Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/28/1982

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Die Sitzung ist eröffnet. Im interfraktionellen Einvernehmen wird vorgeschlagen, in der Woche vom 7. Juni 1982, in der bekanntlich am Mittwoch, dem 9. Juni, eine Plenarsitzung stattfindet, keine Fragestunde durchzuführen. Diese Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde muß nach § 126 unserer Geschäftsordnung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossen werden. Ich frage, ob das Haus mit dieser Regelung einverstanden ist? - Ich stelle fest, daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt. Dann ist das mit der notwendigen Mehrheit so beschlossen. Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf: Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. Mai 1981 - Drucksache 9/1607 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Ich darf das Haus fragen, ob es mit dieser Regelung einverstanden ist. - Ich stelle fest, daß das so ist. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau einem Jahr, am 26. Mai 1981, hat der Bundestag die Einsetzung der EnqueteKommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" beschlossen. Sie haben uns den Auftrag gegeben, Ursachen, Formen und Ziele des Protestes junger Menschen zu untersuchen. Darüber hinaus war es die Aufgabe der Kommission, Möglichkeiten zu prüfen, wie das Verständnis zwischen Jugend, Politik und älterer Generationen verbessert werden könne, und Wege aufzuzeigen, die geeignet sind, das, Demokratie- und Staatsverständnis junger Menschen zu fördern, die Lage der Jugend zu verbessern und Spannungen, die auf unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Einstellungen beruhen, abzubauen. Die Enquete-Kommission wurde am 2. Juli des vergangenen Jahres konstituiert und hat mittlerweile ihren Zwischenbericht vorgelegt, der nicht nur etwas zu den Hintergründen des Jugendprotestes sagt, ihn analysiert. Vielmehr wird auch versucht, in diesem Zwischenbericht Anregungen zu geben, wie wir, die wir politisch engagiert sind, dem Protest in Bund, Ländern und Gemeinden begegnen und wie wir Anliegen von Jugendlichen aufnehmen sollten. Die Kommission glaubte, nicht nur über Jugend, sondern vor allem auch mit Jugendlichen reden zu sollen. Wir haben deswegen bei einer Anhörung im Parlament in Bonn mit Vertretern der Jugendverbände, aber beispielsweise auch im Haus der Arbeiterwohlfahrt mit Jugendlichen aus den verschiedensten Protestgruppen oder in Berlin vor Ort mit Jugendlichen der verschiedensten Einstellungen diskutiert. Wir meinten, damit am ehesten Authentisches von dem aufnehmen zu können, was Jugendliche empfinden, was sie an uns kritisieren. Ziel war es also nicht, irgend etwas kosmetisch zu übertünchen, sondern ein einigermaßen gerechtes und wahres Bild über die Lage der Jugend in unserem Bericht niederzulegen. Entsprechend unserem Auftrag wollten wir eben vor allem die Probleme und die Anliegen der protestierenden Jugend hören und darauf unsere Antworten geben. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz nachdrücklich bei allen Kommissionsmitgliedern, den parlamentarischen Kollegen wie den Sachverständigen, für das immer konstruktive Engagement bedanken. Ich glaube, es kann uns ermutigen, daß es in Bonn möglich ist, bei allen Meinungsverschiedenheiten über Parteigrenzen hinweg gemeinsam etwas zu erarbeiten. Wir sollten diese Gemeinsamkeit bei der weiteren Behandlung dieses wichtigen Themas beibehalten. ({0}) Meine Damen und Herren, wir kamen zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem, was man als Probleme der Jugend bezeichnen könnte, nicht um den Ausdruck einer klassischen Generationenauseinandersetzung handelt, sondern daß der Problemteil dessen, womit wir uns beschäftigen, mehr widerspiegelt, nämlich eine tiefergehende Sinn- und Orientierungskrise in unserer Gesellschaft, die bei Jugendlichen nur deshalb besonders deutlich wird, weil Jugend schon für sich eine Phase der Unsicherheit, des Reifens und des Unabgeschlossenen darstellt. Das, was uns in den vielen Gesprächen in besonderer, ja manchmal in fast bedrückender Weise deutlich wurde, meine Damen und Herren, ist, wie viele Jugendliche ein hohes Maß an Zukunftsangst verspüren. Diese persönlichen Eindrücke, die wir sammeln konnten, wurden beispielsweise auch durch die sogenannte Shell-Studie, die vor einigen Monaten veröffentlicht wurde, belegt. Immer wieder haben uns Jugendliche in Gesprächen gesagt, wie sehr Jugendarbeitslosigkeit, Wirtschaftsprobleme, geringer gewordene Ausbildungs- und Berufschancen, Zerstörung der Umwelt, aber auch Sorgen um das Wettrüsten sie bedrücken. Meine Damen und Herren, wenn nach allen Untersuchungen, die wir vorliegen haben, Anfang der 70er Jahre mehr als 70 % der Jugendlichen noch sagten, sie schauten optimistisch in die gesellschaftliche Zukunft, während es heute nach allen Untersuchungen vielleicht noch 30, 35 oder 40% sind, dann ist das ein Verfall an Optimismus, über den wir alle selbstkritisch nachdenken müssen, selbstkritisch vor allem auch deswegen, weil ein eigenartiges Paradoxon die Einstellung der Jugendlichen zur Zukunft kennzeichnet, nämlich eine immer noch - trotz aller Berufs- und Ausbildungsprobleme - relativ hoffnungsvolle Erwartung in die eigene, ganz persönliche Zukunft, aber eine um so pessimistischere Einstellung gegenüber der gesamten gesellschaftlichen Zukunft. Wir müssen uns deswegen fragen, ob Politik, die nur den Tag verwaltet - ich sage das selbstkritisch an uns alle gerichtet -, in der Lage ist, die Ängste zu überwinden, oder ob wir nicht, um eben auch wieder mehr Hoffnung und Optimismus zu schaffen, Zukunftsperspektiven sichtbar machen müssen, die helfen können, Angst zu überwinden, zur Hoffnung zu ermutigen und auf diese Weise etwas von dem Pessimismus abzubauen, den ich hier soeben geschildert habe. ({1}) Ich möchte hinzufügen, daß mit der Sinn- und Orientierungskrise, von der ich hier gesprochen habe und die wir im Zwischenbericht dargestellt haben, vor allem zwei Dinge gemeint sind: Einmal wird gerade von jungen Menschen empfunden, daß Werte in unserer Gesellschaft eine zu geringe Rolle spielen. Technische Perfektion, eine manchmal als ungebremst empfundene Fortschrittsgläubigkeit und eine Vorherrschaft wirtschaftlicher Denkweisen haben unser Denken und Fühlen in den letzten Jahren zu sehr, wie ich meine, geprägt. Dieser Entwicklung hat auch die Politik nicht standhalten können. Sie strebte nach immer perfekteren Regelungen, alles umfassender Normierung, nach Kontrolle durch Gesetze, Verordnungen und Formulare und fand ihre eigene Sprache im Bürokratendeutsch. Freiräume, die Jugendliche suchen, Geborgenheit, Menschlichkeit, Zuwendung und Wärme, die sie immer wieder vermissen, wurden auf diese Weise zu sehr an den Rand gedrückt. Wir haben in den Gesprächen immer wieder spüren können, und zwar bei Leuten, die der Protestjugend zuzuzählen sind, aber auch bei vielen anderen Jugendlichen, daß Jugendliche bemängeln, daß die Menschlichkeit in unseren Beziehungen dem Götzen des technischen Fortschritts allzu häufig geopfert wurde. Es war nicht eine allgemeine Technik- oder Fortschrittsfeindlichkeit, die da feststellbar war, sondern es war die drängende Frage nach der humanen Dimension dieses Fortschritts. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir müssen alle selbstkritisch über die Frage nachdenken, ob eine allzu sehr verwaltete und allzu sehr als nur technisch perfekt empfundene Welt nicht ein Grund dafür ist, daß sich Jugendliche in diesem demokratischen Staat nicht so geborgen fühlen können, wie es auch in einer hochindustrialisierten Gesellschaft möglich sein kann, wenn wir bei allem Fortschritt Freiräume, kleinere Einheiten, überschaubare Räume schaffen und damit Menschlichkeit in den Beziehungen in unserer Gesellschaft, im demokratischen Staat möglich machen. ({2}) Ich glaube schon, wir können feststellen, daß nahezu alle Lebensbereiche vergesellschaftet wurden und unsere ganze Gesellschaft nach dem mechanischen Bauplan funktionaler Ziele konstruiert wurde. Wir Politiker haben Paragraphen für alle Eventualitäten und Wechselfälle des Lebens produziert und damit selber einen Beitrag dazu geleistet, daß unsere Welt immer komplexer, undurchschaubarer und unmenschlicher wurde. Sinn- und Orientierungskrise meint aber auch ein Zweites, meine Damen und Herren. Während die Aufbaugeneration der Nachkriegszeit ganz verständlicherweise darum bemüht war, alles zu tun, um Not und Hunger zu überwinden, und für sie ganz verständlich die materiellen Seiten des Lebens im Vordergrund standen, hat die junge Generation Wohlstand und Fortschritt als fast selbstverständlich hingenommen und fragt viel mehr nach der menschlichen Seite. Während die einen Wohlstand und Leistung in den Vordergrund rücken, fragen die anderen mehr nach Mitmenschlichkeit, Kreativität und Mitwirkung. Während die einen den alten Mangel, Not und Hunger, noch nahe vor Augen spüren und manchmal in der Gefahr sind, den neuen Mangel, den Mangel an Mitmenschlichkeit, zu übersehen, sind die anderen dabei, die humane Frage immer drängender auch an die mittlere und die ältere Generation zu stellen. Ich meine nicht, daß das ein unüberbrückbarer Gegensatz sein muß, sondern glaube, es müßte möglich sein, die Basis des materiellen Wohlstands, die viele dankbar empfinden, zu nutzen, um eine größere Konzentration als bisher auf die andere Seite unserer eigenen gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich auf mehr Mitmenschlichkeit, mehr Wärme, mehr Zuwendung, mehr Geborgenheit, mehr Kreativität, mehr auf all die Dinge zu lenken, die gerade auch von Jugendlichen als besonders wichtig empfunden werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den Gesprächen aber auch eines gemerkt, von dem ich meine, es auch hier sagen zu sollen: Mit Schlagworten oder Etiketten läßt sich das Bild der Jugend in der Gänze nicht kennzeichWissmann nen. „Die" gewalttätige, „die" protestierende, „die" aussteigende Jugend gibt es nicht. ({3}) Neben Aussteigern und Hausbesetzern gibt es auch die große Zahl derjenigen, für die ein harmonisches Familienleben und eine glückliche Ehe nach wie vor oberster Bezugspunkt ihrer Lebensgestaltung sind. Es gibt nach wie vor viele junge Menschen, die ihren Beruf als Berufung ansehen und in ihm Leistung erbringen wollen. Es gibt - das will ich hier feststellen - wie selten zuvor Jugendliche, die nicht nur von Mitmenschlichkeit reden, sondern sich auch im Sinne dieses Grundgedankens für andere engagieren. Ich wünschte mir manchmal, daß wir in der Politik, aber auch manche der Damen und Herren in den Medien nicht nur, wie wir es versuchen, ernsthaft und ohne billige Polemik auf die Probleme der Protestierenden eingehen, sondern auch sehen, daß es viele Jugendliche gibt, die sich in der Behindertenarbeit, in der Entwicklungshilfe, im Engagement für andere verwirklichen. Ich glaube, auch das gehört zum Bild „der" Jugend in Deutschland. Wir sollten dieses Bild nicht übersehen, ({4}) das die Gesamtheit mit kennzeichnet in einer Welt, in der sich Jugendinitiativen gerade darum bemühen, nicht auf eine Änderung von oben zu warten, sondern wieder stärker als zuvor selber anzupacken. Dies ist, deutlicher als bisher beschrieben, die Wirklichkeit in Jugendzentren, in Vereinen, in Kirchen, in Gewerkschaften und anderswo, überall dort, wo Jugendarbeit getrieben wird. Gerade auch im Hinblick auf die in der letzten Woche veröffentlichte INFAS-Studie möchte ich ein weiteres sagen. Meine Damen und Herren, wir sollten vorsichtig sein, die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen zu überschätzen. Umfragen, die mit Zahlen operieren und z. B. mit dem Ergebnis enden, 70 oder 74 % der Jugendlichen hielten Gewalt prinzipiell für etwas Legitimes, haben sich in unserer Arbeit und in dem, was wir an Material hatten, eigentlich nicht bestätigt. Natürlich gibt es die Gewaltbereitschaft kleiner Gruppen am linksextremen wie am rechtsextremen Rand, aber die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, auch die überwiegende Mehrheit der protestierenden Jugendlichen ist persönlich nicht zur Gewalt bereit. Ich glaube, wir sollten kein Bild zeichnen, das einem Horrorgemälde entspricht und das eine falsche Wirklichkeit von dem wiedergibt, was Jugendliche empfinden ({5}) und was sie selbst für richtig und notwendig halten. Wir haben im Kommissionsbericht, erfreulicherweise einmütig, ein klares Bekenntnis zum staatlichen Gewaltmonopol abgelegt. Wir haben klar gesagt, daß wir auch im Gespräch mit Jugendlichen immer wieder klarmachen müßten, wo notwendig auch im Widerspruch, daß eine Gesellschaft, die auf das Gewaltmonopol des Staates verzichten würde, auf Dauer zu einer Ellenbogengesellschaft würde, in der nur der Stärkere sein Recht schließlich durchsetzen kann. Bei allen Unterschieden, die wir in der Kommission zum Thema Amnestie festgestellt haben, ist es, glaube ich, doch wesentlich, daß wir hier gemeinsam klargemacht haben, daß ein Staat, der gerade auch dort, wo es um Jugendliche geht, um mehr Gerechtigkeit bemüht sein muß, nicht auf das Gewaltmonopol verzichten kann, weil am Ende einer Aufgabe dieses Monopols nicht mehr, sondern weniger Gerechtigkeit gerade für die Benachteiligten in unserer Gesellschaft stehen würde. Meine Damen und Herren, so sehr wir sagen, Gewalt werde häufig überschätzt, sollten wir ein Phänomen nicht übersehen, das uns alle nachdenklich machen muß, nämlich daß es in letzter Zeit eine zunehmende Minderheit gerade von benachteiligten Jugendlichen gibt, die eher als früher bereit ist, selbst notfalls auch Gewalt anzuwenden. Wir haben die Sorge, daß eine Situation, wie wir sie beispielsweise 1981 in Brixton in Großbritannien gehabt haben, wo nicht der Protest am technischen Fortschritt, an der Perfektion eines Wohlstandsstaates artikuliert wurde, sondern eher der Protest an der sozialen Ghettosierung benachteiligter Jugendlicher ausgebrochen ist, auch irgendwann zu einem Problem in unseren Großstädten werden könnte, wenn wir uns nicht ernsthafter als bisher um die Probleme arbeitsloser Jugendlicher und ausländischer Jugendlicher bemühen. Mit anderen Worten: Wir sollten bei diesem Problem nicht wie in der Vergangenheit erst dann reagieren, wenn der Protest bereits explodiert ist, sondern sollten bereits jetzt erkennen, daß sich hier ein Potential entzünden kann, ({6}) das zu dem bisherigen Protest hinzukommen könnte. Unsere Forderung ist also - einige Kollegen werden dazu nachher im einzelnen sprechen -: Lassen wir nicht deswegen, weil im Moment noch keine Fensterscheiben klirren, das Thema der ausländischen und arbeitslosen Jugendlichen einfach außer Betracht, sondern kümmern wir uns mit Reden und mit Taten mehr als bisher gemeinsam über Parteigrenzen hinweg, gerade auch um diese Konfliktstoffe, bevor die Fensterschreiben klirren! ({7}) Wir hätten dann einer vorausschauenden Aufgabe, wie ich meine, Rechnung getragen, um die wir uns mehr als bisher kümmern müssen. Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, von diesem Gesichtspunkt zu den weiteren Lösungsansätzen überleiten, die wir angesprochen haben. Wir haben bewußt gesagt, wir dürften nicht die Illusion nähren, es gebe einen Ausstieg aus einer hochentwickelten Industriegesellschaft. Aber wir haben sozusagen den Gedanken von Hermann Lübbe, den er immer wieder schreibend und redend zum Ausdruck bringt, betont: Gerade in einer komplexen und undurchschaubar gewordenen, manchmal auch bürokratisierten Welt bedürfen vor allem Jugendliche mehr als bisher des Halts der Orientierung und der Geborgenheit. Deswegen kommt durch die ganzen Lösungsansätze immer wieder der Gedanke hervor: Stärken wir Bindungen, statt Bindungen zu zerschlagen, stärken wir kleine Einheiten, statt immer neue Mammutorganisationen aufzubauen, stärken wir persönliche Freiräume oder, mit anderen Worten, sorgen wir dafür, daß Subsidiarität und Toleranz in unserer Gesellschaft, in Bund, Ländern und Gemeinden wieder stärker vom Bereich der Programme in den Bereich der Taten übergeführt werden, um Entscheidungen von oben nach unten zu verlagern! Nicht die Mammutschule und nicht der Mammutstädtebau, sondern das menschliche Maß an Schule sowie in Städte- und Wohnungsbau sollten das Charakteristikum der Politik in der Zukunft werden, ({8}) wie ich finde, über Parteigrenzen hinweg in allen unseren Vorschlägen und in unserem Engagement. Ein letzter Bereich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben ganz bewußt gesagt: Wir sollten die Anliegen Jugendlicher, auch in der offiziellen politischen Diskussion, ernster als bisher nehmen und sollten Alternativen, wie sie beispielsweise zu verschiedensten Bereichen, auch der Außen- und Sicherheitspolitik, gemacht werden, in unserer Diskussion aufgreifen - allerdings nicht, indem wir ihnen bedingungslos folgen. Der Widerspruch gehört dazu um im Gespräch mit Jugendlichen ernstgenommen zu werden. Es wäre ganz töricht, zu fordern, opportunistisch und kritiklos allem zu folgen. Der Denkstil in Alternativen, die Bereitschaft, gegenüber Herausforderungen aus der Jugend offen zu sein, gehören meiner Ansicht nach genauso zur Diskussion wie die Bereitschaft, dort mutig Widerstand zu leisten, wo wir nach Prüfung von Forderungen aus der Jugend diesen Forderungen nicht folgen können. ({9}) Ich glaube, wir sollten beides stärker als bisher tun. Unter dieser Überlegung haben wir auch ein Thema angesprochen, das im Bundestag bisher strittig war. Wir haben eine einmütig getragene Formulierung zur Neuregelung der Kriegsdienstverweigerung in unseren Zwischenbericht hineingeschrieben. ({10}) Als erstes interfraktionelles Gremium schlagen wir Ihnen vor, daß sich die Fraktionen darauf einigen mögen, das Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer abzuschaffen ({11}) und entsprechend den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts die Dauer des Zivildienstes angemessen zu verlängern. Wir haben, weil wir auch um die faktischen Probleme wissen, hinzugefügt, daß gegebenenfalls durch eine Vermehrung der Zivildienstplätze sichergestellt werden muß, daß jeder Kriegsdienstverweigerer seinen Zivildienst leistet. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie namens der ganzen Kommission bitten, daß wir uns auf allen Seiten gemeinsam bemühen, aufeinander zuzugehen und den gelegentlichen Kleinkrieg in dieser Frage einzustellen, ({13}) weil ich meine, wir werden gerade auch an einem solchen konkreten Punkt gefragt sein, wenn es darum geht, mit unseren Vorschlägen und gelegentlich auch mit unseren Lernprozessen glaubwürdig zu sein. Lassen Sie mich sozusagen als Zwischensatz aber noch dies hinzufügen: So wie beispielsweise hier eine Lösung gefordert wird, so erwarten von uns auch viele junge Wehrpflichtige, daß wir nicht übersehen, daß auch dort gelegentlich die Gefahr besteht, daß wir eine große Gruppe von Jugendlichen schlichtweg übersehen und dann noch Beiträge leisten, um ihre soziale Lage zu verschlechtern. ({14}) Ich meine, wir sollten gemeinsam nicht erst dann sensibel werden, wenn irgend jemand lautstark seinen Forderungen gegenüber dem Parlament oder anderswo Nachdruck verleiht, sondern wir sollten früher sensibel sein, auch und gerade dann, wenn Jugendliche, ohne lautstark zu sein, Forderungen haben, die wir als berechtigt empfinden müssen. Wir sollten dann auch entsprechend diesen Forderungen handeln. ({15}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, viele Jugendliche erwarten von uns nicht nur politische Grundsätze und eine Veränderung unserer Mentalität. An bestimmten Punkten - ich sagte es eben schon - müssen wir auch Widerspruch leisten. Sie erwarten von uns auch - in weiten Teilen, wie ich meine zu Recht - eine Änderung des manchmal praktizierten politischen Stils. Deswegen hoffe ich, daß wir in der Debatte heute morgen bei allen Unterschieden, die wir haben werden und die wir in der Schul- und Familienpolitik, in der Amnestiefrage auch im Zwischenbericht festgestellt haben, versuchen, dieses Thema nicht parteipolitisch zu verhackstücken, sondern daß wir uns gemeinsam überlegen, wie wir Ansätze aus dieser Diskussion in allen Parteien selbstkritisch aufnehmen sollten. Deswegen täte niemand gut daran, wenn er sich hier selbstgerecht hinstellen und dem jeweils anderen die ausschließliche Schuld für Probleme im Umgang mit einem Teil der Jugend zuschieben wollte. Ich glaube, daß wir alle beginnen sollten, einen Lernprozeß an den Punkten zu starten, in denen sich in der Politik in Stil und Inhalt auch in Bonn etwas verändern kann, aber, wie ich finde, nicht nur in Bonn, sondern auch in Bund, Ländern und Gemeinden. Darum möchten wir Sie bitten. Deshalb bitten wir Sie um Zustimmung und, wo notwendig, auch um Widerspruch. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen wir bitten vor allem darum, daß unsere Anregungen auf einen fruchtbaren Boden im Deutschen Bundestag fallen und daß wir einiges davon in die politische Wirklichkeit umsetzen können. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hauck.

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele Jugendliche bedrückt die Angst, ob man in der Zukunft überhaupt noch ein lebenswürdiges Dasein führen könne und ob die Welt in Zukunft für Menschen noch bewohnbar sei. In dieser Angst um ihre Zukunft äußern sie den Verdacht, daß die Erwachsenen, die heute die Entscheidungen für die Zukunft treffen, ihrer Verantwortung für die Erhaltung menschenwürdiger Lebensbedingungen nicht gerecht würden. Auf der anderen Seite seien sie selbst von wirklicher Mitsprache und Mitentscheidung ausgeschlossen, obwohl sie diese sich abzeichnenden bedrohlichen Fehlentwicklungen „auszubaden" hätten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist diese Aussage des Zwischenberichts der Enquete-Kommission nicht ein alarmierendes Signal für uns alle? Können wir uns denn noch lange den Tatsachen verschließen, daß Arbeitslosigkeit und generelle Verschlechterung der Ausbildungssituation, zunehmende Zerstörung der natürlichen Umwelt, fortschreitendes Wettrüsten und zunehmende Kriegsgefahr, weitere Einengung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten durch Vermarktung aller Lebensbereiche, Probleme wachsender Minderheiten in der Wohlstandsgesellschaft als Hauptursachen für die Zukunftsangst junger Menschen zu betrachten sind? Ich weiß, daß man bei solchen Feststellungen schnell bei der Hand ist, sie als grundlos, überzeichnet und pessimistisch abzutun und dann zur Tagesordnung überzugehen. Aber eine solche Handlungsweise dürfen wir nicht zulassen. Ich stelle mit Nachdruck fest, daß hier in diesem Hause, an dieser Stelle in den letzten drei Jahren führende Politiker aller Fraktionen ihre Furcht, ihre Angst und Sorge über die Zukunftsentwicklungen in allen Politikbereichen artikuliert haben. Und wenn in unserem Lande der Bundeskanzler, Ministerpräsidenten, Minister, Oppositionsführer, Oberbürgermeister und Landräte auf den jeweiligen Ebenen unseres Gemeinwesens ihre Zukunftsbefürchtungen aussprechen und um Verständnis, Mitarbeit und Opferbereitschaft werben, dann haben auch junge Menschen das Recht, ihre Ängste und Sorgen, auf die Zukunft bezogen, hinauszurufen und Gehör und Berücksichtigung zu verlangen. ({0}) Weil man in unserer hektischen, verbürokratisierten und unübersichtlichen Gesellschaft sich kaum Gehör verschaffen kann, wird der Aufschrei sehr oft zum Protest. So gesehen ist friedlicher Protest oft der Hilferuf vieler ohnmächtiger Individuen. - Dies ist, auf eine einfache Formel verkürzt, eine Erkenntnis, die ich aus der Arbeit der Kommission gewonnen habe. Dies ist aber nur eine Erkenntnis, und wer den Zwischenbericht aufmerksam liest, wird im Analyse-Teil und bei der Ursachenbeschreibung noch eine Vielzahl von anderen wichtigen Fakten und Details finden. Zweifellos ist vieles, was in dem Bericht gesagt wird, schon in anderen Untersuchungen festgestellt worden. Richtig ist auch, daß es eine Vielzahl von Publikationen zum Thema Jugendprotest und Jugendproblematik gibt. Aber ich frage: Wer von den politisch Verantwortlichen aller Ebenen hat sie gelesen, durchgearbeitet und in die Praxis umgesetzt? ({1}) So glaube ich, daß mit der Arbeit der Kommission nun eine auf die deutsche Situation bezogene Ausarbeitung vorliegt, die dem Vergleich mit den Eidgenössischen Studien und ähnlichen Arbeiten standhält und eine Handhabe für Politiker und für Interessierte in allen Bereichen darstellt. Wollen wir doch offen zugeben, daß man vor einem Jahr der Initiative der Koalitionsfraktionen von allen Seiten mit Skepsis begegnet ist. Ich selbst hatte Zweifel, ob die ausschließliche Fixierung auf den Jugendprotest umfassende Einblicke in die gesamte Jugendsituation überhaupt ermöglichen könnte. Der Zwischenbericht zeigt nun aber, wie dringend notwendig ein solcher Auftrag war. Der Berliner Oppositionsführer und damalige Regierende Bürgermeister, Dr. Hans-Jochen Vogel, einer der Initiatoren dieses Einsetzungsbeschlusses, unterstreicht die wichtigsten Aussagen und Wertungen der Kommission, die mit seinen Berliner und gesamtpolitischen Erfahrungen übereinstimmen. Er drängt übrigens - wie auch Ministerpräsident Johannes Rau - auf eine baldige politische Umsetzung. Als stellvertretender Vorsitzender der Kommission möchte ich es an dieser Stelle nochmals begrüßen, daß in dieser Kommission über Parteiengrenzen hinweg in einer sachlichen und kooperativen Art gearbeitet werden konnte. Wie Sie im vorliegenden Zwischenbericht sehen können, waren wir uns in weiten Teilen der Analyse der Ursachen jugendlichen Protests einig, und auch in den Ansätzen für Lösungen zeigt sich diese weitgehende Übereinstimmung. Ich hoffe, daß diese Übereinstimmung nicht nur beim Schlußbericht, sondern auch bei der Umsetzung der Vorschläge ebenfalls zu erreichen ist. Dabei sind wir dann über den Bundestag und über die Bundesregierung hinaus auch auf die Länder, auf die Gemeinden und auf andere Institutionen unseres Gemeinwesens angewiesen, und im Grunde genommen ist jeder einzelne zur Mitarbeit aufgefordert. ({2}) Eine wichtige Rolle spielt die Glaubwürdigkeit von Politikern für das Verhältnis der Jugend zum Staat. Gerade die Vorgänge um die sogenannte Spendenaffäre haben hier viel Vertrauen zerstört. Die Diskussion in unserer Fraktion ist nicht zuletzt unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit geführt worden. Wir haben uns deshalb nicht in der Lage gesehen, den damals im Gespräch befindlichen Gesetzesänderungen zuzustimmen. ({3}) Die von der Kommission geforderten klaren gesetzlichen Regelungen scheinen mir aber weiterhin von großer Bedeutung zu sein; man sollte sich interfraktionell einmal damit befassen. ({4}) Ein anderer Aspekt der Glaubwürdigkeit von Politikern ist der des Umgangs, den wir miteinander pflegen. In manchen Debatten im Plenum oder in manchen Beiträgen in der Öffentlichkeit werden nicht nur die Gegensätze zwischen den Auffassungen der einzelnen Parteien dargestellt, sondern es wird auch eine polemische Schärfe hineingebracht, die uns allen nur schaden kann. ({5}) Ich denke hierbei an die Debatten zur inneren Sicherheit oder zur Familienpolitik. Oder lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel bringen: Welche Eindrücke hinterlassen wir alle, wenn wir uns in aller Öffentlichkeit gegenseitig beschuldigen, der jeweils andere sei für die Kürzung des Taschengeldes verantwortlich ({6}) oder sei schuld daran, daß der Elternbeitrag für die Unterbringung behinderter Kinder so drastisch erhöht wurde? ({7}) Die Leute lachen uns doch aus, wenn wir ihnen die Kompliziertheit eines Vermittlungsverfahrens erklären wollen oder wenn wir ihnen die Prinzipien der Subsidiarität nach dem Bundessozialhilfegesetz erklären wollen! Sie stellen mit Recht fest, daß der Staat in Notlagen zuerst auf die Schwächsten zurückgreift und daß - so erscheint es zumindest denen draußen - wirtschaftlich und gesellschaftlich stärkere Gruppen kaum belastet werden. ({8})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kohl? - Bitte.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, sind Sie bereit, in Sachen Taschengeld und bezüglich anderer Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens vom Dezember, die Sie eben - wie ich finde, mit Recht - kritisiert haben, zu sagen, daß wir gemeinsam einen Fehler gemacht haben? ({0})

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kohl, lesen Sie bitte meine Rede nach! Ich habe gesagt: Was machen wir - ich habe an alle appelliert - für einen Eindruck, wenn wir das den Leuten draußen erzählen? Soll ich es wiederholen?

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Herr Kollege, ich frage ja nur, ob Sie der Aussage zustimmen, daß wir gemeinsam einen Fehler gemacht haben! ({0})

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wir alle!

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich eine Zusatzfrage stellen?

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Gestatten Sie eine Zusatzfrage?

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie dann auch damit einverstanden, daß wir gemeinsam - ich sage bewußt „gemeinsam" - damit aufhören, uns draußen in dieser Sache gegenseitig die Schuld zuzuschieben? ({0})

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja! ({0})

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich frage ja nur!

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kohl, ich stelle jetzt fest, daß ich allgemein gesprochen habe. Ich habe die Chance genutzt, hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu unterstreichen - Dr. Kohl ({0}): Ja, und ich versuche doch nur, die Chance zu unterstreichen! ({1})

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe versucht, hier im Plenum des Deutschen Bundestages so, wie wir es auch in der Kommission gemacht haben, an alle zu appellieren, draußen nicht polemische Schärfen hineinzubringen und sich nicht gegenseitig zu beschuldigen, denn die Leute verstehen das nicht, und uns wird Schaden zugefügt. ({0})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, haben Sie nicht gemerkt, daß ich genau das erreichen will? Ich will ja nur feststellen, ({0}) daß wir in diesem Augenblick gemeinsam festhalten, ({1}) daß wir gemeinsam einen Fehler gemacht haben und daß wir uns gemeinsam dazu verpflichten sollDr. Kohl ten, uns draußen nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben! ({2})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Abgeordneter Dr. Kohl, würden Sie die Antwort bitte am Mikrophon entgegenehmen.

Rudolf Hauck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das, was Sie am Schluß gesagt haben, war eine Feststellung, die ich nur noch einmal bestätigen kann. ({0}) Aber jetzt eine Bemerkung, die wohl gestattet ist: Wenn wir so in der Kommission gehandelt hätten, wären wir nicht weitergekommen. ({1}) Wenn wir alles, was schon klar und deutlich gesagt wurde, mißverstanden hätten, wären wir nicht weitergekommen. Die Glaubwürdigkeit der Politiker, Herr Kohl, wird auch dann gefordert, wenn es um das Verfahren zur Neuregelung des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung geht. ({2}) Als hier in der Jugendfragestunde dieses Thema nur genannt worden ist, ist sofort wieder ein inhaltlicher Streit entstanden. Auch ich habe das bedauert. Bei all diesen Themen wäre es mir angenehmer, wenn wir ungeachtet bestehender Meinungsverschiedenheiten bestimmte Grenzen der Auseinandersetzung einhalten könnten, damit das Gespräch zwischen den Parteien auch zukünftig möglich ist. Die Kommission hat in ihrem Zwischenbericht festgehalten, daß auch das Gespräch zwischen den Generationen in vielen Fällen Protestverhalten begünstigt, obwohl es sich nicht um einen Generationenkonflikt handelt. Es gibt durchaus Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen, die auf unterschiedlichen Lebenserfahrungen beruhen. Ich gehöre zu der Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg Sicherheit in materieller und sozialer Hinsicht gesucht hat und auf der anderen Seite stolz auf die von uns allen erreichten Leistungen gewesen ist. Ich weiß, daß viele die Fragen und die Ängste junger Menschen deshalb schwer verstehen können, weil hier Vergleiche mit Zeiten der Not und der Unsicherheit gezogen werden, die alle nicht gegenwärtig sind. Auf der anderen Seite habe ich volles Verständnis für die Kritik an den Mängeln unserer Gesellschaft, wie sie von vielen jungen Menschen vorgetragen wird. Wir sind stolz auf das Erreichte, und die junge Generation sieht sehr oft nur die Wunden und Schäden, die dieser Fortschritt in Natur, Landschaft und gesellschaftliche Bereiche hineingetragen hat. Das müssen wir doch sehen, und damit müssen wir uns auch auseinandersetzen. ({3}) Nicht nur das Gespräch zwischen den Generationen erfordert die gegenseitige Toleranz, die Bereitschaft, einander zuzuhören. Die Kommission hat in dieser Richtung Anstöße zu geben versucht. Sie hat sich bei ihrem Besuch in Berlin selber davon überzeugen können, mit welchen alternativen Projekten - sei es handwerklicher, sei es sozialer oder sei es gesellschaftlicher Art - gearbeitet wird. Sie hat deshalb vorgeschlagen, alternative Projekte unter bestimmten Voraussetzungen zu fördern. Die Bereitschaft zur Toleranz im Gespräch kann nach Ansicht der Kommission, und zwar der gesamten Kommission, zur Lösung der Probleme bei Hausbesetzungen beitragen. Die Kommission wird in ihrer weiteren Arbeit versuchen, dazu konkrete Aussagen im Sinne vertraglicher Lösungen zu machen. Grenzen findet die Toleranz jedoch, wenn es um Krawalle und um die Anwendung von Gewalt geht. Die Kommission hat im Zwischenbericht dazu nur kurz Stellung genommen. Sie hat aber eindeutig festgehalten, daß die Anwendung von Gewalt kein Mittel zur politischen Auseinandersetzung sein kann und sein darf. Erschrecken muß aber, daß Ausschreitungen von Fußballfans oder solchen, die sich darunter verstekken, jetzt auch politisch motiviert werden, wie am 1. Mai in Frankfurt geschehen. Auch wenn sich erweisen sollte, daß diese Krawalle nicht gesteuert, sondern zufällig waren, so deutet sich hier für mich doch an, daß Gewalt, die nicht politisch motiviert ist, unter Umständen in eine politische Richtung umschlagen, sich umwenden kann und dann für uns gefährdend wird. Das sollten wir ebenfalls beachten. Es könnte allerdings auch sein, daß diese Krawalle Anzeichen eines sich wandelnden Klimas sind, das von militanten Zügen geprägt wird. Die wachsende Ausländerfeindlichkeit, die sich bereits in solch scheinbaren Nebensächlichkeiten wie Türkenwitzen äußert, in Verbindung mit einer fortbestehenden Arbeitslosigkeit kann zu einer erheblichen Gefährdung des innenpolitischen Klimas führen. ({4}) Die Kommission sollte sich deshalb vor dem Endbericht intensiv dem Problem des Rechtsradikalismus zuwenden und auch fragen, ob nicht bei einem Teil der jugendlichen Arbeitslosen gerade in dieser Richtung Tendenzen feststellbar sind. In diesem Zusammenhang nehme ich auch Mitteilungen sehr ernst, daß in einigen Jugendzentren zunehmend von rechtsradikalen Gruppen Aktivitäten entwickelt werden. Ich hoffe, daß es sich hier nicht um die Spitze eines Eisberges handelt, sondern nur um Einzelerscheinungen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Pressekommentaren zum Zwischenbericht wird gelegentlich bemängelt, daß die Kommission den zahlenmäßigen Umfang des Protestes nicht genau beschrieben hat. Von solchen Angaben erwartet man natürlich Aufschlüsse darüber, wie groß das Verhältnis zwischen aktiv Protestierenden und der sogenannten normalen oder schweigenden Mehrheit ist. Lassen Sie mich dazu freimütig sagen, daß es mir zunächst nicht so sehr auf die Zahl ankommt, sondern vielmehr auf die Wirkung, die vom aktiven Pro6274 test auf den anderen Teil der jungen Generation ausgeht. ({5}) Wenn es in einer Studie des nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministers heißt, daß - ich sage das mit dem Vorbehalt, daß wir diese Studie in der Kommission noch genau prüfen - 66 % der Jugendlichen und 43 % der Erwachsenen erklären, daß Entscheidungen von Politikern nicht immer im Interesse des Volkes getroffen werden, wenn 68 % der jungen Menschen und 43 % der Erwachsenen dem Satz zustimmen, daß es den Parteien in erster Linie um die Stimme und nicht um das Anliegen der Bürger gehe, wenn 74 % der jungen Leute und 46 % aller Bürger Verständnis für Gewalt gegenüber gesellschaftlichen Institutionen zeigen, wenn es in ihren Augen um gerechtfertigte Forderungen geht, dann ist das auf lange Sicht gesehen eine Bedrohung unseres demokratischen Systems. ({6}) Wir müssen feststellen, daß sich hier Bürger nicht richtig vertreten fühlen. Dies ist eine alarmierende Feststellung. Ich sage noch einmal: Die Kommission - da sind wir uns einig - wird diese Untersuchung noch einmal prüfen und auch fragen, ob die Fragestellungen richtig waren; denn man kommt oft je nach der Fragestellung zu solchen Antworten. Ich sage das aber, weil es draußen publiziert wird und damit es hier einmal zugänglich gemacht wird. Ich habe selbst immer wieder die Frage gestellt: Ist der Protest eine Erscheinungsform, die das Gesamtverhalten der jungen Generation mit einschließt? Nach vielen Gesprächen mit jungen Menschen, mit Vertretern von Jugendverbänden, Jugendlichen aus Freizeitheimen und Teilnehmern an Tagungen der Jugend- und Erwachsenenbildung bin ich sehr nachdenklich geworden. Es besteht kein Zweifel darüber, daß sich eine große Mehrheit der jungen Generation in vielen Gruppen, Vereinen, Verbänden und Organisationen vielfältigster Art zusammenschließt und sich in unserer Gesellschaft engagiert. In den Jugendbildungsstätten wird gute Arbeit geleistet. Aber dies kann und darf doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch in dieser Mehrheit der jungen Generation die Probleme unserer Zeit erkannt und diskutiert werden. Wer sich z. B. im Natur- und Vogelschutz engagiert, wird doch irritiert, wenn er feststellen muß, in welch erschreckender Weise Natur, Umwelt und Tierwelt bedroht sind. ({7}) Wer als junger Mensch mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in aller Welt Kriegsgräber pflegt, fragt sich doch erschüttert, warum 37 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in allen Teilen der Welt neue Kriegsgräber ausgehoben werden. ({8}) Ich könnte viele Beispiele nennen und möchte dies zum Anlaß nehmen, die Stimme junger Menschen aus den Jugendverbänden genauso ernst zu nehmen, auch wenn diese nicht demonstrativ oder gar gewaltmäßig erhoben wird. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich auf die Forderung der Kommission hinweisen, daß Mittel für die Jugendförderung und für die Jugendbildung in Kommunen, Ländern und Bund weiter gesteigert und nicht gekürzt werden dürfen. ({9}) Von großer Bedeutung für die persönlichen Zukunftschancen junger Menschen sind jedoch Arbeit und Ausbildung. Die Probleme von Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz haben oder die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, können wir nicht nur unter dem Gesichtspunkt möglicher Anfälligkeit für radikale politische Tendenzen sehen. Die Sorge um die eigene Berufsausbildung und die Furcht davor, unter Umständen von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, prägen viele Jugendliche. Ihre Hoffnung auf eine gesicherte persönliche Zukunft in diesem Bereich, der für sie das Glück und die Zukunft und die Zufriedenheit bedeutet, ist von großer Bedeutung. Viele fühlen sich bedroht. ({10}) Unsere Gesellschaft kann sich nicht leisten, hier nicht alles zu unternehmen, um diesen Jugendlichen den Einstieg in die Gesellschaft zu ermöglichen. Wir haben deshalb in der Kommission eine Reihe von Maßnahmen zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze gefordert. Wenn wir in diesen Tagen erfahren, daß auf der einen Seite die Zahl der Ausbildungswilligen um 14 % gestiegen ist, daß auf der anderen Seite aber die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze sinkt, dann müssen wir zusätzliche überbetriebliche Ausbildungsplätze schaffen und auch entsprechend finanzieren. ({11}) In diesem Zusammenhang sollten unkonventionelle Initiativen wie die des Bundesverbandes der Lehrer an Berufsschulen ernsthaft überprüft werden. Dieser Verband hat in diesen Tagen vorgeschlagen, Jugendliche auch an Berufsschulen auszubilden. Ich sage einmal: so wie wir in der Medizin unkonventionelle Methoden zulassen, müssen wir auch hier neue Methoden prüfen. ({12}) Die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit wird natürlich nur im Rahmen der Beseitigung der allgemeinen Arbeitslosigkeit möglich sein. Hier ist nach meiner Auffassung in besonderem Maße die Solidarität derjenigen gefordert, die im Arbeitsleben stehen. Ich begrüße es, daß z. B. von einzelnen Gewerkschaften Modelle für Tarifverträge vorgelegt wurden, nach denen durch eine vorübergehende Kürzung der Lebensarbeitszeit Arbeitsplätze für Jüngere freigemacht werden sollen. Wir haben in der Kommission darüber gesprochen, aber keine einvernehmliche Aussage erreichen können. Wir werden diese Frage weiterhin prüfen. Von den Problemen im Ausbildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt sind insbesondere ausländische Jugendliche und junge Frauen betroffen. Ich bin der Meinung, daß die Kommission zu den Problemen dieser beiden Gruppen im Endbericht gesondert Stellung nehmen sollte, damit auch die Öffentlichkeit diese Probleme erkennt und damit Anstrengungen zur Lösung unternommen werden. Wir werden es uns nicht leisten können, es zu einer Situation wie in Großbritannien kommen zu lassen, wo farbige und weiße Jugendliche, die in vielen Fällen arbeitslos waren, auf die Straße zogen und es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen ist. ({13}) Der Zwischenbericht der Kommission nimmt noch zu einer Reihe von Problemen Stellung, die ich allerdings nicht in der mir zur Verfügung stehenden Zeit, die gleich abgelaufen ist, darstellen kann. Ich appelliere an alle, daß wir diese Vorschläge besprechen und sie umzusetzen versuchen. ({14}) Abschließend sei noch einmal festgehalten, daß wir folgende Probleme mit Vorrang angehen müssen und uns bemühen müssen, diese auch im Interesse unserer Glaubwürdigkeit durchzusetzen: Erstens ist die zügige Regelung des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung von Wichtigkeit. ({15}) Zweitens geht es darum, Maßnahmen zur Beseitigung des Mangels an Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen für junge Menschen zu treffen. ({16}) Drittens sollten wir eine große Allianz bilden, um die Probleme junger Ausländer zu vermindern und die wachsende Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen. ({17}) Der Zwischenbericht ist nur ein Anfang. Wie die Sache sich umsetzt, hängt von uns allen ab. Packen wir es an! ({18})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Ich erteile dem Abgeordneten Eimer das Wort.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zwischenbericht der EnqueteKommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" liegt nun vor. Wenn ich an die Skepsis denke, mit der die Medien diese Kommission begleitet haben, und - lassen Sie mich das dazu sagen - an meine eigene Skepsis, die ich auch in meiner Einbringungsrede im April 1981 ansprach, dann muß ich gestehen, daß ich über die Gemeinsamkeit bei der Analyse, aber auch bei der Zielsetzung überrascht bin. Natürlich sind die Methoden und Wege, diese Ziele zu erreichen, in unterschiedlichen Parteien teilweise auch unterschiedlich. Aber der Stil, mit dem in dieser Kommission gearbeitet wurde, zeigte mir jedenfalls, daß man Politik auch anders machen kann. ({0}) Ich hoffe sehr, daß der Zwischenbericht und die Diskussion der Teilnehmer der Kommission neben den sachlichen Aussagen auch die Stilfrage vermitteln können. Gleichzeitig möchte ich aber vor allzu großer Euphorie warnen, vor allem die jungen Menschen. Für die Aufgaben, die man uns gegeben hat, gibt es keine schnellen Patentrezepte. Die meisten Aufgaben, die anstehen, werden wir an unsere Kollegen in den anderen Ausschüssen weitergeben müssen, weil Politik für die Jugend nicht nur Aufgabe der Jugendpolitiker ist, sondern eine Aufgabe aller Politiker aus allen Politikbereichen. Das ist für mich auch eine der wesentlichen Aussagen, die der Bericht an unsere Kollegen aus den übrigen Fachgebieten weitergeben will und weitergeben muß. Ich will Ihnen dazu gleich ein Beispiel geben. Im Bericht ist die Frage nach der Amnestie im Bereich der Hausbesetzerszene angesprochen worden. Wir müssen zugeben, daß als Ursache für diese Besetzungen von Häusern ein eindeutiger politischer und sozialer Mangel vorlag. Das rechtfertigt natürlich nicht Verstöße gegen unsere Rechtsordnung. Die Mehrheit innerhalb der Kommission - und dazu zähle ich mich - meint, daß deshalb nach dem Vorbild der Amnestie von 1968 auch heute verfahren werden sollte. Weiter schreiben wir in dem Bericht, daß der Staat durch die Beseitigung dieses Mangels die Voraussetzung dazu schaffen muß. Diese Voraussetzung, nämlich die Beseitigung des Mangels, ist meiner Meinung nach gestern, zum Teil jedenfalls, durch die Änderung der Mietgesetze geschehen, auch wenn dies von Teilen der jungen Leute vielleicht nicht so schnell gesehen wird. Hier ist ein sehr deutlicher Zusammenhang: ein Problem, mit dem Jugendpolitiker konfrontiert werden, das aber nur von einem anderen Ausschuß gelöst werden kann. Ich bezweifle allerdings, daß dieser Zusammenhang Jugendlichen, die gestern der Debatte zuhörten, klargeworden ist. Sie wurden nicht angesprochen, obwohl doch dieses Thema sie in erster Linie bewegt. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Jugendlichen an diesem einen konkreten Beispiel zu zeigen, daß der Staat bereit ist, Mißstände zu beseitigen. Diese Sensibilität der Abgeordneten für Probleme der Jugend muß meiner Meinung nach steigen, vor allem auf Gebieten, die zunächst gar nicht so sehr nach Jugendpolitik ausschauen. Ich wende mich deshalb an meine Kollegen, dieses aufzunehmen und bei ihren Beiträgen zu allgemeinen Themen der Politik in Zukunft besser zu beachten. Jede politische Tätigkeit ist ein Gestalten der Zukunft und für die Zukunft. Wir müssen mit diesen unseren Tätigkeiten die Jugend ansprechen. Aber auch der nächste Schritt in dieser Frage, nämlich die Amnestie - und diese Frage bewegt ja Eimer ({1}) Jugendliche am meisten -, kann von Jugendpolitikern nicht gelöst werden, sondern ist in die Zuständigkeit eines anderen Ausschusses gegeben, in die der Rechtspolitiker. Deshalb wende ich mit mit einer Bitte an meine Kollegen aus dem Rechtsausschuß, daß sie diese Frage prüfen und uns helfen, hier den Jugendlichen entgegenzukommen, damit deren Zukunft in diesem Falle nicht verbaut ist, wenn sie sich einmal etwas zuschulden haben kommen lassen. ({2}) Dieses Beispiel aus dem Zwischenbericht zeigt aber auch - und da bitte ich vor allem jugendliche Zuschauer, dieses zu beachten -, daß die Enquete-Kommission keine Überkommission, kein Überparlament ist, das ohne weiteres Lösungen bringen kann, sondern daß das alles eine Aufgabe des gesamten Parlaments ist und daß wir von der EnqueteKommission in erster Linie diese Probleme unseren Kollegen nur näherbringen müssen. Mir hat ein junger Mann bei einer Anhörung gesagt: Vielleicht müßt ihr gar nicht so sehr eure Politik ändern; vielleicht müßt ihr sie nur anders darstellen. Ich will diese Gelegenheit benützen, nicht nur zu dem vorliegenden Bericht Stellung zu nehmen, sondern darüber hinaus vielleicht etwas anzusprechen und anzudeuten, was die zukünftige Arbeit dieser Kommission sein kann. Dieser Ausspruch des jungen Mannes soll mir jedenfalls dazu Anlaß sein. Ist es denn wirklich so, daß wir die Zusammenhänge in unserer Gesellschaft den Jugendlichen, aber auch den übrigen Mitbürgern noch deutlich machen können? Ich möchte drei Bereiche ansprechen, wo uns dies meiner Meinung nach nicht mehr gelingt. Das ist der Bereich der Technik, das ist der Bereich der Wirtschaft, das ist, so traurig es klingt, auch der Bereich der Demokratie. Die Technik wird heute sehr stark von zwei extremen Positionen aus betrachtet. Die einen empfinden sie als einen Dämon, der nur Böses bringt, und die anderen erwarten alles Heil von der Technik. Beides ist falsch. Gut oder böse ist immer nur der Mensch, der das Werkzeug Technik einsetzt, nie aber die Technik selbst. Wie will man Technik und die Auswirkungen der Technik auf die Gesellschaft richtig einschätzen, wenn - ich sage das einmal sehr provozierend -80 % der Deutschen nicht Aufzug fahren können? Das klingt vielleicht zunächst einmal recht überraschend. Aber ich bitte Sie, einmal obacht zu geben. Wenn es jemand am Aufzug besonders eilig hat, drückt er auf beide Knöpfe und meint dann, daß der Aufzug besonders schnell kommt, und er begreift gar nicht, daß es länger dauert. Wie will man, wenn man solche Kleinigkeiten, nicht durchschaut, bei schwierigen Problemen der Technik die Auswirkungen auf die Gesellschaft einigermaßen richtig einschätzen? Aber auch Einsichten in Zusammenhänge der Wirtschaft sind wenig bekannt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir unseren Bürgern viel zuwenig Gelegenheit geben, sich mit diesen Problemen zu beschäftigen und sich über diese Probleme etwas kundiger zu machen. Auch die Demokratie, meine ich - das kommt immer wieder bei Gesprächen mit Jugendlichen deutlich heraus -, ist bei uns noch nicht so verankert, und die Mechanismen sind nicht so bekannt, wie dies sein müßte. In der Gemeinschaftskunde wird bei uns in den Schulen meistens nur dargestellt, wie der Weg der Gesetze ist. Im Grunde genommen werden nur Abläufe dargestellt, aber nicht das Leben und die Funktionsweise der Demokratie. ({3}) Ich wundere mich immer wieder über das Erstaunen von Jugendlichen, wenn ich ihnen in dem Fall, daß wir etwas durchsetzen sollen, sage: Ich muß auch erst 250 Kollegen überzeugen, bis ich mich durchsetzen kann. Das ist gar nicht bekannt. Damit kein Irrtum entsteht: Eine andere Darstellung, ein besserer Einblick in diese Probleme beseitigen die Fragen und die Probleme, die die Jugendlichen betreffen, überhaupt nicht. Aber sie machen deutlich, daß auch Politiker nur mit Wasser kochen, daß fehlende Lösungen oder langdauernde Verfahren nicht auf Bösartigkeit oder Dummheit der Politiker zurückzuführen sind. Das gäbe den Jugendlichen sicher mehr Mut, Dinge anzupacken, Probleme zu lösen und die Gesellschaft zu verändern. Ich darf Sie bitten, keine Angst vor dem Begriff „Veränderung der Gesellschaft" zu haben. Natürlich verändert jede Generation die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen, so wie wir das j a auch tun. Auch die liberale Gesellschaft ist nie vollendet. Es ist selbstverständlich, daß jede junge Generation das für sich auch tun will. Ich meine, es ist eine der Ursachen für die Frustration in der Jugend, daß sie den Eindruck hat, heute an eine Gummiwand zu stoßen und kaum mehr etwas verändern zu können. Wir nehmen der jungen Generation auch etwas den Mut, weil die Freiräume für diese Generation sich ganz gewaltig eingeengt haben. Ich will hier einige Freiräume aufzählen. Da ist zunächst einmal der eigentliche Raum im engeren Sinne des Wortes. Unsere Welt ist enger geworden, wir haben vor allem für unsere Jugend nicht mehr den Platz, den Raum, den wir selbst einmal hatten. Aber auch der rechtliche Freiraum ist enger geworden, und zwar durch Verbote und bürokratische Einengungen. Ich will auch dazu ein Beispiel geben. Es gibt noch genügend Plätze in unseren Städten, wo junge Menschen sich aufhalten, wo Kinder spielen können. An vielen dieser Plätze sehen Sie ein Schild „Betreten verboten! Eltern haften für ihre Kinder". Das geschieht natürlich nicht deswegen, weil die Besitzer böse Leute sind und die Jugendlichen dort nicht haben wollen, sondern weil wir selbst durch unser Haftungsrecht dazu beigetragen haben, daß vielen Besitzern gar nichts anderes mehr übrigbleibt. ({4}) Auch der emotionale Freiraum ist enger geworden. Junge Menschen brauchen diesen Freiraum, sie müssen sich austoben können. Sie müssen die MögEimer ({5}) lichkeit haben, nach ihren Bedürfnissen, nach ihren Vorstellungen zu leben. ({6}) Ich glaube, daß wir aus unserer Welt heraus hier viel zu enge Grenzen setzen. Diese Grenzen empfinden die Jugendlichen als Einengung. Ich will Ihnen einige Beispiele dafür bringen, wie Jugendliche mir gegenüber diese Einengung von Freiräumen geschildert haben. Da wurde z. B. gesagt: „Wer von Kindesbeinen an verwaltet wird, kann doch in seinem Leben keine eigenen Initiativen mehr entwickeln, kann doch keine Ideen mehr haben." Derselbe Jugendliche sagte: „Die Welt ist perfekt verwaltet, alles, was in ihr existiert, gehört irgend jemandem, ist Besitz. Alles in ihr ist längst verteilt. Wie kann man da noch schöpferisch tätig sein? Das Leben ist langweilig geworden, einen Freiraum gibt es nur noch nach dem Tod. Deswegen" - so sagte dieser junge Mann - „laufen so viele Jugendliche zu den Sekten." - Ich möchte Sie fragen, ob wir uns nur Sorgen machen müssen um eine Jugend, die uns genau das sagt. Die Enquete-Kommission hat in ihrem Bericht auf den Wertwandel und auf die Sinnfragen hingewiesen. Auch dazu möchte ich Ihnen einige Aussagen von Jugendlichen zitieren. Es wurde gesagt: „Ich lebe für Werte wie Freundschaft, Geborgenheit, Vertrauen. Wer lebt denn heute für Werte, die er vertritt?" Oder: „Was hat der Vater mit seinem Sohn zu tun? Wie ist es heute mit dem Verhältnis von Meistern zu ihren Lehrlingen? Früher hat der Lehrling von seinem Meister nicht nur handwerkliche Technik erlernt, sondern er wurde auch menschlich von ihm gebildet." - Werte, die in diesen Zitaten zum Ausdruck kommen, sind keine neuen, sondern es sind die alten Werte, die nur wieder etwas stärkeres Gewicht bekommen. Ich habe den Eindruck, wir haben in der täglichen Politik vergessen, daß man Parteien nicht so sehr wegen der Programme wählt, sondern mehr wegen der Grundwerte, die hinter diesen Programmen stehen. Programme sind in erster Linie das Vehikel - das ist meine Überzeugung -, mit dem wir, bewußt oder unbewußt, dem Bürger die Werte, die Grundwerte, das Menschenbild einer Partei vermitteln können. Ich will das noch etwas deutlicher machen. Alle vier Jahre stellen wir uns zur Wahl. Wir haben Probleme aufgelistet, die uns bekannt sind; wir haben Lösungsvorschläge in Form von Programmen erarbeitet. Aber neue, heute noch nicht bekannte Probleme, für die es jetzt noch keine Lösungen gibt und deswegen auch keine Programme, werden auftauchen. Auch insoweit muß der Wähler das Vertrauen haben, richtig gewählt zu haben. Die Parteien verlangen also einen Vertrauensvorschuß für die nächsten vier Jahre. Deswegen wählen nicht nur Jugendliche, sondern sicher auch Erwachsene - so ist meine Überzeugung - eine Partei in erster Linie wegen des Menschenbildes, das hinter der Partei steht. Ich möchte es wiederholen: Die Programme, die wir anbieten, sind im Grunde nur das Vehikel, dieses Menschenbild zu vermitteln. Ich bitte Sie, unter diesem Gesichtspunkt einmal den Erfolg der Grünen zu betrachten. Die Grünen verkaufen gar nicht so sehr ein Programm, sondern in erster Linie ein Menschenbild. Das ist vielleicht ein Grund für die Erfolge, den diese Parteien bei jungen Leuten haben. Es ist unsere Aufgabe als Politiker, deutlich zu machen, welche Werte hinter unseren Parteien und hinter unserem Staat stehen. ({7}) Wir müssen zeigen - vor allem jungen Menschen, die danach fragen -, welches die Elle ist, mit deren Hilfe man Parteien und deren Programme im Hinblick auf Liberalität, konservative oder sozialdemokratische Grundwerte messen kann. Wir haben ja alle diese Elle; wir benützen sie nicht mehr. Ist es dann ein Wunder, wenn junge Menschen meinen, wir lebten, zumindest was die Wertfrage betreffe, politisch von der Hand in den Mund? Wie wollen wir Werte vermitteln, wenn wir sie nur nicht mehr deutlich machen? Nur wer selber brennt, kann andere anzünden. Aber gerade hinsichtlich dieser Frage brennen wir nicht. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir gestehen, daß wir nur noch flackern. Wenn man aber die Jugend, die jungen Menschen vom Wert einer Sache überzeugt, entsteht das, was im Bericht - sicher etwas verkürzt - als neues Engagement bezeichnet wird. Zukunftsangst, Wertfrage, Engagement und Protest bedingen einander. Ich möchte unsere junge Generation aufrufen, sich zu engagieren, die Arbeit unserer Kommission mit Kritik und Anregungen zu begleiten. Die junge Generation dazu zu bewegen, ist sicher auch einer der Gründe für die Vorlage des Zwischenberichtes dieser Kommission. Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Viele Probleme werden von jungen Menschen anders als von den Erwachsenen gesehen. Vieles wird von unserer Seite nicht so dargestellt, nicht so deutlich gemacht, wie das eigentlich nötig wäre. Die Menschen leben immer in einer Gesellschaft, in der es Probleme gibt, und es befriedigt den Menschen, wenn er Probleme lösen kann. Die Welt ist nicht so schlecht, wie sie vielleicht manche Jugendliche sehen. Sicher sind wir alle an der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen jungen Menschen und Politikern, zwischen jungen Menschen und der Gesellschaft schuld. Aber wir müssen uns fragen, ob wir der nachfolgenden Generation das Rüstzeug dafür gegeben haben, mit den immer anstehenden Problemen fertig zu werden. Denn eines, meine Damen und Herren, sollten wir, glaube ich, nicht vergessen: Jede Generation hat die Jugend, die sie erzogen hat; jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient. ({8})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Ministerpräsident Dr. Vogel ({0}): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da6278 Ministerpräsident Dr. Vogel ({1}) men und Herren! Auf Ihrer Tagesordnung steht im Augenblick ein Thema, das die Länder und die Gemeinden selbstverständlich ganz genauso bewegt und umtreibt wie Sie. Deswegen ist es, glaube ich, glücklich, daß unsere Verfassungsordnung die Möglichkeit schafft, daß man nicht nur in getrennten Häusern, sondern auch gemeinsam über die Fragen spricht. Ich bedanke mich, daß ich hier vor dem Bundestag dazu einiges sagen darf. Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" unterscheidet sich durch seine verständliche Sprache und durch seinen Verzicht auf ideologisch einseitige Positionen wohltuend von manchen Jugendberichten der vergangenen Jahre. ({2}) Es ist dieser Kommission gelungen, bereits nach einem Jahr wichtige Anhaltspunkte aufzuzeigen, die als Grundlagen für politisches Handeln dienen können, Positionen in einem Zwischenbericht aufzuzeigen, die erfreulich viel Gemeinsamkeit erkennen lassen. Ich möchte mich bei den Mitgliedern der Enquete-Kommission für die Arbeit und für ihre Ergebnisse bedanken. Ich wünsche der Enquete-Kommission eine breite Reaktion aus den Reihen der jungen Generation und eine breite Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit. ({3}) Natürlich fehlt in dem Zwischenbericht noch einiges. Ich bin beispielsweise der Meinung, daß das Thema Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit noch nicht hinreichend bearbeitet ist. Ich richte die Bitte an die Kommission, auch die Dinge, bei denen die Ansichten noch in Mehrheit und Minderheit auseinandergehen, so lange zu diskutieren, bis eine einvernehmliche Lösung möglich erscheint. Meine Damen und Herren, bei der Beschreibung der Gründe und Hintergründe des Jugendprotestes kommt der Zwischenbericht zu der Feststellung, daß es in der Sache weniger um Probleme der Jugend als um solche der gesamten Gesellschaft und um die Folgen einer verbreiteten Sinn- und Orientierungskrise geht. Ich finde, diese Feststellung läßt aufhorchen, weil sie die Frage stellt, ob der Jugendprotest etwa nur eine altersspezifische Aussage über eine Befindlichkeit unserer ganzen Gesellschaft ist und ob wir dann recht tun, wenn wir die Kritik am Jugendprotest nur der jungen Generation zuweisen, oder ob wir nicht sehr viel umfassender darüber nachdenken müssen, wie es mit Sinn- und Orientierungskrise in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland steht. ({4}) Meine Damen und Herren, es genügt meiner Überzeugung nach nicht, Grundwerte nur in Verfassungstexte zu schreiben oder sie in staatsphilosophischen Betrachtungen zu erörtern. Entscheidend ist, daß j a nicht die Grundwerte strittig sind, sondern das Verhältnis der Grundwerte zueinander und die Frage der konkreten politischen Anwendung der Grundwerte in einer bestimmten Situation. ({5}) Ich meine, daß die jungen Menschen ein außerordentlich waches Gespür für Diskrepanzen, für das haben, was die politisch Verantwortlichen einerseits an Grundwerten hochhalten, und das, was sie andererseits im Vollzug, im politischen Tun tatsächlich anwenden. Meine Damen und Herren, das geht bis zur berechtigten Kritik der jungen Leute, wie Politiker miteinander umgehen, wie sie sich zuhören und wie sie sich übereinander äußern, wenn sie nicht beisammen sind, sondern in getrennten Räumen. Eine leichtfertige Floskel in einem Wahlkampf kann mehr zerstören, als Bildungsarbeit über Jahre wiederaufbauen kann, meine Damen und Herren. ({6}) Das Wort von den „lügenden Politikermäulern" aus dem Brief der Schöneberger Besetzerszene ist natürlich ein böses Wort und kann so nicht akzeptiert werden. Aber, meine Damen und Herren, nachdenklich werden sollte man darüber schon, daß es in Deutschland ein solches Wort gibt. Ich wäre dankbar, wenn jetzt nicht die einen den anderen zuriefen, sich das ins Stammbuch zu schreiben, sondern wenn es sich alle ins Stammbuch schrieben. ({7}) Im Zwischenbericht ist vom Wertwandel die Rede, der sich in der Bundesrepublik seit der Mitte der 60er Jahre vollzogen habe. Ich möchte dazu feststellen, daß manche, vor allem Ältere, wenn sie einen solchen Wertwandel erleben, zu der Meinung kommen, andere Werte seien zugleich mindere Werte. Nein, meine Damen und Herren, es ist ganz deutlich: Die Wertvorstellungen der unmittelbaren Nachkriegsgeneration sind andere als die der heutigen jungen Generation. Aber wir haben meines Erachtens kein Recht, den Wandel mit einer Verminderung der Wertvorstellungen gleichzusetzen, die jungen Leute heute haben. Meine Damen und Herren, nach meiner Überzeugung spielt dabei eine Rolle, daß das, was ich nicht habe, immer mehr vermißt wird als das, worin ich lebe. Es hat eine begründete Bedeutung, daß beispielsweise der Geist der Freiheit oft in Systemen der Unterdrückung lebendiger ist als dort, wo man in der Freiheit lebt und nicht mehr versteht, daß man etwas zu ihrer Verteidigung tun muß. ({8}) Wenn Jugend Kritik am Staat übt, die Unpersönlichkeit der Gesellschaft anprangert, Zukunftsangst und Ohnmachtsgefühle ausdrückt, dann müssen wir darüber sprechen, aber bitte auch mit jener Kraft der Unterscheidung, die bereit ist, eine vorhandene und akzeptierte Ordnung zu verteidigen, und gleichzeitig bereit ist, sich neuen Vorstellungen zu öffnen. Lassen Sie es mich ganz ungeschminkt und deutlich sagen: Natürlich bekämpfe ich als Parteipolitiker das Auftreten einer neuen Partei. Das ist mein gutes Recht, und das ist das Gesetz einer Demokratie. Aber, meine Damen und Herren, die Tatsache, daß es nach 35 Jahren in einer Gesellschaft Ansätze für neue politische Parteien gibt, ist doch ein Beweis Ministerpräsident Dr. Vogel ({9}) für Lebendigkeit und nicht etwas, was man von vornherein kritisieren müßte. ({10}) Wir müssen der jungen Generation natürlich auch insofern Gerechtigkeit widerfahren lassen - Herr Wissmann hat das schon gesagt -, als wir sie nicht vorschnell über einen Kamm scheren dürfen. Bei aller Kritik im einzelnen: Bei der überwältigenden Mehrheit gibt es eine große Übereinstimmung mit Staat und Gesellschaft und mit der unmittelbaren Umwelt, übrigens ganz besonders mit dem Elternhaus. Zu unserer Verantwortung gehört es, die Probleme weder zu dramatisieren noch zu bagatellisieren, sondern sie angemessen und sachgerecht aufzugreifen. Wenn die Umfrage aus Nordrhein-Westfalen, die veröffentlicht worden ist, einen Sinn hat, dann bitte den, nachdenklich zu machen, aber bitte nicht den, ehe man überhaupt die genauen Fragestellungen und Ergebnisse kennt, bereits eine Verwirrung in der Öffentlichkeit anzurichten und damit zu einer Schelte an der jungen Generation beizutragen, die durch nichts gerechtfertigt ist ({11}) Der Zwischenbericht spricht an mehreren Stellen vom neuen Mangel, d. h. von der Klage junger Menschen, daß es an Zuwendung, an persönlicher Geborgenheit und am sozialen und gefühlsmäßigen Angenommensein fehle. Ich muß Ihnen sagen, diese Passage hat mich auch als ehemaligen Kultusminister außerordentlich nachdenklich gestimmt. Nach zehn Jahren Konfliktspädagogik kommt ein Bericht des Deutschen Bundestages zum Ergebnis, daß nicht der Konflikt, sondern die Geborgenheit und die Zuneigung die Sehnsucht der jungen Menschen ist. ({12}) Für mich ist das in der Tat ein dringlicher Aufruf, die Lehrer zu ermutigen, bei aller Bedeutung, die das Vermitteln von Sachwissen hat, in erster Linie Erzieher und erst in zweiter Linie Konfliktpädagogen zu sein. ({13}) Ich glaube, das gilt auch für den Hochschulbereich und nicht nur für den Schulbereich. Beim Hochschulbereich füge ich hinzu: Hier ist vor allem zu beklagen, daß zu wenige deutsche Politiker den Mut haben, regelmäßig an Universitäten zu gehen und mit jungen Leuten zu sprechen. ({14}) Ich kenne leider - ich sage das nicht anklagend, sondern auffordernd - nur eine Handvoll deutscher Politiker, die in den letzten Jahren wirklich an allen deutschen Hochschulen gewesen sind und sich dort der Diskussion gestellt haben. Ich meine, das, was wir hier vorfinden, ist erstens eine Ermahnung, um die Hochschulen nicht einen großen Bogen zu machen, und zweitens eine Ermahnung, sich den Studenten, die sich dort politisch engagieren, mit mehr Unterstützung zur Verfügung zu stellen, als das zur Zeit geschieht. ({15}) Wenn wir jungen Menschen erfahrbar machen wollen, daß es sich lohnt, für diesen Staat einzutreten, daß man diesem Staat nicht mit Mißtrauen, sondern mit dem Willen begegnen muß, ihn mitzugestalten, dann müssen wir allerdings einige Dinge, die der Entscheidung harren, tatkräftiger als in der Vergangenheit anpacken. Ich will drei ganz knappe Beispiele dafür nennen. Erstens. Es heißt in dem Bericht, daß die kleinen Einheiten für junge Menschen von so großer Bedeutung seien. Man hat das Wort ja lange nicht mehr in den Mund nehmen dürfen, aber das heißt, daß bei den jungen Leuten eine Bestimmung dafür da ist, daß man durchaus wieder von Heimat sprechen darf, ohne damit in Provinzialismus zu verfallen. ({16}) Der Ort, wo man mit anderen politisch und sozial leben, arbeiten und mitgestalten kann, ist für den jungen Menschen die Stadt, die Gemeinde und der Kreis. Es muß uns gelingen, in diesen Bereichen Zutrauen zum Staat zu erreichen, weil Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Landesregierung für den normalen Jugendlichen sehr weit weg sind, aber der Beamte der Kommunalverwaltung sehr unmittelbar für ihn das Erlebnis des Staates bestimmt. ({17}) Meine Damen und Herren, das gilt aber zweitens auch für ein ganz anderes Thema, von dem hier heute morgen schon geredet ist und über das man auch aus der Sicht der Länder etwas sagen muß. Das gilt für die Frage Wehrdienst und Ersatzdienst, und zwar in erster Linie nicht für die Frage, zu welcher Lösung wir kommen. Hier ist meine Position ganz klar, und sie steht auf dem, was meine Partei mit meiner Stimme in Hamburg beschlossen hat. Aber es geht vor allem um die Frage, ob die jungen Leute draußen erfahren, daß Politiker in einer Frage, die sie sehr unmittelbar berührt, in der Lage sind, überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen, ({18}) oder ob sie mitansehen müssen, daß sie über das Problem längst hinaus sind, bis endlich eine Lösung gefunden wird. Es ist weniger die Frage, welche Schlußentscheidung fällt, bedrückender ist die Tatsache, daß seit fünf Jahren darüber geredet wird und in dieser Sache überhaupt keine Entscheidung fällt. ({19}) Ich möchte ausdrücklich in diesem Zusammenhang sagen: Normalerweise ist es Aufgabe einer Bundesregierung, zu einer so wichtigen Sache einen Vorschlag zu machen. Normalerweise ist es das Vorrecht des Bundesparlamentes, zu dieser Sache einen Vorschlag zu machen. Weil aber vieles, was dort geregelt werden muß, auch von den Ländern erledigt werden muß, möchte ich noch einmal bekunden, daß wir erstens zur Mitarbeit bereit sind und daß wir Ministerpräsident Dr. Vogel ({20}) zweitens, wenn es noch Jahre dauert, bis Vorschläge kommen, auch von Länderseite entsprechende Gesetzesinitiativen ergreifen werden. ({21}) Dabei ist für mich neben allen anderen Fragen vor allem wichtig, daß Wehrdienstleistender wie Ersatz-dienstleistender ({22}) im gleichen Maße das Opfer für die Gemeinschaft erbringen muß und daß jede der beiden Seiten vom Hauch befreit wird, das eine sei einfacher als das andere. Das ist entscheidend, der Glaubwürdigkeit der jungen Leute wegen und für die Lösung einer Frage, die meines Erachtens schon viel zu lange ansteht. Als drittes Beispiel gibt es dann in diesem Zwischenbericht den Hinweis auf Jugendliche, die keine Zukunft für sich mehr sehen. „No future" ist das deutsche Wort dafür. Diese Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Aggressivität, Hilflosigkeit und Wut hinterläßt in der Tat Bestürzung. Zunächst der Hinweis: Das ist ein Bild von Jugendlichen. Ein anderes Bild ist, daß Zehntausende in den einzelnen Ländern und Hunderttausende in der Bundesrepublik Deutschland in den technischen Hilfswerken - angefangen bei der Feuerwehr bis zum Malteser-Hilfsdienst - freiwillig großartige soziale Hilfeleistungen erbringen. ({23}) Zweitens engagieren sich heute junge Leute in einer Unzahl von Sportvereinen, kulturtreibenden Vereinen aller Art - ihre Zahl wächst - ganz selbstverständlich. So notwendig es ist, daß der Staat etwa für die tut, die auf die schiefe Ebene geraten sind, so notwendig ist es auch, daß wir zunächst einmal denen danken, die gar nicht auf die schiefe Ebene kommen, weil sich Tausende und Abertausende von Vereinen um junge Leute ganz selbstverständlich kümmern. ({24}) Drittens. Es hat sich bei Jugendlichen eine Bereitschaft herausgebildet, die es, wenn ich recht sehe, zu unserer Zeit nicht gab, die Bereitschaft zum persönlichen sozialen Engagement, nicht nur bei uns, sondern auch draußen in der Dritten und Vierten Welt. Ich meine, es wäre an der Zeit, daß wir gemeinsam größere Anstrengungen machen, um beispielsweise einem, der als Jugendlicher etwas gelernt hat und jetzt arbeitslos ist, in einem Land der Dritten Welt die Möglichkeit zu geben, seine Fähigkeiten für ein, zwei Jahre einzusetzen, damit Arbeit zu haben und gleichzeitig einen Dienst leisten zu können, denn es entspricht dieser jungen Generation, daß sie zu solchen Dienstleistungen bereit ist. ({25}) Angesichts der Haltung von Jugendlichen, keine Zukunft für sich zu sehen, dürfen wir nicht selber immer meinen, die Zukunft sei von uns nicht zu bestehen. Die Tatsache, welche uns Meinungsforscher mitteilen, die Mehrheit der Bevölkerung sei zwar mit ihrer Situation heute zufrieden, lebe aber in der Furcht, daß es ihr morgen schlechter gehen würde, ist eine völlig unnatürliche Tatsache. Natürlich ist, daß man hofft, die Schwierigkeiten der Gegenwart durch eine bessere Zukunft zu überwinden. Unnatürlich ist, die Angst zu haben, daß die Zukunft düsterer sein wird als das Heute. Ich meine, daß wir Hoffnung und Zuversicht doch nur erreichen können, wenn wir bereit sind, auch im Hinblick auf die Zukunft Entscheidungen zu treffen. Wir dürfen die Uranlage des jungen Menschen, sich auf die Zukunft hin zu orientieren, nicht verkümmern lassen. Denn es ist doch für junge Leute alles andere als typisch, sich vor neuen Aufgaben zurückzuziehen und das Experiment und - im guten Sinn des Wortes - das Abenteuer gar nicht mehr zu wagen. Wenn die Grundaussagen dieses dankenswerten Berichtes auf Fehlverhalten dieser Gesellschaft hinweisen, dann weisen sie auch in die Frage hinein, ob die politisch Handelnden eigentlich selbst Mut zur Zukunft haben. Und wir werden die Aufgabe nur lösen, wenn wir den jungen Menschen vorleben, daß wir bereit sind, die Schwierigkeiten der Gegenwart zu meistern, um die Zukunft zu bestehen. Ich bedanke mich sehr herzlich für diesen Bericht. ({26})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich hat beeindruckt, daß der vorliegende Zwischenbericht in der Analyse wie auch in vielen Lösungsvorschlägen von den Mitgliedern der Kommission einstimmig formuliert worden ist. Eine solche Solidarität gegenüber den Problemen ist eine gute Chance für dieses Parlament, zu einer neuen Qualität der Zusammenarbeit zu kommen. Ich frage mich freilich, Herr Ministerpräsident, ob diese Gemeinsamkeit auch noch für Taten reichen wird, die der Untersuchung folgen müssen, wenn das Unternehmen nicht unseriös enden soll. Sie jedenfalls haben heute morgen der Versuchung nicht widerstanden, Herr Ministerpräsident, wieder mit falschen Schuldzuweisungen zu arbeiten, während Sie gleichzeitig mit Ihren Unionskollegen in den Ländern eine vernünftige Gesamtschulpolitik verhindern. ({0}) Die Kommission, deren Einsetzung auf eine Anregung unseres Freundes Hans-Jochen Vogel zurückgeht, hat festgestellt, daß sie keinen Generationskonflikt untersucht. Diese Feststellung hat Konsequenzen. Sie führt zu einem Katalog von Empfehlungen, der im weiteren Verlauf der Kommissionsarbeit noch ergänzt werden soll. Ich meine, Herr Wissmann, die Kommission hat damit dokumentiert, daß sie ihren Auftrag ernstgenommen hat, d. h. daß sie vor allem den Protest ernstgenommen hat, der ihr Untersuchungsgegenstand war. Ich glaube, dieser richtige Ausgangspunkt der Kommission schneidet uns den Rückweg ins Schubfachdenken, Jugendprotest gehört zur JugendpoliDr. Ehmke tik, ab. Er ist gleichzeitig der einzige ehrliche und erfolgversprechende Ansatz für das Gespräch mit jungen Menschen. Und dieses Gespräch ist schwierig genug. Die Betroffenen wissen j a, daß sie mit Nichtbetroffenen reden, jedenfalls mit nicht unmittelbar Betroffenen. Die Jungen fühlen sich oft mit taktischen Augen beobachtet und von Worten umstellt. Meine Damen und Herren, ich erfahre in den Diskussionen mit jungen Menschen immer wieder - und ich nehme an, es geht Ihnen genauso -: Voraussetzung einer Verständigung ist Offenheit, ist die Bereitschaft, auch die eigene Meinung zu ändern, wenn es dafür Argumente gibt. Wer junge Menschen von der Tugend des demokratischen Kompromisses überzeugen will, muß zunächst Toleranz im Zuhören beweisen. Die Kommission hat es sich mit dieser Frage nicht leicht gemacht. Sie kommt zu dem Schluß, daß das Vertrauen eines Teils der Jugend in das politische System und in uns als seine Vertreter nur nach einer langen Phase vertrauensbildender Maßnahmen und nach überzeugenden Veränderungen in Stil und Inhalt unserer Politik möglich sein wird. Alles wie gehabt laufen zu lassen, wäre keine Lösung. Ich weiß aber, daß dieser Gedanke noch in manchen konservativen Köpfen spukt. Aber, meine Damen und Herren, zum kritischen Dialog, zu sozialen Reformen und zur Integration in eine demokratisch-egalitäre Zivilisation gibt es keine Alternative. Das heißt nun keineswegs, daß wir als Politiker in Sack und Asche gehen und einen Jugendkult zelebrieren müßten, zu dem es manche modischen Ansätze gibt. Nein, was wir Alteren den jungen Menschen schuldig sind, ist, ihre Argumente, aber auch ihre Gefühle ernst zu nehmen. Gerade darum schulden wir ihnen aber auch Widerspruch, wenn wir aus unserer politischen Erfahrung ihre Auffassungen für unrichtig halten. Es gibt nichts Schlimmeres im Umgang mit jungen Menschen, als ihnen nach dem Munde zu reden. ({1}) Die Kommission hat festgestellt, daß die große Mehrheit der protestierenden Jugend nicht aus der Gesellschaft aussteigen, sondern in sie einsteigen will, allerdings nicht unbedingt in den herkömmlichen Formen, die uns so geläufig sind. Die Kommission sagt, das gelte auch hinsichtlich der Anerkennung des Leistungsprinzips, der Einstellung zum Staat und zur pluralistischen Demokratie. Es gibt viele Leute, übrigens nicht nur junge Leute, die zwar die etablierten Parteien ablehnen, sich aber z. B. in einer der örtlichen Gruppen von „amnesty international" treffen und oft hart und nach meinem Urteil oft auch sehr effektiv für die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten arbeiten. Die Kommission spricht in diesem Zusammenhang von „sinnbringender Arbeit" im Einsatz für Jugendzentren, für sozial Benachteiligte, für Völker der Dritten Welt, für Abrüstung und für Friedenssicherung. Darüber dürfen wir allerdings nicht die wachsende Zahl von Aussteigern in unserer Gesellschaft vergessen, wie wir auch den Terrorismus von jungen Menschen in unserem Lande nicht vergessen dürfen. Hier laufen viele Elemente unserer Geschichte, vor allem der Geschichte unseres Bürgertums, ineinander, und manche vornehmlich im Wohlstand aufgewachsene junge Menschen sehen heute klarer als ihre Eltern, die für diesen Wohlstand hart gearbeitet haben, daß Wohlstand, so angenehm er ist, die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn ihres Lebens, nicht nur nicht beantwortet, sondern oft sogar verstellt. Aus diesen Wünschen hat sich eine stille Kulturrevolution, eine Sehnsucht nach einem - wie die jungen Leute sagen - alternativen Leben entwickelt. Und so hochgestochen oder geschwollen sie auch manchmal daherredet, wir haben allen Grund, auch sie ernst zu nehmen. Im übrigen hat diese Kulturbewegung auch durchaus ihre positiven Aspekte. Bei vielen Aktivitäten engagierter junger Menschen entdeckt man bei genauerem Hinsehen eine stark ethische Motivation, nicht selten - darauf weist die Kommission hin - eine ethische Motivation in durchaus traditionellem Sinne. Wandel des Wertbewußtseins ist j a nicht notwendig Zerfall. Eine Gesellschaft, in der sich ethische Anschauungen und deren Ausdrucksformen nicht mehr wandeln würden, wäre tot. ({2}) Die Kommission weist meines Erachtens allerdings zu einseitig nur auf den Wandel des Wertbewußtseins in den 60er Jahren hin. Ich erinnere demgegenüber an den wahrhaft radikalen Wandel, den dieses Land auf dem Wege von der sozial-egalitären Aufbruchsstimmung nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die Restaurations-Mentalität der Adenauer-Ara durchgemacht hat. ({3}) Auch die von den Kirchen beklagte Säkularisierung unserer Gesellschaft hat natürlich nicht erst in den 60er Jahren begonnen. In unserem demokratischen Gemeinwesen unterliegen eben auch ethische Anschauungen dem Wandel. Sie müssen von jeder Generation neu angeeignet werden. Für diese schöpferische Aneignung und Fortentwicklung der ethischen Grundlagen braucht die junge Generation Selbstbewußtsein. Was sie unserer Meinung nach nicht braucht, sind autoritäre Vorbilder und konservative Ideologien. ({4}) Was sie ebenfalls nicht braucht, ist wehleidige Selbstbespiegelung oder gar penetrantes Selbstmitleid. ({5}) Nur dürfen wir Politiker nun auch nicht so tun, als ob bei uns alles oder fast alles in Ordnung wäre. ({6}) Wie moralisch ist denn eine Welt, in der es pro Kopf der Bevölkerung mehr Sprengstoff als Brot gibt? ({7}) Und was ist denn die ethische Grundlage etwa der Verklappung von Dünnsäure? Und welche Werte rechtfertigen denn die sogenannte Rotation von ausländischen Arbeitnehmern? Meine Damen und Herren, es hätte nicht erst der von meinem Freund Peter Glotz zu Recht kritisierten Rede des Arbeitgeberpräsidenten bedurft, um erneut deutlich werden zu lassen, daß die ethischen Grundlagen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung keineswegs so über alle Zweifel erhaben sind, wie die Konservativen gern sagen. ({8}) Aber auch unser politisches Leben muß sich kritisch fragen lassen. Die Kommission nennt als Punkte der jugendlichen Kritik an uns u. a. die Undurchschaubarkeit der politischen Entscheidungswege, den Mangel an tatsächlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger, den starken Einfluß wirtschaftlicher Interessen, die Unfähigkeit zu zukunftgerichtetem Handeln. Daß in dieser jugendlichen Kritik oft auch eine gewisse apolitische Naivität und Mangel an politischer Erfahrung durchklingen, kann für uns weder ein Grund zum Hochmut noch ein Entschuldigungsgrund sein. Wenn es hier einen Graben von Unverständnis und Mißverständnissen gibt, so liegt das nicht nur an Schule und Elternhaus, sondern ganz offensichtlich doch auch an den politischen Parteien, d. h. an uns selber. ({9}) Umgekehrt gibt es allerdings Punkte, an denen wir zu klarem und entschiedenem Widerspruch verpflichtet sind. So werden z. B. Fragen der Nuklearwaffen oder der zivilen Kernenergie von jungen Leuten oft vorschnell zu Gewissensfragen erklärt, deren Lösung nicht durch Mehrheitsentscheidung erfolgen könne. Von da aus ist man dann schnell bei dem Wort „Widerstand", was angesichts der jüngsten deutschen Geschichte übrigens von einem erschreckenden Mangel an Geschichtsbewußtsein zeugt. ({10}) - Sehen Sie, daß ist das einzige, was Sie können: Schuldzuweisungen, statt sich mal zu überlegen, was man jungen Leuten darauf anwortet. ({11}) Ich nehme an, wir sind uns einig, wenn ich sage, daß man von dem Wort „Widerstand" dann auch sehr schnell bei der Gewaltanwendung ist. Und für diese sind auch diejenigen verantwortlich, die meinen, sie könnten Parolen wie „Widerstand" oder „ökologischer Bürgerkrieg" ausgeben, und sich dann wundern, daß andere, meist Jüngere, daraus gewaltsame Konsequenzen ziehen. ({12}) Ich verstehe die Betroffenheit junger Menschen, und es ist richtig, was unser unvergessener Kollege Adolf Arndt gesagt hat: Demokratie besteht nicht nur aus dem Mehrheitsprinzip. Sie besteht zunächst einmal darin, daß wir uns von Verfassung wegen einig sind, worüber wir nicht mit Mehrheit abstimmen können: z. B. über inhaltliche Fragen des Glaubens, der Kunst oder der Wissenschaft. Wer aber z. B. Nuklearfragen - von Flughäfen will ich gar nicht reden - zu Gewissensfragen erklärt, erklärt damit zugleich, daß diese Fragen demokratisch nicht entschieden werden können. Da kann es dann nur noch den Kampf aller geben alle geben oder den Ruf nach dem Guru, der diese zu Glaubensfragen hochstilisierten Fragen bindend für uns entscheidet, und dann schließlich - so fürchte ich - den Ruf nach dem starken Mann, der endlich wieder für Ordnung sorgt. Aus unserer eigenen politischen Erfahrung müssen wir daher den jungen Menschen immer wieder sagen, daß wir unsere parlamentarische Demokratie mit ihrem Mehrheitsprinzip von niemandem in Zweifel ziehen lassen dürfen. Auch mit der Überbetonung plebiszitärer gegenüber repräsentativen Elementen, wie sie ja jetzt wieder stark propagiert wird, haben wir in der Weimarer Republik schlechte, sehr schlechte Erfahrungen gemacht. ({13}) Ich bin der Meinung: In der deutschen Geschichte ist soviel Blut gefloßen, bis diese zweite deutsche Demokratie - und auch sie nur in einem geteilten Deutschland - Wirklichkeit werden konnte, daß wir Sie wie unseren Augapfel hüten müssen. ({14}) Ich füge aber hinzu: Die Respektierung des parlamentarischen Mehrheitsprinzips wie des staatlichen Gewaltmonopols setzt auch voraus, daß wir uns immer erneut um konsensfähige Problemlösungen bemühen, einschließlich der dazu erforderlichen demokratischen Kompromisse. Zum Schluß möchte ich zu einem praktischen Beispiel kommen. Das Problem, das mich im Zusammenhang mit dem Thema „Jugendprotest" heute, da besonders geburtenstarke Jahrgänge in das Berufsleben treten, am stärksten bedrückt, ist die Jugendarbeitslosigkeit. Das fängt mit dem Mangel an Ausbildungsplätzen an. Die Zahlen sind bekannt. Wir sind dem Herrn Bundespräsidenten sehr dankbar dafür, daß er auf dem vorgestrigen Empfang für junge Menschen auch die Wirtschaft und das Handwerk noch einmal zu einer zusätzlichen Anstrengung aufgerufen hat. ({15}) Junge Menschen verlangen zu Recht, daß die berufliche Ausbildung nicht von der Konjunktur abhängig gemacht wird; ({16}) denn diese Ausbildung stellt einen entscheidenden Beitrag dar zu der - wie das Grundgesetz sagt - „freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit". Außerdem sind Quantität und Qualität der Ausbildung ein entDr. Ehmke scheidender Faktor unserer Wirtschaftskraft. „Ausbilden heißt in die Zukunft investieren", hieß es Anfang dieses Jahres in einem Aufruf des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, unter dem so illustre Namen standen wie von Amerongen, Bodenstock, Schnitker und Heeremann. Wir würden gern weitere Taten sehen, ({17}) nicht nur von der Wirtschaft, auch von der öffentlichen Hand, aber eben auch von der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat mit guten Gründen für die Beibehaltung des dualen Systems unserer beruflichen Ausbildung gestritten. Nun muß sie auch der daraus erwachsenden Verantwortung gerecht werden, ({18}) und zwar ohne gleich wieder nach Staat und Subvention zu rufen, die sie doch sonst immer ideologisch bekämpft. Die Wirtschaft war gegen die Ausbildungsplatzabgabe, aber sie ist bisher den Beweis schuldig geblieben, daß es auch ohne diese Abgabe geht. ({19}) Was Arbeitsplätze im Unterschied zu Ausbildungsplätzen betrifft, so stehen wir vor noch weit schwierigeren Problemen. Niemand in diesem Hause kann oder darf so tun, als habe er für die Lösung dieses bitteren Problems ein Patentrezept, zumal für ein Land, das mit über einem Drittel seines Bruttosozialprodukts vom Export abhängig ist. ({20}) Aber etwas anderes scheint mir ebenso gewiß: Mit einer neokonservativen Politik des Die-Dinge-laufen-Lassens - ({21}) - Ja, Sie müssen sich entscheiden, meine Kollegen von der CDU: Entweder Sie hören auf, sich auf das zu berufen, was man in Amerika die „neo-konservative" Welle nennt, oder Sie bleiben dabei. Wenn Sie sich aber weiter darauf berufen, dann müssen Sie sich von uns gerade in einer Debatte über Jugendprotest bitte auch einmal in Ruhe darauf ansprechen lassen. ({22}) - Ja, ja, wir dürfen ja nicht so tun, als sei die Frage des Jugendprotestes und des Verhältnisses der Jugend zu diesem Staat unabhängig von den Inhalten der Politik. Das geht nicht. ({23}) - Ja, ich verstehe ja, daß es Ihnen unangenehm wird, wenn man auf Sachfragen zu sprechen kommt. Sie meinen, Sie könnten sich mit so einem allgemeinen Schmus der Einigkeit über dieses Thema hinwegheben. Das läuft nicht! ({24}) Denn, meine Damen und Herren, eine Politik, wie sie ja andernorts von Konservativen praktiziert wird - -({25}) - Nun sagen Sie bloß, Sie seien nicht konservativ; dann falle ich aber um. ({26}) Eine Politik, bei der es mit den Steuersenkungen und mit den Gewinnen aus hochverzinslichen Wertpapieren klappt, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen aber nicht - ({27}) - Sie können mir doch nur zustimmen, wenn ich sage, daß eine solche Politik sicher nicht geeignet ist, junge Menschen von der Qualität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu überzeugen. ({28}) Sehen Sie, während Sie das noch nicht einmal in Ruhe anhören können, sage ich auch durchaus selbstkritisch: keiner hat ein Patentrezept. Aber tun Sie auch nicht so, als ob diese neokonservativen Sprüche eines seien. ({29}) Wir können uns sicher wieder in der Feststellung treffen, daß 12 Millionen Arbeitslose in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und über 25 Millionen Arbeitslose in den Ländern der OECD nicht etwa nur ein wirtschaftspolitisch-technisches Problem sind, sondern eine grundsätzliche politisch-moralische Herausforderung für die industriellen Demokratien darstellen. ({30}) Nun gibt es aber auch Beispiele, in denen der Lösung eines drängenden Problems nicht derartige Schwierigkeiten - wie ich zugebe: auch Ratlosigkeiten - entgegenstehen. Ich erinnere nur an die auch von Herrn Ministerpräsidenten Vogel angesprochene Frage der Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung, die vorgestern ja auch im Mittelpunkt der Jugendfragestunde in diesem Plenarsaal stand. Hier ist eine schnelle Einigung möglich, und zwar auf der Basis der Abschaffung des Prüfungsverfahrens bei verlängerter Zivildienstzeit. Natürlich - Herr Kollege Kohl mußte gehen, er hat sich entschuldigt; aber ich will es ihm hier noch einmal sagen; wir haben neulich darüber gesprochen - wollen auch wir Sozialdemokraten - Herr Kollege Mischnick, ich nehme an, auch die Freien Demokraten - eine Situation, in der diejenigen, die sich für den Zivildienst entscheiden, den Zivildienst auch tatsächlich ableisten müssen und sich nicht drücken können. Nur muß ich sagen, Herr Ministerpräsident: Sie sprechen hier heute so, in der Jugendfrage6284 stunde klang es anders, im katholischen Büro klingt es dann noch wieder anders. Die Frage ist zu lösen, wenn wir nicht durch weitere Ausflüchte aus Ihren Reihen noch mehr Zeit verlieren. ({31}) Ich sagte es eingangs: nur wenn wir den Worten und der guten Analyse der Kommission Taten folgen lassen, wird die Arbeit dieser Enquete-Kommission „Jugendprotest" schließlich Früchte tragen können. ({32}) - Doch, wenn man zur Einigkeit in der Sache kommen will, darf man Meinungsverschiedenheiten nicht überkleistern, sondern muß sie austragen. Das ist die Voraussetzung dafür, daß man zu gemeinsamem Handeln kommt. ({33}) Ich glaube, wir würden der Arbeit der Jugendkommission dadurch gerecht werden, ({34}) wenn wir uns anschließend an eine solche Diskussion - vor der Sie nicht so empfindlich zurückzukken müssen, wie Sie das tun, weil Sie sich in den meisten Fragen selber nicht einig sind - wirklich zu gemeinsamem Handeln für die Jugend aufraffen könnten. Herzlichen Dank für Ihre Geduld. ({35})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Sauter.

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich den Kollegen Ehmke da so reden höre, dann habe ich den Eindruck, daß dieser Bundestag eine ganze Menge von Enquete-Kommissionen bräuchte, damit sich manche Kollegen mal ein bißchen darin üben können, daß dann, wenn man gemeinsam etwas verabschiedet hat, man nicht bei der Debatte über das gemeinsam Verabschiedete auf einmal wieder einiger Büchsenspanner bedarf, die dort nicht dabei waren, die dann wieder ihre Show abziehen, auf die alte Schablone machen, damit wieder etwas Dampf hineinkommt. ({0}) - Gnädige Frau, ich freue mich, daß Sie offensichtlich diese Zeitung lesen und damit auch die Sprache dieser Zeitung kennen. Nichts ist schöner, als wenn dieses Blatt von möglichst vielen gelesen wird; und ob Sie's glauben oder nicht: die Leserschaft nimmt zu. ({1}) Wenn Sie mir die Möglichkeit geben, so langsam zur Sache zu kommen, dann brauche ich nicht mit Ihnen die Show abzuziehen. Aber ich habe den Eindruck, Sie machen im Moment lieber ein bißchen auf Show. Unabhängig davon sollte zu dem Bericht zunächst einmal festgehalten werden, daß er nicht unbedingt neue Antworten auf bekannte Probleme gibt. Dieser Bericht hat aber eines geschafft: dieser Bericht hat eine neue Gewichtung auf der einen Seite herbeigeführt, er hat eine neue Form und, wie ich auch meine, eine neue Sprache. Soeben ist davon geredet worden, daß es nichts Schlimmeres gibt, als der Jugend nach dem Munde zu reden. Herr Ehmke, ich glaube, es gibt noch ein bißchen etwas Schlimmeres: nämlich so zu reden, daß die Jugend es nicht versteht. Der Bericht, den wir verabschiedet haben, beinhaltet das nicht. Aber manches, was heute wieder an Fremdwörtern gefallen ist, dürfte mit dazu beitragen, daß die Jugend es nicht verstehen kann. ({2}) Ein zweites hat dieser Zwischenbericht gezeigt. Er hat nämlich gezeigt, daß Politiker mit den Antworten, die sie in diesem Bericht versuchen zu geben, keine Universalantwortgeber auf der einen Seite sind und auf der anderen Seite auch keine Omnikompetenzler. Wir müssen alle herunter von dem hohen Roß der Alleskönner, wir müssen runter von dem Machermaß, das sich mancher zugemutet hat. Wir müssen auch alle miteinander zugeben, daß falsche Erwartungen insbesondere von den Regierenden geweckt worden sind, daß damit Ansprüche produziert wurden, die heute nicht erfüllt werden können, und dies insbesondere die Jugend verunsichert und sie teilweise auch zum Protest geführt hat. Ich bedaure an diesem Bericht, daß es uns im Untersuchungsauftrag nicht gelungen ist, ihn auf alle Jugendlichen auszuweiten. Der Untersuchungsauftrag ist auf die protestierende Jugend beschränkt. Der Protest, soweit er gewaltfrei vorgetragen wird, ist in der Tat eine Form der Meinungsäußerung, die durch das Grundgesetz geschützt ist. Wir sollten uns deshalb natürlich auch über diesen Protest entsprechend unterhalten. Wir dürfen es aber nicht zulassen, daß der Eindruck entsteht, daß nur noch etwas mit dem Protest gehe und daß diejenigen, die nicht protestieren, bei uns mehr oder weniger hoffnungslos verloren sind. Der Protest, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist für mich auch nicht eine heilige Kuh. Es ist nicht so, daß der Protest nicht hinterfragt und kritisch beleuchtet werden darf. Genauso wie diejenigen, die aus Protest kritisch fragen, haben wir eine Verpflichtung, auch den Protest kritisch zu hinterfragen. Diejenigen, die protestieren, müssen sich dies gefallen lassen. Wir dürfen die Mehrheit der nicht Protestierenden nicht verunsichern. Wir dürfen sie nicht ins Abseits treiben, sonst würden wir Gefahr laufen, daß sich diese Mehrheit auf einmal der Mittel der Minderheit bedient, um noch Gehör und Interesse zu finden. Die Lösungsvorschläge in diesem Bericht sind Gott sei Dank in breiten Bereichen auf die gesamte Jugend eingegangen. Und das ist das Positive. Trotz Sauter ({3}) des Untersuchungsauftrages ist hier einiges gelungen, was vielleicht nicht so vorgesehen war, beispielsweise im Bereich der Ausbildungsplätze, der Studienplätze, der Jugendarbeitslosigkeit, der Rechte der Jugendvertreter, der bürgerschaftlichen Beteiligung in den Kommunen und der Chancen zum eigenverantwortlichen Handeln. Insbesondere bei den Ausbildungsplätzen glaube ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß es vordergründig ist, wenn man sich hier darüber streitet, ob jetzt der eine oder der andere Unternehmer noch einen oder zwei Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen sollte oder müßte. Ich glaube, wir kommen von dem Appell nicht weg, daß sie so viel wie überhaupt möglich hier tun. Aber das Problem sind zunächst nicht die Plätze, das Problem ist die Arbeit. Es müssen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, daß es bei uns wieder mehr Arbeit gibt. Dann gibt es auch mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze. ({4}) Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Bundesregierung hier ihrer Verpflichtung nachgekommen ist. Hier wäre eine wirkliche Verantwortung, die sie gegenüber der jungen Generation zu übernehmen hätte. Ich glaube, was die gesamte Jugend anbelangt, sind wir dringend aufgerufen, im Endbericht zwei Gruppen stärker oder überhaupt zur Geltung kommen zu lassen, weil das bisher so gut wie noch nicht geschehen ist. Das ist auf der einen Seite die Gruppe der Wehrpflichtigen. Wir haben hier sehr viel über das Anerkennungsverfahren und über den Ersatzdienst drin. Wir haben auch einiges drin zur Abschaffung des Anerkennungsverfahrens. Ich darf dazusagen, daß der Kollege Wissmann richtig dargestellt hat, daß sich alle einig waren, das Anerkennungsverfahren abzuschaffen, daß es aber von mir eine Protokollnotiz gibt, wonach ich mich nur für die Abschaffung des derzeitigen Anerkennungsverfahrens ausgesprochen habe. Hier gibt es also durchaus Unterschiede. Ich stehe aus verschiedenen Gründen auch dazu. Wenn hier heute viel in Hoffnung und Euphorie gemacht worden ist, darf ich Ihnen von SPD und FDP eines sagen und Sie um eines bitten: An Ihnen liegt es jetzt zunächst, nachdem Sie sich hier in der Kommission für die Abschaffung des Anerkennungsverfahrens ausgesprochen haben, dafür Sorge zu tragen, daß Sie glaubwürdig sind. Glaubwürdig sind Sie nur, wenn Sie alles unternehmen, um die Zahl der Ersatzdienstplätze, die wir dann brauchen, wenn wir das Anerkennungsverfahren abschaffen, tatsächlich auch vorweisen zu können. Es darf nicht sein, daß die Ablehnung aus Gewissensgründen zu einer Ablehnung aus gewissen Gründen wird. Deshalb muß Sorge dafür getragen werden, daß für den Tag X, der von Ihnen apostrophiert wird und den Sie wollen, auch jeder, der jetzt beispielsweise noch im Anerkennungsverfahren steckt, dessen Verfahren dann eingestellt werden müßte, tatsächlich den Ersatzdienst antreten muß. Es sind im Moment über 80 000 Plätze, die dann zusätzlich zur Verfügung gestellt werden müßten.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Adam-Schwaetzer?

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer, rechts und links.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Bitte schön, Frau Kollegin.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Sauter, würden Sie mir zugeben, daß gerade zu dem Thema, das Sie angesprochen haben, in der Jugendfragestunde vorgestern die konkreten Zahlen genannt worden sind, die ganz eindeutig belegt haben, daß das von Ihnen angesprochene Problem in der Zukunft eben nicht auftreten wird, daß derzeit schon ein Drittel aller zur Verfügung stehenden Zivildienstplätze nicht besetzt ist und daß innerhalb kürzester Zeit auch eine Aufstockung dieser Zivildienstplätze erfolgen kann? ({0})

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Adam-Schwaetzer, ich weiß nicht, wie Sie es mit der Arithmetik halten. ({0}) - Vielleicht können wir anfangen, gemeinsam zu rechnen. 40 000 Plätze haben wir im Moment. Davon sind 30 000 besetzt. 80 000 Verfahren laufen derzeit. Bei einer Abschaffung des Anerkennungsverfahrens muß davon ausgegangen werden, daß diese Verfahren dann einzustellen sind. Es besteht dann ein Bedarf von 80 000 Plätzen. Wenn man davon die 10 000 Plätze, die im Moment zur Verfügung stehen, abzieht, bleiben unter dem Strich 70 000 Plätze. Diese müssen nachgewiesen werden; um diese 70 000 Plätze geht es. Jeden Monat werden es mehr.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. Wir sind j a beim Rechnen.

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Sauter, würden Sie mir zugeben, daß ich in derselben Debatte darauf hingewiesen habe, daß gerade wegen dieses großen Rückstaus das von Ihnen angesprochene Problem zwar auftreten wird, daß wir aber davon ausgehen, daß die derzeit anhängigen Verfahren schon nach dem noch gültigen Verfahren abgewikkelt werden müssen, damit eine ordnungsmäßige Übergangsfrist gewährleistet sein kann, daß dieses im Grunde auch gar nicht anders gehen kann? ({0})

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens brauchen Sie unabhängig davon die Plätze. Zweitens frage ich Sie in aller Bescheidenheit, wie Sie denn der Jugend klarmachen wollen, daß derjenige, der den Antrag vor einem Jahr gestellt hat, das Aner6286 Sauter ({0}) kennungsverfahren durchlaufen muß, daß derjenige, der diesen Antrag jetzt stellt, das Anerkennungsverfahren aber nicht durchlaufen muß. ({1}) Unabhängig davon, Frau Adam-Schwaetzer, müssen Sie doch auch Sorge dafür tragen, daß diese 80 000 Verfahren abgeschlossen werden. Angenommen, es bleiben 60 000 übrig, dann müssen Sie für die 60 000 ebenfalls Plätze schaffen. Also brauchen wir sie zusätzlich, oder? Dann haben wir doch richtig gerechnet! ({2})

Heinrich Windelen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002525

Der Abgeordnete Rapp möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden? - Bitte, Herr Abgeordneter Rapp.

Heinz Rapp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001774, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, glauben Sie nicht, daß Sie sich der jungen Generation verständlicher machen könnten und auch etwas zu Ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit beitragen könnten, wenn Sie nicht notorisch von „Ersatzdienst", sondern von „Zivildienst" redeten? ({0})

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Rapp, die Glaubwürdigkeit hängt davon ab, daß ich mit der Jugend darüber rede, was ich mir unter Ersatzdienst vorstelle. Unter Ersatzdienst stelle ich mit eine Tätigkeit vor, die psychisch und physisch dem vergleichbar ist, was von einem jungen Mann erwartet wird, der heute seinen Wehrdienst ableistet. Ich sage Ihnen in aller Offenheit, daß das Telefonieren und die Unterrichtung in Flötenmusik für mich nicht eine vergleichbare Tätigkeit ist. Darüber müssen wir auch miteinander reden, wenn es darum geht, neue Ersatzdienstplätze zu schaffen. ({0}) - Es ist richtig, daß da auch telefoniert wird. Ich weiß aber nicht, ob bei der Bundeswehr geflötet wird. Herr Conradi, da können Sie mir einmal Nachhilfeunterricht geben. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe von einer Gruppe gesprochen, von der ich glaube, daß sie besondere Berücksichtigung verdient; das sind diejenigen, die der Wehrpflicht nachgehen. Die anderen, die bisher auch vergessen wurden, sind diejenigen, die bei uns als junge Ausländer viel mehr Probleme haben als mancher junge Deutsche, der jetzt protestiert. Wir müssen alles dafür tun, daß hier nicht eine Situation entsteht, durch die wir die nächste Protestgeneration schon jetzt heranziehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben aus meiner Sicht in dem Bericht bisweilen zuwenig unterschieden zwischen gewaltlosem und gewalttätigem Protest. Ich möchte hier nochmals festhalten, daß nur der gewaltlose Protest den Schutz des Grundgesetzes genießt und daß alles, was nicht gewaltlos ist, aus meiner Sicht sehr schnell die Grenzen zum Krawall fließend werden läßt. Protest und Krawall sind zwei paar Stiefel. Protest ist normal, Krawall ist nicht normal. Krawall verdient nicht unseren Schutz und hat nicht den Schutz des Grundgesetzes. ({2}) Ich möchte einen Punkt herausgreifen und festhalten, den ich für nicht unbedeutend halte. Wir sind alle miteinander, auch wenn ich es jetzt sprachlich etwas anders ausdrücke, zu der Überzeugung gekommen, daß diejenigen, die den Staat gelegentlich am meisten in die Pfanne hauen, auf der anderen Seite diejenigen sind, die am lautesten nach ihm rufen, wenn es darum geht, ihre eigenen Bedürfnisse zum Null-Tarif zu befriedigen. ({3}) Das Positive ist, daß uns dies zeigt, daß von diesem Staat durchaus noch etwas erwartet wird. Das Negative ist, daß wir uns darüber im klaren sein müssen, daß wir uns in einer Situation befinden, in der sehr gern genommen, aber sehr ungern gegeben wird. Wir konnten uns auch darüber einigen - ich begrüße das -, daß es bei der Frage Rechtsstaat und Protest keinen Zweifel darüber gibt, daß das Gewaltmonopol ausschließlich beim Staat liegt. Ich glaube aber, es ist auch Aufgabe der Politiker, dafür Sorge zu tragen, daß auf der einen Seite staatliches Handeln verständlich gemacht wird, daß aber auf der anderen Seite der Politiker im Regelfall für den Staat und nicht gegen den Staat eintritt und einsteht. Wenn ich das sage, so tue ich das auch mit Blick auf Demonstrationen, bei denen Polizisten, insbesondere junge Polizisten, nach meiner Auffassung wissen müssen, daß die Politiker hinter ihnen stehen, damit sie wissen, wofür sie überhaupt stehen. Wenn ich sehe, daß bei manchen Demonstrationen, wo damit gerechnet werden muß, daß es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, auch Parlamentarier mitmarschieren, stellt sich für mich die Frage, ob sich diese Leute zumindest moralisch eben nicht auf die Seite der Ordnungshüter, sondern eher auf die Seite der Ordnungszerstörer begeben. ({4}) Die Frage der Amnestie ist zwischen uns kontrovers diskutiert worden. Sie wissen, daß wir uns nicht für eine Amnestie aussprechen können, und zwar deshalb nicht - ganz verkürzt gesagt -, weil nach unserer Ansicht niemand wegen seines Protestes irgendwo in den Gefängnissen sitzt. Wer nicht wegen des Protestes sitzt, braucht auch keine Straffreiheit. Es sitzen vielmehr diejenigen, die Autos zerstört, die Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Landfriedensbruch begangen haben. Ich glaube, es wäre geradezu ein Aufruf an die Rechtstreuen, sich ebenso zu verhalten, wenn man jetzt den Rechtsuntreuen nachgäbe. Wir dürfen es Sauter ({5}) nicht zu der Situation kommen lassen, in der die Wiederanwendung von ausgesetzten Rechtsvorschriften als reine Willkür dargestellt werden könnte. Ich hoffe, daß dieser Zwischenbericht eine breite Diskussion auslösen wird. Wir alle sind aufgerufen, diese Diskussion sowohl im Parlament als auch draußen mit den jungen Leuten zu führen. Darum bitte ich Sie sehr herzlich. ({6})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich meinen ausdrücklichen Dank an die Mitglieder der Enquete-Kommission aussprechen. Man merkt dem pünktlich vorgelegten Zwischenbericht an, daß hart um der Sache willen gerungen worden ist, um die richtigen Wertungen zustande zu bringen. Diese Pünktlichkeit ist für mich auch ein Stück Zuverlässigkeit und damit ein Beitrag für die Glaubwürdigkeit dieses Parlamentes. Ich will mich vor allem mit dem Analysenteil des Berichtes befassen. Dieser Teil macht deutlich, daß Jugendpolitik - das ist teilweise schon zum Ausdruck gebracht worden - alle Bereiche der Politik umfaßt. Die Enquete geht weit über den Rahmen des bisherigen Verständnisses von Jugendpolitik hinaus. Das ist für mich übrigens nicht überraschend. Dinge wie Jugendhilfegesetz, Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge und Jugendschutzgesetz werden nicht einmal angesprochen. Das kritisiere ich nicht; damit kein Irrtum entsteht. An den Debatten um Wohnungsbau- und Bildungspolitik, um Frieden und Umweltschutz sind Jugendliche eben viel stärker, j a besonders interessiert. Das ist eigentlich kein Wunder. Die Jugend interessiert die Vergangenheit wenig, die Gegenwart kaum, aber die Zukunft ganz besonders stark. Darauf müssen wir bei unseren Auseinandersetzungen Rücksicht nehmen. Deshalb sind die Jugendlichen bei den Themen, die die eigenen Zukunftsinteressen berühren - wie Kernenergie, Jugendarbeitslosigkeit, Bildungsfragen, Zivildienst, Entwicklungshilfe -, viel stärker sensibilisiert, als das dem alten Verständnis von Jugendpolitik eigentlich entspräche. Hält man sich die Auswirkungen all dieser Bereiche der Politik für die jungen Menschen vor Augen, dann ist das Ganze eigentlich selbstverständlich und nur logisch. Wir müssen uns eben daran gewöhnen, den Begriff Jugendpolitik weiter zu fassen, als das in der Vergangenheit oft geschehen ist. Natürlich: Jugendarbeit im engeren Bereich ist genauso notwendig, aber Jugendpolitik heißt eben, in allen Bereichen der Politik bei Entscheidungen zu sehen, daß das eine bestimmte Wirkung oder auch Nichtwirkung für junge Menschen beinhaltet. Darüber mehr zu sprechen, es deutlicher zu machen, scheint mir eine Aufgabe zu sein, um hier auch das Verständnis für bestimmte Entscheidungen größer werden zu lassen. ({0}) Meine Damen und Herren, Politik für Jugendliche ist kein einfaches Unterfangen. Sie muß glaubwürdig sein und darf sich nicht in bloßer Programmatik erschöpfen. Denn gerade auf diesem Gebiet sind Jugendliche ganz besonders sensibel. Sie registrieren aufmerksam die Widersprüche, die zwischen Programmen und praktizierter Politik oft bestehen. Manchmal ist die Kritik berechtigt, weil man allzu schnell bereit ist, von programmatischen Aussagen abzugehen. Manchmal ist sie unberechtigt, weil zwischen Programmen und ihrer Verwirklichungsmöglichkeit eben viele Hürden zu überwinden sind. Jugendliche sind oft sehr idealistisch eingestellt und reagieren schnell, wenn ihre Ideale nicht sofort durchgesetzt werden. Dies geht aus den verschiedenen Untersuchungen eindeutig hervor, aber auch die persönlichen Erfahrungen bestätigen das. Ich darf hier ein paar Erfahrungswerte aus der gemeinsamen Diskussion einflechten, die wir hier vor wenigen Tagen geführt haben. Meine Bitte an alle: Wir werden aufgefordert, eine Auswahl für diese Jugenddiskussion vorzuschlagen. Aus den Gesprächen, die ich danach mit einzelnen Gruppen hatte, kam immer wieder hervor, ob es nicht im gemeinsamen Interesse wäre, wenn wir alle darauf verzichten, Jugendgruppierungen, mit denen wir eh ständig im Gespräch stehen, zu solchen Gelegenheiten einzuladen und statt dessen nur solche Jugendgruppierungen einzuladen, die mit den politischen Parteien eben keine enge Verbindung haben, ({1}) um so die Möglichkeit der zusätzlichen Auseinandersetzung zu geben. Ich bitte, darüber doch mit nachzudenken, weil das auch ein Stück zusätzlicher Glaubwürdigkeit bedeutet, weil es bedeutet, daß wir über den Rahmen des für uns sonst Selbstverständlichen hinausgehen wollen. Ein weiterer Punkt, der mir an dem Zwischenbericht besonders auffällt, ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit in der Politik. Hier ist schon auf die Umfrage, die in Nordrhein-Westfalen durchgeführt worden ist, hingewiesen worden; ich will dies nicht wiederholen. Aber das macht deutlich, wie notwendig es ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Der Glaube vieler Menschen an Engagement, Ehrlichkeit und guten Willen von Politikern, Parteien, Gewerkschaften und Justiz ist erschüttert; dies geht gerade aus Gesprächen mit Jugendlichen immer wieder hervor. Damit ist aber nicht nur der sachliche Inhalt gemeint, sondern auch der Stil der Parteien, innerhalb und außerhalb dieses Hauses miteinander umzugehen. Ich möchte doch einmal zitieren, was mein Kollege Eimer in der ersten Lesung dazu ausführte. Er sagte: Wir Politiker werden Jugendliche aber nur dann ansprechen können, wenn wir Glaubwürdigkeit besitzen. Ich möchte uns deshalb bei dieser Gelegenheit selbst fragen, ob es richtig ist, daß wir zu Naturschützern nur Kernkraftgegner aus unseren Reihen schicken, zu Wehrdienstverweigerern keine Verteidigungspolitiker, zu Sozialverbänden keine Finanzpolitiker, zu Gewerkschaften keine Wirtschaftspolitiker. Gerade Jugendlichen gegenüber müssen wir deutlich machen, daß ein Politiker nicht die Aufgabe hat, Populäres zu sagen, sondern Notwendiges populär zu machen. ({2}) Was hier vor einem Jahr gesagt wurde, hat heute noch Gültigkeit. Das Protokoll verzeichnet, daß damals Beifall von allen Seiten kam. Herr Ministerpräsident Vogel hat wieder auf Ähnliches aufmerksam gemacht. Wenn wir selbstkritisch genug sind, müssen wir zugeben, daß die Bereitschaft, sich so zu verhalten, in den letzten Jahren nicht durchgängig größer geworden ist. Wir müssen also immer wieder selber überprüfen, ob wir das, was wir gemeinsam für richtig halten, auch in der Praxis anwenden. ({3}) An diese Aufforderung, Notwendiges populär zu machen, sind natürlich eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Wir sollten alle gemeinsam folgendes deutlich machen: Erstens. Die von uns in dieser Debatte behandelten Fragen werden, wie sich gezeigt hat, bei uns im wesentlichen gleichermaßen gesehen. Das gilt auch für weite Bereiche nationaler und internationaler Probleme. Warum scheuen wir uns dann, wenn wir es gleich sehen, oft, dies auch gemeinsam zu vertreten? Dies wird von jungen Menschen nicht verstanden. Zweitens. Der Wille zum Helfen, der Wille zum Frieden, der Wille zum redlichen Bemühen um gerechte Problemlösungen darf niemandem abgesprochen werden. Wenn dieser Eindruck entsteht, kommt sofort das Gefühl, daß die Politiker, wenn sie sich den redlichen Willen nicht einmal gegenseitig bestätigen, den redlichen Willen erst recht bei jungen Menschen nicht anerkennen. Auch dies ist gemeinsam zu sehen. ({4}) Natürlich will ich damit nicht wegwischen, welche unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen in den Parteien vorhanden sind. Sie müssen vorhanden sein. Das beruht, wie Kollege Eimer schon gesagt hat, auf den unterschiedlichen Wertvorstellungen, die den Parteiprogrammen zugrunde liegen, und auf den unterschiedlichen Menschenbildern, an denen diese Politik ausgerichtet ist. Das müssen wir deutlich machen. Aber dabei muß immer auch sichtbar werden, daß der Mensch, der hinter dieser Meinung steht, über der Sachauseinandersetzung nicht herabgesetzt wird, sondern daß der Mensch, der eine andere Meinung hat, genauso geachtet wird, wie ich mich bei meiner eigenen Meinung geachtet wissen will. Auch dies ist für viele junge Menschen ein wichtiger Bestandteil der Glaubwürdigkeit. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen auch Irrtümer eingestehen können, die wir gemeinsam begangen haben. Nicht derjenige ist schwach, der sich irrt, sondern derjenige, der den Irrtum, der seine Fehler nicht zuzugeben vermag. Vorhin war in einer Zwischenfrage so ein Punkt, bei dem das Gefühl entstand, daß bei der Beseitigung eines Fehlers, der im Zuge des Vermittlungsverfahrens begangen worden ist, mehr Ursachenforschung betrieben als das Ziel verfolgt worden ist, eine viel bessere Lösung zu finden. Wir brauchen Glaubwürdigkeit, wenn wir einander zuhören, wenn wir aufeinander hören und bereit sind, die eigene Position zu überprüfen. Wenn man Glaubwürdigkeit erlangen will, erfordert das natürlich Zeit und ein Bemühen beider Seiten. Ist es nicht oft so - diesen Vorwurf müssen wir uns alle machen -, daß die Reaktion auf eine Gegenmeinung sehr schnell geschieht, bevor überhaupt der Gedankengang, der dahintersteht, nachvollzogen werden kann und damit eine ungerechte Wertung eines Urteils einer anderen politischen Seite erfolgt? Auch hier sollten wir uns bemühen, den Effekt der schnellen Reaktion im Hinblick auf die Notwendigkeit der gerechten Beurteilung zu überprüfen. Das gilt selbstverständlich für den Politiker, der die Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nimmt, ebenso wie für den Bürger, der Glaubwürdigkeit in der Politik erwarten kann. Natürlich wissen wir, daß dabei die politische Bildung, die Medien und alles, was dazugehört, eine wichtige Rolle spielen. Aber ich möchte auch hier noch einmal deutlich machen, was vorhin in anderer Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Viele junge Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sprechen davon, daß es ihnen persönlich durchaus gutgeht. Aber wenn man sie fragt, wie sie die allgemeine Entwicklung sehen, dann bringen sie zum Ausdruck: Ja, die ist sehr, sehr negativ. Hier eine Mahnung an unsere Medien, an unsere Publizisten: Neigt nicht die ganze Publizistik dazu, das Negative durch Schlagzeilen ganz weit herauszustellen, aber das Positive, das in diesem Land geschieht, kaum zu berücksichtigen und oft unter den Tisch fallen zu lassen?! ({6}) Dies kann für unsere gemeinsamen demokratischen Wertvorstellungen nicht gut sein. Wenn ich will, daß das, was aus politischer Überzeugung geschieht, was mit Mehrheit entschieden wird, was oft durch sehr komplizierte Entscheidungsvorgänge zu einer Entscheidung gebracht wird, akzeptiert wird, dann ist es natürlich notwendig, daß man sich selbst ein Urteil bilden kann. Wenn ich das so ausdrücken darf: Die Akzeptanz des Willens der Mehrheit setzt Transparenz der Entscheidungswege voraus, oder, einfacher ausgedrückt, wenn ich will, daß das, was eine Mehrheit entschieden hat, auch begriffen wird, muß ich deutlich machen, warum es zu dieser Entscheidung gekommen ist. Und gerade daran mangelt es oft bei uns. Ich denke nur daran, wie wir uns selbst hier über Vermittlungsausschußergebnisse unterhalten haben. Manches davon war schon für viele Kollegen des Hauses schwer verständlich; erst recht muß das dann für die Bevölkerung gelten. Wenn wir die Akzeptanz, die Bereitschaft, Entscheidungen hinzunehmen, sie mitzutragen, haben wollen, muß sichtMischnick barer werden, warum man zu diesen Entscheidungen gekommen ist. Gefreut haben mich manche positiven Bewertungen in dieser Enquete. Viele Formen friedlichen Protestes sieht die Kommission als - ich zitiere wörtlich - „Ergebnis einer im demokratischen Sinne gelungenen Sozialisation" an. Dies ist ein Appell an uns alle, auf Meinungsäußerungen dieser Art frühzeitig zu hören und nicht erst dann zu reagieren, wenn, wie es hier schon gesagt worden ist, Steine fliegen. Protest ernst nehmen und in die politische Arbeit mit aufnehmen heißt aber nicht, sich etwa als Politiker jeweils dem stärksten Druck zu beugen. Dies wäre völlig falsch. Es heißt aber auf jeden Fall, nicht in jedem Protest von vornherein etwas Staatsgefährdendes zu sehen, sondern sich mit dem Protest in der Sache auseinanderzusetzen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch noch darauf hinweisen, daß viele dieser Proteste, die man Jugendlichen zuordnet, gar nicht nur von Jugendlichen kommen, sondern auch von vielen älteren Jahrgängen mitgetragen werden. Ich begrüße deshalb die klare Aussage des Zwischenberichts zum staatlichen Gewaltmonopol. Ich möchte sie hier nicht voll zitieren. Diese Aussage findet meine volle Unterstützung. Daß dem Staat ein Gewaltmonopol zusteht, ist ein Grundsatz der demokratischen liberalen Rechts-staatsidee. An diesem Postulat darf nach meiner Überzeugung, nach unserer Überzeugung nicht gerüttelt werden. Wer zuläßt, daß vom Gewaltverbot für jeden anderen außerhalb des Staates abgewichen wird, der würde sich selbst schuldig machen und uns auf den gesellschaftlichen Zustand der Steinzeit zurückführen. ({7}) Hier darf und kann es keine Kompromisse, kein Relativieren, keine Einschränkungen geben. Wo die Gewalt anfängt, da hört die Politik auf. Das gilt aber auch unerbittlich für beide Seiten. Das Gewaltmonopol des Staates stellt aber auch denjenigen keinen Freibrief aus, die im Auftrag anderer oder für den Staat, für die Macht im Staat Gewalt ausüben. Beides müssen wir hier sehen. ({8}) Der Einsatz der Gewalt ist immer das letzte Mittel. Wir müssen natürlich auch die Frage stellen: Ist das nicht auch ein Eingeständnis einer politischen Niederlage? Dies heißt: Wenn man staatliche Gewaltmittel einsetzen muß - es gibt solche Situationen -, muß sich der Politiker gleichzeitig die Frage stellen, was vorher möglicherweise hätte anders gemacht werden können, damit es nicht zu diesem Einsatz kommt. ({9}) Wir führen diese Gewaltdiskussion in unserem Lande nicht zum erstenmal. Die unruhige Studentengeneration der späten 60er Jahre hat das schon einmal getan. Wenn ich es richtig sehe, ist j a die APO von damals über dieser Frage „Gewalt, Gewaltanwendung, in welcher Form auch immer: ja oder nein?" in sich zusammengefallen. Ein sehr weitgefaßter Gewaltbegriff hatte seinerzeit zu der These von der einer modernen Industriegesellschaft innewohnenden strukturellen Gewalt geführt. Damit war gemeint, daß die ungerechte, jedenfalls ungleiche Verteilung von Macht und Einfluß in unserer Gesellschaft dazu führe, daß einzelne Gruppen oder Personen anderen ihren Willen aufzwingen, sie zu einem bestimmten Verhalten veranlassen können. Dies sei in letzter Konsequenz nichts anders als Gewalt. Selbst wenn man dieser Analyse folgt, so muß man aber dennoch nicht den manchmal daraus abgeleiteten Thesen folgen. Eine Ungenauigkeit der Sprache macht den gedanklichen Kurzschluß leicht. Da wird die blutige Gewalttat mit dem Recht und der Fähigkeit, etwas bewirken zu können, gleichgestellt. Dies kann man als Demokrat, als Liberaler mit Sicherheit nicht unterstützen. Um unserer Glaubwürdigkeit als Politiker willen können wir das Problem, daß der Staat Gewalt einsetzen muß, nicht von seinem Ende her diskutieren. Das Ende sind Barrikaden, Polizeiknüppel und Steinwürfe. Wie fing es aber an? Wie kommt es dazu? Sich damit auseinanderzusetzen, scheint mir immer ertragreicher zu sein, als das negative Ergebnis zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen. Es kommt oft dazu, weil wir es manchmal für ausreichend halten, wenn den formalen Anforderungen des Rechtsstaates und der Demokratie Genüge getan ist. Was aber soll der Bürger von einer formal korrekt zustande gekommenen Entscheidung halten, wenn er innerhalb der bestehenden Systeme keine echte Möglichkeit sieht - ob zu Recht oder zu Unrecht, will ich dahingestellt sein lassen -, diese Entscheidung in seinem Sinne zu beeinflussen? Was helfen ihm selbst Wahlrecht und Parteimitgliedschaft, wenn keine Partei seine Bedürfnisse aufgreift? Formal korrekte Prozeduren sind notwendig, aber für sich allein genommen noch keine hinreichende Bedingung dafür, daß die Bürger die so zustande gekommenen Entscheidungen auch akzeptieren. Hier ist eine Reihe von Punkten angesprochen, die wir mit aller Ruhe und Nüchternheit weiter behandeln müssen. Lassen Sie mich zum Abschluß noch ein paar weitere Bemerkungen machen. Ich bitte notfalls um Verlängerung meiner Redezeit um drei Minuten. Es geht natürlich auch - lassen Sie mich das ebenfalls sagen - um die beinahe schon professionell gewalttätigen Gruppen, die im Schutz großer Demonstrationen ihr Unwesen treiben. Dies sind für mich Kriminelle, und sie müssen so behandelt werden. Sie schaden denen, die Protest aus innerer Überzeugung leisten. Es ist aber auch notwendig, daß diejenigen, die Protest aus ihrer Überzeugung leisten, sich von diesen Kriminellen distanzieren. Es geht aber vor allem um Minderheiten, die sich nicht verstanden fühlen, die Schwierigkeiten haben, notwendige Entscheidungen auch einzusehen. Der Lösungsteil zeigt diesbezüglich, insbesondere bei den Themenbereichen Hausbesetzerfragen, Amnestie, Bürgerbeteiligung, wie ich meine, positive Ansätze. Sie gilt es weiterzuführen. Ich bitte die Damen und Herren der Enquete-Kommission, dies weiterhin so gründlich und so konstruktiv zu tun, wie dies bisher geschehen ist. Zur Förderung alternativer Projekte, zur Dezentralisierung der Gesellschaft und zur Problematik der sogenannten kleinen Einheiten möchte ich nur noch folgendes sagen. Wenn es das Ziel der Politik ist, für junge Menschen dazusein, sie zu überzeugen, dabei zu helfen, Angst zu überwinden, Vertrauen, Motivation und Engagement zu fördern und genügend Freiraum für sie zu schaffen, so ist es notwendig, daß wir das Vertrauen der Jugend selbst gewinnen. Natürlich, Jugendliche brauchen mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten, nicht schärfere Vorschriften und Gängelung. Es darf auch nicht darum gehen, daß wir uns einbilden, keimfreie Lösungen anbieten zu können, sondern die Bereitschaft zur eigenen Leistung, zu Eigeninitiative und zu Eigenverantwortung muß gefördert werden. Hier verweise ich nur darauf - wie es schon in einem Beitrag geschehen ist -, daß wir breite Räume der Jugendpolitik haben, wo dieses Engagement, diese Leistungsbereitschaft, diese Einsatzbereitschaft vorhanden sind und manchmal mit wirklich ganz geringen Mitteln sehr viel erreicht werden kann, was uns davor bewahren würde, später viel mehr Mittel einsetzen zu müssen, um von dem, was an negativen Erscheinungen entstanden ist, wieder freizukommen. ({10}) Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich dem Vorsitzenden der Kommission, dem Kollegen Wissmann, ausdrücklich dafür danken, daß er sich in seiner Partei seit langem dafür einsetzt, in der Frage der Wehrdienstverweigerung zu einem kompromißfähigen Lösungsvorschlag zu kommen. Ich wünsche ihm dabei sehr viel Erfolg. Wir haben hier schon gesehen, daß dies kein leichtes Unterfangen ist. Ich kann nur hoffen, daß nicht der Streit um die Frage „Sind da 10 000 oder 20 000 Plätze mehr oder weniger vorhanden?" die Notwendigkeit der Entscheidung überschattet. Wenn wir nicht fähig wären, diese 10 000 oder 20 000 Plätze zustande zu bringen, dann hätten wir unsere Aufgabe als Politiker verfehlt. ({11}) Es geht um die Lösung und nicht um eine Ausrede, weshalb man vielleicht diese Lösung nicht findet. Wie unterschiedlich in der Öffentlichkeit die Beurteilung ist, mögen Sie daran sehen, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 10. Mai schrieb, einen unwichtigen Abschnitt des Berichtes, nämlich die Frage der Kriegsdienstverweigerer, habe man in den Vordergrund gestellt. Wie wenig Ahnung haben diejenigen, die so etwas schreiben, davon, wie wichtig dieser Punkt für die junge Generation ist. Es ist nicht der einzige wichtige Punkt, aber es ist ein gewichtiger Punkt im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit dieses Parlamentes. ({12}) Wir wissen: Das Gewissen ist nicht überprüfbar. Und das Fehlen einer Regelung verhindert, daß in unserem Lande in diesem Bereich Gerechtigkeit geübt werden kann. Dies ist eben auch ein wichtiges Stück unserer eigenen politischen Glaubwürdigkeit. Beweisen wir doch gerade an diesem Punkte, daß wir gemeinsam nicht nur zur Analyse fähig sind, sondern daß wir auch fähig sind, das gemeinsam als richtig Erkannte ohne Rücksicht darauf, ob der eine oder der andere etwas mehr über die eigenen Hürden springen muß, in Lösungen umzusetzen! Denn die Lösung wollen die Jugendlichen und nicht nur die Analyse. - Herzlichen Dank. ({13})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt den Zwischenbericht der Enquete-Kommission. Ich darf mich sehr herzlich bei den Abgeordneten des Bundestages bedanken, die sich an dieser schwierigen Arbeit beteiligt haben. Die Bundesregierung sieht auch zum großen Teil die Analyse bestätigt, die das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit vor einem halben Jahr vorgelegt hat. Ich glaube, es ist wichtig, daß Abgeordnete aus allen Fraktionen des deutschen Bundestages zusammen mit den Sachverständigen zu einer weitgehend gemeinsamen Haltung gegenüber dem aktuellen Protest der Jugend gefunden und sich auf erste Schlußfolgerungen geeinigt haben. Das Ergebnis des Zwischenberichts macht auch das Gespräch mit den jungen Leuten selbst leichter. Wir sollten daher darum kämpfen, daß wir in der zukünftigen Debatte die Gemeinsamkeiten dieses Zwischenberichts erhalten können. Es wird dabei sehr darauf ankommen, wie wir miteinander die Probleme behandeln. Wenn wir den tiefgreifenden Veränderungen in vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens und den internationalen Bedingungen, die darauf Einfluß haben, gerecht werden wollen, sind Neuorientierungen in verschiedenen Politikfeldern erforderlich, nicht nur auf dem jugendpolitischen Feld im engeren Sinne. Wir können uns also nicht mit besorgtem Gesicht über den Patienten Jugend beugen, eine Therapie entwickeln und uns als Politiker, als Erwachsene dabei außen vor lassen. Der Protest der jungen Leute ist an vielen Stellen eher eine gesunde Abwehrreaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen, auf soziale Risiken oder Unverträglichkeiten von bisher aufgebautem oder weiter Geplantem. Die Kommission schreibt j a auch zu Recht, daß sie viele Formen friedlichen Engagements als Ergebnis einer im demokratischen Sinne gelungenen Sozialisation begreift. Aber gerade weil der vorgelegte Zwischenbericht so bedeutsam ist, möchte ich davor warnen, sich die Sache zu leicht zu machen. Keiner sollte glauben, man befasse sich nur mit einer kleinen Minderheit der Jugendlichen, während doch die große Mehrheit von den angeschnittenen Problemen nicht betroffen sei. Ich glaube, dies wäre ein großer Irrtum. Die zentralen Themen des Jugendprotests beschäftigen große Mehrheiten der jungen Generation, auch wenn diese selbst nicht aktiv in der Protestszene in Erscheinung treten. Es wird oft auch zu Unrecht der Versuch gemacht, Erziehung und Bildung in Schule und Familie für den aufgebrochenen Protest verantwortlich zu machen. Hinter diesem Versuch steht eine eindeutige Absicht: Man will einfach die jungen Leute Mores lehren. Wer aber glaubt, der Protest sei nichts anderes als schlechte Kinderstube, und wer mit Pädagogik statt mit Politik antworten will, der hat die Jugend und die gestellten Fragen nicht recht begriffen. ({0}) Erziehung und Bildung haben in der Demokratie auch die Kritik der politischen Herrschaft zu ermöglichen und dienen nicht deren Bequemlichkeit. Politischen Protest und politische Kritik für Ungezogenheit zu halten, ist daher wenig demokratisch. Die Konsequenz kann deshalb für uns nur lauten, den Protest ernstzunehmen und politisch aufzugreifen. Ein Blick auf die Inhalte macht klar, daß durch den Protest wichtige politische Ziele und Überzeugungen angesprochen werden. Es gibt doch, wenn ich es richtig sehe, kein fertiges Konzept, das - angefangen beim Städtebau und Wohnraum über Fragen der Abrüstung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze und Ausbildungsstellen bis zu Fragen der Jugendförderung - eine Behebung der Ursachen des Protests verspricht. Dafür sind die Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft bei uns und in der übrigen Welt zu tiefgreifend. Zum Beispiel kann noch keiner absehen, wie die neuen Technologien unser aller Leben verändern werden, ob und wie sie sozial verkraftbar sein werden. Dies, meine Damen und Herren, ist doch einer der Punkte, auf die uns die jungen Menschen stoßen wollen: daß die Gewinn- und Verlust-Rechnungen breiter angelegt werden müssen, daß die Folgen für unser soziales Zusammenleben, für die Familien, für die Natur und nicht zuletzt für die Völker, die den Globus mit uns bewohnen, mit einbezogen werden müssen. „Soziale Marktwirtschaft" könnte so etwas schon heißen, wenn man das Adjektiv „sozial" dabei stärker berücksichtigen würde. Ich glaube, uns Politiker trifft hier eine besondere Verantwortung. Wir sollten nicht ängstlich auf die kritischen Diskussionen der Jugend reagieren, sondern den Mut haben, uns den Themen zu stellen. Wir haben auch die Pflicht, geduldig zu erläutern, warum Entwicklungen so und nicht anders verlaufen sind, wer dafür Verantwortung trägt und wie Entscheidungen zustande gekommen sind. Es ist beispielsweise eine wiederkehrende Argumentation, Verplanung und Bürokratisierung als Folge eines spezifischen Politik- und Staatsverständnisses darzustellen. Auch dies ist, so meine ich, eine unzulässige Verkürzung: Ein Mehr an Effizienz, an Arbeitsteilung, an Rationalisierung, an Technologie, an Steuerungstechnik, an Programmierung, an Personalführung, an all dem, was bisher als Gebot von Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit angesehen wurde, hat einen wachsenden Dienstleistungsbereich, hat mehr Bürokratisierung, Planung und Expertenherrschaft hervorgerufen. Wir dürfen jedoch auch nicht die Illusion nähren, als könnten wir uns aus der industriellen Gesellschaft verabschieden und bei der Gestaltung unserer Zukunft auf neue Technologien verzichten. Es geht vielmehr um die menschliche Gestaltung der hochtechnisierten Welt, und dabei können wir viele Anregungen aus der jungen Generation aufgreifen. Wir müssen auch den Mut haben, z. B. über Solidarität und soziale Gerechtigkeit zu sprechen, und müssen dann auch den Mut haben, unsere großen Solidargemeinschaften gegen die Vorwürfe der Entmündigung zu verteidigen. Wir müssen deutlich machen, daß sie den Menschen in unserer Gesellschaft ein Maß an sozialer Sicherheit gebracht haben, das wohl niemand wieder aufgeben will. Mit den Nachteilen großer Institutionen müssen wir und können wir fertig werden; auch erstarrte Strukturen können wir aufweichen und damit einen gemeinsamen Weg suchen. Neben diesem notwendigen und ehrlichen Dialog mit den jungen Leuten, den wir aber nicht verzagt und mutlos führen sollten, geht es um konkrete Punkte, die hier heute morgen auch schon angesprochen worden sind. Ich glaube, wer nach Großbritannien schaut, sieht, daß die Ereignisse des letzten Sommers einen Eindruck von der Hoffnungslosigkeit, Verbitterung und Gewalttätigkeit geben, die die Arbeitslosigkeit bei den betroffenen Jugendlichen hervorrufen kann. Wir in der Bundesrepublik Deutschland müssen diese Situation dann, wenn wir uns anstrengen, nicht durchleiden. Wir haben nämlich eine Chance, genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, wenn es eine Anstrengung aller gesellschaftlichen Kräfte gibt. ({1}) Deswegen bin ich auch froh, daß z. B. in der Gemeinschaftsinitiative 400 Millionen DM weiter zur Verfügung gestellt wurden zum beschleunigten Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten, für die Ausbildung benachteiligter Jugendlicher sowie für bildungs- und ausbildungsbegleitende Hilfen für arbeitslose Jugendliche. Wir sollten hier die Anregung der Kommission aufgreifen und überlegen, wie die Zahl der Ausbildungsplätze in Unternehmen, auf die Bund, Länder und Gemeinden Einfluß haben, erhöht werden kann. Der öffentliche Dienst sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist in diesem Zusammenhang auch wieder darauf hinzuweisen, daß Jungen und Mädchen eine berufliche Ausbildung erhalten und nicht mühsam erkämpfte berufliche und soziale Chancen von Mädchen wieder verlorengehen. Ich appelliere daher auch von dieser Stelle aus an Sie, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun, um auf Betriebe einzuwirken, damit bestehende Ausbildungskapazitäten voll ausgeschöpft werden können. ({2}) Ich freue mich, daß sich die Abgeordneten in der Frage der Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung auf eine gemeinsame Haltung einigen können. Es wäre sehr reizvoll, auf die kontroverse Diskussion innerhalb der CDU/CSU-Fraktion einzugehen. Ich will dies nicht tun, sondern will mich dem Appell von Herrn Mischnick anschließen und Herrn Wissmann guten Erfolg wünschen bei seiner Arbeit bei seinen eigenen politischen Freunden. ({3}) Wir wollen helfen, soweit es irgend geht. Ich glaube, ein Ergebnis dieser Jugendkommission muß sein, daß wir das Zivildienstrecht relativ schnell und konkret ändern. ({4}) Die Jugendlichen haben einen Anspruch darauf, endlich zu wissen, wie die rechtliche Situation ist.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich Sie fragen, Frau Minister, ob Sie wie Ihre Vorgängerin der Meinung sind, daß ein Gesetzentwurf aus Ihrem Ministerium in der Frage der Neugestaltung des zivilen Ersatzdienstes nicht notwendig ist?

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Diese Auffassung hat meine Vorgängerin nicht gehabt. Wir sind dabei - mit den Fraktionen zusammen -, nunmehr das Zivildienstrecht neu zu regeln, und ich appelliere an alle Abgeordneten dieses Hauses, daß wir endlich zu einer rechtlichen Regelung kommen. ({0}) Wir sind es den jungen Leuten schuldig, endlich weiterzukommen. Wir müssen die Gewissensprüfung abschaffen und müssen wissen, welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. Ich will ein paar Bemerkungen zu den Stellen machen. Wir haben heute 52 000 Plätze. Davon sind 32 000 besetzt. Wenn man dazu die 80 000 ins Verhältnis setzt, die hier im Spiel waren, sieht man schon, daß auch dieses Problem in relativ kurzer Zeit gelöst werden kann. ({1}) Deswegen sage ich noch einmal mit Nachdruck: Tun Sie doch nicht so, als sei wegen der fehlenden Plätze eine rechtliche Änderung nicht nötig! Wir müssen zuerst die rechtliche Änderung haben, dann haben wir auch die Chance, miteinander in dieser Frage weiter voranzukommen. ({2}) Ich habe die herzliche Bitte, die gesellschaftspolitische und politische Bedeutung dieses Themas zu begreifen und weiterhin wirklich den Versuch zu unternehmen, sich aufeinander zu zu bewegen, damit wir vorankommen in dieser Frage.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauter?

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, stimmen Sie mit mir überein, daß wir unabhängig von der rechtlichen Änderung auf Grund der Verfahren, die jetzt nicht entschieden sind, mehr Plätze brauchen, und warum schaffen Sie diese Plätze nicht?

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Abgeordneter Sauter, Sie drücken sich wieder um die politische Frage, ({0}) nämlich um die Frage: Wann kriegen wir ein neues Zivildienstrecht, ({1}) damit wir in dieser Frage in der jugendpolitischen Diskussion bestehen können? Wir müssen Plätze zur Verfügung stellen, müssen dafür sorgen, daß die Zivildienstleistenden auch einen Platz haben. Das ist in Ordnung. Aber wenn Sie mich nun fragen, muß ich Ihnen doch sagen: Ich bin bedrückt darüber, wie leichtfertig Sie über den Einsatz der Zivildienstleistenden in unserem Lande reden. Die ganze soziale Infrastruktur in der Altenpflege, in der sozialen Pflege, in der Jugendpflege ist doch aufgebaut worden mit der aktiven Mitarbeit der Zivildienstleistenden. Sie sollten endlich davon abkommen, so zu tun, als ob die alle Flöte spielen und telefonieren. ({2})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier?

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, könnten Sie, da natürlich dem Nichtfachmann schon der Unterschied zwischen 80 000 im Verfahren Befindlichen und „nur" 20 000 freien Plätzen auffällt, darauf hinweisen, daß selbst dann, wenn nach einer möglichen Regelung alle diese 80 000 einen Platz haben müßten, selbstverständlich nicht alle auf einmal einen Zivildienstplatz bräuchten? Man würde selbstverständlich die Älteren vorziehen und dann die nächsten nachziehen. Es kommt also nur darauf an, den Stau zu überwinden. Könnten Sie darauf aufmerksam machen, damit diese Milchmädchenrechnung von Herrn Sauter endlich ein Ende findet? ({0})

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Frau Abgeordnete, ich will das gerne aufgreifen. Ich habe es anzudeuten versucht, indem ich sagte: Wenn wir wissen, daß wir auch heute 20 000 offene Stellen haben, dann ergibt sich daraus, daß wir dieses Problem in relativ kurzer Zeit lösen können, wenn wir das alles ein bißchen hinziehen. Wir sind dabei, auch die Anerkennungsverfahren so zu gestalten, daß der Stau abgebaut wird. Aber ich weiß gar nicht, warum Sie sich so darüber aufregen. Es geht doch in dieser Diskussion vornehmlich darum, daß wir Herrn Wissmann ermuntern, die Frage des Zivildienstrechts weiter in seiner Fraktion zu betreiben. ({0}) Wir wollen ihm dabei helfen. Für die jugendpolitische Diskussion kommt es darauf an, daß wir endlich zu einer Regelung kommen. ({1})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wissmann?

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundesminister, ich möchte keine polemische Frage stellen, ich möchte nur fragen, ob Sie nicht bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Vorschlag der Kommission zwei Bestandteile hat, nämlich den Vorschlag der Abschaffung der Gewissensprüfung unter Verlängerung der Zivildienstzeit, und den Hinweis darauf, daß dazu gegebenenfalls auch zusätzliche Zivildienstplätze zu schaffen seien, und sind Sie bereit, sich mit mir darüber zu einigen, daß wir auf beiden Feldern etwas tun wollen und tun müssen, wenn wir eine Lösung herbeiführen wollen?

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Herr Abgeordneter Wissmann, ich stimme Ihnen völlig zu, ich möchte nur verhindern, daß man sagt: Erst machen wir das eine, und dann machen wir das andere; wir wollen beide Elemente aus dem Zwischenbericht aufgreifen. ({0}) Ich habe leider keine Zeit mehr, sonst würde ich weiter ausführen, daß wir die Absicht haben, beide Elemente gleichzeitig aufzugreifen. ({1})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Verzeihen Sie, Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauter ({0})?

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Ich bitte um Nachsicht, aber ich möchte zum Schluß kommen.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Es steht in Ihrem Ermessen, Zwischenfragen zuzulassen.

Anke Fuchs (Minister:in)

Politiker ID: 11000611

Ich möchte zum Schluß kommen, um meine Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich will noch zwei Sätze sagen. ({0}) - Wenn Sie mich provozieren, muß ich doch zu diesem zentralen Punkt des Zwischenberichts auch die Auffassung der Bundesregierung darstellen. ({1}) Ich glaube, es ist wichtig, daß wir hier die Gemeinsamkeit herausstellen und zu sagen versuchen, Herr Wissmann: Wir wollen beide Elemente sorgfältig betrachten. Das eine können wir ins Gesetz schreiben; bezüglich des anderen Elements müssen wir mit einem Plan aufwarten. Wenn Sie diesen Plan von mir erwarten, dann lege ich diesen Plan vor. Aber ich sage noch einmal: Ich hoffe, daß es gelingt, in den nächsten Wochen zu einer gemeinsamen Beratungsgrundlage für dieses wichtige Thema zu kommen, denn sonst könnten wir uns eigentlich die ganze Jugenddiskussion ersparen. Wir sind dann nämlich in dieser Diskussion nicht glaubwürdig. ({2}) - „Wieso denn das"? - Frau Wex, haben Sie denn immer noch nicht begriffen, daß es darauf ankommt, den jungen Leuten nunmehr endlich zu sagen, was ihre Rechte und Pflichten als Zivildienstleistende sind? Wir haben ihnen versprochen, daß wir die Gewissensprüfung abschaffen, und wir stehen bei ihnen im Wort, dies nun auch gesetzgeberisch umzusetzen. ({3}) Ich gehe noch ganz kurz auf die Frage der Jugendarbeit ein. Es sind eine Reihe neuer Elemente der Jugendarbeit in der Enquete-Kommission aufgearbeitet worden. Ich will nur ein Wort zu Initiativ- und Selbsthilfegruppen sagen. Ich meine, wer heute die Jugendarbeit vernachlässigt, der zahlt morgen teuer an kompensatiorischen Programmen, an Ausfall von Steuern und Sozialleistungen, an Ausfall von Zustimmung zu Staat und Gesellschaft, an Verlust von Lebensfreude. Ich nenne ein Zweites: Wenn ein Jugendhaus heute schließen muß, öffnet dafür morgen wahrscheinlich eine Spielhalle oder Disco. Kommerzielle Freizeitangebote werden sich da breit machen, die Marktlücke füllen, wo pädagogisch verantwortliche Arbeit aufgegeben werden mußte. Ich meine, dem sollten wir uns widersetzen. Wenn man den Bericht noch einmal durchsieht, und wenn man auch hinzufügt, was an sonstigen Untersuchungen vorliegt, dann stellt man fest, daß nicht die Institutionen dieses Staates in Frage stehen, denn die Jugend bekennt sich j a zu den Grundlagen der demokratischen Ordnung, zum Wert der Familie, zum Prinzip der Leistung. ({4}) Bundsminister Frau Fuchs Aber sie begegnet eben den gesellschaftlichen Institutionen und auch den Parteien und auch dem parlamentarischen Umgang, sehr verehrte Frau Abgeordnete, also der Praxis der rechtsstaatlichen und parlamentarischen Ordnung, kritisch. Deswegen müssen wir auch unser eigenes Verhalten überdenken. Wir müssen überlegen, wie problematisch zum Teil die Strukturen und Organisationsformen sind, und wir müssen auch sehen, wie Änderungen im System der politischen Willensbildung durchgesetzt werden können. Ich meine, dazu gehört, politische Verantwortung zu übernehmen und sich nicht hinter Sachzwängen und Organisationsstrukturen zu verstekken. ({5}) Aber es gehört auch dazu - damit komme ich zum Schluß - die geduldige Diskussion, damit wir dazu beitragen, daß aus der berechtigten Protesthandlung aktiver Einsatz für Politik wird. - Vielen Dank. ({6})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.

Irmgard Karwatzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister Fuchs, gerade zu dem Letzten - „geduldige Diskussion" - möchte ich für die Zukunft dann auch hier aufrufen, weil ich glaube, Sie haben dazu beigetragen, daß die Diskussion etwas hektisch wurde. ({0}) Ich meine, bei der Behandlung dieses Themas sollten wir doch miteinander zu reden versuchen. Ich meine auch, Frau Minister Huber, daß es darauf ankommt - - Entschuldigung, die Frau Minister war noch nicht in unserem Ausschuß, ich hatte sie von daher noch nicht so nah kennenlernen können. Ich bitte um Nachsicht, Frau Minister Fuchs. ({1}) Ich bin der Meinung, daß es allerdings auch darauf ankommt - und dazu haben Sie nichts gesagt -, daß wir bei der Behandlung des Themas „Jugendproteste" insbesondere auch die Stärkung der Familie zu sehen haben. Die der Jugendverbände ist außerordentlich wichtig, aber die der Familie ist es mindestens genauso. ({2}) Frau Minister Fuchs, Sie haben in Ihren ersten Wortbeiträgen gesagt, daß wir politisch handeln müssen. Aus meiner Position heraus möchte ich sagen: aber ohne Pädagogik bei der Behandlung dieses Themas geht es auch nicht. Ich glaube, es wurde in den früheren Jahren zuviel politisiert und zuwenig erzogen, ({3}) und auch dadurch haben wir heute diese Situation. Ich will zu zwei Bereichen Stellung nehmen, einmal zu den jungen Frauen in der Szene, und zum anderen will ich etwas Praktisches beitragen zur Lösung des Problems der Jugendarbeitslosigkeit. Es ist auffällig und auch wiederholt bedauert worden, daß in den im Bundestag vertretenen Parteien prozentual nur sehr wenige Frauen in verantwortungsvollen Positionen tätig sind. Im Gegensatz dazu kann man feststellen, daß bei den Grünen und alternativen Parteien der Anteil Frauen weitaus beachtlicher ist. Es fällt auf - und dies muß uns nachdenklich stimmen -, daß viele junge Frauen und Mädchen bei den im Zwischenbericht genannten Formen des Jugendprotestes mitmachen. Gerade auch bei den sogenannten Sponti-Gruppen sind Frauen und Mädchen besonders aktiv tätig. Was ist es eigentlich, was das Aussteigen für junge Frauen so attraktiv macht? Es mag sein - ich bin mir da nicht sicher -, daß ein übertriebener und manchmal falsch interpretierter Emanzipationsgedanke dazu beigetragen haben könnte. Muß es uns alle nicht sehr nachdenklich stimmen, wenn in vielen Gesprächen mit den jungen Leuten klar wurde - und dies wurde besonders von jungen Frauen artikuliert -, daß menschliche Nähe, Zuneigung und Geborgenheit oft nicht mehr erlebbar und nicht mehr erfahrbar werden. Die zahlreichen Mädchen und Frauen in der Protestszene klagen oft über die „Kälte" der Gesellschaft und berichten - und dies ist mir wichtig -, daß es in den alternativen Gruppen und Lebensformen anders zugehe. Auch der Zwischenbericht der Kommission bezeichnet dieses Gefühl der „kalten Gesellschaft" als „neuen Mangel", als einen - ich zitiere - „Mangel an Zuwendung, an persönlicher Geborgenheit sowie an sozialem und gefühlsmäßigem Angenommensein". Wie aus den Berichten der jungen weiblichen Aussteiger zu entnehmen war, sind sie in der Szene unter anderem, so sagen sie, weil sie ihre Gefühle dort besser einbringen können. Ihre Gefühle sind dann nicht Hindernis tagtäglicher Handlungsabläufe, sondern bilden ihre Grundlage und sind Bestandteil. Sie sagen: weil man dort ernst und angenommen wird und weil man Führungsanspruch nicht nur anmelden darf, sondern führen und lenken kann. Sosehr wir uns gegen eine verrechtlichte, ver-zweckte, verbürokratisierte Lebensordnung wenden, in der menschliche Werte wenig zählen, so sehr allerdings müssen wir andererseits vermeiden, daß jetzt ein anderes Extrem, nämlich das Ausleben aller spontanen Gefühle, in den Vordergrund tritt. Muß nicht vielmehr daraufhin erzogen werden, daß ein Gleichgewicht von Emotionalität und Rationalität im täglichen Leben die Grundlage bildet? Manchmal frage ich mich, ob ein Zuviel an Emotionalität, ein zu weit gehendes Aufgeben persönlicher Identität zugunsten einer Gruppenidentität nicht mehr zu einer Verunsicherung des Menschen beiträgt als zur Bewältigung von Problemen. Der junge Mensch beraubt sich vieler Möglichkeiten seiner individuellen Selbstverwirklichung, wenn er nicht gleichzeitig auch Erfahrungen mit der Verantwortungsübernahme macht. Eine Voraussetzung für Gruppenfähigkeit ist nun einmal die Übernahme persönlicher Verantwortung. In einem Referat, das Frau Professor Noelle-Neumann im November im Rahmen des Bergedorfer Gesprächskreises hielt, ging es um den Begriff der Selbstbeherrschung. Sie führte aus, daß in den letzten Jahren und Jahrzehnten das Training der Selbstbeherrschung in Familie und Schule für junge Leute abgenommen hat. Wenn ein junger Mensch es nie gelernt hat, so Frau Noelle-Neumann, sich selbst zu beherrschen, dann kann er auch die. Anforderungen, die später an ihn gestellt werden, nicht erfüllen. ({4}) Ohne Selbstbeherrschung und durch die allgemein verbreitete Meinung, die Umwelt sei an allem schuld, fühlt er sich von der Umwelt total eingefangen und gleichzeitig ausgeliefert. Dies führt dann zur Wehleidigkeit. ({5}) Ich meine, darüber sollten wir alle sehr nachdenken. Im übrigen ist in einer pluralistischen Gesellschaft ein konfliktfreies Leben ohnehin nicht denkbar. Sie lebt aus ihren Gegensätzen, und das ist gut. Aber bei der weiteren Behandlung in unserer Kommission muß gerade die Frage des Mittuns von jungen Frauen in der Szene noch weit differenzierter angegangen werden, als es bisher die Zeit erlaubte. Lassen Sie mich zu einem zweiten Aspekt, dem der Jugendarbeitslosigkeit, folgendes sagen. Es ist eine Binsenweisheit, daß Arbeit nicht nur den täglichen Lebensunterhalt sichert, sondern auch zur Zufriedenheit des Arbeitenden und zu seiner Selbstverwirklichung beiträgt. Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden, enthält man also nicht nur die Arbeit, sondern auch den Beruf vor. So meine ich, sollten wir das begrüßen, was wir uns in Berlin gemeinsam haben anschauen können, daß sich junge Leute zusammenfinden, um ihren eigenen Laden aufzumachen. Einige dieser Betriebe sichern ihren Mitarbeitern dadurch einen regelmäßigen Lebensunterhalt. Sie verschaffen gerade jungen Leuten Arbeitsplätze, die sie sonst nirgendwo finden könnten. Ich meine, wir sollten unsere Vorurteile gegen solche Experimente aufgeben. ({6}) Mir fällt auf, daß im Zusammenhang mit der Bewältigung von Jugendarbeitslosigkeit immer von Modeberufen gesprochen und den arbeitenden Jugendlichen oder den zur Arbeit bereiten Jugendlichen vorgeworfen wird, sie hätten einen zu engen Blickwinkel. Bei den Studenten fällt das Wort Modestudium sehr selten und höchstens in Verbindung mit Fächern wie Psychologie und Politologie. Den wahren Modestudenten, nämlich denjenigen, die Lehrer werden wollen, hat man erst in letzter Zeit zaghaft angedeutet, sie mögen doch auch andere Ausbildungsrichtungen in Erwägung ziehen. Absolventen von Real- und Hauptschulen müssen es als ungerecht empfinden, wenn den Privilegierten, also denen, die ohnehin schon eine lange Schulzeit bis zum Abitur hinter sich haben und die dann mehrere Jahre studieren dürfen, weniger an Flexibilität zugemutet wird als ihnen. ({7}) Ich will hier zwei konkrete Punkte benennen, die über die schon bekannten hinausgehen, wie man vielleicht Jugendarbeitslosigkeit bewältigen kann. Einmal sind Betriebe zu finden, die modellhaft bereit wären, miteinander gemeinsam Ausbildungsmöglichkeiten anzubieten, damit die Kosten nicht einen einzelnen treffen, sondern auf mehrere verlagert werden könnten. ({8}) Das Zweite: Ich finde es außerordentlich wichtig, gerade den benachteiligten Gruppen gezielte Hilfe zu geben. Ich denke hier insbesondere an die Lernbeeinträchtigten, nicht nur an die Lernbehinderten. Ich finde es von daher begrüßenswert - das muß man im Parlament auch einmal aussprechen -, daß im Ruhrgebiet gerade die Großunternehmen seit Jahren „soziales Engagement" betreiben. Sie haben spezielle Programme für Lernbeeinträchtigte eingeführt. Es ist keine Beleidigung, meine Damen und Herren, wenn dort von Jugendlichen gesprochen wird, „die ihre Intelligenz in den Händen haben". So bildet z. B. die Ruhrkohle AG in Essen neben Bergmechanikern auch Berg- und Maschinenmänner aus, die in einer nur zweijährigen Lehre in der Praxis unterwiesen werden und weniger Theorie erhalten müssen. Ich meine, jede Arbeit und jede Anregung, die aus der Großindustrie und aus der mittelständischen Wirtschaft kommt, sollten wir dankbar aufgreifen und durchführen. ({9}) Ich möchte folgenden Vorschlag machen, der sich an uns richtet. Ich greife damit eine Initiative des christdemokratischen Europaparlamentariers Dr. Franz auf. Auf seine Veranlassung hin hat sich im August 1981 - daß ich dies hier sagen kann, ist mit Herrn Dr. Franz abgesprochen - eine überparteiliche Initiative zur Verminderung der Jugendarbeitslosigkeit in Mülheim/Ruhr gebildet. Die Mitglieder dieser Initiative, „Paten" genannt, haben in ausführlichen Einzelgesprächen versucht, Fähigkeiten, Sorgen und Wünsche der Jugendlichen kennenzulernen und gemeinsam mit dem Arbeitsamt - das ist wichtig - einen geeigneten Arbeitsplatz bzw. eine Lehrstelle zu finden. Sie helfen bei der Bewerbung und Vorstellung der Jugendlichen und stehen auch zur Verfügung, wenn es Probleme am Arbeitsplatz gibt. Die Initiative arbeitet übrigens in enger Abstimmung und in vollem Einverständnis mit dem Arbeitsamt. ({10}) Ich will Ihnen den Erfolg dieser Initiative eines einzelnen Abgeordneten darstellen. Ich denke, das könnte auch für unser aller Handeln ein Maßstab sein. Der Erfolg der Mülheimer Initiative läßt sich mit Zahlen belegen. Von den 362 jugendlichen Arbeitslosen in Mülheim am 1. September 1981 waren nach fünf Monaten nur noch 59 arbeitslos, davon leider 33 türkische Jugendliche. Auf Grund der Stellenmeldungen von 106 Unternehmen, 16 Krankenhäu6296 sern und sechs Altersheimen konnten Jugendliche in 63 Firmen und Institutionen untergebracht werden. Dabei war die Erwartungshaltung der Initiatoren eigentlich eine weit geringere. Ich meine, so kann man als einzelner oder in kleinen unbürokratischen Gruppen schnell und wirksam etwas erreichen, worum sich die große Politik in ihrer Schwerfälligkeit - auch dies muß man hier bekennen - oftmals vergebens müht. ({11}) Ich meine, wir sollten oft mehr handeln und weniger reden. Dann hätten wir auch Möglichkeiten, solche Erfolgssituationen hier bekanntzugeben. ({12}) Lassen Sie mich ein kritisches Wort zur veröffentlichten Meinung sagen. Insbesondere die Medien, meine Damen und Herren, sind mitverantwortlich dafür, daß der Jugendprotest bereits eine Art normative Wirkung erhalten hat. ({13}) - Das weiß ich nicht, dafür bin ich nicht zuständig. Jemand, der ein Haus besetzt, hat häufig sofort bundesweite Publizität. Mit ihm wird diskutiert, seine Ansichten werden zum Anlaß für tiefsinnige Betrachtungen über den Zustand der Bundesrepublik Deutschland genommen. Durch die öffentliche Darstellung haben radikal Protestierende oft Erfolg. Ihnen werden beispielsweise Nutzungsverträge für besetzte Häuser angeboten, und der Facharbeiter mit drei Kindern muß zusehen, wie er auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung findet. ({14}) Es ist schon mehrmals gesagt worden, aber ich möchte es wiederholen: Die vielen hunderttausend Jugendlichen, die sich in der kirchlichen, gewerkschaftlichen, sportlichen Jugendarbeit und -initiativen engagieren, werden recht selten in den Medien erwähnt. Ich denke hier besonders an die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. ({15}) Vor allem aber verhindert die Hervorhebung der protestierenden Minderheit - das meine ich ehrlich - den Blick auf mögliche zukünftige Protestformationen. Gemeint sind die Jugendlichen der unteren Bildungs- und Sozialschichten, die heute zwar noch relativ zufrieden sind, aber angesichts drohender Arbeitslosigkeit diese Zufriedenheit nicht mehr länger „fortschreiben" können. Eine wachsende Arbeitslosigkeit könnte zu Unzufriedenheit auf ganz breiter Front führen und ein neues aggressives jugendliches Proletariat ohne Hoffnung und mit gesteigertem Haß gegen alles Etablierte erzeugen. Die Rebellion der arbeitslosen Jugendlichen in den britischen Industriestädten hat uns deutlich gezeigt, daß derartige Überlegungen nicht einer realistischen Grundlage entbehren. Ich möchte nicht, daß es hier dazu kommt. Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Zu den jungen Leuten, die ihren Unmut bisher noch nicht verstärkt in die Öffentlichkeit getragen haben, gehören die jungen Soldaten. ({16}) Sie haben bei einem geringen Sold ihren Wehrdienst oft weit weg von zu Hause abzuleisten. Jetzt werden noch zusätzlich Sozialleistungen gestrichen. Häufig sehen die Soldaten den Sinn ihrer Tätigkeit nicht recht ein. Das gilt z. B. hinsichtlich der Tatsache, daß viele von ihnen nach ihrer Grundausbildung noch zwölf Monate „Gammeldienst" leisten müssen. Das hat es immer gegeben, und das wird es immer geben. Aber auf Grund der Sparmaßnahmen werden Übungen seltener durchgeführt, und die sogenannte „Gammelei" nimmt weiter zu. Die jungen Soldaten protestieren zwar noch nicht lautstark. Ich möchte auch nicht, daß sie überhaupt je protestieren müssen. Vielmehr müssen wir ihnen adäquate Arbeitsplätze anbieten. ({17}) Abschließend: Ich wünsche mir, daß alle Abgeordneten und nicht nur die für Jugend, Familie und Gesundheit zuständigen mit den Jugendlichen reden, besser noch: ihnen zuhören; denn sie haben uns oft viel zu sagen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Schröder ({0}).

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es ganz gut, wenn die Regierung es begrüßt, daß das Parlament arbeitet. Deswegen fand ich auch die Bemerkungen, die Frau Fuchs - aufgeschrieben von ihren Beamten - zum Thema so engagiert vorgetragen hat, wirklich prima. Zu den einzelnen Ursachen der Angst, über die geredet worden ist, ist viel gesagt worden. Ich will das nicht alles wiederholen. Für mich sind drei Thesen und drei Ursachen wichtig. Erstens. Die historisch falsche These, daß mehr Waffen mehr Sicherheit garantieren, glauben immer weniger Menschen. Mehr Waffen, atomare zumal, schaffen so nicht Sicherheit, sondern verbreiten Unsicherheit und Angst. Die Angst ist angesichts der unvorstellbaren Zerstörungskraft dieser Waffen, die wir angehäuft haben, nicht etwa irrational, sondern rational. Zweitens. Die Vorstellung, daß wirtschaftliches Wachstum ohne weiteres mit Fortschritt, auch mit sozialem Fortschritt, gleichzusetzen sei, begegnet inzwischen tiefen Zweifeln. Angesichts von Studien wie etwa „Global 2000" ist dieser Zweifel mehr als berechtigt, denke ich. Angesichts täglich eintreffender Horrormeldungen über neue Umweltgefährdungen wird aus diesen Zweifeln schlicht Angst. Drittens. Eine der Profitmaximierung verpflichtete Wirtschaftsordnung läßt in wachsendem Maße mehr Menschen ohne Arbeit. Bei diesen Menschen Schröder ({0}) wächst der Zweifel, ob die persönliche Existenz noch durch Arbeit gesichert werden kann. Die persönliche, auch nur mittelbare Erfahrung mit Arbeitslosigkeit läßt aus diesen Zweifeln Angst vor dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz und dem damit verbundenen Verlust an menschlicher Würde, an Selbstbewußtsein werden. Weil Jugendliche eben jünger sind, weil sich ihr Zeithorizont auf die Zukunft und nicht in erster Linie auf die Vergangenheit bezieht, betreffen diese Entwicklungen und die daraus resultierenden Ängste Jugendliche sehr viel stärker als Altere. Wer über Protest redet, muß sich also mit Angst auseinandersetzen. Je nachdem, wie das geschieht - auch hier geschieht, nämlich insbesondere auf staatlicher Seite -, werden entweder Ängste abgebaut, aus ihnen resultierende Konflikte entschärft oder aber neue Angst hervorgerufen bzw. Konflikte verschärft. Staatliche Reaktion auf Protest kann Gräben so tiefer reißen, kann sie aber auch zuschütten helfen. Es sind vor allem zwei Vorwürfe, die uns alle hier treffen: Es sind, so paradox es klingen mag, der Vorwurf des Nichtstuns und der des Zuvieltuns zugleich. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß beide Handlungsweisen in einem sehr engen Zusammenhang miteinander stehen: Wir wissen z. B. um die Brisanz der Gefährdung unserer Gewässer, doch wir finden nicht genügend politische Kraft, den wirtschaftlich häufig mächtigen Verschmutzern dieser Gewässer nachhaltiger entgegenzutreten. Wir wissen, daß wir die Entsorgungsfrage bei der Atomkraft längst nicht gelöst haben, finden aber gleichwohl nicht ausreichende Kraft, massiv auf neue Energieformen zu setzen, hier auch administrativ einzugreifen. Wir wissen um das Elend in der Dritten Welt und finden nicht genügend Kraft, die lebensgefährlichen Rüstungsausgaben bei uns für die Bekämpfung des Elends und des Hungers in der Dritten Welt einzusetzen. Im Bewußtsein einer wachsenden Zahl von Menschen verhalten wir uns deshalb so, wie Pascal das in seinen „Gedanken über die Religion" beschrieben hat. Er sagt da: Sorglos eilen wir in den Abgrund, nachdem wir etwas vor uns aufgebaut haben, was uns hindert, diesen Abgrund zu sehen. Und weiter: Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend und Unwissenheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken. Ich will einräumen, daß dies übertrieben sein mag. Doch mir scheint, daß ein solches Bewußtsein sehr weit verbreitet ist, daß es zu den Ursachen für diesen Protest und für das Aufbegehren gehört und daß dieses Bewußtsein immer noch zunimmt. Unsere vermeintlichen und unsere wirklichen Handlungsdefizite rufen dann die Bürger selbst auf den Plan. Wo immer sie das Gefühl haben, daß ihre Ängste nicht ernst genommen, ihre Existenzfragen nicht - jedenfalls nicht zureichend - behandelt werden, handeln sie selber. Dann, meine Damen und Herren, handelt auch der Staat. Legitimiert durch Existenz und Verfahren demonstriert er dann häufig Stärke, pocht auf Kompetenzen, pocht auf sein Lösungs-, auf sein Gewaltmonopol; er setzt sich dann auch durch. Die Frage ist nur: zu welchen Kosten? Glauben wir denn ernsthaft, die Legitimitätskrise staatlicher Institutionen lösen zu können, wenn wir für gewiß üble Körperverletzungen an Polizisten Strafen auswerfen, die, wie etwa in Itzehoe geschehen, nur drakonisch zu nennen sind? ({1}) Eine Justiz, meine Damen und Herren, die so handelt, befindet sich auf dem gefährlichen Weg, sich für politische Ziele dienstbar machen zu lassen. ({2}) Dann spricht nicht nur Otto Kirchheimer von politischer Justiz; wir sollten es auch tun. Oder glauben wir ernsthaft, die Akzeptanz staatlichen Handelns vergrößern zu können, wenn, wie in Nürnberg geschehen, die größten Massenverhaftungen nach dem Kriege vorgenommen werden und wirksame Strafverteidigung durch Aktenmanipulationen verhindert wird? ({3}) Wer glaubt denn ernsthaft, daß dies im Bewußtsein junger Leute ohne Folgen bleiben könnte? Wer glaubt ernsthaft, daß dies Nähe zum Staat, wenn sie denn sinnvoll wäre, schaffen könnte?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauter?

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich, gern, Herr Sauter.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Bitte, Herr Sauter.

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schröder, glauben Sie ernsthaft, durch die Art und Weise, in der Sie über Jugendprobleme reden und in der Sie mit Angst machen, einen Beitrag dazu leisten zu können, damit es besser werden kann? ({0})

Gerhard Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002078, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube schon daran, Herr Sauter, sonst würde ich es nicht tun; die Frage verstehe ich also nicht ganz. Aber glauben Sie denn ernsthaft daran, die Übereinstimmung zwischen staatlicher Außen- und Sicherheitspolitik und den Friedenshoffnungen der Bürger und ihren Sehnsüchten nach Frieden dadurch vergrößern zu können, daß jeder noch so einseitige Vorschlag zur Abrüstung von unseren Freunden begeistert aufgegriffen wird, rationale Vorschläge der anderen Seite aber von vornherein abgelehnt werden? Helfen diese Gebetsmühlen, die dann ständig in Gang gesetzt werden, irgend jemandem weiter? ({0}) Schröder ({1}) Oder ist der Eindruck einer wachsenden Zahl von Menschen nicht vielleicht doch richtig, daß es in solchen Fällen nicht in erster Linie um Verhandlungen sondern eben um historische Schuldzuweisungen geht? Wird mit meinen Bemerkungen Protest glorifiziert? Werden Rechtsstaat und Verfassung nebenangestellt? Ich glaube, nicht. Jedenfalls sollte man das nicht unterstellen. Es geht nicht darum. Worum es geht, hat etwa Robert Leicht in der „Süddeutschen Zeitung" geschrieben. Ich darf ihn mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren: Gewiß, der Rechtsstaat und die parlamentarische Verfassung sollen gerade in politischen Krisenzeiten als Konflikt- und Friedensordnung dienen und als solche von allen akzeptiert werden. Aber diese erstrebenswerte Akzeptanz einer Verfassung wird besonders gefährdet, wenn die politische Klasse - das sind wir, meine Damen und Herren - auf „law and order" pocht, ({2}) - ich zitiere Herrn Leicht aus der „Süddeutschen Zeitung"; den werden Sie nicht als Jungsozialisten verdächtigen wollen anstatt zunächst einmal politische Probleme unmittelbar und glaubwürdig sowie mit dem Gespür für neue Bewußtseinsströmungen anzugehen. Im gleichen Artikel sagt er dann weiter: Die Legitimität einer legalen Ordnung muß vielmehr politisch immer wieder neu begründet werden. ({3}) Dem ist doch nur zuzustimmen. Dies heißt nicht mehr und nicht weniger, daß wir unsere Entscheidung, j a, unsere Existenz als Repräsentanten des Volkes stets neu zu legitimieren haben. Das geht nur durch Handeln, nicht durch Reden, jedenfalls nicht durch Reden allein. Ich bin sicher: Die öffentlich geäußerte Einsicht, daß nicht die Sowjetunion ein Feind ist, gegen den man atomar rüsten muß, und wir im übrigen auch nicht gegen Weinbergers Amerika Front machen müssen, sondern daß die atomare Drohung als solche das Problem darstellt, könnte die Kluft zwischen Friedensbewegung und etablierter Politik verkleinern. Die öffentlich geäußerte Erkenntnis, daß wir nicht diese oder jene Supermacht, sondern die Militarisierung unseres eigenen Denkens überwinden müssen, würde staatliche Friedenspolitik neu legitimieren helfen, würde Bürger an den Staat heranführen, wo heute tiefe Klüfte sind. In bezug auf die atomare Bedrohung hat Günther Anders schon 1959 geschrieben: Da dieser Feind - nämlich die atomare Bedrohung aller Menschen Feind ist, müßten sich diejenigen, die einander bisher als Feind betrachtet hatten, als Bundesgenossen gegen die gemeinsame Bedrohung zusammenschließen. Ich meine, darum geht es in der Tat. Wenn wir Legitimation staatlicher Politik wollen, warum unterstützen wir dann nicht nachhaltiger z. B. den Bundesinnenminister bei seinem Versuch, jenen entgegenzutreten, die Sicherheitsauflagen bei Kernkraftwerken aus durchsichtigen wirtschaftlichen Erwägungen reduziert sehen wollen? Dies würde die Legitimität unserer Umweltpolitik erheblich vergrößern. Ich nenne ein anderes Beispiel. Hier wurde darauf hingewiesen: Beenden wir doch tatsächlich endlich das elende Gezerre und schaffen wir die Prüfung des Gewissens bei Kriegsdienstverweigerern ab! Sagen wir hier aber auch deutsch und deutlich, daß dann keiner nach Karlsruhe laufen wird, um nachprüfen zu lassen, ob das Gesetz, das ein frei gewähltes Parlament hier beschlossen haben wird, denn in Ordnung ist! ({4}) Meine Damen und Herren, aus der wütenden Parole in der Szene „Staat, hau ab!" - und das ist die Parole - würde so sicher nicht Liebe zum Staat. Es wäre auch schlimm, wenn es so wäre. Was uns durch eine solche Politik vielleicht aber gelingen könnte, wäre, die Einsicht in die Notwendigkeit des Staates, die Einsicht in die Notwendigkeit seines Gewaltmonopols zu vergrößern. Ich denke, dies wäre schon sehr, sehr viel. Es geht also nicht um vordergründige Anpassung an Stimmungen und Strömungen, es geht z. B. nicht darum, daß die Dienstkleidung von Bundestagsabgeordneten Latzhosen sein sollten, obwohl das ganz reizvoll anzusehen wäre. Es geht nicht um Anpassung; nichts wäre unehrlicher als das. Worum es geht, ist die offene, gewalt- und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem, was die Protestbewegung formuliert. Was wir in dieser Auseinandersetzung von uns selber verlangen sollten, ist, die Augen und Ohren aufzumachen und vielleicht auch die Herzen. - Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Sauter.

Alfred Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001925, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kollege Schröder, daß Sie mit Ihrem jetzigen Beitrag ein bißchen etwas getan haben, was wir in der Kommission bisher vermeiden konnten. Sie haben versucht, die Polarität, die dort nicht bestanden hat, jetzt künstlich heraufzubeschwören. ({0}) Mir tut dies an und für sich deshalb leid, weil wir uns überlegen müssen, wie wir das Klima wieder in Ordnung bringen. Vielleicht schaffen wir zwei das, da das bei uns immer am leichtesten geht, da wir am Sauter ({1}) weitesten auseinander sind. Ich bin gern dazu bereit. ({2}) Ich glaube, wenn man vom Frieden redet und wenn man weiß, daß dieser Frieden ein gemeinsames Anliegen von uns allen ist, dann ist ein deutscher Politiker zuallererst dazu aufgerufen, mit aller Deutlichkeit und Klarheit festzustellen, daß wir diejenigen auf der Welt sind, die niemanden, aber auch gar niemanden bedrohen, ({3}) und daß wir diejenigen sind, die alle hier den Frieden wollen. Deshalb sollten wir aus dieser Position heraus unsere Politik betreiben und nicht das übernehmen, was die anderen von uns behaupten, und nicht auf dem aufbauen, was vielleicht einigen passen könnte. Was die Ersatzdienstzeit und das Anerkennungsverfahren anbelangt, so hat die Frau Ministerin die Frage, die ich ihr gestellt habe, nicht beantwortet, obwohl in der Regierungserklärung steht, daß diese Regierung ein Gesetz vorlegen wird. Zum zweiten ist es für uns in der Opposition überraschend, jetzt hören zu dürfen, nachdem es aus Ihren Reihen Töne gab, daß man die Opposition nicht brauche und daß man alles selber machen könne, daß es jetzt auf einmal entscheidend auf uns ankomme: Legen Sie mal was auf den Tisch, und dann reden wir darüber und nicht umgekehrt! ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Juni 1982, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.