie nichts gelernt hat. Das ist eine Benachteiligung, die sich im Lebensalter von 40 oder 45 Jahren nur noch im Ausnahmefall wieder gutmachen läßt. Und die Schuld dafür liegt bei den Eltern, die die Fünfzehn- oder Sechzehnjährige nicht haben einen Beruf erlernen lassen,
({3})
oder wenn, dann den Beruf der Friseuse, den sie mit 40 oder 45 Jahren nicht erneut ausüben will.
Dieser Punkt ist hier schon von mehreren Rednern behandelt worden.
({4})
Ich habe ihn auch schon viele hundert Male behandelt und möchte ihn hier doch wiederholen, nicht so sehr für die Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, sondern ich sage das eigentlich mehr für diejenigen, von denen ich hoffe, daß sie diese Debatte des Bundestages, die im wesentlichen von den Kolleginnen geführt wird, verbreiten und ihr Publizität verleihen: Es ist notwendig, daß man sich nicht nur die Hacken abläuft für einen fünfzehn- oder sechzehn-jährigen Jungen, der aus der Schule kommt, damit er eine Lehrstelle findet, sondern es ist genauso notwendig, daß man sich auch für die Mädchen
die Hacken abläuft, damit sie ebenfalls eine Lehrstelle bekommen.
({5}) Es gibt viele Familien - ({6})
- Wissen Sie, mir steht heute morgen der Sinn gar nicht nach Polemik. Wenn ich Sie, Herr Kollege, mit Ihren Zwischenrufen im Bundestag höre, dann erst recht nicht.
({7})
Es gibt im Augenblick in der deutschen Volkswirtschaft so viele Ausbildungsplätze wie niemals zuvor.
({8})
- Warum? Weil das deutsche Handwerk ({9})
unseren dauernden Bitten entsprochen hat - übrigens nicht nur das Handwerk, aber ich nenne es an erster Stelle; ich will aber auch den Einzelhandel nennen, ich will auch die Industrie nennen;
({10})
wir haben zur Zeit in der deutschen Volkswirtschaft mehr Lehrstellen als jemals zuvor -, aber nicht zuletzt auch deshalb, weil wir ein Gesetz verabschiedet haben
({11})
- aber selbstverständlich -, das die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht hat.
({12})
Aber woran mir liegt, Herr Kohl, ist folgendes - da brauchen wir nicht gegeneinander zu polemisieren; ich habe den Eindruck, Sie möchten im Grunde nichts anderes vertreten als das, was ich sage -: daß diese zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze
- es bleiben ja sogar Ausbildungsplätze schon wieder unbesetzt, und der sogenannte Babyberg, der Mitte der 60er Jahre zu verzeichnen war, wird sehr schnell abnehmen; dann bleiben bald viele Ausbildungsplätze unbesetzt - nicht nur zu einem Drittel von Mädchen in Anspruch genommen, sondern zur Hälfte, wie sich das nun einmal nach der Bevölkerungsstatistik ungefähr aufteilen müßte.
({13})
- Schönen Dank dafür, daß wir wirklich übereinstimmen, wie ich sehe.
Ich meine, daß bei einer solchen Gelegenheit, wo vor dem Bundestag über Gleichberechtigung debattiert wird, die Ermunterung oder der Appell an die Mütter - übrigens natürlich auch an die gleichberechtigten Väter - ausgehen sollte, dafür zu sorgen, daß es mit dem traditionellen Denken in vielen Familien aufhört: Sie ist ja gut gewachsen, sie sieht gut aus, und sie wird bald heiraten; lassen wir sie schnell Geld verdienen, die Berufstätigkeit wird ja nicht ewig dauern. Das ist eine Einstellung, die in vielen Familien vorwaltet und die erledigt werden muß. Diese Einstellung kann man nicht durch Gesetz erledigen, die kann man nur durch steten Tropfen der Überredung erledigen. Und die jungen Menschen müssen dazu selber beitragen, sie müssen ihrerseits auch ihre Forderungen stellen.
({14})
Von den berufstätigen Frauen sind heute 44 Wo ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Bei den Männern sind es nur 27 %. Das zeigt, daß hier Generationen lang immer wieder derselbe Fehler gemacht worden ist; immer in der Vorstellung, daß das lebensentscheidende Jawort demnächst, irgendwann in ein paar Jahren bevorsteht. Mir scheint unter dem Aspekt der Gleichberechtigung, der Verwirklichung der Gleichheitschancen entscheidend zu sein, daß das Ja zur Berufsausbildung dem anderen Ja viele Jahre vorausgeht.
({15})
Nur um andere in unserer Gesellschaft auf diesen Punkt aufmerksam zu machen, rede ich hier.
Ich habe das Handwerk schon gelobt. Es hat in diesem Zusammenhang auch Lob verdient.
({16})
Ich weiß nicht, wie oft ich mit Herrn Schnitker und anderen im Verlauf der letzten sieben Jahre über dieses Thema geredet habe, aber auch mit anderen Branchen der deutschen Unternehmerschaft. Das Handwerk hat zwar Schrittmacherdienste geleistet, aber andere Branchen dürfen auch gelobt werden.
Im übrigen ist in den Hochschulen und Fachhochschulen auch eine gewisse Besserung deutlich ablesbar. Vor zehn Jahren waren 26 % der Studenten Frauen; heute sind es 36 %. Da ist etwas in Bewegung gekommen.
Ich wollte mich wirklich auf diesen einen Punkt beschränken und am Schluß folgendes sagen. Man kann letztlich mit noch so viel guter Gesetzgebung die Gleichstellung der Frauen nicht erreichen, wenn die Mütter und die Väter am Anfang des Erwachsenenlebens diesen schweren Fehler machen; da kann man hinterher Gesetze machen, wie man will.
Nun sind es nicht nur die Eltern, die hier gefragt sind; es sind auch die Betriebsleiter, die Personalleiter, es sind auch die Betriebsräte, die hier gefragt sind.
({17})
- Und die Betriebsrätinnen, richtig. Und es sind die Schulen, die Einfluß auf die Vorstellungswelt ihrer Schülerinnen haben, ehe sie von der Hauptschule oder von welcher Schule auch immer entlassen werden.
Es ist auch Aufgabe der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften und die Betriebsräte haben hinterher Einfluß auf Arbeitsplatzbewertungen. Mir ist z. B. geläufig, daß die Industriegewerkschaft Metall im Laufe der letzten Jahre in Tausenden von Fällen Höherstufungen erreicht hat. Ich mache viele Betriebsbesuche in einem Jahr und interessiere mich für dieses Thema immer wieder.
Ich stelle dabei übrigens fest, daß es zuwenig weibliche Betriebsräte gibt. Auch da ist allerdings ein positiver Trend vorhanden. Der Anteil hat etwas zugenommen. Aber der Anteil weiblicher Betriebsräte entspricht noch nicht dem Anteil weiblicher Arbeitnehmer in den Unternehmungen. Da ist auch noch etwas nachzuholen. Ein positiver Trend ist vorhanden; auch die Enquete zeigt diesen Fortschritt.
Aber man muß auch die Betriebsräte immer wieder ermahnen, mitzuwirken bei der Eröffnung von Ausbildungsplätzen - oder, wie man früher gesagt hat, von Lehrstellen - für Mädchen. Ich habe mir selber in manchen Fällen - ich habe ja auch einen Wahlkreis zu betreuen - persönlich Mühe gegeben und weiß, wie schwierig das in manchen Bereichen ist - nicht nur bei der Unternehmensleitung -, zum erstenmal Lehrlinge weiblichen Geschlechts einzustellen, sondern auch beim Betriebsrat. Ich kann davon ein langes Lied singen.
Ich meine, daß die Kolleginnen unter uns ihr Augenmerk nicht nur auf die Gesetzgebung richten sollten, die vielleicht noch einiges bessert. Die Bundesregierung wird sich mit dem Ergebnis der Enquete sicherlich sorgfältig befassen, auch unter dem Aspekt zukünftiger Gesetzgebung. Sie, liebe Kolleginnen, sollten aber bitte das Heil nicht etwa nur oder wesentlich von der Gesetzgebung erwarten,
({18})
sondern bitte sich bemühen im Beruf, in der Wirtschaft, im Betriebsrat, in der Gewerkschaft, in der Wahl zum Betriebsrat
({19})
- im Tarifvertrag, sehr einverstanden - und gegenüber den jeweiligen Personalleitungen oder Betriebsleitungen oder dem Meister.
Ich will also zu all den anderen großen Problemen, die die Enquete zusammengefaßt hat - manche davon waren uns schon früher immer bewußt - von mir aus nichts mehr beitragen, sondern nur den Appell an die Eltern wiederholen, den ich schon viele Male ausgesprochen habe, zuletzt in der Regierungserklärung nach der Bundestagswahl.
Ein Thema, darf ich den Kolleginnen sagen, ist in der Enquete nicht berührt. Vielleicht können Sie sagen, es seien viele nicht berührt. Aber eines ist nicht berührt, das mich im Augenblick und auch schon seit einer Reihe von Jahren besonders beschäftigt. Darum wird sich dann vielleicht Frau Liselotte Funke in ihrer heutigen Eigenschaft kümmern müssen. Ich meine nämlich das Thema der ausländischen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland
({20})
und das Thema der ausländischen Mütter und das Thema der ausländischen Töchter und ihrer Berufsausbildung in unserem Land. Wir schaffen sonst nicht die Integration dieser vielen Millionen Ausländer, die ja nicht alle wieder nach Hause wollen. Für manche von denen, die hier von Kind auf aufwachsen, ist nicht Anatolien ihre Heimat, sondern die sind in einem Vorort von Frankfurt am Main zu Hause, und nichts anderes kennen sie; die Heimat der Eltern ist ihnen viel fremder als Deutschland. Es wird uns nicht gelingen, sie hier seßhaft zu machen, ihnen ein Heimatgefühl zu geben, sie zu integrieren, wie man heute auf Hochdeutsch sagt, wenn es uns nicht gelingt, ihnen die gleichen Chancen zu geben wie unseren eigenen Jungen und Mädchen. Und den Mädchen gegenüber ist das noch notwendiger als den Jungen gegenüber.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Krone-Appuhn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf wohl im Namen aller Frauen dieses Hohen Hauses sprechen, wenn ich dem Herrn Bundeskanzler dafür danke, daß er selbst erschienen ist und seinen Diskussionsbeitrag zum Enquete-Bericht hier selber gegeben hat.
({0})
Wir hoffen, Herr Bundeskanzler, daß sich die heutige Einschätzung der Wichtigkeit des Enquete-Berichts auf die Diskussion im Lande auswirken und die Situation der Frauen in Deutschland wirklich verbessern wird.
Es geht uns allerdings nicht um Gleichheitschancen - Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von Gleichberechtigung und Gleichheitschancen -; uns geht es um Gleichberechtigung und Gleichwertigkeitschancen. Gleich wollen wir den Männern nicht sein.
({1})
Wir begrüßen Ihren Appell an die Mädchen, einen Beruf zu erlernen. Das ist gerade in unserer heutigen Zeit ganz besonders wichtig; denn wir haben den Trend zu verspüren, daß die Mädchen dazu neigen, nach Hause zurückzugehen, zu Hause zu bleiben, sich nicht ausbilden zu lassen, weil sie nicht genügend Plätze zu finden glauben. Wir müssen diesem Trend entgegenwirken.
Ich hoffe, daß das, was Sie in bezug auf den Trend zur Partnerschaft sagten, stimmt. Wir werden es im einzelnen zu untersuchen haben. Frau Bundesminister Huber ließ uns vorhin schon etwas hinter die Kulissen schauen. Ich werde darauf zurückkommen.
Wenn man sich die Frauenliteratur der letzten 100 Jahre anschaut, findet man immer wieder Denkansätze, die Perspektiven eröffnen, welche eine glücklichere und freiere Zukunft für die Frau in Aussicht stellen. Für die Lebensgestaltung der Frau ist das Leben in der Familie mindestens ebenso wichtig wie das Leben in der Arbeitswelt. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß die CDU/CSU die Tätigkeit in der Familie der Tätigkeit im Berufsleben gleichsetzt, was dankenswerterweise der Enquete-Bericht bestätigt.
In den letzten 100 Jahren konnten im Berufsleben für die Frauen manche Fortschritte erzielt werden. Im Familienleben sind trotz zahlreicher Versuche der Umgestaltung die Probleme jedoch fast unverändert geblieben. Theoretiker meinten, die Veränderung der Staatsform oder der gesellschaftlichen Bedingungen oder die Behandlung des Themas „Familie" in den Medien würden auch hier für die Frau einen Wandel herbeiführen. So war Bebel z. B. der Auffassung, die Demokratie würde die Frau befreien. Daß es auch die Sozialdemokratie nicht ganz schafft, sehen wir an dem Protest der AsF am Niederrhein. Die Klassikerin der Emanzipationsliteratur, Simone de Beauvoir, glaubte an die Befreiung der Frau durch die Erwerbstätigkeit - eine Theorie, der übrigens heute noch alle Sozialisten anhängen.
Christine Collange meint neuerdings, die durch die Emanzipationsdiskussion in den Medien verunsicherten Männer seien bereit, 15 bis 30 % der Hausarbeit zu erledigen, wobei sie allerdings niedere Arbeiten nicht tun möchten, was ich verstehen kann, und einen Nachwuchs für Paschas gäbe es nun trotzdem nicht mehr.
Aus diesem Grunde ist es wichtig, daß wir uns der Situation der Frau in der Familie zuwenden. Es ist selbstverständlich den Ehepartnern auf Grund unserer Rechtsordnung selbst überlassen, sich über die Aufgabenverteilung in der Familie zu einigen. Aber es gibt zahlreiche Probleme sowohl für die NurHausfrau als auch für die erwerbstätige Frau, mit denen wir uns hier beschäftigen müssen, um zu sehen, wie wir helfen können.
Entscheidet sich die Frau, ausschließlich in der Familie tätig zu sein, dann wurde sie noch vor zehn Jahren mitleidig belächelt und als „grüne Witwe" diffamiert. Angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt und der zu akzeptierenden Realität im Berufsleben für die Frau beginnt man jedoch, dem Dasein der Nur-Hausfrau wieder mehr Wert beizumessen. Auch die Frau selber, die sich ausschließlich für die Familie entschieden hat, hat ein neues Selbstwertgefühl.
({2})
So schreibt Maria Frisé in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Familienfrauen lassen sich gewiß nicht mehr mit der althergebrachten Demut alles aufpakken, was an häuslichen Lasten anfällt.
Und ich finde das richtig so. Wir beobachten in der Politik in den letzten Jahren mit Freude, daß die Frauen die Möglichkeit, ihren Tag selbst einzuteilen und ihr Leben im Hause in eigener Verantwortlichkeit zu gestalten, vielfach dazu nutzen, vor allem in der Kommunalpolitik tätig zu sein oder sich an vernünftigen Bürgerinitiativen zu beteiligen, sich im sozialen Bereich zu engagieren.
Trotzdem wissen wir, daß die ausschließliche Tätigkeit im Hause in ihrer Bedeutung vielfach verkannt wird und der Funktionsverlust, der durch Technisierung und Rationalisierung der Hausarbeit hervorgerufen wurde, noch zu Diskriminierungen zusätzlicher Art führt.
Frauen leiden in der modernen Kleinfamilie oft unter der Isolation. Auf zu engem Wohnraum sind sie eingepfercht und glauben, daß ihre zeitliche und persönliche Beanspruchung als Hausfrau in einem unausgewogenen Verhältnis zu ihren Betätigungswünschen und Fähigkeiten steht. Den Wert der Hausfrau erkennt man erst, wenn sie ihre Arbeit nicht mehr tut.
({3})
Es geht mir hier nicht um die aufgeräumte gute Stube, meine Herren, oder um arrangierte Paradekissen. Ich möchte aber doch einmal darauf hinweisen, wieviel Wärme und Freude für die Familie davon ausgehen kann, daß sich die Frau bemüht, im Hause eine persönliche Atmosphäre zu schaffen und für die Kinder wirklich da zu sein.
({4})
Wir sollten aber dafür Sorge tragen, daß diesen Frauen, die das Opfer gern für ihre Familien bringen, der Kontakt zum erlernten Beruf nicht verlorengeht, und versuchen, die Bildungsmotivation dieser Frauen aufrechtzuerhalten.
({5})
Vielfach führt nämlich die Isolation dazu, daß die Frauen verzagen, keinen Mut mehr haben und glauben: Wir können ja sowieso nicht mehr mitreden; die, die draußen sind, wissen alles besser, und wir sitzen hier und dürfen nichts mehr tun. Das müssen wir den Frauen abgewöhnen. Hier, meine Damen und Herren, lohnen sich Modellversuche mit Hilfe der Erwachsenenbildung, um die Frauen aus dieser Ghetto-Situation herauszuholen.
({6})
Die Sicherung von Möglichkeiten zur Rückkehr in den erlernten Beruf halte ich für ganz wichtig und entscheidend.
({7})
Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das, was man einmal gelernt hat, nicht rückholbar ist. Wenn man etwas gelernt hat, sollte man, wenn man seiner Aufgabe als Familienfrau
nachgekommen ist, die Chance auch nutzen und das Erlernte danach dann wieder im Beruf anwenden.
({8})
Die psychische Belastung der Frauen während der Arbeitszeit des Mannes und der Schulzeit der Kinder, die durch die Vereinsamung entsteht, kann dadurch abgebaut werden, daß die Zeit des Alleinseins nach erledigter Hausarbeit für die Fortbildung genutzt wird oder, wie es gerade im Großraum Bonn häufig üblich ist, am Vormittag Kontakte zu anderen Frauen hergestellt werden, um bei der Lösung sozialer Probleme behilflich zu sein oder politische Initiativen zu ergreifen.
Die Leistungen, die die „Nur-Hausfrau" für die Gesellschaft erbringt, war früher eine Selbstverständlichkeit; heute, wo sie keine Selbstverständlichkeit mehr ist, erkennen wir, wie wichtig für die Erziehung der Kinder die Anwesenheit der Mutter vor allem in den ersten Lebensjahren ist.
({9})
Eine Anerkennung dieser Leistung muß sich in der Rentenversicherung niederschlagen. Die CDU/CSU schlägt dafür nach wie vor, auch und gerade nach der Wahl, fünf Jahre pro Kind vor. Das möchte ich hier noch einmal betonen.
({10})
Gerade weil wir wissen, wie wichtig die Anwesenheit der Mutter beim Kleinstkind ist, plädieren wir auch nach wie vor dafür, daß vor allem die Frauen, die gezwungen sind, berufstätig zu sein, materielle Hilfe bekommen, um in den ersten Jahren bei ihren Kindern sein zu können.
Besondere Probleme ergeben sich für die Familien, wenn durch einen Unfall im Haushalt die Mutter ausfällt. Es ist begrüßenswert, daß der Enquete-Bericht aus diesem Grunde wenigstens auf freiwilliger Basis die Möglichkeit einer Unfallversicherung eröffnen möchte. Ich bin mir der Problematik dieses Themas durchaus bewußt. Aber auf Grund der komplizierten und tragischen Fälle, über die wir immer wieder in der Presse lesen, in denen keine Versicherung besteht und die Frauen sterben oder arbeitsunfähig werden, bin ich der Meinung, daß wir letztendlich eine Pflichtversicherung für jede Hausfrau anstreben sollten.
Ganz besonderen Belastungen sind die berufstätigen Frauen ausgesetzt, die zusätzlich eine Familie zu versorgen haben. Während man vor zehn Jahren die Berufstätigkeit der Familienmutter noch als Selbstverwirklichung pries und die Frau um jeden Preis in dieser Weise emanzipieren und sie in außerhäusliche Erwerbstätigkeit einführen wollte, bekommen wir heute Berichte sowohl von Ärzten als auch durch die Presse über neue Frauenkrankheiten, deren Ursprung man sich zunächst nicht erklären kann, und die im psychosomatischen Bereich liegen. Grund für die Entwicklung dürfte die permanente Doppel- und Dreifachbelastung sein. Die berufstätige Familienmutter muß nämlich den Feierabend und das Wochenende zur Erledigung der Hausarbeit aufwenden. Selbst in den Ferien gibt es für sie keine Ruhepause, weil sie im Zelt, Wohnwa1176
gen oder Ferienappartement ihre Tätigkeit am anderen Ort fortsetzen muß.
({11})
Bei FlaRak-Battaillonen bekämpfen wir die 70Stunden-Woche voll Energie. Bei den Hausfrauen ist die 70-Stunden-Woche normal. Man nimmt sie hin. Man wundert sich, wenn diese Frauen krank werden. Man beklagt es, wenn sie sich nicht ausreichend noch zusätzlich bei uns in den Parteien oder im DGB oder in den Verbänden engagieren. Ich glaube, daß wir hier Abhilfe schaffen müssen.
Helge Pross hat im Jahr 1975 in einer internationalen Untersuchung festgestellt, daß in Ost wie West 80 % der Hausarbeit von den berufstätigen Frauen selbst erledigt werden müssen. Der Grund dafür liegt im tradierten Rollendenken. Die Entwicklung in den sozialistischen Ländern zeigt also, daß es nicht ausreicht, die Staatsform und die gesellschaftlichen Bedingungen zu ändern, die Frau ins Arbeitsleben zu integrieren und die Kinder staatlichen Institutionen zu überlassen, um hier ein Umdenken zu erreichen.
({12})
Wenn Sie sich einmal mit Mitgliedern der sowjetischen Akademie der Wissenschaften unterhalten, dann werden Sie feststellen, auch deren Rollendenken hat sich nicht geändert. Mir gegenüber hat einmal ein Professor gesagt, als er das Verhältnis zwischen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre schildern wollte, in dieser Liaison sei Simone de Beauvoir der Mann. Daran sehen Sie, meine Damen und Herren, auch 60 Jahre Sozialismus nützen nichts, um das Rollendenken zu ändern.
({13})
Es kommt also - meine Herren, lachen Sie nicht zu früh - auf eine Umerziehung an, und zwar auf eine Umerziehung in den Schulen, eine Überprüfung der Schulbücher auf alte Rollenklischees, eine Vorbereitung von Jungen und Mädchen auf Ehe und das Berufsleben im technischen und im hauswirtschaftlichen Bereich und eine Erziehung zur Partnerschaft im Rahmen der Erwachsenenbildung.
Das alles reicht aber nach meinem Dafürhalten noch nicht aus. Auf Grund der Erkenntnisse der Vorschulpädagogik wissen wir, daß Erziehung zur Partnerschaft wesentlich früher beginnen muß, d. h. in der Familie. Das heißt auch, daß bereits das Kleinkind durch das Vorbild des Vaters geprägt wird.
({14})
Fragt man heute Männer, ob sie bereit sind, Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, dann wird man sicher die gleichen Ergebnisse erzielen wie Frau Collange. Sieht man aber hinter die Kulissen, dann stellt man fest, daß Männer in ihrer Freizeit in der Regel ihre Hobbys und ihre Autos pflegen, die Hausarbeit der Frau überlassen und die Kindererziehung selbstverständlich auch.
({15})
Frau Minister Huber hat dafür schon recht gute Beispiele gebracht.
Wir können natürlich nicht staatlicherseits die Männer an den Kochtopf beordern. Wir sollten uns aber bemühen - und das ist nicht nur Aufgabe des Familienministeriums -, darauf hinzuwirken, daß sich die Ehepartner die Mehrbelastung, die durch Beruf und Familie entsteht, wirklich teilen. Dazu ist erforderlich, Buben und Mädchen sowohl für den Beruf als auch auf das Familienleben vorzubereiten und zu erziehen. Die besten Theorien nützen jedoch nichts, wenn der Erzieher nicht gleichzeitig Vorbild ist.
({16})
Aus diesem Grunde wäre es gut, wenn die männlichen Mitglieder dieses Hohen Hauses nicht nur im Wahlkampf Hobbykoch und Freizeitvater für die Medien wären, sondern sich wirklich Zeit für ihre Familie nähmen.
({17})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß in dieser Debatte Technik, Gesetze und Regelungen sehr stark im Vordergrund stehen. Ich werde darüber gleich auch noch etwas sagen. Aber ich glaube, ein bißchen zu kurz kommt die Beschreibung und Diskussion darüber,
({0})
was an Bitterkeit, an Befürchtungen, an Ängsten, an Frustrationen, an Enttäuschungen bei vielen Frauen vorhanden ist. Wir haben in den letzten Jahren z. B. das Anwachsen einer starken feministischen Bewegung feststellen können. Ich will mich nicht mit allen oder auch nur den meisten Forderungen dieser Bewegung identifizieren. Ich glaube aber, daß der Unmut, die Empörung und die Enttäuschung darüber, daß trotz 32 Jahren Grundgesetz und Gleichheitssatz vieles noch nicht geschehen ist, bei diesen Frauen zu Recht bestehen. Dafür gibt es viele Gründe, die sich im einzelnen belegen lassen. Ich will hier nur einige wenige nennen.
So erhielt ich beispielsweise 1978 eine Zuschrift einer jungen Rechtsanwältin, die sich um eine Position in einem Frankfurter Rechtsanwaltsbüro beworben hatte. Sie erhielt folgendes Antwortschreiben:
Für Ihre Zuschrift danken wir Ihnen verbindlich, müssen Ihnen jedoch mitteilen, daß wir die ausgeschriebene Position mit einem männlichen Kollegen besetzen möchten. Sie werden im wahren Sinne des Wortes naturgemäß früher oder später Mutterpflichten übernehmen und dann für längere Zeit nicht mehr den Aufgaben einer freiberuflichen Tätigkeit nachkommen können. Mit besten Grüßen usw.
Oder: Noch immer werden im Strafvollzug, also beim Staat - wir reden hier nicht nur von der privaFrau Matthäus-Maier
ten Wirtschaft, sondern auch von staatlichen Institutionen -, Frauen bei ihrer Vorbereitung auf die Haftentlassung benachteiligt. Da nämlich die Verwaltung befürchtet, die Frauen könnten während des Hafturlaubs schwanger werden, gewährt sie den Frauen später Hafturlaub als den Männern.
Oder - und das kommt in der öffentlichen Diskussion, wie ich finde, viel zu kurz -: Alleinstehende Mütter z. B. von drei Kindern werden steuerlich viel schlechter behandelt als das kinderlose Ehepaar.
({1})
Ein weiteres Beispiel: Noch immer werden Frauen in der Werbung diskriminiert. So wurde in einem Magazin für Taschendiktiergeräte geworben mit der Abbildung nackter Frauen neben folgendem Text:
Spielzeug für Männer - Diese Geräte haben mit Mädchen manches gemeinsam: handlich, immer wieder bespielbar und stets bereit.
Meine Damen und Herren, ich glaube, auch dieses muß hier vorgetragen werden, um eben aufzuzeigen, daß es nicht nur darum gehen kann, über gesetzliche Regelungen und Techniken zu sprechen, die wichtig und sinnvoll sind als Voraussetzung für einen Abbau von Diskriminierungen, sondern auch darüber, wie die Konzeption ist, in der es weiter gehen soll.
Herr Gerster, Sie haben hier antike Harmonievorstellungen vorgetragen. Ich kann Ihnen nur sagen, das, was ich zitiert habe und was sich beliebig erweitern ließe, hat mit Harmonie überhaupt nichts zu tun. Deswegen kommt es darauf an, hier anzusetzen, und deswegen kommt es auch darauf an, Frau Verhülsdonk, Träume und Utopien zu haben. Sie haben sich z. B. dagegen gewandt, daß es in diesem Hause Leute gibt - ich zähle mich dazu, weil ich das seit rund 10 Jahren vertrete -, die sagen, wir brauchten auf Dauer eine Arbeitszeit von z. B. 6 Stunden für Mann und Frau gemeinsam, damit die verschiedenen Rollen in Beruf, Familie und Politik von beiden gemeinsam wahrgenommen werden können, und das geht eben nur bei deutlich reduzierter Arbeitszeit. Sie, Frau Verhülsdonk, haben gesagt, das sei eine Utopie, und Sie hielten gar nichts davon. Ich glaube, daß es richtig ist, solche Utopien und solche Träume, wie wir es nennen, zu haben, um zu sehen, wohin die Reise geht, und um den Enttäuschten zu zeigen, was man tun kann.
({2})
Selbstverständlich kann das nicht von heute auf morgen sein. Gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Situation ist es schwieriger als vor 10 oder 20 Jahren.
({3})
- Herr Kohl, es ist doch unstreitig, daß es bestimmte Situationen gibt, in denen es schneller geht oder nicht so schnell. Selbstverständlich streben wir aber ein solches Ziel nach wie vor an, und selbstverständlich ist die Frage des Lohnausgleichs bei diesem Problem je nach wirtschaftlicher Situation anders zu beurteilen. Das wissen wir alles, trotzdem lassen wir uns aber nicht das Recht nehmen, auch solche langfristigen Konzeptionen aufzuzeigen, damit der Bürger und auch die Frauen wissen, wie es nach unserer Vorstellung weitergehen soll.
Nur mit solchen konkreten, auch weitergehenden Utopien werden Sie mittel- und langfristig Wege eröffnen, daß wir nicht nur eine Gleichberechtigung der Frau bekommen, sondern auch eine Gleichberechtigung des Mannes. Ich weiß, daß sich immer mehr Männer dagegen wehren, daß sie z. B. bei der Kindererziehung nicht gleichberechtigt sind, daß sie eben von 8 bis 17 Uhr im Beruf sind und nicht einmal merken, wenn die Kinder groß sind. Nur wenn Sie solche Utopien, wie Sie es nennen, aufweisen, haben Sie die Chance, wie es die ehemalige Kollegin Funcke sehr schön ausgedrückt hat, von der mutterlosen Gesellschaft - wir sehen das j a; das ist heute hier nicht repräsentativ, die vielen Frauen, die hier sitzen, machen nur einen Bruchteil der Mitglieder dieses Parlaments aus - und der vaterlosen Familie wegzukommen. Ich finde, deswegen gehören Emotion und Hoffnung, aber auch Enttäuschung in diese Debatte.
Man sollte darüber nicht vergessen, daß wir eine ganze Menge erreicht haben. Wer das tut, der handelt unredlich. Wir haben noch im letzten Jahr ein Gesetz, das EG-Anpassungsgesetz, verabschiedet, das zu tatsächlichen Veränderungen führt. Es ist ein Beispiel dafür, daß wir durchaus auch mit gesetzlichen Regelungen noch etwas ändern können. Der Bundeskanzler hat gesagt: „Suchen wir nicht das Heil in der Gesetzgebung." Dem stimme ich ausdrücklich zu. Wir sollten aber nicht vergessen, daß ein Teil der noch offenstehenden Probleme eben auch mit Gesetzgebung zu lösen ist, obwohl ein mindestens ebenso großer Teil das Bewußtsein der Menschen betrifft. Wenn es z. B. nach jahrelangem vergeblichen Kampf auch von Abgeordneten dieses Hauses dagegen, daß die Deutsche Lufthansa sich weigert, Frauen als Pilotinnen einzustellen, mit dem EG-Anpassungsgesetz gelungen ist, daß die Lufthansa überhaupt erst einmal Bewerbungen von Frauen entgegennimmt, halte ich das für einen Fortschritt. Es wird jetzt darauf ankommen, aufzupassen, ob wir in den nächsten Jahren bei der Lufthansa auch einmal einen weiblichen Piloten sehen werden. Darauf gilt es zu achten.
Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, der, wie man weiß, zwischen den Koalitionsfraktionen nicht unbedingt überstimmend gesehen wird. Ich spreche ihn trotzdem an. Ich glaube, daß wir ein Antidiskriminierungsgesetz brauchen. Ob dieses Gesetz die ganze Problematik umfassend regelt oder ob das in einzelnen Gesetzen geschieht, darauf sollten wir uns hier nicht festlegen. Auch die Enquete-Kommission hat dazu einiges gesagt. Wichtiger aber als die gesetzlichen Vorschriften ist das, was wir mit der Einsetzung einer Gleichberechtigungskommission verlangen, einer Kommission, die konkrete Befugnisse, Kompetenzen haben muß, um noch bestehende Diskriminierungen abzubauen.
Übrigens verhält sich die Kommission demgegenüber ja sehr viel zurückhaltender. Auf der letzten Seite des Kommissionsberichts steht:
Der Gesetzgeber sollte prüfen, ob es unter den gegebenen verfassungsrechtlichen Bedingungen in der Bundesrepublik möglich und notwendig sein wird, eine Gleichbehandlungsstelle als Institution sui generis analog zum Wehrbeauftragten zu schaffen.
Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, daß solche Kommissionen selbstverständlich nicht alle Probleme lösen können, aber daß konkrete Verbesserungen für Frauen im Alltag erreicht werden können.
Ich erinnere an das englische Vorbild oder an die USA, die ein solches Gesetz, das die Einrichtung solcher Kommissionen vorsieht, kennen. Ich erinnere daran, daß die Europäische Kommission und das Europäische Parlament in einem kürzlich verabschiedeten Entschließungsantrag auch Gleichbehandlungsstellen vorgeschlagen haben. Ich erinnere ebenso daran, daß die Schweden erst im Jahre 1979 ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet haben, das eine Gleichbehandlungsstelle und einen Gleich-behandlungsbeauftragten vorsieht, die u. a. das Recht haben, Auskünfte von den Unternehmen zu verlangen, und denen ein Klagerecht zusteht zur Unterstützung diskriminierter Frauen, aber auch ein Klagerecht ohne die betroffene Frau; das halte ich für wichtig, weil selbstverständlich in dem einen oder anderen Fall ein konkreter Grund dafür vorliegen kann, daß eine Frau den Gang vor die Gerichte nicht wagt. Schließlich besteht in Schweden die Befugnis, Bußgeldbescheide zu erlassen, wenn sich herausstellt, daß Unternehmen auf Dauer strikt gegen Gleichberechtigungsgebote verstoßen.
Ich glaube, wir sollten alle gemeinsam darüber nachdenken, ob nicht eine solche Kommission mit konkreten Befugnissen eingerichtet werden sollte. Meine Damen und Herren, von Kommissionen ohne Befugnisse, die nur berichten, halte ich überhaupt nichts. Wir sollten sie schnell vergessen.
({4})
Das ist auch nicht die Überlegung der FDP. Aber wir sollten prüfen, ob es uns nicht gelingen kann, eine solche Kommission einzurichten, die einerseits analog der Position des Wehrbeauftragten - das steht auch in dem Bericht der Enquete-Kommission - Auskunftsrechte und Berichtspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag hat, die andererseits aber auch - etwa analog zum Bundeskartellamt - die Kompetenz hat, Bußgeldbescheide zu erlassen und ein Klagerecht wahrzunehmen.
Selbstverständlich gibt es im Zusammenhang mit dieser Forderung noch Probleme. So ist z. B. problematisch, ob in einem solchen Antidiskriminierungsgesetz der Bildungsbereich mit abgedeckt werden könnte, weil das bei uns Sache der Länder ist. Es ist problematisch, ob eine solche Kommission nach unserer Verfassungsordnung die genannten Befugnisse haben kann; das wissen wir alle selber. Ich finde jedoch, um so mehr sollten wir uns daranbegeben - insbesondere im Familienministerium und im Innenministerium -, die verfassungsrechtlichen Probleme gemeinsam zu überdenken.
Bei den Vorarbeiten zu diesem Gesetz werden wir auch zu überlegen und zu prüfen haben, ob wir uns für eine Quotierung aussprechen. Meine Damen und Herren, meine Fraktion und auch ich selber haben erhebliche Zweifel, ob eine Quotierung, d. h. eine gesetzlich vorgesehene Aufteilung etwa von Ausbildungsplätzen oder Arbeitsplätzen hälftig auf Männer und Frauen, sinnvoll ist, ob die entstehenden Probleme nicht größer sind als der Nutzen. Aber lassen Sie mich auch sagen: Nachdem ich jahrelang Gegner einer Quotierung war, muß ich Ihnen zugeben, daß - jedenfalls was meine Person betrifft - in den letzten Jahren ein Umdenkungsprozeß begonnen hat. Wenn ich lese - ich habe eine entsprechende Anfrage an die Bundesregierung gerichtet -, daß der Anteil der Frauen an den obersten Gerichtshöfen der Bundesrepublik Deutschland, die ja durch staatliche Organe besetzt werden, null bis ein Prozent beträgt, dann stellt sich mir schon die Frage, ob in diesem Bereich durch Quotierung nicht doch das eine oder andere zu ändern wäre.
({5})
Zumindest scheint mir das erwägenswert, was die Amerikaner mit Erfolg betreiben, nämlich sogenannte affirmative action plans. Das sind Pläne, die gemeinsam mit den Unternehmen erstellt werden und die auf freiwilliger Basis Quotierungen innerhalb bestimmter Zeiträume vorsehen. Vielleicht sollten wir solche Dinge in der Bundesrepublik Deutschland mit sehr viel offeneren Augen betrachten und ihnen gegenüber mehr Bereitschaft entgegenbringen. Ich denke daran, daß der Staat auch die Möglichkeit hätte, z. B. durch öffentliche Aufträge in diesem Bereich tätig zu werden. Warum eigentlich kann bei Sonderaufträgen in speziellen konjunkturellen Situationen der eine oder andere Betrieb nicht bevorzugt werden, der nachweist, daß er mehr Frauen eingestellt hat als andere? Ich frage: Warum kann nicht das, was in den USA erfolgreich gehandhabt worden ist, auch bei uns entsprechend praktiziert werden?
Die Regierungserklärung sieht zu dem Thema Antidiskriminierungsgesetz einen Prüfauftrag vor. Ich weiß, daß es hier Vorbehalte gibt, und zwar bei der SPD und bei Kolleginnen, mit denen ich mich, wenn ich so sagen darf, ansonsten politisch enger verbunden fühle. Wenn der Vorwurf gemacht wird, daß z. B. der Bundeswirtschaftsminister beim EG- Anpassungsgesetz weitergehende Regelungen verhindert habe, und deshalb sei es unglaubwürdig, jetzt ein Antidiskriminierungsgesetz zu fordern, dann sage ich Ihnen, meine Kolleginnen in der SPD: ich weiß, daß das so ist, und ich habe mit zu denen gehört, die es kritisiert haben; aber dies kann doch nicht der Grund dafür sein, daß wir auf Dauer nicht bereit sind, an die gemeinsame Prüfung eines solchen Gesetzes heranzugehen. Es sollte uns erst recht dazu motivieren, zu prüfen, was hier zu machen ist.
Wir wissen, daß auch die Gewerkschaften, die anfangs ziemlich einhellig dagegen waren, langsam anfangen, ihre Position zu überdenken. Ich erinnere
daran, daß sich die DAG in dem Hearing der Enquete-Kommission zum Antidiskriminierungsgesetz positiv geäußert hat. Ich hoffe, daß auch der DGB anfängt umzudenken. Denn es geht uns mit diesem Gesetz und mit der Kommission nicht darum, Positionen der Gewerkschaften anzugreifen oder sie durch neue Kommissionen zu ersetzen. Ich glaube, daß sich dieses ergänzen könnte.
Die Zusammensetzung der Kommission müßte meiner Ansicht nach vom Deutschen Bundestag bestimmt werden, um das Gewicht der Kommission besonders in den Vordergrund treten zu lassen. Es gibt Kollegen, die sagen: Dann haben wir wieder eine neue Bürokratie, neue Kosten. Ich glaube hingegen, besonders angesichts der Tatsache, daß wir umfangreiche kostenträchtige Gesetze auf diesem Gebiet in absehbarer Zeit nicht werden machen können, daß wir erst recht die Chance nutzen sollten, Dinge wie das Antidiskriminierungsgesetz, die ja vergleichsweise wenig kosten, in die Tat umzusetzen als eine der notwendigen Voraussetzungen für eine Verbesserung der Situation der Frauen. Ich glaube, daß das Problem der Bürokratie auch deshalb wird gering gehalten werden können, weil nach meiner festen Überzeugung ein Teil der Diskriminierung von Frauen, etwa im Arbeitsleben, schon vor einem Tätigwerden der Kommission beseitigt würde. Denn viele Unternehmen müßten befürchten, daß sie öffentlich angeprangert würden. Sie würden schon deswegen Diskriminierungen unterlassen, wie sie sie bisher jahrelang durchgeführt haben.
Ein letztes! Ich glaube, daß die Diskussion über ein solches Gesetz den großen Vorteil hätte, das Problem „Diskriminierung von Frauen in diesem Lande" wieder öffentlich akuter zu betreiben, klarer zu machen. Die Diskussion, die etwa in England über das ganze Problem in Gang gekommen ist, als dieses Gesetz gemacht worden ist, täte uns, glaube ich, gut, damit wir diese Fragen nicht nur vor wenigen Leuten im Parlament diskutieren, sondern damit die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau eine öffentliche Diskussion wird, stärker als sie es bisher war. Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat eines mit Deutlichkeit gezeigt: daß sowohl im Hinblick auf die Analyse der Benachteiligungen von Frauen heute wie auch im Hinblick auf die Ziele, die wir verfolgen, eigentlich eine weitgehende Übereinstimmung besteht. Ich halte es für wert, das festzuhalten,
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gerade wenn wir uns überlegen, was wir in den Ausschüssen erörtern wollen - auch dann, wenn die eine oder andere solistische, ideologisch verbrämte Kür manchmal weniger amüsant sein mag.
Ich möchte der Enquete-Kommission herzlich danken, daß sie sehr viele der Forderungen, der Mittel und der Wege aufgenommen hat, die heute in den Parteien, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und anderen Verbänden diskutiert werden. Sie hat immer die Frage gestellt: welche Forderungen gibt es, welche sind sinnvoll und welche sind durchsetzbar? Ich möchte in meinem Beitrag auf die Frage der Durchsetzbarkeit unter unseren Bedingungen einen Schwerpunkt legen.
Lassen Sie mich damit anfangen, daß ich die verschiedenen Forderungen in Erinnerung rufe. Da sagt eine CDU-Gruppe: Wir brauchen Forschungsinstitute. Das ist sicherlich eine Forderung am Rande, da stimmen Sie mir bestimmt zu. Wir wissen heute, unter welchen Bedingungen Frauen leben. Wir wissen heute, wo Diskriminierungen, wo Benachteiligungen sind. Wir sind im Stadium der Umsetzung dieses Wissens.
Es gibt eine zweite Gruppe von Forderungen, die an der Verteilung der Lasten, an der Funktions- und Arbeitsverteilung selbst nicht viel ändern, die aber sinnvoll sind, weil sie darauf abzielen, die Frauen von der Doppelbelastung zu entlasten. Das sind die Forderungen nach Kinderkrippen, -horten, -gärten, Service-Einrichtungen, nach Hilfseinrichtungen, auch nach Modellen, die der Bund, die Länder und die Gemeinden anbieten können. Hier gibt es viele nützliche Dinge, die neue Initiativen anstoßen und so positive Auswirkungen zeigen.
Eine dritte Gruppe von Forderungen umfaßt neue gesetzliche Ansprüche für Frauen - über diesen Punkt werden wir uns noch unterhalten müssen - und neue verfahrensrechtliche Vorschriften, damit die Frauen die Möglichkeit haben, sich auch selbst besser zu wehren.
Schließlich geht es um die Frage: Brauchen wir Institutionen wie Gleichstellungsstellen, wo brauchen wir sie, wo sollen sie angesiedelt sein, haben sie einen Wert, können wir uns das kostenmäßig leisten, wohin soll ihr Zuständigkeitsbereich wirken, mehr in die öffentliche Verwaltung intern oder mehr draußen ins Land?
Ein letzter Punkt betrifft schließlich die Koppelung von Leistungen, Aufgaben und Subventionen des Staates: Frau Matthäus-Maier, Sie haben schon auf die Möglichkeit hingewiesen, Auftrags-und Subventionsvergabe auch von dem Nachweis abhängig zu machen, daß die betroffenen Unternehmen wie andere gesetzliche Bestimmungen so auch die Gleichberechtigungsvorschriften eingehalten haben.
Wenn wir uns die einzelnen Forderungen anschauen, stellen wir fest, daß eigentlich alle, gleichgültig, ob Gesetze oder Leistungen angesprochen sind, ein Tätigwerden des Staates auf den einzelnen Ebenen erfordern. Ich glaube, wir sollten uns gerade im Bereich der Überwindung, des Ausgleichs von Benachteiligung dessen sehr bewußt sein, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß es die Durchsetzbarkeit unserer Forderung verbessert, wenn wir gleichzeitig sagen: Der Staat ist ein Moloch, ein Leviathan, er fördert die Rentnermentalität, er kommt mit sei1180
nen Krakenarmen überall hinein und verrechtlicht alles.
Ich möchte Sie von der CDU bitten, sich einmal zu überlegen, ob Sie nicht das Dilemma, in das Sie durch Ihre Forderung nach Hausfrauengeld und Ihre gleichzeitige Beschwörung des Staatsmolochs und der Erziehung zum Rentnerbewußsein durch den Staat gekommen sind, auflösen müssen, bevor Sie darlegen, wie und mit welchen Mitteln Sie die Forderungen der Frauen vorantreiben wollen, und bevor Sie mit glaubwürdigen Forderungen an die Offentlichkeit treten.
Wenn wir uns diejenigen Forderungen nach mehr materiellen Ansprüchen und diejenigen anschauen, die mehr verfahrensrechtliche Hilfen anbieten wollen, dann, Kollegin Matthäus-Maier, stellt sich die Frage eines Antidiskriminierungsgesetzes nicht nur in dem Zusammenhang, in dem Sie davon gesprochen haben. Sicherlich sind die von Ihnen aufgeführten Benachteiligungen alle da. Unser Einwand ist nicht, daß wir ein Antidiskriminierungsgesetz nicht wollten, weil wir, na ja, beleidigt seien, weil nicht alles so gelaufen ist, wie es in der letzten Legislaturperiode von uns gewünscht wurde, oder weil wir der Meinung seien, uns passe die Ressortierung der Angelegenheit nicht. Ich bitte Sie, auch über diesen Punkt nachzudenken, denn da bekommt Ihre Forderung einen eigenartigen Sinn. Vielmehr haben wir klar zum Ausdruck gebracht - auch im Bericht der Enquete-Kommission wird das klar -, daß wir in einigen Bereichen sehr wohl gesetzliche Änderungen brauchen. Die greifen auch in Lebenssachverhalte, von denen Sie gesprochen haben. Das betrifft das EG-Anpassungsgesetz, die Umkehr der Beweislast, Sanktionen, Umwandlung der Soll-Vorschrift in eine Muß-Vorschrift bei der Informationspflicht, bei der geschlechtsneutralen Stellenausschreibung. Das betrifft die Arbeitsschutzbestimmungen in dem Sinne, wie es die Kollegin Steinhauer gesagt hat. Das betrifft betriebsverfassungsrechtliche Änderungen, auf die der Bundeskanzler eingegangen ist: Auch da kann man eine Soll-Vorschrift in eine Muß-Vorschrift umwandeln, wo es um Frauen und Betriebsrat geht. Sie wissen, welche Vorschrift ich meine. Da kann man auch gesetzlich festlegen, daß jährlich ein Bericht über den Stand und die Förderung von Frauen im jeweiligen Betrieb gegeben wird. Und es gibt auch im Familien- und im Steuerrecht noch diese und jene Vorschrift, die geändert werden sollte.
Wir haben die Befürchtung, daß mit der Diskussion um das Antidiskriminierungsgsetz zuviel Pathos in die Diskussion kommt,
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daß der Zwiespalt zwischen Papierform und tatsächlicher Wirklichkeit nicht verengt, sondern ausgeweitet wird, daß viel mehr Erwartungen geweckt werden, als wir erfüllen können.
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Folgendes sage ich jedem im Haus, der sich angesprochen fühlen muß: Ich habe die Befürchtung, daß
die Diskussion über Annahme oder Ablehnung eines Antidiskriminierungsgesetzes von einem Sachverhalt ablenkt: Die Rechtspositionen, die wir den Frauen mit Hilfe der Gesetze verschaffen wollen, sind besetzt. Sie müssen per Gesetz und per politische Willensentscheidung gegen viele Widerstände erst freigeschaufelt werden.
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Und dies gilt, ob Sie nun einem Antidiskriminierungsgesetz zustimmen oder ein solches ausdrücklich ablehnen. Die Glaubwürdigkeitsfrage stellt sich mir noch in einem anderen Zusammenhang: Ich kann mir nicht vorstellen, daß Leute Politiker in FDP und CDU, die in der vorigen Wahlperiode beim EG-Anpassungsgesetz nicht hilfreich genug waren, jetzt ausgerechnet den Weg eines pathetischen Antidiskriminierungsgesetz wählen, um all das durchzusetzen. Da habe ich meine Sorgen und nur da.
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Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt etwas sagen, nämlich zu den Gleichberechtigungsstellen, -stäben und -institutionen. Ich halte es für ganz wichtig, daß wir beim Bund, bei den Ländern und bei den Gemeinden die Institutionen schaffen, in denen der Bund oder Nordrhein-Westfalen oder Hessen oder die Stadtstaaten uns vorausgegangen sind. Ich sage Ihnen: Ich habe nichts dagegen, daß es in Art und Aufgabensetzung Unterschiede gibt. Man kann das so oder so organisieren; die Lebensverhältnisse sind vielfältig. Ich sehe gerade die Frau Kollegin Hellwig. Ich glaube, auch vieles von dem, was sie in Rheinland-Pfalz gemacht hat, sollte gewürdigt werden; das ist für mich keine Frage.
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Für mich ist weder die Ebene der Ansiedlung noch die Ressortfrage allein entscheidend,
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- Nein, Herr Kohl, entscheidend sind die Kompetenzen.
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- Es ist nicht nur der Wille, sondern es sind in der Tat die Kompetenzen. Die Stäbe sollten ein Mitspracherecht bei Gesetzen und Verordnungen, bei Stellenausschreibungen, bei der Beförderungspraxis ihres Bereichs haben. Sie sollten Öffentlichkeitsarbeit machen und in die Verfahren bei der Koppelung von Geldleistungen der staatlichen Körperschaft und Nachweis der Einhaltung von Gleichberechtigungsvorschriften durch die Unternehmen bei Aufträgen, Subventionen u. ä. eingeschaltet werden. Solche Kompetenzen sollten gewährleistet werden, dann kommen wir weiter. Wenn wir das ernst nehmen - und damit komme ich zum Schluß -, stellen sich auch an uns unmittelbar Anforderungen: Dann muß es nämlich darum gehen, den Arbeitsstab beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in seiner Arbeit zu unterstützen und nicht nach außen ständig herabzusetzen, wie dies teilweise geschieht. Das beeinträchtigt die Durchsetzung. Dann
müssen wir bei den kommenden Haushaltsberatungen auch die Unterstützung geben, die sie brauchen; dann dürfen dort keine Mittel gestrichen, sondern müssen Ausbaumöglichkeiten vorgesehen werden. Und es wird darum gehen, daß bei aller Kritik an unserer Haltung in der Öffentlichkeit unsere Forderungen nicht ständig herabgesetzt werden, daß gerade wir Frauen uns davor hüten, Frauen in den verschiedenen Lebenslagen und in dem Aufgabenbereich, den sie zur Zeit wahrnehmen, gegeneinander ausspielen. Dies alles schadet der Durchsetzung. Ich glaube, wir könnten hier eine ganze Menge erreichen, wenn wir uns in den Ausschüssen auf konkrete Themen beschränken. - Recht herzlichen Dank.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt ist der Herr Bundeskanzler gerade hinausgegangen. Auch ich wollte ihm Dank dafür sagen, daß er sich insbesondere an die Frauen gewandt hat. Ich wollte ihm aber gleichzeitig sagen, daß das, was er hier vertreten hat, in seiner eigenen Partei bei der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen anscheinend nicht so rosig betrachtet wird, wie er es hier ausgeführt hat. In der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau" kann man folgendes lesen:
Die Frauen in der SPD werden weithin wie Mitglieder minderen Ranges behandelt.
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Die Partei unterliegt einer zunehmenden Bürokratisierung und begegnet den frauenpolitischen Themen mit Ablehnung, Desinteresse, Spott, bestenfalls mit freundlicher Duldung.
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Ich wünsche in unser aller Interesse, daß der Herr Kanzler, aber auch mein Fraktionsvorsitzender Kohl und der Herr Fraktionsvorsitzende Wehner mit dafür Sorge tragen, daß das insgesamt in den politischen Parteien besser wird.
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Ich habe die Aufgabe bekommen, zu einem Teilbereich zu reden, nämlich zur Situation der Frau im Erziehungs- und Bildungsbereich und zu Berufs- und Ausbildungsfragen. Der Bericht sagt zur beruflichen Bildung etliches aus. Zur schulischen Erziehung von Mädchen äußert er sich allerdings recht knapp. Es geht j a bei einem solchen Bericht in erster Linie darum, die dort gefundenen Fakten in die Praxis umzusetzen, also aus den Erkenntnissen des Berichts einerseits und den uns vorliegenden Erfahrungswerten der bestehenden Modelleinrichtungen andererseits konkrete Schlüsse zu ziehen, die allgemeine Auswirkung auf die schulische Erziehung von Mädchen und die berufsvorbereitenden Komponenten dieser Erziehung haben müssen.
Gestatten Sie mir, daß ich hier etwas Unpopuläres anbringe, ich sage es aber dennoch. Die Koedukation in unseren Schulen trägt häufig dazu bei, daß im Endeffekt die Jungen den Großteil der in der Klasse anfallenden Funktionen ausüben und auch sonst das „große Wort" führen. Der Pädagoge Hemrich stellt in seinem Aufsatz „Die Rolle der Geschlechter im Klassen- und Stufenverband allgemeinbildender Schulen" dazu fest - ich zitiere -:
Die Problematik des koedukativen Systems beruht primär darauf, daß es die Lehrkräfte alsbald in eine diffizile Situation bringt: Einerseits soll ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Geschlechtern aufgebaut werden, andererseits streben die Mädchen oft nicht in ausreichender Weise danach, die traditionell die Jungen begünstigende Hierarchie in der Klassenstruktur zu durchbrechen.
Koedukation führt also oft nicht zu mehr Partnerschaft und Gleichberechtigung, sondern auch hier zeichnet sich traditionelles Rollenverhalten ab.
Wir sollten gemeinsam überlegen, wie es möglich werden kann, Mädchen stärker als bisher für Führungsfunktionen des Klassenverbandes zu befähigen. Es zeigt sich auch, daß in zahlreichen Jugendverbänden die Abschaffung getrennter Jungen- und Mädchengruppen nicht immer mehr Gleichberechtigung der Mädchen nach sich zieht.
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Oft stellt man fest, daß die Jungen dort ebenfalls dominieren und die Mädchen trotz beachtenswerten Engagements ins Hintertreffen geraten.
Meine Damen und Herren, es ist doch sehr nachdenkenswert, daß in Berufen, in denen die Frauen ihre Domäne hatten, im Lehrberuf z. B., heute in vielen Bereichen überhaupt nicht mehr Frauen in Führungsfunktionen, z. B. als Leiter von Schulen, tätig sind.
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Wir alle müssen uns doch fragen, weshalb in einem Feld der klassischen Frauenberufe, der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, wo hervorragende Frauen diesen Part gespielt haben - ich denke u. a. auch an Helene Weber, die in diesen Tagen ihren 100. Geburtstag hätte feiern können -,
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früher die Frauen „das Sagen" hatten, aber heute z. B. an den Fachhochschulen oder in den Jugendämtern nirgendwo in Führungsfunktionen vertreten sind. Von daher also meine ich, daß die Schlußfolgerung „Mehr Koedukation - mehr Führungskräfte" so nicht richtig ist. Das beweisen die Fakten. Auch dieser Fragestellung sollten wir einmal nachgehen: ob das, was wir in den letzten Jahren gemeinsam propagiert haben, wirklich das Wahre war.
Die politische Bildung gerade bei den Mädchen muß, dies möchte ich hier mit Nachdruck sagen, in der Schule verstärkt berücksichtigt werden, denn es ist augenscheinlich, daß Politik und Zeitgeschichte meist ein Hauptinteressengebiet der Jungen sind. Damit die Frauen nicht auch in Zukunft - dafür ma1182
chen wir ja Politik, nämlich Politik auf ein Morgen hin - weiterhin so stark unterrepräsentiert sind wie wir zur Zeit hier, sollte die schulische Bildung engagierter als bisher Einblicke in solche Bereiche wie Staats-, Bündnis- und Streitkräfteorganisation vermitteln, um auch den Mädchen gute Chancen für eine spätere Mitsprache im politischen Leben zu sichern.
Meine Damen und Herren, einige Bemerkungen zum Thema Frauen und Hochschulbildung. Dieses Thema ist hier heute morgen noch gar nicht berücksichtigt worden. Die vorliegenden Statistiken zeigen, daß der Anteil der weiblichen Studienanfänger in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Dies besagt allerdings nicht allzuviel, denn nicht jeder, der ein Studium beginnt, schließt es auch erfolgreich ab. Bei den Frauen liegt der Anteil der Hochschulabschlüsse wesentlich unter dem der Männer. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es zeigt sich auch, daß relativ wenige Frauen als wissenschaftliches Personal an den Universitäten bleiben. Auch dort sind die meisten Hochschullehrer Männer. Sicherlich sollten die Frauen dazu angehalten werden, mehr als bisher Hochschulabschlüsse zu erzielen. Lassen Sie mich ganz offen die Befürchtung äußern, daß wir bei konsequenter Fortführung einer solchen Politik demnächst nicht nur Heere von arbeitslosen männlichen Akademikern haben, sondern auch eine erhebliche Anzahl arbeitsloser Frauen mit Universitätsdiplom, während dann in den kaufmännischen Berufen und im Dienstleistungsbereich wahrscheinlich weibliche Kräfte fehlen werden. Diese Form von Gleichberechtigung kann sicherlich nicht ernsthaft unser Ziel sein.
Wenn ich nun auf die berufliche Bildung zu sprechen komme, so will ich zunächst auf die Ausführungen des Berichtes eingehen. Hier wird generell festgestellt, daß die berufliche Bildung und Ausbildung für Mädchen und Frauen weiterhin zu wünschen übrig läßt. Beispielsweise finden sich weitaus mehr weibliche als männliche Schulabgänger, die ohne Berufsausbildung direkt in das Erwerbsleben treten. Dazu trägt - wie hier bereits ausgeführt und im Bericht erwähnt - das traditionelle Rollendenken entscheidend mit bei. Wir neigen oft dazu, zu sagen, die jungen Mädchen erhielten wirklich eine optimale Ausbildung. Ich behaupte, das ist nicht so. Das „lügen wir uns zum Teil selber in die Tasche", um uns selbst eine Rechtfertigung zu geben.
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So gesehen, glaube ich, daß es nach wie vor unser aller Ziel sein muß, wie der Herr Bundeskanzler ausgeführt hat und der Fraktionsvorsitzende Kohl wiederholt durch Zwischenrufe verdeutlichte, die qualifizierte Berufsausbildung von Mädchen voranzutreiben. Dies muß unser aller erster Wunsch sein und bleiben.
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In der Praxis ist es leider so, daß trotz guter Fortschritte, die die berufliche Ausbildung der Mädchen macht, dies nicht immer und ausschließlich bedeutet, daß auch unbedingt ein entsprechender Arbeitsplatz bei guter schulischer Ausbildung zur Verfügung steht. Insofern, so meine ich, bildet sich ein regelrechter Übernahmestau, der dazu führt, daß die betroffenen Mädchen einfach nur länger zur Schule gegangen sind, aber trotzdem keine Arbeit erhalten. Dies ist zwar ein besserer Zustand, aber wir müssen dafür Sorge tragen, daß die, die eine schulische Grundausbildung erhalten haben, dann auch wirklich die Chance haben, in einem Beruf tätig zu werden. Ich bitte die Bundesregierung, einmal darüber nachzudenken, wie wir dies denn gemeinsam bewerkstelligen könnten.
Im Hinblick auf die berufliche Bildung von Frauen und Mädchen fordert die Kommission, daß das 10. Hauptschuljahr mehr als bisher für Belange der beruflichen Bildung genutzt werde. Dem ist beizupflichten. Die Mindermeinung zweier Kommissionsmitglieder jedoch, man solle generell das 10. Hauptschuljahr und ein 11. Berufsbildungsgrundjahr einführen, können wir von der CDU/CSU-Fraktion nicht teilen.
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Es dürfte wohl kaum im Sinne der Jugendlichen sein, die Schulzeit immer weiter zu verlängern und damit die Unterschiede zu den anderen Schulformen immer weiter zu verwischen.
Wenn die Kommission ferner den Vorschlag unterbreitet, man solle der einseitigen Berufswahl bei Frauen und Mädchen entgegenwirken, so greift sie ein bedeutendes Problem auf. In der Tat wählten im Jahre 1977 86 % der weiblichen Lehrlinge einen Ausbildungsberuf, den man als typisch weiblich bezeichnen könnte: Friseuse, Arzthelferin und Floristin. Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler sagen, daß ich mich sehr freuen würde, wenn viele, viele junge Frauen Friseuse würden. Die haben nämlich dann die Chance, zu arbeiten. Sie haben die Chance, mit diesem ihrem Wissen in späteren Jahren, wenn die wirtschaftliche Not sie dazu zwingt, wieder in ihren Beruf zurückzukehren.
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So gesehen, sollten wir jetzt nicht in ein Extrem verfallen und diese Berufe „verteufeln" oder nicht mehr so ernst nehmen.
Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eingliederung von Frauen in ausgesprochene Männerberufe, die im Jahre 1978 angelaufen sind, können, so meine ich, durchaus schon einer kritischen Durchleuchtung unterzogen werden. Die Bundesregierung unterstützt in Zusammenarbeit mit verschiedenen Großbetrieben insbesondere die Ausbildung von Mädchen in den Berufen Energieanlagenelektroniker, Chemiefacharbeiter, Betriebsschlosser usw.
Die Begründung für diese Modellversuche liegt darin, daß Vorurteile und Schranken abgebaut werden sollen, die es Mädchen früher unmöglich machten, in solche Berufe einzusteigen. Sicherlich beruhen viele dieser Schranken auf dem Vorurteil, Frauen seien für die Ausübung technischer Berufe nicht geeignet und sollten, wenn sie überhaupt auFrau Karwatzki
ßerhäuslich berufstätig sein müßten, eine ihnen angemessene Tätigkeit ausüben.
Wie absurd solches Denken ist, beweist bereits die Tatsache, daß es sich bei normaler Fabrikarbeit, wie sie von Frauen seit Jahren ausgeführt wird, ja durchaus auch schon um Tätigkeit technischer Art handelt. Allerdings liegt bei den Berufen, die die Bundesregierung für Mädchen zur Zeit fördert, die Sachlage etwas anders, und das ist gut so. Hier werden nicht nur technische Begabung und ein gewisses Geschick verlangt, sondern auch ein selbständiges Denk- und Entscheidungsvermögen, eine langwierige und detaillierte Ausbildung sowie oft der Einsatz physischer Kräfte in Dauerbelastung. Erst durch diese Faktoren ergeben sich Möglichkeiten, später Vergleiche anzustellen.
Völlig vorbehaltlos können wir diese Bestrebungen der Bundesregierung allerdings nicht akzeptieren. Die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau lassen sich auch durch noch so kluge Begründungen nicht hinwegdiskutieren. Die CDU/ CSU-Fraktion versteht unter Gleichberechtigung nicht formale und faktische Gleichheit zwischen den Geschlechtern, sondern anerkannte Gleichwertigkeit von Mann und Frau, auch und gerade in der Berufsausübung.
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Gleichberechtigung im Berufsleben kann aber wohl kaum bedeuten - und dies ist hier zu Recht ausgeführt worden -, daß Frauen in Zukunft Schwerarbeiten ausführen sollen. Ich bin in diesem Zusammenhang der Frau Staatssekretärin Fuchs für die notwendige Klarstellung dankbar, die sie in der Fragestunde am 18. Februar 1981 in diesem Hause gegeben hat.
Meine Damen und Herren, das Lämpchen leuchtet. Ich muß jetzt einiges überschlagen, was ich gerne gesagt hätte, und greife einen letzten Punkt auf. Dieser Punkt befaßt sich mit der Mädchenbildung. Worum geht es dabei? Die Mädchenbildung, wie sie z. B. von den konfessionellen Jugendverbänden durchgeführt wird, versucht, die Beteiligung der Mädchen und jungen Frauen im Verband, in der Schule, in Ausbildung und Beruf sowie in Gesellschaft, Politik und Kirche anzuregen und zu fördern. Dieses wird - ich habe das vorhin schon im schulichen Sektor ausgeführt - nicht allein durch eine koedukative Arbeit gewährleistet. Erfahrungswerte zeigen, daß Gruppen der Mädchen in der Bildungsarbeit bisher nicht in ausreichendem Maße angesprochen wurden. Ein Konzept „Mädchenbildung" beispielsweise soll dazu dienen, die Fakten zur Situation der Frau und des Mädchens in unserer Gesellschaft darzustellen und besonders im Hinblick auf diese Tatsachen Bildungsmaßnahmen zu ermöglichen.
Den Gedanken, daß auf Grund unterschiedlicher Erziehung von Mädchen und Jungen im Elternhaus Bildungsarbeit speziell für Mädchen betrieben werden muß, halte ich für durchaus richtig. Oft wird die elterliche Erziehung den außerhäuslichen Anforderungen der heranwachsenden Frau nur in traditionellem Maße gerecht, während die Jungen diesem
Defizit nicht begegnen. Hier setzt Mädchenbildung an, um Mädchen und junge Frauen zu befähigen, verantwortungsvolle Positionen beispielsweise in Verbänden und Parteien zu bekleiden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß ich mich mit dieser meiner Forderung in guter Gesellschaft befinde. Ich habe in diesen Tagen mehrere Bücher zu diesem Thema gelesen und mußte feststellen, daß die Feministinnen auf einmal eine eigene Mädchenbildung propagieren und daß die Bundesregierung, wenn ich es richtig gesehen habe, auch ein solches Anliegen unterstützt im Sinne der modellhaften Unterstützung eines solchen Konzepts. Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich mit mir auf den Weg machen könnten, darüber nachzudenken, ob es nicht richtig ist, erneut in diese Richtung zu denken. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Diederich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute hier gelernt, daß der Konsens in diesem Hause sehr viel größer ist, als man manchmal den Eindruck hat. Allerdings hoffe ich, daß dies nicht nur ein Konsens in Worten ist.
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Ich möchte allerdings auch an einigen Punkten Akzente herausarbeiten, wo es Unterschiede gibt und wo wir weiter diskutieren müssen, wo wir noch nicht endgültig zum Ziel gekommen sind.
Frau Krone-Appuhn hat wohl Simone de Beauvoir zitiert und sich darauf berufen, daß es auch die Sozialisten in einem Jahrhundert nicht geschafft hätten, die vollständige Gleichberechtigung herbeizuführen. Aber wir haben immerhin geschafft, daß sich heute auch die konservative Seite der Parlamente zu diesem Ziel bekennt. Das ist doch immerhin etwas.
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Ich glaube, wir haben im letzten Jahrzehnt eine ganze Menge Dinge erreicht. Wir sollten dies trotz aller kritischer Betrachtung nicht kleiner machen. Wir sollten dies unterstreichen und auf dieser Basis kooperativ weiterarbeiten.
Ich glaube, daß diese Arbeit an der Gleichberechtigung sozusagen ein Prüfstein für die Verwirklichung von Demokratie ist; denn Demokratie darf nicht etwas Formales sein. Sie ist etwas Inhaltliches. Demokratie ist nur da verwirklicht, wo Chancengleichheit besteht und alle nach ihrem Können an den gesellschaftlichen Aufgaben kooperativ mitwirken. Solange eine gesellschaftliche Gruppe benachteiligt ist, können wir auch nicht davon sprechen, daß die Demokratie als eine Aufgabe ihren Sinn vollständig erfüllt hat.
Dr. Diederich ({2})
Ich glaube, so müssen wir auch das Grundgesetz sehen. Wir haben im gesetzgeberischen Bereich sehr viel erreicht. Wir haben hier die Diskussion gerade mit der liberalen Seite unseres Hauses, die immer wieder nach einem Antidiskriminierungsgesetz ruft. Wir werden uns darüber zu unterhalten haben, was sinnvoll ist. Aber wir sollten nicht übersehen, daß man Vorurteile und Verhaltensweisen nicht durch die Gesetzgebung überwinden kann,
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sondern daß gesellschaftliche Verhaltensnormen, ganz komplexe Zusammenhänge des täglichen Umgangs, der Kommunikation, der Erziehung, des Lernens tagtäglich bewältigt werden müssen - nicht nur im Gesetzgebungsvorgang. Insofern müssen wir uns natürlich auch immer wieder fragen: Wie trägt eine Gesetzgebung zu den Veränderungen in der Gesellschaft bei?
Lassen Sie mich folgendes sagen. Das Verhalten in dieser Gesellschaft, das Handeln in dieser Gesellschaft hat etwas mit Erwartungen in Hinblick auf die eigene Position in der Gesellschaft zu tun, im Hinblick auf wirtschaftliche Macht und Durchsetzung in dieser Gesellschaft. Man muß sehen, daß es eine noch sehr stark männlich beherrschte Gesellschaft ist. Das stellt man fest, wenn man sich die führenden Positionen ansieht. Hier muß man etwas ändern.
Das hängt auch mit der Erfahrung zusammen, daß in dieser Gesellschaft nur derjenige Macht erwerben kann, der eine solidarische Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozeß erringt. Insofern möchte ich hier besonders den Satz unterstreichen und betonen, der im Bericht steht:
Die Voraussetzung für die freie Wahl der Lebensform ist, daß beide Ehepartner für alle Funktionen in einer möglichen Tätigkeit in Familie und Beruf befähigt werden.
Ich betone: in Familie und Beruf.
Ich bin beshalb sehr dankbar dafür, daß der Bundeskanzler dies besonders herausgearbeitet hat. Das eben Gesagte ist die Voraussetzung für eine freie Entscheidung - übrigen auch für die Entscheidung, in dieser Gesellschaft frei zu bleiben, keine Ehe einzugehen oder allein, ohne Ehe, Kinder zu erziehen oder auch z. B. eine Ehe zu verlassen. Das setzt voraus, daß man sich in beiden Bereichen gleich bewegen kann. Das setzt aber auch voraus, daß die Leitbilder, die wir von der Familie haben, partnerschaftlicher Natur sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich herausarbeiten, in welchen Punkten wir uns offensichtlich von der Union noch unterscheiden. Die Wahlfreiheit bleibt eine Ideologie, wenn lediglich der Frau die Chance bleibt, zwischen Berufstätigkeit und Familie zu wählen. Leider wird die Wahlfreiheit heute häufig in dieser Richtung verstanden. Frau Krone-Appuhn hat dies betont. Sie hat sogar von einem „Opfer" gesprochen. Ich warne davor, von der Aufgabe in der Familie als einem „Opfer" zu sprechen.
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Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe und kein Opfer. Diese gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen muß von der Gesellschaft möglich gemacht werden.
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Deswegen muß die partnerschaftliche Erziehungsaufgabe als eine gesonderte Aufgabe neben der Berufstätigkeit stehen. Sie ist nicht ein Ersatz für Beruf und Berufstätigkeit.
Wir dürfen auch nicht dahin kommen, daß wir eines Tages die Mutter im Staatsdienst haben. Dahinter steht nur ein Teilrollenbild, und wir wollen die gesellschaftliche Entfaltung in allen Bereichen erreichen.
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Wir wollen - und dies ist etwas, was auch schon der junge Marx erkannt und geschrieben hat - die Allseitigkeit der Bildung des Menschen, die Chance, die Fähigkeit, sich allseitig nach einem Lebensplan zu bewegen. Dies heißt, daß Männer und Frauen an dieser Familienrolle und an der Berufsrolle gemeinsam ihr Leben lang mitwirken.
Das Ausscheiden aus dem Berufsleben für viele Jahre heißt - und darauf haben viele hingewiesen - für viele Frauen auch, auf berufliche Karriere zu verzichten. Da wird es tatsächlich zu einem Opfer, Frau Krone-Appuhn. Aber ich bin der Meinung, daß man das nicht hochstilisieren sollte. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es vielmehr, die Möglichkeiten und Mittel anzubieten, um diese beiden Rollen in zeitlicher Arbeitsteilung und in gegenseitiger Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern zu erfüllen.
Frau Verhülsdonk, ich kann Ihr Lob der Teilzeitarbeit nicht teilen. Wir als Sozialdemokraten sind da sehr zurückhaltend. Wir sehen das nur als eine Hilfslösung, als vorübergehende Möglichkeit an; denn auf Teilzeitarbeitsplätzen wird oft das gleiche wie auf Vollzeitarbeitsplätzen geleistet, ohne daß dasselbe bezahlt wird.
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Teilzeitarbeitende sind bis heute noch weitgehend von den Aufstiegs- und Führungspositionen in dieser Gesellschaft ausgeschlossen.
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Deswegen muß die Tendenz doch zu einer Vollzeitarbeit gehen.
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Meine Damen und Herren, da die Zeit knapp ist, möchte ich mich noch mit einem anderen Teil des Berichts befassen, den wir noch nicht erwähnt haben. Wir haben in einem Teil des Berichts in einem Exkurs die Situation der Frauen in den Medien dargestellt. Lassen Sie mich hier ganz befriedigt feststellen, daß wir dort - obwohl wir als Enquete-Kommission wenig Möglichkeiten gesehen haben, Gesetzgebungsempfehlungen zu geben - offensichtlich ins Schwarze getroffen haben; denn die Reaktion aus den Medien zeigt, daß selbst unsere harmloDr. Diederich ({10})
sen Aussagen die leitenden Herren offensichtlich heftig geschmerzt haben. Die Stellungnahme, die uns der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ARD, Herr Vöth, hat zukommen lassen und die Herr Schwarzkopf verfaßt hat, zeigt das sehr deutlich. Herr Schwarzkopf versucht, zu belegen, daß die Behauptung der Kommission, das Frauenbild im Fernsehen entspreche häufig Klischeevorstellungen und spiegele selten die Wirklichkeit wider, falsch sei. Er führt sehr viele Beispiele an, die aber diese Behauptung eher untermauern. Ich habe leider nicht die Zeit, hier jetzt in die Beweisführung einzutreten. Ich möchte das aber hier einmal feststellen.
Herr Schwarzkopf versucht, mit sehr vielen Beispielen zu widerlegen, daß die Frauen in der beruflichen Situation in den Medien benachteiligt sind. Er macht allerdings genau dasselbe, was im Hearing die Herren vom Zweiten Deutschen Fernsehen getan haben, er verschweigt, daß es sozusagen eine dunkle Seite des Mondes gibt, daß die leitenden Positionen, die Positionen im außertariflichen Bereich, fast ausnahmslos von Männern besetzt sind.
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Er verweist auch auf die - und man muß sagen - erfreulich gestiegene Zahl von Frauen, die man im Fernsehen sichtbar präsentiert bekommt, z. B. in der „Tagesschau" oder anderen Sendungen. Aber gerade mit diesem Verweisen verschleiert er, daß in den wichtigen, leitenden Stellen in den Redaktionen Frauen offensichtlich noch nicht genügend vertreten sind. Wie könnte es sonst sein, daß Frau Dr. Brink vom Zweiten Deutschen Fernsehen einmal sagte, das Fernsehen produziert immer noch ein Bild: Männer handeln, Frauen kommen vor? Das ist so.
Wenn Sie sich z. B. einmal die „Tagesschau" oder „Heute" ansehen, werden Sie feststellen, daß die Sprecherinnen heute von Taten reden, die aus einer männlich beherrschten Welt kommen, weil interessanterweise die Positionen, die von Männern besetzt sind, und die Themen, die von Männern behandelt werden, als die wichtigen gesehen werden. Ich glaube, hier muß sich noch einiges ändern.
Ich meine, daß die Medien eine gesellschaftspolitische Aufgabe haben, in die wir als Parlament nicht eingreifen sollten, die wir aber sehr wohl kontrollierend und kritisch betrachten können. Ich muß sagen: Diese gesellschaftspolitische Aufgabe verpflichtet die Medien dazu, gerade in der Frage der Gleichbehandlung, der Gleichberechtigung und auch der Schaffung eines neuen Frauenbildes sorgfältig vorzugehen und voranzugehen und nicht ein Bild widerzuspiegeln, das aus vergangenen Jahrzehnten stammt. - Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wilms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen jetzt gerade von dem Thema Frauen und Medien, zu dem ich auch etwas sagen möchte. Ich finde es eigentlich beachtenswert und ein bißchen skandalös, daß diese Debatte - eine vierstündige Debatte - des Deutschen Bundestages über Frauen nicht von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Fernsehen und im Rundfunk übertragen wird.
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Wäre jetzt eine Debatte z. B. über Kernenergiepolitik oder, wie heute nachmittag, über Rechtspolitik, dann könnten sich die Anstalten nicht genug daran tun, auf möglichst allen Kanälen zu übertragen. Ich bedaure das sehr und hoffe, daß das das letzte Mal in dieser Form passiert ist.
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- Das ist möglich. Da kann ich nur guten Appetit wünschen!
Es ist deshalb, meine Damen und Herren, der Enquete-Kommission sehr zu danken, daß sie in einem speziellen Kapitel zu den Problemen der Frau in den Institutionen der Medien und der Darstellung der Frau in den Medien Stellung genommen und auch Vorschläge für Verbesserungen vorgebracht hat. Allerdings - das erlaube ich mir hier auch kritisch anzumerken - wären die Ausführungen noch aufschlußreicher gewesen, wenn sich die Darlegungen des Berichts auf die gesamte Medienpalette, also auch auf die gedruckten Medien und nicht nur auf Funk und Fernsehen, bezogen hätten.
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So ist manches ein bißchen einseitig geworden.
Außerdem vermisse ich im Bericht Einlassungen darüber, was die Medien, insbesondere auch die elektronischen, gerade für die Frauen leisten können und welche positiven Möglichkeiten sie bieten.
Bevor ich deshalb auf einige Teilaspekte des Enquete-Berichts eingehe, darf ich ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum Thema Frauen und Medien machen.
Meine Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, daß die breite Palette der Medien, der gedruckten wie der elektronischen, gerade auch für Frauen besondere Chancen der Lebensentfaltung und Selbstverwirklichung geschaffen haben und noch weiter schaffen können, und zwar in einer Weise, wie es sich frühere Generationen überhaupt nicht haben träumen lassen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für diejenigen Frauen, die durch Familie oder Beruf zeitlich und örtlich stark gebunden und wenig mobil sind. Hier eröffnen die Medien neue Möglichkeiten der Bildung, der Information und der Unterhaltung. Ich darf hier nur daran erinnern, welche Chancen die Medien, vor allem das Fernsehen, in bezug auf die Weiterbildungsmöglichkeiten besonders für Frauen bieten und bieten können. Sie schaffen darüber hinaus Kontaktmöglichkeiten für die Frauen, denn Weiterbildung durch Medien - das wissen wir heute - ist vor allem im Medienverbund effektiv.
Ich wünsche mir, daß die Frauengruppen, die Verbände und die Erwachsenenbildungseinrichtungen
noch stärker diese neuen Aufgaben begreifen, die sie noch längst nicht hinreichend erfaßt haben.
Meine Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, daß die Medien für Frauen und für die gesamten Familien auch neue Gelegenheiten differenzierter Freizeitgestaltung bieten, wenn sie entsprechend genutzt werden. Es ist nicht zu übersehen, daß die Medien in ihrer Vielfalt einen vergrößerten Freiheitsraum für den Menschen schaffen. Aus diesem Grunde weigere ich mich eigentlich, den ohne Zweifel auch vorhandenen Mißbrauch der Medien, etwa durch Überkonsum, als Ausgangspunkt der Diskussion des Themas Frau, Familie und Medien zu wählen. Ich bin auch nicht der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers, der im vermeintlichen Interesse der Familien ja am liebsten einer medienpolitischen Rationierung durch Einschränkung des Fernsehangebots das Wort redet.
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Denn ich glaube, eine solche Rationierung des Angebots stellt den mündigen Bürger unter Vormundschaft und beschneidet die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten vieler Frauen.
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Die Verhinderung legitimer technologischer Entwicklungen ist kein adäquater Weg für mündige Bürger in einer freiheitlichen Gesellschaft. Ich denke, daß gerade eine größere Vielfalt des Angebots nicht nur ein Mehr an Quantität, sondern auch ein Mehr an Qualität und vor allem an zielgruppenorientiertem Angebot auch für Frauen bedeuten kann. Selbstverständlich sehe ich wie wir alle, daß die technische Entwicklung bei den Medien auch Gefahren und Mißbrauchsmöglichkeiten in sich birgt. Aber ich bemängele, daß gerade in der öffentlichen Diskussion in der Vergangenheit fast ausschließlich von dem Mißbrauch und nicht von dem Mehr an Freiheit, das Medien bringen können, zu hören ist.
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- Dies gilt auch gerade für Frauen. Das möchte ich sehr unterstreichen, Frau Kollegin. Der sinnvolle Gebrauch und die Nutzung der Medien bringen gerade für Frauen - das möchte ich noch einmal unterstreichen - neue Möglichkeiten der Entfaltung, der Bildung und der Information,
({6})
gerade für Frauen, die vielfach gebunden sind, ob das die Berufstätigen oder ob das die Familienmütter sind. Das dürfen wir nicht übersehen.
Aber weil wir die Bedeutung der Medien für Frauen, für Familien und - ich sage das bewußt - auch für Kinder so positiv sehen,
({7})
müssen wir hier einschalten, daß die Medienpädagogik - dies möchte ich betonen - eine größere Bedeutung im gesamten Leben bei uns erhalten muß. Kinder und Erwachsene, Mütter und Väter müssen auf den Gebrauch und auf die Gefahren eines übertriebenen und unverstandenen Gebrauchs von Medien hingewiesen werden. Ich denke, daß hier die Schul- und die Erwachsenenpädagogik eine wichtige Aufgabe hat, der sie sich noch längst nicht genügend gewidmet hat, auch unter Einbeziehung der Ergebnisse der Medienwirkungsforschung.
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Ich glaube auch - das lassen Sie mich mit Blick auf neue technologische Möglichkeiten sagen -, daß es gerade für Frauen wichtig ist, daß ein noch stärkerer Dialog zwischen Medium und Konsumenten zustande kommt. Hier bieten die neuen Zwei-WegKommunikationsmöglichkeiten neue Chancen.
Meine Damen und Herren, der Enquete-Bericht behandelt auch sehr ausführlich die Situation der Frau in den Medien, d. h. eigentlich nur in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern. Dabei wird deutlich, daß hier für die Mitarbeiterinnen noch sehr viel im argen liegt. Es ist verdienstvoll, daß diese Situationsbeschreibung ein grelles Licht auf die Schwierigkeiten und Probleme der Frauen insbesondere auf den höheren Ebenen der Hierarchie wirft, ein Licht, das hoffentlich das Dunkel, das diesen Bereich häufig umhüllt, dauerhaft und helfend erhellt. Ich finde es in der Tat sehr bemerkenswert, daß gerade in den Funkhäusern, Einrichtungen, die sich in ihren Sendungen gern so progressiv und fortschrittlich geben, die gleichen Schwierigkeiten für Frauen bestehen, die wir in Betrieben der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst insgesamt finden.
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Politisch müssen wir daher die Situation der weiblichen Mitarbeiter in den Anstalten in den größeren gesellschaftspolitischen Rahmen stellen. Wir haben darüber hier in den Beiträgen bislang viel gehört. Der Bericht macht viele Vorschläge. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, für die Mitarbeiterinnen in den Anstalten spezielle Maßnahmen zu ergreifen, wie es der Bericht fordert. Ich glaube, daß wir die Probleme der Frauen in den Anstalten in ähnlicher Weise gesamtpolitisch, gesellschaftspolitisch anpacken und einer Lösung näherführen müssen, wie es für die Mitarbeiter in anderen Unternehmungen gilt.
Allerdings - das lassen Sie mich auch sehr deutlich sagen - bin ich der Auffassung, daß den öffentlich-rechtlichen Anstalten ebenso wie dem öffentlichen Dienst eigentlich eine Pilot- und Vorbildfunktion zukommt, was die Förderung von Frauen angeht. Diese Pilot- und Vorbildfunktion ist bislang nicht wahrgenommen worden.
Ich halte es für ein wichtiges und - wie ich glaube - für unser gemeinsames politisches Anliegen, daß gerade auch in den öffentlich-rechtlichen Anstalten für Männer und Frauen gleiche berufliche Chancen und Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Dies bedeutet, die gleiche qualifizierte Ausbildung von Männern und Frauen, auch im Journalismus. Dies bedeutet die gleichen Weiterbildungschancen. Ich glaube, daß hier gerade den Medien eine ganz besondere Aufgabe zukommt.
Im Bereich der Weiterbildung sind im Journalismus in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt worden, die allerdings an den Frauen teilFrau Dr. Wilms
weise vorbeigegangen sind. Hier müßte für die Frauen noch manches verbessert werden.
Die geringe Repräsentanz der Frauen in den Aufsichts- und Entscheidungsorganen der Anstalten ist, wie der Bericht auch deutlich macht, ein Problem, das sich in diesem Hohen Haus wie in allen politischen Parteien tagtäglich zeigt. Es wäre ja fast verwunderlich, wenn diese Erscheinung nicht auch in den großen Rundfunkanstalten zu finden wäre.
Um hier Abhilfe zu schaffen, müssen wir möglichst viele Frauen ermutigen, sich der politischen Auseinandersetzung zu stellen und sich in ihr durch Leistung zu bewähren. Parallel dazu - das möchte ich ausdrücklich allen politischen Gruppierungen sagen - muß in den politischen Parteien und in den anderen gesellschaftlichen Gruppen, die die Gremien beschicken, die Einsicht wachsen, wie notwendig es ist, auch qualifizierte Frauen in die Aufsichtsgremien zu entsenden. Es gibt genügend solche Frauen; man wird sie finden; man muß sie nur suchen.
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Lassen Sie mich einen letzten Teil anschneiden. Der Enquete-Bericht legt eine Grundproblematik der öffentlich-rechtlichen Medien offen. Einerseits sind sie als öffentlich-rechtliche Anstalten dem Verfassungsgebot der Gleichberechtigung verpflichtet. Andererseits tragen sie nach Auffassung der Enquete-Kommission auf Grund ihrer Absatzorientierung, das heißt ihrer Ausrichtung nach Einschaltquoten, eher zur Bestätigung bestehender Werthaltungen als zu deren Veränderung bei. Tatsächlich sind bislang die Funkmedien bei der Durchsetzung des Gleichberechtigungspostulats auf Grund ihrer Absatzorientierung wenig hilfreich.
Was ist zu tun? Die Alternative hierzu innerhalb des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems bestünde allein in einer Indoktrination, in einer Erziehungsdiktatur, die niemand - auch nicht die Kommission - will und wollen kann. Dieses Dilemma zwischen Verfassungsauftrag und Angebotsorientierung zeigt sich ja, wie wir wissen, besonders kraß am Beispiel des Bildes der Frau in den Medien. Die meist klischeehafte Darstellung der Frau in den Medien ist vielfach beklagt worden, und der Enquete-Bericht wiederholt diese Klage. Die Darstellung der Frau - wir wissen es - als vernachlässigtes Heimchen am Herd oder als Sexidol oder als weibliche Haushaltsmanagerin wird weder den vielfachen Aufgaben noch dem Lebensverlauf oder gar auch der Würde der Frauen gerecht.
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Solche Darstellungen schaffen auch nicht gerade ein der Gleichberechtigung der Frauen dienliches Klima.
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Notwendig und der Lebenswirklichkeit entsprechend wäre ein Bild der Frauen in den Medien, das die unterschiedlichen Rollen berücksichtigt. Das bestehende System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird jedoch der Aufgabe differenzierter und pluraler Darstellung der Frau - aus welchen Gründen auch immer - bislang nicht gerecht. Das gilt auch für die Befriedigung der höchst unterschiedlichen Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnisse der Frauen.
Was ist hier zu tun? Diese von mir beschriebene medienpolitische Zielsetzung ist meines Erachtens durch eine Vergrößerung des Anteils weiblicher Mitarbeiter in den Medien und durch mehr weibliche Autoren, so notwendig das auch ist, allein nicht zu erreichen. In diesem Punkt halte ich den Bericht für viel zu optimistisch. Ich setze mehr Hoffnungen auf eine medienpolitische Entwicklung, die im elektronischen Bereich durch mehr Vielfalt als bisher gekennzeichnet ist; denn die Presselandschaft bietet ja Gott sei Dank heute ein differenzierteres Bild der Frau. Nur eine größere Medienvielfalt und ein differenzierteres Programmangebot bringen meines Erachtens die Chance, dem Frauenbild und der Darstellung der Frauensituation besser als bisher gerecht zu werden. Hoffen wir, daß ein höchst differenzierte Medienlandschaft künftig auch ein höchst differenziertes Bild der Lebensperspektive und Werthaltungen mündiger Bürger zum Ausdruck bringt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich von unserer Seite her mit einer Schlußbemerkung die Debatte beenden. Ich glaube, es ist eine gute Debatte; wir haben viel Konsens festgestellt - das ist gut so -, gerade zu diesem Thema. Es war richtig - es hat sich auch im Nachhinein als wichtig und wertvoll erwiesen -, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der vorletzten Legislaturperiode die Einsetzung dieser Enquete-Kommission auch als Fortsetzung eines ersten Frauenberichts verlangt hat, der auch auf unsere Initiative hin entstanden ist. Ich hoffe, daß uns diese vielfache Gemeinsamkeit bei Unterschiedlichkeiten in Details auch bei den Ausschußberatungen begleiten wird. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär von Schoeler.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Kurz vor dem Abschluß dieser Debatte möchte ich nur zu zwei Punkten hier noch einmal einen kurzen Beitrag leisten. Es ist übereinstimmend herausgestellt worden, welche große Bedeutung der Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft für den Abbau von Diskriminierungen hat, bei uns selbst, bei jedem von uns, der hier zuhört und der sich hier an dieser Debatte beteiligt, bei Männern und Frauen; vielleicht sogar in dieser Reihenfolge. Daran ist hier in der Debatte verschiedentlich die Fragestellung angeknüpft worden: Welche Bedeutung, welcher Stellenwert kommt der Gesetzgebung neben dem Appell an den Bürger zum notwendigen Bewußtseinswandel zu; was kann die Gesetzgebung leisten? Sicherlich sind wir uns alle darüber einig, daß die Gesetzgebung den Bewußtseinswandel nicht machen, nicht erzwingen kann. Die Frage lautet immer: Wo und inwieweit kann der Gesetzgeber über wichtige Appelle an die Öffentlichkeit hinaus, über Diskussionen, an denen jeder von uns sich in der Öffentlichkeit beteiligt, hinaus durch
Parl. Staatssekretär von Schoeler
gesetzgeberische Maßnahmen versuchen, die Entwicklung voranzutreiben?
Nun nimmt die Enquete-Kommission auch zu dieser Frage ausführlich Stellung. Sie weist darauf hin, daß wir in unserer Verfassung den Art. 3 Abs. 2 haben, der Diskriminierungen verbietet, und zieht daraus die Schlußfolgerung, daß jedenfalls eine weitere gesetzgeberische Maßnahme in Form eines Antidiskriminierungsgesetzes nicht erforderlich sei.
Ich will mich mit diesem juristischen, verfassungsrechtlichen Argument nur insofern auseinandersetzen, als ich darauf hinweise, daß Art. 3 unseres Grundgesetzes - wie alle unsere Grundrechte - den Staat als Normadressat hat.
({0})
Er betrifft nicht oder zumindest höchst unzureichend, nämlich nur in Ausgestaltungen der Rechtsprechung für Teilbereiche, Frau Kollegin, das Verhältnis privater Vertragsparteien zueinander. Deshalb haben wir ja auch z. B. mit dem Gleichstellungsgesetz im letzten Jahr einen Versuch gemacht, das Mittel des Gesetzes zu verwenden, um das Gleichberechtigungsgebot der Verfassung in der Verfassungswirklichkeit zu verstärken. Wenn nun eine Diskussion darüber geführt wird - sie ist von allen geführt worden; die Bundesregierung prüft diese Frage gegenwärtig -, ob über das Gleichstellungsgesetz hinaus weitergehende Maßnahmen erforderlich sind, dann muß man sich, glaube ich, über eine entscheidende Frage unterhalten, sie diskutieren und dann darüber entscheiden, ob es über die Regelung des Gleichstellungsgesetzes hinaus, das die Verfolgung von Diskriminierungen und ihre Ahndung auf der Ebene des Zivilrechtes beläßt und der Frau, die diskriminiert worden ist, gegebenenfalls Schadenersatzansprüche gewährt, erforderlich ist, zusätzlich eine staatliche Sanktion über den „Diskriminierer" zu verhängen, zusätzlich also das staatliche Unwerturteil auszusprechen und es nicht der privaten Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer z. B. zu überlassen, ob eines Diskriminierung verfolgt wird oder nicht. Das scheint mir die entscheidende Weichenstellung zu sein, und hier müssen wir in dieser Diskussion zu einer Antwort kommen.
Eines ist auch für mich völlig klar. Eine reine Alibi-Veranstaltung, ein Gesetz, das die Verhältnisse nicht ändert, uns ein Alibi verschafft, aber den Frauen nicht hilft, hätte mit Sicherheit keinen Sinn.
({1})
Damit aber diese Diskussion wirklich zu diesem Punkt geführt werden kann, meine ich, ist es notwendig, daß wir ernsthaft an die Prüfung herangehen, wo das Mittel des Gesetzes eingesetzt werden kann, um dem Bewußtseinswandel Beine zu machen. Der Minister für Jugend, Familie und Gesundheit und der Innenminister sind in diese Prüfung eingetreten. Ich kann versichern: wenn wir nach dieser Prüfung eine Chance sehen, daß der Abbau des Gleichberechtigungsdefizits in unserer Gesellschaft durch Gesetzgebung möglich erscheint, werden wir
diese Chance nutzen. Unser Beitrag zu dieser Diskussion wird jetzt und in den nächsten Monaten vor allem darin liegen müssen und darin liegen, allen, die sich an der Diskussion beteiligen, aufzuzeigen, um welche möglichen Inhalte und welche konkreten Regelungsgehalte es bei der Diskussion eines solchen Gesetzes geht. Wir müssen raus aus der Grundsatzfrage, über die sich herrlich streiten läßt, und wir müssen in eine sehr detaillierte Diskussion, sehr gründliche Diskussion über potentielle Inhalte eines solchen Gesetzes hinein. Beide Ministerien werden gemeinsam versuchen, die Vorgabe dafür zu liefern. Ich hoffe, daß es als Ergebnis dieser Diskussion vielleicht doch gelingt, Ansatzpunkte zu finden, wo wir mit den Mitteln des Gesetzes das Defizit an Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft abbauen können. - Vielen Dank.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Timm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank, daß ich zum Abschluß dieser Debatte noch einige Worte sagen kann, auch als Mitglied der Enquete-Kommission, das seit 1974 dabei ist.
Der Bundestag hat gut daran getan und ihm gebührt auch Dank dafür, daß er so viel Zeit der Debatte über den Bericht, der auch der Schlußbericht sein soll, zur Verfügung gestellt hat. In der Debatte ist die Palette der Vielfalt von Problemen, die in dem Bericht „Frau und Gesellschaft" notwendigerweise angeschnitten sein muß - wobei noch einiges fehlt, wie wir auch gesagt haben -, und auch die Vielfalt der Möglichkeiten zum Ausdruck gekommen.
Ich möchte auch noch einmal dem Kanzler danken, daß er auf einen Mangel hingewiesen hat, nämlich auf den, daß wir uns nicht mit den wachsenden Problemen der ausländischen Frauen und Familien beschäftigt haben. Dieses Thema, das gerade und auch in dieser Debatte aufgekommen ist - deshalb greife ich es noch einmal auf -, wird in den Diskussionen sicherlich erörtert, die über diesen Bericht jetzt in den Ausschüssen weitergehen. Wir haben ja eine ganze Reihe von Ausschüssen gebeten, sich damit zu beschäftigen, nämlich den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit - federführend -, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Innenausschuß und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als mitberatende Ausschüsse. Das heißt, daß die Diskussion in den Ausschüssen um die einzelnen Empfehlungen ganz konkret weitergeht. Ich habe die Hoffnung, daß man sich jeweils auch den Problemen der ausländischen Frauen annehmen kann, zusätzlich jetzt durch unsere Anregung.
Ich möchte am Schluß noch einige wenige Bemerkungen machen. Bei einigen Rednern der Opposition, z. B. bei Herrn Gerster, Frau Verhülsdonk, Frau Krone-Appuhn, schien mir die Sorge ein bißchen durchzuschimmern, einige der Empfehlungen und Vorschläge des Berichts könnten eine Tendenz zur Gleichmacherei oder gar zu neuem Rollenzwang irFrau Dr. Timm
gendwelcher Art haben. Ich glaube, daß eine solche Sorge nur auf einem falsch verstandenen Emanzipationsbegriff beruhen kann, etwa Frauen wollten so wie Männer werden. Das mag in den Anfängen der Emanzipation, bei den Suffragetten, so gewesen sein; aber darüber sind wir längst hinaus. Ich meine, unseren Beratungen hat der Emanzipationsbegriff zugrunde gelegen, daß es darauf ankommt, eine gesellschaftliche Rollenfixierung von Männern und Frauen überhaupt zu überwinden. Es geht also um die befreiende Überwindung des gesellschaftlichen Rollenzwangs. Darauf kommt es an. Dies war der Leitgedanke, der dem ganzen Bericht zugrunde liegt und auch an den Empfehlungen ablesbar ist. Die Sorge scheint mir deshalb nicht berechtigt zu sein.
Ich meine, wir gehen im Bericht und auch in der heutigen Diskussion über die bisherige öffentliche Diskussion hinaus, wenn wir über Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutieren. Ich glaube, wir haben gemerkt, daß wir in eine gewisse Sackgasse geraten, wenn wir über diese Vereinbarkeit nur für Frauen diskutieren. Das ist ganz deutlich geworden. Es muß so sein - dafür könnten unter Umständen auch weitere gesetzgeberische Maßnahmen notwendig werden -, daß Frauen und Männer gleichermaßen den Funktionen und Aufgaben, die die Gesellschaft über Beruf und Familie an sie stellt, gerecht werden können.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal ganz kurz - der Bericht tut es relativ ausführlich - auf den Begriff der Wahlfreiheit eingehen. Dieser Begriff sollte immer vorsichtig, nicht irreführend, nicht verdeckend oder verschleiert gebraucht werden. Wir haben keine Wahlfreiheit; auch Männer können nicht wählen. In einer Diskussionsrunde unserer Enquete-Kommission kam bei fast euphorischer Stimmung die Meinung auf, daß wir die Männer wieder ein bißchen für die Familie entdeckt hätten, wie wir damals gesagt haben.
({0})
Es ist nicht ganz so. Wir sollten uns da nichts vormachen. Die Männer tun ja etwas für die Familie; sie leisten als Ernährer den Familienunterhalt. Die Schwierigkeit liegt darin, daß den Frauen die Erziehungsfunktion in der Familie, also die Kindererziehung, und die Haushaltsführung über diese Rollenauffassung so zudiktiert wird. Männer leisten etwas, Frauen leisten etwas; aber diese Leistung der Frauen in der Familie für die Gesellschaft wird kaum honoriert.
({1})
Diese Rolle wird im Vergleich zu der Rolle des Ernährers unterbewertet. Es ist ganz klar: wer anschafft, hat auch das Sagen. Das schwingt immer mit, wenn wir über Familie reden. Wer das Geld bringt, hat letztlich die Entscheidung. Das ist letztlich die Grundlage des Abhängigkeitsverhältnisses,
das uns hier so zu schaffen macht. Das ist auch mit der patriarchalischen Familienstruktur gemeint.
({2})
- Das tut mir leid. Dann bitte ich Sie, noch einmal darüber nachzudenken, Frau Verhülsdonk. Dies ist nach Ihrer Meinung nicht gut, aber es ist sehr klar meine Meinung. Wenn wir daran vorbeireden, reden wir an der eigentlichen Problematik der Struktur der Familie und der Verhältnisse der Familienmitglieder - Vater, Mutter, Kinder - untereinander vorbei, die bis jetzt nicht demokratisch, partnerschaftlich ist und, so wie die Lage ist, es fast nicht sein kann.
Die Frauen leisten etwas für die Familie. Ich habe gesagt, wie wertvoll es ist. Im Grunde ist es über Umwege in der Gesellschaft wieder deutlicher geworden, nämlich beim Geburtenrückgang, an der Tatsache, daß Frauen und Familien weniger Kinder haben.
Es hat Vorschläge gegeben, ein Erziehungsgeld solle Abhilfe schaffen. Das ist heute nicht mehr sehr diskutiert worden. Wir wissen alle, daß wir es ohnehin finanziell nicht leisten könnten. Aber man sollte auch den Gedanken nicht zu sehr verfolgen - wir haben im Parlament oft darüber gesprochen -, weil er eine Irreführung in der Sache enthält. Es ist ja nur ein Taschengeld und macht das, was die Frauen in der Familie leisten, noch immer nicht zum Beruf. Denn dafür gibt es kein Entgelt. Alle diese Begriffe, die wir in der Diskussion benutzen, sollten wir sauber und klar verwenden, um nicht zur Verwirrung untereinander und in der Bevölkerung beizutragen.
Ich habe die Unterbewertung erwähnt. Das ist eine Problematik nicht allein der Frauen in der Familie. Die Frauenarbeit ist allgemein unterbewertet. Wir wissen doch, wie es um die Arbeitsplatzbewertung steht. Frau Steinhauer hat davon gesprochen; in anderem Zusammenhang sind auch Sie darauf eingegangen. Wir kommen erst langsam von den Frauenlöhnen über Leichtlohngruppen weg. Aber die untersten beiden Lohngruppen umfassen weitgehend noch die Tätigkeiten, die von Frauen ausgeübt werden.
({3})
Ich weise gerade auf diesen Punkt noch einmal hin und bitte die Regierung um Prüfung, wieweit wir da den Empfehlungen der Kommission folgen können - auch verfassungsrechtlich gesehen -, um auch den Tarifpartnern zu helfen, in der Frage der Bewertung des Arbeitsplatzes weiterzukommen.
({4})
Die Frage der Wertigkeit - davon bin ich ganz fest überzeugt - wird uns in den nächsten Jahren außerordentlich beschäftigen. Fast alles, was die Enquete-Kommission empfohlen hat, kostet etwas. Wir haben kein Geld. Es sind keine Finanzmittel mehr in den öffentlichen Haushalten vorhanden. Wir werden uns also fragen müssen, ob wir uns das, was uns teuer ist, auch auf Kosten anderer etwas kosten lassen können. Das meine ich wörtlich. Das heißt, daß
weil es in Zukunft keine Neuverteilung mehr gibt, über Umverteilung unter Umständen auch geheiligte Besitzstände angegriffen werden können.
({5})
Es wird schwer, aber ich fühle mich einfach herausgefordert, das auszusprechen, um deutlich zu machen, worum es gehen wird, und um keine allzu großen oder gar illusionären Hoffnungen zu wecken. Das wird bei der Diskussion über die Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung ganz deutlich werden. Es wird auch deutlich werden, wenn wir diskutieren, ob wir all das überhaupt schaffen können: Elternurlaub, Arbeitszeitverkürzungen - wir haben dieses Thema heute angeschnitten - oder auch z. B. Teilzeitangebote in Berufen, die eben ein bißchen qualifizierter und unter Umständen auch karriereträchtig sind und heute noch hauptsächlich von Männern wahrgenommen werden. Da gibt es nämlich kein Teilzeitangebot. Dann wird es erst wirklich interessant, über Teilzeit zu reden.
({6})
- Das habe ich nicht genau verstanden.
({7})
- Bei der Umverteilung überhaupt? Da habe ich von „wir" gesprochen, also insgesamt.
Ich möchte zum Abschluß gern die Gelegenheit nehmen dürfen - Herr Präsident, ich überziehe vielleicht um zwei oder drei Minuten -, Sie auf eine bemerkenswerte Veröffentlichung, einen ungewöhnlichen Hirtenbrief des Bischofs Kempf aus Limburg aufmerksam zu machen, erschienen in der letzten Nummer der „Zeit". Er macht sich Gedanken darüber, wie es kommt, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung nicht mehr das frühere Verhältnis zur Kirche haben, und untersucht insbesondere die Frage der Frauen. Ich glaube, das ist deshalb so interessant für uns, weil zumindest in meiner Sicht die Kirche hier für viele andere Institutionen der Gesellschaft überhaupt steht, ob das Parteien sind, Gewerkschaften, Berufsverbände oder wer auch immer; das geht zum Teil sogar bis in die Familie hinein. Er sagt hier zum Beispiel:
Frauen sehen und erfahren die Kirche als eine Institution, die stark von Männern geprägt ist. Weil Männer aber die Erfahrungen, Betroffenheit und Leiden der Frauen nur schwer nachvollziehen können, erwarten diese auch für die Lösung ihrer Probleme von den kirchlichen Amtsträgern immer weniger.
Ich will jetzt nicht zu weit in Einzelheiten gehen, aber ein Zitat möchte ich gern noch bringen, weil es vielleicht auch die anwesenden Männer oder auch die Männer draußen - die werden es in irgendwelchen anderen Zusammenhängen oder im Protokoll noch einmal nachlesen können - interessiert:
Die Männer sind in Familie und Beruf oft völlig ahnungslos über die Verletzungen, über die Kränkungen, die sie ungewollt und unbesonnen Frauen zufügen. Weil sie ihre eigenen Positionen und Charakterzüge verändern müßten,
wenn die Frauen recht hätten, wehren sie sich oft, meist wohl unbewußt, gegen solche Einsichten und halten die veränderten Ansprüche der Frauen für übertrieben oder unbegründet.
Wir haben heute viel von Bewußtseinsänderungen, Änderungen im Kopf und im Herzen usw. gesprochen. Hier scheint mir bei einem Amtsträger einer der großen Kirchen eine beachtenswerte Veränderung der Einsichten deutlich zu werden. Ich möchte nur hoffen, daß wir in anderen Institutionen ähnliche vorbildhafte Äußerungen finden können.
({8})
Meine Damen und Herren, ich meine - um noch den einen Punkt von Herrn von Schoeler noch einmal aufzugreifen -, daß es letztlich beinahe gleichgültig ist, welche Art von Institutionen, von Instrumenten zur Durchsetzung der Gleichberechtigung wir uns vornehmen, wenn nicht drei Voraussetzungen gegeben sind: erstens, daß sie wirklich gewollt wird, zweitens, daß die Instrumente auch durchgesetzt werden können, daß das also kein Tiger ohne Zähne wird, also nicht nur ein Bettvorleger, sondern daß sie auch wirklich greifen, also mit Sanktionen ausgestattet sind, und
({9})
wenn es möglich sein wird, daß langsam mehr und mehr Männer begreifen, daß sie, wenn der Rollenzwang in der Gesellschaft auch für sie überwunden wird, auch Vorteile davon haben, wenn sie in der Familie insgesamt mehr für die Kinder da sein können. Sie wissen es noch nicht genau, aber ich hoffe, daß die Verdrängungen und Ängste, die wir heute an vielen Widerständen, wenn wir diskutieren, spüren können, bald - daran glaube ich ganz fest - überwunden werden. Sie können aber nur gemeinsam überwunden werden. Und so hoffe ich und setze ich auf einen weiteren gemeinsamen gesellschaftlichen Reformprozeß in diesem Deutschen Bundestag. Ich hoffe, daß dieses Parlament die Chance wahrnimmt und dies nicht etwa ein Auftrag zur weiteren oder neuen Verschleierung werden wird. - Herzlichen Dank.
({10})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ausschußüberweisung im einzelnen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Bericht der Enquete-Kommission Frau und Gesellschaft auf Drucksache 8/4461 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Innenausschuß und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft.
Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
({0})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir treten in Punkt 1 der Tagesordnung ein: Fragestunde
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner zur Verfügung. Zunächst die Frage 68 des Herrn Abgeordneten Fischer ({0}):
Wird der in der Tageszeitung „Die Welt" vom 20. Februar 1981 wiedergegebene Sachverhalt über die Absichten des Bundeswirtschaftsministers zur neuen Regionaleinteilung des Versicherungsprämiensystems für die Kfz-Haftpflichtversicherung bestätigt, wonach die bisherigen sechs einheitlichen Schadensklassen nunmehr in vier großstädtische und vier Schadensklassen für die Regierungsbezirke eingeteilt werden sollen, und ist der Bundeswirtschaftsminister mit mir der Auffassung, daß die Kfz-Halter in den Großstädten dadurch noch weiter benachteiligt und zu Unrecht behandelt werden?
Die Absichten des Bundesministers für Wirtschaft zur künftigen Regionalstruktur sind in der Tageszeitung „Die Welt" vom 20. Februar 1981 insoweit richtig wiedergegeben worden, als zwei Gruppen, und zwar eine für Regierungsbezirke und eine für Großstädte, gebildet werden sollen, die jeweils in vier Regionalklassen unterteilt sind. Allerdings laufen zur Zeit noch zusätzliche Untersuchungen, die Aufschluß geben sollen, welchen Einfluß Großschäden auf den Schadenbedarf der einzelnen Regionen haben und ob Großschäden auch bei der Zuordnung der Regionen zu den Regionalklassen berücksichtigt werden sollen. Die endgültige regionale Einteilung wird daher erst festgelegt werden können, wenn diese zusätzlichen Untersuchungen ausgewertet sind.
Die Bundesregierung teilt Ihre Auffassung nicht, daß die Kraftfahrzeughalter in Großstädten durch die neue Regionalstruktur „noch weiter benachteiligt und ungerecht behandelt werden". Die Bildung der zwei Gruppen trägt dem Umstand Rechnung, daß die Bestandszusammensetzung hinsichtlich Fahrzeugstärke und Dauer der Schadenfreiheit in Regierungsbezirken und Großstädten unterschiedlich ist. Die bisherige Regelung hat, wie sich aus dem Gutachten des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Universität Köln ergibt, insoweit die Großstädte zu Lasten der Regierungsbezirke begünstigt. Die neue Regionalstruktur führt also zu einer gerechteren Prämiengestaltung.
Zusatzfrage, bitte.
Ich frage die Bundesregierung: Teilen Sie meine Auffassung, daß für Großstädte mit über 300 000 Einwohnern die Abgrenzung, die hier vorgenommen wird, in der Regel nicht möglich ist, da es sich um einheitliche Ballungsräume handelt, deren Einzugsbereich - ich denke an den Wirtschaftsverkehr und im Falle Hamburg z. B. an 150 000 Berufspendler - wesentlich größer ist, als es die Verwaltungsgrenzen zeigen, und daß gerade in solchen Ballungsräumen Tarifsprünge von und 25 mehr Prozent der überwiegenden Teilnahme der Randbevölkerung am großstädtischen Verkehr wohl nicht gerecht wird und insoweit eine gerechte Regelung hier nicht geschaffen wird?
Wir teilen diese Auffassung nicht, Herr Kollege. Sie war Gegenstand eingehender Untersuchungen, übrigens auch Gegenstand der Anhörung. Wir kommen zu dem Ergebnis, das ich Ihnen soeben hier vorgetragen habe.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Sie haben hier das Gutachten des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der Universität Köln zitiert. Sind Sie nicht mit diesem Gutachten der Auffassung, daß nach dem Ergebnis der dortigen Untersuchungen die Tarifsprünge an den Landesgrenzen, insbesondere bei dem Beispiel der Region Hamburg, dem tatsächlichen Schadenverlauf im Umland nicht entsprechen, weswegen dieses Gutachten j a gerade eine Einteilung nach Zulassungsstellen, nicht aber nach Großstädten und Regionen vorschlägt?
Gerade das Gutachten, das Sie erwähnen, hat gezeigt, daß die bisherige Schadensregelung die Großstädte begünstigt hat. Im übrigen allerdings ist der Vorschlag des Instituts, Regionalklassen nach den Zulassungsstellen zu bilden, von der überwiegenden Zahl der Teilnehmer an der Anhörung abgelehnt worden, insbesondere auch von der Masse der Vertreter der Verbraucher, und zwar wegen der außerordentlichen Ausweitung, die dann erforderlich wäre. Es müßten dann eine Vielzahl zusätzlicher Regionalklassen geschaffen werden, die von manchen als noch ungerechter empfunden wird als die Art der Differenzierung, die bisher praktiziert worden ist.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Fischer ({0}) auf:
Hält der Bundeswirtschaftsminister diese großstadtfeindliche Politik für vertretbar, und warum ist er nicht vielmehr den Empfehlungen des von ihm beim Verkehrswissenschaftlichen Institut der Universität Köln eingeholten Gutachtens gefolgt, das die Ungerechtigkeiten des geltenden Systems für die Großstädte aufgedeckt hat und vorschlägt, die Tarifgebiete nach Zulassungsstellen einzuteilen?
Die neue Regionalstruktur ist nicht großstadtfeindlich. Der Vorschlag des Gutachtens, die Zulassungsbezirke als regionale Einheiten zu bestimmen, hätte dazu geführt, daß an die Stelle der bisherigen 45 Regionen 245 Zulassungsbezirke und Agglomerate getreten wären. Bei dem Hearing am 16. Dezember 1980 haben sich die Vertreter der Versicherungsnehmer überwiegend gegen diesen Vorschlag ausgesprochen, weil er eine zu weitgehende Tarifdifferenzierung bedeuten würde.
Im übrigen hat das Gutachten eine Benachteiligung der Großstädte lediglich bei den derzeit angewandten Verfahren der Eliminierung von Zufallsschwankungen festgestellt, weil die Anzahl der Großschäden in Großstädten geringer ist als in den übrigen Regionen. Dieser Hinweis soll dadurch berücksichtigt werden, daß die Prämien für die Gruppe der Großstädte und für die Gruppe der Regierungsbezirke künftig jeweils gesondert kalkuliert werden.
Zusatzfrage? - Bitte.
Wie beurteilt die Bundesregierung den großen Tarifsprung an den Grenzen der Großstädte, der sich als eine Benachteiligung der Großstädter durch eine übermäßige Begünstigung der Randbevölkerung auswirkt, was sehr häufig dazu führt, daß sich Bewohner der Großstädte diesen Vorteil über Zweitadressen in Randbezirken der Großstädte zunutze machen und die Zulassung eines Privat-Kfz bei einer Umlandzulassungsstelle bevorzugen?
Jede Tarifdifferenzierung führt zu solchen Spannungen, die bei den jeweils Nichtbegünstigten zu Kritik Anlaß geben. Das Gutachten hat aber die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Tarifdifferenzierung ausdrücklich anerkannt; das ist auch in dem Hearing bestätigt worden. Grundsätzlich steht man einfach vor der Frage, ob man - es gibt dafür gute Gründe - jede Tarifdifferenzierung ausschalten will. Allerdings würde das schwerwiegende Wettbewerbsnachteile für einzelne Versicherungsunternehmen nach sich ziehen. Darüber hinaus würde es eine Änderung der Gesetze zur Voraussetzung haben.
Noch eine Zusatzfrage? - Bitte.
Ist der Bundesregierung der Vorschlag des hamburgischen Wirtschaftssenators Steinert bekannt, der vorschlägt, kurzfristig eine Reduzierung der Regionalklassen von gegenwärtig sechs auf drei vorzunehmen und langfristig eine Lösung im Sinne des bereits zitierten Gutachtens anzustreben?
Diese Vorschläge sind bekannt und waren auch Gegenstand der Diskussion. Der vom Bundeswirtschaftsministerium ins Auge gefaßte regionale Differenzierungsvorschlag versucht, einen Kompromiß zwischen den extremen Wünschen, auf jede Tarifdifferenzierung zu verzichten, und den ebenso extremen Wünschen, die Tarifdifferenzierung noch sehr viel stärker auszudehnen, herbeizuführen. Im Rahmen dieses Kompromisses haben wir uns zu dem Ihnen bekannten Vorschlag durchgerungen, der allerdings der hier ebenfalls erwähnten Modifizierung bedarf.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Menzel auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Benachteiligung der deutschen Stahlindustrie, die durch den EG-Ministerratsbeschluß, nach dem Stahlsubventionen bis zum 1. Juli 1983 weiter gewährt werden können, gegenüber den Stahlunternehmern in den anderen Ländern der Gemeinschaft besteht, zu beseitigen?
Die Bundesregierung bemüht sich im Interesse der deutschen Stahlunternehmen seit langem darum, die Regierungen der anderen europäischen Mitgliedstaaten zum Abbau der staatlichen Subventionen, insbesondere der Erhaltungssubventionen, an Stahlunternehmen zu veranlassen. Sie hat beträchtliche Fortschritte erzielt und wird darauf bestehen, daß im Rat am 26. März darüber hinausgehende konkrete Ergebnisse zum Subventions- und Kapazitätsabbau erreicht werden.
Ich darf daran erinnern: Am 1. Februar 1980 traten gemeinschaftliche Regeln über Beihilfen zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie, der Subventionskodex, in Kraft. Die Grundsätze dieses Kodex werden auch auf die Beihilfen angewandt, die im Rahmen von Regionalprogrammen, sonstigen allgemeinen Programmen und Eigentümerhilfen gewährt werden.
Auf Grund des Subventionskodex hat die EG- Kommission Anfang 1981 ein Verfahren gegen die belgische Regierung wegen der Gewährung unzulässiger Beihilfen eröffnet. Die Kommission hat am 3. März 1981 im Rat ferner eine größere Transparenz aller Beihilfen zugesagt. Der Ministerrat hatte am 3. März 1981 das Ziel, auch die Staaten zum Abbau von Subventionen und unrentablen Anlagen zu bewegen, die den Anpassungsprozeß bisher verzögert oder noch nicht eingeleitet haben.
Deshalb mußte ein Endpunkt für die gesamte Subventionspraxis festgelegt werden. Das ist gelungen. Es besteht nunmehr ein gemeinsamer Wille der EG- Mitgliedstaaten, die Subventionen in absehbarer Zeit auslaufen zu lassen.
Natürlich bedeutet der Beschluß nicht, daß bis Mitte 1983 jede Subvention zulässig wäre. Subventionen dürfen auch bis 1983 nur im Rahmen des eben erwähnten Subventionskodex gewährt werden, d. h. in eng begrenzten Ausnahmefällen, die es bis zu dem Beschluß im Jahre 1980 nicht gab.
Zwar hätten wir einen früheren Zeitpunkt der Beendigung der Subventionen gewünscht; doch ist das erzielte Ergebnis für die deutsche Stahlindustrie vorteilhafter als die unkontrollierte Fortsetzung des Subventionswesens, wie es vor der Einführung des Subventionskodex bestand.
Die Bundesregierung wird am 26. März im Ministerrat vor allem darauf drängen, daß Unternehmen, die Subventionen erhalten, die Kapazitäten per Saldo kräftig abbauen müssen. Die Bundesregierung prüft darüber hinaus alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um von der deutschen Stahlindustrie künftig Schaden abzuwehren, der sich auf Grund von Wettbewerbsverzerrungen im Zusammenhang mit der Subventionsgewährung anderer Mitgliedstaaten an ihre Stahlunternehmen ergibt.
Eine Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ist in die Prüfung auch die Möglichkeit einbezogen, Mindestpreise für Stahlerzeugnisse festzusetzen?
Herr Kollege, wir werden im Zuge der Verhandlungen alle denkbaren Möglichkeiten überprüfen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung - nachdem es nicht gelungen ist, die Subventionen sofort abzuschaffen - bedacht, welche sozialen Auswirkungen die Weitergewährung von Subventionen für die deutschen Belegschaften
hat? Und was gedenkt sie zu tun, um diese Auswirkungen zu mildern?
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers verweisen, die in einer Pressemitteilung wiedergegeben worden ist. Diese Erklärung bezog sich auf die Lage der Firma Hoesch.
Der Bundeskanzler sagte zu - ich zitiere wörtlich -, daß nach Vorliegen eines klaren Unternehmenskonzepts zur Überwindung der besonders schwierigen wirtschaftlichen Lage von Estel-Hoesch und eines regionalpolitischen Konzepts des Landes Nordrhein-Westfalen die Bundesregierung alle realistischen Vorschläge zur Erhaltung und Stärkung der Wirtschaftskraft der Stahlindustrie und des Dortmunder Raumes sorgfältig prüfen werde. - Diese Aussage gilt selbstverständlich für alle Bereiche der deutsche Stahlindustrie.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hoffmann.
Herr Staatssekretär, wäre es denkbar, daß gegenüber solchen Staaten, die gegen die bisherigen Subventionsregelungen verstoßen, eine Sonderabschöpfung an der Grenze erhoben wird, und wäre die Ihrer Meinung nach mit dem vereinbar, was wir als politische Bewertung der Gemeinschaft verstehen?
Eine solche Regelung bedeutete sicher eine dramatische Lage für die Europäische Gemeinschaft, aber es ist richtig, daß auch über solche Möglichkeiten nachgedacht wird, wenn es dazu kommen sollte, daß die von uns angestrebten Subventionsbaubeschlüsse in der Europäischen Gemeinschaft nicht praktiziert werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr von der Wiesche.
von der Wiesche ({0}): Herr Staatssekretär, ist der 1. Juli 1983 der Termin, zu dem Subventionsregelungen endgültig abgebaut werden, und ist dies auch der Termin, nach dem die Bundesregierung dann zur Milderung der Situation im Stahlsektor weitere Programme einleiten wird?
Es ist richtig, daß der Rat diesen Termin 1983 für die Beendigung von Subventionsplänen beschlossen hat. Die Fragen der sozialen Flankierung etwaiger bruchartiger Entwicklungen sind allerdings von diesem Termin unabhängig, denn die dramatische Situation der europäischen Stahlindustrie und ihre teilweise Wettbewerbsunfähigkeit gegenüber Stahlindustrien außerhalb der europäischen Grenzen sind ja der Anlaß für die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Lammert.
Kann die Bundesregierung erläutern, warum sie die Befristung der Stahlsubventionen bis zum 1. Juli 1983 als Erfolg ausgibt, nachdem der gegenwärtige Zustand, der jetzt seit
Jahren andauert, bereits ein eklatanter Verstoß gegen ausdrückliche Bestimmungen des Montan-Vertrages ist?
Ohne eine solche Kompromißregelung - ich habe darauf hingewiesen, daß wir einen früheren Zeitpunkt für das Auslaufen der Subventionen im Rat angestrebt haben - wäre der eben erwähnte Subventionskodex Ende 1981 ersatzlos ausgelaufen. Wir hätten dann vor der Schwierigkeit gestanden, daß die erreichte Einschränkung der Subventionen, die der Kommission die Möglichkeit des Eingriffes gibt und dafür die rechtliche Grundlage schafft, nicht gegeben gewesen wäre.
Keine zweite Zusatzfrage? - Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Meininghaus.
Herr Staatssekretär, die jetzigen Subventionen haben ja noch langfristig ihre Wirkungen. Ist der Bundesregierung bewußt, daß infolge der zur Zeit bestehenden Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Stahlindustrie der Europäischen Gemeinschaft, hervorgerufen durch diese Subventionspraxis anderer Länder, die Stahlunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland jetzt schon am Rande ihrer Existenzfähigkeit stehen und daß infolge erheblicher Entlassungen in der Eisen- und Stahlindustrie in den Städten des Ruhrgebietes eine Arbeitslosenquote von zur Zeit über 8% besteht, die sich laufend erhöht und in absehbarer Zeit zweistellig zu werden droht? Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?
Der Bundesregierung ist die von Ihnen geschilderte Situation bekannt. Auf Grund dieser Situation bemüht sie sich nachdrücklich so sehr um den dargestellten Subventionsabbau. Sie ist der Meinung, daß Chancen bestehen, ihn zu erreichen. Sie drängt insbesondere darauf, daß nach Auslaufen der vereinbarten Quotenregelung eine freiwillige Vereinbarung zwischen den europäischen Stahlunternehmen an die Stelle der jetzt von der Kommission verordneten Quotenregelung tritt. Die Bundesregierung glaubt, daß mit dieser freiwilligen Vereinbarung den schwerwiegenden Wettbewerbsnachteilen der deutschen Stahlindustrie, die aus den Subventionen anderer Länder resultiert, besser begegnet werden kann als mit der von Brüssel verordneten Quotenregelung. Das ist unsere Annahme und unser Ziel.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wie schätzt die Bundesregierung ihre Verhandlungsmöglichkeiten mit den anderen Staatschefs ein, die ja am Monatsende beginnen werden, zu einem früheren Termin als dem jetzigen zu kommen, um diese Subventionspraxis abzubauen, die unsere Stahlindustrie in große Schwierigkeiten geführt hat?
Wir wollen bei den bevorstehenden Verhandlungen eine weitere Transparenz der derzeit gezahlten Subventionen erreichen - das ist ein Ziel dieser Verhandlungen - und wollen insbesondere klarmachen, daß wir eine freiwillige Vereinbarung der europäischen Stahlunternehmen über Lieferprogramme als den einzig sinnvollen Ausweg aus der gegenwärtigen schwierigen Situation ansehen. Ich kann heute nicht voraussagen, ob wir angesichts gewisser Interessengegensätze, die hier bestehen, mit diesem Ziel Erfolg haben. Aber wir sind fest entschlossen, mit großem Nachdruck und unter Einsatz aller unserer wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Stutzer auf:
Was hat die Bundesregierung bisher unternommen, Dänemark von der überraschend eingeführten Grenzabgabe für einreisende Autobusse und der Abfertigungsgebührenerhöhung für einfahrende Lastzüge wieder abzubringen, und steht diese Abgabe nicht im Widerspruch zu der auf EG-Ebene angestrebten Steuer- und Abgabenharmonisierung?
Wenn Sie erlauben, würde ich gern beide Fragen im Zusammenhang beantworten.
Ich rufe auch die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Stutzer auf:
Wie werden die Auswirkungen dieser dänischen Maßnahmen auf den grenzüberschreitenden Verkehr und auf die Wirtschaft - insbesondere auch den Einzelhandel - im deutsch-dänischen Grenzgebiet beurteilt, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, wenn Dänemark diese neue Abgabeneinführung und Gebührenerhöhung nicht zurücknehmen oder es an dieser Grenze gar zu weiteren einseitigen Erschwernissen kommen sollte?
Die dänische Regierung hat die den innergemeinschaftlichen Personen- und Warenverkehr belastende Einführung der zollamtlichen Abfertigungsgebühr für Einreisen außerhalb der Haupttageszeit im Personenverkehr und ihre Erhöhung im Warenverkehr ohne vorherige Ankündigung oder Konsultation vorgenommen. Die Bundesregierung hat wegen der erforderlichen Abstimmung mit der EG-Kommission, die bereits eingeleitet worden ist, bisher von konkreten Schritten gegenüber Dänemark abgesehen.
Die Bundesregierung betrachtet das dänische Vorgehen nicht als in unmittelbarem Widerspruch zur Steuer- und Abgabenharmonisierung stehend, da es sich nicht um eine Steuer-, sondern um eine Gebührenregelung für zollamtliche Abfertigung an der Grenze handelt. Dennoch kann der Aspekt der Steuerharmonisierung nicht unberücksichtigt bleiben, da das Steuergefälle zwischen den beiden Ländern eine der Ursachen für den starken Omnibusreiseverkehr über die deutsch-dänische Grenze ist.
Die unmittelbaren Auswirkungen der dänischen Maßnahme auf den grenzüberschreitenden Verkehr und auf die Wirtschaft, insbesondere den Einzelhandel im deutsch-dänischen Grenzgebiet, dürften wegen der geringen Höhe der Gebühr nicht sehr erheblich sein. Bei einer durchschnittlichen Auslastung eines Omnibusses mit 30 Personen ergibt sich eine Pro-Kopf-Belastung von 50 bis 75 Pfennig.
Dennoch kann die Gefahr einer gewissen Verringerung des Reiseverkehrs, insbesondere im Falle einer etwaigen Erhöhung der Gebühr, nicht von der Hand gewiesen werden. Auf jeden Fall beeinträchtigt die Maßnahme das Ziel der Verwirklichung eines gemeinsamen Markts in einem Bereich, den die Öffentlichkeit mit Recht besonders kritisch betrachtet und von dem weite Kreise betroffen sind.
Die Bundesregierung wird daher die Kommission auffordern, den Bestimmungen des freien innergemeinschaftlichen Personen- und Warenverkehrs uneingeschränkt Geltung zu verschaffen. Sie selbst wird auf diplomatischem Weg Dänemark um die Rücknahme der Gebührenneuregelung, insbesondere im Reiseverkehr, ersuchen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es sonst zwischen zwei EG-Staaten nicht üblich, daß vor einer derartigen Erschwerung des Grenzverkehrs miteinander gesprochen wird? In welchen anderen EG-Ländern werden im Grenzverkehr von Personen und Fahrzeugen Gebühren erhoben, die als Ausgleichsleistungen für einen erhöhten Personalaufwand gedacht sind?
Ich habe angedeutet, daß wir es sehr begrüßt hätten, wenn die dänischen Behörden mit uns in dieser Frage vorher Kontakt aufgenommen hätten. Es gibt in vielen Bereichen Gebührenregelungen an den Grenzen, allerdings in aller Regel für den Warenverkehr, nicht für den Personenverkehr. Belastende Regelungen für den Personenverkehr sind uns nicht bekannt. Allerdings: Im Güterverkehr bestehen ähnliche Regelungen wie in Dänemark auch in anderen Ländern, u. a. in der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung sucht ja auf Grund der angespannten Haushaltslage nach neuen Geldquellen. Hat sie sich ähnlich wie Dänemark auch schon Gedanken darüber gemacht, ob und wie sie im Grenzverkehr Personen und Fahrzeuge zusätzlich belasten kann, oder schließt die Bundesregierung das aus?
Herr Kollege, keinesfalls unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Steuereinnahmen, sondern allenfalls im Güterverkehr unter dem Gesichtspunkt der Deckung der Unkosten könnte so etwas in Frage kommen. Ich habe darauf hingewiesen, daß wir im Personenverkehr an eine solche Maßnahme nicht denken, sie auch nicht praktizieren.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Personalverstärkungen mußten im Hinblick auf den zunehmenden Grenzverkehr auf der einen Seite die Bundesrepublik, auf der anderen Seite Dänemark vornehmen? Mit welchen durch diese neue Regelung bedingten Mehreinnahmen rechnet Dänemark?
Darüber liegen mir keine Informationen vor.
Letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie hoch ist nach den Schätzungen der Bundesregierung der Anteil der deutschen Busse und Lastzüge, die von dieser neuen Regelung betroffen werden?
Auch darüber liegt mir eine Information nicht vor. Aber ich bin gerne bereit, sie Ihnen schriftlich zuzuleiten.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf:
Welche Stromabnahmeverträge zwischen deutschen Energieversorgungsunternehmen und der Electricité de France über den Bezug von elektrischer Leistung aus den Kraftwerksblöcken in Cattenom sind der Bundesregierung gerade auch unter dem Aspekt der teilweisen Vorfinanzierung der Kraftwerke in Cattenom durch deutsche Stellen bekannt, und teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der beschleunigte Ausbau in Cattenom im Zusammenhang mit solchen Stromlieferungsverträgen steht?
Herr Kollege, nach Kenntnis der Bundesregierung hat sich die Badenwerk AG ein Strombezugsrecht an den Blöcken 1 und 2 des Kernkraftwerks Cattenom in Höhe von 5 der verfügbaren Leistung gesichert. Die sprechende Vereinbarung mit Electricité de France beinhaltet auch die Gewährung eines Darlehens von Badenwerk an die Electricité de France in Höhe von 5 % der Baukosten für die ersten beiden Blöcke des Kernkraftwerks.
Wie die Bundesregierung bereits auf Anfrage des Abgeordneten Hoffmann erläutert hat - Bundestagsdrucksache 8/4442 -, entspricht die Einräumung von Strombezugsrechten der engen elektrizitätswirtschaftlichen Zusammenarbeit europäischer Elektrizitätsversorgungsunternehmen. Der Bundesregierung liegen in diesem Zusammenhang keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der vorliegende, auf 5 % der verfügbaren Leistung an den Blöcken 1 und 2 beschränkte Stromlieferungsvertrag Einfluß auf die Beschleunigung des Kraftwerksvorhabens insgesamt haben könnte.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung deutsche Beteiligungen vor dem Hintergrund für sinnvoll und für verantwortbar, daß die Umweltauswirkungen und die Sicherheitsauswirkungen des geplanten 5200-MW-Kraftwerkes in Cattenom für die deutsche Grenzbevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig ungeklärt sind?
Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß sich dieses Strombezugsrecht auf die Blöcke 1 und 2 bezieht, also mit den Erweiterungsplänen der französischen Regierung, die einen dritten und vierten Block vorsehen, keinerlei Zusammenhang hat. Im übrigen stehen wir mit der französischen Regierung und den französischen Behörden in dieser Frage in einem sehr engen Kontakt. Wir kennen die Besorgnisse und die Befürchtungen. Wir versuchen, sie gegenüber den französischen Behörden geltend zu machen, wenn wir uns davon überzeugen können, daß sie ihre Berechtigung haben.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, auf deutsche Unternehmungen einzuwirken, die möglicherweise zukünftig weitere Beteiligungsverhältnisse eingehen wollen, und teilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß es zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig unverantwortlich wäre, wenn es zu weiteren Beteiligungsverhältnissen käme?
Herr Kollege, es gibt für mich keine Veranlassung, auf diese hypothetische Frage einzugehen. Die Tatsache, daß sich das Badenwerk ein Strombezugsrecht für 5 % der verfügbaren Leistung gesichert hat, ist - darauf habe ich hingewiesen - im Rahmen des grenzüberschreitenden Energieverbundes ein völlig normaler Vorgang, der keine Veranlassung bietet, weitergehende Schlußfolgerungen zu ziehen, wie sie etwa in Ihrer Frage anklangen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hoffmann.
Herr Staatssekretär, da ich davon ausgehe, daß Sie bei der mündlichen Beantwortung nicht sämtliche Fakten unmittelbar abgreifen können, frage ich: Wären Sie bereit, eine Zusammenstellung sämtlicher Beteiligungen deutscher Unternehmen an Elektrizitätsunternehmen in Nachbarländern zusammenstellen zu lassen und sie auch dahin gehend auszuwerten, welche Auswirkungen das auf die jeweiligen grenzüberschreitenden Stromtrassen hat?
Ich bin zuversichtlich, daß wir das machen können. Ich kann es im Augenblick nicht beurteilen. Ich werde es gerne untersuchen lassen und Ihnen Nachricht geben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Engelsberger.
Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß die Sicherung derartiger Bezugsrechte für Strom aus Frankreich, wie sie gerade angesprochen worden sind, eine Folge der bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht genügenden Ausbaumöglichkeiten der Kernenergie darstellt?
({0})
Herr Kollege, ich halte das in diesem Falle nicht für wahrscheinlich, wo es um eine Strombezugsmenge von 5 % geht. Ich meine vielmehr, daß es sich hier um einen völlig normalen Vorgang unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten handelt, der nichts mit der Einschätzung der Situation bei uns im Sinne einer Verknappung zu tun hat, die etwa auf Grund eines mangelnden Zubaus an Kernkraftwerken auftreten könnte. Aber es ist ganz selbstverständlich, daß derartige Möglich1196
keiten von den Elektrizitätsunternehmungen seit eh und je genutzt worden sind, um ihren geschätzten Bedarf auch jenseits der Grenzen zu decken, wenn sich das als wirtschaftlich sinnvoll erwiesen hat. Ein solcher Vorgang liegt hier vor.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf.
({0})
- Herr Abgeordneter, Sie werden es nicht glauben, es ist so.
Die Frage 37 der Frau Abgeordneten Roitzsch und die Frage 38 des Herrn Abgeordneten Engelsberger werden auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit ist der Geschäftsbereich abgeschlossen
({1})
und den Vorschriften und Richtlinien der Fragestunde gerecht geworden.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Staatsminister Dr. HammBrücher zur Verfügung.
Die Frage 43 des Herrn Abgeordneten Dr. Hüsch soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 39 des Herrn Abgeordneten Dr. Bötsch auf:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, daß seit 1978 die von den polnischen und sowjetischen Behörden erteilten Ausreisegenehmigungen an übersiedlungswillige Deutsche stark rückläufig sind?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminster im Auswärtigen Amt: Herr Präsident, ich würde gerne das Einverständnis des Herrn Fragestellers damit herbeiführen, daß ich beide Fragen gemeinsam beantworte.
Es besteht Einverständnis. Dann rufe ich auch noch die Frage 40 des Herrn Abgeordneten Dr. Bötsch auf:
Welche Gründe sind bejahendenfalls hierfür vorhanden, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um möglichst allen aussiedlungswilligen Deutschen die entsprechende Möglichkeit zu eröffnen?
Herr Kollege, der Bundesregierung ist, wie sie wiederholt im Deutschen Bundestag festgestellt hat, bekannt, daß die von den polnischen und sowjetischen Behörden erteilten Ausreisegenehmigungen an aussiedlungswillige Deutsche und deren Familienangehörige rückläufig sind.
Zur zweiten Frage. Die Gründe, warum die sowjetischen Behörden auch wiederholte Anträge auf Aussiedlung aus der UdSSR ablehnen, sind nicht bekannt. Hinsichtlich Polens erklärte ich zuletzt hier im Hohen Haus am 22. Januar 1981, daß die Regierung der Volksrepublik Polen das Ausreiseprotokoll in der vereinbarten Zeit erfüllt habe und es jetzt darauf ankommen werde, aufbauend auf der Offenhalteklausel und der „Information" der Regierung der Volkrepublik Polen aus dem Jahre 1970, das weitere Verfahren im Auge zu behalten und alles zu tun, damit Deutschstämmige auch weiter aussiedeln könnten, soweit sie dies wünschten.
Wie Sie wissen, Herr Kollege, nutzt die Bundesregierung jede Gelegenheit, die Ausreiseanliegen zu fördern. Sie werden bei allen Staats- und offiziellen Besuchen oder anderen Anlässen, wie z. B. der KSZE-Folgekonferenz in Madrid angesprochen. Es wird dabei zum Ausdruck gebracht, daß die Förderung humanitärer Anliegen einen bedeutenden Beitrag für die Weiterentwicklung der gegenseitigen Beziehungen sowie für die Fortsetzung des Prozesses der Entspannung und der Zusammenarbeit in Europa darstellt. Außerdem werden laufend dringende Einzelfälle von den Botschaften und dem Deutschen Roten Kreuz unterstützt.
Bei der heute begonnenen Reise des Bundesaußenministers in die Volksrepublik Polen und bei der für Anfang April 1981 vorgesehenen Reise in die Sowjetunion wird die Aussiedlerfrage wieder vorrangiger Gesprächsgegenstand sein.
Zusatzfrage, bitte.
Ist die Zahl der ausreisewilligen Deutschen im Ostblock und speziell in Polen bzw. den Gebieten östlich der Oder und Neiße und in der Sowjetunion in etwa bekannt, und ergibt sich eine größere Divergenz der Zahlen der Ausreisen, auch prozentual gesehen, zu den Zahlen aus Rumänien oder etwa aus der Tschechoslowakei?
Herr Kollege, ich kann Ihnen für die beiden von Ihnen angeführten Länder die Zahlen geben. Für die Tschechoslowakei gibt es allerdings kaum in Frage kommende Zahlen. Für Rumänien aber kann ich Ihnen die Zahlen nachliefern. Die Zahlen für die UdSSR unf für Polen kann ich Ihnen für Januar und Februar gerne nennen. Im Januar 1981 sind aus der UdSSR 343 Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und im Februar dieses Jahres 275. Aus Polen waren es im Januar 826 und im Februar 799.
Eine Zusatzfrage.
Darf ich vielleicht den ersten Teil meiner Frage, die sehr lang gefaßt war, wiederholen und nach der Zahl der insgesamt noch ausreisewilligen Deutschen im Ostblock fragen?
Herr Kollege, darüber gibt es, wie Sie wissen und wie in den Fragestunden hier schon oft diskutiert wurde, sehr unterschiedliche und keine konkreten Zahlen. Aber wir gehen davon aus, daß die Zahlen in beiden Ländern noch sehr beträchtlich sind.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Frau Staatsminister, hat die Bundesregierung zumindest Vermutungen darüber, warum gerade die Zahl der Genehmigungen der Ausreise aus der Sowjetunion in erschreckender Weise rückläufig ist? Es sind einmal etwa 800 pro Monat gekommen, jetzt kommen etwa 300 bis 400 zu uns, weniger als die Hälfte.
Herr Kollege, über Vermutungen möchte die Bundesregierung keine Auskunft geben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Frau Staatsminister, können Sie Auskunft darüber geben, daß in Friedland nicht nur die Zahlen registriert werden, die Sie eben für Januar und Februar genannt haben, sondern daß auch sehr viele Besucher aus Sorge, überhaupt nie die Erlaubnis zur Ausreise zu erhalten, hierbleiben und dann darum bangen, wann ihre Familien die Erlaubnis zur Ausreise erhalten werden?
Selbstverständlich, Herr Kollege, ist uns bekannt, daß viele Besucher aus Polen nicht zurückkehren und dann um ihre Familien bangen. Wir sind auch, wie Sie wissen, in diesen Fällen aus humanitären Gründen sehr darum bemüht, Familienzusammenführungen herbeizuführen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Jäger ({0}).
Frau Staatsminister, wird der Bundesaußenminister bei seinem Besuch in Warschau deutlich machen, daß ein Bestandteil unserer Beziehungen zur Volksrepublik Polen, der unverzichtbar ist und der zum guten Klima auch dieses Verhältnisses gehören muß, die strikte Erfüllung aller Zusagen im humanitären Bereich, insbesondere im Bereich der Aussiedlung, ist?
Herr Kollege, ich habe schon in meiner ersten Antwort ausdrücklich betont, daß Herr Bundesaußenminister Genscher gerade diesen Punkt sehr ausführlich behandeln wird und daß die „Offenhalteklausel" und die „Information", die ja vor dieser Zeit liegt, die Grundlagen dafür sind, daß wir hoffentlich weitere Aussiedler aus Polen in der Bundesrepublik aufnehmen können.
Eine weitere Zusatzfrage!
Frau Staatsminister, wird der Herr Bundesaußenminister trotz der bekannten polnischen Haltung in dieser Frage und der damit verbundenen Schwierigkeiten erneut den Versuch machen, seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß es eine wesentliche Entschärfung dieses ganzen Problems bedeuten würde, wenn sich die Regierung der Volksrepublik Polen endlich dazu durchringen könnte, den drüben lebenden Deutschen die in den entsprechenden internationalen Verträgen und Willenserklärungen vorgesehenen
Minderheiten- und Volksgruppenrechte einzuräumen?
Sie dürfen versichert sein, daß der Herr Bundesaußenminister diese Anliegen, die Sie eben vorgetragen haben, in geeigneter Form vertreten wird.
Keine weiteren Zusatzfragen!
Ich rufe die Frage 41 des Herrn Abgeordneten von der Heydt Freiherr von Massenbach auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Es wird entsprechend den Richtlinien der Fragestunde verfahren; das gilt ebenso für die Frage 42.
Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}) auf.
Welches ist der Stand der Gespräche der Bundesregierung mit der Regierung der UdSSR und des Deutschen Roten Kreuzes mit dessen Gesprächspartnern in der UdSSR über eine Vereinbarung zur Ermöglichung der Herrichtung und Pflege deutscher Kriegsgräber in der Sowjetunion, und welche Initiativen beabsichtigt die Bundesregierung zu ergreifen, um dieses humanitäre Anliegen endlich auch mit der UdSSR einer gerechten Lösung zuzuführen?
Herr Kollege, wie ich Ihnen bereits mit Schreiben vom 5. August 1980 mitteilte, hat der Bundeskanzler Anfang Juli 1980 in einem Gespräch mit dem Generalsekretär Breschnew um Unterstützung des Bestrebens des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, unmittelbar mit dem Sowjetischen Roten Kreuz in Verbindung zu treten, gebeten. Generalsekretär Breschnew hat darauf geantwortet, daß er dafür sorgen wolle, daß das Sowjetische Rote Kreuz zu einer entsprechenden Einladung an den Präsidenten des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge ermächtigt wird.
Die Kriegsgräberfrage wurde in allgemeiner Form auch anläßlich eines Aufenthaltes einer Delegation des Deutschen Roten Kreuzes in Moskau auf Einladung des Sowjetischen Roten Kreuzes in der Zeit vom 1. bis 6. September 1980 behandelt.
Da nun eine Einladung des Präsidenten des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge nach Moskau bisher nicht erfolgte, wurde diese Frage vor einigen Tagen auch von unserem Botschafter in Moskau gegenüber dem Präsidenten des Sowjetischen Roten Kreuzes angesprochen. In seiner Antwort erklärte dieser, man sei seitens des Sowjetischen Roten Kreuzes zur Erörterung über Gräber von in der Sowjetunion verstorbenen deutschen Soldaten grundsätzlich bereit, über Form und Gesprächspartner müsse jedoch zunächst intern beraten werden. Unser Botschafter hat darauf erneut an die Zusage von Generalsekretär Breschnew erinnert und auf die Zuständigkeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge hingewiesen.
Der Besuch von Bundesaußenminister Genscher in Moskau wird Gelegenheit bieten, die Kriegsgräberfrage erneut mit der sowjetischen Seite zu behandeln.
Eine Zusatzfrage bitte!
Wie erklärt sich die Bundesregierung, Frau Staatsminister, daß nach einem doch recht beträchtlichen Zeitraum, der seit der
Jäger ({0})
Unterredung zwischen Generalsekretär Breschnew und dem Bundeskanzler verstrichen ist, noch immer interne Beratungen notwendig erscheinen, um überhaupt den Umfang der Gesprächspartner und des Gesprächsinhalts von sowjetischer Seite zu klären?
Herr Kollege, erklären können wir uns das nicht. Wir können uns nur bemühen, immer wieder die Zusage, die gegeben wurde, zu reklamieren.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß dieses gewichtige humanitäre Anliegen jetzt nach so vielen Jahren eines Vertrages wie des deutsch-sowjetischen Vertrages von 1970 endlich einer Lösung zugeführt werden muß, wenn nicht viele Beteuerungen über den aufrichtigen Willen zur Zusammenarbeit, die wir aus Moskau hören, letztlich unglaubwürdig und hohl klingen müssen?
Herr Kollege, genau deshalb bemüht sich die Bundesregierung bei jeder Gelegenheit. in dieser Frage weiterzukommen. Wir haben hier auch einen Sachstandsbericht über die bereits vorhandenen Kriegsgräber in der Sowjetunion. Es sind dies zwei kleinere Friedhöfe am Rande Moskaus und größere Zahlen von Kriegsgräbern - ich brauche Ihnen das jetzt nicht vorzulegen, ich kann Ihnen das gern einmal zuleiten -, die in die Tausende gehen, in anderen Teilen der Sowjetunion. Es ist also nicht so, daß in diesem Bereich überhaupt noch nichts geschehen wäre. Aber befriedigend sind die Fürsorgemaßnahmen in keinem Fall, und deshalb werden wir uns wie gesagt, weiter bemühen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Bötsch.
Frau Staatsminister, darf man davon ausgehen, daß Sie die Sowjetunion auch insofern auf den humanitären Aspekt dieser Angelegenheit hinweisen, als sich in der Bundesrepublik Deutschland viele, viele ehrenamtliche Kräfte gerade dieses Anliegens annehmen und in der Regelung dieser Frage somit ein weit über die politischen Aspekte hinausgehender humanitärer Akt zu sehen wäre?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminster: Ich glaube, Herr Kollege, daß man das immer deutlich machen muß. Die Leistung gerade des Kriegsgräberfürsorgeverbandes ist ja wohl einmalig in der ganzen Welt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordnete Dr. Hupka.
Frau Staatsminister, könnte die Bundesregierung jetzt schon versuchen, von der Sowjetunion eine umfassende Darstellung über die Lage und die Zahl der deutschen Kriegsgräber zu erhalten? Denn das, was Sie eben zitiert haben, sind offenbar nur Fragmente.
Herr Kollege, nach der Sachstandsaufzeichnung ist das sehr umfangreich, was bereits vorhanden ist. Ich werde Ihnen das gern zuleiten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf Huyn.
Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung für den Fall, daß die sowjetische Regierung bei ihren internen Beratungen nicht bald zu einer positiven Antwort auf die Frage kommt, ob sie bereit ist, die Gespräche mit dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge zu führen, bereit, dafür zu sorgen, daß von seiten der deutschen Botschaft unmittelbar Verhandlungen über die Sorge für die deutschen Kriegsgräber geführt werden?
Herr Kollege, ich kann Ihnen die Frage im Augenblick nicht mit Ja oder Nein beantworten. Aber es ist wohl üblich, daß es hierfür die Verhandlungen zwischen den Verbänden gibt, und diesen Weg sollte man zunächst einmal weiter versuchen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Weisskirchen ({0}) auf:
Treffen Meldungen zu, wonach in Santiago de Chile vier Bürger der Bundesrepublik Deutschland nach einem Gewerkschaftstreffen festgenommen sein sollen, und welche Maßnahmen ist die Bundesregierung bereit zu ergreifen, um die Bundesbürger zu schützen?
Herr Kollege, am 8. März 1981 wurden in Santiago de Chile fünf deutsche Staatsangehörige wegen angeblicher Beteiligung an einer nicht erlaubten Straßendemonstration und angeblicher Anstiftung zum Aufruhr festgenommen. Nach Darstellung der Betroffenen haben sie an einer erlaubten Gewerkschaftsversammlung teilgenommen und seien später bei einem Spaziergang in der Nähe des Versammlungslokals verhaftet worden.
Die deutsche Botschaft hat unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls die konsularische Betreuung der fünf Bundesbürger aufgenommen. Ein Konsularbeamter hat die Inhaftierten noch am Abend der Festnahme besucht. Der deutsche Botschafter ist unverzüglich an hoher Stelle bei der chilenischen Regierung vorstellig geworden und hat die Freilassung der Inhaftierten verlangt. Da die Betroffenen mit einer Abschiebung einverstanden waren und die chilenische Regierung dieser Lösung zustimmte, konnten die betroffenen deutschen Staatsangehörigen das Land am 10. März 1981, also zwei Tage nach der Verhaftung, verlassen.
Zusatzfrage, bitte schön!
Frau Staatsminister, teilen Sie die Einschätzung, daß diese Verhaftung möglicherweise im Zusammenhang mit neuerlichen Repressionserscheinungen in dem chilenischen Regime zu sehen ist?
Herr Kollege, das will ich hier nicht beantworten, sondern nur sagen, daß wir in nachdrücklicher Weise gegen diese Verhaftungen protestiert haben und ja auch Erfolg gehabt haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Frau Staatsminister, angesichts der Tatsache, daß die neue US-Regierung Chile in die bloß autoritären Staaten - im Gegensatz zu den mehr totalitären - eingegliedert hat, möchte ich Sie fragen, ob zu befürchten ist, daß dort in Zukunft die Anwendung der Menschenrechte noch weniger stattfinden wird, als es bisher schon der Fall gewesen ist.
Ich möchte das nicht wünschen Herr Kollege.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Thüsing auf:
Was hat die Bundesregierung bisher unternommen, um auf der Grundlage des NATO-Beschlusses vom Dezember 1979 über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa Verhandlungen mit dem Ziel zu erreichen, auf die Stationierung dieser Mittelstreckenraketen zu verzichten?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat sich zusammen mit ihren Bündnispartnern wiederholt für die volle Implementierung beider Teile des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 eingesetzt. Die amerikanische Regierung hat den Verhandlungsvorschlag wenige Tage nach der Beschlußfassung in Brüssel der Sowjetunion übermittelt und in den folgenden Monaten mehrfach daran erinnert. Die sowjetische Regierung ist zunächst nicht darauf eingegangen. Die Bundesregierung hat sich in ihren Gesprächen mit Vertretern der Sowjetunion und anderen Warschauer-Pakt-Staaten für die Annahme des Verhandlungsvorschlags eingesetzt, so z. B. in den Gesprächen des Bundesaußenministers mit dem polnischen Außenminister am 19. Dezember 1979 und mit dem sowjetischen und dem ungarischen Außenminister am 16. Mai 1980 in Wien.
Der Besuch des Herrn Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers Genscher Ende Juni 1980 in Moskau wurde dazu genutzt, die Sowjetunion an das amerikanische Verhandlungsangebot zu erinnern und Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion den Weg zu ebnen. Wie Sie wissen, gelang es dabei, die grundsätzliche Zustimmung der Sowjetunion zu einer ersten Gesprächsrunde zu erhalten, die dann ja auch im Oktober/November des vergangenen Jahres in Genf stattfand.
Die Bundesregierung hat die Aufnahme der Gespräche über eine Begrenzung der nuklearen Mittelstreckenwaffen begrüßt und es als positiv bewertet, daß beide Verhandlungspartner vereinbart haben, einen Termin für die Fortsetzung der Gespräche auf diplomatischem Wege festzulegen. Des weitern hat die Bundesregierung im dafür vorgesehenen Konsultationsgremium der NATO, der sogenannten Special Consultative Group, wesentliche
Beiträge zur Erarbeitung einer vom Bündnis getragenen amerikanischen Verhandlungsposition geleistet. Schließlich hat die Bundesregierung das Angebot der neuen amerikanischen Administration zur weiteren Verstärkung der Konsultationen innerhalb des Bündnisses dazu genutzt, die Bedeutung zu unterstreichen, die sie der parallelen und gleichzeitigen Implementierung beider Teile des Doppelbeschlusses beimißt.
Ich zitiere aus der abgestimmten Zusammenfassung der Gespräche zwischen Außenminister Haig und Bundesminister Genscher vom 9. März 1981:
Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland unterstützen beide Teile des Bündnisbeschlusses vom 12. Dezember 1979 betreffend Mittelstreckenraketen. Außenminister Genscher begrüßte die Zusicherung von Außenminister Haig, daß die Vereinigten Staaten beabsichtigen, auch weiterhin enge Konsultationen mit ihren Verbündeten über die Durchführung beider Teile des Beschlusses vom Dezember 1979 zu führen.
Minister Genscher begrüßte die amerikanische Absicht, in Kürze eine Sitzung der Special Consultative Group einzuberufen.
Beide Regierungen stimmten darin überein, daß die amerikanisch-sowjetischen Gespräche über eine Begrenzung der Mittelstreckenraketen fortgesetzt werden sollten.
Wie die Bundesregierung und Bundesminister Genscher wiederholt festgestellt haben - zuletzt vor der SPD-Fraktion und im Auswärtigen Ausschuß -, muß es Ziel dieser amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen sein, einen Beitrag zu einem stabilen Gleichgewicht durch die Vereinbarung von Obergrenzen für die nuklearen Mittelstreckenraketen beider Seiten zu leisten. Dabei ist die Allianz für solche beiderseitigen Begrenzungen auf möglichst niedrigem Niveau.
Keine weiteren Zusatzfragen? - Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Frau Staatsminister, wenn ich davon ausgehe, daß die Annahme des Angebots eines Moratoriums von Herrn Breschnew dazu geführt hätte, daß die weitere Stationierung von SS-20-Raketen gestoppt wäre und die Möglichkeit zur Aufnahme von sofortigen Verhandlungen bestanden hätte, tritt dann nicht die Frage auf, ob es noch gerechtfertigt ist, weiterhin die Notwendigkeit der Nachrüstung mit der fortlaufenden Stationierung von SS-20-Raketen zu begründen?
Herr Kollege Hansen, die Bundesregierung hat erklärt, daß der Vorschlag von Generalsekretär Breschnew deshalb nicht akzeptabel ist, weil er den großen Vorsprung der Sowjetunion im Mittelstreckenbereich nicht nur zeitlich, sondern auch quantitativ und qualitativ zementieren würde, und daß dieser Vorschlag deshalb für die Bundesregierung - und für die an1200
deren Bündnispartner übrigens auch - nicht akzeptabel sei.
({0})
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 47 des Herrn Abgeordneten Hansen auf:
Sieht die Bundesregierung in der beträchtlichen Erhöhung der finanziellen Zuschüsse zu den auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland stationierten US-Sendern Radio Free Europe und Radio Liberty im Haushalt der Vereinigten Staaten für 1982 die Gefahr einer zunehmenden Störung der Entspannungspolitik durch konfliktverschärfende Propagandasendungen dieser beiden Sender, auch im Zusammenhang mit der neuen Politik der US-Regierung gegenüber der Sowjetunion?
Herr Kollege, darf ich auch hier die beiden von Ihnen eingereichten Fragen gemeinsam beantworten?
({0})
Dann rufe ich auch Frage 48 des Herrn Abgeordneten Hansen auf:
Wird die Bundesregierung unter Abwägung bundesrepublikanischer Interessen und ihrer Bündnistreue die Sendelizenzen für die beiden Sender weiter verlängern?
Die Bundesregierung sieht die von Ihnen behauptete Gefahr nicht. Der Bundesregierung ist auch nicht bekannt, daß der amerikanische Kongreß eine beträchtliche Erhöhung des Haushalts der beiden in München stationierten amerikanischen Sender beschlossen hätte oder zu beschließen beabsichtigt.
Schließlich: Die Sendelizenz ist auf unbestimmte Zeit gewährt. Zu ihrem Widerruf besteht nach Ansicht der Bundesregierung kein Anlaß.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatsminister, wie vereinbart sich die Existenz und der nach wie vor CIA-gesteuerte Betrieb dieser Sender auf dem Boden der Bundesrepublik mit der Souveränität und der Rundfunkhoheit der Bundesrepublik?
Herr Abgeordneter, nach unseren Richtlinien über die Fragestunde ist eine Bewertung nicht zulässig. Bitte fahren Sie mit ihrer Frage in einer anderen Form fort.
Das war keine Bewertung, das war eine Feststellung.
Das ist eine Bewertung.
Dann frage ich weiter: Gilt angesichts des jüngsten Attentats, Frau Staatsminister, eigentlich die Charakterisierung des CSU-Innenministers Junker aus dem Jahre 1963 noch, der sich damals bemüht hatte, die Tätigkeit politischer Untergrundorganisationen und Geheimdienste zu unterbinden, wonach „das ganze Personal dieses aus amerikanischer Quelle finanzierten Senders eine zusätzliche Belastung ist, die mit normalen rechtstaatlichen Mitteln nicht zu bewältigen ist"?
Herr Kollege, ich kann zu weit zurückliegenden Zitaten bayerischer Innenminister hier nicht Stellung nehmen. Ich kann nur noch einmal die Prinzipien der Bundesregierung wiederholen, nämlich -
Frau Staatsminister, darf ich Sie unterbrechen, bitte. - Herr Kollege Hansen, ich hätte diese Frage, wenn ich sie im vollen Wortlaut gekannt hätte, nicht zugelassen, weil hier die Bundesregierung zu fragen ist, und weil sie nicht darüber zu befragen ist, was sie von Meinungen nicht der Bundesregierung unterstehender Organe hält. ({0})
Ich bitte um Nachsicht, Frau Staatsminister,
({1})
daß ich diese Unterbrechung vorgenommen habe.
({2})
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen, bitte.
Dann versuche ich es noch einmal. Kann die Bundesregierung ausschließen - hier wende ich mich direkt an die Bundesregierung, Frau Staatsminister -, daß die Tätigkeit dieser Propagandasender, die laut „Welt" „mit verfeinerten Mitteln der psychologischen Kriegsführung" arbeiten, eine ähnliche Wirkung auf die Ereignisse in Polen haben kann wie 1956 auf das Geschehen in Ungarn auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges,
({0})
zumal die Sendungen nach eigenen Angaben von etwa 55 % der polnischen Bevölkerung gehört werden?
({1})
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Herr Kollege, die Bundesregierung kann Ihren Behauptungen in keinem Fall zustimmen. Sie ist grundsätzlich auf Grund unserer verfassungsmäßigen Ordnung für die freie Meinungsentfaltung und für den freien Fluß von Informationen. Das gilt für Deutsche ebenso wie für Ausländer. Sie wissen genau, daß wir auch niemals behindern, daß ausländische Sender in die Bundesrepublik hinein ihre Sendungen ausstrahlen, z. B. die Sowjetunion in sehr großem Umfang.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, angesichts dessen, was Sie zuletzt gesagt haben, muß ich Sie allerdings fragen, welche Möglichkeiten der Kontrolle die Bundesregierung über vom Ausland auf deutschem Boden betriebene Sender hat. Wäre es nach
dem, was Sie eben gesagt haben, nicht möglich, daß jede x-beliebige ausländische Macht auf dem deutschen Boden mit Dauerlizenzen, wie Sie gesagt haben, eine ähnliche Propagandatätigkeit entfalten könnte? Sehen Sie da nicht große Bedenken im Hinblick auf eine solche Entwicklung?
Herr Kollege, die Bundesregierung kontrolliert die Sendungen nicht. Sie ist aber jederzeit bereit - und hat es auch schon getan -, bei Einwendungen gegen Sendungen der Frage nachzugehen, ob diese Einwendungen oder diese Kritik berechtigt sind. Das wird sie auch in Zukunft so halten. Sie hat bisher keinen Anlaß gehabt, diese beiden Sender als reine Propagandasender zu qualifizieren, wie Sie das vorhin getan haben.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage, Abgeordneter Graf Huyn.
Frau Staatsminister, teilt die Bundesregierung die Ansicht, daß die Arbeit der beiden genannten amerikanischen Sender ebenso wie die etwa des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle dem Ziel dient, welches in der KSZE- Schlußakte als Freizügigkeit für Informationen und Meinungen genannt ist?
Ja, Herr Kollege, ich habe das vorher beides zitiert, auch die UNESCO-Medien-Konvention, die hier einschlägig wäre. Wir hoffen, daß es sich immer um sachliche und informative Sendungen handelt, die eben der Informationsfreiheit der Menschen im Bereich der KSZE-Schlußakte dienen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, sind Sie deswegen bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß natürlich von kommunistischer Seite andere Meinungen vorherrschen? So hat etwa kurz vor dem Attentat in München die kommunistische bulgarische Zeitung „Anteni" auf Seite 13 am 18. Februar gefordert - ich zitiere wörtlich -: „Man muß die Radiokombinate der Lüge und der Verschwörung ,Freies Europa' und ,Liberty' schließen." Wenige Tage danach, am 23. Februar, hat die ebenfalls bulgarische kommunistische Zeitung „Otetschestwen Front" erklärt: „Die Radiosendungen sind eingestellt worden." Sie hatte hiermit Gott sei Dank unrecht.
Herr Kollege Graf Huyn, diese Frage hätte ich auch nicht zugelassen, wenn ich sie im Wortlaut gekannt hätte. Denn das ist keine Frage an die Bundesregierung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Frau Staatsminister, können Sie mir darin zustimmen, daß die Sendungen des freien Wortes keinen Anlaß bieten dürfen, gestört zu werden, wie es jetzt die Sowjetunion tut?
Wir treten für den freien Informationsfluß auch über Grenzen ein. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Damit ist Ihre Frage wohl auch beantwortet.
Weitere Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung aus irgendeinem Anlaß die Formulierung zu bestätigen, daß ès sich bei diesen Sendern um „konfliktverschärfende Propagandasendungen" handeln könnte?
Herr Kollege, ich habe das in meiner Antwort auf die Frage schon zurückgewiesen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg.
Frau Staatsminister, hält die Bundesregierung an ihrem Entspannungsbegriff fest, der beinhaltet - und nach bisheriger Aussage immer beinhaltet hat -, daß die geistige Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie und dem kommunistischen System durch die Entspannung nicht beendet wird?
Herr Kollege, wir halten an unserem Entspannungsbegriff fest, und ich hoffe, die Opposition unterstützt uns dabei.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, hält die Bundesregierung auch insofern an ihrem Entspannungsbegriff fest, als die freie Verbreitung und der freie Austausch von Meinungen und Nachrichten nicht nur mit der Entspannung vereinbar, sondern geradezu wesentlicher Bestandteil der Entspannung ist?
Ich habe ja die Schlußakte von Helsinki und hier insbesondere Korb III schon zitiert, Herr Kollege.
Ich möchte auf die Frage hinweisen, die gestellt ist. Die Zusatzfragen müssen sich auf den Inhalt der Fragen beziehen, sonst bekommen wir hier eine Entspannungs- oder Abrüstungsdebatte, und das ist nicht Sinn der Fragestunde.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger ({0}), bitte.
Frau Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß die Sendungen von Radio Liberty und Free Europe von Millionen Menschen in kommunistisch regierten Staaten nicht als konfliktverschärfend, sondern als Stimme der Freiheit, der Menschrechte und der Humanität gesehen und deswegen in bezug auf ihr Informationsbedürfnis außerordentlich hoch eingeschätzt werden?
Das will ich nicht ausschließen, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.
Frau Staatsminister, wie verträgt sich Ihre hier grundsätzlich vorgetragene Haltung mit der ansonsten ja erfreulich klaren Haltung der Bundesregierung zum öffentlich-rechtlichen Charakter des Rundfunksystems?
({0})
Herr Kollege, diese Frage ist hier, glaube ich, nicht einschlägig.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, wer hat - wenn die Bundesregierung beteiligt war - die Erlaubnis gegeben, daß in den vorliegenden Ausbauplänen von 1975 bis 1982 der Sender Lampertheim auf die dreifache und der Sender Holzkirchen auf die dreißigfache Kapazität verstärkt werden sollen?
({0})
Herr Abgeordneter Thüsing, die Frage lautet: konfliktverschärfende Erhöhung der Zuwendungen für diesen Sender, nicht von Sendestärken. Wir würden eine Ausweitung der Fragestunde bekommen, die nicht vorgesehen ist. Wir haben in unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde zu veranstalten. Da kann man diskutieren. In der Fragestunde geht das nicht.
Zu einer Zusatzfrage erteile ich Herrn Abgeordneten Schöfberger das Wort.
Frau Staatsminister, wäre es nicht besser, die Bundesregierung würde sich selbst eingestehen, daß es sich bei diesen beiden Sendern schlicht und einfach um ein Stück verlängerter Besatzungsmacht handelt,
({0})
deren Regelung sich der souveränen Entscheidung der Bundesregierung entzieht?
({1})
Herr Kollege, ich darf darauf antworten, daß ich Ihre Frage und die Intention Ihrer Frage schärftens zurückweisen muß.
({0})
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Engelsberger auf:
Wie hat die Bundesregierung auf die Behandlung des Bayreuther Professors für politische Wissenschaften, Konrad Löw, reagiert, der als Gastprofessor in Prag festgenommen und nach mehreren Tagen Haft unter Einbehaltung seiner persönlichen Habe in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben worden ist, und welche Folgerungen zieht die
Bundesregierung aus diesem Vorgang für den deutsch-tschechoslowakischen Akademikeraustausch und die Verwirklichung des deutsch-tschechoslowakischen Kulturabkommens?
Herr Kollege, Professor Löw war drei Tage in Prag inhaftiert, ohne daß er die Botschaft kontaktieren durfte. Seine persönliche Habe wurde ihm während dieser Zeit im Polizeigefängnis vorenthalten. Nach dem Bericht von Professor Löw wurden bei seiner Abschiebung per Flugzeug drei seiner Bücher nicht an ihn zurückerstattet. Die Rückführung seines Wagens geschieht mit Hilfe der Botschaft der Bundesrepublik in Prag.
Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag hat wegen der Rechtsverletzungen durch die tschechoslowakischen Behörden im Fall von Professor Löw gegenüber dem Leiter der Rechts- und Konsularabteilung im tschechoslowakischen Außenministerium förmlich protestiert und dies im Auswärtigen Amt gegenüber dem Leiter der Rechtsabteilung der tschechoslowakischen Botschaft hier in Bonn wiederholt.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Der deutsch-tschechoslowakische Wissenschaftleraustausch hat sich nur langsam entwickelt, insbesondere wegen Zurückhaltung auf der tschechoslowakischen Seite. Die Belastungen, die sich für seine weitere Entwicklung aus einem solchen Vorfall wie der Inhaftierung von Professor Löw ergeben, sind dem zuständigen Abteilungsleiter im tschechoslowakischen Schulministerium von unserer Botschaft in Prag vorgehalten worden. Darüber hinaus werden sie auch den tschechoslowakischen Ansprechpartnern für den Wissenschaftleraustausch, insbesondere der Akademie der Wissenschaften in Prag und der hiesigen Botschaft, unmittelbar deutlich gemacht werden.
Trotz dieser Belastungen, Herr Kollege, sollen die Bemühungen um eine positive tschechoslowakische Haltung zum Wissenschaftleraustausch und seiner besseren Verwirklichung fortgesetzt werden.
Zusatzfrage? - Bitte.
Frau Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß Professor Löw in Prag nur deshalb verhaftet wurde, weil er bei einer Sitzung mit Mitgliedern der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften Kritik am Marxismus-Leninismus geübt und Thesen vertreten hat, die den Lehren Lenins und Marx' widersprachen?
Herr Kollege, das ist der Bundesregierung bekannt. Bundesaußenminister Genscher hat. sein Bedauern und sein Befremden über die Verhaftung ausgesprochen und dem Betroffenen auch übermittelt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, wie kann in Zukunft verhindert werden, daß sich solche Vorfälle wiederholen, und liegt es im Sinne eines deutsch-tschechischen Akademikeraustausches, daß hier letzten Endes die freie Meinungsäußerung unserer Vertreter in der Tschechoslowakei verhindert oder behindert wird?
Herr Kollege, verhindern läßt sich das nicht. Wir können nur hoffen, daß dieser Vorfall den tschechoslowakischen Partnern Anlaß gibt, es nicht zu Wiederholungen kommen zu lassen. Denn das müßte sonst früher oder später das Ende - ich möchte hinzufügen: leider - eines geregelten Austausches bedeuten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Graf Huyn.
Frau Staatsminister, wird die Bundesregierung, gerade auch mit Blick auf künftige potentielle Fälle, für Professor Löw wegen der ungerechtfertigten Verhaftung, der er ausgesetzt war, Haftentschädigung fordern?
Herr Kollege, das kann ich Ihnen aus dem Handgelenk nicht sagen. Das wird sicher geprüft werden müssen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Hat die Bundesregierung in ihren Protest auch den Vorwurf einbezogen, der Herrn Professor Löw gemacht worden ist, daß er ein Faschist sei und Gedankengut des Faschismus verbreitet habe, obwohl er selber ein Mann des Widerstandes war, aus einer Familie kommt, die Widerstand geleistet hat, und mit Faschismus nichts zu tun hat?
Herr Kollege, der Vorwurf, daß Professor Löw faschistische Äußerungen getan hätte, ist mir bekannt. Das ist selbstverständlich auch zurückgewiesen worden.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Hupka auf:
Hat die Bundesregierung auf Grund der mehrtägigen Inhaftierung des Bayreuther Universitätsprofessors Konrad Löw und auf Grund der dem Inhaftierten verweigerten Verbindung zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bei der Regierung in Prag auch unter Hinweis auf die KSZE-Schlußakte protestiert, und welche Antwort hat sie erhalten?
Herr Präsident, diese Frage ist fast deckungsgleich mit der vorherigen. Aber ich kann dennoch gern zusammenfassen, wenn der Herr Fragesteller das wünscht.
Sie sind also mit der Antwort auf die Frage 49 zufriedengestellt und wollen jetzt nur noch Zusatzfragen stellen?
({0})
- Bitte.
Frau Staatsminister, Sie haben meinem Kollegen Engelsberger gegenüber gesagt, daß die Bundesregierung förmlich protestiert habe. Was war die Antwort der tschechoslowakischen Seite auf diesen förmlichen Protest?
Herr Kollege, es scheint so zu sein, daß das Außenministerium von dem Vorfall erst aus den tschechoslowakischen Zeitungen erfahren hat. Es scheint sich hier um eine gesonderte Maßnahme gehandelt zu haben.
Zusatzfrage? - Bitte.
Hat die Bundesregierung bei ihrem Protest auch auf die KSZE-Schlußakte und auf Art. 19 des UN-Menschenrechtspaktes verwiesen, worauf sich, glaube ich, Herr Professor Löw ausdrücklich berufen hat?
Die Bundesregierung hat sich sowohl auf die KSZE- Schlußakte als auch natürlich auf das abgeschlossene Kulturabkommen berufen. Ob sie sich auch auf den von Ihnen erwähnten Pakt bezogen hat, kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.
Herr Abgeordneter Dr. Hupka, ist damit auch die Frage 51 erledigt?
({0})
- Gut. - Dann eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Graf Stauffenberg.
Frau Staatsminister, ist dem Auswärtigen Amt, der Bundesregierung bekannt, ob einer oder mehrere der wissenschaftlichen Gesprächspartner von Professor Löw vorher schon in der Bundesrepublik Deutschland zu wissenschaftlichen Gesprächen waren?
Herr Kollege, das weiß ich nicht.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 51 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Sind während des KSZE-Nachfolgetreffens in Madrid Listen mit Härtefällen der Familienzusammenführung und der Ausreise an osteuropäische Teilnehmerstaaten übermittelt worden ({0}), und gegebenenfalls an welche, oder ist nicht vielmehr entsprechend einer Weisung des Auswärtigen Amts jede Nominierung und Übermittlung von Härtefällen, um nicht selektieren zu müssen, unterblieben?
Herr Kollege, unsere Delegation hat während der am 19. Dezember 1980 zu Ende gegangenen Implementierungsphase des Madrider KSZE-Folgetreffens den Delegationen der UdSSR, der CSSR, Polens, Rumäniens, Bulgariens und Ungarns Härtefall-Listen übergeben. Einige dieser Delegationen akzeptierten die Annahme der Listen, andere verwiesen auf die bilateralen Kanäle.
Eine Zusatzfrage? - Bitte.
Frau Staatsminister, ist es richtig, daß sich die Vertretungen der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakei geweigert haben, diese Listen entgegenzunehmen?
Das ist richtig, Herr Kollege. Die Listen wurden dann über die diplomatischen Kanäle direkt in den zuständigen Außenministerien abgegeben.
Noch eine Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatsminister, ist es richtig, wenn ich von der Annahme ausgehe, daß damit die Antwort, die Sie dem Kollegen Czaja unter dem 11. Februar bezüglich der Härtefälle erteilt haben, nicht ganz zutreffend gewesen ist?
Herr Kollege, ich bedaure; ich bin mir jetzt nicht darüber klar, was ich dem Kollegen Czaja seinerzeit geantwortet habe. Lassen Sie mich diese Frage bitte schriftlich beantworten.
Ich könnte es zitieren, aber das würde vielleicht zu weit führen, Herr Präsident.
Ja, Herr Abgeordneter Dr. Hupka, Sie bekommen eine ergänzende schriftliche Antwort.
Ich rufe Frage 52 des Herrn Abgeordneten Graf Stauffenberg auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Anwesenheit des Wachbataillons des Regiments „Feliks Dzierzynski" - benannt nach dem Gründer der berüchtigten bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka - in Ost-Berlin vereinbar ist mit dem völkerrechtlich gültigen entmilitarisierten Status Groß-Berlins?
Herr Kollege, Angelegenheiten des Status von Groß-Berlin fallen in die Zuständigkeit der Drei Mächte. Die Haltung der Alliierten zum entmilitarisierten Status Berlins ist bekannt und unverändert. Die Bundesregierung teilt die Auffassung der Drei Mächte.
Eine Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, heißt diese Antwort, daß die Anwesenheit des Wachbataillons des Regiments „Feliks Dzierzynski" demnach gegen den entmilitarisierten Status und damit gegen das Recht für ganz Berlin verstößt?
Herr Kollege, ich darf es wiederholen: Es ist Angelegenheit der Drei Mächte, dies gutzuheißen oder nicht gutzuheißen. Da dieses von Ihnen zitierte Wachbataillon offenkundig auch bei Akkreditierungen von Botschaftern aus den westlichen Ländern die protokollarischen Ehren erweist, scheinen die Alliierten - wir schließen das jedenfalls daraus - hier keine Einwände zu erheben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß die Regierung der DDR durch ihre prominenten Mitglieder in Ost-Berlin das Wachbataillon „Feliks Dzierzynski" als „Teil der bewaffneten Macht der DDR" bezeichnet?
Herr Kollege, ich muß es noch einmal wiederholen: Die Bundesregierung hat in dieser Frage keine Meinung zu äußern. Es ist Sache der drei Schutzmächte, hier ihre Position zu wahren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.
Frau Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß die Frage, was Dzierzynski angeht, eine historische Unrichtigkeit und Unterstellung enthält, daß nämlich der hier Genannte im Gegenteil dadurch bekannt wurde, daß er in Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Pädagogen Makarenko am Problem der zu Zehntausenden heimatlos gewordenen Jugendlichen gearbeitet hat?
Herr Kollege, ich glaube, auf historische Streitfragen braucht die Bundesregierung nicht zu antworten.
({0})
Frau Staatsminister, Sie brauchen auch wirklich nicht alles zu wissen und nicht auf alles zu antworten.
Keine weiteren Zusatzfragen; dann rufe ich die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Graf Stauffenberg auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Einkerkerung des deutschen Staatsangehörigen Achim Rösch während fünf Jahren im Sondergefängnis des polnischen Staatssicherheitsdienstes in Warschau ohne jeden Rechtsgrund und ohne Aushändigung eines Gerichtsurteils oder eines ähnlichen Papiers, die Wegnahme seines Privatwagens sowie von Geld und Wertsachen im Wert von rund 20 000 DM durch den polnischen Staatssicherheitsdienst, seine schweren körperlichen Mißhandlungen, die Verweigerung der konsularischen Betreuung und jeglichen Kontaktes zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau seitens der polnischen Behörden mit dem Mindeststandard, der nach dem Völkerrecht gegenüber Ausländern zu wahren ist, vereinbar ist, und - falls nein - ist Bundesaußenminister Genscher bereit, Herrn Röschs Schadensersatzansprüche während seiner Reise nach Warschau am 19. März 1981 gegenüber der polnischen Regierung geltend zu machen?
Herr Kollege Stauffenberg, eine fünfjährige Gefängnishaft und die Beschlagnahme von Gegenständen ohne Gerichtsurteil oder Mißhandlung während der Haft durch Organe eines fremden Staates wären selbstverständlich als ein dem völkerrechtlichen Mindeststandard nicht genügendes Verhalten des dafür verantwortlichen Staates zu bewerten. Die Bundesregierung würde sich dagegen mit Nachdruck mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln wenden.
In dem von Ihnen angesprochenen Fall des Herrn Rösch lag ein Urteil des Bezirksgerichts Warschau vom 18. April 1977 vor. Die Bundesregierung ist wegen der von Herrn Rösch vorgetragenen Mißhandlungen bei der polnischen Regierung vorstellig geworden. Diese hat solche Mißhandlungen energisch in Abrede gestellt.
Soweit polnische Behörden Gegenstände von Herrn Rösch beschlagnahmt haben, die nicht von dem genannten Urteil erfaßt wurden, steht Herr Rösch wegen der Geltendmachung seiner Ansprüche mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung. Der mit dem Fall betraute polnische Rechtsanwalt hat sich bereit erklärt, die Verfolgung der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche zu übernehmen.
Die Frage einer amtlichen Intervention wegen der Ansprüche von Herrn Rösch gegenüber der polnischen Regierung wird geprüft werden, wenn der Zivilrechtsweg erschöpft ist.
Es ist richtig, daß die polnische Regierung die konsularische Betreuung von Herrn Rösch durch unsere Botschaft verweigert hat. Grund für diese Weigerung, gegen die die Bundesregierung mehrfach
protestiert hat, sind Meinungsverschiedenheiten über Staatsangehörigkeitsfragen. Herr Rösch war im Jahre 1954 und im Jahre 1972, also zweimal, aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Wenn Herr Rösch heute nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik Deutschland ist, so ist dies auf die Bemühungen der Bundesregierung zurückzuführen. Herrn Rösch sind die entsprechenden Bemühungen der Bundesregierung für ihn bekannt.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatsminister, Sie haben den ersten Teil Ihrer Antwort in den Konjunktiv gestellt. Heißt dies, daß eine entsprechende Unterstützung deswegen unterblieben ist, weil nach Auffassung der Bundesregierung Herr Rösch straffällig geworden sei?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat das Urteil des Gerichts eines fremden Staates als Ausdruck der Souveränität dieses Landes grundsätzlich zu respektieren. Deshalb habe ich im Konjunktiv gesprochen. Im Falle Rösch hat die Bundesregierung in hervorragender Weise alles getan, sich um Herrn Rösch bemüht und schließlich sogar seine Ausreise in die Bundesrepublik ermöglicht. Dies war deshalb besonders schwierig, weil natürlich die polnische Seite davon ausgegangen ist, daß Herr Rösch die DDR- Staatsbürgerschaft habe, daß es sich bei ihm also um jemanden handle, für den die Bundesrepublik kein Recht der Betreuung habe.
Keine weiteren Zusatzfragen?
Ich rufe dann den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Dr. Hiehle zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 75 des Herrn Abgeordneten Daweke auf:
Treffen Informationen zu, wonach der Bundesverteidigungsminister durch Erlaß das Punktesystem für die Einstellung von Berufsoffizieren geändert hat, und wenn ja, wieviel Punkte erhalten Offiziere in den verschiedenen Fachbereichen der Bundeswehrhochschulen nach erfolgreicher Beendigung ihres Studiums?
Herr Präsident, gestatten Sie bitte, daß ich die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten im Zusammenhang beantworte?
Einverstanden. Ich rufe dann auch die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Daweke auf:
Wieviel Bonuspunkte erhalten diejenigen Offiziere, die ein Studium an Bundeswehrhochschulen nicht absolvieren konnten bzw. dieses zwar angetreten, aber nicht beendet haben, und treffen Informationen zu, wonach ein Bundeswehroffizier aus der Truppe bei durchschnittlicher Beurteilung nahezu keine Chancen mehr hat, als Berufsoffizier übernommen zu werden, weil er den Punktevorsprung eines Hochschulabsolventen kaum noch aufholen kann?
Ich bedanke mich. - Herr Abgeordneter, das Konzept für Ausbildung und Bildung in den Streitkräften geht davon aus, daß der Berufsoffizier und der längerdienende Zeitoffizier in der Regel studiert haben sollen. Das Studium ist
Teil der Ausbildung zum Offizier. Dieses Konzept führte zur Gründung der Bundeswehrhochschulen. Die Bundeswehr stellt jährlich ungediente Freiwillige für die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes ein. Die Bewerber verpflichten sich zunächst auf zwölf Jahre. Etwa ein Viertel dieser Soldaten hat die Möglichkeit, als Berufsoffizier übernommen zu werden.
Die Übernahme zum Berufsoffizier erfolgt in zwei unterschiedlichen Verfahren. Bewerber, die von Anfang an den Status eines Berufssoldaten anstreben, können eine sogenannte Berufsoffizierzusage erhalten. Diese Zusage wird jedoch nur solchen Bewerbern gegeben, die die Eignungsprüfung bei der Offizierbewerberprüfzentrale besonders gut bestehen. Es handelt sich in der Praxis etwa um ein knappes Viertel des Bedarfs an Berufsoffizieren. Diese Anwärter werden nach erfolgreichem Abschluß der Offizierausbildung, wozu auch ein Studium an den Hochschulen der Bundeswehr gehört, als Berufsoffizier, etwa zwischen dem 5. und dem 6. Dienstjahr, übernommen.
Der überwiegende Anteil - etwa drei Viertel - der Berufsoffiziere rekrutiert sich aus den länger dienenden Zeitoffizieren, die ab dem 7. Dienstjahr auf Antrag als Berufsoffizier übernommen werden können.
Das Verfahren für die Übernahme von Zeitoffizieren in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten wurde im vergangenen Jahr erstmals für die Teilstreitkräfte einheitlich durch einen Erlaß geregelt. Dies war u. a. deswegen notwendig geworden, weil erstmals in größerer Anzahl Bundeswehrhochschüler für die Übernahme heranstanden. Bewertet wurden dabei die Beurteilungen, die Noten der Lehrgänge, die im Rahmen der Ausbildung durchlaufen werden und durchlaufen werden müssen, sowie die Diplomnote und die Studiendauer.
Die nach diesem Erlaß durchgeführten Übernahmen haben im Jahre 1980 zu folgenden Ergebnissen geführt: 81 % der Antragsteller mit abgeschlossenem Studium und 40 % der Antragsteller ohne Studium konnten in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten übernommen werden. Diese Ergebnisse kennzeichnen die Übernahmechancen von Offizieren mit und ohne Studium.
Das Bewertungssystem des angeführten Erlasses wird zur Zeit nach den ersten Erfahrungen, die wir gesammelt haben, neu gefaßt. Der in Kürze in Kraft tretende überarbeitete Erlaß sieht im Kern vor, daß das Studium an den Hochschulen der Bundeswehr als Regelausbildung für den Offizier auf Zeit, also zwölf Jahre, und den Berufsoffizier gegenüber anderen Ausbildungsabschnitten deutlicher als bisher herausgestellt wird.
Die Anzahl der Punkte, die der Hochschulabsolvent erhält, richtet sich nach Diplomnote und Studiendauer. Eine unterschiedliche Bewertung der Studienleistungen in den einzelnen Studiengängen der Ingenieur- oder Geisteswissenschaften ist nicht vorgesehen. Die Diplomnote des Hochschulabsolventen wird vielmehr nach dem Durchschnitt seines
Studiengangs bemessen. Hieraus wird auch die Punktzahl berechnet.
Nach dem Bildungskonzept, das also in der Regel ein Studium fordert, ergab sich die Notwendigkeit, die Kriterien für die Übernahme so zu gewichten, daß der Offizier mit Studium einen Vorsprung gegenüber dem ansonsten gleich beurteilten Offizier ohne Studium erhält. Die Vergabe von zusätzlichen Bonuspunkten für Offiziere ohne oder mit nicht abgeschlossenem Studium, wie sie in der alten Fassung des Erlasses vorgesehen sind, soll künftig entfallen. Als Ausgleich hierfür wird der Punkteansatz für die sogenannte Laufbahnbeurteilung erhöht werden. Damit wird den Kommandeuren eine größere Mitverantwortung für die Auswahl zum Berufsoffizier gegeben.
Der Bundesminister der Verteidigung geht bei der Neufassung des Erlasses wie bisher davon aus, daß bei der Übernahme zum Berufsoffizier auch dem nicht studierten Offizier eine reale und vor allen Dingen für ihn erkennbare Chance eingeräumt wird. Das Punktesystem für die Ausbildungs- und Bewährungskriterien ist in der Neufassung so abgestimmt, daß der überdurchschnittlich beurteilte Offizier ohne Studium gegenüber dem durchschnittlich beurteilten Offizier mit schlechteren Studienergebnissen eine Übernahmechance behält.
({0})
Ich darf aus den Richtlinien für die Fragestunde folgenden Satz vorlesen, auch zur gefälligen Kenntnisnahme durch die Regierungsbank: „Die Fragen müssen kurz gefaßt sein
({0})
und eine kurze Beantwortung ermöglichen."
({1})
Sollte also eine Frage eine lange Beantwortung erforderlich machen, so wäre es durchaus gerechtfertigt, wenn die Bundesregierung mit einem Satz sagte: Dies geht nicht so kurz, Sie bekommen es schriftlich.
({2})
Ich sage das deshalb, weil eine ganze Reihe von Fragestellern da sind, die auf Grund einer sehr langen Antwort nicht mehr zum Zuge kommen. Und das ist ewig schade.
({3})
- Ich lasse selbstverständlich Zusatzfragen zu. Bitte schön.
Herr Präsident, gleichwohl bin ich natürlich sehr dankbar, daß der Herr Staatssekretär in der großen Ausführlichkeit geantwortet hat.
Das glaube ich.
Herr Staatssekretär, steht die sehr hohe Bewertung der wissenschaftlichen
Ausbildung eines Offiziers nicht im Grunde genommen im Widerspruch zu den Erfahrungen und dem Erkenntnisstand der Begabungs- und Bildungsforschung heute, wo davon ausgegangen wird, daß praktische Erfahrungen durchaus dem Vergleich mit einer wissenschaftlichen Ausbildung standhalten?
Herr Abgeordneter, die Hochschulausbildung gehört zur Laufbahnausbildung. Ich verstehe Ihre Frage so. Auch in unserem Hause ist das, was Sie meinen - die Begabtenforschung und deren Ergebnisse -, bekannt. Wir werden selbstverständlich, wenn die Notwendigkeit dazu besteht, das berücksichtigen.
Weitere Zusatzfrage.
Durch die Einführung eines neuen Bewertungssystems, von dem Sie eben sagten, daß darin auch die Kommandeure einen erheblichen Einfluß bei der Beurteilung der Offiziere haben, entsteht sicherlich ein erheblicher Druck auf den Kommandeur, den Offizier überdurchschnittlich zu bewerten: Glauben Sie nicht, daß das zusätzliche Probleme in die Truppe bringt?
Es kann zusätzliche Probleme geben. Aber uns liegt vor allen Dingen daran, die Verantwortung des Kommandeurs für die Beurteilung und damit für den weiteren Weg und für die Übernahme zum Berufsoffizier mehr als bisher zu stärken und das Element der praktischen Tätigkeit mehr zu unterstreichen als bisher.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, wie hoch ein Offizier, wenn er nicht studiert hat, von seinem Kommandeur beurteilt werden muß, damit er überhaupt eine Chance hat, als Berufsoffizier übernommen zu werden?
Die Frage kann ich so abstrakt nicht beantworten. Ich müßte erst in die Akten schauen, was zur Zeit der Durchschnitt ist. Wenn Sie es schriftlich haben wollen, bin ich gern dazu bereit.
Sehr gut. - Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, droht nicht bei einem Anwachsen der Zahl der Studenten an den Bundeswehrhochschulen die Gefahr, daß der Anteil derjenigen Offiziere, die nicht studiert haben, eine immer geringere Chance hat, übernommen zu werden?
Das kann so sein; es muß nicht so sein. Es kommt selbstverständlich auch entscheidend darauf an, wie gerade in dem betreffenden Offiziersjahrgang der Bedarf ist. Ist er höher, hat ein höherer Prozentsatz der Nichtstudierten eine Chance, Berufssoldat zu werden; ist er geringer, entsprechend weniger.
Herr Staatssekretär, damit hier nicht eine falsche Auffassung aufkommen kann: Ich möchte Ihnen ausdrücklich bestätigen, daß Sie sich unendliche Mühe gegeben haben, die Frage für den Fragesteller so umfangreich zu beantworten, wie das in dem Fall notwendig war. Nur fehlt uns jetzt die Zeit für die Beantwortung anderer Fragen.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Die Fragen 77 und 78 des Herrn Abgeordneten Lowack werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 83 des Herrn Abgeordneten Biehle wird ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 26 und 27 des Herrn Abgeordneten Tietjen und die Fragen 142 und 143 des Herrn Abgeordneten Breuer sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Die Frage 2 des Herrn Abgeordneten Niegel und die Fragen 95 und 96 des Herrn Herrn Abgeordneten Dr. Voss werden gemäß Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet, weil sich die anschließende Regierungserklärung mit dieser Materie befaßt.
Wir haben noch eine knappe Minute für die Fragestunde. - Ich nehme an, daß Sie mit mir übereinstimmen, wenn ich die Fragestunde jetzt um diese 45 Sekunden früher schließe.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erhard ({0}), Dr. Klein ({1}), Dr. Wittmann, Dr. Stark ({2}), Dr. Dregger und der Fraktion der CDU/CSU
Auswirkungen rechtspolitischer Entscheidungen oder Unterlassungen
- Drucksache 9/183 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({3}) Innenausschuß
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der bisherigen Praxis des Deutschen Bundestages ist es eine seltene Ausnahme, daß ein Bundesminister auf Anregung von Fraktionen eine Erklärung abgibt. Das dürfte auch so bleiben. In diesem besonderen Fall folge ich Wünschen aus allen Bundestagsfraktionen und einer ausdrücklichen Bitte der Fraktionen von SPD und FDP.
Die Bundesregierung begrüßt die Gelegenheit, ihre Rechtspolitik zu Beginn der Wahlperiode geschlossen und im Zusammenhang zu erläutern. Nur zu oft geraten in der parlamentarischen Tagesarbeit die Grundlinien der Rechtspolitik aus dem Blickfeld. Dieser Neigung, meine Damen und Herren, sollten wir auch in der heutigen Debatte angesichts der aktuellen Demonstrationsereignisse und Hausbesetzungen nicht nachgeben.
Die Rechtsordnung als Einheit ist gerade durch die Rechtspolitik der sozialliberalen Bundesregierung im Wandel der gesellschaftlichen und technischen Bedingungen unseres Zusammenlebens bewahrt und gestärkt worden. Darum werden wir uns weiterhin bemühen. Auf dem Feld der Rechtspolitik haben die sozialliberalen Bundesregierungen seit 1969 erfolgreich und kontinuierlich gearbeitet. Noch in der Großen Koalition hat Gustav Heinemann als Justizminister die Grundlagen hierzu gelegt, z. B. für die Strafrechtsreform, das Strafvollzugsrecht und die Reform des Ehe- und Familienrechts. Horst Ehmke, Gerhard Jahn und Hans-Jochen Vogel haben diese Grundlagen konsequent und geradlinig ausgebaut. Eine Vielzahl bedeutsamer Reformwerke haben sie abgeschlossen. Das ist um so höher zu veranschlagen, als viele dieser Reformwerke seit langem überfällig gewesen waren.
In keinem anderen Bereich herrschte ein so beklemmender Reformstau wie in der Rechtspolitik, als die sozialliberale Koalition 1969 ihre Arbeit aufnahm.
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Dringliche Verfassungsaufträge waren lange verschleppt worden. Man hatte auf anderen Gebieten tatenlos zugesehen, wie sich zwischen Recht und gesellschaftlicher Wirklichkeit eine immer tiefere Kluft auftat.
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Ich nenne nur das alte Sexualstrafrecht einschließlich der inzwischen kaum mehr vorstellbaren weitreichenden Strafdrohungen gegen homosexuelle Betätigung. Es hat dem Ansehen des Rechts auch nicht gutgetan, daß noch 1969 der Ehebruch strafbar war. Nicht nur dem Strafrecht, sondern dem Recht insgesamt war es abträglich, daß Strafrechtsparagraphen, die ihren sozial-ethischen Sinn verloren hatten, vornehmlich zu Instrumenten der Erpressung geworden waren.
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Wir hätten den inneren Frieden und die soziale Stabilität, um die man uns in der Welt beneidet, nicht erreicht, wenn die sozialliberale Koalition die überfälligen grundsätzlichen Rechtsreformen nicht in Angriff genommen hätte.
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Sie hat nicht nur erkannt, sondern auch in die Praxis umgesetzt, daß es über technische Korrekturen hinaus des rechtspolitischen Handelns bedarf, wenn das Recht unter gewandelten Lebensbedingungen seine eigentliche Aufgabe erfüllen soll: die Aufgabe, den inneren Frieden zu garantieren und das men1208
schenmögliche Maß an Gerechtigkeit erfahrbar zu machen.
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Wie überfällig manche Reformen waren, zeigt sich daran, daß sie, zunächst vor allem im Parlament heftig umstritten, in kürzester Zeit von der breiten Mehrheit der Bürger bereitwillig angenommen wurden und heute zum selbstverständlichen Besitzstand gerechnet werden. Das gilt - um einige Beispiele zu nennen - für die Reform des Sexualstrafrechts und für die Einführung des sozialen Mietrechts. Es gilt für die Reform des § 218 des Strafgesetzbuchs, zu deren Auswirkungen die Bundesregierung einen zweiten Erfahrungsbericht vorlegen wird, und für die grundlegenden Reformen des Bereichs des Ehe- und Familienrechts.
Die Bundesregierung sieht ihre rechtspolitische Aufgabe für die 9. Wahlperiode in der Bewahrung des bisher Geleisteten und in seiner behutsamen Fortentwicklung. Sie hat sich in erster Linie die Konsolidierung und Abrundung, die Überarbeitung und Ergänzung des normierten Rechts zur Aufgabe gesetzt. Die Rechtspolitik hat darum keinen geringeren Stellenwert als bisher. Neugestaltung und anschließende Festigung des Erreichten ergänzen einander und sind gleichgewichtige Komponenten. Allerdings sollen darüber hinaus auch weitere drängende Reformaufgaben in Angriff genommen werden. Das werde ich im einzelnen noch darlegen.
Meine Damen und Herren, im freiheitlichen demokratischen Staat darf die Rechtsordnung nicht ein Raubtierkäfig sein, wie Adolf Arndt es ausgedrückt hat. Eine freiheitliche Rechtsordnung könnte nicht bestehen, sie wäre nicht freiheitlich, wenn sie allein darauf angewiesen wäre, mit staatlichen Machtmitteln durchgesetzt zu werden. Unter unserer Verfassung jedenfalls beruht die Rechtsgeltung letzten Endes darauf, daß der Bürger staatliche Regelungen als angemessen und gerecht begreift. Recht ist auf diese Übereinstimmung angelegt und angewiesen, es kann sich ohne sie nicht entfalten.
Selbstverständlich darf und kann der Staat auf die Durchsetzung des Rechts nicht verzichten. Er würde sich unglaubwürdig machen, wenn er Zonen der Illegalität duldete. Er ist an seine eigenen Gesetze gebunden.
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Ebenso selbstverständlich - und jetzt warte ich auf Ihren Beifall, meine Damen und Herren, nachdem ich das gesagt habe ({6})
kommt es aber entscheidend darauf an, daß die Menschen ihr Recht nicht nur gleichgültig hinnehmen und den staatlichen Zugriff nicht nur dulden. Die Bürger müssen die Rechtsordnung im ganzen als gerecht empfinden und als für sich verbindlich annehmen können.
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Vor allem bei der jüngeren Generation muß der Staat um diese Annahme werben. Es gibt bei Teilen der Jugend unserem Staat gegenüber eine Verdrossenheit, die uns bedrückt und zugleich herausfordert. Wir dürfen uns, wollen wir nicht unsere Staatsordnung selbst in Frage stellen, nicht auf Dauer mit der Absonderung großer Gruppen abfinden,
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großer Gruppen, die außerhalb des allgemeinen Rechtsbewußtseins stehen. Weit mehr als bisher müssen wir unsere Aufgabe darin sehen, unser Recht einsichtig und die Notwendigkeit seines Vollzuges begreiflich zu machen. Es genügt eben nicht, daß in den oft schwer durchschaubaren staatlichen Entscheidungsprozessen Recht geschieht, es muß sich auch in der Öffentlichkeit als Recht darstellen.
Dazu müssen Verfassungsbezug und Wirklichkeitsbezug des Rechts gewahrt und immer wieder neu hergestellt werden. Beides zusammen heißt, daß die Rechtsordnung die Wertentscheidungen unserer Verfassung in einer Welt lebhafter Entwicklungen nicht in der scheinbaren Würde der Unabänderlichkeit zur Geltung bringen kann. Das Recht anzupassen und fortzuentwickeln bleibt deshalb Inhalt der Rechtspolitik der Bundesregierung, die sich dabei an folgenden Leitlinien sichtbar und nachvollziehbar orientiert.
Es geht uns um die Verwirklichung und Bewährung der Grundrechte und Wertentscheidungen der Verfassung in allen Lebensbereichen. Die Verfassung muß sich im Leben des Staates und seiner Bürger immer von neuem verwirklichen. Das Grundgesetz ist nicht ein historisches Dokument, sondern eine wertgebundene Lebensordnung.
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Es ist in diesem Sinne Ausdruck des Respekts vor der Verfassung, wenn mein Amtsvorgänger Hans Jochen Vogel sagt:
Wie alles Recht kann auch das Verfassungsrecht im geschichtlichen Wandel nicht bloß einen Status quo erhalten. Die Verfassung wird immer wieder neu, oder aber sie vergeht.
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Es geht weiter um die sozialstaatliche Durchformung unserer Rechtsordnung. Das dynamische Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit verlangt, daß wir die bloß formale Rechtsgleichheit aller Bürger zu einer inhaltlichen Chancengleichheit weiterentwickeln. Die ausgleichende Gerechtigkeit gebietet, dem Schwächeren zu helfen. Wir brauchen soziale Ausgewogenheit nicht nur im Zivilrecht,- sondern auch im Strafrecht und auch im Strafvollzug.
Möglicherweise lassen sich die im Grundgesetz enthaltenen Staatszielvorstellungen mit Gewinn für unsere Verfassungsordnung weiter verdeutlichen und ergänzen. Die Bundesregierung prüft deshalb, ob detailliertere Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge in das Grundgesetz aufgenommen werden sollen, etwa die Sicherung des inneren und äußeren Friedens, der Schutz der Umwelt und
der Gesundheit oder das Angebot ausreichender und menschenwürdiger Arbeit für alle.
Schließlich geht es darum, die Rechtsstaatlichkeit und Freiheitlichkeit unserer demokratischen Ordnung zu festigen und zu verteidigen. Dabei gehört zur freiheitssichernden Funktion des Staates nicht nur seine Selbstbeschränkung, sondern auch der Schutz des Bürgers durch den Staat.
Diese Leitlinien schließen es aus, mit dem Recht nach Belieben zu schalten und zu walten oder die Veränderung um der Veränderung willen zu betreiben. Sie legen vielmehr die Rechtspolitik auf die Aufgabe fest, Wertentscheidungen der Verfassung und auch politische Wertvorstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen.
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Das ist für die Bundesregierung in allen Einzelbereichen der Rechtspolitik maßgebend.
Ob die Rechtspolitik gerecht ist, entscheidet sich für den Bürger in erheblichem Umfang dort, wo er dem Recht bei der Wahrnehmung seiner wirtschaftlichen Interessen begegnet. Würde er erleben, daß im Wirtschaftsleben uneingeschränkt das Recht des Stärkeren gilt, so müßte er am Sinn dieser Ordnung zweifeln. Auch unsere Wirtschaftsordnung - das sei in diesem Zusammenhang gesagt - bleibt für den Bürger nur akzeptabel, wenn ihre soziale Komponente immer wieder sichtbar wird und sich das Eigentum, das die Freiheit des einzelnen sichern und erweitern soll, nicht als Wert an sich ohne Bindung und Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit darstellt.
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Der sozialstaatliche Schutz des Schwächeren, den die Bundesregierung verwirklicht hat und noch verbessern wird, stärkt die Privatautonomie, den zentralen Wert unseres Zivilrechts. Damit wird die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft, jedenfalls einer sozial gebundenen wie der unseren, eigentlich erst gewährleistet. Das mögen diejenigen bedenken, die ein sozial ausgewogenes Zivilrecht - offen oder verdeckt - ablehnen.
Die Wohnung ist der Lebensmittelpunkt des Menschen. Für etwa 60 % unserer Bürger ist es die Mietwohnung. Der Vermieter der Wohnung hat ein berechtigtes Interesse an ihrem Ertrag. Für den Mieter ist sie ein schutzwürdiger Ort der Geborgenheit. Das seit Beginn der 70er Jahre verwirklichte soziale Mietrecht trägt beiden Interessen Rechnung.
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Bei seiner Einführung noch lebhaft umstritten, hat das neue Recht aus Anlaß seiner Verlängerung im Jahr 1974 breite Zustimmung im Parlament, auch die Zustimmung derer, die jetzt zwischengerufen oder gelacht haben, gefunden.
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Heute sind seine wesentlichen Grundsätze gesicherter sozialer Besitzstand. Daran halten wir auch bei
der bevorstehenden Ergänzung und Überarbeitung
des sozialen Mietrechts auf der Grundlage inzwischen gewonnener Erfahrungen fest.
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Mit dem Änderungsgesetz, das die Bundesregierung in Kürze einbringen wird, soll das Vergleichsmietensystem - der unverzichtbare Kern des sozialen Mietrechts - durch Mietspiegel in allen größeren Gemeinden leichter handhabbar werden. Das Mieterhöhungsverfahren wird vereinfacht werden. Auch sollen die Parteien vereinbaren können, daß der im voraus zu bestimmende Mietzins erst nach und nach in Stufen erreicht wird.
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Auf der anderen Seite wird der Schutz des Mieters bei der Umwandlung und der Veräußerung von Mietwohnungen sowie gegen überzogene Modernisierungsmaßnahmen verstärkt werden.
Nicht nur in Großstädten, meine Damen und Herren, wird in vielen Einzelfällen unangemessen und manchmal auch anstößig mit Wohnraum umgegangen. Dieser Vorwurf trifft nicht nur private Eigentümer. Er richtet sich - das wollen wir ganz offen sagen - in vielen Fällen gegen die öffentliche Hand, gegen die Praxis von Behörden und gegen fragwürdige Hemmnisse in Rechtsvorschriften.
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Durchaus noch nutzbare Altbauten stehen in solchen Fällen leer, ohne daß eine Sanierung in Sicht ist. In der jetzigen Zeit fühlbarer Wohnraumknappheit wird das verständlicherweise als Mißbrauch empfunden, als Mißbrauch, der das Vertrauen in unsere Rechtsordnung erschüttert.
Vor allem jüngere Menschen fragen ungeduldig nach der mit dem Eigentum verbundenen sozialen Verpflichtung und zweifeln angesichts des Mißbrauchs an der Glaubwürdigkeit unserer Ordnung insgesamt. Die Bundesregierung begrüßt deshalb die Absicht des Berliner Senats, einen Gesetzentwurf einzubringen, mit dem die Zweckentfremdung von Wohnraum unterbunden werden soll. Sie selbst bereitet eine Novelle zum Bundesbaugesetz vor, die es den Gemeinden ermöglichen soll, zur Beseitigung eines Wohnraummangels die Nutzung leerstehender Wohnungen anzuordnen.
({18})
Weiterhin ist die Bundesregierung für Überlegungen aufgeschlossen, die Vereinbarung wirksam befristeter Mietverträge zu erleichtern.
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Wegen erheblicher tatsächlicher und rechtlicher Probleme bedarf das jedoch noch eingehender Überprüfung.
Ein Schwerpunkt der sozialliberalen Rechtspolitik war seit jeher der Ausbau des zivilrechtlichen Verbraucherschutzes. So hat das neugestaltete Abzahlungsgesetz dem Käufer ein Rücktrittsrecht eingeräumt. Es schützt ihn damit vor Übervorteilung
und stärkt zugleich die Privatautonomie, den Interessenausgleich durch freie Selbstbestimmung der Marktpartner. Dem gleichen Zweck dient das Gesetz über Allgemeine Geschäftsbedingungen. Dem sogenannten selbstgeschaffenen Recht der Wirtschaft mußten Grenzen gesetzt werden, um jedenfalls ein Mindestmaß an ausgewogener Vertragsgestaltung sicherzustellen. In diesen Zusammenhang gehört auch der Reisevertrag, für den es zuvor kein angemessenes Regelungsmodell gegeben hat.
Die Verbesserung des Verbraucherschutzes werden wir in dieser Legislaturperiode fortsetzen. So soll das Maklerrecht bereinigt, das Wohnungsvermittlungsrecht in das Bürgerliche Gesetzbuch zurückgeholt, das Darlehensvermittlungs- und das Ehevermittlungsrecht zeitgerecht geregelt werden.
Ebenfalls neu einzubringen sein wird die Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, die in der letzten Wahlperiode nicht mehr abschließend beraten werden konnte. Der zynische Ausspruch trifft oft zu, daß sich unredlicher Wettbewerb durchaus lohne. Damit das anders wird, soll der durch unlautere Werbung getäuschte Verbraucher berechtigt sein, sich vom Vertrag zu lösen. Ob der Verbraucher auch das Recht haben soll, den Vertragspartner an einer unrichtigen Werbung festzuhalten und den sogenannten Differenzschaden zu verlangen, bedarf noch sorgfältiger Prüfung.
Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften wird ein Richtlinienentwurf für den Widerruf von Haustürgeschäften vorbereitet. In der vergangenen Wahlperiode lag ein entsprechender Entwurf des Bundesrats bereits vor. Das Thema wird auf der Tagesordnung der Bundesregierung bleiben.
Noch für diese Legislaturperiode steht ferner eine Regelung im Bereich der Produkthaftung an.
Die Neugestaltung der Staatshaftung ist nach allgemeiner Auffassung eine dringliche rechtspolitische Aufgabe. Der auf eine Vielzahl staatlicher Leistungen angewiesene Bürger sollte gegen die Risiken fehlerhafter Staatstätigkeit auch angemessen abgesichert werden.
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Das zwischen allen politischen Kräften herrschende Einvernehmen über die Notwendigkeit einer solchen Verbesserung darf nicht bloßes Lippenbekenntnis bleiben, denn inzwischen steht bei diesem Gesetzesvorhaben auch die Glaubwürdigkeit politischer Amtsträger auf dem Spiel. Wie soll man, meine Damen und Herren, dem Bürger erklären, daß die Opposition im Bundestag eine weitergehende Regelung fordert, während die von den gleichen Parteien gestellte Bundesratsmehrheit den Gesetzentwurf mit der Begründung ablehnt, dem Bund stehe gar keine Regelungskompetenz zu?
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Klare Gegnerschaft zu dem ganzen Vorhaben wäre ehrlicher, als es Umwege sind, die doch nur das baldige Scheitern zum Ziel haben.
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Das Rechtsstaatsgebot hat sich nicht zuletzt in der Normierung und Verwirklichung des Strafrechts zu bewähren. Das Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz und nur diesem. Deshalb haben wir es dort in Frage zu stellen, wo es den Rechtsgüterschutz nicht oder nicht mehr gewährleistet.
Als ultima ratio des Güterschutzes muß das Strafrecht weichen, wo es nicht der Verhinderung sozialschädlichen Verhaltens dient. Die Reform des Sexualstrafrechts z. B. beruhte auf diesem Gedanken. Es ging bei ihr nicht um eine Entsittlichung des Rechts und schon gar nicht um einen Verzicht auf gesetzgeberische Wertentscheidungen. Maßgebend war die Einsicht, daß das Strafrecht dort, wo es nicht um den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung geht, weder zur Disziplinierung der Sexualität noch zu ihrer Befreiung wesentlich beitragen kann.
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Zum anderen muß das Strafrecht dort zurücktreten, wo ein unzweifelhaft schutzwürdiges Rechtsgut mit strafrechtlichen Mitteln nicht so wirksam geschützt werden kann, wie andere Mittel das vermögen. Das war der Mangel des alten § 218 des Strafgesetzbuchs.
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Das neue Recht beruht auf der Überzeugung, daß das Rechtsgut werdendes Leben durch Beratung und soziale Hilfe besser geschützt werden kann als durch eine - wie die erschreckende Dunkelziffer beweist - ineffektive staatliche Strafdrohung.
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Eine konsequent am Rechtsgüterschutz orientierte Strafrechtsreform wird keineswegs nur entkriminalisieren, sondern dort, wo es erforderlich ist, den Strafrechtsschutz auch erweitern müssen. Denn wo neue Bedrohungen durch sozialschädliches Verhalten auftreten, sind strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten zu schaffen. So beabsichtigt die Bundesregierung, der zunehmenden Gefährdung des Gemeinschaftsfriedens durch neonazistische und rechtsextremistische Aktivitäten mit neuen Strafvorschriften entgegenzuwirken.
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Zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und zum Schutz der Umwelt hat die Bundesregierung seinerzeit Strafvorschriften veranlaßt. In dieser Wahlperiode soll durch ein Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität bestimmten Formen der sogenannten Computerkriminalität, nämlich dem Computerbetrug und der Fälschung gespeicherter Daten, begegnet werden. Weitere Straftatbestände sind in diesem Zusammenhang im Gespräch.
({27})
Das Strafrecht muß aber auch immer wieder auf seine Wirksamkeit und auf seine Erforderlichkeit geprüft werden. Dazu gehören auch die Rechtsvorschriften, die zur Abwehr des Terrorismus erlassen worden sind. Für die §§ 88a und 130 a des Strafgesetzbuches hat diese Prüfung gezeigt, daß sie so gut
wie unwirksam und damit entbehrlich sind. Sie sollen deshalb entfallen.
({28})
Beim Kontaktsperregesetz wird eine Regelung angestrebt, die die strafprozessualen Garantien auch in diesem Bereich noch stärker gewährleistet, ohne den Schutz der durch terroristische Aktivitäten bedrohten Personen zu vermindern.
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Wo es zur Abwehr schwerer Gefahren für unsere Gemeinschaft erforderlich ist, dürfen auch herkömmliche Grundsätze unseres Strafrechts und unseres Strafverfahrensrechts nicht tabuiert werden. Die Koalitionsfraktionen haben den Gesetzentwurf zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts neu eingebracht. Er soll gewährleisten, daß die für süchtige Straftäter erforderliche Hilfe nicht hinter einer Strafe zurücksteht. Die Bundesregierung begrüßt diesen Entwurf als angemessene Antwort auf ein uns alle bedrückendes Gegenwartsproblem, bei dem die existenzielle Not und Hilfsbedürftigkeit drogenabhängiger Menschen dem besonders verabscheuungswürdigen kriminellen Gewinnstreben von Rauschgifthändlern gegenübersteht.
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Der sittliche Entwicklungsstand einer Rechtsgemeinschaft läßt sich auch daran ablesen, wie sie mit dem Rechtsbrecher verfährt. Die sozialliberale Koalition hat seit ihren Anfängen das Ziel verfolgt, den straffällig Gewordenen nach Kräften wieder für das Recht zurückzugewinnen und ihm ein normales Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Resozialisierung ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sie ist zugleich eine Forderung der kriminalpolitischen Vernunft. Ein wirksamer Beitrag zur Verbrechensverhütung könnte mit der Senkung der immer noch hohen Rückfallquote geleistet werden. Mit dem Strafvollzugsgesetz hat die sozialliberale Koalition erstmals bundesgesetzlich den Grundstein für einen Vollzug gelegt, der konsequent und einheitlich dem Gedanken der Resozialisierung folgt. Durch das jetzt erneut eingebrachte Strafvollzugsfortentwicklungsgesetz sollen das Arbeitsentgelt der Gefangenen erhöht und ihre Einbeziehung in die Sozialversicherung gewährleistet werden. Das ist zwar nicht billig, aber nach der Überzeugung der Bundesregierung auch angesichts der angespannten Finanzlage des Bundes und der Länder unverzichtbar.
({31})
Denn wir dürfen es uns um unserer Rechtsstaatlichkeit und unserer Sozialstaatlichkeit willen nicht leisten, dieses Vorhaben aufzugeben. Das gleiche wird für eine Regelung des Jugenstrafvollzugs gelten. Auch hier wird die Finanzierung des im Interesse der jungen Menschen Notwendigen zweifellos nicht leicht werden.
Aktuelle Straftaten im Zusammenhang mit sogenannten Hausbesetzungen und der Mißbrauch des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit zu gewalttätigem Rechtsbruch haben den Ruf nach schärferen Gesetzen laut werden lassen. Man fordert eine Politik der harten Hand und malt den Zustand der Rechtlichkeit und Rechtssicherheit in unserem Lande in dürsteren Farben. Dazu sage ich mit allem Nachdruck: Wir brauchen keine schärferen Gesetze.
({32})
Wir brauchen keine schärferen Gesetze, denn das vorhandene Instrumentarium reicht aus. Sicherheit und Rechtssicherheit in der Bundesrepublik Deutschland sind mit ihm zu gewährleisten, und zwar, wie uns der internationale Vergleich zeigt, in hohem Maße.
Strafrechtliche Verbote müssen durchgesetzt werden.
({33})
Daran besteht bei den Verantwortlichen im Bund und in allen Ländern keinerlei Zweifel. Ermittlungsbehörden und Polizei sind allerdings nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns unter allen denkbaren Gesichtspunkten zu prüfen.
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Somit zählt nicht die Härte des Zugriffs, sondern seine Wirksamkeit auf lange Sicht. Ein zeitliches Aufschieben und der flexible Gebrauch von staatlichen Machtmitteln beeinträchtigen die Rechtssicherheit nicht. Abwägendes und besonnenes Vorgehen dient vielmehr der Rechtssicherheit, weil es Eskalation und unnötige Konflikte verhindert.
({35})
Dies ist der Polizei unter der Verantwortung der schleswig-holsteinischen Landesregierung bei der Demonstration in Brokdorf am 28. Februar 1981 in bemerkenswertem Umfange gelungen. Mit einer tatenlosen Hinnahme rechtswidriger Zustände, ihrer Duldung, hatte dieses besonnene und flexible Vorgehen nichts zu tun.
({36})
An der Geltung und Verbindlichkeit eines rechtmäßig erlassenen Demonstrationsverbots darf denn auch kein Zweifel aufkommen. Und dem von manchen gepflegten Geschwätz vom „bürgerlichen Ungehorsam" und vom „Widerstand außerhalb des gesetzlich garantierten Rechtsweges" halte ich mit aller Deutlichkeit entgegen: Gegen ein solches Verbot gibt es kein Widerstandsrecht.
({37})
Von einem Widerstandsrecht könnte nur die Rede sein, wenn die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung drohte. Die aber ist ungefährdet. Ihre Rechte und Freiheiten sind es ja gerade, die von den Demonstranten ausgiebig genutzt und zum Teil auch mißbraucht werden.
Bei der Anwendung und Durchsetzung des Rechts darf nicht auf den Versuch verzichtet werden, staat1212
liches Vorgehen auch den Betroffenen selbst verständlich und einsehbar zu machen. Auch unter diesem Gesichtspunkt erkennt die Bundesregierung die Einsatzbereitschaft und die unter schwierigen Umständen umsichtig und besonnen geleistete Arbeit der Polizeibeamten in Brokdorf wie in Berlin und andernorts dankbar an.
({38})
Wir wissen und betonen nachdrücklich: Die Polizeibeamten stehen nicht aus eigenem freiem Willen in diesen häufig mit Gewalt verbundenen Konflikten; sie erfüllen damit ihre Pflicht, und sie tun es für uns.
({39})
Leider ist das polizeiliche Handeln in Berlin zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen gemacht worden.
({40})
Der Versuch, der Berliner Polizei von außen eine bestimmte Art ihres Vorgehens aufzunötigen, erweist sich als schädliche Einmischung in die polizeilichen Aufgaben.
({41})
Dem Ansehen der Polizei und unseres Rechts ist damit nicht gedient.
Die in Nürnberg angeordnete Untersuchungshaft gegen eine bisher einmalig große Anzahl von Demonstranten, darunter viele Jugendliche, ist inzwischen nach heftigen und gewichtigen Protesten weitgehend aufgehoben worden. Es wäre gut, wenn diejenigen, die gern Signale für Härte und festes Durchgreifen setzen möchten, durch diese Ereignisse endlich nachdenklich würden. Auch sie können sich doch dem Eindruck der verheerenden Wirkung dieser Verhaftung von 141 jungen Menschen nicht entziehen.
({42})
Oder glaubt jemand im Ernst, daß auf diesem Wege unnötige Konfrontationen abgebaut, eine falsche Solidarisierung betroffener Jugendlicher mit Kriminellen verhindert und die Jugend insgesamt für unsere Rechtsordnung eingenommen werden können?
Dieser Zweifel läßt sich auch nicht mit dem auf Anheizen und Polarisierung angelegten Vorwurf übertönen, in den Demonstrationen und Hausbesetzungen der letzten Zeit befänden sich Elemente eines neuen Terrorismus.
({43})
Das ist eine ebenso unzulässige Verharmlosung des
wirklichen Terrorismus wie schädliche, weil maßlose, Kriminalisierung von Hausbesetzern und Demonstranten.
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Die Rechtsbrüche bei Hausbesetzungen und Demonstrationen werden damit nicht beschönigt. Auch kann es nicht überraschen, daß sich einzelne Personen aus dem Umfeld des Terrorismus den jetzigen Bewegungen anschließen und sie zu nutzen versuchen.
({45})
Für eine Steuerung oder wesentliche Beeinflussung aus dieser Richtung gibt es jedoch keine Anhaltspunkte.
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Wir sollten deshalb mit peinlicher Sorgfalt jeden Sprachgebrauch vermeiden, der im Sinne einer Gleichsetzung verstanden werden könnte.
({47})
Die Bundesregierung lehnt es im übrigen ab, auf Rechtsverstöße spontan mit neuen Rechtsänderungen zu reagieren. Auch in den letzten Wochen hat sich gezeigt, daß das geltende Recht Polizei und Gerichten alle erforderlichen Handhaben gibt.
({48})
Meine Damen und Herren, ich teile durchaus den Widerwillen gegen den Auftritt gangsterhaft vermummter Demonstranten.
({49})
Wer sich hinter einer Maske versteckt, ist eigentlich nicht einmal Demonstrant. Denn anonym kann man seine Meinung nicht bezeugen.
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Ein Vermummungsverbot stieße aber auf erhebliche praktische Anwendungsschwierigkeiten und dürfte daran scheitern.
({51})
- Bitte, hören Sie doch einmal die folgenden Überlegungen. - Wollen Sie denn den hochgeschlagenen Pulloverkragen,
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die ins Gesicht gezogenen Kapuze und den Motorradhelm gleich mitverbieten? Oder wollen Sie dem Polizisten auferlegen, die eine von der anderen Vermummung strafrechtlich abzugrenzen?
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Das, was ich gesagt habe, sind doch, meine Damen und Herren, die Gründe, weshalb von der schon bestehenden rechtlichen Möglichkeit, die Vermummung mit Auflagen nach dem Versammlungsgesetz zu unterbinden, kaum Gebrauch gemacht wird. Und
nicht zufällig ist es die Gewerkschaft der Polizei, die davon abrät, den Beamten mit einer entsprechenden Strafvorschrift unlösbare Probleme aufzubürden.
({54})
Die Bundesregierung ist nach sorgfältigem Abwägen des Für und Wider zu der gleichen Auffassung gekommen.
Meine Damen und Herren, die große Aktualität der Demonstrationsgeschehnisse darf uns nun nicht dazu verleiten, ihre Bewältigung zum Maßstab der Rechtspolitik allgemein zu machen.
({55})
Weitere Rechtsgebiete, die in ihrem Zusammenhang die Rechtsordnung ausmachen, fordern gleichermaßen Beachtung. Dazu gehört, um ein weiteres Rechtsgebiet zu nennen, das Ehe- und Familienrecht. Die großen Reformen der letzten Jahre im Ehe- und Familienrecht, im Recht der elterlichen Sorge und im Adoptionsrecht haben in der Praxis und bei den Bürgern inzwischen Aufnahme gefunden.
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Das neue Eherecht hat den sittlichen Wesenskern der Ehe als personaler Lebensgemeinschaft hervorgehoben und deutlich gemacht, daß eine rein formale Statusgemeinschaft oder eine Wirtschaftsgemeinschaft, als die eine gescheiterte Ehe allenfalls fortbestehen kann, diesem werthaften Begriff der Ehe nicht genügt.
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Die Wertorientierung des Eherechts wird dadurch verdeutlicht, daß den Ehegatten auch über den Bestand der Ehe hinaus eine weitgehende Verantwortung füreinander übertragen wird.
({58})
Das Bundesverfassungsgericht hat die entscheidenden Bestandteile der Ehe- und Familienrechtsreform, insbesondere das Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht und den Versorgungsausgleich, für verfassungsgemäß erklärt. Lediglich gewisse Härten, die beim Versorgungsausgleich oder bei der Fristenregelung im Scheidungsrecht auftreten können, müssen und werden demnächst korrigiert werden.
({59})
Gegner der Eherechtsreform wollen zu Unrecht den Eindruck erwecken, als habe das Bundesverfassungsgericht tragende Pfeiler des neuen Rechts umgestoßen; davon kann keine Rede sein.
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In diesem Zusammenhang ist denn auch wieder der Vorwurf erhoben worden, die sozialliberale Koalition und die Bundesregierung seit 1969 seien vom
Bundesverfassungsgricht unverhältnismäßig oft in die Schranken gewiesen worden.
({61})
Davon kann ebensowenig die Rede sein.
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Vergleichszahlen mit den Amtszeiten früherer Regierungen mahnen alle diejenigen zur Vorsicht, die Verfassungsgerichtsentscheidungen als Keulen in der parteipolitischen Diskussion verwenden wollen.
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Eine unter sozialen Gesichtspunkten noch so ausgewogene Rechtsordnung verfehlt weitgehend ihren Zweck, wenn dem Bürger der Zugang zum Recht nur unter Schwierigkeiten offensteht. Erforderlich sind immer wieder Maßnahmen, die unsere Rechtsordnung übersichtlicher und verständlicher, für den Bürger durchschaubarer machen. Sammlung, Bereinigung und Kodifikation des geltenden Rechts erleichtern es dem Bürger, sich mit seinen Rechten und Pflichten vertraut zu machen. Sie sind deshalb eine wichtige sozialstaatliche Aufgabe.
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Dieser Zusammenfassung zersplitterter Rechtsmaterien dient der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung, den die Bundesregierung noch in diesem Jahr einbringen wird. Er soll die Verfahrensordnungen der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten, der Verwaltungsgerichte, der Finanzgerichte und der Sozialgerichte soweit wie möglich vereinheitlichen und gleichzeitig die Verfahren straffen und beschleunigen.
In diesen Zusammenhang gehören weiterhin die Zusammenführung aller privaten Mietrechtsvorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch und die gesetzliche Fortschreibung des richterlichen Fallrechts im internationalen Ehe- und Familienrecht.
Rechtsgewährung ist zweifellos ein knappes Gut, mit dem sorgsam umgegangen werden muß. Der Bundesregierung liegt es selbstverständlich fern, das Niveau des Rechtsschutzes unter den im Grundgesetz vorgezeichneten, sehr anspruchsvollen Standard zu drücken. Sie lehnt es vor allem ab, Rechtsgewährung zu Lasten der sozial schwächeren Schichten zu rationieren.
({65})
Im Gegenteil: Durch die Einbringung des Beratungshilfe- und des Prozeßkostenhilfegesetzes, die im Januar dieses Jahres in Kraft getreten sind, hat sie dazu beigetragen, den Zugang zum Recht für die sozial schwächeren Bürger zu verbessern. Bei allem Bemühen um die Entlastung der Gerichte wird die Bundesregierung nicht der Versuchung nachgeben,
den Rechtsschutz in lebenswichtigen Rechtsangelegenheiten zu verringern.
({66})
Die Frage, ob die Rechtsmittelinstanzen wirklich alle unverzichtbar sind, muß natürlich immer wieder gestellt werden. In existentiell wichtigen Bereichen aber, beispielsweise im Asylverfahren, muß die Antwort auf diese Frage besonders gründlich überdacht werden. Die Bundesregierung hat insoweit Bedenken gegen den Asylrechtsentwurf des Bundesrates angemeldet.
({67})
Möglich und angezeigt ist eine stärkere Entlastung der Gerichte in Bagatellsachen, insbesondere in Bußgeldsachen wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten. Noch in diesem Jahr beabsichtigt die Bundesregierung, dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten einzubringen.
Entgegen anderslautenden Behauptungen ist die Autorität des Rechts bei uns ungebrochen. Das Ansehen der Rechtsordnung hat durch die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition zugenommen.
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- Es gibt auch für die Lacher einsehbare gesicherte Erkenntnisse, Herr Kohl, dafür,
({69})
daß die Bürger in unserem Land größeres Vertrauen zur Rechtsordnung und vor allem auch zur Justiz gefaßt haben. Sie empfinden das Recht und die Justiz nicht mehr so ausgeprägt wie früher als etwas Bedrohliches, Fremdes, sondern als Hilfe und Schutz.
({70})
So nimmt die Zahl der Bürger, die ihre Rechte nutzen und sie auch vor Gericht geltend machen, zu.
({71})
Die Gefahr einer gewissen Justizialisierung des öffentlichen Lebens verkenne ich nicht. Dadurch entstehen nicht nur Nachteile für die Qualität unserer Rechtsprechung und für die Berechenbarkeit des Rechts. Eine solche Justizialisierung führt auch zu einem Verlust an politischer Kultur. Es liegt aber vor allem an den Gerichten, sachgerechte, unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung vertretbare Grenzen der Rechtsprechung zu entwickeln. Die Gerichte selber haben es in der Hand, durch die Bestimmung solcher Grenzen ihre Überforderung zu vermeiden. Das gilt für alle Gerichte, vom Amtsgericht bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht.
Es gibt ein Unbehagen gegenüber dem Gesetzgeber, das ich keinesfalls pauschal zurückweisen möchte. Das Zusammenwirken der Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat, das Zusammenwirken im Gesetzgebungsverfahren ist so komplex geworden, daß die Folgerichtigkeit und Eindeutigkeit der Gesetze darunter leiden kann. Die Notwendigkeit, in einem für die Öffentlichkeit nicht einsehbaren Bereich Kompromisse, oftmals nur Scheinkompromisse oder Formelkompromisse, zu erzielen, läßt manchmal Regelungen entstehen, die nicht mehr aus einem Guß sind und nicht mehr auf klar feststellbaren, widerspruchsfreien Prinzipien beruhen. Der Rechtsanwendung und Wissenschaft überlassen solche Gesetze oftmals allzu schwere Aufgaben. Hier hoffe ich, daß die von der Bundesratsmehrheit angekündigte Zurückhaltung für mehr Klarheit und Eindeutigkeit der Gesetzgebung sorgen wird.
Eine durchgreifende Vereinfachung unseres Rechts zu fordern, es auf allseits sogleich überschaubare Grundlinien zurückführen zu wollen, wäre indes illusionär. Ich zitiere dazu erneut Hans-Jochen Vogel:
In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft werden auch Konflikte und ihre Lösungen und folglich die Gerechtigkeitsprobleme notwendig komplexer. Sie können nicht ohne weiteres durch einfachen Rekurs auf angeblich offenliegende Konsense und Gemeinschaftswerte gelöst werden. Um dem Gerechtigkeitsanspruch zu genügen, muß das Recht, und zwar sowohl die Rechtssetzung wie die Rechtsdogmatik, selber ein hohes Maß an Komplexität besitzen.
Ich erkenne zwar an, daß der Vorwurf der Normenflut durchaus einen wahren Kern hat. Es gibt in der Tat quantitative Grenzen für die Rechtssetzung. Man kann sie nicht überschreiten, ohne der Wirksamkeit des Rechts und seiner Durchsetzung im Bewußtsein der Menschen zu schaden. Nur zu oft wird der Vorwurf der Normenflut aber in der Absicht erhoben, die friedliche Fortentwicklung unserer Gesellschaft und Rechtsordnung durch Gesetze insgesamt zu diskreditieren.
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Demgegenüber wird die Bundesregierung unbeirrt an ihren Leitlinien zur Rechtspolitik festhalten. Wenn Gesellschaft und Staat nicht mehr bereit und fähig sind, als richtig erkannte Entwicklungen auch durch Gesetzgebung zu stützen und zu lenken, werden wir sehr schnell an die Grenzen des friedlichen Wandels überhaupt stoßen.
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Vom Bundesministerium der Justiz wird auch in der 9. Wahlperiode keine Normenflut ausgehen. Die Bundesregierung ist jederzeit bereit, im Einzelfall bei der Betrachtung eines bestimmten Entwurfs die Frage seiner Erforderlichkeit gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag gründlich zu prüfen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält breite Zustimmung zur Gesetzgebung für die Wirksamkeit und die Geltungskraft unserer Rechtsordnung für notwendig. Sie wird sich deshalb auch
künftig um breite Mehrheiten für rechtspolitische Entwürfe bemühen.
Thomas Dehler, der erste Justizminister der Bundesrepublik Deutschland, hat diese Grundbedingung unseres Gemeinwesens nach dem Kriege in die Worte gefaßt:
Das Recht ist neben der Sprache das stärkste Band, das ein Volk zusammenfaßt, und das einzige Fundament, auf das sich ein Staat auf die Dauer gründen läßt.
Dieses Fundament, meine Damen und Herren, kann nur erhalten, unsere Rechtsordnung nur geschützt und mit Leben erfüllt werden, wenn alle in unserem gemeinsamen Staate dabei mitwirken. Nicht nur Politiker, Beamte und Richter, sondern jeder Ausbilder und Lehrer, auch die Eltern gegenüber ihren Kindern, eben alle Bürger, müssen durch ihr tägliches Verhalten unsere - nie vollkommene - Rechtsordnung immer wieder vom toten Buchstaben zum lebendigen Recht machen.
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Recht und Rechtsstaat können letztlich weder durch perfekte Gesetze noch durch staatliche Machtmittel gesichert werden. Die Rechtsordnung muß leben und wirken. Sie kann dies nur in den Herzen und Köpfen der Bürger.
({75})
Das Wort hat der Abgeordnete Erhard ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Minister hat vor allem zum Schluß seiner Rede den Appell an uns gerichtet, zu möglichst gemeinsamen rechtspolitischen Entscheidungen zu kommen. Herr Minister, wer Gemeinsamkeit will, stößt bei uns auf breite Bereitschaft, und wir stimmen dieser Forderung voll zu. Das haben wir bereits bei der ersten rechtspolitischen Debatte unter der jetzigen Koalition 1970 hier erklärt.
({0})
Es muß aber derjenige, der die Forderung aufstellt, selber zu dieser Gemeinsamkeit bereit sein und nicht bei allen streitigen Fragen größte Sorgfalt darauf verwenden, das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates auslösenden Vorschriften aus den Gesetzen herauszuoperieren, um Opposition und Bundesrat zu überstimmen, um dann von Gemeinsamkeit zu reden.
({1})
Wir haben diese Praxis auch schon in dieser Legislaturperiode erlebt.
Gemeinsamkeit wird auch dann unmöglich, wenn man so tut, als hätte Rechtspolitik erst ab 1969 stattgefunden, wie das leider bei Ihnen am Anfang Ihrer Rede in den verschiedensten Formen zum Ausdruck kam. Damit soll überhaupt nichts anderes erreicht werden, als die CDU politisch in Mißkredit zu bringen. Solche Äußerungen können nur entweder aus totaler Unkenntnis stammen - das brauche ich bei Ihnen doch wohl nicht zu unterstellen, Herr Minister - oder aus der politischen Mottenkiste der Schlechtmacherei entnommen sein.
({2})
Waren es denn keine rechtspolitisch weittragenden Entscheidungen, als wir zum Schutz der Bürger das Bundesverfassungsgericht und das entsprechende Gesetz für sein Verfahren geschaffen haben?
({3})
Von welch großer Bedeutung waren und sind denn die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsordnung für unsere Bürger? Was war denn die Schaffung der Sozialgerichte, die Ordnung der Verfahren vor den Finanz- und den Arbeitsgerichten? Ist das Jugendgerichtsgesetz Ausdruck von rechtspolitischer Untätigkeit bis 1969 gewesen? Wollen Sie die Neuordnung des Aktienrechts, die Schaffung des Kartellrechts mit den die Freiheit der Bürger im Wirtschaftsbereich sichernden Elementen als rechtspolitisch bedeutungslos abwerten? Haben Sie vergessen, daß über mehr als drei Wahlperioden, über mehr als zwölf Jahre hinweg die Große Strafrechtsreform gelungen ist, die seit der Jahrhundertwende keinem Parlament und keiner Regierung gelungen war?
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- Nein. Das ist ein Werk des Bundestags unter der Führung der CDU gewesen; das wollen wir nicht vergessen. Herr Heinemann hat als Justizminister nicht einen einzigen Paragraphen dazu vorgelegt.
({5})
Er war in der Zeit, als es verabschiedet wurde, Minister; das stimmt.
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Das ist aber auch alles, was er dazu beigetragen hat.
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Ist nicht das Recht der nichtehelichen Kinder nach langjährigen Beratungen verabschiedet worden, bevor es die Regierung Brandt gab?
({8})
Ist nicht das Recht der Gleichberechtigung in Vermögensfragen im Eherecht 1953 von der CDU/CSU mit absoluter Mehrheit durchgesetzt worden?
({9})
Haben nicht wir das Wohnungseigentumsrecht und das Dauerwohnrecht Anfang der 50er Jahre geschaffen? So etwas Ähnliches, für die Menschen Wichtiges haben Sie in den zehn Jahren doch auf keinem einzigen Gebiet vorzuweisen.
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Erhard ({11})
Mit solchen Äußerungen, verehrter Herr Justizminister Schmude, werten Sie sich leider selbst ab, wozu Sie gar keine Veranlassung haben. Andere Teile Ihrer Rede können dagegen sehr wohl durchaus vernünftige Ansätze für Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und uns darstellen.
Sie, meine verehrten Damen und Herren von der Koalition - ich spreche hier jetzt zur linken Seite und zur rechten Seite dieses Hauses -, haben, sozusagen als rechtspolitischen Einstand, wie alles neu werden sollte, 1970 eine Amnestie für den Mißbrauch des Demonstrationsrechts erlassen - bis hin zur schweren Körperverletzung. Das mußte doch den Eindruck erwecken, diese Mißbräuche seien im Grunde harmlos gewesen und bei weiteren Mißbräuchen werde künftig ähnlich verfahren, vorausgesetzt, der Druck der Straße sei nur groß genug. Wird nicht auch jetzt schon wieder der Ruf nach einer Amnestie laut, trotz weniger Verurteilungen, und immer lauter? Ich schaue nach dem rechten Flügel dieses Hauses, dort hinüber, und meine jemanden in Berlin.
({12})
Sie haben in der Vergangenheit die CDU oft beschimpft als die ewiggestrigen Reaktionäre, die unfähig seien, zu begreifen, daß gesellschaftliche Probleme nicht mit dem Knüppel des Strafrechts zu lösen sind. Das wissen wir auch.
({13})
Wir haben die Lockerung des Demonstrationsstrafrechts schon 1970 für falsch gehalten - in Übereinstimmung mit allen Polizeipräsidenten in der Bundesrepublik, allen -,
({14})
und zwar deshalb, weil diese Veränderung dem Mißbrauch des Demonstrationsrechts Tür und Tor geöffnet hat. Wir haben diese Meinung seither, in den letzten zehn Jahren viermal durch Gesetzentwürfe hier im Bundestag immer wieder zum Ausdruck gebracht, immer wieder in der gleichen Weise. Trotzdem haben Sie das alles abgelehnt und tun so, als wollten wir unentwegt das Strafrecht ändern. Nein, wir wollen das schon in der Weimarer Zeit bewährte öffentliche Demonstrationsrecht so gestaltet wissen, wie es in der Rechtsprechung wirksam festgeschrieben und von der Polizei gehandhabt werden konnte.
({15})
Aber Sie sind zur Überprüfung Ihres eigenen Standpunktes nur bereit, wenn es um das Kontaktsperregesetz geht, wenn es um die Anleitung zu Straftaten und die Befürwortung verfassungsfeindlicher Gewalttaten geht. Die Abschaffung des § 130 a des Strafgesetzbuches paßt jedenfalls in die gegenwärtige Situation wie die Faust aufs Auge. Und, Herr Emmerlich, Sie wissen das selbst ganz genau.
({16})
Natürlich sind gesellschaftliche Probleme nicht mit den Mitteln des Strafrechts zu lösen. Aber ist diese Binsenwahrheit ein Grund, Rechtsbrüche als Beitrag zur Problemlösung in einem freiheitlichen
Staat verständnisvoll zuzulassen? Wer steht denn eigentlich seit 1969 in unserem Staat in der Regierungsverantwortung für die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen?
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Doch diejenigen, die immer wieder die letzte gesellschaftliche Ursache von Rechtsverletzungen betonen. Sie haben die angeblich bestehenden gesellschaftlichen Ursachen ganz offenbar nicht beseitigt; sonst hätte doch die Kriminalität sinken müssen, während sie in Wahrheit gestiegen ist. Vor 1969 gab es keine Welle von Hausbesetzungen und von organisierter Gewalttätigkeit in unserem Land. Die gibt es erst unter Ihrer Führung.
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Den Opfern von Krawallen und Gewalttaten sollte unser aller Aufmerksamkeit gelten. Die berechtigte Verbitterung derer, die sich rechtstreu verhalten, die ihre Steuern zahlen, über die Vorteile, die jene einheimsen, die lautstark Gesetze mißachten, könnte sonst leicht umschlagen in den Ruf nach einer Staatsreform, die kein Demokrat wollen kann, keiner. Sehen Sie nicht, daß die Ergebnisse Ihrer Politik - ich sage nicht: Ihre Absichten - Wasser auf die Mühlen radikaler Kräfte leiten, die schon jetzt im Trüben fischen? Die argumentative Auseinandersetzung, der Dialog, die engagierte Diskussion sind gewiß ein Lebenselixier der Demokratie und vor allen Dingen der parlamentarischen Demokratie, ebenso wie die Achtung und Beachtung von Recht und Gesetz eine unerläßliche Voraussetzung für den Bestand des Rechtsstaates ist. Sicher ist auch, daß veränderte Lebensbedingungen und neue technische Entwicklungen neue gesetzliche Regelungen erforderlich machen, damit der Rechtsstaat keine leere Hülse wird und der Rechtsfriede gewährleistet bleibt. Herr Minister, auf dieser Ebene gibt es volle Übereinstimmung.
Die Rechtspolitik der Koalition stand und steht aber unter einem gänzlich anderen Leitmotiv. Ihr geht es darum, wie der frühere Bundesjustizminister Vogel mehrfach gesagt und geschrieben hat, mit den Mitteln der Rechtsetzung evolutionäre Gesellschaftsveränderungen zu bewirken, mit den Mitteln der Gesetzgebung - ich wiederhole es - evolutionäre Gesellschaftsveränderungen zu bewirken.
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Nicht um gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen, sondern um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, wird das Gesetz als Gestaltungsmittel und Transmissionsriemen und -element eingesetzt. Sie haben das in Ihrer Rede heute auch, wenn auch mit anderen Worten, gesagt. Dabei zieht eine Gesetzesänderung die andere nach sich, um schneller und auch unauffälliger das angestrebte Ziel zu erreichen. Hier liegt eine wesentliche Ursache der oft beklagten Gesetzesflut. Zwar haben der Herr Bundesjustizminister Vogel und heute sein Nachfolger, Herr Schmude, in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Notwendigkeit einer KonsoliErhard ({20})
dierung hervorgehoben. Wenn man etwas konsolidieren muß, ist es ja zunächst einmal in Unordnung. Was darunter jedoch in der Praxis konkret für die nächsten Jahre zu verstehen ist, zeigt ein Blick auf das rechtspolitische Arbeitsprogramm der Bundesregierung für die laufende Legislaturperiode, von dem wir eben nur ein kleines Stückchen gehört haben. Im Rechtsausschuß ist uns dieses Programm aber als ein dickes Papier vorgelegt worden.
Ich habe mir die Mühe gemacht, es einmal durchzusehen und zu zählen. Ich hoffe, ich habe richtig gezählt. Bis 1983 - das ist gar nicht so furchtbar lange hin - sollen 73 Gesetze und außerdem 12 Rechtsverordnungen vorgelegt und die Gesetze vom Bundestag verabschiedet werden. Dazu kommen 34 überstaatliche Normen, die in die Gesetzgebung eingefügt werden sollen. Zusammen sind das schon 107 Gesetze. Damit aber nicht genug. 23 weitere Gesetzesvorhaben sollen bis zur Kabinettsreife gelangen, und in weiteren 46 Fällen sollen Gesetze weiter bearbeitet werden; in diesen Fällen steht nur der Termin, wann das Justizministerium seine Arbeiten abschließen wird, noch nicht fest. Das sind alles zusammen 175 Gesetze - ohne die Verordnungen - allein im engeren Justizbereich, nicht irgendwelche Paragraphen, nein, Gesetze, mit Ankündigungseffekt, mit Vorlageeffekt, mit Verunsicherungseffekt, weil niemand mehr weiß, was jetzt schon Recht ist und was nicht.
Unter den nach Auffassung des Justizministers politisch bedeutsamen Vorhaben finden sich für die nächsten drei Jahre sechs Strafrechtsänderungen. Elfmal wird am Eherecht, am Familienrecht, am Kindschaftsrecht, am Scheidungsrecht mit eigenen Gesetzen Veränderung betrieben. Fünfmal - über die Jahre verteilt - werden Strafverfahrensänderungen geplant. Dreimal sollen Strafvollzugsgesetzesänderungen das Gesetzesblatt füllen. In mindestens der Hälfte dieser Gesetze werden neue und vielgestaltige Ansprüche neu geschaffen. Das Mietrecht - wir haben es eben auch gehört - soll, über die Jahre verteilt, mehrfach geändert werden. Wir werden sehen, was wirklich aus dem Kabinett herauskommt. Nach meinem Eindruck werden auch diese Gesetze das, was im Mietrecht und von Hausbesetzern angegriffen wird, nicht lösen. Es wird an den Symptomen herumgeschafft, aber es wird nicht am Kern gearbeitet und eine Lösung herbeigeführt.
Was ist denn eigentlich bei dieser Art von Fülle noch Konsolidierung? In welchem Umfang ist die Kritik des Richterbundes aus dem Jahre 1978 „gegen Überproduktion und Dilettantismus in der Gesetzgebung" denn in Ihrem Programm berücksichtigt? Statt Konsolidierung also Normeninflationierung! Sie wollen offensichtlich die Hektik evolutionärer Gesellschaftsveränderung mit aller Kraft fortsetzen. Das hat Rechtsunsicherheit, Unkalkulierbarkeit und weniger Sicherheit für die Bürger zur Folge.
Es fällt auf, daß immer weniger Achtung vor dem Recht, auch immer weniger Achtung vor der Person des anderen und ihrem Eigentum in unserem Volk eingetreten ist.
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Ein Blick auf die Entwicklung der polizeilichen Kriminalstatistik macht das überdeutlich. 1970 wurden rund 2,4 Millionen Straftaten - ohne die Verkehrsstraftaten - bekannt. 1979 waren es bereits 3 533 000 Straftaten. Auf 100 000 Einwohner ist die Zahl der Straftaten im gleichen Zeitraum von 3 924 auf 5 761 angestiegen. Von 1970 bis 1979 hat sich die Häufigkeitsziffer - das ist die Quote auf 100 000 Einwohner, die von mir eben genannte statistische Zahl - für schweren Diebstahl fast verdoppelt. Bei der Sachbeschädigung liegt die Zuwachsrate bei etwa 65 %, bei der gefährlichen Körperverletzung bei rund 55 %. In absoluten Zahlen bedeutet das für den schweren Diebstahl etwa 1,2 Millionen Fälle pro Jahr in unserem Land. Das ist der Einbruchdiebstahl, um das im Klartext zu nennen!
Dabei sinkt die Aufklärungsquote bei diesen Vermögensdelikten, auch bei der vorsätzlichen Körperverletzung auf unter 25 %, während noch vor 15 Jahren, als diese böse CDU im Lande regierte, die Aufklärungsquote noch bei knapp 50 % lag. Wir wissen doch alle, wo die Einstiegskriminalität stattfindet.
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An diesen Stellen findet sie für die schwere Kriminalität statt - praktisch ein rechtsfreier Raum!
Sind das etwa rühmenswerte Fortschritte durch rechtspolitische Entscheidungen oder nicht vielmehr beklagenswerte Rückschritte infolge rechtspolitischer Unterlassungen? Hier zeigt sich -
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Herr Kollege, wenn Sie die Kriminalitätsentwicklung zu Recht beklagen -
Die Beantwortung liegt bei Ihnen!
Die Verantwortung liegt bei mir? Herr Hirsch, ich kriege das von meiner Zeit abgezogen.
Die Be antwortung!
Na, dann fragen Sie! Ich werde schon zurechtkommen.
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, daß die Kriminalitätsbekämpfung Sache der Länder ist, und können Sie bestätigen, daß sich die Kriminalität in allen Ländern, unabhängig davon, ob christdemokratisch oder sonstwie regiert, in gleicher Weise entwickelt hat?
({0})
Herr Kollege Hirsch, ich habe gewußt und gehe davon aus,
Erhard ({0})
daß unser Strafrecht einheitlich für die ganze Bundesrepublik gilt.
({1})
Ich weiß ganz genau. daß die Tatsache der Gesamtentwicklung von dem Klima, das von der Bundesregierung ausgeht, mehr beeinflußt wird als von einer Gemeindeverwaltung oder einem Land.
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Das Problem in dieser Sache ist nur, daß wir diese Entwicklung in unserem Volk sehen müssen und nicht so tun dürfen, als wäre das alles für uns eine Sache, die uns nichts angeht.
({3})
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein.
Sind die rühmenswerten Fortschritte etwa das Ergebnis von rechtspolitisch richtigen Entscheidungen oder von falschen Entscheidungen? Ich glaube, daß sich hier ganz deutlich zeigt, wohin es führt, wenn Recht und Gesetz als „law and order" diffamiert werden. Und ich frage den Bundesminister der Justiz: Sind Sie sich eigentlich der Problematik der jeweiligen Ausgangsbeschreibungen bewußt, wenn Sie den Übergang von der bloß formalen Rechtsgleichheit zur inhaltlichen Chancengleichheit, wenn Sie die Fortentwicklung des bloß bürgerlichen Rechts zum sozialen Recht zur Maxime der regierungsamtlichen Rechtspolitik erklären, wie das auch der Herr Vogel getan hat? Ist das geltende Recht wirklich in erster Linie ein bloß bürgerliches Recht, in dem weitgehend eine bloß formale Rechtsgleichheit besteht? Ist dies nicht ein Zerrbild unserer Rechtsordnung? Verdient das bürgerliche Recht, verdient die formale Rechtsgleichheit, also die Gleichheit vor dem Gesetz, herablassende Geringschätzung? Sehen Sie nicht die Gefahr, Herr Minister, daß Redewendungen wie „bloß bürgerliches Recht", „bloß formale Rechtsgleichheit" als Alibi mißverstanden werden, das positive Recht in Teilen nicht mehr ernst zu nehmen und sich gar darüber hinwegzusetzen?
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Sind die um sich greifenden Hausbesetzungen nicht bereits ein Beweis dafür, wohin solche Äußerungen führen müssen? Haben wir nicht in den hessischen Rahmenrichtlinien genau dieselben Vorstellungen, indem da steht, das „bloß demokratische Recht", das „bloß bürgerliche Recht" kann geändert werden, wenn es nicht paßt, oder vorübergehend ausgesetzt werden?
({1})
Worauf zielt denn die These von der „bloß formalen Rechtsgleichheit", vom „bloß bürgerlichen Recht", etwa auf die rechtspolitische Umsetzung der gesellschaftsphilosophischen Postulate des Marxismus der heutigen Lehre? Welches Ziel verfolgt denn die evolutionäre Gesellschaftsveränderung durch Rechtsetzung? Welche Wertvorstellungen liegen dieser Rechtspolitik denn zugrunde?
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- Das habe ich Ihnen gerade bewiesen, wohin das führt.
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Wir sollten uns gemeinsam nach den Wertvorstellungen des Grundgesetzes richten. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist ein anderes als das des Marxismus. Konkret heißt das: Wir sollten wieder gemeinsam von einem Menschen ausgehen, der selbstverantwortlich, vernunftbegabt und zur Einsicht fähig ist.
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Dazu gehört die Bejahung der Einzigartigkeit der menschlichen Person, aus der ihre natürlichen Menschenrechte folgen. Zu diesem Menschenbild gehört die Anerkennung des bindenden Charakters freiwillig eingegangener Gemeinschaften. Zu ihm ist die Notwendigkeit einer Rechtsordnung zu zählen, die die Grenzen zwischen den Individuen und der Gemeinschaft zieht und beiden gerecht wird. Beide haben Pflichten.
Dazu gehört auch die Überzeugung, nach der die Arbeit in dieser Welt einschließlich der körperlichen Arbeit ein wesentliches Element der Chance und Sinnerfüllung des Lebens ist und nicht nur ein notwendiges Übel. Dazu gehört auch die Schuldfähigkeit des Menschen, ja, sogar die mögliche Bosheit eines Menschen. Weil die Menschen so sind, wie sie sind, versucht das Grundgesetz, die öffentliche Machtbalance durch Gewaltenteilung zu sichern.
Daraus folgt: Der Gesetzgeber - ich wiederhole: der Gesetzgeber - muß die politisch wesentlichen Entscheidungen fällen. Er darf sie nicht den Gerichten überlassen. Er darf die Rechtsprechung nicht verunsichern, ebensowenig darf er sie überfordern. Da ist der Appell an die Selbstdisziplin der Gerichte bei weitem nicht ausreichend, Herr Minister.
In Teilen unseres Volkes werden die von mir eben skizzierten Grundüberzeugungen, die wir im Grundgesetz ja wohl übereinstimmend einmal festgeschrieben haben, schwächer. Sie zerbröseln, wofür auch der um sich greifende Pazifismus ein deutliches Indiz bildet.
Als Beispiel für dieses Zerbröseln nenne ich einen Beitrag in dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Kursbuch", das dem Thema der Moral gewidmet ist. Der Autor, Hennatsch heißt er, mit K-Gruppen-Karriere - K-Gruppen, wissen Sie, was das ist? -, jetzt Chirurg in Köln, schreibt unter anderem: Sei dir selbst der nächste, tu dir soviel Gutes an wie möglich, lebe und arbeite, wie es dir Spaß macht usw. usf. Hier spricht der blanke Egoismus. Rücksichtnahme und Verzichtbereitschaft, Pflicht
Erhard ({5})
und Opferbereitschaft um des anderen willen werden zugunsten des eigenen Vorteils ausgeblendet.
Eine allein vom Eigeninteresse gesteuerte Handlungsfreiheit ist für die Gesellschaft unerträglich. Sie führt letztlich zum Chaos, zur Anarchie.
Sicher ist: Unsere Verfassung toleriert den Pluralismus der Meinungen und Werte.
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Es werden auch widerstreitende Moral- und Wertsysteme geduldet. Ein Mindestkonsens hinsichtlich bestimmter Werte, eben der des Grundgesetzes, ist aber die Voraussetzung für staatliches Handeln in der Form der Gesetzgebung. Das Grundgesetz verlangt in Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich die Beachtung des Sittengesetzes. Wenn der Kanzler auf eine Politik der Wertpflege verzichtet - Wertpflege ist geistige Führung -, dann stellt sich die Frage, ob er sich damit nicht bereits am Grundgesetz vorbei verhält oder seine Pflicht verletzt.
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Gesetze müssen für alle verbindlich und deshalb auch für alle hinnehmbar sein. Sicher ist es schwer, in Toleranz die Pluralität zu bejahen und dennoch durch den Staat moralische, also sittliche Werte zu pflegen. Gehlen schrieb dazu: „Der Übergang von der Toleranz in den Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin allem läßt sich schwer abgrenzen. Diese friedliche Tugend ist daher im öffentlichen Bereich ungewöhnlich zweideutig." Ich meine, wir alle - ich nehme mich in diese Aussage mit hinein - haben in den letzten Jahren zwischen dem in unserer Verfassung angelegten Wertpluralismus und einem moralischen Relativismus zuwenig unterschieden. Denn „wenn für die Menschen oder gar den Staat alle beliebigen Wertsysteme gleichermaßen gültig sind, dann sind sie letztlich gleichgültig", schreibt schon Karl Popper. Der polnische Papst Johannes Paul II. hat zum Weltfriedenstag am 1. Januar dieses Jahres geschrieben: „Die Behauptung, der Mensch sei frei, sein Leben unabhängig von sittlichen Werten zu gestalten, und die Gesellschaft brauche diese Werte nicht zu schützen und zu fördern, ist eine Karikatur der Freiheit. Eine solche Haltung zerstört Freiheit und Frieden."
Von welchen Grundsätzen gehen Sie, die Regierung und die Koalition, aus, wenn ich Ihre Postulate immer wieder höre? Nach den offenen Fragen müssen sich die Regierung und die sie tragende Koalition vorhalten lassen, daß sie in der Rechtspolitik offensichtlich zwischen dem Wertrelativismus einerseits und andererseits der Absicht, bestimmte ideologisch begründete Vorstellungen mit den Mitteln der Gesetzgebung durchzusetzen, schwanken. In dieses Feld gehört nach meiner Ansicht die Gesetzgebung zum Eherecht, insbesondere das in ihr angelegte Verständnis der Ehe als einer nahezu beliebig aufkündbaren Gemeinschaft auf Zeit,
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ein Eherecht, das denjenigen, der das Gebot der ehelichen Treue verletzt, dafür unter Umständen auch noch wirtschaftlich belohnt.
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Das muß geändert werden. Erst recht gilt das natürlich für die im Schoß der FDP gehätschelten Pläne zu einer Gleichstellung sogenannter alternativer Lebensformen zur Ehe oder auch die merkwürdigen inhaltsverändernden Definitionen über Familie bei der SPD oder die Absicht, den Schutz Jugendlicher im Sexualstrafrecht abzuschwächen. In diesem Fall scheint die SPD der FDP offenbar nicht folgen zu wollen. Ich begrüße das. Wir erkennen die gleiche Haltung in der Weigerung, den immer zügelloser werdenden kollektiven Gewaltaktionen, wie sie um die Jahreswende und bis in diese Tage hinein in Göttingen, in Freiburg, in Berlin, in Nürnberg beobachtet wurden, entgegenzutreten.
Hausbesetzungen sind zivilrechtlich verbotene Eigenmacht und strafrechtlich Hausfriedensbruch. Jede Art von Duldung zerstört rechtsstaatliches Grundbewußtsein und ist Rückzug des Rechtsstaates vor der Gewalt, ist Duldung von Willkür.
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Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, der Herr Professor Zeitler - alle Eingeweihten wissen, daß er ein langjähriges Mitglied der Sozialdemokratischen Partei ist -, hat vor dem Deutschen Juristentag darauf hingewiesen, daß ein Staat, der seine Bürger schutzlos dem Verbrechen überläßt und Zonen der Willkür duldet, nicht viel anders zu bewerten ist als ein Staat, der selber Unrecht begeht. Unmittelbare Folge der zuletzt genannten Entwicklung ist übrigens die rasche Zunahme privater Schutzeinrichtungen, die eine der wichtigsten Errungenschaften moderner Staatlichkeit, das Monopol der legitimen Gewaltausübung, in Frage stellt.
Wer wollte eigentlich übersehen, daß eine tiefe, breite Resignation in unserem Volk um sich greift.
Die ideologische Tendenz der sozialistischen und pseudoliberalen Vorstellungen ist sichtbar in der Reform des elterlichen Sorgerechts und im dazu gehörigen Jugendhilferecht. Wer die Familie als Herrschaftssystem begreift, als ein System der Fremdbestimmung durch Eltern über das Objekt Kind, zerstört die Familie und ihr Recht. Aufschlußreich und für uns nur bestätigend waren die Äußerungen der Direktorin des Hamburger Amtes für Jugend. Sie diffamiert das in Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerte Grundrecht der Eltern als ein „Stück individualistischer Nostalgie". Boshafter meinte sie: „Eine Idealisierung von historischer Erfahrung in der Herausbildung des Bürgertums als Klasse und als Typus sozialer Existenz, nämlich als bürgerliches Individuum von Besitz und Bildung."
Wie schrieb doch Habermas - Habermas gehört ja wohl auch zu den Theoretikern der linken Szene der Bundesrepublik -:
Die Zweideutigkeit des reformerischen Eingriffs in die Beziehung zwischen Eltern und
Erhard ({11})
Kindern liegt darin, daß er gleichzeitig eine Abkopplung von traditional eingelebten Normen, aber auch von Wertorientierungen überhaupt bedeutet.
Ich wiederhole: ,,... eine Abkopplung von ... Wertorientierungen überhaupt bedeutet"; das ist das, was Ihnen überraschenderweise jetzt allmählich klarzuwerden scheint. Ich gehe davon aus, daß das, was die Theoretiker inzwischen schreiben, langsam auch bei Ihnen zur Kenntnis genommen wird.
Statt den Werteinhalt des Grundgesetzes sorgsam zu pflegen, erleben wir immer wieder die konkretisierte Absicht, die Belastbarkeit der Verfassung zu prüfen und ihre Inhalte umzuinterpretieren. Das jüngste Beispiel wird im Radikalenproblem geliefert. Wir alle erleben doch die Folgen des Verzichts des Staates auf klare Wertentscheidungen. Wenn Verweigerung des Wehrdienstes den gleichen moralischen Wert hat wie seine Ableistung - oder gar einen höheren -, wenn man sich mit einfachen Schreiben sozusagen von seinen Pflichten ,,abmelden" kann, dann wird das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Bundeswehr und des Wehrdienstes zur Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zerstört. Man darf sich dann eben nicht wundern, wenn immer mehr Wehrdienstverweigerer ihre Moral entdecken oder gar Krawalle um die Gelöbnisfeier den tiefen Graben im Grundbewußtsein unseres Volkes offenbaren. Hat der Bundeskanzler etwa diese Veränderungen gemeint, als er feststellte: Die Rechtspolitik hat wichtige Veränderungen bewirkt? Sind das die Folgen der erklärten Absicht, mit Mitteln des Rechts evolutionäre Gesellschaftspolitik zu betreiben? Die Diskussionen und Entscheidungen hier im Parlament werden Gelegenheit bieten, diesen Fragen nachzugehen.
Wir werden einer ganzen Reihe von Vorstellungen zustimmen können. Ich habe mir sie an sich aufgeschrieben; die Zeit läuft ab. Ich muß mir das schenken. Aber: Ist im Drogenbereich wirklich die Krankheit, die nun eingetreten ist, ein unabwendbares Ereignis? Muß es so behandelt werden wie unverschuldetes Schicksal?
Wir stellen unsere Einzelwünsche unter das Gebot der Notwendigkeit, und wir stellen das Wünschbare zurück. Nach unseren Vorstellungen muß die Rechtspolitik vor allem neue Konflikte in der pluralistischen Gesellschaft aufgreifen und Entscheidungen in eindeutig rechtlicher Fassung treffen. Die Gesetze müssen gerecht, anwendbar, notwendig und klar sein. Die Regelungen müssen unter dem Leitgedanken erfolgen: das Notwendige und das Wichtigste zuerst und dann vielleicht auch das Wünschbare. Die Koalition hat der Konfliktlösung die Konfliktverschiebung vorgezogen und dabei eine Verzerrung des grundgesetzlich garantierten Prinzips der Gewaltenteilung ebenso in Kauf genommen wie eine Verminderung des effektiven Rechtsschutzes. Die Gerichte sind überlastet und überfordert, die Prozesse dauern zu lange, und die Justiz muß entscheiden, wo der Gesetzgeber gekniffen hat.
Ich möchte dazu einige Beispiele nennen.
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, ich habe die Beispiele noch zu nennen.
Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Ich möchte die Fraktion fragen, ob ich eine Verlängerung meiner Redezeit bekomme oder nicht. ({0})
Ich möchte einige Beispiele nennen.
Erstens. Im Umweltrecht fehlt es im Atomgesetz, bei den Lärmschutzbestimmungen und beim Bundesimmissionsschutzgesetz an klaren Abgrenzungsentscheidungen des Gesetzgebers. Das hat nicht nur zur Rechtsunsicherheit geführt, sondern auch dazu, daß zwangsläufig die Gerichte hier politisch, insbesondere gesellschaftspolitisch gestaltende Entscheidungen fällen und fällen müssen. Die Gerichte müssen einerseits inhaltlich bestimmbare Regelungen vorfinden, andererseits sind gerichtlich nicht voll überprüfbare administrative Freiräume - vor allem im prognostischen Bereich und bei Entscheidungen über naturwissenschaftlich-technische Sachverhalte - zu schaffen. Darauf hat der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Professor Fürst, zu Recht nachdrücklich hingewiesen.
Zweitens. Im Ausländer- und Asylrecht ist es nicht gelungen, offensichtlich rechtsmißbräuchliche Anträge frühzeitig und rechtsstaatlich unbedenklich auszusondern. Die Folge ist eine weitgehende Verstopfung der Verwaltungsgerichte mit solchen Verfahren. Andere Bürger müssen deswegen, z. B. bei ihren Klagen auf Erteilung einer Baugenehmigung, monate-, ja gar jahrelang auf die Durchsetzung ihrer Rechte warten.
Drittens. Im Arbeitsrecht halte ich die Zeit für reif, die Problematik von Streikrecht und Aussperrung von Gesetzes wegen ab- und einzugrenzen. Richter dürfen nicht die Rolle eines Notgesetzgebers spielen. Zu gesellschaftspolitisch gestaltenden Entscheidungen fehlt ihnen die demokratische Legitimation. Darauf hat der Präsident des Bundesarbeitsgerichts ausdrücklich aufmerksam gemacht.
Viertens. Im Bürgerlichen Recht ist zumindest das Unterhaltsrecht im Rahmen der Ehescheidung dringend änderungs- bzw. ergänzungsbedürftig. Es ist doch nicht richtig, daß sich Senate der verschiedensten Oberlandesgerichte zusammensetzen, um Unterhaltsregelungen in der Rechtsprechung unter sich abzusprechen. Das muß doch der Gesetzgeber tun.
Fünftens. Im Sozialrecht darf der Gesetzgeber nicht vor der Frage zurückschrecken, was die Folge sein soll von vorsätzlich herbeigeführter Bedürftigkeit, vorsätzlich herbeigeführter Arbeitslosigkeit oder grob schuldhaft herbeigeführter Krankheit. Eine Rechtsordnung, die es zuläßt, daß nicht die menschliche Solidarität, sondern der Egoismus belohnt wird, stellt sich auf Dauer selbst in Frage.
Erhard ({1})
Sechstens. Im Verfahrensrecht muß eine Vereinheitlichung und Beschleunigung angestrebt werden. Insbesondere ist der Prozeßsucht der öffentlichen Hände wirksam entgegenzutreten. Daß z. B. noch in der dritten, der letzten Instanz, beim Bundessozialgericht, im Schnitt 15 % aller Rechtsstreitigkeiten nur zwischen öffentlichen Händen geführt werden, ist ein nahezu unerträglicher Zustand. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Vorschläge des Deutschen Anwaltsvereins und des Deutschen Richterbundes zur Entlastung der Gerichte aufzugreifen.
Die Reihe ließe sich noch um wesentliche weitere Punkte fortsetzen. Die Zeit ist abgelaufen, ich muß mich an die Zeit halten. Aber eines steht fest. Die ständige Veränderung des Rechts, die unentwegte Postulierung „Unser Recht muß überall geändert werden" schafft nicht mehr, sondern weniger Geltung des Rechts. Wer behauptet, die Rechtsordnung sei in unserem Volk so voll angenommen worden, der schließt große Teile unseres Volkes bewußt einfach von dieser Beurteilung aus. Das gilt auch für den § 218, Herr Minister.
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Gemeinsamkeit ja, aber die hat zwei Seiten zur Voraussetzung. Ich fordere Sie auf: Zeigen Sie, wo Sie bereit sind, von Ihren ideologisch festgelegten Gründen und Absichten Abstand zu nehmen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Emmerlich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungserklärung des neuen Bundesministers der Justiz zeigt, daß er in der Kontinuität der von Gustav Heinemann begonnenen Reform der Rechtsordnung steht und daß er sie wie Horst Ehmke, Gerhard Jahn und Hans Jochen Vogel fortführen und ihr zu weiteren Erfolgen verhelfen wird.
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Die Rechtspolitik der sozialliberalen Koalition, Herr Kollege Erhard, hat tatsächlich wichtige Verbesserungen unserer Rechtsordnung bewirkt. Mit ihrer Rechtspolitik hat die Koalition bewiesen, daß ihr Reformwille und ihre Reformfähigkeit fortbestehen. Die heutige Regierungserklärung zeigt, wie die Politik der Reform unseres Rechts auch unter den veränderten Rahmenbedingungen der 9. Legislaturperiode weitergeführt werden kann.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist davon überzeugt, daß die Rechtspolitik entsprechend dem Auftrag unseres Grundgesetzes einen unverzichtbaren Beitrag leisten kann und leisten muß, damit die Freiheit der Bürger und ihre Sicherheit bewahrt und mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft erreicht werden. Das Recht hat vor allem die Aufgabe, den Schwächeren gegen den Stärkeren zu schützen.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß die Rechtspolitik in den zentralen Fragen auf einen breiten Grundkonsens angewiesen ist. Wir haben diesen Grundkonsens stets angestrebt und werden das weiterhin tun. Wir halten Kompromißbereitschaft und Kompromißfähigkeit für demokratische Tugenden. Das, lieber Herr Erhard, bedeutet aber nicht, daß wir der Opposition ein Vetorecht einräumen. Es bedeutet ferner nicht, daß wir uns von tagespolitischer Opportunität leiten lassen.
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Sozialdemokraten wissen auch, daß neue Gesetze diejenigen, die sie anwenden müssen, vor zusätzliche Aufgaben stellen. Der Gesetzgeber darf die Bürger, aber auch die Rechtsanwälte, die Verwaltung und die Gerichte mit neuen gesetzlichen Vorschriften nicht überfordern. Infolge des von der jetzigen Opposition verursachten Reformstaus haben wir die Rechtsanwender in den vergangenen Jahren erheblich fordern müssen.
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Nachdem der drängendste Reformstau abgebaut worden ist, kann das Tempo der Erneuerung auf das Maß herabgesetzt werden, das ohne Schwierigkeiten verkraftet werden kann.
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Herr Kollege Erhard, Sie haben in der Begründung zu dem Antrag Ihrer Fraktion auf Drucksache 9/183 schriftlich ausgeführt, die Bedeutung von Recht und Gesetz sei im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Bürger zunehmend unsicher geworden. Es ist - das werden Sie mir zugeben - nicht ganz einfach zu erkennen, was mit dieser verschwommenen Formulierung zum Ausdruck gebracht werden soll. Zur Erläuterung führen Sie Altbekanntes aus dem konservativen Lager an: die Gesetzesflut, die zu geringe Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Ihre heutigen Ausführungen haben sich zu einem großen Teil auf dieser Linie bewegt.
Lassen Sie mich dazu folgendes sagen. Zugegeben, die Beständigkeit des Rechts ist ein wichtiger Wert. Wir sind aber gleichwohl der Auffassung, daß die Anpassung des Rechts an Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Rechtsbewußtseins unerläßlich ist.
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Wir sind ferner der Auffassung, Herr Kollege Erhard, daß die Politik auch nicht auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Bewußtseins durch Rechtsreformen verzichten kann. Politik, Herr Kollege Erhard, bedeutet nicht bloß Nachvollzug von sich innerhalb der Gesellschaft vollziehenden Veränderungen, sondern Politik bedeutet auch bewußte Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse.
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Die einseitige, konservative Überbetonung der Beständigkeit der Rechtsordnung ist, meine sehr ge1222
ehrten Damen und Herren, keineswegs ein Beweis für besondere Rechtstreue, sondern vielmehr der Versuch der ideologischen Überhöhung konservativen Politikverständnisses und nicht selten auch der damit einhergehende Versuch, der Reformpolitik die Legitimation zu entziehen.
Berechenbarkeit rechtlicher Entscheidungen, wer wünschte sich das nicht! Aber bisher hat es noch kein Gesetz gegeben - und das wird auch in Zukunft nicht anders werden, Herr Kollege Erhard -, bei dem keine Interpretationsprobleme und keine Interpretationsspielräume bestanden. Die Gerechtigkeit, das ist die Resultante aus möglichst guten Gesetzen und ihrer möglichst vernünftigen Anwendung im Einzelfall.
Einer meiner Lehrer, Professor Schumann, hat uns Studenten immer wieder darauf hingewiesen, daß ein guter Richter mit einem schlechten Gesetz noch vieles bewirken könne und ein schlechter Richter auch mit einem guten Gesetz kaum etwas Vernünftiges zustande bringe.
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- Ich habe ja nur zitiert, Herr Kohl.
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- Ich bin in der Praxis immer wieder von der Richtigkeit dieser Einsicht überzeugt worden. Lassen Sie uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, statt perfekte Gesetze im Sinne juristischer Scholastik und der überholten Begriffsjurisprudenz anzustreben, solche Gesetze machen, die der Rechtsanwendung die Entscheidungskriterien in die Hand geben, die es möglich machen, im Einzelfall ein Höchstmaß an Gerechtigkeit zu verwirklichen!
Nach der Regierungserklärung sollen Gesetzeslücken, die bei der Verfolgung neonazistischer Aktivitäten zutage getreten sind, geschlossen werden. Ich weiß, daß in diesem Zusammenhang Mißverständnisse entstanden sind. Erlauben Sie mir deshalb einige Bemerkungen dazu.
Der gesamte Deutsche Bundestag - ich sage das bewußt, weil ich davon überzeugt bin - ist darüber besorgt, daß sich an vielen Stellen in der Bundesrepublik neonazistische Grüppchen zusammenrotten und daß immer unverhohlener und dreister versucht wird, insbesondere jüngeren Mitbürgern den Nazismus schmackhaft zu machen. In der neonazistischen Szene besteht darüber hinaus eine zunehmende Bereitschaft zur Gewalttätigkeit. Alarmierend sind die terroristischen Aktivitäten bestimmter neonazistischer Cliquen. Eine vorrangige Aufgabe der deutschen Politik ist es, diesen Anfängen entschieden und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß der Neonazismus, z. B. bei einer tiefgreifenden Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen, zu einer Gefahr für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat werden könnte.
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Entscheidend bei der Bekämpfung des Neonazismus ist die Aufklärung, vor allem der Jugend, über den Nazismus. Was den Nazismus vor allem anderen kennzeichnet, ist, daß er als Maßstab für politisches Handeln nicht ethische Kategorien anerkennt, sondern als eigentliches Ziel der Politik die Erringung und Erhaltung der Macht für die eigene Gruppe programmiert. An die Stelle politischer Moral tritt „das Recht des Stärkeren". Gemeiner Sozialdarwinismus ersetzt die Wertbezogenheit der Politik und die Achtung vor der Würde des Menschen.
Dieser nazistische Politik-Ansatz zerstört die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der Menschen. Der Nazismus ist daher vom Grunde menschenfeindlich und verbrecherisch.
({9})
Insofern unterscheidet er sich von allen anderen extremistischen politischen Strömungen. Wenn es gelingt, diesen verbrecherischen Charakter des Nazismus deutlich zu machen, dann wird der Neonazismus kaum Anziehungskraft entfalten können. Das ist im übrigen der Grund dafür, daß sich die neonazistische Propaganda so sehr darum bemüht, die Verbrechen des Nazismus zu leugnen, zu verharmlosen oder sie als für den Nazismus nicht typische Kriegsverbrechen hinzustellen. Es ist meine Überzeugung, daß wir diese neonazistische Propaganda in unserem Land angesichts unserer historischen Erfahrung und dessen, was von unserm Land ausgegangen ist, nicht dulden dürfen.
({10})
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, diese Erwägungen zu prüfen. Die Bekämpfung des Neonazismus ist nach meinem Verständnis eine Aufgabe, der sich alle demokratischen Parteien gemeinsam widmen müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Kollege Erhard hat gesagt, die Veränderung des Demonstrationsstrafrechts habe die Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen bewirkt. Lassen Sie mich dazu Bundesanwalt Völz zitieren. Er hat in der 8. Sitzung des Rechtsausschusses am 18. Februar dieses Jahres u. a. folgendes - das auch zu Ihrer Geschichtsklitterung, Herr Erhard - ausgeführt:
In den 60er Jahren habe es dasselbe Problem gegeben, wenn auch mit anderer Zielsetzung ... Auch damals hätten Tausende ... gewalttätig demonstriert; sie hätten Schaufensterscheiben eingeworfen, geplündert, Baufahrzeuge in Brand gesetzt usw.
({11})
Der Bundesanwalt fährt dann fort:
... aber mit Änderungen des materiellen und prozessualen Strafrechts könne man dieses Problem nicht in den Griff bekommen.
({12})
Herr Kollege Erhard, was wollen Sie an Änderungen des geltenden Demonstrationsstrafrechts? Sie wollen, daß auch friedliche Demonstranten - auch friedliche Demonstranten! - unter dem Eintritt bestimmter Bedingungen mit Strafe bedroht werden; und zwar liegen diese Bedingungen ausschließlich in dem Verhalten anderer Personen,
({13})
nämlich derjenigen, die sich in gewalttätiger Absicht unter die Demonstration mischen.
({14})
Nach dem Grundgesetz kann zwar das Demonstrationsstrafrecht gesetzlich im einzelnen geregelt werden, aber eine derartige gesetzliche Regelung darf das Demonstrationsrecht in seinem Kern, in seinem Wesensgehalt nicht antasten. Eine solche Regelung, die das Demonstrationsrecht eines Bürgers davon abhängig macht, wie ein anderer Bürger sich verhält, tastet jedoch das Demonstrationsrecht in seinem Kern, in seinem Wesensgehalt an.
({15})
Im übrigen sagen Sie, es gebe wenn man der Gewalttäter habhaft werden wolle, Beweisschwierigkeiten. Dies trifft zu.
({16})
Nur können Sie, wenn wir derartige Beweisschwierigkeiten haben, diesen doch nicht dadurch begegnen, daß wir friedliche Demonstranten - die man leichter packen kann, weil sie friedlich sind und stehenbleiben - unter Strafe stellen. Dies halte ich für rechtsstaatswidrig.
Für gefährlich halte ich - wenn ich das noch hinzufügen darf - darüber hinaus folgendes. Wenn Sie die Polizei unter dem Druck des Legalitätsprinzips zwingen, gegen friedliche Demonstranten vorzugehen, verhindern Sie, daß die Polizei ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen kann, sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren kann, nämlich der Gewalttätigen habhaft zu werden, derjenigen, die das Demonstrationsrecht zur Gewalttätigkeit mißbrauchen.
({17})
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pinger?
Wenn ich dies noch sagen darf: Insofern ist Ihr Vorschlag nicht nur unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten in hohem Maße bedenklich, sondern auch völlig ineffektiv. Er hat keine positiven, sondern ausschließlich negative Wirkungen.
({0})
Bitte, Herr Kollege Pinger.
Herr Kollege Emmerlich, ist Ihnen bewußt, daß das Demonstrationsstrafrecht, wie wir es jetzt wünschen, bis 1970 geltendes Recht gewesen ist, und warum haben Sie zur damaligen Zeit dieses Demonstrationsstrafrecht nicht für verfassungswidrig gehalten, warum haben Sie, als Sie mit der CDU in der Großen Koalition waren, nicht auf seine Abschaffung gedrängt?
Nun, wir haben auf seine Abschaffung gedrängt, und wir haben es ja auch in dem Moment, in dem das möglich war, im rechtsstaatlichen Sinne geändert.
({0})
- Herr Kollege Kohl, dieser Einwand, den Sie hier bringen, indem Sie jemandem, der darum bemüht ist, seine Motive deutlich zu machen, den Vorwurf des Opportunismus entgegenhalten,
({1})
diese Art der politischen Diskussion straft Ihre Behauptung, die Sie nach draußen verkünden, Sie wollten Gemeinsamkeit, Lügen, und das erschwert es, daß wir zusammenarbeiten können.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Herr Kollege Erhard hat ausgeführt, im deutschen Volk seien die Achtung vor dem anderen, die Achtung vor dem Recht und die Achtung vor dem Eigentum geschwunden. Ich weise diese durch nichts gerechtfertigte Unterstellung, diese durch nichts gerechtfertigte Beleidigung des deutschen Volkes auf das entschiedenste zurück!
({3})
Herr Kollege Erhard, Sie haben auch - und dies liegt auf der Ebene des Zwischenrufs, den Herr Kohl eben gemacht hat - den Pazifismus - wenn ich das richtig verstanden habe; wenn ich es falsch verstanden habe, bitte ich Sie, mich sofort zu korrigieren - als Beweis für das Zerbröseln des Pflichtbewußtseins hingestellt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie eine solche Haltung, die des Pazifismus, die in vielen Fällen überaus wertbezogene Grundlagen hat, die wertbezogen ist, in einer solchen Weise, die ihr die Wertbezogenheit völlig aberkennt, die ihr sogar attestiert, daß sie Werte zerstört, werten, dann ist es Ihnen eben unmöglich, in ein Gespräch mit Minderheiten
in unserem Volke zu gelangen. Dann leisten Sie einen Beitrag dazu, daß Minderheiten an den Rand der Gesellschaft und letztlich aus unserer Gesellschaft gedrängt werden.
({4})
Ich unterstelle Ihnen diese Absicht nicht, aber Sie sollten sich dieser Konsequenzen bewußt sein.
Das gleiche trifft für die Ausführungen zu, mit denen Sie Toleranz in die Nähe des Nihilismus gerückt haben. Sie sollten Ihren Lessing eigentlich besser gelesen und verstanden haben.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nunmehr zu aktuellen rechtspolitischen Fragen einige abschließende Bemerkungen machen.
Das Demonstrationsrecht hat für die Demokratie konstitutive Bedeutung. Demonstrationen sind nicht etwas, was wir widerwillig dulden oder erdulden müssen. Ohne Demonstrationsfreiheit gibt es keine Demokratie. Die Demonstrationsfreiheit hat den gleichen Rang wie die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit.
({6})
Sie gibt denen, die nicht über Massenmedien verfügen oder keinen Zugang zu den Massenmedien haben, die Möglichkeit, ihre Auffassung einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen. Wer in Demonstrationen - und jetzt komme ich zu dem, was daran aktuell ist, verehrter Herr Kollege Vogel - die Mobilisierung der Straße erblickt und meint, durch Demonstrationen unter den Druck der Straße zu geraten, der zeigt, daß er das Wesen der Demokratie nicht begriffen hat.
({7})
Bemerkenswert an den jüngsten Demonstrationen ist für mich, wie viele und vor allem junge Menschen daran teilnehmen und mit welchem Engagement sie für ihre Überzeugung eintreten. Das verdient Achtung und Respekt selbst dann, wenn man ihre Meinung nicht teilt, selbst dann, wenn Ordnungsverstöße von einzelnen Gruppen begangen werden.
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klein?
Jetzt nicht mehr. Ich komme sonst mit meiner Zeit nicht aus. Ich bitte vielmals urn Entschuldigung. Sie haben ja gleich als einer der folgenden Redner Gelegenheit, Ihre Auffassung darzulegen.
Ähnliches wie für Demonstrationen - nicht das gleiche - gilt für Hausbesetzer. So vielfältig ihre persönlichen Motive und ihre Lebensumstände auch sein mögen, in ihrer großen Mehrheit wollen sie gegen das protestieren, was sie als unerträglich in unserem Lande und als unerträglich an der Politik der von ihnen so genannten etablierten Parteien empfinden.
({0})
- Keineswegs. - Gewiß gibt es bei ihnen vielfach zu hohe Erwartungen an den Staat und die Politik, nicht selten begleitet von zu hohen persönlichen Ansprüchen.
Es gibt aber auch unübersehbare Mißstände: leerstehende Wohnungen und leerstehende Häuser auf der einen Seite und viele Menschen auf der anderen Seite, die keine Wohnung finden, die sie bezahlen können oder die ihren Bedürfnissen entspricht. Richtig ist, daß nicht wenige junge Mitbürger glauben, daß sie sich bei der Vertretung der Forderungen, die sie als existentiell ansehen, über Ordnungsvorschriften hinwegsetzen dürfen. Hausbesetzer halten sogar Hausfriedensbruch für gerechtfertigt, jedenfalls für entschuldbar.
Richtig ist ferner, daß einige meinen, ein Widerstandsrecht in Anspruch nehmen zu können, z. B. gegen den Bau von Kernkraftwerken, gegen die Räumung von besetzten Wohnungen, gegen Ermittlungs- und Ordnungsmaßnahmen der Polizei. Einige wenige glauben, dabei Gewalt anwenden zu dürfen, Gewalt gegen Sachen und auch Gewalt gegen Polizeibeamte.
({1})
Es mischen sich auch solche Personen und Gruppen unter die Demonstranten und die Hausbesetzer, die nichts anderes wollen als „Randale machen", und solche, die nichts anderes im Sinne haben als den gewaltsamen Aufstand.
Falsch wäre es, wenn sich unsere Aufmerksamkeit nur den Gewalttätigkeiten und den Ordnungsverstößen - ich bitte, auf dieses Wort zu achten - zuwenden würde, wenn wir glauben, darin bestehe das eigentliche Problem.
Notwendig ist vielmehr, den Blick auf die Anliegen der Protestierenden zu richten, sich in ihre Gedankenwelt, in ihre Sicht der Dinge und in ihre Bewußtseinslage hineinzuversetzen, ernsthaft den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen und sie zu begreifen. Erforderlich ist es, den jungen Menschen das Gefühl zu geben, daß sie dazugehören, daß sie mitreden und mitentscheiden können, daß sie eine Chance haben und daß der Staat und die Gesellschaft bereit und in der Lage sind, das zu tun, was zur Bewältigung ihrer Probleme erforderlich ist.
Völlig falsch wäre es, gegen Ordnungsverstöße junger Leute ohne Rücksicht auf Verluste mit der geballten Staatsmacht vorzugehen; zumal das bei Ordnungsverstößen anderer Art, z. B. bei Verstößen gegen das Zweckentfremdungsverbot für Wohnraum, bei Verstößen gegen Jugendarbeitsschutzvorschriften, gegen Schutzvorschriften gewerberechtlicher Natur und gegen steuerrechtliche BestimmunDr. Emmerlich
gen j a auch nicht geschieht. Notwendig ist vielmehr, daß bei staatlichen Reaktionen auf Ordnungsverstöße bei Demonstrationen und Hausbesetzungen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Gebot der Güterabwägung strikt beachtet werden, daß nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.
({2})
Verheerend ist es, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn der Staat nach dem Motto handelt „Wo gehobelt wird, fallen Späne" und den Boden der Rechtsordnung verlassend berserkerhaft Exempel statuiert. Verheerend ist es vor allem, wenn das Verhalten bayerischer Staatsorgane in Nürnberg Schule macht.
({3})
In Nürnberg ist zweifellos schlimmes Unrecht geschehen.
({4})
141 Menschen, darunter 21 Jugendliche und 54 18- bis 21jährige sind auf Grund pauschal unterstellter Verdachts- und Haftgründe verhaftet worden. Eine Einzelfallprüfung hat selbst dann nicht stattgefunden, wenn von den Betroffenen Entlastungsbeweise angeboten wurden.
Die Massenverhaftung von Nürnberg ist ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang.
({5})
Ich erwarte, daß der anwesende bayerische Justizminister vor dem Deutschen Bundestag und dem deutschen Volk an dieser Stelle und hier und heute deutlich macht, wie er seiner Verantwortung gerecht werden will.
({6})
- Herr Kohl, ich weiß ja, daß es wehtut,
({7})
aber das liegt nicht an mir, sondern an dem, was dort passiert ist.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Anlaß für diesen einmaligen Vorgang war ein Sachschaden in Höhe von 20 000 bis 30 000 DM. Eine große Zahl der Verhafteten, wahrscheinlich die Mehrzahl, war unschuldig.
({9})
Mehr als die Hälfte der Verhafteten war unter 21 Jahren alt. Eltern blieben teilweise tagelang ohne Nachricht über den Verbleib ihrer Kinder.
({10})
Für diesen unglaublichen Vorgang tragen, lieber Herr Kohl, nicht nur die unmittelbar beteiligten Staatsorgane die Verantwortung,
({11})
sondern auch diejenigen, die im Zusammenhang mit Demonstrationen und Hausbesetzungen von einer Krise des Rechtsstaats und davon geredet haben, daß ein neuer Terrorismus entstehe. Sie haben die Hysterie geschürt.
({12})
Sie heizen die Stimmung an, und andere, siehe Nürnberg, lassen sich davon hinreißen.
({13})
Ein Innenminister, der im Zusammenhang mit Demonstrationen und Hausbesetzungen den polizeilichen Schußwaffengebrauch erörtert, darf sich nicht wundern, wenn irgendwann einmal tatsächlich von der Schußwaffe Gebrauch gemacht wird.
({14})
Ein Staat, der rechtsstaatliche Grundsätze mißachtet, um den starken Mann zu spielen, höhlt das Rechtsbewußtsein aus
({15})
und gefährdet den Rechtsstaat mehr als die, die in Nürnberg die Schaufenster eingeschlagen haben. Wer nach den Maximen von Nürnberg handelt, integriert die protestierende Jugend nicht, sondern vergrößert ihre Distanz zu unserem Staat und zu unserer gesellschaftlichen Ordnung.
({16})
Die Ereignisse von Nürnberg sind ein schlimmer Exzeß.
({17})
Dieser Exzeß macht deutlich, wie verfehlt die Rezepte sind, mit denen die CSU und in ihrem Gefolge leider auch große Teile der CDU der Protestbewegung unserer Tage begegnen wollen. Die Forderung nach Wiedereinführung des obrigkeitsstaatlichen Demonstrationsrechts beruht auf den gleichen vordemokratischen und letztlich hilflosen Denkansätzen, die den Exzeß von Nürnberg ausgelöst haben.
Ich möchte mir wünschen, daß sich der bayerische Justizminister bei den Behörden in Schleswig-Holstein und beim Regierenden Bürgermeister von Berlin
({18})
Rat darüber holt, wie man mit Augenmaß und unter Berücksichtigung der Grundsätze der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeit Frieden in unserem Lande bewahren kann.
({19})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
({0})
- Das wird mir nicht gelingen, dazu ist schon zu viel Falsches gesagt worden, Herr Kollege.
({1})
Ich wollte ja dem Kollegen Erhard voll vertrauen hinsichtlich seiner komplizierten Rechnungen. Aber als ich dann gesehen habe, daß Sie die Zeit glatt sieben Minuten überschritten haben, bin ich an Ihren mathematischen Künsten doch wieder zweifelnd geworden. Nun muß ich die Sache mit den vielen Paragraphen auch in etwas anderem Lichte sehen, zumal Sie da ja eine sehr originelle Zählweise gefunden haben, indem Sie bei den von Ihnen vermuteten Änderungen offenbar buchstabenweise, mindestens aber wortweise vorgegangen sind.
Ich habe im Gegensatz Veranlassung, wie schon dem Vorgänger im Amte des Justizministers, der uns unter so besonderen und, wie ich meine, sehr ehrenwerten und ehrenvollen Umständen verlassen hat, auch seinem Nachfolger im Amte des Bundesjustizministers, Herrn Schmude, für die Freien Demokraten sehr herzlich dafür zu danken, daß hier ganz offensichtlich auch in den nächsten Jahren eine sehr behutsame Rechtspolitik fortgesetzt werden soll.
({2})
Das ist allerdings das, was nach einer schwierigen Aufbauphase - die übrigens, wie ich nicht müde werde zu wiederholen, hier im Hause von unseren Vorgängern unter erheblich schwierigeren technischen Umständen bewältigt worden ist, als wir sie heute haben, wobei sich die Leistungen durchaus sehen lassen konnten - und nachdem in einer anderen politischen Konstellation dann eine heute mehrfach auch ein wenig kontrovers diskutierte Nachholphase im letzten Jahrzehnt im wesentlichen abgeschlossen worden war, nicht mehr in dem Maße vorhanden ist wie am Anfang dieser Republik und so wie bei der während langer, verhältnismäßig einseitiger politischer Ausrichtung der Rechtspolitik, als ein Reformstau entstanden war.
Jetzt muß wirklich im Interesse aller Beteiligten - zuerst im Interesse der rechtssuchenden Bürger, genauso aber im Interesse der Richter, der Rechtsanwälte und unserer Verwaltungen im weitesten Sinne - Ruhe eintreten und nur das geregelt werden, was unbedingt geregelt werden muß.
Ich glaube, wir haben alles in allem durchaus Veranlassung, hier nicht gegenseitig unser Rechtssystem schlechtzumachen. Wenn man nicht durch ganz andere Herren der Opposition als Herrn Erhard schon einigermaßen abgehärtet wäre, hätte man ja bei dem Blick in die Gruselkammer, die er hier in bezug auf unser Rechtswesen und die Einstellung der Bürger dazu geöffnet hat, richtig ein wenig ängstlich werden können. So ernst haben Sie es ja aber meistens nicht gemeint. Anders kann ich mir auch nicht erklären, daß wir eine so unglaublich große Zahl von Gesetzen entweder von Anfang an oder jedenfalls bei der entscheidenden Schlußabstimmung gemeinsam verabschiedet haben.
Ich bedaure nur sehr, daß Sie immer wieder einmal versuchen, sich mit dem schlanken Fuß herauszustehlen und die Öffentlichkeit von Ihrer verdienstvollen Zustimmung abzulenken, damit Sie etwas mehr freie Hand zum Polemisieren haben. Das betrifft das Eherecht, dem Sie zugestimmt haben. Das betrifft eine Reihe von wichtigen strafrechtlichen Änderungen. Das betrifft - damit beziehe ich mich auf die Diskussion dieser Tage, in der schon wieder eine so merkwürdig schiefe Frontstellung erkennbar wird - auch das Mietrecht. Die Vergleichsmiete ist von Ihnen hier mit getragen worden. Einige der Vorschläge, die von der Union über allfällige Verbesserungen des Mietrechtes ins Gespräch gebracht werden, sind uns entschieden zu dirigistisch und scheinen uns auch nicht auf genügend Markt hinzuführen - um das bei dieser Gelegenheit zu erwähnen. Sie von der Union haben jedenfalls - genau wie wir und unser Koalitionspartner - die meisten Änderungen mitgetragen.
Warum dann also all das jetzt schlechtmachen und im nächsten Atemzug dann auch noch beklagen, daß die Bevölkerung in ihrem Vertrauen in ein stetiges und sich sorgsam entwickelndes Rechtssystem unsicher wird, das wir Gott sei Dank haben, wie Sie in Ihren ruhigeren Stunden vernünftigerweise ja gar nicht bestreiten?
Es scheint hier übrigens ein gewisser Zusammenhang mit der Art, wie die Leute argumentieren und wie sie handeln, zu bestehen. Wenn ich lese, was Herr Stoltenberg am letzten Freitag im Bundesrat gesagt hat, und mir vergegenwärtige, wie die verschiedenen Teilnehmer dieser Grundsatzdiskussion im Bundesrat ohne jede Polemik aufeinander zugegangen sind, so ist es, wie ich meine, nicht allzuweit hergeholt, wenn man eine Beziehung zu dem vernünftigen, sachgerechten und abgestimmten Verhalten mit dem nötigen Fingerspitzengefühl herstellt, das die schleswig-holsteinische Landesregierung in der sehr schwierigen Situation in Brokdorf an den Tag gelegt hat.
({3})
Falls es so sein sollte, daß diese Zusammenhänge bestehen, müssen wir alle immer weiter an uns arbeiten, damit uns hier in der Diskussion nicht auf einmal Verdächtigungen unterlaufen, die sich bei anderer Gelegenheit dann auch leicht in falsches Handeln umsetzen können.
Ohne Herrn Hillermeier vorgreifen zu wollen und ohne gegen den von mir selbst vertretenen Grundsatz zu verstoßen, daß wir bei grundsätzlichen Erörterungen von Rechtsfragen möglichst das Verbindende betrachten sollten, möchte ich bei dieser Gelegenheit allerdings auch sagen, daß sich zunächst verbale Darstellungen, die sich ganz anders angehört haben und die ganz anders zu lesen waren als das, was ich eben z. B. an Herrn Stoltenberg, aber auch an Herrn Eyrich in der Bundesratsdebatte zu rühmen hatte, anschließend prompt in Vorfälle umgesetzt haben, die mit dem Wort „bedauerlich" allerdings nur sehr schüchtern umschrieben sind, VorfälKleinert
le, wie wir sie leider in Nürnberg erleben mußten, und zwar zum Schaden der Auseinandersetzung um die vernünftige Handhabung eines schwierigen Problems, das hier leider erneut - mit Unruhen, insbesondere in Teilen der Jugend - auf uns zukommt. Die Ereignisse in Nürnberg, die zweifellos durch die zuständigen Behörden veranlaßt, mindestens mit veranlaßt worden sind,
({4})
haben uns in unserem Bemühen um angemessene Reaktionen dieses Staates auch in zugegebenermaßen sehr schwieriger Situation erheblich zurückgeworfen. Wir werden dazu sicherlich noch einiges zu hören bekommen.
Wenn ein derartiger Einschnitt feststellbar ist, dann natürlich nicht mit der umgekehrten Richtung: zu Ihren Zeiten seien die nützlichen Gesetze gemacht worden und zu unseren Zeiten die unnützen. Die ersten Justizminister dieser Republik, Herr Erhard, sind samt und sonders von den Freien Demokraten gestellt worden. Die ganzen Verdienste, die Sie vorhin so auf einen Schlag für sich reklamiert haben, können Sie da drüben ({5}) abliefern.
({6}) Das waren gar nicht Ihre Leute.
({7})
- Der Reformstau bezieht sich - das ist durchaus im Sinne dieser Republik und ihrer politischen Weiterentwicklung - auf die Fragen, die wir mit Ihnen nicht lösen konnten, so wie Herr Emmerlich naturgemäß Sie vorhin darauf hinweisen mußte, daß die Sozialdemokraten in der Großen Koalition mit Ihnen einiges auch nicht machen konnten. Ich bestreite überhaupt nicht, daß wir auch mit Ihnen sehr vernünftige Dinge gemacht haben. Wenn ich dies bestreiten wollte, wäre ich j a hochgradig unklug, nachdem ich eben erst darauf hinweisen konnte, daß die verantwortlichen Minister seinerzeit von uns gestellt worden sind.
({8})
- Wenn es sich einrichten läßt!
({9})
Und wenn es, Herr Kohl, insbesondere dem Rechtsstaat dient! Darüber reden wir ja, und das ist unserer Auffassung nach überhaupt nicht zu bezweifeln.
Es gibt nun mal außerhalb des Bereichs, in dem eine große Konsensfähigkeit unter allen drei Fraktionen immer gegeben war und auch in Zukunft gegeben sein wird, ganz typische Vorgänge, die der einen oder anderen Partei und damit ihrer hier vorhandenen Fraktion auf besonders eigentümliche Weise am Herzen liegen, und da kommt man dann eben nicht zusammen. Wir konnten uns nun einmal im Bereich der Sittlichkeitsdelikte im weitesten Sinne, also z. B. bei alledem, was früher mit Pornographie umschrieben worden ist, nie mit Ihnen einigen, und das werden wir wohl auch in Zukunft nicht können. Da gibt es eben in Ihren Reihen Leute, die glauben, daß die gesetzliche Proklamation des sittlichen Verhaltens etwas so Wichtiges sei, daß man damit Strafbehörden belasten müsse, statt sie nützlicheren Beschäftigungen zuzuführen.
({10})
Das allerdings konnten wir erst in der Koalition mit den Sozialdemokraten und nun einmal nicht mit Ihnen ändern. So hat sich das ergeben.
Was nun das Eherecht angeht, so erinnere ich an den Schwarzhauptschen Nacht- und Nebelangriff in zweiter Lesung, der die ganzen Schwierigkeiten erst richtig ins Rollen gebracht hat und der einen Großteil dieses Reformstaus mit begründet hat. Das war 1960, als Sie Ihre absolute Mehrheit in letzter Minute noch einmal gebraucht haben, aber wirklich schon sehr gebraucht haben,
({11})
wenn man allein die Umstände bedenkt, unter denen dieses Gesetz damals zustande gekommen ist, nämlich ohne eine halbwegs ordentliche Beratung vorher in dem entscheidenden Punkt; der ist erst hier eingeführt worden. Das war einem solchen Gesetzgebungsvorhaben wirklich nicht angemessen. Da lag eben der Stau. Also die Felder sind doch schon erkannt, auf denen es für die Weiterentwicklung unserer rechtsstaatlichen Ordnung wirklich wichtig ist, daß Sie von Zeit zu Zeit auch mal in der Opposition sind.
({12})
In der Diskussion über die Fähigkeit unserer Zeit zur Gesetzgebung ist einiges gesagt worden über einen gewissen Wandel im Stil der Gesetzgebung. Ich möchte darauf hier noch einmal ganz kurz eingehen. Es ist wohl richtig, wie ich kürzlich gelesen habe, daß man in den ersten Jahren nach dem Krieg und nach den herben Enttäuschungen, die wir im Dritten Reich auch mit unserer Justiz erleben mußten, etwas mehr Wert auf das Ausformulieren von Gesetzen im einzelnen gelegt hat, daß man etwas mehr in die Richtung der Begriffsjurisprudenz gekommen ist, um Richter an die Entscheidung des Gesetzgebers auch möglichst zu binden. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen, daß man neuerdings glaubt, im Interesse der Kürze und Klarheit der Gesetze, aber auch im Sinne der Gestaltungsmöglichkeiten des Richters für die angemessene Entscheidung des Einzelfalles wieder etwas mehr auf generalisierende Klauseln zurückgreifen zu können. Diese Entwicklung, meine ich, zeigt ein erfreulich gewachsenes Vertrauen in die Rechtsanwendung durch unsere Richterschaft, und sie ermöglicht uns es auch, die etwa vor zwei Jahrzehnten gemachten Gesetze - hier ist zum Beispiel das Aktiengesetz erwähnt worden; ich bezweifele, daß man das heute noch so kasuistisch verabschieden würde, wie es damals geschehen ist, als man die Dinge grundsätzlich anders gesehen hat -, in absehbarer Zeit einmal darauf zu überprüfen, ob nicht sprachlich in der Verständlichkeit und in der Kürze noch etwas mehr geschehen kann. Das ist eine Aufgabe, der wir uns weiterhin unterziehen wollen.
Wir haben sehr gern gehört, daß der Bundesjustizminister - es hätte der Erwähnung eigentlich kaum noch bedurft - ausdrücklich erklärt hat, in jedem Falle den bereits vorliegenden Entwurf - ich möchte hinzusetzen: und stamme er aus seinem eigenen Hause; das muß ja auch gemeint gewesen sein - daraufhin zu überprüfen, ob er wirklich Gesetz werden muß oder nicht, eine Prüfung, die in der Vergangenheit immer noch zu selten vorgenommen worden ist.
Ich habe hier früher schon öfter auf Bayern hingewiesen. Wir hatten gestern im Rechtsausschuß wieder einmal ein Produkt bayerischer gesetzgeberischer Bemühungen. Da sollten nämlich die Haftpflicht und die Gefährdungshaftung der Almbauern dringend geregelt werden, die im Winter ihr Einkommen mit dem Betrieb von Schleppliften etwas aufbessern. Dazu ist ein verhältnismäßig umfangreiches Gesetz vorgelegt worden, nachdem vor drei Jahren hier im Haus gründlich beraten worden war, man solle es besser lassen und lediglich die Seilbahnen mit ihren allerdings erheblich größeren Gefahren in eine Haftpflicht einbeziehen. - Nein, man hat in Bayern nicht ruhen können, man mußte sich dieses dringlichen Problems annehmen und versucht nun, über den Bundesrat den Rechtsausschuß dazu zu bringen, für etwa 1 500 Seilbahnen Versicherungsverträge abschließen zu lassen und Prämien zu kassieren, versteht sich. Wo der eigentliche Initiator des Gesetzes sitzt, kann ich bei solchen Betrachtungen natürlich nur vermuten.
({13})
Dann hat man im Jahr 20 Unfälle, deren Opfer bisher von ihren Krankenkassen das Notwendige bekamen und es dann von einem Haftpflichtversicherer bekommen sollen. Es ist natürlich sehr nützlich, wenn die bayerische Staatsregierung landauf, landab über die Gesetzesflut klagt, die natürlich von hier kommt, und uns dann hintenherum solche Gesetze ins Haus liefert, die zur Gesetzesflut viel, zur Regelung eines Notstands aber gar nichts beitragen können.
({14}) Da müssen wir wirklich sehr aufpassen.
Das Verhältnis des Gesetzgebers zu den Gerichten ist immer sehr delikat, zu allen Gerichten, das ist hier auch schon gesagt worden. In letzter Zeit haben wir gerade von sehr hochgestellten Richterpersönlichkeiten wieder einige Vorwürfe bekommen, wir schafften Unklarheiten, wir ließen zuviel offen für die gerichtlichen Entscheidungen. Wenn solche Vorwürfe von Stellen kommen, von denen aus im Laufe der Jahre zu meiner Auffassung nach sehr klar geregelten Fragen Urteile gekommen sind, die sich nur noch mit großen Schwierigkeiten mit dem Gesetzestext, der von hier gekommen ist, in Deckung bringen lassen, dann höre ich diese Vorwürfe nicht so gern.
({15})
Insbesondere die Rechtsschöpfung des Gerichts, dessen scheidender Präsident uns besonders deutliche Worte gesagt hat, halte ich nicht in jedem Fall vom Gesetz oder auch nur von den praktischen Notwendigkeiten her für geboten. Da wollen wir nicht den Schwarzen Peter hin- und herschieben. Wir wollen uns gern unsererseits bemühen, noch klarer zu werden und den Gerichten ordentliches Werkzeug an die Hand zu geben. Wir möchten aber auch in aller Bescheidenheit darum bitten, daß sich nicht ausgerechnet diejenigen, die sehr freischaffend tätig geworden sind, darüber dann auch noch bei uns beklagen. Das finde ich nicht so gut.
Einen ähnlichen Vorgang habe ich im Hinblick auf einen anderen Gerichtspräsidenten mit wenig Freude verzeichnet. Er ist in gewisser Weise auch in einer der vielen Fragen, die die Opposition heute der Bundesregierung gestellt hat, angesprochen. Zu diesen Fragen hören wir vermutlich noch von anderen Ihrer Redner etwas. Bisher ist das, was eigentlich gefragt sein sollte, alles so dunkel geblieben, wie es aufgeschrieben war.
Ich habe aber immerhin entnommen, daß Sie hinsichtlich der Praktizierung des Revisionsrechts, so wie wir es auf Grund der Klagen des Bundesgerichtshofes über Überlastung erst beraten und dann beschlossen haben - übrigens auch wieder einmal interfraktionell -, Bedenken haben. Ich muß schon sagen, ich war wirklich sehr verblüfft, nach diesen Beratungen, an denen ich seinerzeit zusammen mit Herrn Emmerlich und Herrn Hauser teilgenommen habe, vom Präsidenten Fischer zu hören, daß der Bundestag endlich die Einsicht gehabt habe, sich folgerichtig für die reine Grundsatzrevision zu entscheiden, während wir hier wochenlang beraten haben, um eben diese reine Grundsatzrevision tunlichst zu vermeiden, und lediglich auf die quantitativen Beschwerden der Herren Richter eingegangen sind. Wenn man uns dann entgegen dem gesamten Gang der Beratungen von dieser Seite das Wort im Munde umdreht, dann ist das für eine gemeinsame und in gewisser Weise auch kollegiale Beratung derartiger Wünsche der Gerichte in Zukunft nicht förderlich. Das kann man bei einer derartigen Gelegenheit wohl auch einmal deutlich und grundsätzlich anmerken.
Wir werden auch in Zukunft das Problem haben, daß viele Gesetze keineswegs, wie draußen vermutet wird, aus der Weisheit der Abgeordneten und ihrer bemerkenswerten Spontaneität geboren werden, sondern ganz woanders, in Amtsstuben erfunden werden, nicht zuletzt zu dem Zweck, sich anschließend über die eingetretene Belastung zu beklagen und Planstellen zu verlangen.
({16})
Das ist ein Zusammenhang, den man spätestens nach einiger Anwesenheit hier im Hause erkannt haben muß. Wir dürfen als Abgeordnete nicht bereit sein, erst in diese Falle hineinzutappen und uns dann draußen noch als diejenigen beschimpfen zu lassen, die diesen Überfluß an Gesetzen und diese zusätzlichen Belastungen der Verwaltung geschaffen haben. Das geht inzwischen schon so weit, daß namhafte Verbände von Verwaltungsangestellten oder Beamten hier nach bester Industriemanier Lobbyessen veranstalten, um den Abgeordneten einzureden, daß sie dieses Gesetz mit seinen soundsoviel tausend Planstellen ganz dringend brauchen.
Ein solches Essen hat hier z. B. zu der Frage der Jugendhilfe stattgefunden.
({17})
Das Jugendhilferecht zeichnet sich meiner Ansicht nach auch durch entsprechende Personalintensität aus, wenn es so verabschiedet wird, wie es zunächst einmal vorgelegt wurde. Ich frage mich, ob das alles so sein muß oder ob man nicht auch Kräfte im Volk freisetzen kann, die sich selbst helfen, seien es die Nachbarn, sei es die beliebte Großmutter, die ja auch nicht in jedem Fall in das immer teurer werdende Altersheim gehen muß. Das ist übrigens ein Kapitel für sich, daß das immer eine doppelte Rente kosten muß, weil das alles so sozial gemacht ist.
({18})
Da kann man vielleicht auch auf einige Kräfte vertrauen.
Damit komme ich von einer anderen Seite zu dem Thema, das mir besonders am Herzen liegt: Was können wir tun, und zwar meistens durch ein Unterlassen - deswegen haben Sie wahrscheinlich nach Unterlassungen gefragt -, um Selbstheilungskräfte in der Wirtschaft, bei den einzelnen Bürgern freizusetzen? Was man tun kann, um solche Kräfte mit Sicherheit einzuschläfern oder zum Erliegen zu bringen, ist, möglichst engmaschige Gesetze zu machen, damit der einzelne nicht mehr in Verlegenheit kommt, selbst über irgend etwas nachzudenken oder selbst irgendeine Verantwortung zu übernehmen. Ich gehe so weit, zu behaupten, daß die mangelnde Herausforderung der Leistungsbereitschaft jedes einzelnen zu einer Reihe von Erscheinungen führt, die wir gerade, insbesondere bei der Jugend, zu beklagen haben. Wir Älteren sind vor einigen Fehlern noch geschützt durch plastische Erfahrungen, was das eigentlich ist, wenn man keine Marktwirtschaft hat und wie man da vor Bezugsscheinämtern Schlange stehen muß und wie es gelungen ist, größere und kleinere Warenbestände durch Planung und Bewirtschaftung zum Verschwinden zu bringen, daß hinterher für niemanden etwas da war.
({19})
Denn wer das erlebt hat, der kann gar nicht auf den Gedanken kommen, daß es nützlich sein könnte, etwa dem Wohnungsmangel durch immer stärkere öffentliche Eingriffe beikommen zu wollen.
({20})
Was ich heute dazu von einem stellvertretenden Vorsitzenden einer uns mal näher mal ferner stehenden - sie wissen das selber nicht so; ich weiß es auch schon lange nicht mehr -, in diesem Fall wieder besonders fernstehenden Organisation gehört habe, ist allerdings hanebüchen. Da hat doch dieser Herr Pieper, ein stellvertretender Vorsitzender der Jungdemokraten, gesagt, man müsse jetzt schleunigst - -({21})
- Sehen Sie, ich bringe dieses Beispiel besonders
deshalb, weil ich Sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ermutigen möchte, vor Ihrer eigenen Tür zu kehren; dazu will ich ein Beispiel geben.
({22})
- Ich weiß nicht, wessen Unterstützung er genießt. Ich habe nur mein Maß an Unterstützung hier deutlich machen wollen; ich hoffe, das ist mir gelungen.
({23})
Wenn derartige Bewirtschaftungsgedanken auftauchen, dann - ich finde, das ist nun allerdings sehr peinlich für sehr viele Beteiligte, keineswegs nur in Berlin, sondern auch in anderen Bundesländern - wird das ja schon dadurch ganz wesentlich ad absurdum geführt, daß ein Großteil der beklagenswerten Zustände eben nicht auf raffgierige Menschen mit einer Melone und einer dicken Zigarre im Mund zurückzuführen sind, die man als Spekulanten bezeichnet, wenn sie versuchen, das Beste aus ihrem Geld zu machen und den Markt einigermaßen in Bewegung zu halten, sondern auf gemeinnützige Gesellschaften,
({24})
die eigens gegründet worden sind, um zum allgemeinen Wohl nützlichere und bessere Zustände herbeizuführen, die sich erheblicher finanzieller Privilegien erfreuen und dennoch nicht in der Lage sind, ihren eigenen Hausbestand halbwegs brauchbar zu verwalten, trotz aller Vorteile.
({25})
Wem so klare Beispiele nicht genügen, von dem unsinnigen Gedanken abzukommen, man könne hier die Sache besser machen, indem man sie in der bisherigen - falschen - Richtung weitertreibt, dem ist dann wohl wahrlich nicht mehr zu helfen.
Nützlich wäre in diesem Bereich wahrscheinlich auch ein gewisser Mindestunterricht über volkswirtschaftliche Zusammenhänge, die ja letzten Endes hinter allem, was wir hier gesetzgeberisch machen, stehen, mindestens stehen sollten, auch an den Schulen, und nicht statt dessen die Verbreitung einiger Schlagwörter zu Fragen, die schon ein Teil der Lehrer in ihrer Studienzeit nicht richtig verstanden hat und dann so unverstanden weitergibt.
({26})
Das kann natürlich nicht sein. Ein Kollege der Union, den ich wegen seines Humors sehr schätze - er ist dafür auch schon offiziell geehrt worden -, hat heute als eine der erwägenswerten Reformen die Trennung von Schule und Unterricht ins Auge gefaßt.
({27})
Ich muß sagen: Dieser Vorschlag scheint gar nicht
mehr so weit abzuliegen, wenn man einige Fehlent1230
wicklungen ins Auge faßt. Wir hoffen, daß sich das bessert.
Das wird uns dann auch im Bereich der Gesetzgebung und im Rahmen des Verständnisses für die Gesetzgebung und für unser Recht sehr hilfreich sein.
Wenn man in diesem Zusammenhang nicht nur immer mehr Leistung von seiten des Staates gibt, von seiten der Eltern, von allen möglichen Seiten, sondern auch einmal Leistung verlangt, dann wird man vielleicht auch in einem Teilbereich einer der Ursachen der um sich greifenden Verwirrung, die dann zu schlimmen Ausschreitungen geführt hat, auf die Spur kommen und abhelfen können.
({28})
Ich glaube, es wäre wert, in diesem Sinne weiterzudenken, statt hier zu groben Mitteln zu greifen oder sich gar untereinander zu verzanken über eine Frage, die nur in Gemeinsamkeit auf der Basis des gesunden Rechtsstaates, den wir haben, gelöst werden kann. - Ich danke Ihnen.
({29})
Das Wort hat der Herr Staatsminister Dr. Hillermeier.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bayern fühlt sich außerordentlich geschmeichelt, daß es heute in dieser intensiven Weise wieder einmal angesprochen wurde, - was unserer Bedeutung gerecht wird. Herzlichen Dank.
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Ich möchte den so versöhnlichen Abgang, den der Herr Kollege Kleinert eben genommen hat - seine erfrischende Rede hat ja einen unwahrscheinlichen Beifallsturm auf Ihrer Seite hervorgerufen -,
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zum Anlaß nehmen, um bei aller Ernsthaftigkeit den Humor in diesem Hause auch von einem Mitglied des Bundesrates nicht zu kurz kommen zu lassen. Kollege Kleinert, Ihre Kenntnisse auf allen Gebieten in Ehren,
({3})
aber bezüglich der topographischen Verhältnisse in Bayern und ihrer besonderen Bevorzugung als Schigebiet scheinen Sie doch nicht ganz die Erfahrungen zu haben, die notwendig sind, um „die Schlepplifte" aufzugreifen. Sie sind aber herzlich von uns eingeladen, zu kommen, um ein bißchen Nachhilfeunterricht zu nehmen.
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Kollege Emmerlich, das - wenn ich das vorweg sagen darf -, was Sie geglaubt haben darstellen zu sollen, kann kaum mit einer anderen Bezeichnung als mit „unerträglicher Polemik" gekennzeichnet werden.
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Sie kommen, wie ich weiß, aus dem Beruf derer, die als Angehörige der dritten Gewalt im Rahmen der ihnen aufgetragenen Befugnis und der ihnen auf getragenen Rechte unabhängige Entscheidungen gefällt haben.
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Lieber Herr Kollege Emmerlich, Ihre parlamentarische Tätigkeit scheint Sie schon weit von dem weggeführt zu haben, was wir an Achtung, an Respekt gegenüber der dritten Gewalt und ihrer Unabhängigkeit hier zeigen sollten.
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Wenn hier von verschiedenen Usancen, Entscheidungen, bayerischer Linie, Hysterie, Staat, harter Mann und dergleichen gesprochen worden ist, darf ich mir doch folgende Erwiderung erlauben. Ich halte die bayerische Bevölkerung nicht für dümmer und nicht für weniger urteilsfähig - nicht mehr, aber auch nicht weniger - als die Bevölkerung anderer Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Aber immerhin hat diese bayerische Bevölkerung in langen Jahren, über mehrere Perioden hinweg nahezu zu 60 % dieser Regierung das Vertrauen ausgedrückt. Ich glaube, das sollten Sie bei Ihrer Polemik auch einmal ein bißchen berücksichtigen.
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Weil manches Informationsdefizit über den Hergang der jetzt so hochgespielten Ereignisse in Nürnberg
({9})
zu bestehen scheint, bin ich gehalten, die Dinge wieder in das normale Feld der Betrachtung auf Grund der Vorgänge in aller Leidenschaftslosigkeit zurückzuführen. Ich darf dies nun in meinen weiteren Ausführungen einmal versuchen.
In Nürnberg sind am 5. März schwere Straftaten verübt worden. Das wird wohl von niemandem bestritten. Nach dem Bericht der Staatsanwaltschaft, der den bisherigen Stand der Ermittlungen wiedergibt, hat sich folgendes zugetragen: Am Donnerstag, dem 5. März 1981, gegen 20.15 Uhr, fand im Kommunikationszentrum - abgekürzt: KOMM - der Stadt Nürnberg eine Versammlung statt, bei der ein längerer Film über das Auftreten der militanten Hausbesetzer in Amsterdam vorgeführt wurde. Anschließend wurde u. a. darüber diskutiert, ob auch in Nürnberg, insbesondere bei einer Demonstration, die man anschließend durchführen wollte, Gewalt angewendet werden sollte. Man kam zu dem Ergebnis, daß die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer zwar gegen Gewaltanwendung sei, daß jedoch diejenigen - und nun bitte ich genau herzuhören -, die anderer Meinung seien, durchaus Gewalt anwenden
Staatsminister Dr. Hillermeier ({10})
könnten; wenn dabei Schaufensterscheiben zu Bruch gingen, könne dies hingenommen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was sich im Anschluß an die Filmvorführung in diesem KOMM ereignet hat, sollte man sich einmal vergegenwärtigen, wenn jetzt plötzlich so in pauschaler Form vorschnell, ohne die eigentlichen Zusammenhänge und den Gang der Ereignisse zu kennen, von lauter Unschuldigen gesprochen wird. Das sollte man Ihnen, Herr Kollege, der Sie auch eine solche Äußerung gemacht haben, und all den vielen einmal sagen, die jetzt im Augenblick eine Entschuldigung verlangen - zu einem Zeitpunkt, zu dem das Ermittlungsverfahren ja eben erst angelaufen ist und wir erst abwarten müssen, welche Ergebnisse die Strafverfahren, die höchstwahrscheinlich kommen werden, zeitigen. Dann erst könnte sich eine Situation ergeben, in der Kritik angezeigt ist. Von Kritik ist natürlich auch die Justiz nicht ausgenommen: sie steht nicht irgendwie in einem elfenbeinernen Turm.
Aber ich möchte das bereits im Augenblick bekannte Ermittlungsergebnis, daß man beraten hat, daß wohl ein größerer Teil gegen Gewaltanwendung war, aber das, was hinterher passiert ist, in Kauf genommen hat, doch in aller Deutlichkeit herausgestellt wissen, weil man sonst zu ganz falschen Ergebnissen kommt, wie das bei Ihnen und auch bei einer Reihe Ihrer Kollegen im Bayerischen Landtag, die vorschnell geurteilt haben, der Fall gewesen ist.
Lassen Sie mich nun den Gang der Ereignisse kurz weiter darstellen: Gegen 22 Uhr - wir sind immer noch an diesem Freitag - hielt sich nur noch eine kleine Gruppe im KOMM auf. Die Anwesenden waren in kleinen Gruppen abgewandert. Man konnte annehmen - und dies hat die Polizei getan -, daß mit einer Demonstration und mit Störaktionen nicht mehr zu rechnen war. Die bereitgehaltenen Polizeikräfte waren deshalb entlassen worden.
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Ohne erkennbare Vorbereitung versammelten sich dann um 22.30 Uhr ca. 150 Personen vor dem KOMM. Als man dabei das einzige anwesende Polizeifahrzeug, einen zivilen, mit zwei Beamten in Zivil besetzten Pkw, entdeckte, umringte man diesen, brachte ihn ins Schaukeln, setzte sich auf die Kofferraumhaube und beschädigte das Fahrzeug durch Fußtritte. Den Beamten gelang es schließlich, das Fahrzeug aus dem Ring der Demonstranten herauszufahren.
Nunmehr gingen und liefen die Teilnehmer in relativ geschlossenem Pulk und wechselndem Tempo durch die Innenstadt. Sie waren teilweise vermummt und johlten. Unterwegs wurden Schaufensterscheiben und Glasvitrinen am Kaufhof, in der Breiten Gasse, in der Färbergasse und in der Jakobstraße eingeschlagen, Personenkraftwagen wurden beschädigt, Zeitungsstände und Mülltonnen auf die Straße geworfen. Der erfaßbare Gesamtschaden beträgt ca. 30 000 DM; ich komme in anderem Zusammenhang nachher noch einmal darauf zu sprechen.
Während der Durchführung des Zuges konnte die Polizei nicht eingreifen, da sie kräftemäßig zu schwach war. Ich glaube, dies ist wohl uns allen verständlich. Es standen nur einige Streifenwagenbesatzungen zur Verfügung. Erst als die Teilnehmer wieder beim KOMM angelangt waren, waren die Polizeikräfte soweit verstärkt, daß eine Umstellung des Gebäudekomplexes, zunächst in loser Form, mit Eintreffen weiterer Verstärkungen dichter, möglich war.
Während der Demonstration waren nach Information der Polizei ca. 20 Personen im KOMM zurückgeblieben. Die Staatsanwaltschaft wurde gegen Mitternacht von den Vorfällen verständigt. Ihre Vertreter informierten sich in den folgenden Stunden im Polizeipräsidium in Nürnberg und entschieden schließlich, daß sämtliche Personen, die nach der Umstellung durch die Polizei im KOMM angetroffen wurden, dem Haftrichter vorgeführt werden sollten, soweit sie nicht von vornherein als Teilnehmer an der gewalttätigen Demonstration ausschieden.
Demgemäß wurden am 6. März 1981 von insgesamt 164 im KOMM angetroffenen Personen 143 mit Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Nürnberg überstellt. Bei den nicht vorgeführten 21 Personen handelte es sich um solche, bei denen auf Grund objektiver Gegebenheiten ein dringender Tatverdacht nicht gegeben war, Haftgründe erkennbar nicht vorlagen oder die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt gewesen wäre.
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- Auf die anderen komme ich noch zu sprechen, Herr Kollege Schmidt. Da muß ich wohl doch, ohne überheblich zu sein, einigen von Ihnen und auch meinen Kollegen im Bayerischen Landtag ein bißchen Nachhilfeunterricht dahin erteilen, was Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 112 StPO bedeutet. Hier wird von einer allgemeinen Verhältnismäßigkeit in der Weise gesprochen, daß die Polizei, die Staatsanwaltschaft und womöglich auch noch die Richter ihrem Handeln irgendwelche politischen Opportunitätskriterien zugrunde zu legen hätten, meine Damen und Herren. Verhältnismäßigkeit in diesem Fall, also bei der Prüfung der Frage, ob ein Haftbefehl zu erlassen ist oder nicht, ist einzig und allein nach § 112 StPO zu beurteilen.
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Nehmen Sie das bitte einmal zur Kenntnis und frischen Sie Ihre eigenen juristischen Kenntnisse ein bißchen auf, wenn die etwa verlorengegangen sein sollten.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun weiterfahren: Im Laufe des 6. März 1981 erließ der Ermittlungsrichter in 142 Fällen - dem Antrag des Staatsanwalts entsprechend - Haftbefehl; in einem Fall verneinte er den dringenden Verdacht. Unter den Festgenommenen befanden sich 21 Jugendliche und 49 Heranwachsende; der Rest waren Erwachsene. Im Augenblick wird j a in der Publizistik nur noch
Staatsminister Dr. Hillermeier ({15})
von den Jugendlichen gesprochen, von den Erwachsenen ist keine Rede mehr.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lutz?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Bitte sehr.
Nachdem Sie gerade, Herr Minister, Ihre farbenvolle Darstellung des Abends gegeben haben, darf ich Sie fragen: Erschüttert Ihr Selbstbewußtsein nicht die Tatsache, daß mindestens 15 Zeugen behaupten, daß 70 Leute im KOMM gesessen haben, die unter den 141 Verhafteten waren? Ich rede, damit Sie mich richtig verstehen, nicht von meiner Tochter, sondern ich rede davon, daß die Staatsanwaltschaft und die Haftrichter - aber dieses Argument erreicht Sie leider nicht - 141 Personen - offenbar fehlinformiert - in Untersuchungshaft genommen haben.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Hier scheinen Ihre Kenntnisse, Herr Kollege, doch nicht so tiefschürfend zu sein, wie es notwendig ist, um die Dinge richtig beurteilen zu können. Es gibt eine eidliche Aussage von den im KOMM beschäftigten Betreuern, wonach 22 - so ist mir das bekannt - und nicht 60 oder 70 Personen im KOMM zurückgeblieben wären, die dann an der Demonstration offensichtlich nicht teilgenommen haben. Diese 22 Personen sind sofort nach Bekanntwerden dieser Situation, nämlich der eidlichen Aussage der in diesem KOMM Beschäftigten, freigelassen worden; von 60 oder 70 Personen kann überhaupt keine Rede sein. Aber im übrigen werden das weitere Ermittlungsergebnis und die zu erwartenden Strafverfahren Aufklärung bringen. Was streiten wir uns heute über diese Dinge!
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Staatsminister?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Nein, keine Fragen mehr!
Keine weitere Zwischenfrage.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Keine Frage!
Ich fahre fort in der Schilderung des Tatbestandes. Ich habe vorhin dargestellt, wie groß der Anteil der Jugendlichen, der Heranwachsenden und der Erwachsenen an den insgesamt Festgenommenen war. Die Jugendlichen wurden am 10. März alle wieder entlassen, weil die Voraussetzungen für die Inhaftierung nicht mehr vorlagen, entweder durch Wegfall des dringenden Tatverdachts oder dadurch, daß keine Fluchtgefahr oder keine Verdunkelungsgefahr mehr bestand.
Bei den Erwachsenen und den Heranwachsenden wurde in den folgenden Tagen die Haftfrage ständig geprüft. Die überwiegende Zahl der Beschuldigten wurde inzwischen aus der Haft entlassen. Derzeit befinden sich nur noch neun Personen in Haft.
In den Haftbefehlen wurde der dringende Tatverdacht eines Vergehens des Landfriedensbruchs in besonders schwerem Fall bejaht, und, meine Damen und Herren, das Strafgesetzbuch sieht dafür Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. Niemand hat die Taten bisher in Zweifel gezogen. Es ist die gesetzliche Folge, daß die Strafverfolgungsorgane alle Verdächtigen feststellen und gegen sie ermitteln müssen. Ich glaube, darüber - als über etwas Selbstverständliches - braucht man überhaupt nicht zu reden. - Auf die Verhältnismäßigkeit komme ich nachher noch zurück, weil das in der ganzen Diskussion ein wichtiger Punkt ist.
Meine Damen und Herren, man hätte eigentlich meinen können, daß über, wie gesagt, Selbstverständliches - Vollzug von Recht und Gesetz - nicht in diesem Maße, wie es geschehen ist, geredet und geschrieben worden wäre. Was aber ist geschehen? Wer die Diskussionen der letzten Monate um Hausbesetzungen und Ausschreitungen bei Demonstrationen verfolgt - meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier nicht mit Zitaten um mich werfen, und ich will auch niemanden angreifen -, ist doch, glaube ich, gleich mir von tiefer Sorge erfüllt, schlicht und einfach von tiefer Sorge darüber erfüllt, daß in wichtigen Bereichen Rechtsbruch und Gewalt verharmlost werden, daß dadurch dazu ermutigt wird und daß die Verteidigung der Rechtsordnung abschätzig kritisiert
({1})
und allenfalls gerade noch als ein notwendiges Übel geduldet wird. So weit sind wir inzwischen in der Verschiebung des Rechtsbewußtseins in manchen Kreisen schon gekommen.
Damit, meine Damen und Herren - wem sage ich das? -, werden diejenigen Werte, auf denen unsere Rechts- und Verfassungsordnung beruht, auf den Kopf gestellt! Hausbesetzungen, also widerrechtlicher Einbruch in fremdes Hausrecht, werden nicht nur faktisch geduldet, sondern auch vielfach entschuldigt, wenn nicht gar gerechtfertigt. Da würde ich doch denen, die im Augenblick einen so starken Kontrast zwischen Berlin und Bayern oder zwischen anderen Ländern und Bayern konstruieren wollen, sehr raten, einmal den Herrn Präsidenten Schreiber zu fragen, was er denn von den Berliner Methoden hält. Auch das gehört zum Vergleich von Berlin und München im polizeilichen Bereich. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollen in Bayern keine Berliner Verhältnisse. Das sage ich ganz deutlich!
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Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich zu einigen Fragen Stellung nehmen, die insbesondere hier, aber nicht nur hier, sondern in den letzten Tagen immer wieder aufgeworfen werden. Ich habe sogar Verständnis dafür, daß sich bei Rechtsunkundigen hier mancher Zweifel einschleicht; warum auch nicht? Lassen Sie mich also zu einigen Dingen Stellung nehmen.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({3})
Bei der Frage, die immer wieder diskutiert wird -„Ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt worden oder nicht?" -, scheint mir doch eine rechte Begriffsverwirrung vorzuliegen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt nämlich schlicht und einfach, daß die gegen den einzelnen ergriffenen Strafverfolgungsmaßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Wird eine Tat von einer Vielzahl von Personen begangen, so kann daraus doch nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß ein Einschreiten gegen diese Vielzahl unverhältnismäßig ist. Meine Damen und Herren, wohin kommen wir denn in unserem Rechtsbewußtsein, wenn dann, wenn ein einzelner einmal etwas am Rande des Gesetzes oder über das Gesetz hinweg tut, ihn die volle Härte des Gesetzes trifft, man aber dann, wenn es, wie hier, eine große Masse ist, womit möglicherweise spektakuläres Aufsehen erregt wird, in die Knie geht und die Glacéhandschuhe zur Hand nimmt? Das ist kein Rechtsbewußtsein,
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und das verstößt auch gegen das Erfordernis, daß letzten Endes der einzelne, der einmal eine Gesetzesübertretung in kleinerer oder größerer Form begeht, auch Verständnis dafür hat, daß die ganze Wucht der Paragraphen und des Staates auf ihn zukommt. Ich habe vorhin schon gesagt, hier scheint mir eine völlige Verdrehung des Begriffs der Verhältnismäßigkeit in diesem Sinne der Strafprozeßordnung an der Tagesordnung zu sein.
Ich meine, wenn man dies so sieht, dann wäre es schlicht und einfach eine Kapitulation des Rechts vor der Gewalt in ihrer gefährlichsten Form. Daß Landfriedensbruch, d. h. das Begehen von Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen mit vereinten Kräften aus einer Menschenmenge heraus, wohl etwas anderes ist, als nur die Addition einiger Sachbeschädigungen im Lande, brauche ich, glaube ich, hier niemandem besonders auseinanderzusetzen. Die Bedeutung einer Straftat wird doch weiß Gott nicht geringer, sondern die Gefährlichkeit und der Unrechtsgehalt wird größer, wenn mehrere oder viele mit vereinten Kräften die Tat begehen.
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Lassen Sie mich noch ein kleines Beispiel sagen, um das zu verdeutlichen. Könnte man jemanden noch ernst nehmen, der meint, daß dann, wenn z. B. fünf Personen ein Opfer zusammenschlagen, auf jeden der Mittäter nur ein Fünftel des Unrechtsgehalts fällt? So in etwa wird doch heute Verhältnismäßigkeit dargestellt.
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Ich muß schon sagen, wenn wir die Gesamtsituation und all das beleuchten, was in den letzten Tagen geäußert wurde, daß ich es zutiefst bedaure, daß sich der Herr Bundesverfassungsrichter Hirsch befugt gefühlt hat, auch zur Frage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Stellung zu nehmen.
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Ich will dem Herrn Bundesverfassungsrichter Hirsch keine Belehrungen erteilen. Das steht mir nicht zu, und ich habe eine hohe Achtung, einen hohen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht. Aber ich meine, gerade ein Bundesverfassungsrichter, der möglicherweise auf Grund von Verfassungsbeschwerden und dergleichen mit diesen Dingen befaßt wird, sollte sich gefälligst der Zurückhaltung befleißigen, die man von einem Richter in diesem hohen Rang erwarten kann.
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Was sollen solche Bemerkungen, die Bayern hätten da etwa gemeint: immer feste druff, und Exempel müßten statuiert werden? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es nicht mehr möglich ist, Recht und Gesetz bei uns in der Bundesrepublik zu vollziehen, ohne sich sofort dem Vorwurf der Rechtsbeugung auszusetzen, wie dies geschehen ist, dann gute Nacht! Dies ist in den letzten Tagen geschehen. Ohne das gründliche Wissen - viele konnten es gar nicht haben, und daraus mache ich ihnen gar keinen Vorwurf - sind unwahrscheinliche ehrverletzende Verdächtigungen gegen diejenigen erhoben worden, von denen wir j a wohl immer erwarten, daß sie hinter diesem Staat stehen, und die nicht die Möglichkeit haben, sich sofort lautstark zur Wehr zu setzen, wie wir sie als Palamentarier und als Politiker haben.
Ich möchte noch etwas anderes klarstellen. Es geht da um die Frage, ob die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen. Da geht es jetzt auch wieder in die Richtung, daß man sagt: Na, nach zehn Tagen sind die Haftbefehle zum großen Teil bis auf neun aufgehoben worden. Da heißt es: Aha, dann war also wohl von Haus aus kein Grund gegeben, um solche Haftbefehle zu erlassen.
Nun, ich brauche vor diesem sachverständigen Gremium wohl kaum noch einmal näher zu erläutern, daß es bei den Voraussetzungen des Haftbefehls auf den Zeitpunkt der Entscheidung ankommt, nicht irgendwie auf einen späteren Zeitpunkt.
Wir sollten auch nicht ganz vergessen, daß eine Haftentscheidung von Gesetzes wegen bekanntlich unter einem gewissen Zeitdruck steht und daß beim Festhalten von vorläufig Festgenommenen ohne richterliche Entscheidung der nächste Tag nicht überschritten werden darf. Deshalb, meine ich, muß jeder Einsichtige zugeben, daß es eben nun einmal nicht ganz auszuschließen ist, daß weitere Ermittlungen nach der Verhaftung zu der Feststellung führen, daß dringender Tatverdacht nicht mehr besteht oder sonst die Haftgründe entfallen und deswegen Beschuldigte beschleunigt freizulassen sind. Die Aufhebung der Haftbefehle besagt aber doch in keiner Weise, daß die Verhaftung ursprünglich rechtsfehlerhaft, rechtswidrig war, wie es jetzt immer wieder einmal direkt oder indirekt behauptet wird.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Bitte sehr.
Herr Staatsminister, stimmen Meldungen, die in der Presse standen, daß bereits Tage vor den Demonstrationen in Nürnberg prophylaktisch vier Haftrichter genau für jenen Abend bestellt wurden?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Herr Kollege, ich bin Ihnen dankbar für die Frage. Aber daß auch Sie noch darauf reinfallen, bekümmert mich doch zutiefst.
({1})
Daß Sie darauf reinfallen und glauben, dahinter könnte sich ein ernsthafter Vorgang verbergen, lieber Kollege Lambinus,
({2})
ist doch für jemanden, der selbst im weiteren Sinne, wie ich weiß, in der Rechtspflege steht,
({3})
ein betrübliches Zeichen dafür, wie weit er offensichtlich schon selber von dem abgeirrt ist, was bei uns Recht und Rechtsbewußtsein auch bei Richtern und bei Staatsanwälten bedeuten.
({4})
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich brauche - ({5})
- Davon kann gar keine Rede sein. Um Ihnen das zu verdeutlichen: Bei der hohen Zahl derjenigen, die auf Grund der vorläufigen Festnahme dann der Staatsanwaltschaft vorgestellt wurden, waren zwei Ermittlungsrichter einfach zeitlich nicht mehr in der Lage, wenn sie ihre Aufgabe ernst nehmen und den Einzelfall prüfen wollten - auch das ist in unzulässiger Weise vorhin wieder kritisiert oder angezweifelt worden -, in den wenigen Stunden, die noch bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist zur Verfügung standen, dies zu erledigen. Allein aus diesem Grunde ist der Amtsgerichtspräsident verständigt worden, der dann nach alter richterlicher Ordnung sein Präsidium zusammengerufen und nach einer schon vorher feststehenden Reihenfolge die Richter berufen hat, die eben dran waren.
({6}) Was soll das ganze Getöse?!
({7})
- Wann denn, wann denn? Natürlich nicht zu einem Zeitpunkt, als die Frist abgelaufen war, sondern als sie gesehen haben, daß sie bis zu dem Zeitpunkt, der ihnen durch unsere Gesetze vorgeschrieben ist, nicht zurechtkommen und daher Verstärkung herbeiholen müssen.
({8})
Hier wird doch ein unwahrscheinlicher Widerspruch laut. Das scheinen Sie noch nicht gemerkt zu haben. Auf der einen Seite sagt man: Ja, da ist ja gar keine Einzelfallprüfung vorgenommen worden, das ging alles zu schnell, das ging alles so pauschal, da hätten Richter eigentlich nur hektographierte Anträge unterschrieben, ohne Einbeziehung der einzelnen Tatbestände, und und und! Auf der anderen Seite heißt es dann: Ja, warum habt ihr denn eigentlich so lange gebraucht, bis diese ganzen Untersuchungen und Einvernahmen durchgeführt waren? Meine Damen und Herren, da besteht ein Widerspruch. Jeder, der über diese Frage redet, sollte sich vorher einmal vergewissern, ob er sich nicht lächerlich macht, wenn er in dieser Richtung argumentiert.
({9})
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider? - Herr Kollege Schneider, bitte.
Herr Staatsminister, können Sie dem Kollegen Lambinus zum Beweis dafür, daß es eben keine vorhergehenden Weisungen gegeben hat, und zum Beweis dafür, daß nicht irgendwelche Parteipolitik im Spiele ist, bestätigen, daß einer der handelnden Staatsanwälte, der mit der Polizei an den Festnahmen beteiligt war, Mitglied der SPD ist und früherer Juso-Vorsitzender von Fürth ist?
({0})
Staatsminister Dr. Hillermeier ({1}): Ich kann dies dem Kollegen Lambinus gerne bestätigen. Ich werde ihm aber dazu auch noch den Rat geben, eben gerade bei diesem Staatsanwalt, der seine eigene Entscheidung und seine eigenen Überlegungen vor dem deutschen Publikum in einer Pressekonferenz in Nürnberg noch einmal verdeutlicht hat, ein bißchen Nachhilfeunterricht zu nehmen, wie sich Staatsanwälte zu verhalten haben.
({2})
Herr Staatsminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Bitte sehr.
Bitte, Herr Dr. Hirsch.
Verehrter Herr Kollege, verstehen Sie wirklich nicht, daß die pauschale Annahme des Fluchtverdachts und der Verdunkelungsgefahr und die späte Benachrichtigung ihrer Angehörigen bei einer Vielzahl von Minderjährigen zu einer unglaublichen Erschütterung der Autorität des Rechtsstaats geführt hat?
({0})
Staatsminister Dr. Hillermeier ({1}): Herr Kollege, solche pauschalen Vermutungen könnten nur Platz greifen, wenn die Fakten, die dahinterstehen, nicht gekannt werden oder nicht gekannt werden wollen. Ich wiederhole: nicht gekannt werden oder nicht gekannt werden wollen. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die Eltern nicht verständigt wurden.
({2})
- Langsam, ich kann nicht alles in einem Satz und zu einem Zeitpunkt sagen. Es liegen authentische Berichte der Ermittlungsrichter vor, daß sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt versucht haben - wie dies auch in den gesetzlichen Vorschriften vorgesehen ist ({3})
- ich habe eben erwähnt: zum frühestmöglichen Zeitpunkt; das müßte Ihnen genügen
({4})
- dummes Zeug -, die Angehörigen entweder telefonisch zu verständigen oder, wo dies nicht möglich war, weil die Angehörigen einen Telefonanschluß nicht hatten oder dieser nicht besetzt war und weil es im übrigen am Wochenende war, wo möglicherweise der eine oder andere Elternteil auch gar nicht zur Verfügung stand,
({5})
zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Eltern dann postalisch zu verständigen. Die Ermittlungsrichter haben den ganzen folgenden Tag, das war der Sonntag, auch noch zur Verfügung gestanden, um am Telefon über den Verbleib von Töchtern und Söhnen sorgenvoller Eltern Auskunft zu geben. Das war die Situation. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß hier irgendwelche Versäumnisse seitens der in diesem Bereich zuständigen Ermittlungsrichter vorliegen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schmidt?
({0})
- Das muß ich schon den Herrn Staatsminister fragen.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({1}): Nein. Frau Kollegin, ich komme noch auf einige Dinge zu sprechen. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, etwas zu warten. Möglicherweise beantworte ich das noch, was Sie fragen wollten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin für diese Zwischenfragen eigentlich dankbar,
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weil meine Antworten doch hoffentlich bei Ihnen - das will ich jetzt zu Ihren Gunsten und auch zugunsten meiner bayerischen Kollegen annehmen - ein bißchen Informationsdefizit ausgeräumt haben und wir im Zusammenhang mit dem ganzen Entwicklungsablauf allmählich wieder zu einer sachgerechten Beurteilung kommen.
({3})
Da können wir uns nicht nur von einigen Dingen beeindrucken lassen, die verständlicherweise nach außen eine gewisse Reaktion auslösen, nämlich wenn Minderjährige in Untersuchungshaft kommen, was auch nicht der Regelfall sein soll und nicht der Regelfall ist. Aber man muß doch die Kirche im Dorf lassen
({4})
und darf nicht, wie es zum Teil getan wird, auf dem einen Auge blind sein und die Dinge nur so sehen, wie man sie sehen will.
({5})
Das ist nicht erlaubt.
Ich sage auch: Bei dem vielen Mißtrauen - das sage ich jetzt in allem Ernst -, das in den vergangenen Tagen gegen Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter zutage getreten ist, würde ich mir nur wünschen, daß wenigstens ein Bruchteil von diesem Mißtrauen auch einmal gegen die Demonstranten zutage tritt. Aber davon ist herzlich wenig zu spüren.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei alledem, was hier geschehen ist, sollten wir, wie ich meine - ich habe es eben schon erwähnt -, wieder auf den Boden des gemeinsamen Gespräches zurückkommen. Wir sollten uns nicht in etwa in Formulierungen ergehen, wie ich sie in der SPK vom 17. März 1981, Ausgabe München, vorgefunden habe. Dort wird davon gesprochen, die vorläufig Festgenommenen seien in engen Zellen zusammengepfercht worden. Sie werden sich immer wieder an die Nacht erinnern - so heißt es dort -, in der sie in 4 qm großen Zellen zu fünf, in Zweipersonenzellen zu elft eingesperrt waren. Weiter ist die Rede davon, daß für elf Leute nach sieben Stunden Durst ein Plastikbecher Wasser gebracht wurde.
Ich habe beim Lesen dessen bei aller Ernsthaftigkeit doch weiß Gott laut auflachen müssen. Was soll denn dieses Gewinsel und Gesäusel, das von der Realität ganz weit weg ist? Es liegen authentische Berichte vor, daß ganz selbstverständlich alles versucht wurde, um gerade diesen jungen Menschen den Aufenthalt, soweit das überhaupt möglich ist,
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im Polizeigewahrsam oder im Gewahrsam einer JVA so zu gestalten, wie es die Rechtsvorschriften nun einmal vorsehen. Was sollen denn solche Bemerkungen, wie ich sie hier wiedergegeben habe?
Einige auf Ihrer Seite scheinen das Ganze überhaupt ins Lächerliche zu ziehen. Ein SPD-Kollege aus dem Bayerischen Landtag entrüstet sich z. B.
Staatsminister Dr. Hillermeier ({8})
über die Haftbefehle à la Neckermann-Postwurfsendung und äußert dann die Vermutung, daß der Justizminister solche Haftbefehle vielleicht kofferweise zu Hause habe, bei denen man nur noch Namen und Adressen einsetzen müsse. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es scheint doch weit weg von einer der Ernsthaftigkeit all dessen angemessenen Reaktion zu sein, wenn man die Dinge so - anders kann man ja wohl nicht sagen - ins Lächerliche zieht.
Lassen Sie mich nun doch noch ein Wort zur Relation all dessen sagen, was in der jüngsten Zeit passiert ist. Ich habe von dem öffentlichen Interesse für diese Nürnberger Ereignisse gesprochen. Ich stelle die Frage: War denn eigentlich das öffentliche Interesse für die verletzten Polizeibeamten in Brokdorf auch so stark? Ich habe es nicht festgestellt.
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Noch ein Wort an diejenigen, die jetzt die Nürnberger Justiz prügeln. Vielleicht meint man in Wirklichkeit gar nicht so sehr die Nürnberger Justiz, sondern meint mehr die bayerische Staatsregierung und die CSU. Ich möchte all denen doch den guten Rat geben, einmal zu überlegen, ob sie sich auf diesem Schlachtfeld auch immer die richtigen Verbündeten gewählt haben. Diese Frage sollte man sich, wie ich meine, auch bei der Überlegung einmal stellen, die vorhin bei Herrn Kollegen Schmude angeklungen ist, als er das Thema von Terrorismus und Hausbesetzungen angesprochen hat. Ich verstehe eigentlich nicht ganz die Aufregung, die sich diesbezüglich Breitmacht. Wenn ich recht informiert bin, scheint sich doch auch bei Herrn Bundesinnenminister Baum einiges an Erkenntnis durchgesetzt zu haben, daß es hier irgendwelche Zusammenhänge gibt. Natürlich ist nicht etwa jeder Hausbesetzer ein Terrorist. Ebenso sicher ist aber, daß die Terroristen in den Hausbesetzern ein mögliches Potential sehen, das sie zu mobilisieren trachten. Ohne daß ich jetzt in den Gang der Ermittlungen eingreifen will - dies darf ich natürlich auch gar nicht -, möchte ich aber doch sagen, daß es in Nürnberg immerhin konkrete Anhaltspunkte in dieser Richtung gab. Weiteres kann und darf ich aus verständlichen Gründen dazu nicht sagen. Anders war doch auch die Bemerkung von Ministerpräsident Strauß nicht gemeint. Er hat doch nicht etwa so formuliert, der Meier und der Huber und andere aus diesem Kreis seien mehr oder weniger schon der Kern neuer terroristischer Bewegungen, sondern er hat die meiner Meinung nach doch erlaubte Parallele gezogen zu den Vorgängen vor zehn oder 15 Jahren, bei denen sich doch geschichtlich bewahrheitet hat, daß sich aus dieser Hausbesetzerszene heraus Schlimmeres entwickelte. Das war doch nur gemeint und konnte nur gemeint sein. Alles andere ist eine Verzerrung und eine böswillige Darstellung Ministerpräsident Strauß gegenüber.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich meine, es ist ein elementares Grundbedürfnis des Bürgers, daß Recht und Ordnung verteidigt werden und daß der Gewalt energisch entgegengetreten wird, selbstverständlich in den Formen des Rechts, das nach Buchstaben und Geist zu beachten, aber das auch energisch zu vertreten ist. Mir ist es nicht genug, was im Bayerischen Landtag geschehen ist, daß meine sehr geschätzten Kollegen von der Opposition, insbesondere die geschätzten Kollegen der SPD gesagt haben: Ja, wir haben uns doch eigentlich immer distanziert, wenn Gewalttätigkeiten vorgekommen sind. - Meine Damen und Herren, das ist mir nicht genug. Da muß die Tat folgen, denn allein mit dem Distanzieren, was gut und notwendig und richtig ist,
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ist noch nichts gebessert.
Unsere Vorstellungen zielen auf eine Verbesserung des Instrumentariums ab. Vorhin ist j a nicht zu Unrecht auf die zahlreichen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten hingewiesen worden, die das jetztige Instrumentarium des Demonstrationsstrafrechts als unbrauchbar ansehen. Auch der Herr Bundeskanzler scheint in diese Richtung zu denken. Nicht anders kann ich das bewerten und interpretieren, was der Herr Bundeskanzler laut „Münchner Merkur" vor wenigen Tagen vor dem Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung gesagt hat oder gesagt haben soll. Ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin etwas zitieren. Er sagte, in den Hausbesetzungen zeigten sich sowohl reale Notlagen als auch symbolischer Protest gegen den Staat schlechthin. Man müsse nach den Ursachen der Probleme fragen. Der Kanzler wörtlich: „Ein Teil der aggressiven Jugend krankt in Wahrheit am Mangel an Zivilcourage bei den Erwachsenen, und man soll um Gottes willen als Erwachsener seine eigene Feigheit nicht als Toleranz camouflieren." So hat er sich ausgedrückt.
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, solche Überlegungen sind gut, aber ich frage: Wo sind die Konsequenzen aus solchen richtigen Überlegungen? Und deswegen meine ich auch im Zusammenhang mit vielen Ereignissen und auch mit dem, was in Nürnberg nun vor sich gegangen ist, wir sollten unsere Strafverfolgungsorgane ermutigen, ihre Pflicht zu tun, und sollten ihnen nicht ständig Mißtrauen entgegenbringen, damit sie nämlich nicht resignieren, sondern damit sie in schwierigen Situationen ihre Pflicht tun und sich nicht für das Nichtstun entscheiden.
In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich auch diese Stunde einordnen dürfen -
Gestatten Sie noch vorher eine Zwischenfrage?
Staatsminister Dr. Hillermeier ({0}): Nein, ich bin am Schluß!
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- Ich möchte auch diese Stunde einordnen dürfen in unseren gemeinsamen Willen, den wir noch einmal bekunden sollten, nämlich unserer großen Verantwortung gerecht zu werden. Ich darf für die Bayerische Staatsregierung sagen, daß sie sich auch
Staatsminister Dr. Hillermeier ({2})
in Zukunft dieser Verantwortung nicht entziehen wird.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Staatsminister Dr. Herzog, Baden-Württemberg.
Minister Dr. Herzog ({0}): Frau Präsident. Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Aufgabe, die Aufgabe eines Ministers, das Parlament zu kritisieren,
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und es ist nicht die Aufgabe eines Landesministers, den Bundestag zu kritisieren. Aber das eine lassen Sie mich als Mensch und Christ und in aller Nachdenklichkeit sagen: Wir diskutieren die Fragen, die wir heute besprechen, hier in diesem Hause und draußen zu undifferenziert. Ich will Ihnen das in einigen Punkten ins Gebetbuch schreiben, so wie ich es auch mir hineinschreibe, meine Damen und Herren.
Was höre ich in diesen Diskussionen alles an Durcheinanderwerfen der Begriffe „unsere Jugend", „Demonstranten", „Gewalttäter". Wenn hier von Demonstranten gesprochen wird, höre ich Zwischenrufe: „So redet der von unserer Jugend." Wenn hier von ein paar wildgewordenen, auf den Sturz des Staates ausgehenden Gewalttätern gesprochen wird, heißt es, das Demonstrationsrecht wird in Frage gestellt. Ich kann uns nur alle dazu ermuntern und auffordern, dieses Durcheinanderwerfen nicht nur von Begriffen, sondern auch von wesentlichen Sachverhalten unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens zu unterlassen.
({2})
Ich höre außerordentlich viel über die Jugend im Zusammenhang mit den Demonstrationen der letzten Wochen und Monate. Was ist denn das für eine Jugend? Wer von Ihnen, wer von uns weiß denn wirklich, wie die jungen Leute denken, und wer von Ihnen und wer von uns kann sich denn im Ernst anmaßen, sie alle über einen Kamm zu scheren? Die vielen hundert jungen Leute, die ich kenne, die ich von Amts wegen und die ich als Privatmann kennengelernt habe, das sind sehr sensible, sehr nachdenkliche, sehr ernsthafte, sehr zu unserer Gesellschaft stehende junge Menschen, die natürlich ihre Kritik an uns haben - das ist doch ganz selbstverständlich -, die vieles kritischer sehen, als wir es vor 20, 30 Jahren gesehen haben, obwohl ich mich ausnehmen möchte; ich habe die Dinge damals schon sehr kritisch gesehen. Ihr Vertrauen in unsere Institutionen ist vielleicht geringer als vor einer halben Generation. Die Unsicherheit ihrer Zukunft ist ihnen bewußter und vielleicht für sie schwerer zu ertragen, als es uns vor 25 oder 30 Jahren ergangen ist, obwohl unsere Situation auch nicht besser gewesen ist. Sie glauben vielleicht dem einen oder anderen Politiker nicht mehr sehr viel. Man kann ihnen nicht mehr mit dem Wort „das ist gesetzmäßig" allein imponieren, sondern man muß ihnen auch erklären, warum etwas im Gesetz steht.
Das ist doch die normale Jugend, meine Damen und Herren. 95 % - und ich glaube, die Zahl ist eher noch untertrieben - sind normale junge Menschen, die sich für den sozial Schwachen einsetzen wollen, die sich für den Nächsten einsetzen wollen, die sich für die Probleme der Dritten Welt engagieren, die sich für den Frieden einsetzen wollen, meinetwegen auch im Bereich des Wohnungsproblems, die aber trotzdem zu unserer Gesellschaft stehen, die in diese Gesellschaft integriert sind und die überhaupt nicht tangiert werden, wenn wir uns mit ein paar jugendlichen und älteren echten und massiven Gewalttätern so auseinandersetzen, wie es echte und massive Gewalttäter nun wirklich verdienen und wie es notwendig ist.
({3})
Ich will Ihnen jetzt etwas aus meinen Erfahrungen als Innenminister in Baden-Württemberg mit den Großdemonstrationen sagen, die wir im letzten Sommer und die wir letzte Woche in Freiburg hatten. Wer sich Brokdorf am 28. Februar genau ansieht, wird das dort bestätigt finden. Da gibt es viele junge Leute, die sich eben in irgendeiner Richtung einsetzen wollen und die sich heute mehr denn je - und das ist etwas Ermutigendes - von den echten Gewalttätern absetzen und differenzieren wollen. Wir haben es im letzten Jahr in Freiburg erlebt, daß sie sich bei einer Großdemonstration mit Megaphon die Einmischung der Gewalttäter verbeten haben. Wir haben es in der letzten Woche erlebt, daß sie selber Ordner aufgestellt haben, um sich zwischen potentielle Rechtsbrecher und unsere Polizisten, die ja schließlich auch lebende Menschen sind, zu werfen. Ich kann nur sagen, selbst wenn ich die Meinungen, die dort vertreten werden, nicht alle teile: das ist genau das, was ich mir unter Versammlungsrecht und Demonstrationsrecht vorstelle, und das sollte man auch würdigen.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist eine wesentliche Sache für die Einschätzung unserer Jugend und damit für unseren eigenen Mut und unsere eigene Verantwortlichkeit, in diesem Lande überhaupt noch Politik zu machen. Das ist auch eine wesentliche Frage für die Ermittlung des Potentials der Staatsgegner, die wir auch haben und mit denen wir uns auch auseinandersetzen müssen.
Meine Damen und Herren, das alles kann aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es insbesondere bei den Hausbesetzern, aber auch in anderen Bereichen harte Kerne gibt, die das alles ganz anders meinen, die auf den Sturz unseres Staates, die zumindest auf massiven Rechtsbruch ausgehen und mit denen wir uns so auseinanderzusetzen haben, wie man sich - ich sagte das schon - in einem Rechtsstaat, in einem starken und sicheren Rechtsstaat, mit solchen Gruppierungen auseinanderzusetzen hat. Der beste Beweis in diesem Bereich ist, daß gerade diese Gruppen - anders als die jungen Demonstranten, von denen ich vorher gesprochen habe - ihre Anlässe, aus denen sie angreifen, beliebig austauschen.
({5})
Minister Dr. Herzog ({6})
Wir haben das doch alle seit zehn oder zwölf Jahren als denkende Menschen erlebt. Am Anfang war es die angebliche Hochschulmisere, dann kam Vietnam, dann kamen die Straßenbahnpreise, dann kam Chile. Jetzt ist es die friedliche Nutzung der Kernkraft oder El Salvador oder im Augenblick auch das Wohnungsproblem. Vielleicht - und das zeichnet sich ab - sind es morgen die Waffenlager unserer westlichen Alliierten. Mit den Dingen muß man sich doch auseinandersetzen. Ich wehre mich dagegen, daß man die Begriffe Jugend, Demonstranten und Gewalttäter, bewußte und gewollte Gewalttäter, auf diese Weise durcheinanderwirft.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pensky?
Minister Dr. Herzog ({0}): Bitte sehr.
Herr Innenminister, wo würden Sie beispielsweise Ihren Regierungschef Lothar Späth einordnen, der öffentlich erklärt hat: „Wenn ich als Wohnungsloser fünf- oder sechsmal an einem leeren Haus vorbeikäme, würde ich da auch reingehen"?
Minister Dr. Herzog ({0}): Ich bin gerade dabei, auf diese Frage zu sprechen zu kommen, weil mir hier nämlich ein wesentlicher Unterschied zwischen Ihnen und uns zu bestehen scheint.
({1})
- Nein, zwischen Ihnen und uns! Mit Herrn Späth bin ich völlig einer Meinung.
({2})
- Lassen Sie es mich doch ausführen! Wir sind im Augenblick so nett beieinander.
Meine Damen und Herren, wo gesellschaftliche Probleme bestehen, da ist es unsere Aufgabe als Politiker, uns damit auseinanderzusetzen, und da ist es im übrigen auch das Recht jüngerer und älterer Menschen, sich mit diesen Fragen zu befassen und auf sie hinzuweisen, meinetwegen auch in der Form der Demonstration. Um jetzt bei den Hausbesetzern zu bleiben: Ich sehe mit großem Interesse dem entgegen, was der Herr Bundesjustizminister heute hier vorgelegt hat. Ich halte es auch für einen Mißstand - und ich habe das immer deutlich gesagt, auch Lothar Späth hat es deutlich gesagt, weil Sie ihn gerade zitieren -, daß in unserem Land Häuser leerstehen, während viele Menschen nicht genug Wohnraum haben. Auch ich halte das für einen Mißstand.
Aber jetzt möchte ich dann doch unterscheiden und die Frage darauf zuspitzen, ob das ein Grund ist, den massiven und offenen Rechtsbruch zuzulassen. Meiner Überzeugung nach gibt es nur eine Antwort
- und das ist weder in der Regierungserklärung des Herrn Bundesjustizministers noch in der Rede von Herrn Kollegen Emmerlich deutlich gesagt worden -: Die Antwort „sowohl - als auch". Wo ein
Mißstand besteht, ist er zu beseitigen, und wer glaubt, einen Mißstand auf gewaltsame Weise in einem freiheitlichen Rechtsstaat beseitigen zu müssen, der ist mit allen Mitteln der staatlichen Gewalt daran zu hindern.
(Beifall bei der CDU/CSU - Pensky [SPD]:
Es ist die Frage des Sowohl-Als-auch.
Lassen Sie mich, weil ich nebenher auch Wohnungsbauminister bin, wenigstens auf ein paar Kleinigkeiten eingehen, die hier aufgetreten sind. Da sollen also in Berlin oder auch im Bundesbaugesetz Nutzungsgebote kommen. Ich lasse die Frage, ob das so kommt und ob das der richtige Weg ist, einmal beiseite. Ich will Ihnen nur eine Geschichte dazu erzählen. So etwas kennen wir doch aus dem Bundesbaugesetz. Darin stehen Baugebote. Das ist etwas Ähnliches. Ich habe kürzlich mit einem Oberbürgermeister aus Baden-Württemberg, der der FDP angehört, darüber gesprochen, ob man nicht solche Baugebote mobilisieren könnte. Wir haben ja auch unsere Probleme im Bereich von Grund und Boden. Wissen Sie, was der mir darauf gesagt hat? Er hat gesagt: Es kann doch kein Zweifel darüber bestehen: Wenn ich das versuche, werde ich von meinen Bürgern abgewählt, oder aber ich verliere einen Prozeß. - Ich muß sagen: Der Mann hat geirrt; wahrscheinlich tritt beides ein: Er wird von seinen Bürgern abgewählt und sein Nachfolger verliert einen Prozeß bei dieser Gelegenheit. Wir haben das doch erprobt, und ich habe meinen Zweifel, daß das auf diese Weise funktionieren wird. Ich bin gespannt, was die Bundesregierung und was die Kollegen in Berlin da zutage fördern würden. Im übrigen stehe ich auf dem Standpunkt des CDU-Abgeordneten Kleinert, der heute hier gesprochen hat.
({3})
- Sie dürfen unterstellen, daß ich das weiß. Nur zu Ihrer Erläuterung: Das war ein Witz.
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Im übrigen stehe ich auf dem Standpunkt: Lassen Sie uns doch das tun und dort ansetzen, wo wir können. Ich will Ihnen ein paar Geschichten erzählen.
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- Aber natürlich, weil es die Wahrheit ist. Wir hatten im letzten Herbst eine Besetzung einer Kaserne in Tübingen. Nun frage ich Sie: Wer läßt denn da eine Kaserne leerstehen? Ich bin nicht ganz dahintergekommen, ob es die Bundesvermögensverwaltung oder die Bundeswehrverwaltung gewesen ist, jedenfalls stand die Kaserne leer, und wir haben dann dazwischengefunkt. Ich funke auch - darauf können Sie sich verlassen - in Baden-Württemberg bei allen landeseigenen Gebäuden dazwischen. Wir werden es nach und nach auch bei den kommunalen Gebäuden, obwohl uns hier die Hände teils rechtlich gebunden sind, so tun. Ich will nur - genau wie der Herr Kleinert vorher - sagen: Es ist doch völlig sinnlos, zunächst ein Gesetz gegen „böse Kapitalisten" zu machen, wenn man in den meisten Fällen selbst den bekannten Dreck am nicht weniger beMinister Dr. Herzog ({6})
kannten Stecken hat, nicht wahr? Ich empfehle uns allen, hiermit anzufangen.
Ein anderes Beispiel. Ich habe in Baden-Württemberg noch vier Hausbesetzungen, und zwar nur deswegen, weil die Eigentümer dort keinen Räumungsantrag gestellt haben. Warum haben sie wohl keinen Räumungsantrag gestellt? Ich habe die Leute nicht gefragt, aber im wesentlichen ist es so: Das sind Leute, die das Haus in zwei bis drei Jahren brauchen, und sagen: Laßt doch die jungen Leute so lange drin. - Meine Damen und Herren, wenn wir hier ordentliches Mietrecht hätten, dann könnten die befristete Verträge abschließen und wir hätten dann nicht einen quasi illegalen, sondern einen legalen Zustand.
({7})
Das liegt also nicht immer nur an irgendwelchen Leuten draußen, das liegt auch an uns selber. Ich halte nichts davon, daß wir jetzt darüber rechten, ob die CDU da wohl zugestimmt hat oder nicht. Wir könnten uns doch alle an die bekannte Nase packen und dann mit diesen Dingen fertig werden.
Aber die Problemlösung ist das eine und die Auseinandersetzung mit Gewalttätern, die unter dem Vorwand, sie müßten hier ein Problem lösen, auf die Rechtsordnung losgehen, das andere. Mit Rechtsbrechern muß man sich im Sinne des Sowohl-Alsauch, das ich bei der SPD und bei der Bundesregierung nicht gehört habe, so auseinandersetzen, wie es das Polizeirecht verlangt.
Ich komme jetzt noch einmal auf die 95% unserer Jugend zurück, meine Damen und Herren. Wir reden immer nur von denen, die da protestierend durch die Gegend gehen, und zu der Legitimität und Legalität ihres Verhaltens habe ich vorher das Nötige gesagt. Jetzt fragen wir doch einmal, wie das mit den 95% ist. Die werden doch möglicherweise irre an einem ständig schwankenden Staat, meine Damen und Herren.
({8})
Die werden doch möglicherweise irre an Verwaltungen, an Regierungen und Parlamenten, die nur noch eine Kunst perfekt beherrschen, nämlich die Kunst, nach sämtlichen Seiten gleichzeitig zu schwanken. Ich meine, da muß man sich halt auseinandersetzen, wie es das Gesetz vorsieht: zunächst mit der Polizeigewalt, dann mit dem Strafrecht, soweit das im Rahmen unserer Rechtsstaatlichkeit nachweisbar ist, und - wenn nötig - auch mit Schadensersatzforderungen. Meine Damen und Herren, unsere Mitbürger verstehen genausowenig, warum sie, wenn sie irgendwo versehentlich eine Glasscheibe einschlagen, dafür Ersatz bezahlen müssen, wenn andere in 20 Minuten durch zwei Straßen der Stadt Freiburg rennen dürfen und dort für 300 000 oder 500 000 DM Schaden an Schaufenstern und dergleichen anrichten dürfen.
({9})
Wir sollten alle miteinander versuchen, in diesen Dingen wieder klarere Begrifflichkeiten, klarere Unterscheidungen herbeizuführen, damit wir wissen, wovon wir reden. Wir sollten versuchen, die
Dinge so deutlich zu machen und so deutlich zu sehen, daß wir uns nicht immer mit begrifflichen Vertauschungen gegenseitig an den Wagen fahren, sondern daß wir an die Dinge herankommen.
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu den Rechtsänderungen machen, die die CDU seit unvordenklichen Zeiten immer wieder anregt und fordert. Wir sind es auch der Polizei schuldig, dort für sie klarere Verhältnisse zu schaffen. Rechtsprobleme, die wir miteinander nicht lösen können, können nicht immer und ewig auf dem Rücken unserer Polizeibeamten ausgetragen werden, die bei Gott keinen angenehmen, sondern einen immer gefährlicher werdenden und einen schweren Dienst haben.
({10})
Da müssen wir über einiges wieder reden können.
Eine Frage, die wir nicht miteinander zu verhandeln haben, die aber jeder sich selber zu stellen hat, ist die Frage der politischen Deckung dieser Polizeibeamten. Ich will Ihnen deutlich sagen: hier haben wir CDU- und CSU-Innenminister es leichter als die SPD-Innenminister. Das will ich ganz deutlich sagen. Wenn wir ein ganz normales Verhalten unserer Polizeibeamten politisch decken, dann tut uns niemand etwas, abgesehen davon, daß wir vielleicht da und dort Kritik von außen bekommen. Meine Kollegen von der SPD tragen bei jeder dieser Maßnahmen innerhalb ihrer Partei ihre Haut zu Markte. Über die Frage können wir uns zwar nicht unter uns und zwischen uns auseinandersetzen, aber ich will sie hier einmal nennen.
Nun höre ich beispielsweise, daß die größte Entrüstung im Lande, in der Bundesrepublik Deutschland entsteht, weil es einer meiner Kollegen gewagt hat, über die Frage einer zusätzlichen Bewaffnung der Polizei zu reden.
({11})
Nach dem Stand meiner Waffenexperten wird sich Baden-Württemberg wohl nicht für die Gummigeschosse entscheiden.
({12})
Nur, machen Sie sich das nicht so leicht! Die Situation verändert sich doch ständig. Wir haben es doch zum Teil mit Leuten zu tun, die Molotow-Cocktails, d. h. Brandbomben, auf lebende Menschen, auf lebende Polizeibeamte werfen.
({13})
Da wird man doch in aller Ruhe und Gelassenheit darüber nachdenken können, wie man bei Konfrontationen mit solchen Leuten zu Methoden kommt, um einen cordon sanitaire zwischen die Angreifer und die verteidigende Polizei in einem Umkreis von 30, 40 Meter zu legen, damit das nicht mehr möglich ist.
({14})
Minister Dr. Herzog ({15})
Das ist zunächst doch gar nicht die Frage von Gummigeschossen. Darüber wird man sich doch unterhalten können.
({16})
Es ist dann auch legitim, in dem Zusammenhang auf die Notwendigkeit und die Gefahr des Schußwaffengebrauchs hinzuweisen. Das ist doch alles nichts Rechtswidriges, sondern es geht doch genau darum, diese letzte Maßnahme der Notwehr durch eine gute Bewaffnung, durch eine gute Ausstattung der Polizei so weit hinauszuschieben wie nur irgend möglich. Darum geht es doch in diesem Zusammenhang.
Lassen Sie mich zu der Frage der Vermummung kommen. Da wird immer wieder die GdP zitiert. Wissen Sie, wenn ich mit fünf führenden Funktionären der GdP über diese Frage rede, dann ist es im allgemeinen eine Frage des Zufalls, ob zwei dafür und drei dagegen sind oder drei dafür und zwei dagegen. Hier gibt es unterschiedliche Meinungen. Der Versuch des Herrn Bundesjustizministers, in seiner Regierungserklärung mit Schwierigkeiten der Abgrenzung das Ganze ad absurdum zu führen, überzeugt mich auch noch nicht.
({17})
- Ich möchte gern zum Schluß kommen - ich will die Diskussion nicht abwürgen, Herr Hirsch -, um die Debatte nicht zu lang werden zu lassen. - Aber der Versuch überzeugt mich auch nicht. Das ist ein alter Juristentrick. Man zeigt immer die Grenzfälle und die Abgrenzungsschwierigkeiten auf und sagt: Infolgedessen geht es überhaupt nicht. Dazu habe ich zu viele tausend Juristen ausgebildet und auch auf diesen Trick hingwiesen, um das zu wissen und zuzugeben.
({18})
Der Herr Schmude hat bei mir nicht gelernt. Aber es kann j a noch werden.
({19})
Dann lassen Sie uns doch in aller Ruhe über eine Eingrenzung reden! Es geht doch im Bereich des Polizeirechts immer nur um das Opportunitätsprinzip, um die Möglichkeit, einzugreifen, und nicht um die Notwendigkeit, einzugreifen. Und selbst beim strafprozessualen Legalitätsprinzip könnte man j a noch zu anderen Lösungen kommen. Lassen Sie uns doch unvoreingenommen darüber reden!
Fest steht jedenfalls das eine: Bei einer bestimmten Art von Demonstrationen ist die Tatsache, daß einer vermummt kommt, zunächst einmal ein starkes Indiz dafür, daß er nicht in friedlicher Absicht kommt.
({20})
Und es ist auch ein alter Juristentrick, zu sagen, daß ein Blick ins Gesetz die Rechtsfindung erleichtert. Ein Blick ins Grundgesetz zeigt, daß das Versammlungs- und Demonstrationsrecht nur dann und nur
insoweit gewährleistet ist, als es friedlich und ohne Waffen in Anspruch genommen wird.
({21})
Darüber kann man doch einmal in aller Ruhe reden.
Meine Damen und Herren, ich habe jetzt 20 Minuten gesprochen, und es ist eine meiner Tugenden, möglichst nicht über 20 Minuten vor Parlamenten und auch sonst zu sprechen. Man sollte die Leute im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzip auch nicht verbal zu erschlagen versuchen. Aber ich will auf eines noch hinweisen und Sie, meine Damen und Herren von der SPD, auffordern, darüber nachzudenken.
Wissen Sie, es gibt die Geschichte von dem Rechtsanwalt, dessen erster Mandant wegen Diebstahls strafschärfend verurteilt worden ist, weil er es bei hellem Tageslicht getan hat und darin eine besondere Frechheit liegt. Sein zweiter Mandant wird dann wegen der besonderen Feigheit und Hinterhältigkeit strafschärfend behandelt - in der alten Zeit, wo es das noch gab -, weil er es bei tiefer und düsterer Nacht getan hat. Der Anwalt hat mit einem gewissen Recht die Frage gestellt: Ja, wann soll mein Mandant denn eigentlich stehlen?
({22})
Wenn ich die Ausführungen - auch des Bundesjustizministers - zur Frage der Gesetzesänderungen höre, kommt mir eine ähnliche Frage, obwohl ich weiß, daß jetzt die Replik kommt, daß ich mich auf der Seite der Diebe befinde. Wenn es um die Verschärfung des geltenden Demonstrationsrechtes geht, meine Damen und Herren, dann wird uns gesagt: Es reicht doch das geltende Recht. Setzen wir das geltende Recht ein, dann heißt es: die wollen die Muskeln spielen lassen, die wollen jetzt hart durchgreifen, jetzt kommen die „Falken" usw. Gestern nachmittag in der Landtagsdebatte ist mir das von der Opposition alles gesagt worden. Allerdings haben wir drei Oppositionsparteien, und die sind nie ganz einig, worin sie uns kritisieren. Aber immerhin.
Ich stelle Ihnen jetzt in allem Ernst eine Frage. Soll das Gesetz verschärft werden, heißt es: das geltende Gesetz reicht. Okay, ich glaube es zwar nicht, aber darüber kann man reden. Wenn wir das geltende Gesetz anwenden, heißt es: Die lassen die Muskeln spielen und sind für blindwütige Anwendung der staatlichen Gewalt. Was meinen Sie eigentlich? Meinen Sie vielleicht, wir sollten das Gesetz nicht verschärfen, es dafür aber auch nicht anwenden? Ich will es Ihnen nicht unterstellen, nur finde ich, wir sollten auch darüber wieder ganz entkrampft und vernünftig, wie es sich unter demokratischen Politikern gehört, sprechen. - Ich bedanke mich.
({23})
Das Wort hat der Regierende Bürgermeister von Berlin, Dr. Vogel.
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({0}) ({1}): Frau PräRegierender Bürgermeister Dr. Vogel ({2})
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehrere Redner, darunter insbesondere mein bisheriger Landsmann Herr Staatsminister und Kollege Hillermeier, haben in ihren heutigen Beiträgen ein lebhaftes Interesse für Berlin gezeigt. Als Regierender Bürgermeister von Berlin kann ich das nur positiv würdigen. Ich hoffe allerdings, daß dieses Interesse auch in anderen Zusammenhängen anhält, z. B. demnächst bei der Beratung eines Berliner Initiativantrags, im Bundesrat schon eingebracht, zum verbesserten Schutz der Mieter vor Eigenbedarfsklagen nach Umwandlung von Altbaumietwohnungen in Eigentumswohnungen.
({3})
Da kann man vielen Menschen - nicht nur in Berlin - Besorgnisse nehmen und ihnen statt dessen Hoffnungen geben. Weiter könnte dieses Interesse für Berlin bei der Verlängerung des Schwarzen Kreises in Berlin bis 1990 - übrigens einer übereinstimmenden Willensbildung der Berliner Parteien folgend - oder auch bei der Beratung bodenrechtlicher Vorschläge bekundet werden. Ich bin zwar ganz sicher, daß Sie auch dann, Herr Kollege Hillermeier, das Wort ergreifen, allerdings bin ich mir über den Inhalt Ihrer Ausführungen dann nicht im gleichen Maße sicher, wie ich heute sicher sein konnte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier - das darf ich dem Kollegen Erhard in Erinnerung an manche frühere Debatten vielleicht sagen - geht es wirklich um die Gestaltung, nein, um die Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse mit den Mitteln des Rechts. Das ist nämlich die Aufgabe der Rechtspolitik, das ist der Sinn der Rechtspolitik.
({4})
Hier geht es um Prävention, um Vorbeugung, hier geht es darum, Schäden erst gar nicht entstehen zu lassen.
({5})
- Das ist unstreitig, das stelle ich doch gar nicht in Abrede.
({6})
Ich glaube, da ist das ganze Haus einig, daß ich das war.
({7})
Ich höre keinen Widerspruch.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Gegenstand der Erörterungen ist heute die Rechtspolitik, und zwar auf der Grundlage einer Regierungserklärung des Herrn Kollegen Schmude. Ich darf die Gelegenheit benützen, um meinem Nachfolger im Amt zu dieser Erklärung zu beglückwünschen. Sie zeigt ein hohes Maß an Kontinuität und einen umfassenden Zugang zur Fülle der rechtspolitischen Probleme.
({9})
Manche verengen allerdings diese notwendige Breite der Rechtspolitik und beschränken sich auf die Stichworte Polizei, Räumung, Verhaftung, neue Polizeiwaffen, Verschärfung des Strafrechts. Sie meinen, wenn von Rechtspolitik die Rede ist, in erster Linie seien für die Probleme, die uns alle mit Sorgen erfüllen, schärfere Strafen notwendig. Andere - so habe ich Sie heute wieder verstanden, Herr Kollege Hillermeier - meinen, in erster Linie mangele es an neuen Polizeiwaffen, z. B. an den Gummigeschossen.
({10})
- Herr Kollege Kohl, meine Aufmerksamkeit war ungeteilter als die Ihre. Sie hatten noch Nebengespräche zu führen; das verstehe ich gut.
({11})
Im übrigen, lieber Herr Kollege Kohl, gibt es eine sehr einfache Verfahrensweise, das entstandene Mißverständnis, das ich dann selbstverständlich bedauere, zu beheben, indem Herr Kollege Hillermeier nach mir an dieses Pult tritt und sagt, daß er keine Gummikugeln und keine Brechreiz verursachenden Mittel befürworte.
({12})
- Herr Kollege Kohl, wenn Sie jetzt schon aufgeregt sind, wie soll das denn in zehn Minuten werden?
({13})
- Herr Kollege Kohl, Sie fallen da einer Verwechselung zum Opfer; ich jedenfalls nicht. - Also, ich höre mit Interesse, daß sich der Herr Kollege Hillermeier - unter dem lebhaften Zuruf des Herrn Kollegen Kohl - von Gummikugeln und Brechreiz verursachenden Mitteln distanziert. Das halte ich für einen Fortschritt, das begrüße ich. ({14})
Andere sagen, in Berlin sei der Rechtsstaat gefährdet, es gebe dort rechtsfreie Räume. Gut, auch diese Sorge muß, vor allen Dingen dann, wenn sie in ernsthaftem Ton und ohne ein überflüssiges Maß an Emotionen vorgetragen wird, ernst genommen werden. Aber was ist denn die Wahrheit? Ist es wahr, daß in Berlin Gewalttaten nicht verfolgt werden? Ist es wahr, daß dort das Recht, die Verfassung, wie behauptet wurde, partiell außer Kraft gesetzt sei?
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({15})
Meine Damen und Herren, das ist natürlich nicht wahr. Wahr ist vielmehr, daß in Berlin Gewalt und Straftaten ebenso verfolgt werden wie anderswo, allerdings Taten, für die ein konkreter Verdacht besteht. Kollektive Festnahmen, bei denen man auch bewußt die Festnahmen Unschuldiger, wie man hinterher hört, in Kauf nimmt, finden in Berlin nicht statt.
({16})
Im übrigen: Für den Juristen ist, Herr Kollege Hillermeier, die Wahl des Begriffes „Festnahme" - also nicht „Verhaftung", sondern „Festnahme" - zu bedenken.
Das sind die Berliner Fakten: In Berlin sind seit dem 23. Januar 1981 168 Personen wegen Straftaten, die im Zusammenhang mit Ausschreitungen anläßlich von Demonstrationen begangen worden sind, festgenommen worden. Von diesen 168 Personen befinden sich noch 11 in Haft, darunter - das wird das Haus insgesamt und insbesondere auch Sie, Frau Präsidentin, interessieren - die beiden Personen, die dringend verdächtig sind, in einer Ausstellung im Reichstag einen Brand gelegt zu haben. Dem Wachbeamten, der umsichtig und mit persönlicher Gefährdung die beiden festgenommen hat, habe ich inzwischen in meinem Amtszimmer die Anerkennung ausgesprochen.
({17})
52 Personen sind wegen Straftaten, die in oder aus besetzten Häusern begangen worden sind, festgenommen worden. Davon sind 47 Personen in besetzten Häusern festgenommen worden. Davon ist noch eine Person auf Grund richterlicher Entscheidung in Haft.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wo sind angesichts dieser Zahlen und dieses Berichtes die rechtsfreien Räume?
({18})
Richtig ist, daß in Berlin keine sinnlosen Aktivitäten unternommen werden.
({19})
Es gibt dort über 800 leerstehende Häuser. Es ist gar nicht möglich, sie alle - ({20})
- Aber, meine Damen und Herren, das habe ich doch wiederholt erklärt - Herr Kollege von Weizsäcker hat dies auf der Zuhörertribüne des Berliner Abgeordnetenhauses gehört und kann es bestätigen -: Zu über der Hälfte gehören sie landeseigenen Gesellschaften, weil sie von denen erworben worden sind. Das ist doch eine Tatsache, da gibt es doch gar keinen Streit. Es gibt über 800 leerstehende Häuser. Es ist gar nicht möglich, alle diese 800 Häuser durch die Polizei zu sichern, d. h. genauer: durch die Polizei zu besetzen; anders können Sie sie nicht sichern. Das wäre sogar eine ganz gefährliche Verzettelung der Polizeikräfte, das würde zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Aufgaben der Polizei führen.
Wir befolgen auch bei der Frage der Räumung das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit. Wir räumen bei jeder neuen Besetzung dann, wenn ein Strafantrag gestellt ist und gleich nach der Räumung Instandsetzungsarbeiten beginnen oder ein legaler Abriß im Sinne der geänderten Modernisierungspolitik stattfindet. Wir räumen nicht, wenn das geräumte Haus dann weiter Wochen, Monate und Jahre leersteht oder die Betroffenen nur von einem leeren Haus in ein anderes gejagt werden. Nach diesen Leitlinien hat bislang die Besetzung von acht Objekten ein Ende gefunden. Die Berliner Polizei - einschließlich ihrer Führung - verdient für diese besonnene und engagierte Wahrnehmung ihrer Aufgaben auch von dieser Stelle aus Dank, Lob und Anerkennung.
({21})
Ich frage das Haus: Was ist denn daran eigentlich zu kritisieren? Der designierte Landesvorsitzende der Berliner CDU, mein sehr verehrter Gegenkandidat, Herr von Weizsäcker, hat selber wörtlich folgendes gesagt:
Es hat keinen Sinn, unter den heutigen Bedingungen in Berlin-Kreuzberg mit staatlicher Gewalt ein Haus räumen zu lassen, wenn 50 leere danebenstehen. Gerade im Falle Kreuzberg läßt sich die Durchsetzung des Rechts nur mit einer kurz- und mittelfristig geänderten Wohnungspolitik erreichen.
Er hat vollständig recht. Was also ist daran zu kritisieren?
({22})
- Ja, aber selbstverständlich, die kritisiere ich ja mit Ihnen. Aber nun frage ich Sie: Warum ist denn das in den Städten, in denen Sie Verantwortung tragen, genauso?
({23})
- Entschuldigung, aber Berlin ist doch bei aller Bedeutung nicht die einzige Großstadt der Republik. Ich darf noch weitere, zumindest bei dem Teil der CDU sicher ganz unverdächtige Zeugen zitieren: Oberbürgermeister Rommel, der amtierende Präsident des Deutschen Städtetages. Er sagt wörtlich:
Es ist meist falsch, ein Haus mit polizeilichen Mitteln räumen zu lassen, wenn es monatelang leersteht, also möglicherweise von der Polizei selbst besetzt werden muß.
Gilt das oder gilt das nicht?
Neuerdings nähert sich Herr Kollege von Weizsäcker - ich bedauere das - eher den einfacheren Parolen und spricht auch seinerseits von rechtsfreien Räumen, Abbau des Rechtsstaates und dergleichen mehr.
Ich habe die Sorge - und dies meine ich ernst, sehr ernst -, Liberalität ist offenbar in der Union
({24})
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({25})
in kritischen Situationen schwer durchzuhalten.
({26})
Das weiß - und Herr von Weizsäcker kennt den Zeugen, den ich jetzt dafür aufrufe ({27})
auch Herrn Professor Kewenig. Das ist der Angehörige des CDU-Teams, der vorübergehend - bis zu seiner Befragung - für parteilos gehalten wurde. Herr Professor Kewenig schrieb wörtlich folgendes
- und nun, Herr Kohl, darf ich Sie bitten, vielleicht in großer Ruhe die Auseinandersetzung nicht mit mir, sondern mit Herrn Kewenig zu führen -:
Zwar hat sich inzwischen auch in eher konservativ gesinnten CDU-Kreisen herumgesprochen, daß man in jeder von der CDU gebildeten Regierung oder auch im Parteivorstand nicht nur eine Frau und einen Arbeitnehmervertreter, sondern auch einen liberalen Kopf vorweisen können sollte. Man schmückt sich mit ihm wie mit einem Aushängeschild, macht ihm sogar möglicherweise Konzessionen in der Regierungserklärung oder im Parteiprogramm; aber
- das sagt nicht Vogel, sondern Kewenig wenn es konkret um die Durchsetzung politischer Absichtserklärungen innerhalb von Regierung oder Partei geht, dann erfahren die Wähler immer wieder, daß die Liberalen in der Union erhebliche Schwierigkeiten haben. Dieser Befund kann eigentlich nur den politisch Unerfahrenen überraschen.
({28})
So unerfahren, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Sie doch gar nicht.
({29})
- Aber Entschuldigung; wenn ich noch nicht einmal ein Mannschaftsmitglied von Herrn Weizsäcker zitieren darf, j a, was soll ich denn dann noch?
({30})
- Also, lieber Herr Kollege Kohl, solange ich im Hause war, waren Sie viel ruhiger. Ich weiß nicht, was da mit Ihnen passiert ist.
({31})
Ich frage also: Was soll eigentlich gelten, die Berliner Linie oder die Nürnberger Linie, die wir gerade erläutert bekommen haben, wobei Nürnberg nicht für die Stadt, sondern eher für die Linie der Bayerischen Staatsregierung steht, wenn ich das richtig verstanden habe?
({32})
Was die Sicherheitsorgane in Berlin tun, das ist rechtmäßig; mehr noch, es ist verfassungsgemäß. Denn zu unserer Rechtsordnung, zu unserer verfassungsmäßigen Ordnung gehört auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit. In den Auseinandersetzungen wird ja gelegentlich so getan, als wenn die Beachtung der Verhältnismäßigkeit Opportunismus wäre, als wenn die Beachtung der Verhältnismäßigkeit ein Ausweichen vom Recht wäre. Dem muß mit Deutlichkeit und Festigkeit entgegengetreten werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Verhältnismäßigkeit eines der konstituierenden Prinzipien unserer Rechtsstaatlichkeit.
({33})
Wer den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Zweifel zieht oder gar spöttisch verächtlich macht, der setzt sich mit der geltenden Verfassungsordnung auseinander; lassen Sie mich das hinzufügen.
({34})
Im übrigen: auch andere, die Verantwortung haben, handeln doch nach diesem Grundsatz. Der Herr Kollege Stoltenberg hat in einer sehr eindrucksvollen Rede am vergangenen Freitag im Bundesrat über seine Brokdorfer Erfahrungen berichtet und hat ein Gesprächsangebot gemacht, das von anderen Ministerpräsidenten und auch von mir gerne aufgenommen worden ist. Er hatte die Erfahrung, daß es verhältnismäßig war, die Durchbrechung des vom Verfassungsgericht bestätigten Verbots, daß kein Demonstrant näher als 5 Kilometer an Brokdorf heran darf, zu dulden und die Machtmittel des Staates richtigerweise dann um die Baustelle herum einzusetzen. Man hat ein vom Gericht bestätigtes Verbot unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit nicht durchgeführt und hat großes Unheil abgewendet. Ich stimme dem zu.
({35})
Ich sehe meinen alten Kollegen und auch - ich sage das freundschaftlich - Widersacher Herrn Professor Klein. Er ist Professor an der Universität Göttingen. Herr Kollege Klein, mit Zustimmung des niedersächsischen Innenministers und des niedersächsischen Justizministers - es ist mir neuerdings von einem der beiden Herren bestätigt worden - ist eine staatsanwaltschaftliche Durchsuchungsanordnung in Göttingen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu dem angeordneten Zeitpunkt nicht vollzogen worden.
({36})
- Ich rede für die, die zuhören, und für diejenigen, die aufmerksam meinen Gedanken folgen.
({37})
Ich bin dem Herrn Kollegen Herzog, den ich insbesondere auch als Staatsrechtler sehr schätze und der zum Prinzip der Verhältnismäßigkeit sicher keine abweichende Meinung vertritt, dankbar dafür, daß er hier differenziert hat. Er hat auch selbst Leit1244
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({38})
Linien für Großeinsätze der Polizei erlassen, mit Datum vorn 2. Februar 1981. Da sagt er - ich zitiere wörtlich und bitte sofort um ein Zeichen, wenn es nicht korrekt sein sollte -:
Besondere Abwägung erfordert die Situation bei illegalen Hausbesetzungen. Maßnahmen gegen Besetzungen, durch die die öffentliche Sicherheit und Ordnung in nicht vertretbarer Weise beeinträchtigt wird
- der Jurist könnte hier herauslesen, daß es auch Besetzungen gibt, die in vertretbarer Weise beeinträchtigen, sonst macht der Satz keinen Sinn; aber das ist nicht mein Punkt sind mit den zuständigen Stellen oder Berechtigten abzusprechen.
Jetzt kommt der für mich entscheidende Satz:
Art und Umfang der polizeilichen Maßnahmen können abhängig sein von den Motiven der Besetzer,
- man höre! von der voraussichtlichen Dauer der Besetzung, dem Personenkreis der Besetzer und der Art, der Lage und dem Zustand des Objekts.
Sehr vernünftig; dies wenden wir in Berlin auch an. Das ist ausgezeichnet.
({39})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das eigentlich der Kern der Sache, die wir heutehier verhandeln? Ist das das eigentliche Problem? Ich meine, was wir hier erörtern, ist wichtig genug. Es ist auch wichtig genug, daß wir den Mißständen im Bereich der Sanierung und Modernisierung nachgehen und sie überwinden. Wir versuchen das in Berlin.
Wir haben an den Anfang ein klares Eingeständnis von Fehlentwicklungen in Berlin gestellt, die es übrigens in allen Metropolen gibt, noch nicht einmal allein in den deutschen, sondern quer durch Europa in allen Metropolen, die uns vergleichbar sind. Das Eingeständnis des Fehlers, das Sie so begierig erwarten, Herr Kohl, haben wir von uns aus ohne Aufforderung an den Anfang gestellt.
({40})
Ich habe mich für meinen Zeitraum der Verantwortung als Wohnungsbauminister - vom Dezember 1972 bis zum Juni 1974 - in dieses Eingeständnis des Fehlers mit einbezogen.
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- Sie hatten noch keine Gelegenheit, dieses Bekenntnis abzugeben. Es wird auch so bleiben, Frau Kollegin.
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Das zweite ist eine Kurskorrektur in der Sanierungs- und Modernisierungspolitik. Außerdem sind auch Schritte eingeleitet, um die bestehenden Besetzungen in rechtlich korrekte Verhältnisse überzuleiten.
Auch wir sehen ganz deutlich, daß wir nicht nur an die denken können, die jetzt in diesen Häusern sitzen, sondern auch an diejenigen, die ihren Wohnungsbedarf nicht in dieser Weise auf eigene Faust befriedigen können. Das gehört auch zur Lösung unseres Problems. Das sprechen wir auch aus, das fügen wir hinzu.
Für all das brauchen wir Geduld und die Kraft zur Überwindung von Rückschlägen. Fehlentwicklungen von Jahren, die sich doch nicht in dieser primitiv-vordergründigen Weise einzelnen Parteien oder Regierungen zuordnen lassen, können wir nicht in Wochen beheben. Wer etwas anderes behauptet, der täuscht den Bürger.
Aber auch das ist nur ein Teilaspekt. Unsere eigentliche Sorge müßte im Grunde einer weiteren Frage gelten, einer Frage, die in die Tiefe dringt. Meine Sorge jedenfalls gilt dieser Frage.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß es Kriminelle gibt, die in diesen Bereichen ihre kriminellen Aktivitäten zur Entfaltung bringen, ist unstreitig. Daß es in diesen Bereichen auch solche gibt, die diese Gesellschaftsordnung insgesamt in militanter und gewalttätiger Weise kaputt haben wollen, das wird doch nicht bezweifelt; von einem, der sieben Jahre Justizminister war, am allerwenigsten.
Das ist schlimm, besorgniserregend. Aber essentiell ist doch die Frage, woher es denn kommt, daß Tausende junger Leute, die nicht der Gruppe der Kriminellen, in die sie vorschnell eingereiht werden, die nicht der Gruppe der Staatszerstörer, in die sie ebenso vorschnell etikettiert eingereiht werden, zuzurechnen sind, ihren Protest gegen bestimmte Erscheinungen, ihren Protest gegen die Lebensverhältnisse, in denen sie geboren worden sind, in denen sie groß geworden sind, auch mit den Mitteln der Duldung von Gewalt und der - leider muß man es sagen - zumindest passiven Unterstützung, da und dort sogar der aktiven Unterstützung von Gewalt, zum Ausdruck bringen. Jede Diskussion, die diesen Punkt nicht erreicht, meine Damen und Herren, bleibt an der Oberfläche.
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Und wieso reden wir nur von den Vorgängen bei uns? Ich kenne Herren, die sicherlich die Schweiz und hier wieder die Stadt Zürich als Inbegriff all dessen sehen, was sie an Festigkeit, an konservativer Stabilität auch bei uns im Auge haben. Ich liebe die Stadt selbst. Dort gibt es eine feste Polizei, die nicht zögert. Dort gibt es Strafdrohungen, die selbst über das noch hinausgehen, was der Herr Kollege Spranger zu meiner Zeit hier ständig verlangt hat.
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Dort gibt es eine Regelmäßigkeit von Polizeieinsätzen, die jeder Beobachter von uns aus nachvollziehen kann.
({45})
Aber auch dort, meine Damen und Herren, gibt es
Hunderte, ja, eine wachsende Anzahl, Tausende junger Menschen, die ihren Protest in der Weise zum
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({46})
Ausdruck bringen, wie ich es gerade beschrieben habe.
Im übrigen ist das doch auch gar nicht auf die Schweiz zu beschränken. Schauen Sie nach Holland! Da sehen Sie, wie simpel diese Zuordnung ist: sozialdemokratische Regierung, christlich-demokratische Regierung.
Wenn wir etwas unter die Oberfläche blicken - und Herr von Weizsäcker und ich können das von Berlin aus vielleicht ein bißchen besser als andere -, dann stellen wir fest, daß ähnliches, wenn auch aus anderen Voraussetzungen heraus, für osteuropäische Länder gilt.
Wenn wir zu diesem Punkt vorstoßen, meine Damen und Herren, dann geht es mit ein paar Redensarten nicht ab, dann ist es mit der Kritik und Selbstgerechtigkeit, hin und her, nicht getan,
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dann müssen wir, meine, unsere gemeinsame Generation, Herr Kollege, wir Politiker, uns auch fragen, was wir denn selber etwa falsch gemacht haben, daß eine solche Entwicklung Platz gegriffen hat. Forschen wir doch einmal nach - und vielleicht ohne diesen Ausdruck von hämischer Rechthaberei, den ich an diesem Punkt sehr störend finde -,
({48})
aus welchen Familien denn die kommen, von denen ich da eben sprach! Das ist inzwischen, wenn ich an Nürnberg denke - und der Herr Kollege Hillermeier kennt doch die Lebensläufe - ({49})
- Ich hoffe, daß dieser selbstgerechte Zwischenruf festgehalten ist. Soll ich Ihnen die Namen von CDU-Angehörigen nennen, die ähnliche Probleme haben? Was soll denn diese Selbstgerechtigkeit?
({50})
Herr Kollege Hillermeier weiß, aus welchen Familien die 141 Festgenommenen in Nürnberg kommen. Das ist doch inzwischen ein repräsentativer Querschnitt der Nürnberger Bevölkerung. Das sind doch keine reisenden Krawallbrüder alle miteinander. Und wenn der bayerische Ministerpräsident das auch behauptet, im Nachdruck eines Wortinterviews zu lesen. Es ist schon heute widerlegt, daß es sich hier um 141 Gewalttäter und den Kern eines neuen Terrorismus handle.
({51})
- Herr Kollege Vogel, ich stelle Ihnen die wörtlichen Zitate gerne zur Verfügung. Die „Welt am Sonntag" wird von Ihnen im allgemeinen für zuverlässig gehalten. Bitte lesen Sie es nach. Es wird keine Schwierigkeiten geben.
Ich meine, wir sollten durchstoßen zu den eigentlichen Problemen. Wir sollten fragen, wie wir diese jungen Menschen wieder zurückholen können, ohne falsche Anbiederung, ohne falsches - oft genug aus schlechtem Gewissen fließendes - Nachbeten ihrer Schlagworte,
({52})
aber mit Mitteln, die nicht Tausende und Abertausende, auf die wir als Volk und Gesellschaft nicht verzichten können, aus unserer Gemeinschaft hinausdrängen und sie erst zu Bundesgenossen der beiden Gruppen machen, die ich eingangs erwähnt habe, ohne jede Polemik, meine Damen und Herren.
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Der Bürgermeister von Berlin hat niemandem vordergründig Ratschläge zu geben. Er hat zu sehen, wie er mit den Verantwortungsbewußten in allen Lagern der Stadt mit der Situation fertig wird, und er bittet dabei um Unterstützung.
({54})
-- Ich habe noch keine Unterstützungsbitte von ihm zu diesen Punkten gehört. Wenn er in diese Tiefe der Probleme vordringt, wird er sicher Unterstützung bekommen. Aber seine Äußerungen sind meist einfacherer Art und nicht gerade bittend und reflektierend.
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Ich darf mir die Frage erlauben, ob man wirklich meint, durch massenhafte Verhaftungen von Minderjährigen, durch neue Polizeiwaffen das, worum es wirklich geht, ein Stück zum Guten zu bewegen. Ich glaube, wir Politiker haben andere Mittel, Mittel, die für diesen entscheidenden Teil der jungen Menschen - ich rede nicht von den Kriminellen und von denen, die man auch Staatszerstörer nennen könnte
- wesentlich sind, sei es das Beispiel, das wir den Jungen geben können, sei es die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir uns geduldig zuhören, Herr Kollege Kohl.
({56})
Es wäre wünschenswert, daß wir noch mehr für die Einheit von Reden und Handeln und von Leben und Tun als Politiker sorgen
({57})
- ein Punkt, den die Jungen sehr skeptisch und sehr allergisch betrachten -,
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daß wir uns ernsthafter mit der Frage auseinandersetzen, welche Maßstäbe eigentlich für Erfolg und Mißerfolg unserer Gesellschaft, der Gruppen und der einzelnen, maßgebend sind und daß wir auch einmal fragen, was denn die breite Jugend - nicht nur ein kleiner Teil - schon mit dem Leistungsbegriff anfangen kann, den wir praktizieren oder erläutern. Hier schließe ich viele mit ein. Ich gehe doch nicht entlang den simplen Parteilinien.
Ich frage: Haben wir nicht einen Leistungsbegriff, der sich fast ausschließlich an Intelligenz, techni1246
Regierender Bürgermeister Dr. Vogel ({59})
scher Fertigkeit und sozialem Durchsetzungsvermögen orientiert?
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- Herr Kollege Kohl, freuen Sie sich doch, wenn Sie mir zustimmen können. Das ist doch kein Grund zu derartiger Erregung. Ich verstehe Sie gar nicht.
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Menschlich wertvolle und gesellschaftlich wichtige Fähigkeiten wie Phantasie, Originalität,
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gesellschaftlich-politisches Verantwortungsgefühl, Kooperationsfähigkeit, moralische und soziale Empfindsamkeit werden zu wenig oder gar nicht berücksichtigt. Wenn Sie meinen, dies sei ein Grundzug Ihrer Politik, dann stelle ich ein Maß an Übereinstimmung fest, das mich tief beeindruckt. Das sind nämlich wörtliche Zitate aus dem Orientierungsrahmen '85 der Sozialdemokratischen Partei.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, täuschen wir uns - damit komme ich zum Schluß - im übrigen nicht. Manche beruhigen sich mit der Rede von der kleinen Minderheit, von der sehr kleinen Minderheit. Es werden auch Prozentzahlen genannt. Man ist vielleicht im Rathaus den Problemen wieder ein ganzes Stück näher. Manches hier wirkt, wenn man wieder hereinkommt, merkwürdig, wie unter einer isolierten Käseglocke, hin wie her. Auf Grund dieser näheren Kenntnis sage ich Ihnen: Das reicht weiter. Wenn Herr Boenisch in der Ausgabe der „Welt" vom Samstag und Herr Leicht in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung" dies übereinstimmend ebenso sehen wie ich, dann ist dies ein deutliches Zeichen, fast schon ein Alarmzeichen für das, was dort im Gange ist.
Dazu gibt es auch aus Berlin eine bemerkenswerte Stimme. Herr Kollege Kohl, jetzt möchte ich bitten, erst ganz bis zum Schluß zuzuhören - Herr Weizsäcker weiß schon, wer unterschrieben hat, aber Sie wissen es noch nicht -; sonst gibt es Divergenzen. In einer Erklärung, die dort am vergangenen Montag veröffentlicht wurde - nun lese ich ganz langsam - heißt es wörtlich:
Hausbesetzungen und Unruhen, mögen sie auch von radikalen Minderheiten geschürt oder genutzt werden,
- richtig! sind Erscheinungsformen eines tiefer und weiter reichenden Unbehagens einer Generation, die sich angesichts von Arbeitslosigkeit, Bürokratisierung, Zentralisierung, Spezialisierung, Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und
- vielleicht haben Sie auch das hier heute schon ein bißchen im Auge gehabt des wortreichen Leerlaufs unseres Politikerbetriebs überflüssig, der sinnvollen Lebensziele
beraubt, hilflos und nicht ernst genommen fühlt. Deshalb sind Mut und Fähigkeit zum Dialog, Selbstkritik und Reform für alle demokratischen Parteien überlebenswichtig und überlebensnotwendig. Wer nichts als pauschale Massenverhaftungen und neue Polizeiwaffen anzubieten hat, der offenbart erschreckende Hilflosigkeit.
Die Erklärung stammt allerdings nicht, wie Sie vielleicht meiner Andeutung am Anfang fälschlich hätten entnehmen können, von meinem sehr verehrten Gegenkandidaten, Herrn von Weizsäcker. Sie stammt von der Jungen Union Berlin und ist vom Landesvorsitzenden und vom stellvertretenden Vorsitzenden dieser Jugendorganisation unterzeichnet, der ich hier meinen Respekt und meine Anerkennung für diese Aussage ausspreche.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie in der Verfestigung Ihres Gefühls, alles richtig gemacht zu haben, alles richtig zu wissen, wenn Sie in der Verhärtung dieses Gefühls auf mich, auf uns nicht hören wollen, dann hören Sie bitte auf die Stimme Ihrer eigenen Jugendorganisation.
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Es ist die Stimme der Vernunft. Wir werden der Vernunft, die auch aus diesen Zeilen spricht und die sich nicht nach Parteien sortiert, in Berlin auch weiterhin folgen; wenn es sein kann, mit Ihrer Unterstützung, Herr von Weizsäcker - ich bin auch deshalb hierher gekommen, damit wir uns jetzt einmal in Rede und Widerrede im selben Saal begegnen können -, aber wenn es sein muß, auch ohne diese Unterstützung, weil die Vernunft es gebietet. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Weizsäkker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zutreffenderweise hat Herr Dr. Vogel davon gesprochen, daß in dieser Debatte viel Interesse sich Berlin zugewandt hat, aber die Gründe dafür hat er unzutreffend gedeutet. Herr Vogel hat eine ganze Reihe von Zeugen dafür aufzubieten versucht, um darzulegen, daß in Berlin alles nicht so schlimm sei, daß man in Berlin in der dortigen Koalition nicht vor der Gewalt zurückschrecke, daß keine Unsicherheit verbreitet werde, daß keine rechtsfreien Räume entstanden seien oder zugelassen würden, und anderes mehr.
Lassen Sie mich nur am Anfang einige Zitate bringen, die in eine ganz andere Richtung gehen.
Der Innensenator von Berlin, Herr Dahrendorf, wurde vor einigen Tagen in einer Berliner Zeitung gefragt, wie lange denn der Zustand noch hinnehmbar sein solle, daß der Rechtsstaat erpreßbar sei.
Herr Dahrendorf antwortete - ich zitiere ihn wörtlich -:
Nur beschränkt lange und nur, wenn gleichzeitig abzusehen ist, daß es Wege zur Lösung gibt ... Wir haben nicht beliebig lange Zeit, auf den Erfolg zu warten. Wenn sich der Zustand
- also der heutige Zustand noch auf Monate verfestigt, daß wir nicht in jedes Haus hineinkönnen, dann allerdings würde auf die Dauer die Rechtsordnung sicher Schaden nehmen.
Herr Dahrendorf geht also von einem völlig anderen Bild der Wirklichkeit aus als von dem, das Herr Vogel hier heute dargelegt hat.
({0})
Herr Rommel, ebenfalls von Herrn Vogel zitiert, äußert sich in einem heute veröffentlichten Artikel u. a. wie folgt:
Die Gelassenheit kann nicht so weit gehen, daß die öffentliche Hand am Ende gelassen zusieht, wenn der demokratische Rechtsstaat zerbrökkelt.
Und er fügt hinzu:
Ich kann keine Freude darüber empfinden, daß in einigen Städten, etwa in Berlin, das Ordnungsgefüge ins Wanken zu kommen droht, denn dadurch entstehen Risse in unserem demokratischen Staatswesen.
Das ist ganz anders, als Herr Vogel Herrn Rommel zitiert hat.
Oder Herr Vogel bezieht sich darauf, daß in Berlin die Gewalt nicht geduldet, die Straftaten verfolgt und Häuser geräumt würden, wenn Strafantrag gestellt werde. Ich beziehe mich auf eine Äußerung, die die Handswerkskammer Berlin offiziell vor wenigen Tagen publiziert hat. Da hat sie in einer scharfen Erklärung die offiziell verkündete und von Herrn Vogel heute wieder gewissermaßen als Vorhang vorgezogene Senatspolitik in Frage gestellt, wonach besetzte Häuser geräumt würden. Immer häufiger, so sagt die Handwerkskammer, werden Gebäude unmittelbar vor oder kurz nach Beginn von vertraglich vereinbarten Arbeiten zur Instandsetzung, Sanierung und Modernisierung illegal besetzt. Die vom Innensenator geäußerte Absicht, besetzte Häuser durch die Polizei räumen zu lassen, wenn Strafantrag gestellt wird, wird entweder nicht ausgeführt oder wird dadurch gegenstandslos, daß die gemeinnützigen Sanierungsträger solche Strafanträge gar nicht stellen, und das sind bekanntlich ungefähr 80 % der Eigentümer der von Ihnen genannten Häuser.
Wie wollen Sie sich auf eine Politik berufen, wonach Sie Häuser räumen, wenn Strafantrag gestellt wird, wenn Sie den Hebel in der Hand haben, um solche Strafanträge zu stellen, es in den 80 % der Fälle aber nicht tun?
({1})
Schließlich berufen Sie sich auf die Liberalität unseres Kollegen Kewenig und sagen, er habe damit doch solche Schwierigkeiten. Das lassen Sie einmal meine Sorge sein. Ich habe ihn ja berufen und nicht Sie. Ich habe ihn deswegen berufen, weil er die Meinung hat, die Sie wiedergegeben haben, und ich werde dabei helfen, daß er mit den Auffassungen, die er hat, auch wirklich zum Zuge kommt, und zwar in politischer Verantwortung und nicht nur in theoretischer Betrachtung.
({2})
Wir haben schon einen späten Zeitpunkt des Tages erreicht, und ich muß deswegen so direkt wie möglich sagen, was ich auf dem Herzen habe. Unser heutiges Berliner Problem Nummer 1 ist das Syndrom von Wohnungsnot, Rechtsunsicherheit und Generationenkonflikt. Was in Wahrheit unter Ihrer Verantwortung, Herr Vogel, in Berlin geschieht, ist, daß Sie vor der Gewalt zurückweichen.
({3})
Sie verbreiten Unsicherheit über den Auftrag staatlichen Handelns. Sie lassen den rechtsfreien Raum anwachsen. Sie entmutigen die Treue zum Recht. Sie gefährden mit Ihrer Politik den liberalen Rechtsstaat, auf den Sie sich berufen.
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Damit verhindern Sie etwas, was auch mir sehr am Herzen liegt, worüber Sie sich in der zweiten Hälfte Ihrer Ausführungen länger verbreitet haben, nämlich sich mit friedlichen Mitteln über Mißstände in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, den offenen Dialog unter den Generationen so führen zu können, daß keine Verhärtung und Verbitterung ihn verhindert,
({5})
sich auf diesem Wege über Werte und Ziele für unser Zusammenleben zu verständigen. Herr Vogel, was Sie als Politik tun oder ausgeben, das blockiert gerade die wichtigste Kraft der freiheitlichen Demokratie, nämlich die Fähigkeit, einen Wandel der Verhältnisse ohne Gewalt herbeizuführen.
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Es kann ja gar keinen Zweifel darüber geben, daß wir zu diesem friedlichen Wandel befähigt sein müssen, angesichts ständig neuer Herausforderungen der wissenschaftlichen und technischen Welt, neuer sozialer Notstände, verschuldeter oder unverschuldeter, und neuer ethischer Fragestellungen und Entscheidungen. Es ist gar kein Zweifel, daß wir alle in einem offenen Dialog die Aufgabe haben, Sprachlosigkeit zu überwinden. Dabei müssen wir mehr hören als reden. Wir müssen uns der Einsicht in eigene Fehler öffnen; da stimme ich Ihnen natürlich zu. Wir dürfen uns auch nicht gegen ungewohnte und fremde Gedanken verschanzen.
Ich möchte weitergehen: Wir Älteren werden sagen müssen, wir haben selber abzubüßen dafür, daß unter unserer Mitverantwortung viel menschliche und gefühlsmäßige Armut entstanden ist, viel Vereinsamung und manche tiefen Gräben der Fremdheit unter den Generationen. Freilich gibt es in diesem Dialog auch ermutigende und positive Ansatzpunkte. Wir Älteren haben, um nur einige Beispiele
zu nennen, mehr von den Jüngeren als aus unserer eigenen Generation gelernt, nämlich daß wir dem Raubbau am Gleichgewicht der Natur ein Ende setzen müssen, daß Wirtschaftswachstum notwendig, aber kein Selbstzweck sein darf, daß wir einen Kurs auf eine materiell anspruchslosere Lebensweise suchen sollen, daß eine Bereitschaft zu sozialen Diensten und zur mitmenschlichen Hilfe vorhanden ist und wir sie nicht ständig durch eine staatsverwaltende Politik verhindern, sondern durch Hilfe zur Selbsthilfe ermutigen sollen.
Junge Menschen machen uns klar, ja, sie machen, wie ich meine, einer Partei, zu deren Kernpunkten der Grundsatz der Subsidiarität gehört, ausdrücklich Mut, wenn sie nach der überschaubaren menschlichen Lebensgemeinschaft an Stelle der perfektionistischen Fernsteuerung des großen Apparats verlangen. Wir haben, als wir jung waren, etwas empfunden, was wir bei unseren Kindern und bei den jungen Menschen zum Glück wieder erleben: Junge Menschen wollen leben; sie wollen nicht gelebt werden.
({7})
Aber das alles wird doch in einem Dialog nur dann fruchtbar werden, so daß es in der Politik seine Folgen zeigt, wenn auch wir Älteren in diesem Dialog den Part wirklich ernst nehmen, den wir dabei zu spielen haben. Es würde niemandem, und zwar zu allerletzt den jungen Menschen, etwas nützen, wenn wir einfach mutlos oder kleingläubig darauf verzichten würden, uns zu dem zu bekennen, was wir als Wert und als Sinn in unserem Leben erfahren haben.
Wenn wir uns in opportunistischer Unsicherheit zu nichts anderem mehr aufzuraffen vermögen als nur zu dem Versuch, das nackte Leben der Mitglieder unserer Gesellschaft zu schützen, aber alles andere an sittlichen Überzeugungen und an Werten der menschlichen Kultur zur Disposition zu stellen, dann allerdings würden wir unsere Verantwortung preisgeben.
Wenn wir den Dialog suchen und den friedlichen Wandel wollen, dann müssen wir uns zu dem entscheidenden Fortschritt bekennen, der im Kampf gegen Willkür, im Kampf gegen die Macht des Stärkeren, auf dem Weg zum liberalen und sozialen Staat, zur Rechtsstaatlichkeit erreicht wurde. Jeder hat in dieser Rechtsstaatlichkeit das gleiche Recht, in gleicher Freiheit seine Belange zu vertreten. Jeder kann und jeder soll an der Überwindung sozialer Mißstände mitwirken. Der liberale und soziale Rechtsstaat schützt den Schwachen. Er verwehrt es den Starken, die anderen einfach zu verdrängen. Er läßt nicht zu, daß Rücksichtslosigkeit durch Nachgiebigkeit belohnt wird.
({8})
Und hier, Herr Vogel, versagt die derzeitige verantwortliche Führung in Berlin.
({9})
Es leugnet ja niemand, daß Sie bei Ihrem Amtsantritt schwere Versäumnisse und Fehlentscheidungen Ihrer Vorgänger vorgefunden haben. Es ist doch kein Wunder, daß es zu Hausbesetzungen gekommen ist, wo sozialdemokratisches Führungsversagen dazu geführt hat, daß schwere Wohnungsnot herrscht und gleichzeitig 800 Häuser Leerstehen.
({10})
Zum schlechten Erbe, das Sie übernommen haben, kommt nun aber das eigene, von Ihnen nicht ererbte, sondern von Ihnen herbeigeführte Versäumnis. Seitdem nämlich Sie die Verantwortung haben, und nicht vorher, ist der Eindruck entstanden, Berlin zeige, daß der Staat sich bei Gewalttätern nicht zu wehren wisse.
({11})
Unter Ihrer Führung sind Ermittlungsersuchen der Justiz gegen Rechtsbrecher so lange öffentlich verzögert worden, bis sie schließlich wirkungslos geworden sind. Es fällt unter Ihre Verantwortung, daß die notwendige Abstimmung zwischen den Anforderungen der Justiz und einer Polizei, die selbstverständlich nicht einfach blindlings auszuführen hat, unter den Augen der Berliner Öffentlichkeit zur Führungslosigkeit verkam.
Meine Damen und Herren, nach dem, was der Innensenator Dahrendorf sagt, beläuft sich der militante Kern der Szene in Berlin auf ca. 500 Personen. Man weiß, daß dieser militante Kreis Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Zustandes in den besetzten Häusern getroffen hat. Es gibt mobile Einsatzkommandos, die bevorstehende Polizeiaktionen ausmachen. Das Informationssystem funktioniert gut; die Telefonkette arbeitet praktisch ungestört; ein Privatsender strahlt unregelmäßig Anweisungen zum Barrikadieren und zum Widerstand aus. In einem der ganz wenigen inzwischen geräumten Häuser fand man nicht nur Pflastersteine, sondern Stahlkugeln, Schlagstöcke aller Art, Azetonflaschen und Feuerlöscher mit ätzender Flüssigkeit. Dies alles haben Sie mit zwei, drei Sätzen in dieser Rede damit beschönigt, daß Sie gesagt haben, Gewalt würde sich nicht ausbreiten können, es gebe keine Ausweitung des rechtsfreien Raumes, in Berlin würde die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet. Das Gegenteil, Herr Vogel, ist der Fall.
({12})
Es bestreitet doch gar niemand, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewandt werden muß. Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in der Tat integraler Bestandteil unserer Rechtsordnung. Aber man kann sich doch nicht damit begnügen, sich einfach auf diesen Begriff zu berufen, sondern man muß ihn richtig anwenden. Das verfehlen Sie. Es ist die Folge dieser angeblichen Anwendung der Verhältnismäßigkeit, die in Wirklichkeit nur ein Vorhang ist, hinter der sich Untätigkeit, Wegducken verbirgt.
({13})
- Herr Wehner, hören Sie einmal bitte gut zu. Ich weiß, daß Sie das häufig nicht können.
({14})
Es ist eine Quittung für diese Untätigkeit, daß der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes von der Suspendierung des Rechtsstaates gesprochen hat,
({15})
wenn die Polizei unter Einwirkung der politischen Führung richterliche Anordnungen so lange nicht vollstreckt, bis sie ihr Ziel nicht mehr erreichen können, daß der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht aus Sorge um die Wahrung des Rechts die Polizeiführung öffentlich auffordern mußte, endlich Ermittlungshandlungen zu vollstrecken,
({16})
daß der Richterbund Berlin erklärte, Straftaten dürften nicht deshalb unverfolgt bleiben, weil andere Straftäter und deren Sympathisanten mit neuen Straftaten drohten, und daß der evangelische Landesbischof von Berlin, Kruse, erklärte, der rechtlose, rechtswidrige Zustand sei keine Lösung; nicht nur Häuser, sondern auch das Recht müsse in Berlin saniert werden.
({17})
Heute liegt die Abstimmung - die j a notwendig ist - zwischen den Belangen der Justiz und der Polizei in der Hand eines Mitglieds Ihrer Regierung, Herr Vogel, nämlich des Justizsenators. Das ist derselbe Mann, der einen Rechtsbrecher politisch auszeichnete, indem er ihn für den Landesvorstand seiner Partei vorschlug.
({18})
Thomas Dehler hat einmal mit Recht gesagt, daß Liberalität ohne das Recht nicht denkbar sei. Die Liberalen hätten ein besonders enges Verhältnis zum Recht. Gut so! Aber der Berliner Justizsenator macht eine opportunistische Verbeugung vor denen, die über genug Ellenbogen und über menschliche Unempfindlichkeit verfügen, um sich selbst durchzusetzen. Er hat aber seinen Schutz denen versagt, für die er im Amt ist, nämlich für diejenigen, die den Schutz der Rechtsordnung brauchen. Diesem Mann, Herr Vogel, haben Sie - selber früher Justizminister - Ihr Vertrauen ausgesprochen.
({19})
Wir wissen, daß Sie intern Auseinandersetzungen über die Zweckmäßigkeit der Handlung Ihres Justizsenators hatten. Aber warum haben Sie nicht den Mut gehabt, sich dazu öffentlich zu bekennen? Das ist tief deprimierend.
({20})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte zum Ende kommen, Frau Präsidentin; ich möchte so kurz wie möglich sprechen.
Herr Vogel, Sie philosophieren über die Frage, ob die Alternative „weich oder hart" die richtige Fragestellung sei. Ich stimme Ihnen zu: das ist nicht die richtige Fragestellung. Die richtige Fragestellung ist, ob wir den liberalen Rechststaat schützen, ob wir auf diese Weise dialogfähig bleiben oder nicht.
({0})
Sie sprechen über Zürich und Amsterdam. Ich möchte fast sagen: Sie sprechen über Zürich fast mehr als über Berlin.
({1})
- Herr Wehner, Sie haben ja nicht so viel Zeit, alles zu hören, was Herr Vogel sagt.
({2})
Ich stelle fest, daß wir mit allen Erkenntnissen, die wir aus Zürich, aus Amsterdam, aus irgendeiner anderen nichtdeutschen oder deutschen Stadt gewinnen können, unserer Verantwortung dann gerecht werden, wenn wir in bezug auf den Platz, an den wir selber gestellt sind, die Konsequenzen ziehen, die von uns zu erwarten sind. Das ist es, was Herr Vogel nicht tut.
({3})
Denn Herr Vogel sagt erstens - und da stimme ich ihm zu -, wir sollten uns fragen: Was habe ich falsch gemacht? - Ja, das müssen wir. Zweitens sagt er: Wir müssen soziale Mißstände beseitigen. Da stimme ich auch zu. Das ist freilich, was die Wohnungspolitik in Berlin betrifft, ein Programm mindestens der nächsten zehn Jahre. Nun frage ich: was werden wir denn bis dahin tun? Meine Partei hat seit langem unaufhörlich verlangt, daß umgehend entschieden wird, was mit den Häusern geschieht, mit den Häusern, die doch zu 80 % städtischen Wohnungsgesellschaften gehören, und daß auf dieser Grundlage eine konkrete Entscheidung herbeigeführt wird. Das Unbegreifliche ist ja gerade, daß die Unübersichtlichkeit in bezug auf die Verwendung jedes dieser einzelnen Objekte anhält. Ihr Senat gibt sich aktionistisch, aber die konkrete Handlungsanweisung fehlt. Die Klarheit fehlt. Es muß doch nach dieser langen Zeit feststehen, welches der besetzten Häuser nun erneuert werden soll. Dann muß aber auch geräumt und mit der Erneuerung begonnen werden. Es muß doch feststehen, welche Häuser abrißreif sind. Dann muß geräumt und abgerissen werden. Natürlich nicht alles auf einmal. Aber wir dürfen nicht einfach nur die Lage beschreiben, fragen, was wir falsch machen, ein Zehn-Jahre-Programm entwickeln, in bezug auf heute aber die Initiative denen überlassen, die in der Zeit, seit Sie die Regierungsverantwortung haben, die Zahl der besetzten Häuser auf das Vierfache haben steigen lassen.
({4})
Wir werden für jedes leere Haus an Ort und Stelle und nicht in fernen Senatskommissionen eine Entscheidung treffen, was mit ihnen zu geschehen hat. Selbstverständlich werden wir nicht ein besetztes Haus einfach deshalb räumen, um es leer zu haben. Sie, Herr Vogel, haben mich nun, ich weiß nicht, zum wievielten Male, damit zitiert - zutreffend -, daß
ich gesagt habe: Wir können nicht einfach ein Haus räumen, um es leer zu haben, und die Besetzer ziehen dann in ein benachbartes leerstehendes Haus ein. Nur wäre ich Ihnen um der Redlichkeit der Auseinandersetzung willen dankbar, wenn Sie meinen auch seit langem veröffentlichten Katalog, was konkret zu geschehen hat, gleich mit hinzufügten und nicht eine Form der Umarmungspolitik anstreben wollten,
({5})
auf die Sie in der Sache selbst wirklich nicht rekurrieren können, wenn wir redlich bleiben.
({6})
Ich wiederhole also, wir werden ein besetztes Haus nicht einfach deshalb räumen lassen, um es leer zu haben. Aber dort, wo ein Haus einer alsbaldigen und einer sinnvollen, einer notwendigen Verwendung zugeführt werden kann, werden wir dies Schritt für Schritt mit zügiger Beschleunigung tun. Das heißt: sofortiger Beginn der Handwerksarbeiten, wo die Instandsetzung ansteht; befristete Vermietung, wo die Sanierung erst in einigen Jahren kommen wird; Abriß und Neubau, wo dies angezeigt ist. Wir werden auf diesem Wege nicht in zehn Tagen fertigwerden, aber wir werden an jedem Tag in bezug auf einige Objekte weiterkommen. Wir werden auf diesem Weg einige besetzte Häuser besetzt lassen müssen. Aber wir werden der Bevölkerung - das ist das Entscheidende - das Gefühl dafür vermitteln können, daß etwas im Sinne der Bewältigung aller drei Probleme geschieht, sowohl der Wohnungsnot wie der Rechtsunsicherheit, wie des Generationenkonflikts.
Meine Damen und Herren, wer wollte einem Polizeipräsidenten nicht folgen, wenn er sagt, daß wir kühle Köpfe brauchten, um blutige zu vermeiden! Der Senat aber, Herr Vogel, unter Ihrer Verantwortung steckt seine Köpfe vor den schleichenden Folgen seiner Politik einfach in den Sand.
({7})
Die Folgen sind, daß zwar Einzelstraftäter verfolgt werden, aber ein Straftäterkollektiv, wenn es nur mit Krawallen drohen kann, gute Chancen hat, vor Ermittlungen und Zugriff geschützt zu bleiben. Die höhere Kriminalität genießt zur Zeit den höheren Schutz.
({8})
Wer Knüppel oder Steine zur Durchsetzung seiner Ziele benutzt, der wird eher ermutigt. Wer dagegen in der Schlange steht, wer friedlich wartet, der gerät ins Hintertreffen.
({9})
Es ist unerträglich, wenn auf diese Weise der Friedliche zum Schwächeren und der Rechtsbrecher zum Stärkeren wird.
({10})
Meine Damen und Herren, wir werden nicht die Konfrontation suchen, sondern das Gespräch.
({11})
Aber wir werden zeigen, daß diejenigen, die uns die Konfrontation aufnötigen wollen, uns dazu bereit finden.
({12})
Wir werden die Verantwortung des Staates nicht verkommen lassen. Wir werden die Unsicherheit beseitigen. Wir werden den liberalen Rechtsstaat, wo er gefährdet ist, wiederherstellen. Denn nur dann haben wir die Kraft zur Reform. Nur dann hat ein Dialog die Chance zur Offenheit. Nur dann können wir einen friedlichen Wandel herbeiführen.
Berlin ist als Symbol von Freiheit und Friedenssuche in die Nachkriegsgeschichte eingegangen. Dort, wo dies gefährdet ist, werden wir es wiederherstellen.
({13})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht mit der ersten Debattenrunde, die sich mit der allgemeinen Rechtspolitik, zum Teil mit der Rechtsphilosophie beschäftigt hat, will ich mich hier auseinandersetzen, auch nicht mit der nächsten Debattenrunde, in der zu Recht Vertreter von Landesregierungen und Landespolitik hier das Wort genommen haben - zu recht deshalb, weil öffentliche Sicherheit nach unserem Grundgesetz eine Sache der Länder ist -; vielmehr nehme ich das Wort, um das eine oder andere an die Adresse derjenigen jungen Menschen zu sagen, die uns heute Abend zuhören wollen; es werden nicht alle sein.
({0})
Denen möchte ich sagen, daß aus unserem Grundgesetz folgt, daß Gesetz und Recht nur von den im Grundgesetz dafür vorgesehenen Organen bestimmt werden. Der einzelne - mag er noch so legitime, noch so berechtigte Kritik an wirklichen oder an scheinbaren Mißständen üben - er muß es hinnehmen und respektieren, daß nicht er, sondern daß Parlamente, Regierungen, Verwaltungen und Gerichte für die Schaffung und Durchsetzung von Recht verantwortlich sind. Ob Gesetz, ob Verwaltungsentscheidung, ob richterliches Urteil gilt und durchgesetzt wird, kann deshalb nicht der Entscheidung einzelner oder einzelner Gruppen überlassen bleiben. Das kann es nicht - in keinem Rechtsstaat auf der ganzen Welt.
({1})
Und auch in irgendeiner Form von kommunistischer Staatsordnung ist dies nicht möglich.
Dagegen gibt es auch keinerlei moralisches Widerstandsrecht.
({2})
Es ist in der Tat in unserem Grundgesetz von Widerstand und vom Widerstandsrecht die Rede. Es gibt in unserem Grundgesetz - nicht von Anfang an, sondern wir haben das später hier in diesem Hause ins Grundgesetz eingefügt - ein Widerstandsrecht gegen den, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Es wird heutzutage sehr viel über Widerstand geschwätzt,
({3})
vielfach auch von Menschen, die wegen ihrer geschichtlichen Bildung und ihres geschichtlichen Wissens eigentlich wissen müßten, daß der Begriff „Widerstand" einen Inhalt hat, jedenfalls für uns Deutsche,
({4})
den man nicht in kleiner Tagesmünze verschleudern darf, als handele es sich gar nicht um moralische Werte.
({5})
Die jungen Menschen sollen aber auch hören - manche Redner haben es in der Debatte heute schon angedeutet -, daß wir Politiker uns aufgefordert fühlen, mit Sorgfalt zu prüfen, welche Haltung uns oder den staatlichen Organen, die wir vertreten, gegenüber den Protestierenden angemessen ist. Zunächst ist sicherlich wichtig, daß wir zwischen Gewalttätern und solchen unterscheiden, die in friedlicher Weise Kritik üben, Kritik an wirklichen oder von ihnen so empfundenen angeblichen Mißständen. Das sind zweierlei Dinge. Sie müssen auch spüren, daß wir uns das Augenmaß der Unterscheidung zwischen solchen, die Gewalt üben wollen, und solchen, die Kritik üben wollen, nicht abhanden kommen lassen.
({6})
Wir dürfen uns auch von Krawallen, von üblen Krawallen und sogar von üblen Gewalttaten nicht dazu verführen lassen, diese Unterscheidung, von der ich soeben sprach, im Eifer der Erregung zu vergessen oder aufzugeben.
({7})
Andererseits, glaube ich, werden viele junge Leute, die uns heute zugehört haben, auch empfinden, daß wir uns von Gewalttaten und Krawallen nicht dazu verführen lassen wollen, etwa berechtigter Kritik an tatsächlichem Mißstand nicht nachzugehen. Sie werden auch spüren, daß wir uns, wenn einer in friedlicher Weise, z. B. durch Demonstration, seine Meinung sagt, darüber einig sind, daß er das zu Recht tut, nein, daß er das in Ausübung eines Grundrechts, das ihm wie allen anderen zusteht, tut.
({8})
Wir wollen das nicht mit Vorwürfen, die wir zu erheben haben, vermischen. Derjenige, der von seinem Grundrecht Gebrauch macht, verdient Respekt, auch wenn es sich um einen jungen Menschen handelt.
({9})
Allerdings muß er, der Demonstrant, sich dann auch fragen lassen, ob er durch die Art und Weise seines Verhaltens nicht vielleicht anderen Anlaß oder Gelegenheit gibt, friedliche Demonstration, die er im Sinn hat, für Gewalttätigkeiten, die die anderen im Sinn haben, auszunutzen.
({10}) Das muß er sich fragen lassen!
({11})
- Ich bekenne freimütig, Herr Kollege Vogel - ich meine jetzt nicht den Regierenden Bürgermeister, sondern den CDU-Kollegen, der hier vor mir sitzt -, daß ich auch den jungen Mitgliedern meiner eigenen Partei immer wieder sage, welche Verantwortung derjenige hat, der friedliche Demonstration will, wenn er sich vielleicht gegen Krawallmacher, die sich an seine Rockschöße hängen, nicht ausreichend wehren kann.
Ich möchte aber den jungen Zuhörern auch dieses ans Herz legen: Das Recht kann nur dann gewahrt werden, wenn es Menschen gibt, die ihren Beruf darin sehen, im Auftrage des Staates oder im Auftrage des Gesetzgebers oder im Auftrage des Gerichts das Gesetz durchzusetzen. Dazu gehören z. B. Polizeibeamte. Und ich muß die jungen Menschen in Deutschland bitten, endlich damit aufzuhören, von Polizeibeamten in herabsetzender Weise generell nur als von „Bullen" zu reden.
({12})
Die meisten Polizeibeamten sind das längst gewohnt und nehmen daran innerlich keinen Anstoß. Ich nehme daran Anstoß. Ich bin auch einmal eine Reihe von Jahren für den Einsatz von Polizeibeamten verantwortlich gewesen, und ich weiß: das war immer schon ein schwerer Beruf, und das ist heute ein besonders schwerer Beruf. Polizeibeamte müssen sich vieles gefallen lassen, und sie lassen sich auch im Interesse der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vieles gefallen, was, wenn es in diesem Hause vorkäme, wenn es zwischen Mitgliedern dieses Hauses geschähe, mindestens zum Ausschluß des betreffenden Mitglieds des Hauses führen würde.
({13})
Vieles müssen sich Polizeibeamte gefallen lassen. Um so mehr müssen wir auch demonstrierende, Kritik übende junge Mitbürger bitten, ihrerseits so, wie ich gegenüber jemandem, der von seinem Grundrecht der Meinungsfreiheit durch Demonstration Gebrauch macht, Respekt bekundet habe, gegenüber den Dienern des Staates, die dem Recht und seiner Durchsetzung dienen, den Dienern in der Ge1252
stalt des Polizeibeamten gegenüber, Respekt zu haben.
({14})
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der hier von allen Seiten bejaht worden ist - wenngleich ich bei der Argumentation des Herrn Kollegen von Weizsäcker hinsichtlich dessen, was er im Ergebnis meinte, nicht ohne Zweifel geblieben bin -, setzt jedenfalls eine Prüfung der Besonderheiten jedes einzelnen Falles oder jeder einzelnen Lage voraus. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestattet keine abstrakten Ableitungen, die für einen und alle Fälle gelten. Es muß in jedem einzelnen Fall neu geprüft werden, was verhältnismäßig ist. Massenaktionen, bei denen offensichtlich, Herr Kollege Hillermeier, die Besonderheiten des Einzelfalles nicht hinreichend geprüft werden können, müssen einen bedenklich stimmen.
({15})
Nach meinem Eindruck unterziehen sich die Polizeibeamten in allen Bundesländern ihrer schwierigen Aufgabe ganz überwiegend in respektabler Weise. Und sie haben deshalb Anspruch auf die grundsätzliche Unterstützung der Parlamente, egal welcher Partei oder Fraktion die oder der einzelne Abgeordnete angehört. Und wir müssen auch unseren jungen Zuhörern sagen, daß wir die Polizei dort, wo sie ihre Pflicht erfüllt, unterstützen, und daß wir uns davon nicht abbringen lassen.
({16})
Ich stimme dem Regierenden Bürgermeister von Berlin zu, der hier, in solchem Zusammenhang sprechend, ausdrücklich die umsichtige Verhaltensweise der Polizei in Schleswig-Holstein gelobt hat. Es waren nicht nur schleswig-holsteinische Beamte, sondern auch viele Beamte aus anderen Ländern und auch Bundesgrenzschutz am 28. Februar in Brokdorf beteiligt. Polizei verdient überall Lob, wenn sie zunächst einmal überlegt, was geboten ist, und sich nicht verleiten läßt, erst einmal draufzuschlagen.
({17})
Ich möchte ein Wort an unsere jungen Zuhörer wegen der Hausbesetzungen richten. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland im Laufe der letzten zehn Jahre 5 Millionen Wohnungen gebaut. Im gleichen Zeitraum ist die Wohnbevölkerung um eine Million kleiner geworden. Es wurden also 5 Millionen Wohnungen gebaut bei gleichzeitiger Abnahme der Wohnbevölkerung. Oder anders ausgedrückt: Wir haben heute in Deutschland pro Kopf mehr Wohnfläche und Wohnraum als jemals zuvor.
Trotzdem gibt es Wohnungsprobleme, für bestimmte Gruppen mehr als für andere und in manchen Großstädten mehr als in anderen und mehr als auf dem flachen Lande. Aber es gibt Wohnungsprobleme und Hausbesetzungen nicht nur in Großstädten, nicht nur in Nürnberg und in Berlin, von denen hier heute meistens die Rede war, sondern auch in Detmold oder in Marburg oder in Eßlingen oder in Kirchheim/Teck oder in Freiburg. In keiner dieser
Städte, nirgendwo in Deutschland, ist eine Hausbesetzung rechtmäßig; es ist überall Unrecht.
Bei allem Verständnis für die Motive dürfen wir nicht verschweigen, daß es sich um Unrecht handelt.
({18})
- Es tut mit leid, ich denke, es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, daß die Jüngeren, die uns zuhören, nicht nur taktisches Hickhack zwischen den Vertretern dreier Parteien hören, sondern daß sie das hören, was an ihre Adresse gesagt wird.
({19})
Unter den Hausbesetzern sind ganz gewiß einige bloße Krawallmacher, die immer da sind, wenn es Probleme gibt. Vielleicht sind es nur sehr wenige. Unter den Instandbesetzern sind sicherlich auch einige in echter Wohnungsnot; aber das sind auch nicht sehr viele. Sehr viele sind Nachahmer. Am größten ist wahrscheinlich die spezifische Gruppe derjenigen jungen Menschen, die von sich meint, sie sei in Wohnungsnot und habe Anspruch auf eine Wohnung. Aber ist es echte Wohnungsnot, wenn jemand aus dem eigenen Zimmer im Elternhaus mit 17 oder 18 Jahren auszieht, um sich woanders besser selbstverwirklichen zu können? Ist das echte Wohnungsnot, wenn er dann keine Wohnung findet?
({20})
Es gibt in vielen Städten einen Mangel an preisgünstigem Wohnraum. Unsere Vorstellung davon, was für eine Wohnung bezahlt werden muß, hat sich im Laufe der Jahre allerdings sehr verschoben, und - ich muß das mal sagen - es gibt unendlich viele Familien und private Haushalte, denen es ganz selbstverständlich ist, daß sie für ihr Auto im Monat mehr Geld aufwenden, als sie für die Miete ihrer Wohnung aufwenden.
({21})
Ich denke, daß der besondere Wert, den die vier Wände für das Wohlbefinden eines Menschen insgesamt haben, auch im Preis seiner Wohnung Ausdruck finden darf.
Es scheint hier ein allgemeines Gerechtigkeitsgefühl zu geben; zwar haben es nicht alle zum Ausdruck gebracht, jedenfalls gab es aber keinen Widerspruch, wenn wir sagen: Es ist ein Unding, Häuser Leerstehen zu lassen, wenn etwa gleichzeitig in München 15 000 wohnungssuchende Parteien registriert sind, in meiner Heimatstadt Hamburg 7 000, in Köln 10 000; für Berlin habe ich die Zahl gerade nicht vorliegen.
Einer der Kollegen der CDU hat darauf hingewiesen, daß es gesetzliche Instrumente gibt. Ich glaube, das war der Minister aus Baden-Württemberg.
({22})
- Richtig, Herr Minister Herzog. - Er hat nicht alle
Instrumente genannt. Da gibt es die ZweckentfremBundeskanzler Schmidt
dungsverordnung, da gibt es das Modernisierungsgebot, da gibt es das Belegungsrecht, da gibt es das Abrißverbot; um nur einige der rechtlichen Instrumente zu nennen, die einer Gemeinde, die einer Großstadt beim Leerstehen von Wohnungen zur Verfügung stehen. Die Kommunen können auch nicht geltend machen, daß sie etwa nicht kurzfristig eingreifen könnten. In vielen Fällen handelt es sich um einen sehr langfristigen Schlendrian, der eingerissen ist.
Um ein positives Beispiel zu geben: Die Stadt Bonn, die ja nicht überwiegend von Sozialdemokraten regiert wird, wie Sie wissen - ich komme hier nicht in Verdacht, irgendwelche taktischen Vorteile für meine Freunde herausholen zu wollen -, wird, seit es eine Eisenbahn gibt, durch diese in zwei Teile geschnitten. Seit gut 100 Jahren streitet man sich hier darum, ob man die Schranken nicht endlich beseitigen sollte. Wenn man sie wirklich beseitigen könnte, hätte man immer noch den Regen. Das wechselt ja ab in Bonn: entweder Regen oder Schranken zu.
Die Frage der Tieflage der Eisenbahn in Bonn ist hier generationenlang umstritten gewesen. Es schien einmal so, als ob es wirklich zur Tieflage käme. Da hat die Stadt vor 10 oder 12 Jahren das Richtige getan: Sie hat links und rechts der gegenwärtigen Eisenbahntrasse Altbauten aufgekauft, die man hätte abreißen müssen, wenn die Verlagerung der Bahn unter die Straße verwirklicht worden wäre.
Aber dann hat sich das Projekt mit der Tieflegung der Eisenbahn nicht durchgesetzt. Nun kommt das Vernünftige, das jedenfalls die Stadt Bonn getan hat: Sie hat die Häuser nicht unbewohnt gelassen, sondern sie hat sie wieder verkauft, und sie sind jetzt alle bewohnt.
({23})
- Sicher; das habe ich doch vorweggeschickt. Ich bin nicht so kleinlich, wie Sie meinen, daß ich es wäre. Sie schließen von sich auf andere.
({24})
Es gibt andere Städte und Gemeinden, die haben nicht so klug gehandelt.
({25})
- Berlin gehört sicherlich auch zu denen. Ich würde nur bitten, daß das nicht Herrn Vogel angelastet wird; er ist gerade dabei, das zu ändern.
({26})
Mein Rat an alle Städte ist, daß man die Instrumente benutzt, die ich eben noch einmal vorgeführt habe, damit nicht über einen längeren Zeitraum Ansatzpunkte bestehen bleiben für Unmut, für gerechtfertigten Unmut über leerstehende Wohnungen auf der einen Seite, während auf der anderen Seite Leute Wohnungen suchen. Das muß nicht sein. Die Gemeinden haben es in ihrer Hand.
Ich will aber auch hinzufügen, daß sich jedenfalls viele von uns dagegen wehren - das sollen die jungen Leute auch hören -, Hausbesetzung und Terrorismus in einen Topf zu werfen. Das werden wir nicht mitmachen. Das nutzt niemandem, aber es fordert eine gefährliche Polarisierung in unserer Gesellschaft heraus.
({27})
Ich möchte zwischendurch auf ein paar Bemerkungen eingehen, die Herr Kollege von Weizsäcker gemacht hat. Ich möchte zunächst etwas zitieren:
Die Hausbesetzung ist eindeutig eine Verletzung geltenden Rechts. Das Leerstehenlassen von Wohnraum in den großen Städten ist auch eine Rechtsverletzung ...
({28})
Finden sich die politisch Verantwortlichen damit ab, daß einige Gruppen in unserem Volk sich einfach über das Recht hinwegsetzen, kann das für die Bereitschaft der übrigen Bürger, das oft unbequeme Recht zu achten, nicht förderlich sein .. .
Es ist nicht zwingend geboten, jede Hausbesetzung sofort durch Einsatz polizeilicher Mittel zu beenden. Hier gilt der Grundsatz des Mindesteingriffs und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ... Es ist fast immer richtig, zunächst mit den Hausbesetzern zu verhandeln. Es ist meist falsch, ein Haus mit polizeilichen Mitteln räumen zu lassen, wenn es danach monatelang leersteht .. .
Herr von Weizsäcker merkt inzwischen, woraus ich zitiere: aus derselben Quelle, aus der er auch zitiert hat. Jeder zitiert offenbar das, was ihm Spaß macht.
Ich muß noch ein bißchen mehr zitieren dürfen:
Es hieße aber die Wirklichkeit gröblich verkennen, wenn man die Behauptung aufstellen wollte, alle Hausbesetzer befänden sich in einer existenzbedrohenden Wohnungsnot ...
Schwierig ist die Situation für die Polizei, wenn es im Zusammenhang mit Hausbesetzungen zu Straßenschlachten und Radauszenen kommt. Ein auf Polizeibeamte geworfener Pflasterstein oder Molotow-Cocktail ist auch für einige unserer Medien weit weniger zu verabscheuen als ein Schlag mit dem Polizeiknüppel ...
Die Polizei muß dies alles aushalten, weil sie wirklich demokratisch ist. Denn gegen die Polizei einer Diktatur würde sich Derartiges kein Demonstrant, sofern es einen solchen überhaupt gäbe, erlauben.
Und nun kommt ein Satz, der einzige, den Herr von Weizsäcker zitiert hat. Und, lieber Herr Kollege von Weizsäcker, Sie lassen, wie es bei Ihnen in letzter Zeit manchmal vorkommt, einfach ein Wort aus dem Satz heraus. Ich zitiere ihn vollständig:
Ich
- schreibt Herr Oberbürgermeister Rommel am Schluß seines Aufsatzes, aus dem ich die ganze Zeit zitiere 1254
kann keine Freude darüber empfinden, daß in einigen Städten, etwa in Berlin oder in Freiburg, das Ordnungsgefüge ins Wanken zu kommen droht ...
Warum lassen Sie eigentlich die Worte „oder in Freiburg" weg, Herr Kollege von Weizsäcker? Warum haben Sie das getan?
({29})
Ich habe schon immer einen großen Respekt vor der intellektuellen Redlichkeit des Herrn Rommel gehabt, auch wie sie in diesem Aufsatz zum Ausdruck kommt. Warum müssen aber Sie das beim Zitieren immer so machen? Ich meine, Sie treten langsam in die Fußstapfen von Herrn Kohl und Herrn Strauß. Die zitieren auch dauernd falsch, nicht wahr?
({30})
- Da mir das bei dem Kollegen von Weizsäcker schon ein paarmal passiert ist, muß man es auch einmal anhalten. Das gehört nicht zur Fairneß und auch nicht zur Liberalität, deren sich Herr von Weizsäkker dauernd rühmt.
({31})
Ich möchte noch einmal zu der Anrede an die Jungen, die uns zuhören, zurückkommen. Ich muß auch ihnen sagen, soweit sie mit der Hausbesetzerei sympathisieren, daß ich gar nichts Positives an solchen Aktionen dann finden kann, wenn es sich um junge Leute handelt, die zu Hause sehr gut gestellt sind, die einen billigen Altbau besetzen und möglicherweise anderen Wohnmöglichkeiten wegnehmen, denen es materiell sehr viel schlechter geht als ihnen selbst. Das große Tamtam um Hausbesetzungen, meine Damen und Herren, darf die Probleme der Fälle wirklicher Wohnungsnot, beispielsweise kinderreicher Familien, beispielsweise kinderreicher ausländischer Familien, nicht aus dem Bewußtsein verdrängen. Wer phantasievoll seine eigene Wohnungsfrage löst, dabei insgesamt die Öffentlichkeit verschreckt und deren Bereitschaft vermindert, an Jüngere oder an Studenten Zimmer oder Wohnungen zu vermieten, der muß sich fragen, was eigentlich die Auswirkungen seines Handelns sind.
Herr Kollege Kohl hatte gestern gemeint, der Bundeskanzler schließe sich der Tendenz an, völlig überflüssigerweise vor einer Kriminalisierung von Minderheiten zu warnen. Und er reiht mich in eine Kategorie von führenden Politikern der SPD und der FDP ein, die sich angeblich durch Kritik an Staatsorganen bei den Demonstranten anbiedern. Er zitiert dann aus einer Rede, aus derselben, aus der Herr Hillermeier positiv und zustimmend zitiert hat, unter Weglassung der ersten Hälfte des Satzes, die er hätte mitzitieren können, - abwertend und negativ unter Weglassung anderer Satzteile, die er hätte zitieren können. Was für eine christliche Fairneß ist das eigentlich?
({32})
Ich habe dort gesagt - und ich wiederhole das auch in Anrede an die Jüngeren in der Zuhörerschaft -, daß wir, die wir hier versammelt sind - und ich zitiere wörtlich - „keinesfalls Gewalt tolerieren wollen, weil wir alle wissen, daß wir das gar nicht dürfen. Das ist uns vom Grundgesetz her verboten." Ich bleibe bei dem Wortzitat:
Es wäre jedoch eine Selbsttäuschung, zu meinen, daß die Stabilität unserer Gesellschaft langfristig gewahrt werden könnte, wenn man größere Gruppen von Jugendlichen in ein Außenseiterdasein abdrängt oder sie mit ihren Problemen alleinläßt. Auch Bürgergesinnung ist auf die Dauer nichts Gegebenes. Auch sie muß in jeder Generation neu erwachsen, neu erzogen, neu gefestigt werden.
Nun kommt der Satz, den Sie, Herr Kohl, oder Ihr Zettelkastenverwalter allein herausgegriffen haben:
Die Kriminalisierung einer Minderheit, z. B. durch ein Instrument wie die Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts, erscheint mir kein geeignetes Mittel, Bürgergesinnung zu erwekken oder dazu zu erziehen.
Ich füge heute abend hinzu: Wer mit härterem Polizeieinsatz oder mit verschärftem Demonstrationsstrafrecht, wie man sagt, gegen Hausbesetzer und Demonstranten vorgehen will, der kann allzuleicht Bürgersinn zerstören oder die Fähigkeit, sich selbst dazu zu erziehen, abschneiden.
({33})
Wer rechtsstaatlich fragwürdige Massenverhaftungen zum Zwecke des Exempelstatuierens verantworten will, der erschwert überall im Land den Dialog, das Hören und Zuhören. Wer die Untersuchungshaft als Selbstzweck und ohne konkreten Tatbezug sozusagen als pauschales Abschreckungsmittel einsetzen möchte - ich rede im Konjunktiv -, einsetzen würde, der diente dem Rechtsfrieden ganz gewiß nicht.
({34})
Wer Hausbesetzung und Terrorismus leichtfertig in einen Topf wirft, pflanzt unbesonnen und ohne Augenmaß Vorurteile in die öffentliche Diskussion, die die Verständigung zwischen Älteren und Jüngeren nur erschweren können.
({35})
Wer dem Regierenden Bürgermeister von Berlin unterstellt, daß er zur Auflösung des Rechtsstaats die Hand reicht, der verhärtet in Wirklichkeit Fronten, Herr von Weizsäcker, statt zur psychologischen Entspannung zwischen alt und jung beizutragen.
({36})
Hier ist vorhin auf einen bekannten Journalisten, Peter Boenisch, hingewiesen worden, der - die CSU-Stammleser der „Welt" werden sich gewundert
haben - vor einigen Tagen in der „Welt" geschrieben hat - ich zitiere das im Wortlaut -, es sei ein wenig beschämend, daß im Lande Kants und Hegels über Gummiwuchtgeschosse und Tränengas diskutiert wird, statt daß wir uns so intensiv wie die Eidgenossen mit den geistigen Grundlagen der Misere beschäftigen.
({37})
- Das trifft Sie und uns alle und mich auch, damit wir uns recht verstehen. Das trifft uns alle.
({38})
Herr Kollege Kohl, genau wie es die ganze SPD und die ganze FDP trifft, trifft es auch die ganze CDU. Vielleicht fühlt sich sogar die CSU betroffen. Es ist nicht so, wie der Herr Kollege Kohl vorhin gemeint hat, daß diese Erscheinung, über deren geistige Grundlagen - ich würde sagen: psychologische Grundlagen -, wie Herr Boenisch geschrieben hat, man nachdenken soll, erst in den elf Jahren der Koalition aus Freien Demokraten und Sozialdemokraten eingetreten sei, wie Sie dazwischengerufen haben. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Gewalttätigkeiten, die zum Tode von Benno Ohnesorg oder zum Attentat auf Rudi Dutschke geführt haben, in den 60er Jahren und nicht in den 70er Jahren passiert sind.
Das heißt, wir haben es in Wirklichkeit schon seit mehr als einem Jahrzehnt - und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa - mit einer eklatanten Unfähigkeit entweder der jungen Generation, sich an die vorgefundene Gesellschaft anzupassen, oder umgekehrt der Gesellschaft, sich an die Nöte der jungen Generation anzupassen, zu tun. Die Wahrheit wird wahrscheinlich irgendwo dazwischenliegen. Das dauert schon sehr lange, und das ist in sehr vielen europäischen Staaten bisher nicht geleistet worden, offenkundig auch nicht bei uns. Ich sehe keinen Sinn darin, wenn eine politische Partei versucht, gegenüber der anderen daraus taktische Vorteile für den einen Abend oder für den anderen Morgen herauszuziehen.
({39})
Ich habe mir viel Mühe gegeben - genau wie andere auch, genau wie der Regierende Bürgermeister von Berlin -, im Laufe der letzten Jahre mit vielen Menschen zu reden, um Einsicht zu gewinnen, und ich habe auch vieles gelesen. Mein Eindruck ist, daß einer der Gründe von vielen, die alle auszuführen heute abend nicht die Stunde mehr ist - wohl darin liegt, daß große Teile der jüngeren Generationen in Westeuropa mit großem ethischem Rigorismus nach neuen Werten suchen. Und wenn ihnen die neuen Werte dann gefunden zu sein scheinen, dann sollen sie am liebsten auch sofort in die Wirklichkeit umgesetzt werden, möglichst ohne Rücksicht auf die komplizierten Sachverhalte, die man eigentlich dabei bedenken müßte, die aber mit einem gewissen, verächtlich gemeinten Wort als abzulehnende „Sachzwänge" beiseite geschoben werden.
Das scheint mir eine Haltung zu sein, der man begegnen muß. Man muß in dem Gespräch mit dem nach Orientierung suchenden oder gar Orientierung gebenwollenden jüngeren Gesprächspartner ihm diese sogenannten Sachzwänge auseinandersetzen.
Herr von Weizsäcker hat vorhin gesagt, sie wollen leben, sie wollen nicht gelebt werden. Dieses Gefühl, gelebt zu werden - wenn ich Sie richtig zitiere; ich hoffe, daß ich das richtig behalten habe -, hängt ja zusammen mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein an vieles, was man nicht durchschaut. Es ist unsere Pflicht, möglichst viel davon durchschaubar zu machen.
Ich glaube, daß die Ursachen insgesamt vielfältig sind; viele sind verdeckt, manche sind unbewußt. Vielen Jugendlichen, die heute in einer Zeit unglaublicher materieller Sorglosigkeit aufgewachsen sind, unglaublich, wenn man es mit unserer eigenen Jugendzeit vergleicht, erscheint ihre persönliche Zukunft, wie sie zu konstatieren meinen, heute ökonomisch verdüstert. Andere wieder erfahren es als Widerspruch, daß man bei uns alles kaufen kann, während in der Dritten Welt Menschen verhungern. Das alles muß ihnen erklärt werden, und es ist kompliziert, das zu erklären. Sie müssen gezwungen werden, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie als Sachzwang beiseite schieben wollen. Und sie sollten anerkennen,
({40})
daß nicht alles einfach so gemacht werden kann, wie man es gern gemacht haben möchte. Das muß erläutert werden, ohne ihnen nach dem Munde zu reden.
Manchen jungen Menschen wird z. B. unsere Sicherheitspolitik, die Verteidigungspolitik dieses Staates, sehr verzerrt als Rüstungspolitik oder gar als Aufrüstungspolitik dargestellt, und manche fühlen sich dadurch bedroht. Junge Menschen haben überhaupt sehr viel Angst heutzutage. Es muß ihnen erläutert werden - und es darf ihnen dabei nicht nach dem Munde geredet werden -,
({41})
warum Verteidigung notwendig ist, warum sie so notwendig ist
({42})
und worin die Gefahren liegen. Das gilt für die ökonomischen Zusammenhänge nicht minder.
Dabei wird sicherlich eine wichtige Rolle spielen, daß die älteren Generationen subjektiv völlig andere Erfahrungen gemacht haben. Wir sind in einer anderen Welt groß geworden als die, die heute groß werden. Und daß wir das geistige Chaos, das moralische, das sittliche, das materielle Chaos der Hitlerzeit und des Krieges erlebt haben und daß wir alles das, was seither geschehen ist, als eine unglaublich positive, von uns damals überhaupt nicht erwartete positive Veränderung empfinden, das kann naturgemäß ein Fünfundzwanzigjähriger oder ein Dreißigjähriger überhaupt nicht nachempfinden. Für den sieht das ganz anders aus. In diesen völlig verschie1256
denen Erfahrungen liegt eine der Schwierigkeiten des Dialogs.
Die Bereitschaft zum Dialog, die wir hier gegenseitig von uns fordern, muß man dann allerdings auch von der Jugend fordern. Ich halte es moralisch für einen Tiefstand, wenn man immer wieder im Land - mir ist das viele Male begegnet - junge Menschen trifft, die einen niederzubrülllen versuchen, statt zuzuhören, was man vielleicht zu sagen hat. Wir sind ja unsererseits auch bereit, zuzuhören.
({43})
Zuhören heißt noch nicht zustimmen. Jetzt kommt das Zitat, das Herr Hillermeier nicht ganz richtig wiedergegeben hat. Ich meine, daraus, daß man zuhören soll, ergibt sich nicht notwendigerweise, daß man zustimmen soll. Keineswegs! Ich bin für das kontroverse Gespräch. Ich habe - da hat Herr Hillermeier recht - vor ein paar Tagen hier in Bonn gesagt: Ein Teil der aggressiven Jugend krankt in Wirklichkeit an dem Mangel an Zivilcourage bei den Erwachsenen, und man soll um Gottes willen als Erwachsener seine eigene Feigheit nicht als Toleranz camouflieren; Sie haben richtig zitiert. Aber Sie haben zwei Sätze weggelassen, die unmittelbar vorangingen. Die heißen so:
Zu solchem Gespräch gehört auch Festigkeit, und wo ein Nein geboten ist, muß es auch ausgesprochen werden, und wo ein Ja geboten ist, muß es auch deutlich zugegeben werden.
Dann kommt der Satz, den Herr Hillermeier zitierte.
Herr Vogel hat davon gesprochen, daß sich der Senat in Berlin selbst oder die Politik seiner Vorgänger korrigiert. Das kommt ja nicht so sehr oft in der öffentlichen Praxis vor, daß Politiker sich selbst korrigieren. Das ist überhaupt eine Seltenheit in Deutschland. In der Wissenschaft kommt es auch selten vor, daß sich die Professoren selbst korrigieren; wir wollen uns nicht allein an den Pranger stellen.
Eine der unter dem Aspekt der Jüngeren in Deutschland interessantesten Selbstkorrekturen ist in bezug auf den sogenannten Extremistenerlaß erfolgt - ich darf Sie daran einmal erinnern -, ein Zeichen dafür, daß diejenigen, die für diesen Staat handeln, durchaus auch zur Selbstkorrektur fähig sind.
({44})
Ich habe gesagt, Toleranz dürfe nicht zur Camouflage benutzt werden, als Versteck, in dem man sich verbirgt, damit man selber nicht ja oder nein sagen muß. Ich will am Schluß aber hinzufügen, daß Toleranz etwas ungemein Notwendiges ist. Aber Toleranz ist eben nicht nur gewähren lassen oder das Vernachlässigen dessen, was der andere denkt, glaubt oder sagt. Sondern Toleranz ist Achtung und
Geltenlassen der begründeten Werte, der begründeten Haltungen anderer - soweit diese anderen das Gesetz achten. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({45})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kohl.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen am Ende eines langen Debattentags, und ich bedauere nicht, Herr Bundeskanzler, daß die Möglichkeit gegeben ist, am Ende dieser Debatte über die Rechtspolitik in entschiedener, aber auch nachdenklicher Weise zugleich Standpunkte zu vergleichen und sich kritisch auseinanderzusetzen.
({0})
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, aber auch als der stellvertretende Vorsitzende der SPD Deutschlands, zu einigem von dem, was von Ihren politischen Freunden hier vorgetragen wurde, Position bezogen hätten. Es war ja wohl kein Zufall, daß Sie über weite Passagen Ihrer Rede den Beifall der Mitte des Hauses, aber keineswegs den Beifall Ihrer eigenen Fraktion gefunden haben.
({1})
Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, es ist zunehmend das Problem Ihrer Politik, daß Sie bei den Ihnen geeignet erscheinenden Gelegenheiten Positionen vertreten, die wir ganz und gar unterstützen können, daß aber die politischen Taten nicht folgen.
Und dann ist noch etwas, was bemerkenswert ist: Sie haben hier in der Tonart und gelegentlich auch in der Distanziertheit - bei allem inneren Engagement - über die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gesprochen, wie dies eigentlich nur ein Mann tun kann, der nach über einem Jahrzehnt die Bundesrepublik wieder betritt und eine Bilanz aufmacht. Sie haben nicht gesprochen wie der, der in den letzten elf Jahren in verschiedensten Funktionen und seit der Mitte des Jahrzehnts in der wichtigsten Funktion, der Funktion des Kanzlers der Republik, der die Richtlinien der Politik bestimmt, entscheidend Verantwortung dafür trägt, wie die Verhältnisse in unserem Land geraten sind.
({2})
Herr Bundeskanzler, es ist doch nicht wahr, und jeder, dem es um eine redliche Diskussion geht, kann Ihnen nicht durchgehen lassen, daß Sie jetzt so tun, als ob die Zunahme von Gewalt, die teilweise bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse, wie wir sie bei einzelnen Demonstrationen hatten, das Symbol der ersten 20 Jahre Bundesrepublik Deutschland waren. Nein, Sie haben 1969 ein geordnetes Staatswesen übernommen,
({3})
und, meine Damen und Herren, Sie haben heute eine Bilanz, die in allen Bereichen der Politik katastrophal ist.
({4})
Heute reden wir über die Rechtspolitik, und wenn wir über die Rechtspolitik reden - ({5})
- Herr Kollege Hirsch, Sie müßten es wirklich besser wissen - von früher und von Ihrer jetzigen Situation her.
({6})
Ich kann nur sagen: Wenn wir heute über die Rechtspolitik sprechen und hier ganz uneingeschränkt von jeder Seite deutlich gemacht wird, daß der Rechtsfrieden der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist, daß das Rechtsbewußtsein in bestimmten Teilen unserer Bürgerschaft brüchig geworden ist,
({7})
dann ist das doch das Ergebnis Ihrer Politik in diesem letzten Jahrzehnt, Herr Bundeskanzler.
({8})
Es ist doch das Ergebnis Ihrer Politik, wenn es bei uns so weit gekommen ist, daß das öffentliche Gelöbnis der Soldaten der Bundeswehr nur noch unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen möglich war und daß Ihr Bundesverteidigungsminister Apel jetzt vor dem Druck der Straße zurückgewichen ist und die Gelöbnisse abgesagt hat.
({9})
Es ist doch das Signum Ihrer Regierungszeit, daß in der Tat in vielen deutschen Städten und Landschaften viele Gebäude und Häuser widerrechtlich besetzt wurden, und es ist doch in Ihrer Amtszeit passiert, Herr Bundeskanzler, daß sich weit über 50 000 Demonstranten nach wochenlanger Aufforderung zu bürgerkriegsähnlichem Verhalten in Brokdorf versammelt haben.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie unseren Freund Gerhard Stoltenberg hier der Besonnenheit rühmen. Aber wie lange hat es denn gebraucht, bis Sie selbst fähig waren, in Ihrer eigenen Partei - wenn Sie es überhaupt waren - ein Wort der Vernunft dazu zu sprechen?
({10})
Und es passiert doch in Ihrer Amtszeit, Herr Bundeskanzler, daß bei solchen Demonstrationen regelmäßig mehr Polizeibeamte verletzt als Gewalttäter festgenommen werden.
({11})
Es ist doch das Ergebnis Ihrer Amtszeit, daß vielen Bürgern dieser Staat immer mehr als ohnmächtig erscheint.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nach der Debatte heute mittag das noch nachtragen: Herr Kollege Emmerlich, die, die darüber klagen, daß der
Staat seine Autorität verliere und daß die notwendigen Zusammenhänge zwischen Autorität und freiheitlicher Demokratie aufgelöst würden, sind ganz und gar außer Gefahr, neonazistische Gedanken vertreten zu können. Unsere Bundesrepublik ist nicht bedroht von der Gefahr des Neonazismus. Aus den Wahldaten, aus den Wahlergebnissen, aus all dem, was wir kennen, wissen wir genau, daß die Deutschen - quer durch alle politischen Gemeinschaften hindurch - die Lektion der Nazibarbarei gelernt haben. Wir wollen nie wieder zurück zu jener schrecklichen Zeit. Deswegen ist das heute nicht unser Thema.
Das Thema, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, ist, inwieweit ein freiheitlicher Rechtsstaat existieren kann, inwieweit Rechtsfrieden möglich ist, wenn die Autorität des Staates zerstört wird. Wir alle wollen mit jeder Faser unseres Wesens dagegenstehen, daß wir je wieder einen autoritären Staat haben. Aber wir wollen einen freiheitlichen Rechtsstaat, und der ist nur möglich mit der Autorität dieser Republik und dieses Rechtsstaats.
({12})
Verzeihen Sie. Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Nein.
Herr Bundeskanzler, es ist doch nicht zu übersehen, daß die Zunahme an Gewaltbereitschaft im Lande viele unserer Mitbürger tief verunsichert. Sie fragen: Wo bleibt der Staat; wo bleibt das Recht? Wie kommt es, daß viele - beileibe nicht alle, aber viele - junge Mitbürger in ihrer Ungeduld so brutal und in ihrer Verachtung des Rechts so leicht bereit sind, Gewalttäter als Hilfstruppen zu akzeptieren? - Dies ist eine Frage, die sich für uns alle stellt. Wir müssen nach den Ursachen forschen, weshalb in diesem - gemessen an anderen Ländern - so wohlhabenden Lande Bundesrepublik Deutschland Mißstände und Mangelerscheinungen für viele unserer Mitbürger Grund genug sind, ihre Anliegen so zu verfechten, daß es eine Subkultur von Gewalttätern geradezu einlädt, sich als Trittbrettfahrer der Gewalt zu beteiligen.
Meine Damen und Herren, ich warne vor jenen z. T. hier auch heute gegebenen Erklärungen, mit der in diesen Tagen serienweise „Persilscheine" verteilt wurden: Grund der Demonstration sei der Protest gegen die Wohnungsnot und die Gewaltaktionen seien von den Demonstranten unerwünscht, aber sie seien nicht zu verhindernde Begleiterscheinungen einzelner chaotischer Trupps. Herr Bundeskanzler, wir erwarten von Ihnen, wenn wir uns mit diesen Verhältnissen heute befassen müssen, ein Wort zu dem Tatbestand: Wenn es in der Bundesrepublik Deutschland 1981, 32 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, wieder Wohnungsnot gibt, dann ist das doch das Ergebnis Ihrer Politik, Ihres Versagens in diesen Jahren.
({0})
- Der Herr Bundeskanzler benimmt sich so, wie er sich zu benehmen beliebt; er sprach ja vom Beispiel, das wir den Jungen geben. ({1})
Aber Herr Bundeskanzler, die Wohnungsnot ist j a nicht die einzige Pleite Ihrer bisherigen Politik. Sie sprachen von den jungen Mitbürgern. Es sind eben viele Millionen junger Leute in der Bundesrepublik, die keine Zukunft sehen, die sich in Sachzwänge eingeengt wiederfinden, die glauben, daß ihre Zukunft ausgeplündert ist. Sie alle haben Grund zur Sorge, sie alle hätten auch Anlaß zum Protest. Aber sie bleiben Gott sei Dank auch im Zorn besonnen, sie bleiben Demokraten und sie machen ihre Loyalität zu unserem Staat nicht abhängig von Erfolg oder Mißerfolg der Regierung Schmidt.
({2})
Jeder demokratische Staat lebt von der Loyalität seiner Bürger. Er ist angewiesen auf ihre Bereitschaft, auch in schweren Zeiten Mißerfolge, Rückschläge zu ertragen, ohne daß die Kritik an der Politik gleich in eine Ablehnung der demokratischen Institutionen umschlägt. Diese Toleranz, Herr Bundeskanzler, diese Treue zu Staat und Recht, dieser Bürgersinn droht jetzt als Ergebnis Ihrer Politik verlorenzugehen.
({3})
Herr Bundeskanzler, ich warne Sie vor jenem f a-talen Irrtum, zu glauben, hier gehe es bloß um Quantitäten, um mehr Wohnungen, um die Beseitigung von Wohnungsnot. So einfach ist das nicht, weil es eben nicht um Quantitäten geht, um die sich Technokraten kümmern könnten, sondern um Qualitäten und geistige Führung und um Perspektiven für eine menschliche Zukunft. Die Wohnungsnot ist nur das auslösende Moment eines Protests, der sich in Wirklichkeit gegen die trostlose Perspektive einer technokratisch verwalteten, einer anonymen und immer kälter werdenden, einer unmenschlichen Welt richtet, für die seelenlose Wohnmaschinen unserer Betonzivilisation das ärgerliche Symbol geworden sind.
Es ist wahr, unser Staat tut viel für die Menschen, für ihre materielle und soziale Sicherheit. Aber die Betreuung, die Versorgung und die Bevormundung durch den Staat gehen auch vielen jungen Menschen längst viel zu weit.
({4})
In Ihrer Regierungszeit hat unser Staat viel mit Geld, Gesetzen und Behörden hantiert, aber er hat zu wenig Herz, zu wenig Einfühlungsvermögen für die immateriellen Bedürfnisse der Menschen gezeigt. Der eingezäunte Abenteuerspielplatz mit Benutzungsordnung und spielpädagogischer Betreuung, das ist das typische Produkt staatlich organisierter Kinderfreundlichkeit, das aus Ihrem Denken entsprungen ist.
({5})
Herr Bundeskanzler, ich habe Sie hier schon einmal darauf angesprochen - aber es hat sich in
Hamburg nichts geändert -: zu diesen Intentionen paßt, was ein Mitglied Ihrer Partei, die Leiterin des Hamburger Jugendamtes noch im September letzten Jahres zur Erziehung von Kindern sagte, als sie die Familienpolitik als ein Stück individualistischer Nostalgie bezeichnete, die sich an historischen Erfahrungen orientiere.
({6})
Das Ergebnis ist auch entsprechend.
In Ihrer Rede in diesen Tagen vor der FriedrichEbert-Stiftung haben Sie, Herr Bundeskanzler, mit Recht festgestellt- ich hoffe, ich zitiere jetzt mit Ihrer Zustimmung ganz richtig -:
Der Politiker - so sagten Sie trägt nicht nur Verantwortung für seine guten Vorsätze oder seine gute Gesinnung, sondern vor allem trägt er Verantwortung für die Folgen seines Handelns oder Unterlassens. Um es deutlicher zu sagen:
- so führten Sie aus er hat Erwünschtes genauso zu verantworten wie Unerwünschtes.
Ich kann dazu nur „sehr wahr" sagen. Aber ich frage mich manchmal: was denken sich eigentlich die vielen Sozialdemokraten, die jetzt so beflissen Verständnis zeigen für jugendlichen Protest, auch wenn er sich in gewalttätigster Form gegen die Ergebnisse Ihrer eigenen sozialdemokratischen Politik Luft macht?
({7})
Ich sage noch einmal: wer regiert eigentlich die Bundesrepublik Deutschland seit elf Jahren, wer bestimmt die Richtlinien der Politik? Wer ist denn vor elf Jahren mit voller Kasse aufgebrochen, um alles besser, schöner, gerechter und demokratischer zu machen?
Ich frage mich: woher nimmt eigentlich der Kollege Brandt den Mut,
({8})
wenn er in diesen Wochen bei der Debatte zur Regierungserklärung ohne die geringste Spur von Selbstkritik feststellte: ein Teil der jungen Generation, so sagte er, empfindet nun einmal Unbehagen aus ihrer Erfahrungswelt heraus gegenüber einer Gesellschaft, von der sie meint, sie sei zu einseitig, materiell, materialistisch orientiert.
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Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: wer hat denn den Materialismus zum ideologischen Programm in diesem Lande erhoben? Waren das Sie oder irgendein anderer?
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Dann bezeugen Ihre Freunde Verständnis für Protest. Sie bejubeln diffamierende Kritik. Aber sie fühlen sich offensichtlich persönlich nicht angesprochen, auch nicht verantwortlich. Schuld sind immer
die anderen: das Ausland, die Krise, die Unternehmer, die Länder in der Bundesrepublik, die Gesellschaft, das System. Meine Damen und Herren, ist Ihnen eigentlich nie der Gedanke gekommen, daß sich der jugendliche Protest gerade deshalb oft so ziellos, so allgemein, so ungeduldig und manches Mal auch in seiner Gewaltbereitschaft so undemokratisch äußert, weil ihm die Verantwortlichen ständig ausweichen, weil sie sich nicht zu den Folgen ihrer Politik bekennen, sondern sich stets nur auf ihre guten Absichten berufen?
Genau das, Herr Bundeskanzler, haben Sie doch heute hier wieder getan. Sie haben zum Thema „junge Generation" Gutes gesagt. Vieles von dem, was Sie gesagt haben, kann ich Wort für Wort übernehmen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir die Jungen nicht draußen vor der Tür lassen dürfen. Wenn ihr die Chance eigener Lebenserfüllung genommen wird, dann sind für diese Generation die Folgen unabsehbar und zerstörerisch. Wir würden die beste Energie unseres Volkes preisgeben, die wir haben: die Kraft und den Arbeitswillen der jungen Generation. Wir wollen nicht mutlose Frühgreise. Wir wollen nicht Artisten im sozialen Netz. Wir wollen eine junge Generation, die nicht vergißt, daß die nächsten helfenden Hände immer noch die eigenen Hände sind. Das muß man wieder einmal deutlich aussprechen.
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Manche aus dieser Generation versuchen auszusteigen. Der Weg in die alternativen Kulturen resultiert aus einem tiefen Pessimismus, aus Skepsis gegenüber Sachzwängen. Sie wollen Aufgaben und nicht eine einfache Welt.
Diese jungen Mitbürger, meine Damen und Herren, stellen vielfach die richtigen, oft die richtigen konservativen Fragen,
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die Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Richtung, in die das Gemeinwesen treibt. Aber sie entscheiden sich oft genug für Antworten, die in Wahrheit keine Antworten sind.
Dies alles hat tiefere Ursachen - wir sollten uns doch nicht vormachen, daß es nicht so sei - als die Kritik an Kernkraft oder Wohnungsnot. Die eigentliche Ursache ist, so glaube ich, das auch bei vielen der Erwachsenen, der Eltern dieser Kinder, feststellbare Gefühl: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Diese Mitbürger haben die Sorge, daß es der Politik, auch unserer Politik, in jeder Partei an der Sensibilität fehlt, Ursachen des Zweifels zu erkennen. Ich glaube, daß wir hier an einem Punkt unserer gesellschaftlichen Entwicklung stehen, an dem wir sehr grundsätzliche Wegentscheidungen zu treffen haben.
Wenn Menschlichkeit, wenn Fortschritt nach menschlichem Maß wirklich Ziel unserer Politik ist, dann müssen wir uns fragen, ob unser Land nicht in manchen Bereichen seiner wirtschaftlichen und technischen, seiner sozialen und politischen Entwicklung Irrwege gegangen ist. Es ist wahr: Wir haben viel Geld investiert, wir haben modernisiert, technisiert, bürokratisiert. Vieles ist dadurch effektiver, rationeller, bequemer geworden. Aber ich glaube, es gilt der Satz, daß das Leben in der Bundesrepublik Deutschland an Menschlichkeit verloren hat, an Geborgenheit und an Unmittelbarkeit.
Wir wissen - und auch das muß man unseren jungen Mitbürgern sagen -: Es führt kein Weg zurück zum einfachen Leben, schon gar nicht zum einfachen Leben für uns alle. Und das wollen wir in unserer Mehrheit j a auch gar nicht. Aber ich finde, wir sollten unsere Phantasie aufbieten, die politische und soziale Phantasie, um Fortschritt nach menschlichem Maß zu bewahren. Wir brauchen den Fortschritt, wir brauchen wirtschaftliches Wachstum, wir brauchen technologische Innovation. Nostalgische Rückbesinnung auf frühere - wie behauptet wird -, bessere Zeiten bietet keine Lösung für heute. Aber die Bewahrung einer lebenswerten sozialen Umwelt soll nicht weniger wert sein als der Schutz von Landschaften und Natur. Hier liegen gewaltige Aufgaben vor uns.
Herr Bundeskanzler, ich finde - und ich will es wieder aussprechen -, daß das Kernstück dieser Diskussion sein muß, ob wir wieder einen Konsens erzielen, ob wir wieder Gemeinsamkeit erzielen über die Grundlagen, über die politische Mitte, über die geistig moralische Struktur dieser Bundesrepublik Deutschland. Das ist, meine Damen und Herren, auch die Frage nach den Tugenden unseres Landes. Wir erleben es überall: Bürgerliche Tugenden, die unser soziales Zusammenleben bisher verläßlich geregelt hatten, wurden von einer Mentalität zurückgedrängt,
({13})
die ausdrücklich alles als erlaubt erklärt, was nicht ausdrücklich verboten ist, und die nur noch solche Pflichten anerkennt, die mit Rechtsmitteln erzwingbar sind.
Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts hat diese Situation kürzlich auf die kurze Formel gebracht: Es fehle in der Bundesrepublik Deutschland der Grundkonsens darüber, was man tut und was man nicht tut. Herr Bundeskanzler, diesen Konsens kann der Staat weder durch Gesetze noch durch Gerichtsentscheidungen ersetzen. Es wird jetzt deutlich sichtbar, daß jene, die die Tugenden als altmodisch verteufelt und den Staat als progressiv empfunden haben - sie haben ihn dann als Selbstbedienungsladen betrachtet -, sich getäuscht haben.
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Es wird sichtbar, wie wichtig, wie unverzichtbar diese Tugenden Menschlichkeit, Treue, Redlichkeit, Augenmaß, Toleranz und Gesetzestreue, Fleiß und Pflichtgefühl, Gemeinsinn und Eigeninitiative sind. Mit diesem moralischen Kapital unseres Landes sind Sie, Herr Bundeskanzler, in den letzten 11 Jahren genauso dilettantisch umgegangen wie mit den
öffentlichen Finanzen der Bundesrepublik Deutschland.
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Es soll sich doch niemand wundern, wenn sich gerade junge Mitbürger nach der täglichen Erfahrung, die sie machen, ganz so verhalten, wie es von den Alten - ungeachtet aller Appelle an Staatsgesinnung und Bürgerpflichten - gelernt haben, daß sie ganz gleichgültig dagegen sind, j a daß sie sie als Provokation empfinden.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein Wort zu den Berliner Hausbesetzungen und auch ein kurzes Wort zu dem sagen, was der Regierende Bürgermeister hier gesagt hat. Herr Regierender Bürgermeister, die Art und Weise - Richard von Weizsäcker hat mit Recht darauf hingewiesen -, wie Sie dieses Problem hier verharmlost haben, ist mehr als bedauerlich. In diesen Tagen hat eine Berliner Hausbesetzerin in der Zeitschrift „Radikal" folgendes geschrieben - ich zitiere -:
Wir kämpfen für den Abbau von Machtstrukturen. Wohnungspolitik begreifen wir als Teil unseres Kampfes für eine anarchistische Gesellschaft. Sanierungspolitik ist nur ein Teil unseres politischen Kampfes. Wir wollen keine Berufsinstandbesetzer sein, sondern streben langfristig eine Legalisierung an, um dann auf anderen Gebieten verstärkt zuschlagen zu können.
Ich glaube, ich habe Sie im Blick auf Ihre Äußerungen, auf Ihre Warnung vor einer angeblichen Kriminalisierung von Minderheiten richtig zitiert. Niemand von uns denkt daran, das Verfassungsrecht der Demonstrationsfreiheit in der Form einschränken zu wollen, wie es Ihre politischen Freunde, Herr Emmerlich, uns und anderen heute wiederum unterstellt haben. Wir wollen nur, daß der Rechtsfrieden und die Freiheit in unserem Land gewahrt werden.
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Wir wollen das Recht der Minderheiten ganz selbstverständlich garantieren - das ist ein Stück der politischen und demokratischen Kultur unseres Landes -, aber wir wollen nicht hinnehmen, daß über den Verfolg des Rechts der Minderheit das Recht der Mehrheit mit Füßen getreten wird.
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Gerade Ihre Äußerung über die Kriminalisierung von Minderheiten, mit der Sie sich hier soeben noch einmal identifiziert haben, trägt doch mit dazu bei, Herr Bundeskanzler, die notwendige, die ganz und gar unverzichtbare Trennungslinie zu verwischen zwischen denen, die friedlich und ohne Waffen das demokratische Recht wahrnehmen, ihre Meinung frei zu äußern, und jenen, die dieses Recht in gewaltsamer Aktion mißbrauchen. Die in diesen Tagen - auch in dieser Debatte - zu hörende Alternative, Zähne zeigen oder miteinander reden, ist falsch gestellt, weil sie eben alle in einen Topf wirft: die kriminellen Gewalttäter, die Sympathisanten der Gewalt und die friedlichen Demonstranten. Aber es bleibt doch den Demonstranten, es bleibt vor allem den Jungen unter den Demonstranten nicht verborgen, daß jene Gesprächsbereitschaft, die Sie dauernd signalisieren, etwas mit den chaotischen Begleitumständen ihres Protestes zu tun hat. Wenn es der Staat nicht mehr wagt, Gewalttäter zur Rechenschaft zu ziehen, wenn er opportunistisch zurückweicht, dann verstärkt er doch den Eindruck, daß ihn nicht Verständnis und Gesprächsbereitschaft, sondern Feigheit und Schwäche leiten.
Daraus folgt die fatale Lehre: Auf Argumente kommt es nicht an, aber das Recht des Stärkeren, die Macht der Konfliktfähigen wird respektiert. Nichts wäre schlimmer für die Zukunft der deutschen Demokratie, als wenn sich genau dieser Eindruck, der j a letztlich der Eindruck des Straßenräubers wäre, im Bewußtsein junger Bürger festsetzt. Wer politische Prämien auf gewalttätigen Protest setzt, der disqualifiziert Rechtstreue, Toleranz und auch den notwendigen Respekt vor demokratischen Mehrheitsentscheidungen.
Bei nicht wenigen - auch das will ich in dieser Debatte noch sagen - artet die Argumentation hinsichtlich des Begriffs der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu einer blanken Demagogie aus. Da werden Sachschäden auf die Zahl der Verhafteten umgerechnet. Demonstrationen im elften Jahr Ihrer Regierungszeit gelten dann als friedlich verlaufen, wenn 30 Polizisten - zum Teil schwer - verletzt wurden. Überhaupt vermittelt dann die politische Reaktion aus Ihrem Lager den Eindruck, als sei das Besorgniserregende an den gewaltsamen Ausschreitungen nicht die Zahl der verletzten Polizeibeamten und auch nicht das Ausmaß der Sachbeschädigungen am Eigentum gänzlich unbeteiligter Bürger, sondern einzig und allein die Festnahme von Demonstranten, denen Gewalthandlungen später nicht nachgewiesen werden können. Hier wird, wie wir es heute in der Debatte mit dem Kollegen Hillermeier in bezug auf den Freistaat Bayern erlebt haben, mitten in einem schwebenden Verfahren ein abschließendes Urteil gebildet, und Sie denken gar nicht daran, in wenigen Monaten, wenn sich all das, was Sie hier behauptet haben, als falsch erwiesen hat, hierher zu treten und das zu widerrufen, was Sie heute gesagt haben.
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Meine Damen und Herren, verunsichert sind heutzutage nicht die Teilnehmer an unfriedlich verlaufenden Demonstrationen; die mehr als 50 000 Demonstranten in Brokdorf ließen sich weder vom Verbot noch von der allgemeine Sorge, es werde zu schweren Ausschreitungen kommen, von der Teilnahme abhalten. Verunsichert sind heute auch und in erster Linie jene jungen Polizeibeamten, die für diesen unseren freiheitlichen Rechtsstaat ihre Pflicht tun.
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Schon nach den Bremer Krawallen hat die Polizeigewerkschaft im Beamtenbund erklärt, sie nehme mit Erbitterung zur Kenntnis, daß den Politikern zunehmend die Bereitschaft zu einer Änderung des Demonstrationsrechts fehle. Unsere Vorschläge lieDr. Kohl
gen seit Jahr und Tag auf dem Tisch, aber sie werden von diesem Tisch mit Ihrer Mehrheit weggewischt, mit der Mehrheit einer Koalition, die ein Rechtsstaatsverständnis vertritt, das einerseits dort liberalisiert, wo der Staat den Rechtsfrieden und die Freiheit aller zu schützen hätte, andererseits aber die staatlichen Eingriffsrechte im Bereich der partnerschaftlichen und mitmenschlichen Beziehungen,
so in Ehe und Familie, ständig ausweitet.
Meine Damen und Herren, niemand darf sich - und wir reden über Rechtspolitik - nach der widersprüchlichen Rechtspolitik dieses Jahrzehnts darüber wundern, daß viele junge Mitbürger ein Rechtsbewußtsein mit sich herumtragen, demzufolge die Verletzung der Rechtsordnung zwar nicht als legal, aber als durch moralische Motive legitimierbar gilt. Das ist das Ergebnis Ihrer Rechtspolitik in dieser Zeit!
({20})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Amtszeit sehr präzise und auch in sehr guter Weise zur Verteidigung des Rechtsstaates geäußert. Ich erinnere mich an Ihre Äußerungen beim Staatsakt für Siegfried Buback. Sie sagten damals: „Wir anderen, die wir die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes mit Zähnen und Klauen verteidigen wollen, wir, die große, überwältigende Mehrheit der Deutschen, wir haben das Grundgesetz und die sittliche Pflicht auf unserer Seite." Und Sie sagten damals auch: „Wer den Rechsstaat zuverlässig schützen will, der muß innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist."
Ich stimme dieser Ihrer Feststellung zu. Unser Problem ist, daß wir uns beim Abscheu über brutalen Mord noch einig waren; aber ich frage mich: Sind wir uns auch heute, zwar auf einem anderen Feld, aber auch auf einem Feld, das in Gewalt - und zwar nicht nur in Gewalt gegen Sachen, sondern auch in Gewalt gegen Personen - überzugehen droht, noch einig in der Verteidigung der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes, wissen wir uns in diesem Hause wirklich noch ganz einig in der sittlichen Pflicht, von der Sie sprachen, wenn es doch angeblich „nur" um Hausbesetzung oder gewaltsame Ausschreitung bei Demonstrationen geht? Können Sie, Herr Bundeskanzler, wirklich sicher sein, daß allen unter Ihren politischen Freunden bewußt ist, daß auch solche Anschläge Vorgänge im Sinne der Zielsetzung sind, die freiheitliche, den Rechtsstaat sichernde Ordnung unseres Grundgesetzes zu vernichten? Ich habe Zweifel. Ich zitiere wiederum den Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, der dieser Tage einen Artikel mit der Überschrift schrieb, „warum unser Recht immer unsicherer wird". Er ging so weit, zu sagen, daß heute zunehmend die Richterschaft tief verunsichert sei, und er nennt dafür viele Beispiele. Ich will zum Ende nur drei zitieren. Unsicherheit, so sagt er, werde erzeugt durch den Verlust an Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit des Rechts, durch einen allgemeinen Autoritätsverlust des Rechts, schließlich und vor allem durch den Verlust positiver verbindlicher Werte, letztendlich des Grundkonsenses darüber, was man tut und was man nicht tut.
Genau das ist das Kernproblem, das wir zu diskutieren haben. Es droht ein rechtsfreier Raum zu entstehen, in den Leute mit höchst fragwürdigem Demokratieverständnis vordringen und aus dem sich der friedenstiftende, der rechtssichernde Staat zurückzuziehen droht. Es ist schlimm, wenn in diesem rechtsfreien Raum offene Gewalt gegen Beamte dieses Staates geübt wird und das Eigentum unbeteiligter Bürger keinen Schutz mehr findet. Aber schlimmer noch und folgenreicher sind die Auswirkungen für die politische Kultur, für die Demokratie, für das Staats- und für das Rechtsvertrauen der Bürger.
Jeder, der den Grundsatz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel zitiert, muß sich fragen, ob Rechtsfriede, demokratische Toleranz, ob Rechtssicherheit und Vertrauen zum Staat nicht genauso wichtige Rechtsgüter sind wie die persönliche Freiheit des einzelnen. Er muß sich fragen lassen, ob er sich in der gegenwärtigen Diskussion nicht sehr kurzsichtig parteiisch auf die Seite derjenigen schlägt, die vorn Staat nur Rechte fordern, aber keine Pflichten mehr anerkennen wollen.
({21})
Meine Damen und Herren, die Frage liegt doch nahe: Wenn sich nun alle oder die Mehrheit aller Bürger so verhielten wie diejenigen, die sich über Demonstrationsverbote hinwegsetzen, Häuser besetzen und Demonstrationen durchführen und aus deren Mitte gewaltsame Ausschreitungen stattfinden? Die Folgen wären unübersehbar, gerade in den Zeiten, die vor uns liegen, wenn schwierige Entscheidungen zu treffen, wenn Opfer zu verlangen sind, wenn es weniger zu verteilen gibt. Wenn in dieser Situation Gruppen, die sich benachteiligt, vergessen oder überbelastet fühlen, die Erfahrungen auswerten, die gegenwärtig gewissermaßen als negative Staatsbürgerkunde vermittelt werden, dann, Herr Bundeskanzler, frage ich mich: Was dann? Gerade weil die Zeiten schwieriger werden, gerade weil die Epoche der Gefälligkeitsdemokratie vorbei ist, sind die Schlußfolgerungen wichtig.
Wir müssen uns, und zwar alle, konsequent und ohne jedes opportunistische Zurückweichen für die Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens, der demokratischen Ordnung einsetzen. Demokratische Ordnung setzt Sicherheit und Durchsetzung des Rechts gegenüber jedermann voraus. Nur so kann der demokratische Staat Vertrauen und Rechtstreue der Bürger bewahren. Das Recht darf nicht Vehikel ideologischer Gesellschaftsveränderung sein oder dazu mißbraucht werden.
Politik muß sensibel sein für Anfragen aus dem Kreis der Bürger. Technokratische Arroganz, bürokratische Dickfelligkeit dürfen keine Zukunft haben. Die Macher, meine Damen und Herren, werden sich zuerst einmal erklären müssen. Sie müssen mehr Überzeugungsarbeit leisten. Diese Überzeugungsarbeit kann nur Erfolg haben, wenn der Gemeinsinn der Bürger die Oberhand behält und wenn dem Egoismus der Gruppen und dem Rigorismus der Ideologen entgegengetreten wird. Gemeinsinn und Toleranz - das ist für uns selbstverständlich - sind
aber nur denkbar unter der Herrschaft des Rechts, unserem Rechtsfrieden.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Engelhard.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man könnte heute abend die Geschichte von einem Parlament schreiben, das auszog, eine bei der Regierungserklärung und bei den anschließenden Haushaltsberatungen versäumte rechtspolitische Debatte nachzuholen.
({0})
- Dachten die Rechtspolitiker. So hatten sie denn auch einen neu berufenen Bundesjustizminister aufgeboten, der in einer wohlabgewogenen Erklärung
({1})
sämtliche wesentlichen Bereiche der Rechtspolitik angesprochen hat. Am Anfang ging es dann auch noch ganz gut. Wir sind als Rechtspolitiker auch gar nicht so naiv, zu glauben, irgendwo im Wolkenkukkucksheim zu sitzen und in einer theoretisch-rechtspolitischen Disputation zu debattieren, sondern wir stehen schon mit beiden Beinen auf dieser Erde und wissen, daß es Ereignisse gibt.
({2})
Nur haben wir die Wucht dieser Ereignisse vielleicht etwas unterschätzt, eines vergangenen Ereignisses, das sich jüngst in Nürnberg zugetragen hat, und eines kommenden Ereignisses, das in Kürze in Berlin stattfinden wird.
Wegen dieser beiden Ereignisse war es dann eigentlich auch aus. Ich habe keine vorbereitete Rede gehabt,
({3})
aber ich hätte vielleicht auch gern etwas über die Frage gesagt, inwieweit unser Rechtsstaat in unbeschränktem Maße Rechtsgewährung bieten kann, inwieweit die Zahl der Richter in diesem Lande noch vergrößerbar ist. Ich hätte gern dem Herrn Kollegen Erhard etwas zum Eherecht gesagt und vielleicht auch zu dem wichtigen Thema der Betäubungsmittel.
Aber was soll's? Rechtspolitik ist, jedenfalls im Kern und wenn man es vernünftig anpackte und immer vernünftig angepackt hätte, auch das, was wir jetzt diskutiert haben, nämlich die Frage des inneren Friedens, der Demonstrationen, der Hausbesetzungen, der Neigung zur Ausübung privater Gewalt und der Aufgabe des Staates, den inneren Frieden zu sichern.
Herr Staatsminister Dr. Hillermeier kann im Moment wohl nicht anwesend sein.
({4})
Ich wollte mich an ihn mit der Frage wenden, ob er nicht bei allem, was diskutiert wurde, immer zumindest das Gefühl hatte, daß die Diskussion, die wir heute über diese Fragen einmal etwas grundsätzlich führen wollten, durch Nürnberg eminent schwierig geworden ist.
({5})
Ich will das mit allem Nachdruck sagen, weil ich zu jenen gehöre, die gerne Beweise auf dem Tisch haben. Ich spucke hier nicht irgendwelche Verdächtigungen in den Raum.
({6})
Herr Kollege, ich gehöre zu jenen, die es erschrekkend finden, wenn ernst zu nehmende Leute auch aus dem politischen Raum so mir nichts, dir nichts, da noch gar nichts Näheres bekannt ist, hingehen und davon sprechen, in Nürnberg seien Ermittlungsrichter „handverlesen" worden.
Was heißt das? Das bedeutet doch nichts anderes als den Vorwurf, auf Grund eines Fernschreibens aus der Bayerischen Staatskanzlei seien die Richter sortiert worden, es seien die vom Standpunkt der Staatsregierung aus „schlechten" Ermittlungsrichter nach Hause ins Bett geschickt und die vom Standpunkt der Staatsregierung aus „guten" Ermittlungsrichter aus dem Bett an die Schreibtische geholt worden, um ihres Amtes bei dem Erlaß von Haftbefehlen zu walten. Ein ungeheuerlicher Vorwurf im Rechtsstaat,
({7})
daß Betroffene ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden sind.
({8})
- Wir werden die Sache weiter untersuchen. Hier muß alles auf den Tisch. Ich bin jemand, der, solange etwas nicht nachgewiesen ist, nie einen derartigen Vorwurf erheben würde.
({9})
Im Gegenteil, ich war entsetzt, als ich der Presse entnommen habe, daß auch Mitglieder dieses Hauses nicht davor zurückgeschreckt sind, schon kurz nach den Ereignissen, als eine genaue Prüfung überhaupt noch nicht möglich gewesen war, derartige Vorwürfe zu erheben.
Nur eines wird Herr Staatsminister Dr. Hillermeier, der vielleicht nicht die persönliche Verantwortung trägt, der erst nachher mit diesen Fragen konEngelhard
frontiert wurde, nicht leugnen können: In Nürnberg ist bis zur Stunde ein böser Schein entstanden.
({10})
Und es ist schwierig, draußen über die Kraft und die Macht und die ungebrochene Fülle und das Augenmaß unseres Rechtsstaates zu sprechen, weil ein Aufhänger für alle geliefert wurde, die dieser Ordnung nicht wohlwollen, nun mit vollem Ton Laut zu geben und zu sagen, daß auch hier bei uns die Dinge nicht in Ordnung seien.
Dann gibt es Fragen, die beschäftigen Herrn Dr. Hillermeier. Das ist nicht meine Angelegenheit. Aber er wird zur Kenntnis nehmen müssen, wenn er eine andere Bewaffnung der Polizei verlangt, wenn gefordert wird, das Demonstrationsrecht neu und damit wieder im alten Sinne zu formulieren, den Landfriedensbruch in seiner alten gesetzlichen Form wiederherzustellen, daß Nürnberg genau das Ereignis war, an dem er nie vorbeikommt. Bis hinein in die CDU-regierten Länder wird gesagt werden, und auch Mitglieder Ihrer Fraktion werden sagen: Ja, alles, was recht ist, aber das wollen wir nicht; wie die Parteifreunde von der CSU in Nürnberg zugepackt haben, auch wenn alles Rechtens zugegangen ist, am rechten Augenmaß hat es gefehlt.
({11})
Solchen Leuten noch mehr Gesetze und bessere Waffen zu geben, dazu sind auch wir nicht bereit.
({12})
Pfiffig und schnell bei der Hand, wie ich Herrn Staatsminister Dr. Hillermeier kenne, wird er sagen: Was wollen Sie denn eigentlich? Mit Nürnberg habe ich für die heutige rechtspolitische Debatte jedenfalls so eine richtige Vorlage geschossen, ihr habt was zu reden gehabt. Aber dabei hat er natürlich die Berliner unterschätzt;
({13})
denn die haben sich nun redlich bemüht, den Berliner Wahlkampf hier in dieses Haus zu tragen. Auch von der zeitlichen Ausdehnung her ist dies gelungen.
({14})
Ich darf ausdrücklich sagen, daß beide Herren, die hier als Hauptstreiter aufgetreten sind, im Moment hier nicht mehr anwesend sein können. Herr Dr. Vogel - -({15})
- Mir ist nur berichtet worden, daß Sie, Herr Dr. Vogel, in aller Kürze weg müßten. Ich habe dies schon als gegebenen Tatbestand genommen. Herr von Weizsäcker hat mir mitgeteilt - ich sage es ausdrücklich -, daß er nicht mehr anwesend sein könne.
Noch ein Weiteres - und ich habe das vorhin privat Herrn von Weizsäcker gesagt -: Ich war zutiefst enttäuscht über seinen Beitrag.
({16})
Hier im Deutschen Bundestag Wahlkampf zu machen, ist legitim. Bei aller parteipolitischen Orientierung glaube ich - so weit kann ich über den eigenen Zaun schon schauen, um richtig zu empfinden, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin mit seinem Konkurrenten fair umgegangen ist;
({17})
er hat ihn wiederholt persönlich angesprochen -, daß in der Tat die Möglichkeit eines fairen Berliner Wahlkampfgesprächs in diesem Raum eröffnet war. Ich war deswegen über Herrn von Weizsäcker und seinen Beitrag enttäuscht, weil Herr von Weizsäcker ja als ein Mann geschätzt wird, der mit seinen politischen Gedanken über den Tag hinaus denkt. Er hat dies auch heute getan.
({18})
Allerdings ist er heute hier mit dem Ton des Verkünders eherner Glaubenssätze zum Rechtsstaat aufgetreten und hat diese Glaubenssätze mit ganz kleinkalibriger Schrotmunition für den politischen Wahlkampf in Berlin verquickt.
({19})
indem er ganz konkret Vorwürfe, daß der Rechtsstaat gefährdet würde, erhoben hat. Dies leuchtet mir als einem Nichtberliner nicht ein.
({20})
- Herr Kollege Kunz, es ist eine Sache, uns hier beherzigenswerte Grundsätze, wie sie Herr von Weizsäcker hier vorgetragen hat - von diesen Grundsätzen könnte ich viele voll unterzeichnen -, als etwas, das gesagt und bedacht werden muß, mitzuteilen.
({21})
- Darauf komme ich noch, weil Herr von Weizsäkker ja nichts vergessen hat. Fügen wir es gleich an dieser Stelle ein: Er hat auch nicht vergessen, hier das Ereignis um den Senator für Justiz des Landes Berlin mit abzudecken. Allerdings wäre es besser gewesen - er mußte sich diesbezüglich ja bereits durch den Herrn Bundeskanzler wiederholt hier ermahnen lassen -,
({22})
vollständig zu sein und gerade in aller Fairneß und als Christ nicht unerwähnt zu lassen, daß zunächst einmal der Senator für Justiz die Rechnung seines Vorschlages beim Landesparteitag ohne seine eigene, nämlich meine Partei gemacht hatte, die jenen Vorgeschlagenen eben nicht gewählt hat,
({23})
sondern die anschließend den Senator für Justiz zur Rechenschaft gezogen hat.
({24})
Er mußte sich rechtfertigen.
({25})
Er hat sein Verhalten bedauert und hat dies auch in unzweifelhafter Weise gegenüber der Fraktion im Abgeordnetenhaus und gegenüber seiner Partei zum Ausdruck gebracht.
({26})
Das nur zur Vollständigkeit, die Herrn von Weizsäkker in diesem Zusammenhang sehr gut angestanden hätte.
Was soll der Streit? Ich möchte es allgemeinverständlich noch einmal so zusammenfassen. Ich persönlich - wenn mir dieses zu sagen erlaubt ist - schätze Herrn von Weizsäcker aus vielen Beiträgen, in denen er mir - über alle parteipolitischen Grenzen hinweg - aus dem Herzen gesprochen hat. Man wird aber vorsichtig und wird künftig etwas genauer und mit einem gewissen Mißtrauen hinhören, wenn man auf der anderen Seite hört, daß diese ehernen Grundsätze eben nicht nur allgemeine Erkenntnisse sind, sondern ohne weiteres in Schußkugeln umgegossen werden können, die in einem Wahlkampf Verwendung finden, der dann nötigenfalls auch ganz parterre ausgetragen wird,
({27})
so parterre - ich setze dies fairerweise hinzu -, wie dies Herrn von Weizsäcker überhaupt möglich ist. Seine Möglichkeiten sind in dieser Hinsicht ja erfreulicherweise durchaus beschränkt.
({28})
Nun möchte ich - nicht etwa deshalb, weil das vielleicht so erwartet wird oder weil heute schon so viel gedankt wurde - dem Bundeskanzler für seinen Beitrag, den er hier geleistet hat, meinen Dank sagen. Diesen Dank muß ich mit der Behandlung dessen verbinden, was Herr Dr. Kohl gesagt hat, den ich überhaupt nicht mehr verstehe. Es ist erstaunlich, daß ein Oppositionsführer, obwohl rings im Saal soviel personelle Zielscheiben sitzen, auf die zu zielen und anschließend zu treffen doch ach so reizvoll wäre, es fertigbringt, sich genau jene Zielscheibe herauszusuchen, bei der man an diesem Abend schlechterdings nur danebenschießen kann.
({29})
Hat Herr Dr. Kohl eigentlich nicht bemerkt, daß der Bundeskanzler, dessen Ausführungen ich ja jetzt nicht zu wiederholen brauche und die ich ausgezeichnet gefunden habe, weil hier in der Person des Bundeskanzlers ein Mitglied dieses Hauses gestanden hat, das - ich weiß nicht, wie Sie es empfunden
haben - viel von dem ausgesprochen hat, was den ganzen Nachmittag über nie gesagt worden ist,
({30})
hat Herr Dr. Kohl eigentlich nicht bemerkt, wie die Ausführungen des Bundeskanzler im ganzen Hause Beifall gefunden haben, wie sie weithin auch mit Beifall aus Ihrer Fraktion bedacht worden sind?
Wir müssen zum Ende kommen; Sie weisen mich auf die Zeit hin. Ich werde zum Ende kommen und darf lediglich noch erwähnen, Herr Kollege Erhard, den Dank, den ich Herrn Kohl auszurichten bitte: Viele Mitglieder meiner Fraktion haben es als durchaus angenehm empfunden, zumindest Teile seiner Mannheimer Parteitagsrede hier noch einmal live und fast in Tuchfühlung miterleben zu dürfen.
({31})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Überweisungsvorschläge. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 9/183 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß, zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind angenommen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 5 abzusetzen.
({0})
- Nein, es wurde gesagt, er soll abgesetzt werden. Dann müssen sich die parlamentarischen Geschäftsführer untereinander einigen. Ich stelle den Punkt einstweilen zurück und fahre in der Tagesordnung fort.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 9/210 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Bötsch Dr. Emmerlich
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort anderweitig begehrt? - Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 9/210, zu der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 97/80 eine Stellungnahme abzugeben, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Vizepräsident Wurbs
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Übersicht 1 des Rechtsausschusses ({2}) über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 9/162 Das Wort wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 9/162, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt zu den in der Drucksache aufgeführten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht abzusehen. Ist das Haus hiermit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte ({3}), Dr. Dollinger, Pfeffermann, Bühler ({4}), Neuhaus, Linsmeier, Lintner, Maaß, Weirich, Dr. Riedl ({5}), Dr. Köhler ({6}), Dr. Wörner, Sauter ({7}), Dr. Jenninger, Wissmann und der Fraktion der CDU/CSU
Bessere Bedingungen für den CB-Funk - Drucksache 9/128 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für das Post und Fernmeldewesen
Das Wort hat der parlamentarische Geschäftsführer Dr. Linde. Bitte sehr!
Herr Präsident! Ich stelle den Antrag, die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 5 ohne Debatte zu überweisen. Dieser Antrag erfolgt im Einvernehmen aller drei Fraktionen.
({0})
Offenbar besteht noch nicht Einigkeit, wie wir verfahren sollen. Dann fahre ich zunächst in der Tagesordnung fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung der Wirtschaftspläne des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1981 ({0})
- Drucksache 9/228 Wird das Wort zur Einbringung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort anderweitig begehrt? - Das ist auch nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache 9/228 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß und den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Dann komme ich noch einmal zu dem Tagesordnungspunkt 5 zurück. Es wurde interfraktionell vereinbart, die Vorlage unter diesem Punkt - Drucksache 9/128 - ohne Aussprache an den Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen zu überweisen. Wer dieser Beschlußfassung zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. März 1981, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.