Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 8. Juni 1978 im Nachgang zu seinem Schreiben vom 12. Mai 1978 mitgeteilt, daß der Bundesrat in seiner Sitzung am 2. Juni 1978 gegen den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1978 ({0}) keine Einwendungen erhoben hat. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1890 verteilt.
Gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 8. April 1959 hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit Schreiben vom 6. Juni 1978 den Deutschen Bundestag über die Beschäftigung Schwerbehinderter bei den Bundesdienststellen ({1}) unterrichtet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1892 verteilt.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 7. Juni 1978 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende Vorlage zustimmend zur Kenntnis genommen hat:
Empfehlung einer Verordnung ({2}) des Rates zum Abschluß des Handelsabkommens zwischen der Europäischen 'Wirtschaftsgemeinschaft und der Volksrepublik China ({3})
Der Präsident des Deutschen Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember 1977 die in der Zeit vom 31. Mai bis 6. Juni 1978 eingegangenen EG-Vorlagen an die aus Drucksache 8/1889 ersichtlichen Ausschüsse überwiesen.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 23. Februar 1962 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Aufhebbare Einundvierzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung ({4})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts dem Plenum am 21. September 1978
Ich rufe Punkt 24 der Tagesordnung auf:
Große Anfrage der Abgeordneten Lattmann, Weißkirchen ({5}), Dr. Meinecke ({6}), Büchner ({7}), Dr. Enders, Kretkowski, Peiter, Dr. Staudt, Dr. Steger, Thüsing, Voigt ({8}), Wüster, Frau Schuchardt, Dr.-Ing. Laermann, Schäfer ({9}), Möllemann, Hölscher und der Fraktionen der SPD, FDP
Zur Bildungspolitik
- Drucksachen 8/1255, 8/1703 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Meinecke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegt die Antwort der Bundesregierung auf eine Große
Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP zur Bildungspolitik vom 24. November 1977 vor. Der Grund für die Einbringung dieser Großen Anfrage durch die Fraktionen der SPD und der FDP war der Wunsch nach einer Standortbestimmung, nach einer bildungspolitischen Zwischenbilanz. Ohne das Zahlenmaterial, ohne den Rückblick und die argumentativen Perspektiven der Antwort der Bundesregierung wird man eine bildungspolitische Diskussion in der näheren Zukunft kaum sachlich bestreiten können.
Ich setze deshalb voraus, daß zumindest den Mitgliedern dieses Hauses - und damit meine ich nicht nur die „prädestinierten Bereichsexperten" - die Kernaussagen und Analysen dieser Drucksache 8/1703 bekannt sind. Ich beabsichtige deshalb keine Detailfragen oder Probleme bis ins einzelne zu erörtern. Es kann nur der Sinn der Behandlung von Großen Anfragen in den letzten Jahren gewesen sein, als wir dieses Verfahren umgestellt haben, die Kenntnis des Textes vorauszusetzen und nicht das, was schon vor Wochen gedruckt wurde, hier erneut wiederzukauen.
Für die Fraktion der Sozialdemokraten darf ich der Bundesregierung, insbesondere natürlich dem Bildungsminister, für diese umfangreiche, nüchterne und sachliche Antwort danken. Ich erlaube mir, ihm gleichzeitig zu seinem Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Allein aus den ersten drei Absätzen der Antwort werden Umfang, Dimension und Bedeutung der gegenwärtigen Probleme und Aufgaben, die sich uns in der Bildungspolitik stellen, klar.
Erstens. Die Bildungs- und Berufschancen für die geburtenstarken Jahrgänge müssen gesichert und verbessert werden.
Zweitens. Das Bildungswesen muß kontinuierlich für benachteiligte Gruppen geöffnet werden.
Drittens. Es müssen vermehrte Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen werden, die den sich ändernden Strukturen im ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Prozeß entsprechen.
Die geburtenstarken Jahrgänge stellen das gesellschaftspolitische Schlüsselproblem für das nächste
Dr. Meinecke ({1})
Jahrzehnt dar. Wir sind nun bildungspolitisch insofern - aber nur insofern - über den Berg, als dies bekannt ist und die Problematik des gegenwärtigen Stands der Beschäftigung und der künftig zu erwartenden Belastung des Bildungs- und Beschäftigungssystems durch diese Jahrgänge politisch begriffen wird und daß sich politische Entscheidungen aus diesen Beziehungen und Belastungen ergeben haben oder noch ergeben müssen. Auch deshalb erschien uns eine kritische und bei Gott keine selbstgerechte Bestandsaufnahme des zurückliegenden Jahrzehnts notwendig.
Wenn nun das Grundgesetz den Ländern die wesentlichen Zuständigkeiten und damit natürlich auch die entscheidenden Verantwortlichkeiten zuweist, so haben wir, Bundestag und die Bundesregie, rung, im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten zu einer gesamtstaatlich verantwortlichen Bildungspolitik beizutragen. Kommentare aus dem wissenschaftlichen Bereich, die sich mit dem Grundgesetz und dem Verfassungsauftrag beschäftigen, enthalten in der letzten Zeit deutlicher denn je den Hinweis auf die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Wir empfinden dies keineswegs als Bürde, sondern als Verpflichtung.
Uns hat bei der Betrachtung und Analyse des Bildungs- und Beschäftigungssystems eine grundlegende Frage zu beschäftigen: Können die bisherigen und künftigen Maßnahmen dem Druck und den Folgen der demographischen Entwicklung hinsichtlich des Beschäftigungssystems standhalten? Wir alle wissen, daß die Entwicklung unserer Bevölkerungsstruktur - aufgeteilt nach Jahrgängen, nach Beschäftigten, nach Rentnern - bis vor wenigen Jahren nicht erkannt und beachtet worden ist. Die statistische Basis haben wir uns zuerst, wenn ich so sagen darf, erkämpfen müssen. Sie werden der Bundesregierung und den Regierungsparteien daraus keine Versäumnisse vorwerfen können.
Lassen Sie mich dazu zwei Jahreszahlen nennen. Der Wissenschaftsrat unterschätzte 1963 in seinem Gutachten über Abiturienten und Studenten - Entwicklung und Vorausschätzung der Zahlen von 1950 bis 1980 - die Zahl der Studenten für 1969 um gut ein Drittel und für 1971 gar um mehr als die Hälfte. In seinen „Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970" wurde über den knappen Zeitraum von vier Jahren die Zahl der Studenten für 1973 um rund 140 000 unterschätzt. Das sind immerhin 10 Hochschulen mittlerer Größe.
Auch die ständig hinausgeschobene Erfassung der Schülerzahlen hat zu falschen oder zu gar keinen Schlüssen geführt. Das Absinken der Geburtenraten nach 1966 ist zunächst in seiner Bedeutung überhaupt nicht erkannt worden. Über diese frühe Nachlässigkeit läßt sich auch nicht dergestalt hinwegargumentieren, wie es der damalige Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und heutige Oppositionsführer, Herr Kohl, exakt vor zwei Jahren vor der Sommerpause hier vom Platz des Bundesrates aus zu verstehen gab, als er der sozialliberalen Koalition die Schuld für den sogenannten Pillenknick zuschob und die „Fruchtbarkeitskrise" beschwor. Sie erinnern sich an diese interessante Diskussion.
Wir wissen also heute auf Grund verbesserter Instrumentarien um den Druck bis 1985/87 und um die Tatsache, daß viele Hunderttausende von zusätzlichen Ausbildungsplätzen und Arbeitsmöglichkeiten in allen Bereichen zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit schätzt die Zahl ungefähr auf 1,5 Millionen. Diese 1,5 Millionen an zusätzlichen Ausbildungsplätzen sind durch 10 zu dividieren und auf die Hochschulen, die Universitäten, auf das duale System und auf die beruflichen Vollzeitschulen aufzuteilen. Eigentlich müßte es in. dieser Gesellschaft doch mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Problem nicht in den nächsten 10 Jahren zu bewältigen wäre.
({2})
Eine zweite Frage, die sich bei der Analyse des gesellschaftspolitischen Standorts des Bildungssystems stellt und auf die eine eindeutige Antwort gegeben werden muß, ist die, ob das Beschäftigungssystem die Eckdaten und Inhalte der Bildungsprozesse durch Bedarfsanmeldung in bezug auf Ausbildungsdauer, Qualifikationsstruktur, Abschlüsse, Kompetenztypen und Absolventenzahlen bestimmt, ja definieren soll. Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag eine Äußerung in diesem Sinne gemacht. Dies ist ein ganz heikles Thema. Andersherum gefragt: Hat das Bildungssystem mehr als bisher auf die Bedürfnisse der ökonomischen Entwicklung unseres Beschäftigungssystems Rücksicht zu nehmen? Allein diese Fragestellung - gleichgültig aus welchem Blickwinkel - macht deutlich, daß die Inhalte und die Organisationsformen unseres Bildungssystems mindestens seit 1974 quasi unter einen Druck von außen geraten sind.
Mit diesem Druck geht eine Gefahr für zwei wesentliche Komponenten der Bildungsaufgabe an sich einher, nämlich Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Sie könnten zwischen zwei Fronten geraten. Einerseits sieht die Ökonomie in der Bildung den dritten Pfeiler - neben Arbeit und Kapital - eines Wirtschaftswachstums. Eine hohe Qualifikation der Arbeitskräfte - „Humankapital" genannt - ist danach für ein langfristiges Wirtschaftswachstum von eminenter Bedeutung. Andererseits lastet auf dem Bildungssystem ein Druck durch die gesamtökonomische Entwicklung mit einem wesentlich verringerten jährlichen Bruttosozialprodukt.
An diese Zwickmühle knüpft meine dritte Bemerkung an. Die zweifellos schwierigen oder erschwerten Situationen der Staatsfinanzen und -haushalte sowohl im Bund wie in den Ländern spielen eine nicht unerhebliche Rolle für die Stabilisierung des Bildungssystems und den Ausbau der Bildungseinrichtungen. Es kam doch darauf an, in dem Konjunkturablauf sowohl durch Investitionsspritzen wie auch Steuererleichterungen und ein Bündel von anderen Maßnahmen zusätzliche Mittel einzubringen, die in der ursprünglich einmal vorgesehenen mittelfristigen Finanzplanung keinen Platz hatten und
Dr. Meinecke ({3})
darum anderweitigen Politikbereichen entnommen oder, besser gesagt, entzogen werden mußten. Diese Bedrängnis unseres Bildungssystems von außen hat zu Entwicklungen geführt, die denjenigen, die die Inhalte des im Jahre 1973 gemeinsam unterschriebenen Bildungsgesamtplans vielleicht nur mit halbem Herzen bejahten, heute die Möglichkeit gibt, am Rande des Geschehens mit erhobenem Zeigefinger zu stehen und besserwisserisch zu behaupten, sie hätten immer schon gewarnt, und von „gescheiterter Reform" zu faseln.
Daß dies reiner Opportunismus ist, müßte spätestens der begreifen, der wenigstens einmal einen Blick in den Bericht der Expertengruppe des Ausschusses für Bildungsfragen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD, geworfen hat.
({4})
Dieser Bericht heißt: „Perspektiven der Bildungspolitik bei sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen". Eben hier auch mit dem Blick auf die Bundesrepublik darzustellen, daß es sich nicht um gescheiterte Reformen handelt, sondern daß veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen Auswirkungen auf das Bildungssystem gehabt haben, ist auch der Sinn unserer Anfrage und der Beantwortung gewesen.
({5})
Wie ich bereits eingangs herausgestellt habe, geht die Antwort der Bundesregierung weit über das normale Maß einer Antwort im Rahmen einer großen Anfrage hinaus. Man muß schon sehr auf Konfliktkurs programmiert sein, wollte man nicht anerkennen, daß sie eine großartige Bestandsaufnahme ist, eine Zwischenbilanz dessen, was in den letzten sieben bis acht Jahren an Positivem geschehen ist, und welche Aufgaben in den nächsten zehn Jahren vor uns liegen.
Lassen Sie mich noch einige Punkte thesenartig nennen. Da ist der Bereich der Entwicklung der Klassengrößen in diesen Jahren oder die Entwicklung der Ausgaben pro Schüler im Schulwesen, die Entwicklung der Bildungsbeteiligung überhaupt und auch, wenn Sie so wollen, die Entwicklung der Lehrerbesoldung in unserem Land. Innerhalb des Bereichs der Bildungschancen ist auf die Verbesserung der Situation der Grundschule, auf das Kapitel über die Hauptschule und die berufsbezogenen Inhalte und beispielsweise auf die Förderung der Chancengleichheit über den zweiten Bildungsweg und die Möglichkeiten der Weiterbildung hinzuweisen. Ganz besonders eindrucksvoll ist in der Ziffer 92 auf Seite 39 des Berichts der internationale Vergleich, wo es heißt, daß „heute die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich des Angebots von Bildung und dualer Ausbildung weit vor der Leistung anderer Industriestaaten stehe". Dies sollte nun erst einmal widerlegt werden.
Die Reaktion auf die der Öffentlichkeit bekanntgemachte Antwort der Bundesregierung war von seiten einiger Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ziemlich schnell oder eher vorschnell und ausschließlich negativ. Kritik ist natürlich Ihr gutes Recht. Sie werden das nachher noch formulieren, nehme ich an. Ich frage mich manchmal nur, wie Sie es nun eigentlich machen, eine ein- bis zweiseitige negative Bewertung bereits am Tage der Veröffentlichung eines 63seitigen Berichts einer Bestandsaufnahme zu veröffentlichen. Ich habe manchmal den Eindruck, Herr Kollege Pfeifer, Sie tauschten bei den Presseerklärungen lediglich das Datum aus.
({6})
Inhaltlich auffallend ist, daß Ihre Kritik immer auf die im Jahr 1970 dargestellten Ziele im Bildungsbericht der Bundesregierung und auf das heute Erreichte Bezug nimmt. Sie verweisen dann immer mit einer gewissen Selbstherrlichkeit und einem ziemlichen Maß an Zynismus darauf, in welcher Weise die Regierungskoalition versagt habe und ihre gesteckten Ziele nicht habe erreichen können. Es ist der merkwürdige und zugleich unlogische Versuch, vom Bildungsbericht des Jahres 1970 auf den heutigen Stand kurzzuschließen. Merkwürdig deshalb, weil Sie in der politischen Diskussion gerne vergessen machen möchten, daß die Ministerpräsidenten der Länder und die Bundesregierung sich auf Grund des Bildungsberichtes drei Jahre später auf einen Bildungsgesamtplan im Prinzip geeinigt haben. Zwar enthielt natürlich dieser Einigungsbericht einige Minderheitsvoten bezüglich spezieller und besonderer Strukturen unseres Systems, die aus der Sicht der Länder - das sei hier auch durchaus akzeptiert - hinsichtlich einiger Lösungen anders gesehen wurden. Dies tut aber doch der Tatsache einer gemeinsamen Einigung auf einen Gesamtplan keinen Abbruch.
Es wäre schon recht genußvoll, Ihnen einige Ihrer Aussagen während der Debatte über den Bildungsgesamtplan vom 15. März 1974 vorzuhalten. Ich muß mir dies aus Zeitgründen hier und heute verkneifen. Aber vielleicht lesen Sie es einmal in der Sommerpause nach.
Erinnern 'muß ich aber doch - sozusagen als historische Lektion - an das, was eigentlich in den 60er Jahren und besonders am Ende der 60er Jahre dazu geführt hat, überhaupt auf dem Gebiet der Bildungspolitik zu veränderten verfassungsmäßigen Zuständigkeiten und zu einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu kommen. Sie wissen doch genau, daß der Stichtag eigentlich der 20. März 1964 mit der Einsetzung der sogenannten Troeger-Kommission gewesen ist, die ihr Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland dann im Jahre 1966 vorgelegt hat, und daß ein weiterer Schwerpunkt im Umdenkungs- und Planungsprozeß der „Bericht über den Stand der Maßnahmen auf dem Gebiet der Bildungsplanung" der Regierung Kiesinger/Brandt vom 13. Oktober 1967 gewesen ist.
Lassen Sie mich aus dem Troeger-Gutachten einmal zitieren, weil das ja nun alles längst verdrängt ist und die Debatte über den Strukturbericht wieder große Wellen schlägt. Was hat denn da dringestanden? Es war doch eine unabhängige Kommission, nicht parteipolitisch geprägt. Es hieß dort 1966, also vor über zehn Jahren:
Dr. Meinecke ({7})
In den letzten Jahren hat sich wiederholt gezeigt, daß entscheidend wichtige Probleme mit der überkommenen Form des Föderalismus nicht mehr befriedigend gelöst werden können. Die bundesstaatliche Ordnung unterliegt dem Wandel der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Sie kann deshalb nicht auf unabsehbare Zeit verfassungsrechtlich fixiert werden. Andernfalls würde sie eine zeitgemäße und zweckmäßige Erfüllung der staatlichen Aufgaben behindern und als störendes Element der politisch-wirtschaftlichen Ordnung empfunden werden.
Und weiter:
Es muß deshalb eine Form des Föderalismus entwickelt werden, die ein ausgewogenes und bewegliches System der Zusammenordnung und der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern ermöglicht. Der Föderalismus unserer Zeit kann deshalb nur ein kooperativer Föderalismus sein.
Die Regierung Brandt hat dann mit dem Bildungsbericht 1970 die eigentliche Konsequenz aus diesen sich in der Gesellschaft und im Staatswesen entwickelnden Tendenzen und Erkenntnissen gezogen und in praktische Politik umgesetzt. Dies war das Schwierigste, und es war ein mutiger Akt. Das sollte man einmal zugeben. Es hat überhaupt keinen Sinn, irgendwelche Zahlen herauszufischen und sie unter Leugnung veränderter ökonomischer und soziostruktureller Faktoren zu verifizieren versuchen oder anzuklagen. Das Entscheidende war und bleibt zu würdigen: die politische Umsetzung und daß der Weg für einen Bildungsgesamtplan frei war. Auf dieser Basis arbeiten wir heute. Und er wird auch weiterentwickelt. Er ist existent und nicht zu leugnen.
({8})
Nun versucht die Opposition - ({9})
- Herr Probst, ich freue mich, Sie wiederzusehen, da Sie doch mein Ausschußvbrsitzender waren und viel dazu beigetragen haben, daß ich imstande bin, ein bißchen die Dinge zu reflektieren. Schönen Dank, Herr Kollege.
Die Opposition versucht nun - da wir Fußballweltmeisterschaft erleben und ich mich dem natürlich nicht auch entziehen kann - einen politischen Doppelpaß zu spielen. Sie möchte den Bildungsgesamtplan, der quasi ein Vertrag zwischen Bund und Ländern war und ist und der das Ergebnis vorangegangener unabhängiger Empfehlungen war, schlicht und elegant zu umgehen, weil man heute gern sagen möchte, diese Entwicklung sei eine verfehlte gewesen, da es in Ihrer Sicht offenbar nur noch den Bildungsbericht 1970 der ersten sozialliberalen Regierung und einen Bildungsgesamtplan nicht gibt.
Wo wären wir heute - möchte ich Sie fragen -, wenn es das Institut der Gemeinschaftsaufgaben nicht gegeben hätte?
({10})
Damit meine ich nicht nur den Küstenschutz. Ich werde mich an der verspäteten Herumzweifelei nicht beteiligen, auch dann nicht, wenn sie von einigen Finanzressortchefs von uns regierter Bundesländer kommt - um das hier ganz ehrlich zu sagen.
({11})
Ich bin für die Beibehaltung dieses Instituts für die nächsten zehn Jahre, um das noch einmal in aller Offenheit zu sagen. Kleinliche Mäkelei nützt da nichts.
Wenn man nun vom Bildungsgesamtplan des Jahres 1973 ausgeht - ich setze voraus, daß Ihnen die ersten Kapitel mit den dargelegten Zielvorstellungen noch bekannt sind -, möchte ich pauschal sagen, daß viele der einmal bis zum Jahr 1985 ins Auge gefaßten Absichten bereits in den letzten Jahren Zug um Zug verwirklicht worden sind. Es wäre töricht, je nach politischem Standort den kernigen Überschriften mancher außerparlamentarischer Kommentare nachzuhängen, die ,da lauten: „Der welke Charme der Reform" oder „Die zweite Reform" oder „Die Bildungsreform steht noch aus" oder „Neue Generation ohne jegliche Chancen". Nach meiner Überzeugung kommt es allerdings darauf an, einzelne Zielsetzungen des Bildungsgesamtplans noch anspruchsvoller zu gestalten.
Wichtig erscheint mir der Hinweis darauf, daß anspruchsvolle Einschätzungen und Prognosen nicht allein dadurch im Hinblick auf ihre vollständige Verwirklichung abgeklopft werden dürfen, daß man nach einiger Zeit Punkt und Komma zu verifizieren beginnt. Ich bin sicher, daß die Kollegen der CDU/CSU sehr gut wissen, es aber aus einem falsch verstandenen Oppositionsdenken heraus nicht zugeben wollen, daß ökonomische und veränderte technologische und strukturelle Faktoren auch Einfluß auf den Bildungsprozeß haben können. Er darf aber nicht in völlige Abhängigkeit von der gesamten Ökonomie gebracht werden.
Ich bringe hierzu ein Beispiel: Aus dem ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Teil des Bildungsgesamtplans, der weitgehend nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, der auch sehr schwer zu lesen ist - gebe ich zu -, geht eindeutig hervor, daß von allen Seiten gegen die optimistische Zielsetzung damals insoweit Bedenken geltend gemacht wurden - und es wurden Befürchtungen geäußert -, daß ein allgemein angehobenes Bildungsniveau eine möglicherweise unheilvolle Entzugswirkung auf den Arbeitsmarkt haben könnte und volkswirtschaftlich nicht zu verantworten sei. Es heißt im Bildungsgesamtplan:
Die Verwirklichung der bildungspolitischen Ziele bis zum Jahre 1985 hat direkte und indirekte Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die gegenwärtig nicht voll übersehbar sind. Die angestrebte Entwicklung des allgemeinen Bildungsniveaus führt zu einer längeren Verweildauer der Jugendlichen in der Schule und zu einem höheren Anteil von Studierenden in den einzelnen Jahrgängen. Dementsprechend werden weniger einheimische Erwerbspersonen für die Produktion verfügbar sein.
Dr. Meinecke ({12})
Gleichzeitig wird davor gewarnt, noch mehr ausländische Arbeiter in den deutschen Arbeitsprozeß einzugliedern. Das war 1973, ist also noch keine fünf Jahre her.
Heute werden wir angesichts veränderter gesamtwirtschaftlicher Faktoren genau mit den umgekehrten Problemen und den entgegengesetzten Wirkungen konfrontiert. Angesichts der geburtenstarken Jahrgänge müssen sich heute alle Maßnahmen, die im Bereich der Bildungsorganisation geplant werden, auch der Notwendigkeit beugen - ich sage: auch -, daß eine gewisse vorübergehende Entzugswirkung auf dem Arbeitsmarkt herbeigeführt werden muß, die jetzt gewollt ist.
Wir stehen in dem Sachzwang - und Sie, meine Kollegen von der CDU/CSU, stehen vor der Schwierigkeit, Ihren Umdenkungsprozeß hinsichtlich Ihrer jahrelangen Kritik an der Bildungsexpansion zu erläutern -, für eine vorübergehende Zeit von etwa acht bis zehn Jahren Veränderungen herbeizuführen, die den Zweck haben, die Lebensarbeitszeit im Prinzip an der unteren Basis zu verkürzen, um eine gewisse Aufschubwirkung herbeizuführen, um das Herandrängen von jährlich etwa 60 000 bis 70 000 Ausbildungsplatzsuchenden zu verzögern, um etwas Luft zu bekommen. Ich weiß, daß es nur eine Verschiebung ist. Aber auch in der Politik braucht man manchmal Luft zu leben.
({13})
- Ja, die Probleme werden zeitlich etwas verzögert,. aber dadurch manchmal leichter lösbar. Wer Arzt ist und am Krankenbett gestanden hat, weiß, daß das durchaus richtig ist.
Ab 1987 etwa wird die demographische Entwicklung durch eine genau umgekehrte Kurve wiedergegeben werden können, und es wird ein genau umgekehrter Zustand erreicht sein. Es wird gut sein, wenn wir uns heute schon bei unseren Beschlüssen, die wir fassen, das vor Augen halten.
({14})
Möglicherweise wird dann von der Politik her bezüglich der Strukturen des Bildungswesens die Forderung erhoben, die Ausbildungs-, die Lernzeit, die Schulzeit und die Studienzeit wieder zu verkürzen. - Ich habe das hier nicht als einen schwachen Trost demonstrieren wollen, sondern nur darstellen wollen, wie rasch wir unsere Strukturen im Bildungssystem auf Grund solcher Verhältnisse ändern sollen.
({15})
Wir wollen und können dies aber nicht tun, weil es nicht sachgerecht ist.
An diesem Beispiel mögen Sie erkennen, daß das Bildungssystem, vorgezeichnet durch den Bildungsgesamtplan, um dessen Fortschreibung wir auch ringen, nicht jeweils in Abhängigkeit von den sich schnell ändernden Bedürfnissen unserer Volkswirtschaft, unserer Wirtschaftspolitik und unseres Beschäftigungssystems gebracht werden darf.
Ich wage zu behaupten, daß ein gegenseitiges Aufdrängen der Strukturen nicht möglich ist und daß alle diejenigen, die seit einem Jahrzehnt um unsere Volkswirtschaft bemüht sind, die jetzt um eine Wiederbelebung der Konjunktur und um den Abbau der Arbeitslosigkeit bemüht sind, diese Verantwortung und die Lösung nicht der Bildungspolitik zuschieben können. Ein effektives Bildungssystem kann sich auf Grund seiner zeitlichen Dimension nicht kurzfristigen Schwankungen anpassen,
({16})
wobei nicht geleugnet werden soll, daß eine gewisse Harmonisierung bezüglich qualitativer Erfordernisse des Beschäftigungssystems möglich und notwendig ist. Dies hat auch der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung durchaus angedeutet.
Ich glaube, feststellen zu können, daß die Wirtschaft allgemein, der Staat, die öffentliche Hand und die Unternehmen expressis verbis die Vorleistungen des Staates auf dem Bildungsgebiet nicht nur angenommen haben, sondern sie auch mittlerweile für richtig erachten. Wir sind, was die sogenannten natürlichen Ressourcen betrifft, ein unbedeutender Handelspartner im Wirtschaftsgefüge. Wir leben deshalb, einmal einfach ausgedrückt, von der Intelligenz der Arbeiter, Angestellten und freien Berufe. Was bedeutet es sonst, wenn wir von Knowhow und Technologietransfer reden?
({17})
Bezüglich der quantitativen Anstrengungen möchte ich noch einmal auf den tertiären Bereich zu sprechen kommen. Hier werfen Sie uns die größten Sünden hinsichtlich einer Überbetonung, Expansion und deren Folgen vor. Herr Kollege Pfeifer hat in seiner Presseerklärung den Vorwurf wiederholt, obwohl er unsere Auffassung im Grundsatzprogramm, in den Wahlprogrammen und im Orientierungsrahmen '85 von der Gleichwertigkeit der Bildungsgänge nachlesen kann. Der Orientierungsrahmen '85 ist für Abgeordnete noch nicht verboten.
({18})
Das Max-Planck-Institut hat sich beim Anhörverfahren zum tertiären Bereich klar für eine Öffnung der Hochschulen ausgesprochen:
Ohne eine Reduzierung der Zulassungsbeschränkungen zu den Bildungsbereichen, die wegen der erwarteten sozialen Belohnung am attraktivsten sind, müssen wir mit diner pädagogisch unverantwortlichen Deformation der Bildung im Wettbewerb um den Bildungserfolg rechnen. Es sind weder gesellschaftliche Bedingungen absehbar, die Bemühungen um den individuellen Bildungserfolg wesentlich weniger attraktiv zu machen, noch ist eine Bewußtseinsmanipulation erfolgversprechend, die die Lernenden auf die Dauer massenweise davon abhalten würde, sich um einen möglichst hohen Bildungserfolg zu bemühen.
In die Diskussion wird immer der sogenannte gesellschaftliche Bedarf eingeführt. Zum erstenmal haben wir 1966 bei unserer ersten Numerus-clausus7588
Dr. Meinecke ({19})
Debatte darüber gesprochen, obwohl wir alle wissen, daß das Innenministerium unter der Federführung von Herrn Scheidemann schon 1958 eine Studie zum Numerus clausus gemacht hat, wobei auch von falsch geschätzten Studentenzahlen ausgegangen wurde. Damals wurde die Lösung des „Herausprüfens" vorgeschlagen.
Angesprochen ist hier die Beziehung zwischen dem sogenannten Bedarf der Gesellschaft, als einer angeblichen konstanten Größe, auf der einen Seite und den Bedürfnissen und Ansprüchen der einzelnen Glieder der Gesellschaft auf der anderen Seite. Es hieße, die Entwicklung der Soziologie einer modernen Industriewirtschaft zu negieren, wollte man behaupten, eine überspitzte, überzogene Bildungsplanung habe den jungen Menschen seit zehn Jahren. eingeredet, sie müßten ihre Bedürfnisse ständig höher schrauben, um bessere und höhere Qualifikationen zu ereichen. Nein, dies ist ein ursprüngliches Bedürfnis junger Menschen.
({20})
Der Summe der individuellen Bedürfnisse hat der Staat ein entsprechendes Angebot entgegenzusetzen. Diese Notwendigkeit besteht nicht nur in unserem Lande, sondern in allen Industriegesellschaften. Deshalb gibt es auch in allen Industriegesellschaften den sogenannten Numerus clausus. Wir öffnen die Hochschulen trotzdem, und auch die Westdeutsche Rektorenkonferenz hat sich zu diesem Ziel bekannt und ist bereit, für diese zehn Jahre eine Überlastquote auf sich zu nehmen, was auch für die Lehrenden, nicht nur für die Lernenden, nicht wenig bedeutet. Auch das sollte man einmal anerkennen.
({21})
Ich möchte zum Schluß einen anderen Gedanken anknüpfen. Mit der Chance zu einer höheren Qualifikation innerhalb einer Industriegesellschaft verbinden sich auf der einen Seite Begriffe wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit, Befriedigung wachsender Bedürfnisse; andererseits bekommen wir es' mehr und mehr mit Vokabeln wie Leistungsdruck, Anpassungsdruck, Konkurrenzdenken und Entsolidarisierung zu tun. Dazu einige Sätze:
In den letzten Jahren hat bei der Elternschaft die Diskussion um Klassengrößen, die sogenannten Klassenfrequenzen, eine große Rolle gespielt. Da hat es viel Aufregung und Erregung gegeben, aber dieses Problem ist weitgehend überwunden, einmal durch die drastische Herabsetzung der durchschnittlichen Klassengrößen - Sie sehen das in dem Bericht an den Durchschnittswerten' -, zum' anderen aber auch auf Grund zahlenmäßig kleinerer Jahrgänge, die jetzt in den Grundschulen heranwachsen.
Es entstehen in der letzten Zeit neue Konflikte oder Probleme, die sich ganz allgemein auf die Schule beziehen. „Die Schule macht unsere Kinder krank" ist nicht nur in der „Hamburger Morgenpost" eine Schlagzeile.
({22})
-Das behaupte ich nicht, Herr Dregger; aber Sie haben nach mir noch das Wort. Ich bediene mich einer
gewissen Mäßigung, die ich Ihrem Antrag entnommen habe; denn das schafft mehr Freiheit, wie Sie uns gesagt haben. Darum bin ich relativ zurückhaltend. Sie haben nachher die Möglichkeit, zu beweisen, daß das alles Gerüchte sind.
Es geht also um den Schulstreß. Wenn auch Schule allgemein mit all den sie berührenden Fragen und Problemen in die Kompetenz der Länder gehört - das wird ja nicht bestritten -, sollte man hier im Bundestag doch schon ein paar Sätze sagen; denn immerhin sollen ja 50 % der Kinder krank, übernervös, gereizt, ja gewalttätig sein, weil die Schule als System versagt hat. Die Meldungen über Schulstreß häufen sich, und was auf Ärztekongressen oder beim Ersten Deutschen Kongreß für Kinder-
und Jugendspychiatrie in Hamburg gesagt wurde, ist natürlich alarmierend.
Nur frage ich mich: Sind die Analyse der Ursachen und die Schlußfolgerungen richtig und wirklich hilfreich, wird nicht die Schule als hauptsächlicher Sündenbock deshalb herausgestellt, weil sie der erste Berührungspunkt des jungen Menschen mit dem Staatswesen ist?
Was heißt denn das nun: zurück zur Familie? Wollen die Eltern denn nicht selber, daß die Kinder Ganztagsschulen besuchen sollen? Machen wir doch einmal eine Umfrage! Was bedeutet das, daß sich Nägelkauen, Zähneknirschen, Schlaflosigkeit, Stottern zu Aggressionen, zu Leistungsschwäche und schließlich zu krimineller Energie auswachsen? Daran wird die Frage geknüpft, wie diese künftige Elterngeneration später einmal lebenstüchtige Kinder erziehen soll.
Oder ich zitiere den - sehr hilfreichen - Satz: Statt die Schüler unter Leistungsdruck zu setzen, sollten sie zur Leistung motiviert werden.
({23})
Da stand in einem Mitteilungsblatt des CDU-Kreisverbandes Lippe:
Der kleine Dorfschulleherer in der einklassigen Grundschule, der nicht nur seine Kinder und deren Eltern, sondern auch die Hunde und Katzen seiner anvertrauten Zöglinge genau kannte, war nicht die schlechteste Erziehungssituation.
Das hatte auch niemand behauptet.
({24})
- Ja, ja. - Diese nostalgische Bildungsauffassung ist naiv, und dagegen ist zu sagen, daß die Mehrzahl der Eltern unserer heutigen Schulkinder nach 1945 zur Schule gegangen ist; ihre Erinnerung an die Schulzeit der 50er und frühen 60er Jahre war Gegenstand einer Umfrage, die unlängst von einem großen Meinungsforschungsinstitut durchgeführt wurde. Das Ergebnis dieser Umfrage ist nicht nur bedrückend, sondern versetzt uns in Erstaunen. Nämlich die meisten verbinden mit der Schulzeit vorwiegend unangenehme Erinnerungen an Dinge wie Zwänge, Überforderungen, dauernde Kontrolle, Ohnmacht in einem autoritären Klima und massive Ängste.
Dr. Meinecke ({25})
Es ist also eine völlig falsche Vorstellung, daß die Probleme, die wir heute so breit diskutieren, alle neueren Datums sind. Es spricht sogar einiges dafür, daß die Schule ihre Schüler in der Vergangenheit vielfach schwerer belastet hat, als es heute der Fall ist.
Es hat also gar keinen Sinn, jeweils bei gewissen Symptomen unserer Industriegesellschaft allenfalls und ausschließlich der Schule in ihrer Struktur und in ihrer Organisationsform innerhalb des Bildungswesens alleine die Schuld zuzuweisen. Ich meine, daß monokausale Denkweisen hier den vielfältigen, vielschichtigen Problemen einer modernen Industriegesellschaft nicht gerecht werden, weil nämlich unsere Lebensweise überhaupt, die Art und Weise, wie man Freizeit und Erholung verbringt, die Art und Weise, wie Familien verreisen und wie sie ihre Ferien nutzen - schauen Sie einmal in die achtbändige Forschungsreihe über Freizeitverhalten, die der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit vor zwei Jahren herausgegeben hat -, aber auch die Art und Weise, wie man heute audiovisuelle und andere Kommunikationstechniken benutzt, genau die gleiche Schuldzuweisung erhalten könnte. - Der Herr Bundeskanzler ist noch nicht da, und ich will über den „fernsehfreien Tag" nicht diskutieren; aber irgend etwas hat ja doch zu bestimmten Reaktionen in der Öffentlichkeit geführt. Der zwölfjährige Pennäler, der eine halbe Stunde nach Mitternacht miterlebt hat, wie Argentinien Frankreich besiegte und am nächsten Tag nach dem Schulbesuch seinen Eltern etwas von Schulstreß erzählt, hat beste Aussichten, drei Jahre später in die midlife crisis zu geraten.
({26})
Ich meine, in vielen Fällen könnten und müßten sich die Eltern selbst an die Brust klopfen und sollten nicht verkennen, daß in den letzten Jahren große Fortschritte in der Zusammenarbeit zwischen Schule, Lernenden, Lehrenden und Elternschaft gemacht worden sind. Die Eltern haben heute in viel erheblicherem Umfang Einfluß auf die Gestaltung des Lebens in der Schule als noch vor zehn Jahren;
({27})
sie müssen die Gelegenheit nur nutzen.
({28})
- Erregung bei der Opposition!
({29})
Deshalb wäre es falsch zu behaupten, die Eltern hätten sich gegen eine Politik der Expansion oder der Chanceneröffnung zu höherer Qualifikation gewandt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch wenige Bemerkungen zu einem der wichtigsten Probleme der nächsten zehn Jahre, zu einem Aspekt, der in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ebenfalls berührt wurde. Von jeglicher Bildungsexpansion unberührt ist eine
Gruppe geblieben: die Million Gastarbeiterkinder. Wir vergessen allzu leicht, daß ihre Eltern, d. h die ausländischen Arbeitnehmer, zur Mehrung unseres Bruttosozialproduktes beigetragen haben und daß sie mit ihrer Arbeitsleistung es auch erst ermöglicht haben, daß die Bildungsausgaben auf 60 Milliarden pro Jahr gesteigert werden konnten. Für die Kinder der ausländischen Arbeitnehmer ist dabei bis jetzt nicht viel herausgekommen.
Wir begrüßen ausdrücklich, daß die Bundesregierung in aller Offenheit ihre Absicht erklärt, dem Risiko vorzubeugen, daß sich die Ausländerklassen zu einer neuen Form der Sonderpädagogik entwikkeln könnten. Wir haben in der Welt 800 Millionen Analphabeten, und das ist nicht das Problem der Industrienationen und unseres Landes; aber wir haben hier als Phänomen ein - so würde ich sagen - „Analphabetentum neuerer Art", das in der Zweisprachigkeit liegt. Dieses Problem müssen wir bewältigen. Der Ausschuß selbst hat sich in Berlin davon überzeugen können, daß es gute Lösungen und gute Regelungen gibt, und das wird in anderen Städten sicher auch so sein.
Die Antwort der Bundesregierung also zeigt in ihren statistischen wie in ihren verbalen Teilen, daß es für eine sogenannte Kurskorrektur in der Bildungspolitik keinen Anlaß gibt, sondern daß wir uns auf einem kontinuierlichen und richtigen Weg befinden.
({30})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. - Der Kollege Dr. Meinecke hat uns freundlicherweise darauf hingewiesen, daß der Herr Bundesminister heute seinen Geburtstag feiert. Ich möchte Ihnen, Herr Bundesminister, dazu herzlich Glück wünschen, obwohl Sie an sich noch nicht das Alter ereicht haben, in dem derartige Glückwünsche üblich sind, aber das werden Sie ja nur mit Freude registrieren können.
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Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist dankbar für die ihr mit der Großen Anfrage gebotene Gelegenheit, vor dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit eine Reihe von bildungspolitischen Fakten sachlich darzustellen, das im Bildungswesen Erreichte gerecht zu würdigen, die noch vorhandenen Mängel offen anzusprechen und die zukünftigen Aufgaben der Bildungspolitik zu umreißen.
Die Bundesregierung begrüßt diesen Anlaß, ihren Standpunkt in einer wichtigen Frage der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu verdeutlichen. Sie hält sachliche Klarstellungen in einem Bereich für notwendig, in ,dem wie in kaum einem anderen unsachliche Kritik massiv vorgebracht, Polemik bewußt gepflegt und verständliche Unsicherheit häufig demagogisch mißbraucht wird.
Mir liegt nicht daran, die Antwort der Bundesregierung als stolze Bilanz auszuleuchten und dabei
weiterbestehende Probleme zu verharmlosen. Ich würde aber auch meiner Aufgabe nicht gerecht, wenn ich nicht vor Bundestag und Öffentlichkeit mit allem Nachdruck sagte, daß unsere Gesellschaft mit Genugtuung auf die Anstrengungen, Leistungen und Erfolge blicken kann, die sie in den letzten zehn Jahren beim Ausbau des Bildungswesens, bei der Verbesserung der Chancen der jungen Generation und bei der damit verbundenen Stärkung unserer volkswirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur erbracht hat.
Es ist eine hervorragende Leistung, wenn die Bundesrepublik heute mit ihrem Bildungsangebot ih der Spitzengruppe der hochentwickelten Länder liegt, nachdem sie noch vor zehn Jahren eher am Schluß rangierte. Es ist ein erheblicher Fortschritt zu mehr Chancengleichheit in unserer Gesellschaft, wenn der Anteil der Arbeiterkinder an Gymnasien und Hochschulen nicht mehr 6 °/o, sondern bald 20 °/o beträgt. Unsere Ausgangslage für jede weitere Entwicklung ist gut, weil das Qualifikationsniveau der Jugendlichen seinen bisher höchsten Stand erreicht hat, und zwar in allen Schularten und in dem von Staat und Wirtschaft getragenen System der beruflichen Ausbildung.
Es verdient Anerkennung, daß Staat, Gemeinden und Wirtschaft 8,4 % des Sozialprodukts für Bildung und Forschung aufwenden und daß die Bildungsausgaben an zweiter Stelle des öffentlichen Haushalts - nach den Sozialausgaben - stehen.
Es ist schließlich, ohne daß die Rolle anderer geschmälert werden sollte, unbestreitbar, daß diese Koalition und die sie tragenden Parteien in Bund, Ländern und Gemeinden viel dazu beigetragen haben, daß die Klassen kleiner, der Zugang zu weiterführender Bildung breiter und gerechter sowie der Standard der Ausbildung höher geworden sind.
Es ist - ich nenne das Wichtigste zuletzt - unbestreitbar gelungen, in der beruflichen Bildung, wenn auch mit einiger Verspätung, einen besseren Stand zu erreichen als je zuvor.
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Die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft hat sich, allen Befürchtungen und Unkenrufen zum Trotz, entscheidend erhöht. Die Aufwendungen des Staates, vor allem die des Bundes, für Investitionen im Bereich der Berufsausbildung sind weit überdurchschnittlich gesteigert worden. Diese positive Entwicklung ist, was den Bund anbetrifft, schon angesichts meiner kurzen Amtszeit nicht mein Verdienst. Meine Amtsvorgänger haben daran erheblich Anteil. Dies halte ich mit Nachdruck dem Vorwurf entgegen, ich hätte mit der Antwort auf diese Große Anfrage die Chance vertan, mich von meinen Amtsvorgängern abzusetzen. Im Gegenteil, ich betrachte es als Chance, die erfolgreiche Arbeit des ehemaligen Bundesministers Helmut Rohde fortzusetzen
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und auf seinen Leistungen aufzubauen.
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In demselben Monat, in dem die Große Anfrage eingebracht wurde, haben die Regierungschefs von Bund und Ländern Beschlüsse gefaßt, die dem Wuchern des Numerus clausus mit seinen schädlichen Einwirkungen weit über den Hochschulbereich hinaus Einhalt gebieten und bereits jetzt zu einer deutlichen Entspannung der Zulassungssituation geführt haben. Ohne die entschiedene Beharrlichkeit der Bundesregierung, ohne den Einsatz und die Überzeugungskraft Helmut Rohdes wäre das nicht zustande gekommen. In demselben Monat konnte die Bilanz zusammengestellt werden, die beweist, daß es gelungen ist, in der beruflichen Bildung einen Stand zu erreichen, der besser ist als je zuvor. Bereits das sind zwei wichtige Gründe für mich, die Kontinuität der Bildungspolitik des Bundes zu wahren.
Nun gibt es manche, die die große gemeinsame Leistung, durch die wir den Anschluß an die internationale Entwicklung erreicht haben und die uns in der Berufsbildung sogar an die Spitze gebracht hat, mit maßloser Kritik und grundloser Furchtsamkeit angesichts neuer Herausforderungen bedenken. Dabei müßten wir es doch alle als Gefahr ansehen, daß permanentes Krisengerede den Jugendlichen und ihren Eltern den Mut nimmt, dieses Bildungsangebot zu nutzen. Aber es gibt leider auffällige Absetzbewegungen von der 1973 im Bildungsgesamtplan erreichten Übereinstimmung aller. Sie reichen bis zum offenen Gerede von den angeblichen Irrwegen des Bildungsgesamtplans. Es gibt neben anerkennenswerten Bemühungen um Zusammenarbeit auch eine schwer verständliche Reformschelte und die etwas undurchsichtige Rede vom Mut zur Erziehung oder der Notwendigkeit einer Tendenzwende.
Dem mit solchen Formeln bezeichneten Rückwärtskurs halte ich entgegen, daß die Bundesregierung überhaupt keinen Anlaß zu einer Tendenzwende in der Bildungspolitik sieht.
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Es geht vielmehr darum, den beispiellosen äußeren Ausbau der Bildungseinrichtungen der vergangenen Jahre durch entschieden vorangetriebene Reformen der Inhalte und Strukturen, also durch innere Reformen zu vervollständigen.
Unsere Gesellschaft hat in den vergangenen zehn bis 15 Jahren, wie die Antwort der Bundesregierung dokumentiert, im Bildungswesen eine große Leistung vollbracht. Die Bürger selbst haben den Ausbau des Bildungswesens getragen. Die Länder und die Gemeinden haben ihn im öffentlichen Bereich weitgehend vollzogen. Die Wirtschaft und freie Träger aller Art haben nicht zurückgestanden.
Zur Bildungsreform und zur Ausweitung des Bildungsangebotes gibt es keine realistische und erst recht keine politisch verantwortbare Alternative. Die Zahlenreihen und Argumente in der Antwort auf die Große Anfrage zeigen, daß wir es ohne diese Leistungen heute in wirtschaftlicher, arbeitsmarktpolitischer und sozialer Hinsicht mit viel schwierigeren Problemen und mit weit ungünstigeren PerBundesminister Dr. Schmude
spektiven zu tun hätten. Sozialdemokraten und sozialliberale Koalitionen in Bund und Ländern haben bei der Entwicklung des Bildungswesens häufig den entscheidenden Impuls gegeben. Andere haben sich unseren Zielen vielfach angeschlossen. So ist 1973 der Bildungsgesamtplan zustande gekommen, was manche in der Union heute nicht mehr wahrhaben wollen. Diese Zusammenhänge können nicht verdeckt werden durch polemische Kritik, die die Öffentlichkeit mit Vokabeln wie „sozialistische Gleichmacherei", „Einheitsschule" und ähnlichem ins Abseits führen will. Förderung statt Auslese, das ist sozialliberale Realität, nicht bloße Utopie, wie die Opposition fälschlicherweise behauptet.
Haben die Gegner dieser Bildungspolitik wirklich die Bildungs- und Lebenschancen aller Bürger vor Augen, wenn sie vor „Gleichmacherei" warnen? Nehmen sie den Elternwillen wirklich ernst, wenn sie den Zugang zu weiterführenden Bildungswegen einschränken wollen? Der Elternwille war es doch, der zur Einführung der Gemeinschaftsschulen und zur Abschaffung der Zwergschule geführt hat. Der Elternwille hat zur Erweiterung der Mitbestimmung und Mitwirkung der Eltern und Schüler geführt. Noch niemals hat es in Deutschland so viel elterliche Mitbestimmung in der Schule gegeben wie heute.
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Der Elternwille hat den breiten Übergang zu den weiterführenden Schulen und Hochschulen ebenso erwirkt
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wie die Verbesserung qualifizierter Ausbildung im dualen System und in der beruflichen Vollzeitschule.
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Dem Elternwillen entspricht es, wenn nicht der Staat, sondern die Familien nach Beratung mit der Schule darüber befinden, wer welchen Ausbildungs-
und Berufsweg nimmt. Das Bekenntnis zum Elternwillen ist allgemein. Aber nicht immer hält es der genauen Nachprüfung stand, was sich hinter diesem Bekenntnis verbirgt.
Bezeichnend ist z. B. folgende Äußerung von Frau Kultusminister Laurien am 26. März dieses Jahres im Deutschlandfunk zum Ansteigen der Abiturientenzahlen. Dort sagte sie:
Das ist eben das große Problem, wenn man die Eltern entscheiden läßt. Sie wissen, Schleswig-Holstein hat dies auch, und nur die Eltern entscheiden. Ergebnis war: 60 oder 70 % Gymnasium und Realschule und nur noch 30 %Hauptschule.
Ich selbst bin keineswegs ein Anhänger einer übersteigerten Zahl von Abiturienten oder Studenten. Aber ich verstehe nicht, wie ein demokratischer Bildungspolitiker Bundesländer danach zensieren kann, wie viele Eltern ihre Kinder das Abitur machen
lassen, wie er Jugendliche danach klassifizieren kann, ob sie aus Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz oder Bayern kommen. Ich verstehe nicht, wie ein demokratischer Bildungspolitiker das gewichtige Argument des Elternwillens mit so leichter Hand beiseite schieben kann.
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Ich verstehe übrigens ebenso nicht, wenn sich auf seiten der Hochschule Stimmen mehren, die bei zunehmender Studenten- und Abiturientenzahl neben dem Abitur noch zusätzlichen Qualifikationsnachweisen vor der Zulassung zum Studium das Wort reden. Dabei geht es doch in Wirklichkeit darum, daß die neue Dimension des Hochschulzugangs - fast 20 % eines Altersjahrgangs wollen studieren - nach neuen Studienangeboten und neuen Methoden der Lehre verlangt. Diese Aufgabe ist mit der Studienreform zu lösen, nicht durch eine einengende Zulassungspolitik. Ganz im Gegensatz zu den Tendenzen der Einschränkung und der Bewirtschaftung von Ausbildungskapazitäten, der Auslese und der autoritären Zuweisung von Lebens- und Berufschancen steht eine offene Bildungspolitik, wie sie diese Koalition stets vertreten hat. Wir wollen keine obrigkeitsstaatliche Bestimmung über die Menschen. Wir sind für Leistung, vor allem für pädagogisch geförderte und begründete Leistung, aber nicht für eine Auslese auf der Grundlage ,der Notenrechnerei.
Wir sind auch für Wettbewerb, aber nicht für einen gnadenlosen Kampf der Schüler gegeneinander um die besten Noten. Wir sind für die Öffnung aller Bildungswege und die Verlagerung des Wettbewerbs in das Beschäftigungssystem. Deshalb können wir uns auch mit planwirtschaftlichen Vorstellungen einer strengen Passung von Bildungs-
und Beschäftigungssystemen nicht befreunden. Es überrascht uns im Gegenteil, daß gerade die beredtesten Anhänger der Marktwirtschaft in dieser Schlüsselfrage zwischen Bildungs- und Arbeitswelt so häufig für Planung statt für Wettbewerb eintreten
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Planwirtschaft mit Menschen lehnen wir ab, Planung zugunsten der Menschen ist unsere gemeinsame Aufgabe.
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Wir haben in der Großen Anfrage nachgewiesen, daß diese Gesellschaft einen großen Qualifikationssprung gemacht hat, daß 1990 etwa 11 % der Erwerbsbevölkerung einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluß und 69 °/o einen Abschluß im dualen System oder einer Berufsfachschule besitzen werden. Der Anteil derjenigen, die ohne Ausbildung als Ungelernte oder Angelernte im Erwerbsleben stehen und damit einem besonders hohen Arbeitsplatzrisiko und geringen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten ausgesetzt sind, wird bis 1990 auf etwa 20 % abgenommen haben. Diesen Qualifikationssprung als Überqualifikation zu bezeichnen
und damit negativ zu charakterisieren, ist ein verhängnisvoller Fehler konservativer Kritiker.
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Die Bildungspolitik muß den geburtenstarken Jahrgängen sowohl im Bereich der dualen Berufsausbildung und der Vollzeitschulen als auch in den Hochschulen ein optimales Angebot vermitteln und sie mit hohen Qualifikationen, mit der Bereitschaft zur Mobilität und Eigenverantwortung ausstatten. Nur so können die jungen Menschen für das Berufsleben bestmöglich gerüstet werden. Es bleibt richtig - das bestätigen auch alle Statistiken -, daß qualifizierte Bildung das Risiko der Arbeitslosigkeit mindert, indem sie die Chance eines erfolgreichen Berufsweges sichern hilft. Das gilt auch dann, wenn nicht in allen Fällen sogleich eine nach herkömmlichen Maßstäben angemessene Berufsstellung zur Verfügung steht.
Die Kosten einer der Neigung und Begabung entsprechenden Bildung sind niemals verschwendet. Bildungsaufwendungen sind Investitionen für die Zukunft;
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Herr Kollege Meinecke hat in diesem Zusammenhang sehr richtig von Humankapital gesprochen. Diese Bildungsaufwendungen sind regelmäßig ertragreicher als Investitionen in Sachgüter. Dieses Verständnis sollten wir gemeinsam gegen eine Betrachtungsweise durchsetzen, die Bildungsausgaben dem Konsum zurechnet. Mehr denn je schließt heute der Verzicht auf Bildungschancen den Verzicht auf Chancen im Arbeitsleben ein. Wer solchem Verzicht im Hinblick auf einen angeblichen Personalbedarf für ungelernte Tätigkeiten das Wort redet, handelt zynisch und politisch unverantwortlich.
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Denn die davon betroffenen Menschen sind im Zweifel die Arbeitslosen von morgen.
Beschäftigungsprobleme kann freilich die Bildungspolitik nur lösen helfen; sie kann sie nicht selbst lösen. Der Beschluß der Regierungschefs vom 4. November des vergangenen Jahres hat die zentrale Aufgabe des Beschäftigunssystems zutreffend herausgestellt, nämlich so:
Die Aufgabe, die beruflichen Chancen der geburtenstarken Jahrgänge zu sichern, kann nicht allein über das Ausbildungssystem, sondern muß vor allem im Beschäftigungssystem gelöst werden.
Der öffentliche Dienst ist Teil dieses Beschäftigungssystems. Er kann und muß seinen Beitrag leisten. Die Vorschläge der Bundesregierung zur Teilzeitarbeit für Beamte sind ein Anfang. Reformen im Besoldungs- und Laufbahnwesen müssen nicht nur im öffentlichen Dienst für eine weitere Öffnung sorgen, sondern auch der privaten Wirtschaft Signale geben. Aufgaben in unserer Gesellschaft, die unzureichend erfüllt werden, gibt es genug. Man darf sich allerdings nicht scheuen, auch die Einkommens- und Laufbahnstrukturen innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes in Frage zu stellen, wenn dadurch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden können. Das gleiche gilt für die Lebensarbeitszeit.
Einige Worte zu den Hauptaufgaben der nächsten Jahre. Zunächst kommt es darauf an, die in diesem Jahr geschätzte Nachfrage von 630 000 Jugendlichen nach Ausbildungsplätzen zu befriedigen. Die Spitzenorganisationen der Wirtschaft haben diese Notwendigkeit anerkannt. Ebenso besteht Einvernehmen darüber, daß das Ausbildungsplatzangebot erheblich über der Nachfrage liegen muß, um die Unterversorgung für einige Gebiete und vor allem für Problemgruppen - ich nenne Behinderte und Ausländerkinder - auszugleichen.
Seit 1976 dient uns das Ausbildungsplatzförderungsgesetz als Instrument zur gemeinsamen Feststellung von Nachfrage und Angebot von Ausbildungsplätzen. Die im Bundesinstitut für Berufsbildung entwickelte fruchtbare Zusammenarbeit aller an der beruflichen Bildung Beteiligten und für sie Verantwortlichen gilt es fortzusetzen.
Die Bundesregierung hat bisher darauf verzichtet, die Umlagefinanzierung nach dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz vorzunehmen. Sie denkt jedoch nicht daran, auf die Rechtsgrundlage für dieses Instrument zu verzichten.
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Vielmehr bejahen wir den gesetzlichen Auftrag und die soziale Verpflichtung des Staates, ausgleichend und fördernd einzugreifen, wenn die ausreichende Versorgung der Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen anders nicht erreicht werden kann.
Ebenso wie die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in Wirtschaft und Verwaltung ist die Abwehr von Versuchen, Quantität mit Qualität zu erkaufen, erforderlich. Den Jugendlichen ist wenig damit geholfen, daß man ihnen Ausbildungen minderer Qualität anbietet, wenn die Arbeitswelt mehr Quali- fizierung, breitere Möglichkeiten, höhere Mobilität verlangt. Deshalb dürfen Versuche keinesfalls Erfolg haben, den mühsam erreichten Stand der deutschen Berufsausbildung wegen der Probleme des Ausbildungsplatzmarktes wieder zu senken.
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Die Folge wären doch nur eine Abwendung der Jugendlichen von der Berufsausbildung und ein neues Ungleichgewicht zwischen der Ausbildung im dualen System und den anderen Ausbildungsmöglichkeiten in Schule und Hochschule.
Ich stelle in rdiesem Zusammenhang mit Genugtuung fest, daß die kritische Frage des Berufsgrundbildungsjahres im Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern sowie Arbeitgebern und Gewerkschaften insgesamt einer vernünftigen Lösung zugeführt worden ist. Es kommt jetzt darauf an, auf der Grundlage der gefundenen Regelungen, d. h. der Rahmenlehrpläne der Länder, der reformierten und noch zu reformierenden Ausbildungsordnungen des Bundes und in enger Abstimmung zwischen allen Beteiligten den geplanten Ausbau der beruflichen Grundbildung mit allem Nachdruck voranzutreiben. Die berufliche Grundbildung behält beim Ausbau des zehnten Bil
dungsjahres für die Bundesregierung den in der Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976 bekräftigten Vorrang.
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Ich registriere mit großer Befriedigung, daß die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung am 5. Juni 1978 übereingekommen ist, bis 1985 für praktisch 100 % aller 15- bis 16jährigen ein zehntes Bildungsjahr anzubieten, davon knapp 60 % in allgemeinbildenden Schulen und 40 % in beruflicher Form. Ich weiß, daß dieses ehrgeizige Ziel, das nicht bildungspolitisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch von großer Bedeutung ist, nur erreicht werden kann, wenn wir insbesondere die berufliche Grundbildung im zehnten Schuljahr attraktiv machen. Das geschieht durch die inhaltliche Ausformung; das muß aber auch durch die Einbeziehung in die Ausbildungsförderung flankiert werden. Über ein entsprechendes Gesetzesvorhaben wird die Bundesregierung in Kürze beraten.
Die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans - bei der ich damit schon bin - wird Anlaß sein, nicht nur kritische Bilanz zu ziehen, sondern auch zu prüfen, wie ernst es alle Beteiligten mit dieser Arbeit nehmen. Uns kommt es darauf an, daß diese Fortschreibung nach vorn weist und keine Rückschreibung wird.
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So werden wir uns mit Nachdruck für die Orientierungsstufe einsetzen, die bereits im Bildungsgesamtplan von 1973 vereinbart war und zu der sich Ende April jetzt auch die Kultusministerkonferenz bekannt hat. Wir werden uns dafür einsetzen, der Gesamtschule in integrierter und kooperativer Form die Anerkennung zu verschaffen, die ihr wegen ihrer bisher erwiesenen pädagogischen und sozialen Vorteile zusteht. Uns liegt daran, den unfruchtbaren Streit um unterschiedliche Schulformen abzubauen und statt dessen auch hier diejenige Schule sich durchsetzen zu lassen, die Besseres leistet und vom Bürger gewünscht wird.
Wir sind für die Entwicklung der Gesamtschule auf der Grundlage eines solchen fairen Wettbewerbs sehr zuversichtlich. Wie wenig hier eine nur einseitige Betrachtungsweise am Platz ist, bringt Hartmut von Hentig treffend zum Ausdruck, wenn er sinngemäß sagt
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- hören Sie es sich doch einmal an; wenn Ihnen das Zitat nicht gefällt, können Sie es ja kritisieren; warum gehen Sie gegen den Mann vor? -:
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Das dreigliedrige Schulwesen bedeutet vom Prinzip her und sozusagen in Reinkultur verwirklicht, daß die künftigen Inhaber von Führungspositionen und den für die Gesamtheit der Bevölkerung wichtigsten beruflichen und Entscheidungsfunktionen - Ärzte, Richter, Lehrer, leitende Verwaltungsbeamte, Ingenieure und Professoren - vom zehnten Lebensjahr ab in ihrer Bildung und Ausbildung und damit weitgehend auch in ihrer sozialen Erfahrung und Prägung von der übrigen Bevölkerung getrennt sind.
Wenn man sich das klarmacht, dann ist es dieses Bildungssystem, das seine Existenz in unserer Gesellschaft rechtfertigen müßte, und nicht eines, das auf stärkere Integration zielt.
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Wir werden uns ferner bemühen, die Chancen zu nutzen, die mit dem Hereinwachsen der schwächeren Geburtenjahrgänge in das Bildungswesen verbunden sind. Einer dieser Grundsätze lautet: Je kleiner die Kinder, desto kleiner die Klasse; mehr Ganztagsschulen; noch bessere Förderung der Schüler, vor allem auch bessere Betreuung der Ausländerkinder. Dies gehört zu unseren Zielen. Sie sind erreichbar.
Wenn wir auf diese Weise ohne Verleugnung unserer Grundsätze die Hand zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern reichen, werden wir andererseits nicht davor zurückscheuen, uns mit Nachdruck gegen diejenigen zu wenden, die entscheidende Fortschritte des Bildungsgesamtplans von 1973 oft überfallartig zurücknehmen wollen.
So mußten wir am 5. Juni 1978 erleben, daß die sechs von Unionspolitikern regierten Länder eine in langer Arbeit unter Beteiligung auch dieser Länder vorbereitete Unterlage ablehnten, durch die als Sekundarabschluß II ein übergreifendes System von Abschlußzeugnissen geschaffen werden sollte.
Damit sollten die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung in der Oberstufe unterstrichen und die wechselseitige Durchlässigkeit zwischen Bildungsstufen und Bildungssystemen erhöht werden. Die bei Politikern der CDU und CSU zu beobachtende Tendenz, die Jugendlichen wieder frühzeitig und fein säuberlich in solche einzuteilen, die studieren dürfen, und solche, die von vornherein mit einem anderen beruflichen Abschluß in das Beschäftigungssystem gehen sollen, diese Philosophie der Hohlwege und Einbahnstraßen und des Verzichts auf mehr Gleichwertigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung wäre eine klare Absage an die bisherigen Prinzipien der gemeinsamen Bildungsplanung.
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Diese Philosophie, Herr Kohl, wäre übrigens auch eine Absage an die klar erkennbaren Bedürfnisse der Jugendlichen, die ja gerade weg wollen von Einbahnstraßen, die als Achtzehn- oder Neunzehnjährige mehrere Wahlmöglichkeiten besitzen wollen, die sich angesichts der Unwägbarkeiten des Beschäftigungssystems nicht unbedingt darauf versteifen, ein Studium zu ergreifen, die aber auch nicht allein mit einer Berufsausbildung ein für allemal von einem späteren Studium ausgeschlossen sein wollen.
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Ich hoffe, daß CDU und CSU über diese Frage noch mit sich reden lassen. Ich hoffe, daß Ihre Zwischenrufe nicht das Gegenteil bedeuten. Wir sind keine Fanatiker der Integration allgemeiner und beruflicher Bildung. Wir sind aber entschiedene Gegner einer Abschottung der Bildungsgänge voneinander.
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Wir sind Gegner einer Sortierung der Menschen durch den Staat, ohne Wahlmöglichkeiten für den späteren Bildungs- und Berufsweg zu lassen.
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Einige Worte zur Studienreform. Die Öffnung der Hochschulen, die wir gemeinsam mit den Ländern vereinbart haben, muß endlich mit den Konsequenzen verbunden werden, die sich aus der Tatsache ergeben, daß die Hochschulen nicht mehr 5 °/o, sondern fast 20 % eines Geburtenjahrgangs ausbilden und in das Beschäftigungssystem entlassen: Wir müssen nicht nur die Ausbauanstrengungen zugunsten der Öffnungspolitik fortsetzen, sondern die Maßstäbe überprüfen, nach denen an den Hochschulen ausgebildet wird. Im Rahmen der Studienreform muß eine Auffächerung und Straffung des Lehrangebots erfolgen. Nur damit erreichen wir das Maß an Flexibilität, das wir im Hinblick auf die schwieriger werdende Beschäftigungssituation für Hochschulabsolventen und die schnellen Veränderungen in der Berufswelt dringend brauchen. Deshalb muß uns der schleppende Fortgang der Studienreform mit tiefer Sorge erfüllen.
Dabei wende ich mich übrigens auch gegen die unsachliche Kritik, die allein im Bemühen um die Studienreform schon den Versuch sieht, die Gegen- stände der Forschung und Lehre den, wie manche sagen, „Verwertungskategorien einer kapitalistischen Gesellschaft zu unterwerfen". Solche Vokabeln sind töricht und kurzschlüssig, wenn es darum geht, eine Reform der Studiengänge so ins Werk zu setzen, daß mit besseren Chancen ausgestattete Jugendliche ihren Platz in der Berufswelt finden können, ohne dem häufigen Argument ausgesetzt zu sein, ihre Ausbildung sei praxisfremd und eigentlich nicht verwertbar.
Schließlich noch ein Wort zum Stil der bildungspolitischen Auseinandersetzung. Ich finde, wir brauchen mehr Mut zur Redlichkeit.
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- „Mehr Mut zur Redlichkeit" habe ich gesagt. Das ist es, was die Bürger von uns erwarten: Probleme sachlich beim Namen zu nennen und nicht ideologisch zu vernebeln
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- ich bin gespannt auf die Beweisführung für Ihren Beifall - und zweitens um die besten Lösungen an Hand von Daten und Fakten und nicht an Hand von Wunschvorstellungen zu ringen.
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Es gehört zu dieser Redlichkeit, daß man die demographisch und bildungspolitisch bedingte Welle, die gegenwärtig in die Berufsbildung, in die Oberstufe der Gymnasien und sehr bald auch in die Hochschulen hereinkommt, als einen Vorgang anerkennt, der in ähnlicher Form eine Reihe von Industriestaaten herausfordert. Die damit verbundenen schwierigen Probleme fordern verantwortungsvolles Handeln, nicht die verfehlte Frage nach der Schuld an dieser Entwicklung.
Es gehört zur Redlichkeit, daß man auch das Absinken der Jahrgangsstärken seit 1968, das heute bereits die Kindergärten und die Grundschule prägt,
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als ein weltweites Phänomen begreift, das nichts mit der Politik einer bestimmten Regierung zu tun hat. Es hat allenfalls in Grenzen mit dem Klima zu tun, das wir gemeinsam herbeiführen oder nicht herbeiführen, mit dem Ausmaß an Zuversicht in die zukünftigen Lebensverhältnisse und Lebenschancen, die Staat und Wirtschaft vermitteln, selbstverständlich auch mit dem Zuschnitt unserer Bildungseinrichtungen und den Inhalten, die unsere Schulen, Betriebe und Hochschulen den Jugendlichen mitgeben, die ja einst selbst Eltern sein werden.
Es gehört zur Redlichkeit, daß in diesem Bundestag, dessen Mitglieder insoweit gar keine Einwirkungsmöglichkeiten haben, nicht über Lehrplangestaltungen und andere, rein landespolitische Fragen polemisiert wird.
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Bildungspolitische Schlachten, die, wenn sie schon geführt werden müssen, in die Landtage gehören, können unserer Arbeit und der Sache der Bildungspolitik hier keinen Gewinn bringen. Sie lenken von unseren Aufgaben ab und vermitteln dem Bürger ein falsches Bild von den bildungspolitischen Zuständigkeiten.
Es gehört zur Redlichkeit, daß keine Seite dieses Hauses vorgibt, allein mit Realitätssinn und Unfehlbarkeit begabt zu sein.
Es gehört zur Redlichkeit untereinander, Schwierigkeiten im föderativen Bildungssystem nicht nur zu sehen, sondern auch zuzugeben. Dabei sollte es sich keine Seite des Hauses so einfach machen, den nur zu verständlichen Wunsch nach einheitlichen Rahmenbedingungen und mehr Freizügigkeit auch im Bildungswesen mit der absurden Vorstellung einer Reduzierung des Föderalismus oder einseitiger, weltanschaulicher Ausgestaltung des Bildungswesens zu verknüpfen. Wir werden ja zu diesem Thema voraussichtlich im Herbst eine besondere Debatte haben. Es liegt mir aber daran, auch bei der Debatte über diese Große Anfrage deutlich zu machen, daß ein besseres Bildungsangebot, das wir durch die Anstrengungen vieler erreicht haben, nicht mit einem Zerbrechen der RahmenbedingunBundesminister Dr. Schmude
gen, in denen sich unser föderatives Bildungssystem entwickelt, einhergehen sollte.
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Zur Redlichkeit gehört schließlich auch der Versuch, Chancen und Risiken einer Ausbildung ausgewogen darzustellen. Es ist gefährlich, so meine ich, die Verantwortlichen von heute dadurch aufzurütteln, daß man die Zukunft der Jugend schwarz in schwarz malt und damit Eltern und Schüler in ihrem Wunsch verunsichert, die bereitstehenden Bildungsangebote anzunehmen. Sicherlich hat auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf bedenkliche Wirkungen hingewiesen, falls bestimmte Entscheidungen unterlassen werden. Aber diese Warnung ist nicht an die Adresse der Jugendlichen gerichtet. Den Jugendlichen vor allem möchte ich heute an dieser Stelle sagen: Die sozialliberale Bundesregierung setzt auf die junge Generation. Sie streitet für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für Rechtsstaat und Demokratie.
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Wie Unterdrückung und Ausbeutung in vergangenen Zeiten überwunden wurden, so gilt es in unserer Zeit, die Bedingungen humanen Lebens zu verbessern und zu sichern. Gelegentlich wird von der „nachindustriellen Gesellschaft" als der „Bildungsgesellschaft" gesprochen. Tendenziell befindet sich die Bundesrepublik Deutschland - im Einklang mit den führenden Industrieländern der Welt, wie ,der Abschnitt „Internationaler Vergleich" der Antwort zeigt - auf dem Wege dorthin. Die „gebildete Gesellschaft" von einst, die als Elite und Privilegierte auf einem allzugroßen Sockel von Armen und Dummen ruhte, mag leider noch manche Vorstellung prägen.
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Die Bildungsgesellschaft von morgen, in der jeder Bürger seine Leistung erbringt und eine anerkannte Rolle spielt, wird zu anderen Lebens- und Arbeitsformen führen. Das ist in der breiten Qualifizierung heute schon angelegt. Mitbestimmung am Arbeitsplatz, Bürgerbeteiligung in vielen politischen Bereichen, neue Aktivitäten in Kultur und Freizeit sind einige Stichworte dazu.
Die Jugendlichen sollen wissen, daß ihnen diese Regierung auch in schwierigen Zeiten nicht nur mit Solidarität, sondern mit dem Bemühen um Verständnis, mit einem Angebot an Freiheitlichkeit und mit Bereitschaft zum offenen Dialog begegnen möchte.
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Mißtrauen und Resignation vieler Jugendlicher wollen wir überwinden helfen. Auflehnung und Verdruß, wie sie uns bei Teilen der studentischen Jugend begegnen, dürfen nicht durch pauschale Abwertung ganzer Gruppen oder Universitäten erwidert werden.
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Auch der unberechtigte Protest, die unbegründete Resignation stellen uns berechtigte Fragen. Sie verdienen geduldige und ernsthafte Antworten. Das
ist der Weg, auf dem das Vertrauen der Jugend in eine durch Wahrnehmung aller Bildungschancen gesicherte Zukunft wächst.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer nur den schriftlichen Bericht der Bundesregierung, der uns vorliegt, gelesen und vielleicht auch noch die Rede des zuständigen Ressortministers soeben gehört hat und - das ist die entscheidende Voraussetzung - wer die Wirklichkeit nicht kennt, der müßte zu dem Ergebnis kommen, daß sich unsere Schulen und Hochschulen, 'von gewissen Übergangsschwierigkeiten abgesehen, jedenfalls im ganzen und im Vergleich zur Vergangenheit in einer geradezu glanzvollen Verfassung befinden.
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In Wahrheit steckt unser Bildungswesen, wie Hunderttausende junger Menschen und besorgter Eltern wissen, heute in einer tiefen Krise.
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Die Bundesregierung versucht, diese Krise hinter einem Zahlenrausch zu verstecken, der sich nur auf Qantitäten von Abschlüssen bezieht, nicht auf Inhalte von Bildung und Ausbildung, und schon gar nicht auf das, was die so Gebildeten und Ausgebildeten damit nachher beruflich und in ihrem Leben anfangen können.
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Dieser Trick erlaubt es der Bundesregierung, in geradezu unbeschwerter und naiver Weise weiterhin von Reformen und Reformprozessen zu reden, als ob es nur darauf ankomme, sie möglichst schnell voranzutreiben, um die Nation aus dem Dunkel alter Unmündigkeit in die Tageshelle einer demokratischen Bildungsgesellschaft zu führen.
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Wenn sich die Bundesregierung dabei völlig unreflektiert auf den Bildungsbericht 1970 beruft, der noch die Unterschrift des damaligen Bundeskanzlers Brandt trägt, dann kann das nur als Zeichen völliger Lernunfähigkeit der Bundesregierung gewertet werden.
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Herr Bundesminister, trotz des Geburtstags, den Sie heute feiern, muß ich sagen, daß mich Ihre Rede in dieser Wertung noch bestärkt hat.
Erinnern wir uns: Damals wurde mit Fanfarenstößen ein neues Zeitalter angekündigt.
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Nicht die Weiterentwicklung unseres hochdifferenzierten und bis damals gewiß sehr leistungsfähigen Bildungssystems, sondern die Totalreform, ein radikaler Neubeginn, mit neuen Zielen, neuen Inhalten, neuen Organisationsformen und Strukturen
wurde damals angekündigt. Bei genauem Nachlesen des Bildungsberichts 1970 zeigte sich schon damals, daß da, wo man inhaltliche Konzepte für die Totalreform hätte erwarten können, nur die vage Vorstellung von einer Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche genährt wurde. Im strukturellen Bereich sollte alles Heil von der Errichtung neuer Gesamtsysteme, Gesamtschulsysteme und Gesamthochschulsysteme abhängen. Die klassischen Institutionen der Ausbildung und der wissenschaftlichen Qualifizierung sollten diesen Gesamtsystemen eines lebenslangen Lernens Platz machen. Die visionäre Vorstellung, daß die ganze Nation in eine riesige Volkshochschulgemeinde umgewandelt würde, lag nicht mehr fern.
Inzwischen sind drei Bundeswissenschaftsminister gescheitert. Inzwischen verlassen - was schlimmer ist - arbeitslose Akademiker in immer größeren Schüben die Universität, während Studienanwärter in gleicher Zahl nach wie vor vor ihren Toren stehen, ohne zu wissen, ob und wann sie Einlaß erhalten. Inzwischen findet ein für manche Betroffene grausamer Verdrängungswettbewerb zwischen Akademikern, Abiturienten und den vielen anderen statt, um die sich Ihre Reformpolitik eigentlich nie sehr gekümmert hat. Inzwischen sind die Zukunftschancen der jungen Generation so ungewiß, um nicht zu sagen: so düster, wie seit langem nicht mehr. Inzwischen gibt es Schulen, vor allem Hochschulen - hier darf es keine Verallgemeinerungen geben; aber das, was zu kritisieren ist, beschränkt sich, wie jeder weiß, nicht auf Ausnahmen -, an denen gegen unseren Staat und die Demokratie in einer Weise gehetzt wird wie, wenn wir von den zwölf braunen Jahren absehen, nie zuvor. Haben die Verfasser des Berichts der Bundesregierung das alles nicht zur Kenntnis genommen? Glauben Sie, meine Damen und Herren aus Regierung und Koalition, immer noch, es sei die heile Welt, in die Sie uns hineinführen? Haben Sie den Aufstand der Eltern und Erzieher in Nordrhein-Westfalen schon vergessen? Ist Ihnen auch der energische Kampf hessischer Eltern gegen den Mißbrauch der Schulen aus dem Gedächtnis geschwunden? Oder ist Ihnen das alles nur gleichgültig?
Ich habe immer noch die Hoffnung, daß Sie sich wenigstens in dieser Debatte selbstkritisch den schweren Problemen stellen, die zum großen Teil erst durch das geschaffen worden sind, was Sie, eigentlich mit Unrecht, als Reformpolitik bezeichnen.
Auch die Union kann leider nicht von sich behaupten - ich bekenne das freimütig daß sie sich dem Zeitgeist immer habe entziehen können. Auch bei uns waren manche von einer unrealistischen Reformeuphorie geblendet „waren", sage ich.
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Hinzu kam der Wunsch unserer Kultusminister, trotz der Veränderungsstrategie der Linken ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im deutschen Bildungswesen zu erhalten. Das führte zu Formelkompromissen der Kultusministerkonferenz, die dann in SPD/ FDP-regierten Ländern nicht im Sinne eines bundesweiten Konsensus ausgelegt wurden. Die Reform der gymnasialen Oberstufe ist dafür ein Beispiel.
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Auch diese Rücksicht auf die Einheit unseres Bildungswesens spricht uns nicht von jeder Mitverantwortung für die eingetretenen Fehlentwicklungen frei. Aber wir sind, meine Damen und Herren, da wir keine ideologischen Ziele verfolgen,
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bereit und fähig, gemachte Fehler zu korrigieren. - Sie sind derartig von ideologischen Zielen erfüllt, daß Sie sich gar nicht vorstellen können, daß es auch Politiker geben kann, die nicht von solchen Zielen erfüllt sind.
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Es wäre sehr nützlich, meine Damen und Herren von SPD und FDP - nicht nur für Sie selbst, sondern vor allem auch für unsere Jugend und unser Volk -, wenn auch Sie zu Selbstkritik und Selbstkorrektur fähig wären. Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam ideologie- und vorurteilsfrei die Ergebnisse zu prüfen, die ein Jahrzehnt ebenso stürmischer wie kostspieliger Veränderungen unserem Schulwesen und Hochschulwesen gebracht hat. Wenn Sie dazu bereit sind, werden Sie wahrscheinlich zu den gleichen Ergebnissen kommen wie ich, die ich in folgenden Feststellungen zusammenfassen möchte:
Erstens. Eine Bildungspolitik, die insbesondere in SPD/FDP-regierten Bundesländern auf Abitur und akademisches Studium ausgerichtet war und ist, hat große Teile der jungen Generation in eine Sackgasse geführt. Die Abiturientenlawine hat Hochschulen und Arbeitsmarkt in gleicher Weise überschwemmt. Wir stehen, wenn es nicht bald zu einer Kurskorrektur kommt, am Anfang einer langanhaltenden und strukturbedingten Akademikerarbeitslosigkeit.
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Zweitens. Die Überbeanspruchung der Hochschulen mit Lehraufgaben hat die Forschung zurückgedrängt, für ein hochindustrialisiertes und exportabhängiges Land eine bedrohliche Entwicklung.
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Drittens. Die Kehrseite der Tendenz zu Abitur und Hochschule zeigt sich in der Abwertung praxisbezogener Ausbildungsgänge. Die Volksschuloberstufe wurde vor Jahren zur Hauptschule umgeformt, um diese Schulart aufzuwerten. Die Hauptschule ist jedoch heute weitgehend zur Restschule geworden, ohne daß ihren Absolventen - und das ist das Entscheidende - eine Bildung und Ausbildung vermittelt würde, die ihren Fähigkeiten gerecht wird.
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- Mein Gott, ja. In der Gesamtschule können Sie das nur alles verdecken. Da findet dann ein Wettbewerb zu Lasten der Schwachen statt. Das ist doch die Wirklichkeit.
({13})
Viertens. Es ist auch nicht gelungen, die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluß wesentlich zu senken. Es sind immer noch mehr als 100 000 jährlich. Sie und zusätzlich rund 400 000 behinderte Jugendliche sind am härtesten vom Verdrängungswettbewerb beim Kampf um Ausbildungs-
und Arbeitsplätze bedroht.
Fünftens. Ähnliche Fehlentwicklungen zeigen sich im tertiären Bereich. Die Fachhochschulen wurden gegründet, um diese praxisorientierten Bildungsgänge aufzuwerten. Heute sind die Fachhochschulen in ihrer Orts- und Zielbestimmung tief verunsichert. Nach Meinung der Bildungsideologen der Koalition haben sie keine Eigenberechtigung mehr und sind eigentlich nur noch dazu berufen, in Gesamthochschulen auf- oder - so kann man es auch sagen - unterzugehen.
Sechstens. 1969 wurde das Berufsbildungsgesetz verabschiedet. Seitdem hat die Bundesregierung mit den Markierungspunkten des Herrn von Dohnanyi und später mit einem Gesetz über die Ausbildungsplätze mehrfach versucht, die betriebliche Ausbildung mit einem planwirtschaftlichen Netz zu überziehen. Aber die wichtigste Aufgabe der Berufsbildungspolitik, die Abstimmung zwischen der betrieblichen und der schulischen Seite der Ausbildung, ist immer noch ungelöst.
({14})
- Stellen wir zunächst einmal die Fakten fest! Dann können wir darüber debattieren, woran es liegt, daß es dazu gekommen ist. Wenn man die Wahrheit nicht zur Kenntnis nimmt, kann man auch nicht zu richtigen Analysen und Schlüssen kommen.
({15})
Siebtens. Die Bundesregierung reklamiert für sich eine Kontinuität der Bildungsreform. Angenommen, es gäbe eine solche Kontinuität, dann wäre es höchste Zeit, über das demokratische Fundament dieser Reform nachzudenken. Es ist eine gewiß sehr zweifelhafte „Errungenschaft", daß in einigen Bundesländern Eltern gezwungen sind, um ihre Erziehungsrechte zu kämpfen, wie in Nordrhein-Westfalen und in Hessen.
({16})
Denken Sie an die Gründung von Elternvereinen! Denken Sie an die Schulrechtsdiskussion auf dem Deutschen Juristentag! Die organisierte Elternschaft in den von mir genannten Ländern wehrt sich gegen Bildungsideologen, die ihnen Reformen überstülpen, die sie nicht wollen und die sich nachher als große Fehlschläge herausstellen.
({17})
Was an all dem bedrückt, ist nicht nur die Unfähigkeit derer, die sich für Reformer halten, und nicht nur die Hast, mit der sie ans Werk gehen. Am bedrückendsten ist die Arroganz, mit der sie sich über den Willen der Betroffenen hinwegsetzen.
({18})
Das ist zutiefst undemokratisch. Demokratische Politiker sind die Beauftragten und nicht die Herren des Volkes. Das sollte einmal zur Kenntnis genommen werden.
({19})
Deshalb muß mit Zwangseingriffen zur Durchsetzung bestimmter Schulsysteme endlich Schluß sein, welche es auch sein mögen. Ich appelliere an alle, insbesondere an die Politiker der FDP, die den Sozialisten allzulange dabei geholfen haben, Zwangseingriffe durchzusetzen, wie z. B. in dem Bundesland, in dem ich politisch tätig bin: Seien Sie doch ein bißchen liberaler,
({20})
ein bißchen toleranter! Geben Sie den Eltern überall Wahlfreiheit in bezug auf den Bildungsweg ihrer Kinder,
({21})
und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch!
({22})
Kümmern Sie sich um die praktischen Mängel unseres Schulsystems, um Unterrichtsausfall und ähnliche Dinge! Da hat der Staat genug zu tun. Das ist sehr viel wichtiger, als Bildungsideologen zu Befriedigungen zu helfen.
({23})
Sorgen Sie mit uns für eine vorsichtige und abgesicherte Entwicklung; denn es geht nicht um Kaninchen, es sind unsere Jugendlichen, unsere Kinder, die Gegenstand Ihrer Experimente sind! Worauf es jetzt ankommt, ist Ruhe an der Schulfront, innere Konsolidierung, die Überprüfung der geistigen Grundlagen und der tragenden Begriffe der Bildungspolitik.
Die Bundesregierung hat auf die Erörterung all dieser Grundfragen verzichtet. Für sie gibt es nach ihrem Bericht und auch nach der Rede des Ressortministers zu urteilen nur den integrierten Gesamthimmel der Reform, wenn er auch leicht bewölkt erscheint. Daneben gibt es ein verhalten angedeutetes Feindbild. Es wird gemutmaßt, es gebe gewisse Leute - das war soeben auch wieder in der Rede des Bundeswissenschaftsministers zu erkennen -, die Vorbehalte - ich zitiere aus dem Bericht - gegen eine Politik haben, die auf eine 'allgemeine Anhebung des Qualifikationsniveaus abzielt, und zwar seien das Leute - ich zitiere -, die traditionelle Privilegien oder einseitiges Anspruchsdenken verteidigten. So einfach ist das, meine Damen und Herren!
({24})
Diese schlichte Weltdeutung hat mit den Problemen, vor denen wir stehen, überhaupt nichts zu tun.
({25})
Die manichäische Einteilung der politischen Welt in Reformer und Antireformer ist einfach lächerlich. Wie können wir von der heranwachsenden Generation politische Urteilsfähigkeit erwarten, wenn wir eine solche Versimpelung der Probleme zulassen?
({26})
Reformen müssen sich vor denen legitimieren, die von ihnen betroffen werden. Wer einen Reformanspruch vertritt, muß beweisen, daß er Verbesserungen für die Betroffenen bewirkt. Die Beweislast trägt er, nicht die anderen, wie es in der Vergangenheit häufig gehandhabt worden ist.
Wenn unser Bildungswesen aus der Zone der ideologischen Fundamentalkonflikte herauskommen soll, dann müssen einige grundlegende Irrtümer und Falschbewertungen ausgeräumt werden, denen ich mich jetzt zuwenden möchte.
Dazu gehört der Mißbrauch der Begriffe Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Der Bildungsbericht '70 sah ein Kernstück der Chancengleichheit darin, 50 % der Jugendlichen zum Abitur und die Hälfte davon zum akademischen Studium zu bringen. Spötter haben deshalb gefragt: Wieviel Gleichheit darf es denn sein? Ist die Chancengleichheit bei 50 °/o oder vielleicht schon bei 40 % erreicht, und was ist dann mit den anderen 50 oder 60 %, sind sie das Strandgut dieser Gleichheitsreform?
Meine Damen und Herren, dieser ganze Denkansatz ist doch offensichtlich falsch und inhuman dazu. Er verkennt die Unterschiedlichkeit und Vielgestaltigkeit der Begabungen. Er verkennt, daß der Standard eines Volkes nicht die Folge seiner Akademisierung, sondern das Ergebnis seiner Begabungs-
und Leistungsvielfalt ist.
({27})
Den höchst unterschiedlichen Begabungen der Menschen muß die Vielfalt des Bildungswesens entsprechen. Der Wert eines Bildungssystems ist nicht daran zu messen, ob es möglichst viele zum gleichen Ziel führt - etwa 50 % zum Abitur -, sondern daran, ob es den Menschen eine Vielzahl verschiedener Wege anbietet, damit jeder seine Chance in diesem System finden kann.
({28})
Das uns vorliegende Dokument der Bundesregierung spiegelt von diesen Kernfragen nichts wider. Glanzstück der Reformstatistik ist die Steigerung bei den weiterführenden Bildungsgängen, insbesondere bei Realschulen und Gymnasien. Die Bundesregierung scheut sich nicht, in diesem Zusammenhang von „höheren" Bildungsgängen und -abschlüssen zu sprechen.
({29})
Diese Sprache ist im Grunde entlarvend. Neben „höheren" Bildungsgängen muß es ja konsequenterweise auch niedere Bildungsgänge geben. Wenn die theorie- und abstraktionsbezogenen Bildungsgänge die höheren sind, dann sind also die Bereiche, in denen Menschen durch praktisches Tun gebildet werden, nach diesem Sprachgebrauch als die bildungspolitischen Niederungen zu begreifen.
({30})
Die Bundesregierung könnte sich ein wahrhaft reformerisches Verdienst erwerben, wenn sie dafür
einträte, den praktischen Begabungen wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.
({31})
Aber das tut sie leider nicht. Sie hält an einer Wertskala fest, die alle jungen Menschen deklassiert, die sich nicht in theoretischen Bildungsgängen qualifizieren.
Zu den grundlegenden Fehlern ihrer Bildungspolitik gehört auch - und das wurde vorhin wieder sichtbar und wurde betont - die falsche Kernthese, daß das Bildungssystem vom Beschäftigungssystem abgekoppelt werden dürfe. Die Bundesregierung erklärt zu diesem Existenzproblem vieler junger Menschen lakonisch, eine Harmonisierung von Bildungssystem und Beschäftigungssystem sei gar nicht möglich und im übrigen auch gar nicht zu wünschen. Mit anderen Worten, Bildungsplaner, die Zehntausenden von jungen Menschen falsche Wege gewiesen haben, müssen nach dieser Logik nicht aus gesamtpolitischer Vernunft zur Ordnung gerufen werden, sondern erhalten auch noch einen Freibrief, weiterhin Bildungsgänge ohne berufliche Zukunftschancen zu planen.
({32})
Meine Damen und Herren, die staatliche Gemeinschaft bringt für das Bildungswesen viele Opfer, aber sie kann nicht Bildungsgänge subventionieren, die mit Sicherheit in die berufliche Irre führen. Die Berechnung beruflichen Bedarfs ist gewiß nur in einem begrenzten Umfang möglich; die Freiheit der Berufswahl darf zudem nicht mutwillig beschränkt werden. Aber das erlaubt es doch nicht, sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, was beruflich aus denen wird, die heute ausgebildet werden.
({33})
Den vielen arbeitslosen Lehramtskandidaten hätte gewiß bereits vor Jahren gesagt werden können, mit welchen Fächerkombinationen keine oder nur geringe berufliche Chancen verbunden sein würden.
Im übrigen ist die Nachfrage nach Bildungsgängen keine schicksalhafte Größe; diese Nachfrage wird vielmehr auch propagandistisch gesteuert. Am Anfang standen doch die Bildungskatastrophen-Prediger mit der überheblichen Behauptung, das geistige Potential unseres Volkes sei an der Zahl der Abiturienten abzulesen. In Abwandlung wurde das mit dem „Bürgerrecht auf Bildung" fortgesetzt; gemeint war ein Recht auf theoriebezogene Bildung, und ausgelegt wurde es als Recht auf Einstellung in den höheren Dienst.
({34})
Die Bundesregierung nimmt auch in ihrer jetzigen Vorlage dieses Schlagwort, auf. Sie arbeitet damit denen in die Hände, die im Ankurbeln unerfüllbarer gesellschaftlicher Ansprüche das entscheidene Konfliktpotential erkannt haben, mit dem unser freiheitliches Gesellschaftssystem gesprengt werden soll.
Dafür ein Beispiel: Der Marxist Hans-G. Rolff, einer der führenden. Ideologen der von der BundesDr. Dregger
regierung finanzierten „Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule" - das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft bestreitet über 80 % des Haushalts dieser Gesellschaft -({35})
hat in einem Aufsatz über „Widerspiegelung gesamtgesellschaftlich bedingter Widersprüche in der Schule"
({36})
strategische Überlegungen über die Sprengwirkung bildungspolitischer Maßnahmen angestellt. Das wichtigste Konfliktpotential - im marxistischen Parteichinesich die „gesellschaftlichen Widersprüche" - sieht Rolff im Chancengleichheitsversprechen zur Sicherung der Massenloyalität einerseits und in der Unmöglichkeit, das Chancengleichheitsversprechen einzulösen, andererseits.
({37})
Er charakterisiert damit, in der Sache richtig, das Kernproblem sozialdemokratischer Bildungspolitik und zieht mit kalter Berechnung daraus die Nutzanwendung für eine langfristige Strategie der Systemsprengung. Der von mir zitierte Beitrag, immerhin die Veröffentlichung eines deutschen Professors der Erziehungswissenschaften, liest sich wie ein Guerilla-Handbuch mit Einzelanweisungen über die Einleitung sogenannter antikapitalistischer Strukturreformen.
Man könnte darüber hinwegsehen, wenn nicht der Eindruck bestünde, es gäbe eine augenzwinkernde Arbeitsteilung zwischen diesen „antikapitalistischen Strukturformen" und staatlich-offiziöser Reformpolitik. Dafür spricht die Tatsache, daß dieser Herr Rolff nicht nur Aufsätze verfaßt, sondern auch im früher sozialdemokratisch regierten Wiesbaden herangezogen wurde, um den Schulentwicklungsplan wissenschaftlich grundzulegen - einen Schulentwicklungsplan, den wir nach Erobern der absoluten Mehrheit in Wiesbaden sofort aufgehoben haben.
({38})
Meine Damen und Herren, die Strategen der Systemveränderung können mit Recht darauf spekulieren, daß durch die Bildungspolitik der Koalition Ansprüche geschaffen werden, die unerfüllbar bleiben, und daß auf diese Weise letztlich das Vertrauen gegenüber der gesamten freiheitlichen Ordnung erschüttert und eine allgemeine Loyalitätskrise heraufbeschworen wird. Auch die Koalition sieht die Gefahr einer wachsenden Loyalitäts- und Vertrauenskrise, aber sie sucht die Schuldigen an einer anderen Stelle. Nicht ihre Bildungspolitik ist im Begriff, im Bund und in den Ländern Schiffbruch zu erleiden. Wenn etwas schiefgeht, dann sind „traditionell geprägte Denkmuster" schuld oder so rätselhafte Erscheinungen wie „streßverengte Lebensperspektiven" und häufig „Enttäuschungen". Wenn das nicht mehr zur Erklärung reicht, dann ist es die verfassungsmäßige Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern. Auch darauf wird hingewiesen.
Meine Damen und Herren, es ist ein altes sozialistisches Prinzip, funktionierende Institutionen zunächst zu ruinieren und nachher Sündenböcke zu präsentieren, die dafür verantwortlich sind.
({39})
Wenn die Produktivität der Wirtschaft geschwächt worden ist, dann gibt es Gelber-Punkt-Aktionen, und dann sind die Unternehmer daran schuld. Wenn eine verfehlte Bildungspolitik die jungen Menschen enttäuscht, dann wird eine Verschwörungstheorie gebraucht.
({40})
Zur Zeit ist es ein Fortschrittsverhinderungssyndrom, dessen Kern der Kulturföderalismus sein soll.
In diesem Sinne werte ich den Strukturbericht der Bundesregierung über die Bildungszuständigkeiten als ein gigantisches Ablenkungsmanöver, das vergessen machen soll, welches die eigentlichen Ursachen der Misere sind. Ich persönlich auf Grund meiner Erfahrungen auch als Oberbürgermeister zweifle nicht daran, daß in diesem Land und in diesem Volk immer das notwendige Verständnis für Veränderungen gefunden werden kann. Es hat unserem Volk gewiß nicht an Bereitschaft zu Veränderungen gefehlt. Das Vertrauen in die Kompetenz derer, die von Reformen sprachen, war gewiß nicht zu gering. Es besteht aber kein Verständnis mehr dafür, unsere Bildungseinrichtungen zu Spielfeldern für Gesellschaftsingenieure werden zu lassen. Das wird abgelehnt.
({41})
Die Bürger sind mündiger, als es denen lieb ist, die gern von Emanzipation reden, aber Entmündigung bewirken.
Die Bundesregierung allerdings sieht die Sache anders. Sie kann sich die Eigenwilligkeit des Bürgers nur mit „traditionell geprägten Denkmustern" erklären. Was Sie, meine Damen und Herren, mit dieser Vokabel in die Mottenkiste der Geschichte stecken, ist in Wahrheit nichts anderes als der gesunde Menschenverstand selbstbewußter demokratischer Bürger, die sich zur Wehr setzen gegen Unsinnigkeiten
({42})
- Herr Wehner, ich habe Sie nicht verstanden; wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, gerne -, Bürger, die darauf drängen, daß die teuer bezahlten Bildungseinrichtungen ihren Sinn erfüllen und daß Veränderungen, die natürlich immer notwendig sind und die es auch immer gegeben hat, mit Verstand und Augenmaß betrieben werden.
Am sinnfälligsten zeigt sich dieser Zusammenhang in der polemisch überlagerten Diskussion über die Gesamtschule. Während man dem Bildungsbericht 1970 der Regierung Brandt noch die Unschuld naiver Reformbegeisterung zugute halten konnte, als er in der Gesamtschule die Zukunftsschule sah,
kann das für die jetzige Vorlage der Bundesregierung nicht gelten. Meine Damen und Herren, es ist insbesondere für jemand, der aus einem Land kommt, in dem sich über die Hälfte der integrierten Gesamtschulen befindet, die es in Deutschland gibt,
({43})
eine Zumutung, zu einem in Wissenschaft und Praxis heiß umstrittenen Thema einen Jubelbericht vorgelegt zu bekommen, der sich auf sage und schreibe eine einzige Veröffentlichung stützt.
Meine Damen und Herren, die Union tritt dafür ein, daß auch die Gesamtschulidee eine Chance erhält, sich in der Praxis zu bewähren.
({44})
Wir wollen unsere Urteilsbildung auf der Grundlage eines leidenschaftslos vorgenommenen Leistungsvergleichs zwischen Gesamtschulsystemen einerseits und den Schulen des gegliederten Bildungssystems andererseits betreiben.
Im übrigen wollen wir auf den Willen der Betroffenen abstellen.
({45})
Ich habe daher für die hessische Union erklärt, daß wir nach einem Regierungswechsel, den wir für den 8. Oktober erwarten,
({46})
keine einzige Gesamtschule auflösen, wenn die Eltern sie beizuhalten wünschen,
({47})
und daß wir Gesamtschulen, die beibehalten werden, genauso fördern werden wie jede andere Schule auch; denn jedes Kind hat nur eine Schulzeit und darf nicht Opfer von Schulexperimenten werden.
({48})
Wir werden aber nicht zulassen, daß Entscheidungen von so großer Tragweite auf Grund von bloßer Propaganda - die Bundesregierung nennt das eine Politik der Aufklärung und Überzeugung - und gegen den Willen der Betroffenen gefällt werden. Denn das könnte dazu führen, daß in noch weit größerem Maßstab junge Menschen in die Irre geführt werden, als das bei der Expansion im Hochschulbereich geschehen ist, und eine ganze Generation einem gesellschaftspolitischen Experiment geopfert wird. Nach unseren Erfahrungen vor Ort spricht bis jetzt nichts dafür, daß sich das Gesamtschulsystem als überlegen erweisen könnte. In Hessen hat ein einheitlicher Leistungstest der Industrie-
und Handelskammern aus dem Jahre 1977, in den 4 800 Schulabgänger einbezogen waren, signifikant schlechtere Leistungen der Gesamtschulabsolventen mit Haupt- und Realschulabschluß gegenüber den Schulabgängern von selbständigen Haupt- und Realschulen nachgewiesen.
({49})
Damit ist noch kein Urteil gesprochen. Aber solche Ergebnisse sollten doch wenigstens vorschnelle Festlegungen und Totalreformen verhindern.
Schließlich kann auch die unselige Verquickung zwischen Schulreform, ideologischen Heilslehren und politischen Umerziehungsstrategien gerade bei diesem Thema Gesamtschule nicht verschwiegen werden. Wir haben nicht vergessen, daß die hessischen Rahmenrichtlinien, die ja bundesweit bekanntgeworden sind, als inhaltliche Ausfüllung des Organisationsrahmens Gesamtschule konzipiert worden sind. Diese Rahmenrichtlinien sind keineswegs als ein einmaliger bildungspolitischer Betriebsunfall anzusehen. Sie setzen sich vielmehr tausendfältig fort. Nur ein einziges Beispiel möchte ich Ihnen hier zitieren, weil es nicht nur ein Stück hessischer Politik dokumentiert, sondern auch zeigt, wie Schulreform in der Finanzierungsverantwortung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft aussehen kann.
Es handelt sich um die Erfindung der „sozialistischen Mathematik", die an die „deutsche Physik" unseligen Andenkens erinnert.
({50})
In einer Veröffentlichung aus dem Projekt „Konkretisierung der Rahmenrichtlinien an Gesamtschulen" lesen wir unter der Überschrift „Probleme von Motivation und Mitbestimmung im Mathematikunterricht" folgende Thesen über die Rolle dieses Fachs in der „kapitalistischen Gesellschaft", wie es dort heißt. Ich zitiere jetzt wörtlich.
({51})
- Ich zitiere jetzt aus diesem Projekt, das der Bundesminister für Forschung finanziert hat und das sich mit dem Mathematikunterricht an Gesamtschulen befaßt.
({52})
- Hören Sie es sich doch bitte einmal an! Das ist doch auch vielleicht für Sie interessant.
({53})
- Sie können die Wahrheit nicht hören; das ist eben das Schwierige. Sie können sie nicht hören.
({54})
- Aber wir werden die Wahrheit immer wieder sagen, ganz laut und kräftig; das kann ich Ihnen versichern, Herr Conradi.
({55}) Es heißt dort wörtlich:
1. Der Mathematikunterricht erfüllt die beiden Funktionen der Schule im Kapitalismus, nämlich profitable Qualifikation von Arbeitsvermögen und Einübung in die Verkehrsformen des Kapitalismus, besser als jeder andere Fachbereich in der Gesamtschule.
({56})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Bitte schön, ja.
Herr Abgeordneter Dregger, hätten Sie die Freundlichkeit, um der Wahrheit willen Verfasser, Art und Titel des Papiers hier bekanntzugeben, aus dem Sie zitieren.
({0})
Das habe ich soeben getan. Ich kann es gern wiederholen.
({0})
Es handelt sich um Materialien zu einem Projekt, das der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft finanziert hat, und zwar um die Materialien des Modellversuchs „Konkretisierung der Rahmenrichtlinien an Gesamtschulen", abgekürzt „KORAG",
({1})
eines Modellversuchs, den der Bundesminister mit dem bescheidenen Betrag von 1 147 712 DM finanziert hat.
({2})
- Jetzt wissen Sie es genau.
Nun darf ich vielleicht auch noch vortragen, was weiter darin steht.
1. Der Mathematikunterricht - das hatte ich schon vorgetragen erfüllt die beiden Funktionen der Schule im Kapitalismus, nämlich profitable Qualifikation von Arbeitsvermögen, Einübung in die Verkehrsformen des Kapitalismus, besser als jeder andere Fachbereich in der Gesamtschule.
2. Besser erfüllt er diese Funktion, weil im Mathematikunterricht Gesellschaft als Thema des Unterrichts scheinbar nicht vorkommt, somit gesellschaftliche Zusammenhänge nur schwer
behandelt und kaum hinterfragt werden können.
({3})
Wie schlimm! - Dann heißt es unter Ziffer 12:
Mathematikunterricht führt zu fremdbestimmtem Arbeiten, abstraktem Leistungsdenken und kapitalistischen Tugenden wie Fleiß, Sauberkeit,
({4})
Genauigkeit, Ordnung, Konzentrationsfähigkeit, Beharrlichkeit und Sorgfalt, selbständigem Arbeiten, Selbstkontrolle
- das sind alles kapitalistische Tugenden und vor allem zur Betrachtung der Gesellschaft unter dem Verwertungsgesichtspunkt.
Ziffer 13:
Fernziel guten Mathematikunterrichts muß sein, die Schüler im Zusammenhang von gesellschaftlich relevanten Themen mit Hilfe mathematischen Operationen zu befähigen, ihre eigenen Interessen zu erkennen.
({5}) Nun wissen wir es. - Weiter:
Projektunterricht. Z. B. Thema: Die Macht der Banken; Beitrag des Mathematikunterrichts; Zinsrechnung.
({6})
Ziffer 14 - ich zitiere immer noch wörtlich aus dieser Arbeit, die der Bundesminister mit mehr als i Million DM finanziert hat -:
Nahziel muß sein, den Schüler zur Ideologiekritik am Mathematikunterricht zu befähigen,
({7})
indem er lernt, ungeprüfte Voraussetzungen zu erkennen. Beispiel: Lohn - Leistung.
({8})
Meine Damen und Herren, diese Kostprobe ideologischen Schwachsinns
({9})
hat ein deutscher Kultusminister drucken lassen, und zwar nicht etwa der Herr von Friedeburg, sondern sein Nachfolger Krollmann. Daß das mit mehr als 1 Million DM aus dem Bundeshaushalt finanziert worden ist, habe ich schon gesagt.
Inzwischen ist dieser Modellversuch im hessischen Gesamtschulwesen ausgelaufen. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft finanziert jetzt ein Anschlußobjekt unter dem Titel „Systematische Umsetzung gesamtschulspezifischer Zielsetzungen", dessen erste unterrichtspraktische Ergebnisse mir jetzt vorliegen. Es handelt sich um comic strips, die zeigen, daß in Kuba vor dem Sieg Fidel Castros Hunger und Elend geherrscht haben und daß seit dem Erfolg der sozialistischen Revolution die Insel in ein Paradies des Wohlstands und der Gerechtigkeit verwandelt worden ist.
({10})
Meine Damen und Herren, sind das alles nur Zufälle oder Entgleisungen? Ich meine: nein. Die Reihe könnte noch beliebig fortgesetzt werden. Es gibt inzwischen ganze Bibliotheken für schulische Indoktrination, sogar Service-Organisationen für entsprechend eingestellte Lehrer. Wer es komprimiert und auf theoretisch anspruchsvollem Niveau nachlesen will, dem sei das Rowohlt Taschenbuch „Strategisches Lernen in der Gesamtschule" empfohlen, in dem der bekannte sozialdemokratische Bildungspolitiker Karl-Heinz Evers, der frühere Berliner Schulsenator, die Einführung geschrieben hat. In der Person dieses Herrn Evers wird die ganze Doppel7602
bödigkeit sozialdemokratischer Reformpolitik, wird das augenzwinkernde Einvernehmen zwischen ihren offiziösen Vertretern und den marxistischen Kulturrevolutionären deutlich.
Als Bildungssenator bezeichnete Evers die Gesamtschule noch als soziale Leistungsschule, um sie einem breiten Publikum schmackhaft zu machen. Heute definiert er dieses Reformmodell als „Ziel und Mittel des politischen Kampfes".
({11})
Es könne seine Vorzüge allerdings erst voll entfalten, „wenn der Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung" nicht mehr bestehe. Er fährt dann wörtlich fort:
Mithin ist die Überwindung des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung dafür, daß die Ziele der Gesamtschule erreicht werden können.
({12}) Es folgt dann aus seiner Sicht weiter:
Der Übergang zum Sozialismus ist eine historische Notwendigkeit. Aber er ist kein Automatismus, sondern hängt von uns ab. Und dazu muß die Gesamtschule mit eingesetzt werden.
({13})
Sie können das Zitat finden: Evers, Einführung zu Rolff „Strategisches Lernen in der Gesamtschule", rororo 6854 Seite 15 ff.
Daß ein maßgebender sozialdemokratischer Bildungspolitiker den Übergang zum Sozialismus als eine historische Notwendigkeit ansieht, mag seine Sache sein und die seiner Partei. Aber daß er dazu die staatlichen Monopolschulen einsetzen will, ist eine Schweinerei sondergleichen, gegen die wir Front machen.
({14})
Wer unser System der Freiheit und der Menschenwürde erhalten will, muß Gegner ernst nehmen, die es auf einen gesellschaftlichen Fundamentalkonflikt abgestellt haben. Deshalb messe ich solchen Aussagen wie den eben zitierten größeres Gewicht bei als den glatten Worten des Berichts der Bundesregierung, den wir heute diskutieren sollen. Die Bundesregierung hat uns eine heile Reformwelt vorgegaukelt, in der es angeblich keine ernsthaften Probleme - außer den Widerständen der ewig Gestrigen - gibt. Das ist nichts anderes als Nebelwerfertaktik. Wenn heute eine gesamtstaatliche Bilanz der Bildungspolitik gezogen wird, dann haben wir - im Gegensatz zu Ihrer Meinung, Herr Bundesminister - allen Anlaß, eine durchgreifende Kurskorrektur zu fordern.
Herr Abgeordneter ich rüge den Ausdruck „Schweinerei" als unparlamentarisch.
An erster Stelle steht dabei die klare Entscheidung zwischen Weiterentwicklung, die den Menschen dient und die diese
Menschen annehmen, weil sie einsichtig sind, und solchen Veränderungen, die eingeleitet werden, um eine andere, um eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Schule und Hochschule gehören nach unserer Auffassung allen, nicht nur der jeweiligen Regierung und ganz und gar nicht irgendwelchen Systemveränderern.
({0})
Wer Parteiprogramme zu Bildungsprogrammen an den staatlichen Monopolschulen erhebt, bricht im Grunde die Verfassung und zerstört die Gemeinsamkeit, ohne die eine freiheitliche Demokratie auf Dauer nicht existieren kann.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Bildungspolitik, die das schwer erschütterte Vertrauen der Bürger in die demokratische Legitimität staatlicher Schul-
und Hochschulpolitik wiederherstellt. Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren von SPD und FDP, einen energischen Schlußstrich unter die bisherige ideologisch fixierte Bildungspolitik zu ziehen. Über Zielvorstellungen im einzelnen mag immer gestritten werden, aber im ganzen kann dieses Feld nicht bestellt werden ohne die breite Übereinstimmung der Menschen über die Grundlagen unseres Bildungssystems.
Wir meinen, Bildungspolitik darf nur am verfassungsmäßigen Zweck der Bildungseinrichtungen ausgerichtet werden. Dieser Zweck ist es gewiß nicht, Deutschland marxistisch, sondern unsere Jugend lebenstüchtig zu machen. Dazu gehören Tugenden, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die in den Materialien des von mir zuvor zitierten, vom Bundesminister für Forschung finanzierten Modellversuchs als kapitalistische Tugenden denunziert wurden, nämlich Fleiß, Genauigkeit, Ordnungssinn, Konzentrationsfähigkeit, Beharrlichkeit, Fähigkeit zu selbständigem Arbeiten und Leistungswillen. Diese Tugenden und diese Verhaltensweisen sind nicht das Ergebnis eines kapitalistischen Systems, sondern das Ergebnis einer jahrhundertenlangen Entwicklung einer der großen Kulturnationen der Erde.
({1})
Diese Tugenden und Fähigkeiten dürfen wir uns nicht durch irrsinnige Bildungsideologen zerstören lassen.
({2})
Nur wenn wir sie für die Zukunft bewahren, werden auch unsere Kinder die Chance haben, als freie Menschen in einem freien Land zu leben. Dafür zu arbeiten ist unsere wichtigste Aufgabe.
({3})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schuchardt.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Verständnis, wenn ich nicht im einzelnen auf die Vorstellung von Klischees, Vorurteilen und Pauschalierungen eingehe.
({0})
Ich möchte nur einige Unterschiede in den Denkansätzen deutlich machen.
Zunächst einmal darf ich eines wohltuend zur Kenntnis nehmen: Herr Dregger möchte der Gesamtschule eine Chance geben. Es ist noch gar nicht lange her, da hat er in diesem Zusammenhang immer von „sozialistischem Einheitsbrei" geredet.
({1})
Da kann ich nur sagen: Nachtigall, ick hör dir trapsen!
({2})
Ein Beispiel für den unterschiedlichen Denkansatz: Herr Dregger sagte sehr eindeutig „Ich werde immer die Wahrheit sagen". Darin liegt der Unterschied zwischen Herrn Dregger und einem Liberalen. Ein Liberaler wird immer nur sagen können „Ich werde immer das sagen, was ich für wahr halte" ; denn ein Liberaler wird für sich nie in Anspruch nehmen können, zu wissen, was die Wahrheit ist.
({3})
Sie haben vom Mißbrauch der Chancengleichheit und der Chancengerechtigkeit gesprochen. Herr Dregger, welch ein Zynismus gehört eigentlich dazu, wenn sich jemand, der voll die Chancen unseres Bildungssystems bis zur Promotion für sich in Anspruch genommen hat, hier hinstellt und sagt: „Nun müßten wir uns doch wohl überlegen, ob wir eigentlich überhaupt so viele Akademiker ausbilden dürfen"?
({4})
Es ist außerordentlich auffällig, daß gerade dieses Argument von denen kommt, die für sich alle Chancen in Anspruch genommen haben.
({5})
Ich habe den Eindruck: So mancher fürchtet sich möglicherweise vor der Konkurrenz.
Sie haben sehr häufig davon gesprochen - heute haben Sie es nicht erwähnt -, daß Sie der Auffassung sind, daß die Studenten nicht auf Kosten der Allgemeinheit studieren sollten. Wenn sie für ihre Ausbildung eine zusätzliche Hilfe brauchen, dann sollten sie diese per Darlehen bekommen.
Ihr Sohn oder Ihre Tochter brauchen eine solche Unterstützung sicherlich nicht. Aber wollen Sie so manchem Jugendlichen aus einer Familie mit geringem Einkommen, wenn er die Chance wahrgenommen hat, die Sie Ihren Kindern geben konnten, zumuten, auf einem hohen Schuldenberg zu sitzen?
({6})
Wir haben einen Schritt in diese Richtung getan - das sollte man zugeben -: Es wird nur ein Teil als Darlehen erstattet. Aber man sollte dieses sicherlich nicht übertreiben.
Sie haben gesagt, als der Zwischenruf bei Ihren Ausführungen über eine fehlende Abstimmung zwischen Ausbildungsordnung und Rahmenlehrplänen kam, man müsse dies zunächst einmal feststellen.
Wie man das ändern könne, darüber könne man dann reden.
Es kam keine Erklärung, wie Sie sich denn eigentlich die Änderung vorstellen. Aber wir als sozialliberale Koalition wußten, wie dies zu machen ist, nämlich indem man versucht, ein Institut, das Bundesinstitut für Berufsbildung, damit zu beauftragen, beides gemeinsam zu erarbeiten. Es ist am Länderegoismus gerade Ihrer Partei gescheitert.
({7})
Wir haben Lösungsangebote vorgetragen und dies nicht nur festgestellt.
({8})
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung. Ich meine, er sollte auch ein Beginn sein zur bildungspolitischen Diskussion in Bund, Ländern und Gemeinden, zwischen den Parteien, bei den Verbänden und in der Öffentlichkeit. Die Bildungspolitik ist in ,der Vergangenheit wie kein anderer Bereich auf rein emotionale Aspekte reduziert worden. Ich glaube, es gibt wohl kein anderes Land, das die bildungspolitischen Auseinandersetzungen so ideologisch geführt hat wie das unsrige.
Es ist natürlich grundsätzlich zu begrüßen, wenn sich jemand, der nicht als Bildungspolitiker zu bezeichnen ist, bildungspolitischen Fragen stellt. Aber, Herr Dregger, die Tatsache, daß Sie als Redner bestellt worden sind, ist für mich nicht ein Signal der sachlichen Auseinandersetzung gewesen - das hat sich ja heute auch bestätigt -,
({9})
sondern das Weiterreiten auf einer emotionalen Welle. - Was meint Herr Möllemann?
({10})
- Nun äußere ich mich hier zu einer Sache, von der ich, so glaube ich, ein bißchen mehr verstehe als Herr Dregger.
({11})
- Als Herr Dregger. Oh nein, Herr Möllemann weiß in dieser Frage auch sehr gut Bescheid.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Weiterreiten auf der emotionalen Welle. Ich meine, dies wird der Bildungspolitik insgesamt nicht und schon erst recht nicht denen gerecht, die in unserem Bildungssystem leben.
Wenn man nun der Polemik der Union glauben darf, so müßte ja die Bundesrepublik in Länder mit glücklichen Kindern und in Länder mit unglücklichen Kindern zu unterteilen sein.
({12})
- Wenn Sie dies sogar bestätigen, dann kann ich damit nur die Unglaubwürdigkeit Ihrer eigenen Argumentation als bewiesen ansehen.
({13})
Schauen Sie, ich bin in vielen anderen Ländern gewesen und habe festgestellt, daß nirgendwo Kinder glücklicher oder unglücklicher sind, sondern dies ist ein polemisches Argument, um zu behaupten, es gebe hier irgendwelche Reformen, die die Kinder unglücklich gemacht hätten. Wenn nun ausgerechnet das Land Baden-Württemberg eine Initiative „Anwalt des Kindes" unternimmt, so scheint es offenbar notwendig zu sein, daß das Kind in Baden-Württemberg einen Anwalt gegen die Bildungspolitik, die in diesem Lande gemacht wird, benötigt.
({14})
Meine Damen und Herren, ich möchte einige Beispiele für das Motto „rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln" nennen, nach dem die CDU in den letzten Jahren und Jahrzehnten Bildungspolitik betrieben hat. Da hat zunächst einmal die CDU in Hessen im Jahre 1970 gefordert, die Eingangsstufe, die schulformübergreifende Orientierungsstufe und die kooperative Gesamtschule flächendeckend einzuführen. 1978 hat sie dies mit einem Mal für völlig verfehlt erklärt und dabei natürlich gehofft, daß der Wähler schon alles vergessen werde, was sie selber einmal gefordert hat, und dies dann nur noch als polemische Angriffe gegen die sozialliberale Koalition eingesetzt. Zur gleichen Zeit, in der die CDU in Nordrhein-Westfalen ein Volksbegehren gegen die kooperative Schule veranstaltet
({15})
und mit dem höchsten Grad an Polemik die Bürger über das verunsichert, worüber eigentlich abgestimmt wird, führt der Kultusminister Remmers in Niedersachsen, der der CDU angehört, die integrierte Orientierungsstufe ein. Das ist ein geradezu phantastisches Beispiel, daß es der CDU in der Bildungspolitik nicht um die Sache geht, sondern allein um parteitaktisches Manöver.
({16})
- Es ist eine .Zustandsbeschreibung, das müssen Sie doch zugeben.
Anfang der 70er Jahre rühmte sich die Union, einen besonders starken Anteil am Ausbau der Hochschulen zu haben. Heute spricht sie vom akademischen Proletariat - ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie wenig diese Partei bereit ist, zu Entwicklungen zu stehen, die sie selber einmal gewollt hat, auch dann, wenn Schlagworte wie das „akademische Proletariat" inzwischen populär geworden sind.
Nun hat auch die CDU, so kann ich mich erinnern, einmal die Bundeskompetenz für das Bildungswesen gefordert. Nur just in dem Moment, in
dem sie nicht mehr selber den Bundesminister stellte, wandelte sie ihre Auffassung,
({17})
d. h., nicht die Sache stand im Mittelpunkt, sondern das reine parteitaktische Manöver.
Lassen Sie mich noch ein Beispiel hinzufügen. Die CDU hat vor einigen Jahren die Umlagefinanzierung für die berufliche Bildung gefordert. Aus irgendwelchen Gründen und unter dem Motto „Was kümmert uns das Geschwätz von vor zwei Jahren?" war diese Berufsbildungsabgabe, die wir einführen wollten, schließlich ein Ausbildungsplatzverhinderungsinstrument. Ja, die Gedanken der CDU gehen manchmal merkwürdig krumme Wege.
Herr Dregger, Sie sprechen immer von Modetrends, denen sich diese Koalition unterwirft. Ich kann nur sagen: Wir stehen zu einer Reihe von Entwicklungen, die wir gewollt haben und die positive Auswirkungen hatten. Wir werden nicht nach dem Prinzip, daß Opportunismus das höchste sei, verfahren.
({18})
- Sie haben ja Ihre Rede begonnen, indem Sie gesagt haben, Sie hätten die Antwort der Großen Anfrage gelesen. Dies ist aus der Rede, die Sie gehalten haben, nicht sehr deutlich geworden.
({19})
Aber Herr Wehner hat ja einmal an einer anderen Stelle darauf hingewiesen, daß es Ihnen nicht darum gehe, sich an das Thema zu halten, das auf der Tagesordnung stehe.
Was wurde nun bisher erreicht? Seit 1965 wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, den Anteil der Bildungsausgaben am Gesamthaushalt wesentlich zu erhöhen. Ich meine, es ist dem engagierten Eintreten von Bürgern Mitte der 60er Jahre zu verdanken, daß die Bildungspolitik zu einem Bereich der Priorität in der Politik wurde. Das heißt, in den 60er Jahren hatte konservative Bildungspolitik dazu geführt, daß der Bürger aktiv wurde, damit endlich gehandelt wurde. Die Auswirkungen waren folgende: Der Anteil der Bildungsausgaben an den öffentlichen Haushalten ist seit 1965 von 11,2 auf 15,6 % gestiegen. Nun ist in den letzten Jahren immer wieder ,der Eindruck erweckt worden, als ob diese Mittel - ein bißchen haben Sie diesen Eindruck heute wieder verstärkt - allein in unnütze Reformen gesteckt worden seien. Tatsache ist, daß wir zuallererst starke Jahrgänge in unser Bildungssystem hineinbekamen - wir haben heute etwa 2 Millionen mehr Schüler als im Jahre 1965 -, daß wir die Bildungszeiten verlängert haben und daß vor allem viele Jugendliche die Chance wahrgenommen haben, mittlere und höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Diese Entwicklung war bildungspolitisch gewollt. Wir halten diese Entwicklung nach wie vor für richtig.
In den 60er Jahren galt die katholische Arbeitertochter vom Lande als besonders benachteiligt. Damit wurde zusammenfassend deutlich gemacht, wo die Benachteiligungen lagen. Ich meine, man muß
feststellen, daß einiges erreicht worden ist. Heute nehmen mehr Kinder aus Arbeiterfamilien die Chance für mehr Bildung wahr. Die Mädchen sind nicht mehr so stark wie vor fünf Jahren gegenüber gleichaltrigen Jungen benachteiligt. Ich meine, dies ist eine positive Entwicklung. Sie sollte weitergehen. Das Bildungsangebot im ländlichen Raum ist erheblich verbessert worden.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die unsachliche ideologische Diskussion der vergangenen Jahre auch deshalb geführt worden ist, um diese positive Entwicklung zu überschatten.
({20})
Minister Schmude hat bereits' im einzelnen die quantitativen Erfolge dargestellt. Ich möchte mich deshalb nur auf einige wenige beschränken. Aber einiges ist zuallererst festzustellen. Noch nie haben so viele Jugendliche die Chance für mehr Bildung wahrgenommen wie jetzt. 1975 gingen doppelt so viele Jugendliche in die 9. Klasse als zehn Jahre zuvor und dreimal so viele in die 12. Klasse. Doppelt so viele Jugendliche erreichten einen mittleren Abschluß und fast viermal so viele eine Fachhochschul- oder Hochschulreife. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse war trotz der angespannten Situation noch nie so hoch wie 1977. Letztlich ist die Zahl der Hauptschulabgänger, die nicht den Abschluß erreichten, um ein Drittel zurückgegangen.
Die Expansion des Bildungswesens hat außerordentlich positive Auswirkungen auf das Beschäftigungssystem gehabt. Hätten wir diese Expansion - Herr Meinecke hat bereits darauf hingewiesen - nicht betrieben, so wären 1,5 Millionen Erwerbssuchende mehr am Arbeitsmarkt erschienen. Wir hätten sehr viel früher das Problem der Arbeitslosigkeit und besonders der Jugendarbeitslosigkeit gespürt. Dies sollte uns darauf hinweisen, welche positiven Auswirkungen vernünftige bildungspolitische Maßnahmen, wenn sie zur rechten Zeit getroffen werden, haben können.
Lassen Sie mich einiges zur Leistungsfähigkeit der Gesamtschulen sagen. Die FDP hat sich schon sehr frühzeitig für die Gesamtschule eingesetzt, weil sie in dieser Schulform eine optimale Möglichkeit sieht, durch ein offenes, durchlässiges Schulsystem die Chancen jedes einzelnen zu verbessern, falsche Entwicklungen, bedingt durch eine zu frühe Schullaufbahnentscheidung, zu verhindern, wie auch die sehr viel flexiblere Möglichkeit einer Schule zu bieten, sich auf die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche eines Kindes und Jugendlichen einzustellen. Die FDP hat sich immer dafür eingesetzt, daß diese Entwicklung sich nicht gegen den Willen der Betroffenen zu vollziehen hat
({21})
und daß man erst nach gründlicher Erprobung zu endgültigen Entscheidungen kommen sollte.
Die in der Antwort aufgeführten Untersuchungsergebnisse der in allen Bundesländern vorgenommenen Schulversuche zeigen, daß die Hoffnung, die
mit der Gesamtschule verknüpft ist, begründet ist.
({22})
Schon jetzt kann gesagt werden, daß die Gesamtschule die Chancengleichheit wesentlich erhöht, Fehlentwicklungen verringert und die Bildungsmöglichkeiten, die der einzelne Schüler hat, stärker entfalten kann.
({23})
Die ersten Erfahrungen mit der Gesamtschule zeigen, daß die Prognosen, die Schüler am Ende der Grundschule, also Zehnjährige, mit auf den Weg bekommen, zu einem ganz erheblichen Teil falsch sind. Die -meisten haben sich später in der Gesamtschule als entwicklungsfähiger und bildungsfähiger herausgestellt, als ihre Prognose lautete.
({24})
Wir wissen aus den Übergängen vom Gymnasium auf die Realschule und von der Realschule auf die Hauptschule, wie schmerzlich eine Prognose für ein Kind zu tragen ist, wenn sie zu hoch angesetzt war.
({25})
Die Gesamtschule macht deshalb deutlich, wie problematisch es ist, zehnjährige Kinder in eine bestimmte Schulform zu schicken. Das Risiko der Fehleinschätzung liegt im System der Dreigliedrigkeit.
({26})
Schon dies ist ein wichtiges Argument für die Gesamtschule.
Auch zeigt sich, daß die Durchlässigkeit innerhalb des Bildungsangebots einer Gesamtschule sehr viel größer ist. Herr Dregger, Sie sprechen immer vom Elternrecht und von der Elternentscheidung. Wie sieht denn nun eigentlich die Elternentscheidung beim dreigliedrigen Schulsystem aus? Sie reduziert sich auf die Eltern von Zehnjährigen. Damit ist sie am Ende. Dann wird die Entscheidung der Schule überlassen. Dann entscheidet der Lehrer an Hand der Leistungen, ob die Kinder im Gymnasium bleiben oder nicht. Das hat mit Elternrecht gar nichts mehr zu tun.
({27})
Die Gesamtschule gibt die Möglichkeit, daß Eltern - -({28})
- Ach, Herr Dregger, beschäftigen Sie sich mal damit und lesen Sie mal die Große Anfrage richtig, lesen Sie auch mal andere Untersuchungen von Gesamtschulen; man kann ja sein Spektrum des Wissens in dieser Frage verbreitern! Dann werden Sie das bestätigt finden.
({29})
Das bedeutet, das Elternrecht und die Einbeziehung der Eltern in die Bildung der Kinder können in der Gesamtschule sehr viel besser verwirklicht werden.
({30})
Das sollte die weitere Entwicklung berücksichtigen.
Daß darüber hinaus in der Gesamtschule der Anteil derer, die den Hauptschulabschluß nicht erreichen, wesentlich geringer als im dreigliedrigen Schulsystem ist, ist ebenfalls eine sehr positive Beobachtung.
Herr Dregger, Sie haben von der Hauptschule als der Restschule gesprochen. Wenn ich das tue, sagt die CDU immer, es sei gar keine Restschule. Aber Sie haben das von sich aus getan. Deswegen will ich darauf eingehen. Wissen Sie, warum das eine Restschule ist? Weil die CDU gefordert hat, unser dreigliedriges Schulsystem könne doch phantastisch dadurch verbessert werden, daß man die Übergänge in die mittleren und höheren Bildungsabschlüsse erleichtert. Wen wundert es dann eigentlich, daß die Hauptschule eine Restschule wird?
({31})
- Ein bißchen Logik, Herr Dregger, macht unheimlich viel aus innerhalb der Politik. Ich kann nur sagen: Schicken Sie Ihre Kinder in die Hauptschule, dann bleibt es keine Restschule.
({32})
Aber schicken Sie ihre Kinder nicht ins Gymnasium oder vielleicht sogar in die Gesamtschule und muten Sie anderen Eltern nicht zu, ihre Kinder in der Hauptschule nur deshalb zu lassen, damit es keine Restschule wird! Das ist doch die Konsequenz, die Sie offenbar anbieten.
({33})
Will man in der Bildungspolitik wirklich sachgerecht bleiben, so ist man daran interessiert, daß dem Kind eine Schule angeboten wird, die in der Lage ist, sich auf dieses Kind einzustellen. Dann muß man auch bereit sein, diese positiven Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen und auszubauen. Oder man muß sich vorwerfen lassen, wirklich aus ideologischen Gründen die Gesamtschule abzulehnen - ohne Rücksicht auf die Entwicklung der Kinder.
Die Union spricht nun immer wieder vom Elternrecht. Sie muß sich deshalb vorhalten lassen, wieso sie eigentlich den Eltern, die ihr Kind auf eine Gesamtschule schicken wollen, das Recht auf diese freie Wahl vorenthalten will.
({34})
- Gegen Sie doch einmal in die Landtage. Herr Rühe wird Ihnen das genau beschreiben. Er war in der Hamburger Bürgerschaft und hat sich gegen eine Schulgesetzänderung gewehrt, in der den Eltern genau dieses Recht eingeräumt werden sollte. Lesen
Sie das einmal durch, Herr Dregger, bevor Sie einen
solchen Zwischenruf machen. Ich nehme an, daß
Herr Rühe Ihnen genau erklären wird, wie das war.
({35})
In allen Ländern - unabhängig von der Anzahl der dort vorhandenen Gesamtschulen - ist bereits heute festzustellen, daß mehr Eltern ihre Kinder in Gesamtschulen schicken wollen, als dafür Gesamtschulplätze zur Verfügung stehen. Das heißt: wir haben einen Numercus clausus an Gesamtschulen.
({36})
Ich glaube, Herr Dregger, man kann sagen, daß dies eine deutliche Entscheidung der Eltern für Gesamtschulen ist. Sie sprechen vom Elternrecht. Geben Sie den Eltern das Recht, ihre Kinder auf eine Gesamtschule zu schicken!
({37})
Wir Freien Demokraten halten es für falsch, dem Bürger einen Schultyp aufzuoktroyieren, den er nicht zu akzeptieren bereit ist.
({38})
- Sie wissen doch ganz genau, was in Nordrhein-Westfalen geschehen ist. Das hatte doch mehr mit Emotionen als mit sachlicher Auseinandersetzung zu tun.
({39})
- Ja, genau das sage ich. Schauen Sie doch nach Niedersachsen. Da hat Ihr Kultusminister das zur gleichen Zeit eingeführt. Das ist doch die Tatsache. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß das eine gute Sache ist. Herr Remmers ist offenbar ein ganz vernünftiger Mensch.
({40})
- Sie sind sehr aufgeregt, wie man merkt. Das freut mich außerordentlich.
({41})
Wir halten es ebenso für falsch, einen Schultyp aufzuoktroyieren wie auf der anderen Seite einen Schultyp vorzuenthalten.
Wir haben so viel Vertrauen in die Gesamtschule, daß wir glauben, wenn wir den Eltern die Wahlmöglichkeit zwischen den Schultypen eröffnen, wird die Wahl letztendlich eindeutig zugunsten der Gesamtschule ausfallen.
({42})
- Nein, das wissen wir gar nicht vorher. Ich habe nur gesagt, daß ich Vertrauen habe. Das überlassen wir dann den Eltern, frei zu wählen, wohin sie ihre Kinder schicken wollen.
({43})
Sie lassen doch beispielsweise auch in der Grundschule kein dreigliedriges Schulsystem zu. Die Grundschule ist eine integrierte Gesamtschule bis zur vierten Klasse. Wieso sind Sie eigentlich für Integration in Schulen für die bis zu 10jährigen und danach plötzlich für das Auseinanderlaufen, für das Einteilen in drei verschiedene Kategorien? Das ist doch die Realität.
({44})
Was ist nun zu tun? Die Hauptherausforderung im Bildungssystem liegt ganz ohne Frage in der starken Schwankung der Anzahl der Geburten in den jeweiligen Jahrgängen. Wir haben die Situation, daß heute ausgerechnet die starken Jahrgänge Ausbildungsplätze oder Studienplätze suchen, die schon früher keine Kindergartenplätze fanden und die in der Grundschule und in der Mittelstufe in sehr großen Klassen unterrichtet wurden. Wir müssen deshalb eine Politik betreiben, durch die die Jugendlichen, die zufällig in einen geburtenstarken Jahrgang hineingeboren worden sind, nicht benachteiligt werden. Das bedeutet, daß man ihnen, auch wenn es dem derzeitig erkennbaren Bedarf an Arbeitsplätzen widerspricht, genau die gleiche Bildungschance wie den Kindern geburtenschwacher Jahrgänge geben muß. Wer sich darüber beklagt, daß wir heute zu viele Akademiker ausbilden, der muß dabei auch gleichzeitig sagen, daß er, wenn er dies verhindern will, die Bildungschance aller, die in einem solchen starken Jahrgang geboren worden sind, erheblich verringern will. Das Recht auf Bildung bleibt eine hohle Farce, wenn man die Kapazitäten von Bildungseinrichtungen allein daran ausrichtet, welchen Bedarf der Arbeitsmarkt wohl später einmal haben wird. Abgesehen davon, daß kaum eine Prognose über den zukünftigen Bedarf zuverlässig gestellt werden kann, muß ein liberaler Staat auch bereit sein, den Bildungswünschen des einzelnen entgegenzukommen.
Herr Schmude hat es vorhin schon erwähnt, aber ich möchte es noch einmal sehr stark verdeutlichen: Wer die Lenkung von Investitionen im wesentlichen ablehnt, darf nicht andererseits den einzelnen Menschen in seiner Bildung lenken wollen. Oder sollte die Wertigkeit von Investitionen etwa höher als die Wertigkeit eines einzelnen Menschen und seiner Entwicklung eingeschätzt werden? Zur Zeit hat allerdings die ungleich höhere Verdienst- und Aufstiegschance, die durch mehr Bildung entsteht, einen stark lenkenden Einfluß auf die Bildungswünsche des einzelnen Jugendlichen.
({45})
- Das ist doch ganz klar. Herr Dregger hat selbst vom sogenannten Verdrängungswettbewerb gesprochen. Ich meine, ein Jahrgang hat immer nur 100 %, und früher ist auch verdrängt worden. Es kann also heute nicht mehr als früher verdrängt werden. Eines ist sicher: Derjenige, der die bessere Bildung erhalten hat, verdrängt immer den mit der schlechteren Bildung.
({46})
Deshalb kann ich nicht sagen, dem einen gönne ich die bessere Ausbildung, dem anderen nicht, sondern ich muß jeden gleichstellen und jedem die gleiche Chance einräumen. Darum geht es im wesentlichen.
({47})
Wer Recht auf Bildung für sich in Anspruch nehmen will, muß aber auch bereit sein, damit persönlich das Risiko zu übernehmen, wenn er eine Ausbildung ergriffen hat, die möglicherweise nicht dem Arbeitsmarkt entspricht.
({48})
Wir müssen deshalb gerade die im öffentlichen Dienst vorhandene starre Koppelung von formalem Bildungsgrad und Einkommenshöhe beseitigen. Ich halte die Vorschläge des Wissenschaftsrats, die Eingangsämter auch für Akademiker geringer zu besolden, für mutig, aber auch für unbedingt erwägenswert. Wenn ich mir vorstelle, daß wir einerseits Lehrer und Richter brauchen könnten, sie uns aber wegen der angespannten Haushaltssituation nicht leisten können, auf der anderen Seite aber eine Reihe von Bewerbern vor der Tür stehenbleiben, so meine ich, daß es der Solidarität derer, die im Beschäftigungssystem einen Platz gefunden haben, bedarf, um zu neuen Einkommensüberlegungen in dieser Frage zu kommen, und auch denen die Chance zu eröffnen, die draußenvor stehen.
Die Antwort auf die Große Anfrage zeigt, daß durch die Verlängerung der Bildungszeiten der Arbeitsmarkt erheblich entlastet wurde. Ich meine, dieses sollte eine Aufforderung sein, das zehnte Bildungsjahr, das alle Parteien fordern, gerade für die starken Jahrgänge in einer Zeit einzuführen, in der es beschäftigungspolitisch sogar wünschenswert wäre. Ich fände es sehr ungerecht, wenn nun die schwachen Jahrgänge, die ohnehin schon immer begünstigt waren, auch noch die ersten sein werden, die das zehnte Bildungsjahr wahrnehmen dürfen.
({49})
Wenn man bedenkt, daß dies bereits in einigen Bundesländern angestrebt wird, keineswegs aber in allen, und darüber hinaus sehr uneinheitliche Vorstellungen über den Inhalt eines solchen Bildungsjahres bestehen, so versteht man, weshalb die FDP seit vielen Jahren gerade auch in dieser Frage der Bildungsdauer für mehr bundeseinheitliche Kompetenz kämpft.
Wir werden bald in der Situation sein, daß die Mobilität der Arbeitnehmer auch dadurch geringer wird, daß ein Familienvater, dessen Kind gerade aus der neunten Klasse der Hauptschule in Baden-Württemberg oder Niedersachsen entlassen worden ist, nicht nach Berlin ziehen kann, weil dort ein zehnjähriger Besuch der Hauptschule vorgesehen ist.
({50})
- Weil das eine gute Sache ist und weil wir den
Hauptschülern dieses Bildungsjahr - Sie haben für
sich selbstverständlich mehr als neun Jahre in An7608
spruch genommen, Herr Pfeifer - nicht vorenthalten wollen. Das ist der Grund.
({51})
Die Schildbürgerstreiche durch die Zersplitterung der Kompetenzen werden wir an Hand des Berichts über die strukturellen Mängel unseres föderativen Bildungssystems darlegen, und ich bin gespannt, wie Ihre Vorstellungen sein werden.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Bildungschancen der Mädchen sagen. Wir stehen vor der großen Gefahr, daß die positive Entwicklung der Berufsausbildung für die Mädchen dadurch reduziert wird, daß der Arbeitsmarkt so angespannt ist und Jungen eher einen Arbeitsplatz finden. Wir müssen deshalb versuchen, auch den Mädchen technische Berufe zu öffnen.
Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen. Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Arbeitsschutzmaßnahmen für Mädchen und Jungen, für Männer und Frauen. Wenn man hier die Gleichberechtigung verwirklichen wollte, müßte man die Verordnungen über die Arbeitsschutzmaßnahmen, die ursprünglich zugunsten von Frauen gemacht wurden und sich jetzt zu ihrem Nachteil auswirken, überarbeiten.
({52})
Dies ist eine Aufforderung an den Staat und an die Tarifvertragsparteien
({53})
und hat nichts damit zu tun, daß man ausbildungshemmende Vorschriften abbauen möchte, sondern damit soll lediglich Gleichberechtigung hergestellt werden.
({54})
Frau Präsidentin, ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich meine Redezeit ein bißchen überziehe. Ich möchte nur noch einige wenige Gedanken zum Ausdruck bringen.
Die Arbeitsverwaltung - so hat uns die Antwort auf die Große Anfrage mitgeteilt - ist dabei, die Berufsberatung aufzubauen. Nun ist das Problem dies, daß wir heute diese Berufsberatung dringend brauchen, aber in zehn Jahren möglicherweise nicht mehr, und zwar einfach deshalb, weil schwache Jahrgänge die Schulen verlassen werden. Ich meine, daß es, unabhängig vom Monopol der Arbeitsverwaltung bei der Berufsberatung, angemessen wäre, sich des Sachverstandes von Innungen, Kammern und Gewerkschaften bei der Beratung für diese Übergangszeit zu bedienen, damit nicht möglicherweise ein weiterer Schildbürgerstreich passiert, indem man jetzt Beamte zur Beratung einstellt und sie dann, wenn sie sich endlich in die Vielfältigkeit unserer Berufswelt eingearbeitet haben und ihr Wissen gar nicht mehr gebraucht wird, an eine andere Stelle versetzt. Ich meine, wir sollten versuchen, hier flexibel zu handeln und unbürokratisch vorzugehen.
Meine Damen und Herren, wir konnten natürlich nicht alles, was in dieser Großen Anfrage und in der Antwort darauf an Anregungen und insbesondere an positiver Entwicklung aufgezeigt ist, diskutieren. Die Freien Demokraten betrachten diese heutige Debatte als Beginn einer neuen Offensive auch im bildungspolitischen Bereich. Wir haben eine enorme Herausforderung vor uns und werden weitergehen, weil wir der Auffassung sind, wir sind auf dem richtigen Wege.
({55})
Das Wort hat der Herr Senator Dr. Glotz.
Senator Dr. Glotz ({0}) : Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die interessanteste Statistik, die sich in dem Bericht des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft befindet, ist die, Herr Kollege Dregger, die im Grunde drei wichtige Zahlen zusammenfaßt. Die eine - Sie haben sie selbst zitiert - zeigt, daß die Zahl derer, die die Hochschul- und Fachhochschulreife erlangt haben, von rund 7,5 % eines Jahrgangs im Jahre 1965 auf etwa 19 % im Jahre 1975 angestiegen ist. Die zweite Zahl betrifft - man muß das im Zusammenhang sehen - die mittleren Abschlüsse. Die Zahl der Abschlüsse an Realschulen hat sich von rund 18 % auf 33 % erhöht. Die dritte ist die wichtigste Zahl. Die Zahl der Schulabgänger ohne einen Hauptschulabschluß hat sich von rund 17 % auf rund 12 °/o vermindert. Es gibt viele solcher Zahlen in diesem Bericht. Die drei von mir genannten kennzeichnen die Entwicklung der letzten zehn Jahre für mich am deutlichsten.
Sie, Herr Kollege Dregger, haben in diesem Zusammenhang in Ihrer Erwiderung auf den Bericht von Herrn Bundesminister Schmude den Begriff „Zahlenrausch" gebraucht. Ich bin der festen Überzeugung - und ich sage das jetzt nicht polemisch -, daß hinter diesen Zahlen Tausende und aber Tausende menschlicher Schicksale stecken, die wirklich verbessert werden' konnten, so daß man diese Entwicklung nicht mit dem Begriff „Zahlenrausch" abtun sollte,
({1})
bei der Arbeiterkinder auf Universitäten gehen konnten, wozu ihnen vorher keine Chance gegeben war, und bei der Leute einen Schulabschluß bekommen haben, die vorher keine Chance dazu hatten. Bitte, tun Sie das nicht mit dem Begriff „Zahlenrausch" ab, Herr Kollege Dregger; das ist sicher falsch.
({2})
Lassen Sie mich noch etwas sagen, aber in diesem Punkt nicht als sozialdemokratischer Bildungspolitiker, sondern jetzt als Vertreter der Länder. Diese Entwicklung, die wir hier vorliegen haben, ist ja eben nicht - Herr Schmude hat das ja eingeräumt - eine Entwicklung, die ausschließlich auf sozialdemokratische oder sozialliberale Bildungspolitik zurückginge, sondern eine Entwicklung, die auch in konservativ, in von der Union regierten Ländern eingetreten ist.
Senator Dr. Glotz
Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie gesagt haben, auch Sie übten Selbstkritik, und auch Ihre Freunde hätten zuweilen dem Zeitgeist zu sehr nachgegeben. Aber ich bitte Sie, die Anstrengungen, auch die Bildungsanstrengungen, die - auch in den unionsregierten Ländern - dazu geführt haben, nicht als Reverenz gegenüber einem falschen Zeitgeist zu werten; das wäre eine falsche Wertung. Es ist eine gemeinsame Leistung, eine Leistung, an der selbstverständlich auch unionsregierte Länder Anteil haben.
Lassen Sie mich nun etwas zum „Zeitgeist" sagen. Da ist ja - ich rede jetzt einmal von der Bildungsexpansion insgesamt - nicht nur - jetzt auch bei den unionsregierten Ländern - eine Politik, die bloß im Jahre 1971 oder im Jahre 1973 passiert wäre. Sehen Sie bitte - das ist einfach die tägliche Praxis, die unsereiner hat -: Noch vor zwei Jahren ist das Ziel „850 000 Studienplätze" im Planungsausschuß für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau von allen Bundesländern gemeinsam beschlossen worden. Herr Kollege Dregger, der Bildungsgesamtplan ist damals beschlossen worden; jetzt wollen alle Länder gemeinsam den Bildungsgesamtplan fortschreiben. In der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung gibt es gemeinsame Programme, wenn auch selbstverständlich mit einzelnen Differenzen. Das heißt doch, daß zwar die Gesamtpolitik, die Herr Schmude hier dargestellt hat, sicher in vielen Einzelpunkten auch von unionsregierten Ländern und von Unionspolitikern zu korrigieren versucht wird, aber als Gesamttendenz ist doch die Kurskorrektur, von der Sie sprechen, in den 850 000 Studienplätzen, in der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans und überall in der gemeinsamen Arbeit der Länder keineswegs angelegt.
Sie haben - übrigens an einem mich verletzenden Punkt - von „augenzwinkernder Arbeitsteilung". gesprochen; ich komme nachher noch darauf zurück.
({3})
Manchmal habe ich den Eindruck, daß auf der einen Seite die Unions-Bildungspolitiker in der Fortführung und der Stabilisierung sowie bei der Lösung der Probleme der Bildungsexpansion sehr oft sachlich mitarbeiten, dann aber auf der anderen Seite an diesem Pult oder an anderen Pulten andere CDU-Politiker genau das Gegenteil sagen
({4})
und die große Kurskorrektur propagieren. Dies, Herr Kollege Dregger, ist augenzwinkernde Arbeitsteilung, die ich kritisieren muß.
({5})
- Ach Gott, diesen Begriff habe ich noch nie gemocht; ich mag ihn auch in diesem Zusammenhang nicht, Herr Kollege.
Lassen Sie mich einen Satz zu dem Begriff „Ideologie", wie Sie ihn gebrauchen, sagen. Sie wenden sich gegen ideologische Politik. Bitte versuchen Sie, Ihren Marxschen Ideologiebegriff abzulegen und ihn zu Karl Mannheim weiterzuentwickeln, Herr Kollege Dregger. Denn das Ideologie falsches Bewußtsein ist,
das ist Marx im Original. Aber lassen Sie uns doch zugeben, daß wir alle miteinander Wertsysteme im Kopf haben und nach diesen Wertsystemen Politik machen. Das gilt für die Union wie für die Sozialdemokratie, und es sind sicher in vielen Punkten gemeinsame und in manchen Punkten unterschiedliche Wertsysteme. Aber so zu tun, als ob man selber Sachpolitik und der andere ideologische Politik macht, ist einfach kurzsichtige Polemik, Herr Kollege Dregger, die ich so nicht akzeptieren kann.
({6})
Ich habe mich darüber gefreut, daß Sie die - wie Sie sie genannt haben - manichäische Einteilung in Reformer und Antireformer ablehnen. Ich weiß nicht, ob sie manichäisch ist, aber auch ich würde eine solche einfache Einteilung der Politik in der Tat für ein viel zu einfaches Gesellschaftsbild halten. Aber daß das von jemandem kommt, der die Einteilung der Politik in „Freiheit oder Sozialismus" einmal betrieben hat,
({7}) erstaunt mich doch, Herr Kollege Dregger.
({8})
Deswegen würde ich gern den Versuch machen, in der Tat von solchen einfachen Gesellschaftsbildern wegzukommen. In meiner täglichen bildungspolitischen Praxis haben sich solche einfachen Gesellschaftsbilder nirgends bestätigt, und sie bestätigen sich auch heute nicht.
Ein Grundargument zieht sich durch Ihre Rede und auch durch die meisten anderen kritischen Äußerungen der Kollegen der Union. Es ist die Kritik: Ihr habt zu sehr eine intellektualistische Expansion in Richtung Hochschulen und Gymnasien betrieben und habt euch zu wenig um die berufliche Bildung, um die Weiterführung und Reform der beruflichen Bildung gekümmert.
({9})
Ich glaube, daß diese Kritik im Grundsatz etwas für sich hat. Es gibt ja keinen Zweifel daran - und dies kann man an diesem Pult aussprechen -, daß der Vorgänger von Herrn Schmude, der Kollege Rohde, in der Tat auch von einer Kurskorrektur zugunsten der beruflichen Bildung gesprochen hat. Und die war auch notwendig. Insofern bestreite ich diese Grundthese nicht.
Herr Kollege Dregger, da ich ja wußte, daß Sie heute hier sprechen, habe ich mir Ihr Landesprogramm angesehen. In diesem Landesprogramm der CDU aus Hessen finde ich folgende Formulierung:
Eine CDU-Landesregierung wird sich auf Bundesebene dafür einsetzen, daß ausbildungshemmende Bestimmungen ({10}) zurückgenommen werden und die betriebliche Ausbildung vor Bürokratisierung geschützt wird.
Herr Kollege Dregger, ich bin auch dafür, die berufliche Bildung vor Bürokratisierung zu schützen. Gleichzeitig aber sagt man, man hätte eine Kurskorrektur machen müssen, indem man die berufliche
Senator Dr. Glotz
Bildung stärker gefördert hätte. Dann hätte man aber auch mehr und bessere Ausbildungsordnungen herbeizwingen müssen.
({11})
- Dann hätte man sich praxisbezogen mit der Wirtschaft auseinandersetzen und die Wirtschaft auch dazu bringen müssen, ihre Ausbildungsordnungen in bestimmten Punkten zu reformieren. Das wäre die Aufgabe gewesen.
({12})
Wenn einer sagt, er sei für die Kurskorrektur zugunsten der beruflichen Bildung, und gleichzeitig sagt, er wolle den zweiten Berufsschultag sofort wieder streichen, dann ist dies Heuchelei, Herr Kollege Dregger, wenn ich dies so deutlich sagen darf.
({13})
Ich weiß nicht, ob Sie selbst dies vertreten. Ich bitte um Entschuldigung für den Begriff „Heuchelei". Möglicherweise sind Sie - und ich verstünde das dann - nicht voll hinter diesem Satz Ihres eigenen Programms; aber wenn Sie dahinter sind, können Sie nicht gleichzeitig die Kurskorrektur zugunsten der beruflichen Bildung fordern. Das ist doch der Punkt.
({14})
Leider sehe ich das häufig. Ich sage das nicht nur in der Auseinandersetzung mit Herrn Dr. Dregger, Hans Maier und viele andere sagen immer wieder: „Der Mensch fängt nicht beim Abitur an, und man muß die praxisbezogene Ausbildung fördern." Ich finde das alles richtig und erwägenswert. Logisch wird dies aber erst, wenn man dann gleichzeitig auch den Mut hat, sich für die Reform und die Verbesserung der beruflichen Bildung und der Berufsschulen einzusetzen und auch Interessenkonflikte beispielsweise mit den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern und der Wirtschaft auf sich zu nehmen. Den Mut zu diesen Interessenkonflikten sehe ich bei der Union nicht, Herr Kollege Rühe. Das ist der Punkt.
({15})
Damit bin ich bei der These, die auch schon Frau Schuchardt aufgenommen hat. Sie haben den Begriff „Verdrängungswettbewerb" gebraucht, Herr Dregger. Ich bin der festen Überzeugung, daß es in der Tat Befürworter der Bildungsreform gibt, die sich an einer harten Tatsache zumindest zeitweise vorbeigemogelt haben, daß es nämlich, wenn man mehr Leuten die Chance gibt - ich nehme einmal das eine Beispiel -, Abitur zu machen oder vergleichbare Abschlüsse, in der Tat um die besten Arbeitsplätze in unserer Gesellschaft mehr Konkurrenz und mehr Auseinandersetzung geben wird. Konkurrenz bedeutet natürlich auch Streß, und Konkurrenz bedeutet auch Förderung von Verhaltensweisen und Erzwingung von Verhaltensweisen, die problematisch sein können.
Ich glaube, man muß sehen, ,daß es ganz unmöglich gewesen wäre, damit, daß wir die Bildungspyramide verändert haben, daß wir mehr Menschen die Chance gegeben haben, mehr zu lernen, automatisch und im gleichen Zug auch die Arbeitswelt, das System der Arbeitswelt, die Pyramide der Arbeitsplätze völlig und sofort zu verändern, sondern daß dies nur in Einwirkung eines Systems auf das andere möglich ist und daß dies nur im Konflikt beider Systeme möglich sein konnte.
Nur weil dies so ist, glaube ich, ist auch die Diagnose von Frau Schuchardt richtig, Herr Dregger, daß ein Teil des Unwillens gegen die Bildungsreform auch von denen kommt, deren Kinder es sozusagen immer geschafft hätten und die plötzlich merken, daß durch die Bildungsreform ihre Kinder, die selbstverständlich immer in die Hochschule, ins Gymnasium gekommen wären, Konkurrenten bekommen haben. Durch die Konkurrenz ist der Streß vergrößert worden, und es findet also auch Konkurrenz um Arbeitsplätze statt.
({16}) Dies ist eine Tatsache.
({17})
Ich möchte ganz klar sagen, weil Sie vorhin in Zwischenrufen immer wieder das Volksbegehren Koop-Schule in Nordrhein-Westfalen und die Rahmenrichtlinien in Hessen angesprochen haben - Sie haben ,das selbst getan -, auch wenn ich dabei Kritik des einen oder anderen Kollegen, meiner eigenen Freunde, finde: Ich glaube, daß auch Sozialdemokraten bei diesen Planungsprozessen Fehler gemacht haben. Ich glaube, die Planungsprozesse waren notwendig; aber ich glaube auch, bei der Durchführung sind Fehler gemacht worden, und ich kann keineswegs alles verteidigen.
Ein Teil des Erfolges, den Sie dabei gehabt haben, ist auch darauf zurückzuführen, daß es eben Leute gibt, die sagen: Nun ist aber Schluß damit, wir wollen nicht noch mehr Konkurrenz für unsere eigenen Kinder. Diese Art von Aufwallungen, die Sie damit auch erzielen, kritisiere ich, und dagegen bin ich überaus kritisch, meine Damen und Herren. Das ist der Punkt.
({18})
Ich tue damit keineswegs alles ab. Aber daran, daß es dies auch gibt, Herr Kollege Pfeifer, kann für mich kein Zweifel bestehen.
({19})
Was könnten wir denn in der jetzigen Situation tun? Wir wissen natürlich, daß die Entwicklung von Kindern, die jetzt, sagen wir mal, in der Oberstufe des Gymnasiums sind, so weit gefördert ist, daß ihre Bildungslaufbahn etwa in Richtung berufliche Bildung nicht mehr korrigiert werden kann. Wir wissen auch, daß wir Anfang der 80er Jahre vor dem Berg von Problemen, von dem Herr Dregger hier gesprochen hat, stehen werden. Das heißt also, daß jetzt eine Korrektur sozusagen bei den ganz Kleinen das Problem, vor dem wir Anfang der 80er Jahre stehen werden, nicht lösen wird. Wir müssen uns also der
Senator Dr. Glotz
Frage stellen - ich will das gleich tun; das ist nämlich eine Frage an die Arbeitsmarktpolitik und damit auch eine Frage an die Bundesregierung -: Wie wollen wir uns der Entwicklung, die gefördert worden ist - ich sage es noch einmal: die gefördert worden ist von Ländern unterschiedlicher Couleur - stellen, und wo sind die Lösungsansätze?
Gegen einen Lösungsansatz möchte ich mich allerdings wehren, und das ist der Lösungsansatz - er wird nicht in allen Ländern, aber in dem einen oder anderen Land heutzutage wieder ausprobiert -, sozusagen unten wieder zuzudrehen - Frau Schuchardt hat das, glaube ich, auch angesprochen -, d. h., beim Zugang der Zehnjährigen zu den weiterführenden Schulen durch gewisse Hürden, durch zusätzliche Prüfungen den Hahn einfach zuzumachen, um auf diese Weise zu verhindern, daß mehr Leute in ein höheres Bildungssystem kommen. Das - und dies ist jetzt keine Auseinandersetzung mit Ihnen, Herr Dregger, denn Sie haben das nicht angesprochen - halte ich nun. in der Tat für die schlimmste Politik. Denn, meine Damen und Herren, eines müssen wir doch sehen: Wenn wir bei den Zehnjährigen auswählen, dann wählen wir nicht aus zwischen Leistung und Nichtleistung, sondern zunächst einmal zwischen der Hilfsfähigkeit und Hilfsbereitschaft der Familie, in der das zehnjährige Kind großgeworden ist.
({20})
Gegen eine solche Politik müssen wir uns wehren.
Ich bin für Konkurrenz. Konkurrenz ist in unserer Gesellschaft unvermeidlich. Aber ich bin für die Konkurrenz zwischen gut ausgebildeten Erwachsenen und nicht für die Konkurrenz zwischen zehnjährigen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten.
({21})
Hier muß man die grundsätzlichen Unterschiede sehen, und ich differenziere dabei sehr genau. Diese meine Aussage richtet sich beispielsweise gegen konkrete politische Tatbestände in Bayern und Baden-Württemberg, nicht aber in gleicher Weise gegen andere Bundesländer.
Nun komme ich zu der Grundfrage, die Herr Dregger und viele andere auch aufgeworfen haben, nämlich: Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? Zuerst darf ich richtigstellend sagen, Herr Kollege Dregger: Niemand hat davon gesprochen, daß Bildungssystem und Beschäftigungssystem in der Weise voneinander abgekoppelt werden sollen, daß wir uns nicht mehr um die Frage zu kümmern haben, ob denn die Architekten oder die Grundschullehrer, die wir ausbilden, auch auf dem Arbeitsmarkt unterkommen. Was man voneinander abkoppeln muß, sind das Berechtigungssystem und das Bildungssystem. Ich meine in der Tat, daß man, wenn man jemanden einstellt, nicht nur auf die formale Berechtigung, auf das Zeugnis, schauen darf, sondern daß man darüber hinaus überlegen muß, ob er qualifiziert ist, und daß darüber nicht nur das Zeugnis, nicht nur der formale Bescheid, etwas aussagt.
({22})
Man sollte also Berechtigungssystem und Bildungssystem, aber nicht Arbeitsmarkt und Bildungssystem voneinander abkoppeln.
Nur - hier möchte ich die Bemerkungen von Herrn Schmude und auch von Frau Schuchardt nicht mehr wiederholen, sondern lediglich unterstützen -, viele haben wirklich Illusionen über die Planbarkeit und Steuerbarkeit solcher Prozesse.
({23})
Wenn Sie sich unser Bildungssystem ansehen, wenn Sie sich - entschuldigen Sie, Herr Bundesminister Schmude - die geringen Kompetenzen Ihres Hauses ansehen, die ich ja selbst über Jahre erlebt habe, wenn Sie sich das komplizierte System unseres Bildungsföderalismus ansehen und wenn Sie sich schließlich ansehen, daß sich die Bildungspolitik einen Bruch heben würde, wollte sie auch noch die Arbeitsmarktprobleme lösen - dies kann sie nicht gleichzeitig tun -, dann müssen Sie zugeben, daß der Glaube, wir hätten dies alles irgendwie steuern können, gerade wenn sich Konservative dazu bekennen, die eigentlich nicht so sehr für die Planbarkeit der Gesellschaft sind, in der Tat ein Fragezeichen verursacht.
({24})
Dieses Fragezeichen haben, glaube ich, Herr Schmude und Frau Schuchardt hinter den einen oder anderen Teil ihrer Ausführungen gesetzt.
({25})
- Sie haben Vorgaben gesetzt. Und auch ich, Herr Kollege, bin gegenüber manchen Prognosen der Bildungsberichte - nicht nur der Bildungsberichte, sondern auch der öffentlichen Hände, gleichgültig, von wem sie regiert werden - sehr, sehr skeptisch. Das, was ich als Praktiker inzwischen das Schlimmste finde, sind diese lustvollen Prognosen für das Jahr 1985 oder 1986.
({26})
in denen dann prognostiziert wird, wieviel Hunderttausende oder zig-Tausende arbeitslose Lehrer herumlaufen, obwohl die Wirklichkeit des Jahres 1985 von keinem Menschen im einzelnen vorausgesagt werden kann.
({27})
- Herr Kollege, dieser Äußerung des Kollegen Wehner ist überhaupt nichts hinzuzufügen. - Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat oft genug Probleme mit Prognosen, wie sie beispielsweise von Arbeitsmarktpolitikern in die Welt gesetzt werden. Ich nenne als Beispiel die immer wiederkehrende Prognose von Verwaltungen aller Couleur, daß der öffentliche Dienst, der bisher 60 % aller Akademiker oder Hochschulabsolventen aufgenommen hat, künftig nur noch 15 % aufnehmen
Senator Dr. Glotz
wird. Ganz abgesehen davon, daß ich jedem öffentlichen Dienst prophezeie, daß er dies politisch nicht durchhält, halte ich die Basis dieser Prognosen in vielen Fällen für unsinnig. Das Verängstigen von Menschen mit solchen Prognosen durch Bürokraten - gleichgültig, ob die Bürokraten rot, schwarz, gelb oder sonst was sind - halte ich für verheerend.
({28})
Ich stimme Herrn Kollegen Dregger zu, daß wir an konkreten Punkten warnen müssen, daß wir sagen müssen: Wenn ihr jetzt Architektur studiert, wird es sehr kompliziert, wenn ihr jetzt Grundschullehrer werden wollt, müßt ihr wissen, daß ihr eine Laufbahn einschlagt, in der die Berufschancen gering sind. Aber, bitte, lassen Sie uns dafür sorgen, daß diese Art von Warnung nicht zu einer großen Antibildungspropaganda entartet.
({29})
Das ist nämlich an manchen. Punkten festzustellen.
Natürlich soll man den Hochschulabsolventen sagen - ich glaube, der Bundeskanzler hat dies in seiner letzten Regierungserklärung getan -: Nicht jeder, der die Große Juristische Staatsprüfung gemacht hat, kann automatisch erwarten, mit der Gruppe A 13 in den öffentlichen Dienst eingestellt zu werden. Dies muß man so sagen.
({30})
- Herr Kollege, als jemand, der zehn Jahre an einer Hochschule gearbeitet hat, sage ich Ihnen dazu: Es gibt sogar schon Leute, die an den Universitäten gar nicht mehr Jura studieren, sondern die gleich A 13 studieren. Das muß auch nicht unbedingt sein.
({31})
Aber wir müssen dann eben auch die andere Seite der Medaille sehen und nach außen darstellen. Ich fasse das in einem Satz zusammen: Es gibt heute schon viele Maschinenschlosser, die sagen: Warum soll mein Sohn eigentlich nicht Rechtsanwalt werden? Wir alle finden das wahrscheinlich völlig in Ordnung. Gerecht wird es in unserer Gesellschaft aber erst dann zugehen, wenn umgekehrt auch der Rechtsanwalt sagt: Warum soll mein Sohn eigentlich nicht Maschinenschlosser werden?, ohne daß er glaubt, daß die Welt untergeht.
({32})
Ich mache damit keine Art von klassenkämpferischen Tönen, sondern ich sage nur: Dies muß man zusammen sehen; man darf die Warnungen eben nicht nur einseitig zu einer Antibildungspropaganda verdichten.
({33})
Frau Schuchardt hat betont - ich möchte das ausdrücklich aufnehmen -, daß die Rede des Kollegen Dregger zumindest im Punkt Gesamtschule - vielleicht nicht für die Hessen, aber zumindest für mich
- in der Tat eine Novität bedeutet hat. Es war keine generelle Absage an die Gesamtschulen, sondrn es war eine sehr viel vorsichtigere Wertung, als sie bisher stattgefunden hat.
({34})
- Herr Kollege Voigt, wie immer man das im einzelnen sieht, ich jedenfalls möchte diese Wertung des Kollegen Dregger begrüßen. Wenn das der Anfang vom Ende eines Glaubenskrieges um unsere Schulpolitik sein sollte, dann würde ich das begrüßen.
({35})
- Es gibt sicher Leute, die die Ergebnisse kennen, bevor sie sie geprüft haben. Dabei warne ich allerdings davor, das Instrumentarium von Modellversuchen zu überschätzen.
({36})
Ich habe das schon häufig gesagt. Man kann mit einem Modellversuch, Herr Kollege Dregger, zwar manche praktischen Dinge überprüfen. Aber das Wertsystem, das hinter dem dreigliedrigen Schulsystem auf der einen Seite und dem Gesamtschulsystem auf der anderen Seite steht, kann man nicht empirisch überprüfen, so wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment auf dem Experimentiertisch des Physikers etwas überprüft wird.
({37})
Aus diesem Grunde warne ,ich davor, zu glauben, daß unsere unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Auffassungen - daß sie .sehr unterschiedlich sind, beweisen wir heute sicher wieder durch unsere Reden, Herr Kollege Dregger - durch Experimente überprüft werden könnten. Dabei sollte man sich nicht übernehmen; das ist unmöglich, ganz sicher.
({38})
Wenn ich nun begrüße, daß Sie eine sehr viel differenziertere Position zu den Gesamtschulen einnehmen, als Sie das früher getan haben,
({39})
möchte ich Sie doch gleichzeitig ganz herzlich bitten, das ganze Thema Rahmenrichtlinien dann auch sozusagen in einer gewissen Tendenzwende etwas objektiver zu analysieren. Schauen Sie, ich habe hier vom 19. Mai 1978 Unterlagen, in denen etwa zu den Rahmenrichtlinien Deutsch gesagt wird: „Der Deutsche Lehrerverband Hessen" - der nun sicherlich nicht identisch ist mit dem Landesverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - „betont in seiner Stellungnahme die didaktische und .methodische Ausgewogenheit der Richtlinien." Die GEW stellt fest, daß hier wissenschaftlich gearbeitet wurde mit engstem Bezug zur Praxis unserer Schulwirklichkeit. Der Vertreter der katholischen Kirche äußerte in diesem Beirat die Auffassung, daß die Lehrpläne von Kennern der Praxis geschrieben wurden, eine gute Hilfe für den Lehrer darstellen. Weiter erDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode
Senator Dr. Glotz
klärte der Vertreter des bischöflichen Kommissariats, der Lehrplan sei wissenschaftlich fundiert.
Wenn das so ist, sollten Sie die Reden aus dem vorigen Landtagswahlkampf nicht einfach in den jetzigen transplantieren, sondern neue halten, Herr Kollege.
({40})
Das aber muß uns ja nicht beschäftigen, weil wir hier keinen hessischen Landtagswahlkampf führen.
({41})
- Auch nicht Berliner. Aber das Ergebnis des hessischen wird von uns in Berlin mit großem Interesse zur Kenntnis genommen werden. In jedem Fall, Herr Kollege.
({42})
Ich möchte auf ein sehr ernstes Problem zu sprechen kommen. Sie haben einige Passagen aus einer Forschungsarbeit zitiert, die angeblich die Bundesregierung und auch die hessische Landesregierung, wenn ich Sie richtig verstanden habe - gemeinsam oder eine von beiden - finanziell gefördert haben. Ich möchte dazu einfach sagen: Ich kann nicht beurteilen, ob Sie das aus dem Zusammenhang gerissen oder vollständig zitiert haben. Das kann man nachprüfen; die Gelegenheit geben Sie uns ja. Wenn das die Tendenz der Gesamtarbeit ist, die Sie hier vorgestellt haben, ist das jedenfalls nicht die Auffassung sozialdemokratischer Bildungspolitik, die Sie vorgeführt haben.
({43})
Wenn man Forschungsaufträge vergibt - das wissen Sie als früherer Oberbürgermeister genauso wie jeder, der irgendwann ein Staatsamt hatte -, sind das Ergebnis, die Formulierung und bestimmte Passagen der Formulierung eines Forschungsauftrages im Exposé, in dem das Geld angefordert wird, nicht immer hundertprozentig erkennbar. Deswegen rate ich, sich auch den genauen Kontext zu beschaffen, bevor man Herrn Krollmann oder Herrn Schmude wegen dieser Zitate verdammt.
({44})
- Das gebe ich zu. Und zu dem Reiz der Entdekkung, Herr Kollege Wehner, möchte ich gleich etwas sagen. Ich teile zwar nicht die Meinungen, auch nicht die Formulierungen und das Gesellschaftsbild, das da zum Ausdruck kommt, aber für eines trete ich ein - wenn ich von vornherein weiß, daß das dabei herauskommt, würde ich das natürlich nicht finanzieren; das sage ich auch deutsch -: daß solche Äußerungen in unserer Gesellschaftsordnung auch gemacht werden dürfen. Das ist völlig eindeutig.
({45})
Ich wehre mich dagegen, daß wir inzwischen dabei
sind, die politische Kultur in unserer Bundesrepublik zu einer Zitatiererei, zu einer Zitatkultur zu verändern.
({46})
- Herr Kollege Dregger, lassen Sie mich das ganz ernst sagen: Das ist keine Kritik, die ausschließlich in eine Richtung geht.
Als Sie das sagten, habe ich ein Buch aufgeschlagen, von dem ich wußte, daß in ihm ein bestimmter Satz steht. Dieser Satz stammt von Georg Lukács, dem ungarischen marxistischen Literaturwissenschaftler
({47})
- nein, warten Sie doch einmal ab -,
({48})
von dem wir differenzierte Analysen über Thomas Mann, Fontane, deutsche Realisten haben. Georg Lukács hat in seinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft" einmal folgendes geschrieben
({49})
- Zitat -:
Unsere Aufgabe ist es,
({50})
- Herr Kollege, ich versuche jetzt, etwas Ernsthaftes zu sagen; versuchen Sie doch einmal, Ihre Albernheiten einen Moment ein bißchen zurückzuhalten; wir sind hier doch nicht auf der Schulbank.
({51})
Ich darf Sie trotzdem bitten, sich etwas vornehmer auszudrücken.
Senator Dr. Glotz ({0}) : Ich bitte um Entschuldigung, Frau Präsidentin. Wenn ich mit Ihrer Genehmigung nur einen Satz zitieren darf. Georg Lukács:
Unsere Aufgabe ist es, alle gedanklichen Vorarbeiten zur nationalsozialistischen Weltanschauung zu entlarven, mögen sie scheinbar noch so weit vom Hitlerismus abliegen, mögen sie subjektiv noch sowenig derartige Intentionen haben.
Eine der Grundthesen dieses Buches
- so steht es in der Einleitung von Lukács - ist: Es gibt keine unschuldige Weltanschauung. ({1})
Mit dieser Art von These hat auch die politische Linke in diesem Land gegen die Konservativen gekämpft, sind beispielsweise häufig und immer wieder Männer wie Benn oder Jünger und andere, deren Gesellschaftsbilder ich bei Gott nicht teile, zu Vorreitern des Nationalsozialismus gemacht worden. Heute finde ich immer wieder solche Zitate und solche Denkschriften, in denen Linke mit der gleichen geistigen Methode zu Vorläufern des Terrorismus und der Verbrechen, die hier in diesem Lande häufig begangen werden, gemacht werden.
Senator Dr. Glotz
Ein klassisches Beispiel dafür ist dieser Fehlschlag, diese Fehlleistung von Herrn Geissler mit seiner entsprechenden Dokumentation.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn wir so miteinander umgehen, d. h., wenn wir ein Zitat, das uns nicht paßt - sei es nun aus dem Kontext gerissen oder nicht -, anführen und dabei von der Grundthese ausgehen, daß den Wörtern automatisch die Taten folgen, wenn wir diese Art von Politik machen und mit diesem geistigen Schema geistige Produkte gegenseitig bewerten, dann zerstören wir die politische Kultur dieses Landes. Das dürfen wir nicht tun, meine Damen und Herren!
({3})
Ich erhebe diese Kritik mit allem Nachdruck, weil ich mich beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft bedanken möchte, daß er am Schluß seiner Rede auf die Anwürfe gegen die deutschen Hochschulen eingegangen ist.
({4})
Ich bin verantwortlich für mehrere solcher Hochschulen. Ich sage Ihnen: Wenn wir so damit umgehen, machen wir etwas kaputt, was in diesem Bundestag seit 1949 aufgebaut worden ist. Das wäre schrecklich, meine Damen und Herren.
({5})
Das wäre auch für jemanden schrecklich, der einer Generation angehört, die sehr viel später gekommen ist.
Ich möchte am Schluß noch zwei Dinge erwähnen. Herr Kollege Dregger, Sie haben den Strukturbericht der Bundesregierung - ich komme jetzt zur Bildungspolitik zurück - als Ablenkungsmanöver bezeichnet. Ich komme aus der bayerischen Sozialdemokratie. Ich bin Föderalist. Aber, Herr Kollege Dregger, ich habe als Landtagsabgeordneter, als Bundestagsabgeordneter, in diesem Ministerium, dessen Minister Herr Schmude jetzt ist, und jetzt in der Verantwortung in einem Bundesland eines erlebt: daß in vielen bildungspolitischen Entscheidungen nicht dieses Haus entscheidet, nicht der Bayerische Landtag oder sonst jemand, sondern daß von einem Jet-set von guten oder schlechten Bürokraten entschieden wird, die sich in Zügen oder Flugzeugen von Kiel und München nach Bonn und zurück befinden. Dies ist furchtbar. Dies müssen wir abbauen!
({6})
Deswegen sage ich als Föderalist und als einer, der in einem Land Verantwortung trägt, das sich auch nicht die Schulpolitik wegnehmen lassen will, daß man dankbar sein muß dafür, daß der Bund mit seinem Strukturbericht hier einen Stein ins Wasser geworfen hat.
({7})
Ich kann dem Bund nur sagen: Er soll bei dieser
Diskussion bleiben und diese Diskussion zielgerichtet weiterführen, auch wenn ihm gesagt wird
„Das bringt doch nichts, du kriegst keine Mehrheiten für Verfassungsänderungen!".
Dies mag alles sein. Dazu brauchen wir genauso eine langfristige große Diskussion in unserem Land bei den Bürgern, mit den Bürgern. Ich sage Ihnen: Ich bin für den Föderalismus. Aber der Föderalismus geht vor die Hunde, wenn er so bleibt, wie er jetzt ist. Wir brauchen eine Reform des Föderalismus.
({8})
Mein Schlußwort richtet sich an die Bundesregierung, Herr Bundesminister. Jetzt nehme ich nur ein Beispiel heraus. Wenn wir beispielsweise über die Arbeitslosigkeit diskutieren, dürfen wir nicht nur über die Akademikerarbeitslosigkeit diskutieren, sondern wir müssen es als ein komplexes System sehen. Wir müssen wissen, daß unser Problem darin liegt, daß wir jemandem, wenn wir ihm sagen „Studiere bitte nicht", keinen guten Ratschlag geben, denn dann nimmt er sich einen Ausbildungsplatz. Wenn er das Abitur hat, bekommt er wahrscheinlich einen guten Ausbildungsplatz im Elektrogewerbe oder im Metallgewerbe. Aber er verdrängt damit - das ist doch der Punkt - zwar nicht im Berufssystem, aber im Ausbildungssystem, auf einem schmalen, engen Ausbildungsmarkt den Realschüler, und der Realschüler verdrängt jemanden mit einem qualifizierten Hauptschulabschluß, und dieser verdrängt jemanden ohne Abschluß, und den Letzten beißen die Hunde.
Das ist doch eine Politik, die wir nicht machen dürfen, meine Damen und Herren. Sie wäre doch ganz falsch.
({9})
Ich greife jetzt das Problem der Akademikerarbeitslosigkeit heraus, von der Herr Dregger gesprochen hat. Das betrifft bis Mitte der 80er Jahre, wie Carlo Alex ausgerechnet hat, 500 000 oder 600 000 ausgebildete Menschen, Hochschulabsolventen, die über den Ersatzbedarf hinaus beschäftigt werden müssen.
Dazu möchte ich zweierlei sagen. Wir sind wirtschaftlich eine der stärksten Gesellschaften auf dieser Welt. Wir betonen das auch immer in Wahlkämpfen und sonstwo. Wenn das so ist, müssen wir doch in jedem Fall alle Anstrengungen unternehmen, um diese 500 000 bis 600 000 Menschen, die allerdings nur ein Teilproblem sind, jetzt, da starke Jahrgänge da sind, zu versorgen, damit später beispielsweise auch unsere Renten verdient werden können. Dies ist das Grundprinzip. Ich glaube, daß das möglich sein muß. Wenn es so nicht möglich ist, bin ich gerne bereit, den Vorschlägen von Frau Schuchardt zu folgen, die gesagt hat: Dann muß man etwas im öffentlichen Dienstrecht ändern. Dann bitte ich aber den Bund - nun wende ich mich weniger an den Bundesbildungsminister, sondern mehr an die Bundesregierung; ich sage das jetzt als Ländervertreter -, dazu auch die entsprechenden Vorschläge auf den Tisch des Hauses zu legen.
Ich habe jetzt - ich will es an einem kleinen Beispiel verdeutlichen - die BundeslaufbahnverordSenator Dr. Glotz
nung auf den Tisch bekommen. Mit ihr allein kann man nicht viel ändern, denn wir haben ein System, bestehend aus Bundeslaufbahnverordnung, Bundesbesoldungsgesetz, Beamtenrechtsrahmengesetz und vielem anderen. Ich bitte die Bundesregierung, wenn sie in der Tat - was ich aus finanzwirtschaftlichen Gründen verstehen würde - nicht zusätzliche Arbeitsplätze schaffen kann, jedenfalls für einen Teil dieser jungen Leute, diese Struktureingriffe dann rechtzeitig vorzunehmen. Denn die Angst davor, in einer pädagogischen Hochschule zu stecken, aber nicht zu wissen, was hinterher wird, die Resignation, die daraus folgt, auch die Verzweiflung, und, Herr Dregger, dann auch oft die dummen Sprüche und schlimmen Flugblätter, die daraus entstehen, kann man in der Tat Tag für Tag beobachten.
Ich kann auch heute schon voraussehen, wie das Klima an der Pädagogischen Hochschule in Berlin schlimmer und irrationaler als an anderen Hochschulen wird, weil die Berufsperspektiven dort entsprechend problematischer sind. Das heißt also: Unser ganzes geistiges Klima an den Universitäten hat einen direkten Bezug dazu. Wir müssen jetzt - das sage ich in allen Richtungen - damit aufhören, vor die Leute hinzutreten - auch ich kann zur Zeit nichts anderes tun - und ihnen zu sagen: Ihr könnt nicht nur A 13 beanspruchen. Sie wären sicher auch mit A 11 einverstanden, aber wir müssen ihnen dann auch die Chance geben, wenigstens nach A 11 zu kommen. Dazu sind Vorkehrungen notwendig, meine Damen und Herren.
({10})
Um solche Vorkehrungen bitte ich die Bundesregierung in meiner Eigenschaft als Ländervertreter.
Ich möchte zum Schluß dies sagen: Das einfache Zurückdrehen der Bildungsreform ist nicht möglich. Das hat auch keiner so gefordert, obwohl manchmal die Wahlreden so klingen. Sind wir in einer Krise des Bildungssystems? Herr Kollege Dregger, ich möchte diese Ihre Charakterisierung nicht vollständig ablehnen. Ich glaube, ich sehe bei den Hochschulanfängern vier Jahre Stagnation, nämlich jeweils 160 000 Hochschulanfänger. In diesem Semester sind sogar Rückgänge zu verzeichnen. Wir haben schon eine Abschreckungsdiskussion geführt, die viele junge Leute davon abhält, auf die Hochschulen zu gehen. Meine Damen und Herren, das Problem liegt aber darin: Abgeschreckt wird normalerweise nicht der Sohn aus der Oberschicht, sondern am ehesten der Sohn aus der Arbeiterfamilie. Das ist die Situation.
({11})
- Dies will ich nicht unterstellen, Herr Conradi. Wir befinden uns sicherlich in einer Krise. Allerdings meine ich im Unterschied zu dem von irgend jemandem vorhin geschmähten Hartmut von Hentig, den ich für einen guten Bildungsreformer halte, wir sollten keine neue Bildungsreform anfangen oder propagieren. Ich meine, wir müssen die erste Bildungsreform, die wir angefangen haben, durchstehen.
Meine Damen und Herren, die erste Phase war eine Art Animationsphase. Bildungswerbung und all das war notwendig. Jetzt sind wir in der Aufdröselungsphase. Jetzt müssen wir die sozialen Folgen, die Konsequenzen dessen, was wir in den 70er Jahren gemeinsam getan haben, bewältigen. Lassen Sie uns dieses tun. Mein letzter Satz, meine Damen und Herren, lautet: Die Bildungsreformer haben keinen Grund, den Mut zu verlieren, wenn sie nicht die Nerven verlieren.
({12})
Daß sie die Nerven nicht verlieren, dazu möge diese Debatte etwas beitragen, nicht zur Vergrößerung der Angst draußen, sondern zu einer Verstärkung der Zuversicht in diese Gesellschaft.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rose.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich möchte ich einige Äußerungen zu den eben gemachten Bemerkungen meiner Vorredner machen. Aber vielleicht sollte ich zunächst noch einmal auf die Antwort auf die Große Anfrage der Regierungskoalition eingehen.
Man hat immer ein fades Gefühl, wenn regierungstragende Fraktionen Große Anfragen an ihre eigene Regierung stellen. Was könnte schon dahinterstecken als die Errichtung einer Heldenbühne, auf der die eigenen farblosen Gestalten zu erfolgreichen Machern umgeschminkt werden? Genau diese Absicht, meine Damen und Herren, riecht man bei der vorliegenden sogenannten Großen Anfrage. Groß ist sie nicht als Anfrage, groß ist sie auch nicht als Antwort, es sei denn, man mißt Größe mit dem Meterstab. Außer einer bloßen Ansammlung von Statistiken und Tabellen in langatmiger Form bringt sie keine echte Aussage zu den brennenden bildungspolitischen Fragen unseres Landes.
({0})
Aber sie ist natürlich die Chance für den neuen Bildungsminister, alte Gassenhauer in geflicktem Gewande wieder unter die Leute zu bringen. Ob ihm das heute gelungen ist, erscheint mir ebenso zweifelhaft wie bei seinem Vorgänger. Zu dieser seiner Vorstellung - ich sage das auch, obwohl er Geburtstag hat - hätte die Bundesregierung nicht in Südafrika „herumschmuden" müssen, um wieder einen Minister zu entdecken. Das hätte sie billiger haben können, allerdings nicht in ihren eigenen Reihen.
({1})
- Herr Kollege Wehner, ich kenne Ihr Niveau sowieso. Dem möchte ich mich nicht anpassen.
Meine Damen und Herren, die Antwort auf die sogenannte Große Anfrage bringt überhaupt keine Lösung für die Probleme der jungen Generation. Im Gegenteil. Sie verschleiert und beschönigt in un7616
verantwortlicher Weise. Was ist denn ihr Kerngehalt? Sie ist erstens ein Jubelbericht der Bundesregierung. Doch das Halleluja der Regierung erklingt über Erfolge, die die Länder errungen haben. Die Bundesregierung schmückt sich mit fremden Federn und glaubt immer noch, daß sie die Weichen für stolze Berichte gestellt habe. Dabei hat sie zwar nach Schmuckfedern gesucht, zuvor aber andere blankgerupft und durch ihren überzogenen Reformeifer vom sicheren Pfad abgebracht.
Zweitens klammert die Antwort die negative Entwicklung der Bildungspolitik völlig aus. Ich hätte erwartet, daß nicht bloß über die Ausweitung der Studentenzahlen gejubelt wird, sondern auch etwas über die kraß schwindenden Aussichten von Absolventen der Universitäten, zum Beispiel und besonders in Bremen, gesagt wird. Ich hätte ein Wort über die schrumpfende Ausstrahlung deutscher Professoren an gewissen deutschen Universitäten erwartet. Die Neckermann-Professoren in Marburg und Gießen sind ja schon sprichwörtlich. Die kulturpolitische Landschaft Berlins, sehr verehrter Herr Senator, hat sich dramatisch verschlechtert. Hilferufe werden laut, weil das Niveau auf Provinzstandard abgesunken ist. Wir waren in Berlin und haben das gehört. Ich hätte außerdem erwartet, daß auch inhaltlich von der Konflikttheorie Abstand genommen wird, wie sie mein Kollege Alfred Dregger für Hessen leider wieder anprangern mußte, weil munter „draufloskonfliktet" wird.
Meine Damen und Herren, ich muß drittens feststellen, daß der Elternwille weiterhin in eiskalter Weise verhöhnt wird, wenn ungeachtet des Volksbegehrens in Nordrhein-Westfalen die Gesamtschule weiterhin Lieblingsidee und höchstes Ziel bleibt.
({2})
Hier zeigt sich viertens, daß die Bundesregierung die Bildung und Ausbildung weiterhin ideologisch betrachtet und Quantität vor Qualität stellt.
Fünftens. In der gesamten Antwort ist kein Ansatz einer vernünftigen Schlußfolgerung zur Verbesserung der Lage der Jugend in Ausbildung und Studium zu erkennen. Die sattsam bekannten negativen Auswirkungen der Bildungspolitik des letzten Jahrzehnts scheinen in selbstzerstörerischer Weise völlig übersehen worden zu sein. Offensichtlich will man auf demselben Weg weitermachen, der bisher schon so verhängnisvoll war: immer mehr Verschuldung, immer mehr Vermassung, immer weniger herausragende Leistung; zwar Demokratisierung auf allen Ebenen, dafür aber Niveauverlust und zurückgehende Attraktivität des deutschen Bildungswesens, immer stärkere staatliche Eingriffe in die Ausbildung, obwohl die deutsche Wirtschaft - besonders die mittelständische - auch ohne staatliche Besserwisserei für ihre Leistungen in aller Welt anerkannt ist, und immer neue Verordnungen, die angeblich zum Nutzen der Jugend waren, ihr in Wirklichkeit aber nur die Chance auf einen Ausbildungsplatz genommen haben.
Im dem Bereich, in dem die Bundesregierung Zuständigkeiten hat und über den ich Erfolgsmeldungen erhofft hätte, nämlich im Bereich der beruflichen
Bildung in den Betrieben, ist mit Sicherheit nichts besser geworden. Aber es soll ja Leute geben, die sich schon darüber freuen, daß der Lehrling abgeschafft ist und der Auszubildende neuen Höhen entgegenstrebt: „Azubi" als neuer Titel, vielleicht bald als akademisches Diplom,
({3})
unterschrieben von „DoRoSchmu", Dohnanyi, Rohde, Schmude. Hauptsache, es klingt gut. Hauptsache, es wird akademisch. Wie hatte der große sozialistische Vorsitzende einmal gemeint: „Nur Schlosser ist zuwenig." Ich nehme an, meine Damen und Herren, er wäre zufrieden, wenn seine Hausreparaturen von einem Diplomschlosser durchgeführt würden.
Lassen Sie mich jetzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, auf einige Passagen der Antwort der Regierung auf die Große Anfrage eingehen.
({4})
Sehr viele Sätze sind zwar nebulös und schwer verständlich, aber jeder merkt, daß sie vom Reformeifer getragen, ich könnte auch sagen: von ideologisierender Veränderungswut getragen sind.
Schon in der Einleitung steht so ein Nebelwerfer. Da heißt es, zitiert aus dem Bildungsbericht 70:
An die Stelle privilegierender Auslese soll Chancengleichheit durch individuelle Förderung treten.
({5})
Ich habe den Satz ein paarmal gelesen. Ich verstehe ihn nicht ganz. Da stehen zwar die typischen klassenkämpferischen Begriffe „privilegierende Auslese", „Chancengleichheit", „individuelle Förderung". Aber in einem Satz beisammen sind sie wie Feuer und Wasser. Denn individuelle Förderung bedeutet doch Formung des einzelnen und damit wieder Auslese, es sei denn, ich höre auf, weil ich merke, daß irgendeiner als besser herausragt.
({6})
Was hat man denn gegen Auslese? Gerade in diesen Tagen erleben wir, wie wichtig die richtige Auslese ist - es war heute ab und zu von Fußball die Rede -, um mit den Besten den Sieg zu erringen. In Argentinien wäre der soeben zitierte Satz höchstens geeignet, den letzten Platz zu belegen.
Also doch Auslese! Also doch stärkere Förderung der Ausgelesenen, um mit ihnen noch größere Taten zu vollbringen!
Auch in der Bildungspolitik kann man nicht auf Auslese verzichten - Auslese zwar nicht nach dem Stand oder dem Einkommen der Eltern, Auslese aber nach Begabung, Leistungsfähigkeit und Leistungswillen.
({7})
Das Abitur für alle war doch eine Wahnforderung, die zu Niveauabsenkung geführt hätte. Wir alle begrüßen, daß sich die soziale Zusammensetzung der Gymnasiasten und Hochschüler differenziert hat. Daß, wie in dem Bericht steht, 1966 10,3 % der Arbeiterkinder und 1975 18,2 % studierten, ist sicher erfreulich. Aber ich kann überhaupt nicht erkennen,
warum die Bundesregierung diese Erfolgsmeldungen bringt. Das sind doch eindeutig Leistungen der Länder, zum Beispiel und insbesondere des Freistaates Bayern.
Ich stamme aus einem Gebiet, das immer schon überdurchschnittlich viele Arbeiterkinder zu einer weiterführenden Schulausbildung brachte und nicht auf die Segnungen hoher Bonner Herren warten mußte. In meiner Heimat empfindet es die Bevölkerung aber immer noch als eine besondere Verpflichtung, wenn man die Chance hat, seiner Begabung gemäß besonders gefördert zu werden. Die Teilhabe an der Bildung wird dort nicht als privilegierende Auslese, sondern als Auftrag verstanden, etwas Besonderes zu leisten. Um dieses Besondere leisten zu können, will man Auslese. Wir brauchen sie, wenn unser Volk nicht im Mittelmaß verschwinden soll.
({8})
Die Pressemeldungen, daß in Chinas Bildungsleben wieder mehr auf Auslese geschaut wird, war es zwar nicht, die mich und einige Kollegen - auch aus anderen Fraktionen - in das Reich der Mitte treibt. Aber ich kann den Chinesen nur zustimmen, wenn sie meinen, daß wieder auf Eliten, auf Auslese geachtet werden muß. Ein Volk, das seine geistigen Reserven verkümmern läßt, hat keine Zukunft. Während bei uns diskutiert wird, ob man Examina und Prüfungen ganz wegfallen lassen soll, setzen die Chinesen wieder auf den Leistungstest. Die Prüfungen sollen bei ihnen nicht nur den Wissensstand der Schüler, sondern auch die Fähigkeit der Lehrer messen - nicht anders als in den Fabriken, wo ebenfalls die Qualität der Produkte überprüft werden muß.
({9})
Bei uns fordert man, daß alle Lehrer eine Stelle bekommen sollen. Anderswo verlangt man auch von den Lehrern den Leistungsnachweis. Wir von der CSU-Landesgruppe haben nichts dagegen, daß man nach langem Studium die Früchte genießen kann. Aber der Weg war falsch. Man darf nicht zu viele Abiturienten produzieren, die dann aus Numerusclausus-Gründen in das Lehrerstudium ausweichen. Man darf nicht zu viele Lehrer ausbilden, die dann alle übernommen werden sollen. Und man darf nicht in einen zusätzlichen Fehler verfallen und das zehnte Schuljahr einführen, um die unzähligen Lehrer unterzubringen.
Weil ich gerade das zehnte Schuljahr angeschnitten habe, sei bemerkt: Die Bundesregierung unterliegt schon wieder einem schlimmen Fehler, wenn sie meint, durch die stufenweise Einführung eines zehnten Bildungsjahres könne ein merklicher Beitrag zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit geleistet werden. Erstens ergibt sich da nur eine Zeitverschiebung um ein Jahr, und danach drängen doch alle, angeblich besser ausgebildet und mit größeren Chancen, auf den Arbeitsmarkt. Zweitens dauert die Einführung aus Kosten- und Organisationsgründen viel zu lang, um der derzeitigen Jugendarbeitslosigkeit abhelfen zu können. Allein in Bayern würden dafür 3 Milliarden DM gebraucht. Und drittens wird man doch hoffentlich die Jugendarbeitslosigkeit nicht als Dauerproblem ansehen, dem man
mit einem auf alle Zeit eingeführten zehnten Schuljahr zu Leibe rücken muß. Hier sollte man ehrlich sein. Das zehnte Schuljahr - ich sage bewußt nicht „Berufsbildungsjahr"; denn die Bundesregierung ist jetzt endgültig auf dem Kurs der Verschulung - wird angestrebt, weil man mit ideologischer Brille Bildungspolitik macht. Das zehnte Schuljahr ist nur der erste Schritt. Das elfte Schuljahr wird folgen. Wie hatte sich doch die FDP in Hamburg, deren Vertreterin jetzt wieder nicht im Saal ist,
({10})
kürzlich geäußert? Es sei ungerecht, daß Gymnasiasten 13 Jahre in die Schule gehen dürften, andere Jugendliche aber nicht. Mit derartigen Gedanken dreht sich alles bis zur Gesamtschule oder, besser gesagt, bis zur politechnischen Schule nach DDR-Muster.
Die Zerschlagung der beruflichen Ausbildung in den privaten Betrieben ist das eine Ziel, die Beeinflussung nach altbekannter Hessen-Manier das andere. Wer auf der Strecke bleibt, ist der Jugendliche, der praktisch veranlagte und allem Schulischen abholde Jugendliche, aber auch jener, der sich mühsam durch die verlängerte Schule quält, große Erwartungen hat und am Schluß doch vor leeren Tischen steht.
Aber es soll Leute geben, die einen Ausbildung in Theorie und in stupider schulischer Form für wünschenwert halten: Haareschneiden nicht am lebenden Objekt, sondern am Gummikopf, Wurstverarbeitung nicht durch den Metzgermeister, sondern durch Leberkäseingenieure.
Meine Damen und Herren, die CSU hält gar nichts von jenem Recht auf Bildung, das dazu führt, daß ein Mensch nur dann als wertvoll anerkannt wird, wenn er akademisch oder pseudoakademisch ausgebildet ist. Deshalb wollen wir, daß endlich mit dem Spuk immer weiterer Schuljahre Schluß gemacht wird. Die Öffnung der Realschulen und Gymnasien hat genug Möglichkeiten gebracht, um theoretischen oder wissenschaftlichen Neigungen nachgehen zu können. Jetzt müssen auch die Praktiker gefördert werden. Wir brauchen weiterhin Spitzenkräfte, die Facharbeiter oder Handwerksmeister sind. Unsere am Weltmarkt konkurrierende Wirtschaft braucht sie. Wir brauchen sie zur Aufrechterhaltung unseres hochtechnisierten Lebensstandards.
Mir ist es lieber, daß ein Elektriker meine Leitung richtig legt; meine Stromrechnung braucht er nicht zu verstehen. Das kann auch der Weltökonom Schmidt nicht. Meine Lampen werden sicher nicht brennen, wenn statt praktischer Elektrikerausbildung bis zum Exzeß politischer Unterricht betrieben wird. Höchstens ich werde vor Wut brennen, wenn ich im Dunkeln an die Wand stoße.
Aus der Sicht der CSU-Landesgruppe muß ich deshalb erklären, daß wir das von manchen schon fast für unvermeidbar gehaltene zehnte Bildungsjahr als falschen Ansatz ansehen.
({11})
Das mag auch denjenigen überraschen, der bisher
die Einführung eines obligatorischen Berufsgrund7618
bildungsjahres akzeptiert hätte und sich nur gegen ein weiteres Hauptschuljahr gewandt hat; denn die Vorzüge eines Berufsgrundbildungsjahres sind auf den ersten Blick durchaus einleuchtend. Auch die Bayerische Staatsregierung ist dem einen Schritt nähergekommen. Niemand hat etwas gegen mehr Bildung,
({12})
nur kann das Berufsgrundbildungsjahr die Strukturschwächen unserer Hauptschulen nicht ausgleichen. Weit über 100 000 Jungen und Mädchen verlassen in jedem Jahr die Schulen ohne Hauptschulabschluß.
({13})
Davon sind allein 40 000 Sonderschüler. Ein großer Teil von ihnen gilt als lernunwillig, verhaltensgestört, aggressiv und bleibt ohne Ausbildungsplatz. Ich glaube nicht, daß man diesen Jugendlichen mit der Pflicht, ein zusätzliches Schuljahr zu absolvieren, eine Freude macht. Ich fürchte auch, daß die Pflicht zur Anrechnung des Berufsgrundschuljahres als erstes Jahr der Berufsausbildung in vielen Fällen zur Verlängerung der Ausbildungszeiten oder zu einem Absinken des Ausbildungsstandards führt.
Die für lernschwache und praktisch begabte Jugendliche besonders geeigneten Ausbildungsberufe mit zweijähriger Ausbildungszeit lassen sich auf dieser Grundlage nicht aufrechterhalten. Außerdem wäre eine weitere Abkoppelung des Bildungssystems vom Beschäftigungssystem die Folge.
Das Berufsgrundbildungsjahr, das in ca. 90 % aller Fälle schulisch durchgeführt werden müßte, würde die Jugendlichen voll in die Modeberufe treiben, ohne daß sie nach dem Schuljahr Aussicht auf entsprechende Ausbildungsverhältnisse hätten.
({14})
Die Konsequenz wäre - und das erste Geschrei danach gibt es schon - die Verschulung auch des zweiten und des dritten Ausbildungsjahres.
({15})
Genau das scheint zwar das Ziel der sogenannten Reformer zu sein, wir sagen aber:- Wir merken die Absicht und sind verstimmt. Die duale Ausbildung bleibt für uns nach wie vor die richtige Vorbereitung für ein erfolgreiches Berufsleben. Wer in fremden Ländern herumkommt, der weiß, daß wir nicht so schlecht dran sind.
Es ist unvermeidlich, im Rahmen dieser Bildungsdebatte auch den Drang zur Gesamtschule anzuschneiden. Es treibt mir die Tränen in die Augen, wenn ich der Antwort der Bundesregierung entnehme, daß - ich zitiere - Schüler der Gesamtschule mit mehr Lern- und Arbeitsfreude in die Schule gehen als Schüler im dreigliedrigen System. Ich fühle mich völlig irritiert, wenn zu lesen ist, daß in der Gesamtschule Krisensituationen als Folge von Leistungsdruck oder Schulversagen vergleichsweise selten sind. Ganz offensichtlich ist es der SPD/FDP gelungen, den neuen Schüler zu entdecken, und ihre Wünschelrute wird bald auch bei der Suche nach dem neuen Menschen fündig. Wie kann ich als einfacher Oppositionsabgeordneter überhaupt noch
Zweifel haben, daß ich auf der falschen Seite stehe?
({16})
Meine Freunde und ich wollen natürlich auch fröhliche Gesichter. Nur glauben wir nicht an staatliche Erfolgsmeldungen und propagandistische Aufbereitung. SPD/FDP gehen von vornherein davon aus, daß die Gesamtschule besser ist. Dieser vorgefaßten Meinung wird alles untergeordnet. Da müssen sogar die Schüleraugen strahlen. Während wir in der CDU/CSU immer noch in der Erprobungsphase sind, glaubten SPD/FDP, die Gesamtschule bereits verordnen zu können. In Nordrhein-Westfalen haben die Eltern .sie gestoppt. Doch das ficht unsere Bildungsapostel bekanntermaßen nicht an.
({17})
Obwohl der Bundestag keine Kompetenzen hat, Gesamtschulen zu beschließen oder zu verhindern,
({18})
möchte ich unsere Position noch aufzeigen. Auch wir haben in den von uns regierten Bundesländern einige Gesamtschulen, die, bevor das bisherige gegliederte Schulwesen zerstört wird, den Beweis erbringen sollen, daß das neue System besser ist. Auch wir wollen jetzt komme ich zu diesen Schlagworten - mehr Durchlässigkeit zwischen ,den einzelnen Bildungsgängen, mehr Diversifikation des Bildungsangebots, mehr qualifizierte Abschlüsse auf allen Ebenen, mehr Chancengleichheit, was man darunter auch immer verstehen mag. Auch wir wollen mehr soziale Integration. Wenn die Struktur der Gesamtschule dieses Ergebnis bringt, werden wir uns sicher nicht gegen sie stellen. Aber wir wissen es noch nicht. Wir wissen jedoch folgendes: Die Schule als Gesamtschule muß größer sein. Die Schülerzahlen betragen zwischen 1 000 und 2 000. Die Wegstrecken sind länger.
({19})
Die Zahl der Lehrer ist - vielleicht nicht in der Großstadt, aber in meinem Gebiet - größer. Der Verwaltungsapparat ist bestimmt nicht unbeträchtlich.
({20})
Wir wissen noch nicht, ob die Schüler der Gesamtschulen mehr, weniger oder das gleiche wie im gegliederten Schulwesen lernen, ob der Kenntnis-
und Leistungsstand im Verhältnis zur gesteigerten Förderung der Gesamtschulversuche höher ist, ob die Zeugnisse von Gesamtschulen beim Berufseintritt auch Anerkennung finden. Wir dürfen nicht einen zweiten solchen Schiffbruch wie im Falle der Universität Bremen erleiden. Dafür sind uns die Jugendlichen zu schade.
({21})
Manche empfinden allein schon den Begriff „Gesamtschule" als Zauberwort. Sie meinen damit
Emanzipation, freien Unterrichtsstil, Verzicht auf Noten, Mitbestimmung, Wählbarkeit des Schulleiters, modernste Medienausstattung, modernste und selbstverständlich menschenfreundlichere Gebäude, Ganztagsschule und antiautoritäre Erziehung usw. Alle diese Träume sind weder an die Struktur der Gesamtschule gebunden noch durch die Struktur des gegliederten Schulwesens ausgeschlossen. Eine sehr modern eingerichtete und mit erfolgreichen Lehrern bestückte Hauptschule bringt bestimmt ebenso Erfolge.
Das bisherige Ergebnis - das ist genau der Gegensatz zu dem, was im Bericht der Bundesregierung steht - der bayerischen Gesamtschulen läßt nur den Schluß zu: Sie haben nicht den Beweis erbracht, daß sie besser sind. Deshalb können wir der generellen Einführung der Gesamtschule nicht zustimmen. Wir wissen aus der Antwort, daß sowieso nur die Klassenkampfschule eingeführt werden soll; das ist vielleicht eine Aufgabe für die nächste Zeit.
Ich komme zum Schluß. Wir von der CDU/CSU erwarten von der Bundesregierung, daß sie endlich den richtigen Weg in der öffentlichen bildungspolitischen Diskussion einschlägt und die richtigen Schritte in ihrem Zuständigkeitsbereich tut. Die vorliegende Antwort setzt zwar die Hoffnungssegel auf Halbmast, aber nachdem auch andere Regierungen, andere Staaten umgelernt haben und einige jüngere Kollegen der SPD und der FDP, wie vorhin erwähnt wurde, die Reise nach China vorhaben, habe ich die - sicherlich berechtigte - Hoffnung, ,daß man auch in der Bundesrepublik Deutschland wieder zur Vernunft kommen wird. Der Lohn ist, daß es uns allen die Jugend danken wird.
({22})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Weißkirchen.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bildungspolitik kann angemessen eigentlich nur verwirklicht, durchgesetzt und diskutiert werden mit dem notwendigen Maß an Kooperation, an Vernunft, an argumentativer Auseinandersetzung. Herr Dr. Rose, es tut mir leid, davon war nur sehr wenig in Ihren Ausführungen. Deswegen kann ich mich mit Ihrem Beitrag leider nicht auseinandersetzen.
({0})
Ich möchte aber die Gelegenheit wahrnehmen, Herr Dr. Rose, von meiner Seite aus einiges von dem darzustellen, was auch bei Ihnen angeklungen ist, und einiges von dem, was Herr Dr. Dregger in seinem Beitrag angesprochen hat, insbesondere im Blick auf die von ihm erwähnten Tugenden.
Unsere Demokratie - das sollte doch eigentlich unsere gemeinsame Auffassung sein - gründet in dem Erbe der Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als das Bürgertum damals gewaltsam die Ketten der absoluten Herrschaft sprengte. Damals gab es es eine sehr intensive Bildungsdebatte, in der der damalige Erziehungs- und Unterrichtsminister Condorcet in der Französischen Nationalversammlung 1772 Ausführungen machte. Ich darf, wenn Sie gestatten, Ihnen den entscheidenden Satz in dieser Debatte zur Kenntnis bringen. Condorcet sagte, daß es das erste Ziel eines Bildungswesens sei, unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die politische Gleichheit zu einer wirklichen Gleichheit zu machen.
Immanuel Kant hat das wenige Jahre später in seinem berühmten Satz aufgegriffen: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechts angemessen erzogen werden."
Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind seit der Zeit der Aufklärung die erzieherischen Ziele, nicht nur auf den einzelnen gerichtet, sondern mit ihm auf die Gesellschaft. Dies ist - das möchte ich betonen - übrigens auch das Ziel, dem wir Sozialdemokraten uns verpflichtet wissen, daß es nämlich ohne soziale Gerechtigkeit - und dies ist auch eine Forderung nach Bildungschancengleichheit - keine verantwortete Freiheit geben kann. Ohne die Gleichheit der Startlinien, meine sehr verehrte Damen und Herren von der Opposition, in den Bildungschancen setzen sich die Vorrechte angemaßter Freiheit durch, und die Kinder der Arbeiter haben dabei das Nachsehen. Das ist wohl auch ein Grund dafür, warum die Ihrer Partei angehörenden Kultusminister der Länder aus dem einmal beschlossenen bildungspolitischen Konsens ausgebrochen sind, wie wir am Montag bei der Bund-Länder-Kommission leider haben feststellen müssen. Viele von ihnen - ich sage nicht: alle, aber es gibt eine ganze Reihe - wollen zurück zu alten Ideologien und zu der alten Vorstellung von Gesellschaft, wo die Trennungslinien zwischen unten und oben scharf gezogen waren
Der ehemalige Kultusminister von Baden-Württemberg, Professor Hahn, lieferte in den letzten Monaten leider ein eindrucksvolles Beispiel für diesen bildungspolitischen Rückfall. In Baden-Württemberg wird nämlich das „Grundschulabitur" wieder eingeführt; hier wird der Kanal angesetzt, um zu sortieren, auszulesen und die Kinder zu gruppieren.
Sie sollten eigentlich nicht von der Forderung nach einem Grundkonsens reden, solange Sie und Ihre Kollegen in den Ländern eine gemeinsame Übereinkunft in der Bildungspolitik, wie sie ja 1973 beschlossen worden war, leider Tag für Tag zerstören. Sie sollten darauf achten, daß Sie bei Ihrer Abwehrstrategie gegen die Gleichheit - 'Herr Dr. Dregger hat das ja vorhin angesprochen - nicht hinter das zurückfallen, was der Auftrag der Demokratie und des Grundgesetzes und übrigens auch der geschichtliche Auftrag seit der Aufklärung ist, die wir alle, wenn wir der europäischen Tradition verpflichtet sind, durchzusetzen haben.
Dann z. B., wenn man den Vorgang betrachtet, daß der neue Kultusminister von Baden-Württemberg einen Erlaß verkündet hat, nach dem sich alle Lehrer ab sofort in den Gesamtlehrerkonferenzen mit den neuen Thesen „Mut zur Erziehung" zu be7620
Weißkirchen ({1})
fassen haben, kann einem, so glaube ich jedenfalls, angst und bange werden
({2})
vor diesem Rückfall in alte Ideologien. - Ich werde Ihnen das gleich an zwei dieser neun Thesen belegen.
({3})
Um es gleich vorweg zu sagen, Herr Pfeifer: Ich halte dieses Dokument, das Sie einmal genau lesen sollten, für ein erschreckendes Zeichen für den Zerfall des konservativen Wertebewußtseins.
({4})
Herr Pfeifer, in der 'Abwehr der Forderung nach Chancengleichheit, wie sie sich aus dem Grundgesetz ergibt, werden die Verfasser dieser pädagogischen Bankrotterklärung blind, auch und gerade gegenüber den Forderungen der europäischen Aufklärung, wie Sie sie z. B. Condorcet oder bei Immanuel Kant nachlesen können, nämlich gegenüber dem der Aufklärung innewohnenden Anspruch auf individuelle und gesellschaftliche Emanzipation.
Lassen Sie mich dies an der zweiten These des Kongresses „Mut zur Erziehung" erläutern. Diese These 2 heißt:
Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder lehren, glücklich zu werden, indem sie sie ermuntert, Glücksansprüche' zu stellen.
In Wahrheit hintertreibt die Schule damit das Glück der Kinder und neurotisiert sie. Denn Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen, sondern stellt im Tun des Rechten sich ein.
Ich frage Sie: Was eigentlich ist hier von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung noch übriggeblieben, in der es ja ausdrücklich heißt, „the pursuit of happiness" ist eines der Rechte der Menschen, das Streben nach Glück ist eines der konstitutiven Menschenrechte.
({5})
Das Streben nach Glück fällt also allmählich aus diesen unveräußerlichen Menschenrechten hinaus. Bleibt dann, so könnte man fragen, nur noch Verachtung übrig, nur noch Austrocknung des Menschen daraufhin, daß er systemgerecht - nämlich im „Tun des Rechten", was immer das auch sei - funktionieren müsse?
In der dritten These wird übrigens auch angegeben, was das Ziel der Schule sonst ist, wenn nicht die Förderung des Prozesses der Selbstentfaltung und damit die Förderung des Glücks unserer Kinder. Diese These heißt nämlich:
Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung seien pädagogisch obsolet geworden,
({6})
weil sie sich als politisch mißbrauchbar erwiesen haben.
In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umständen nötig. Denn ihre Nötigkeit ist nicht systemspezifisch, sondern human begründet.
Ich habe den Eindruck, daß den Verfassern bei dieser These eigentlich gar nicht so richtig wohl gewesen ist, denn konnte nicht in einer anderen, in einer schrecklichen, in einer mörderischen Zeit genau mit diesen Tugenden etwas anderes betrieben werden? Hat sich nicht eine Gesellschaft, ein Unrechtsstaat mit diesen Tugenden selbst stabilisieren können? Diese Frage, Herr Dr. Dregger, müssen Sie sich stellen, ob denn solche Tugenden nicht in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Zielen gebracht werden müssen, die ja schließlich der Demokratie vorgeordnet sind. Dazu haben Sie in dieser Debatte nicht ein einziges Wort gesagt.
Heinrich Mann, um auf dieses Beispiel einzugehen - Golo Mann hat ja mitformuliert -, würde sich wahrscheinlich schämen, daß einer seiner Nachfahren an diesen Thesen mitgearbeitet hat.
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Fast. alle deutschen Erziehungswissenschaftler - Sie werden das ja wohl nicht vergessen haben, Herr Pfeifer - haben diese Thesen auf ihrem letzten Kongreß Punkt für Punkt widerlegt. Sie haben geurteilt, daß diese Thesen „Mut machen zu einer Erziehungspraxis, wie sie unserer demokratischen Ordnung nicht mehr entspricht". Dies ist der Befund und das Urteil des Kongresses der Gesellschaft der deutschen Erziehungswissenschaftler, aller Erziehungswissenschaftler an den Universitäten und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland.
Für uns steht jedenfalls fest - und das möchte ich den Eltern, Schülern und Lehrern und auch den Erziehungswissenschaftlern für mich versichern -: Nicht Mut zur Erziehung, sondern Erziehung zum Mut ist die angemessene Forderung, die demokratischen Ansprüchen gerecht wird. Ohne die Eltern, ohne die Schüler und die Lehrer, ohne ihre harte Arbeit zur Verwirklichung der Bildungsgleichheit, ohne ihre harte Arbeit in den Schulen kann dieses Ziel nicht verwirklicht werden. Jetzt geht es darum - Herr Senator Dr. Glotz hat das ausgeführt -, daß die begonnene strukturelle Revolution im Quantitativen im Bildungsbereich auf die Änderung der die Stufen des gesamten Bildungswesens erreichenden jungen Menschen umzuformen sind, daß die Ausweitung der Ausbildungsplätze nochmals zusätzlich verstärkt werden muß, daß mit Behutsamkeit die sozialen Konsequenzen aus der Bildungsexpansion zu ziehen sind - besonders im Blick auf die Einkommensstrukturen - und daß der Konsens mit allen Betroffenen, selbstverständlich auch mit denen, die politisch anderer Auffassung sind als wir, im Dialog für die notwendige Fortsetzung der Bildungsreform, für die notwendige Konzentration und für die notwendige Profilierung der Bildungsinhalte in allen Bildungsstufen gesucht werden muß.
Weißkirchen ({8})
In erster Linie kommt es nach meiner Auffassung jetzt darauf an, endlich die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung herzustellen. Diese Trennung - das sollten Sie noch einmal historisch nachzuvollziehen versuchen - kommt aus einer Zeit, in der die körperliche Arbeit der geistigen Arbeit unterworfen war. Diese Trennung bedeutet die Sicherung der Herrschaft über den arbeitenden Menschen, und sie hat jetzt keinen Platz mehr in der sozialen Demokratie.
Die Haltung Ihrer Parteifreunde in der letzten Sitzung der Bund-Länder-Kommission am 5. Juni ist jedenfalls ein Ausbruch aus dem Konsens des Bildungsgesamtplans, in dem vorgesehen war, daß berufsqualifizierende Abschlüsse in den neu gestalteten Sekundarabschluß II eingeschlossen werden sollen. Wenn es konkret wird, der beruflichen Bildung den gleichen Wert wie der allgemeinen Bildung zuzumessen, flüchten Sie aus der Verantwortung, insbesondere der Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern und deren Kindern; denn das sind die Kinder, die vorwiegend in diesen Bereichen der beruflichen Bildung arbeiten.
Die sozialliberale Bundesregierung hat sich die Herstellung der Chancengleichheit aller Jugendichen als vorrangiges Ziel ihrer Bildungspolitik gesetzt. Das ist durch diese Zwischenbilanz der Bundesregierung auch sehr deutlich geworden. Uns ist es also gelungen, in Ansätzen, in ersten Schritten unser Bildungssystem für breitere Schichten der Bevölkerung zu öffnen, es durchlässiger zu machen und damit die Chance vieler bisher benachteiligter Jugendlicher für einen qualifizierten Abschluß zu verbessern.
Die Gesamtschule spielt dabei eine Rolle, eine wichtige Rolle, nicht die ausschließliche Rolle. Wir stellen uns dem Vergleich zwischen der integrierten Gesamtschule und dem bisherigen dreigliedrigen Schulsystem. Was bisher an Ergebnissen vorliegt, läßt allerdings nach einer vorsichtigen Gesamtbeurteilung, die auch vorgenommen wird, darauf schließen, daß die integrierte Gesamtschule in wesentlichen Punkten dem bisherigen dreigliedrigen Schulsystem überlegen ist. Einige der Ergebnisse, nicht von uns, sondern von Wissenschaftlern herausgearbeitet, können Sie ja selber nachlesen.
Dies ist aber nicht alles, worum es uns geht. Trotz der unbestreitbaren Erfolge der sozialliberalen Bildungspolitik in den letzten Jahren haben wir leider immer noch in einigen Punkten Defizite und Benachteiligungen: Mädchen, ausländische Jugendliche, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Deshalb kann es nicht darum gehen - ich komme zum Schluß -, eine sogenannte Kurskorrektur in der Bildungspolitik durchzuführen, denn die Verlierer einer solchen bildungspolitischen Kurskorrektur, eines solchen Rückfalls, sind allemal die Kinder der sozial Schwachen.
Jetzt kommt es darauf an, daß wir alle in den Ländern und im Bund dazu beitragen, den vor zehn Jahren begonnenen Weg weiterzugehen und die zweite Phase bildungspolitischer Reformen aktiv und
offensiv mit aller Kraft und mit den Betroffenen voranzutreiben.
({9})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Rühe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die Reden der Vertreter von SPD und FDP anschaut, so ist ein Vergleich zwischen den Reden von Senator Glotz und Minister Schmude besonders interessant. Herr Senator Glotz, ich muß Ihnen bescheinigen, daß Sie eine Rede gehalten haben, die zu jedem Zeitpunkt interessant war, die in einigen Passagen auch nachdenklich war und insofern wohltuend zu der Rede des Bildungsministers Schmude kontrastierte, der hier ohne Nachdenklichkeit, ohne die Bereitschaft; darüber nachzudenken, ob nicht in der Vergangenheit schwerwiegende Fehler gemacht worden sind und deswegen eine Tendenzwende notwendig ist,
({0}) vorgetragen hat.
Herr Minister Schmude, dies war das erste Auftreten von Ihnen nach Ihrer Vereidigung im Parlament. Ich meine, das war keine glückliche Stunde für Sie. Niemand wirft Ihnen vor, daß Sie nicht über die gleiche Rhetorik und über das Engagement verfügen, das Senator' Glotz für die Bildungspolitik aufgebracht hat. Aber wir werfen Ihnen vor, daß Sie nicht die Bereitschaft aufbringen, die Tendenzwende in der Bildungspolitik einzuleiten, die wir einfach brauchen, um zu einer besseren Situation zu kommen.
({1})
- Herr Wehner, Sie brauchen sie auch. Jedenfalls die Leute, die Sie in Hamburg-Harburg vertreten, brauchen sie, und das sollten Sie als deren Abgeordneter auch wissen.
({2})
- Ja, gelegentlich müssen auch Sie belehrt werden,
({3})
nicht nur die Leute, die hier stehen und reden,
während Sie Zwischenrufe machen, Herr Wehner.
({4})
- Wenn Sie sich einmal darüber unterhielten, wüßten Sie auch genau, daß z. B. in der beruflichen Bildung vieles schiefgelaufen ist. Das trifft die Arbeitnehmer bei Phoenix und die Lehrlinge dort genauso wie alle anderen auch. Das sollten Sie als Harburger Abgeordneter wissen, und Sie sollten sich nicht zu schade sein, dies auch zur Kenntnis zu nehmen.
({5})
- Bitte.
({6})
Herr Schmude, man kann es mit der Kontinuität wirklich übertreiben. Niemand nimmt es Ihnen übel, wenn Sie sagen, Sie stünden in fester Kontinuität zu Ihrem unmittelbaren Vorgänger. Das ist schon eine Frage der Loyalität. Aber müssen Sie denn gleich bis 1970 zurückgehen und auch Kontinuität zu Herrn von Dohnanyi und Herrn Leussink beweisen? Das geht doch wirklich ein bißchen zu weit. Vielleicht sind Sie zumindest nach dieser Debatte bereit, dies zurückzunehmen und ein bißchen mehr Diskontinuität in Ihre Politik aufzunehmen. Wir brauchen Diskontinuität in der Bildungspolitik, weil wir eben einen Neuansatz brauchen.
Nun, meine Damen und Herren, zu Herrn Glotz muß ich in zwei Punkten etwas Kritisches sagen. Erster Punkt: Er hat hier die hessische CDU mit ihren Plänen zur Berufsbildung angesprochen und gesagt, wir seien unglaubwürdig, wenn wir einerseits die Verbesserung der beruflichen Bildung forderten, andererseits aber dort Kritik an Ausbildungsordnungen übten und die Streichung des zweiten Berufsschultages forderten. Nun, Herr Glotz, Sie hätten recht, wenn man Verbesserung der beruflichen Bildung mit einer Erhöhung des Theorieanteils gleichsetzen könnte. Nur, dieses genau kann man nicht tun.
({7})
Insofern sehen wir in unserem Kampf für einen stärkeren Praxisbezug der Berufsbildung, für eine Stärkung der betrieblichen Ausbildung, für bessere, praxisbezogene Ausbildungsordnungen eine Verbesserung der beruflichen Bildung - genau darin und nur darin.
Zweiter Punkt: Sie haben gesagt, der Elternunwille gegen die Schulpolitik von SPD und FDP, z. B. in Nordrhein-Westfalen beim Volksbegehren, hänge nicht zuletzt damit zusammen, daß sich hier ein Bildungsbürgertum organisiere, deren Kinder es ohnehin immer geschafft hätten und die jetzt eine zusätzliche Konkurrenz bekämen. Deswegen sei es über diese Pläne der Sozialdemokraten so böse. Herr Glotz, schauen Sie sich einmal die Stimmergebnisse des Volksbegehrens insgesamt an, schauen Sie sich weiter einmal die Soziologie von Nordrhein-Westfalen an. Dann werden Sie schon zu der Erkenntnis kommen, daß diese enormen Stimmergebnisse, wenn Sie das einmal auf die gesamte Bevölkerung hochrechnen, ihre Entsprechung nun wirklich nicht in einem engen traditionellen Bildungsbürgertum finden. Vielmehr geht das weit darüber hinaus. Sie verstellten sich den Blick für die notwendigen Korrekturen, wenn Sie versuchten, sich mit einer solchen These zu trösten.
In der Auseinandersetzung um das Volksbegehren hat in der Argumentation der CDU und anderer Befürworter des Volksbegehrens eine entscheidende Rolle die Überlegung gespielt, die Hauptschule als einen eigenständigen Schulweg mit einem eigenständigen Profil zu erhalten. Denn die KoopSysteme, große anonyme Systeme, schaden doch nicht den Kindern, die aus dem sogenannten Bildungsbürgertum kommen. Die setzen sich, soweit sie wirklich sehr begabt und sehr selbstbewußt sind,
auch in schlechten Schulsystemen durch. Man kann sich kaum ein Schulsystem vorstellen, das so schlecht wäre, daß die nicht doch ihren Weg gingen. Wir setzen uns doch gerade für diejenigen ein, die Schwierigkeiten haben, die leiden doch unter solchen Großsystemen, die leiden doch unter der ständigen Unruhe, wie sie etwa auch durch dieses KoopSystem in die bildungspolitische Landschaft hineingekommen ist.
({8})
Die leiden auch unter der Auflösung, der frühzeitigen Auflösung von Klassenverbänden.
Deswegen hier die herzliche Bitte: Begeben Sie sich nicht der Chance, aus diesem Volksbegehren und aus dem Elternunwillen zu lernen, indem Sie auf die These abheben, die Sie vorhin angesprochen haben. Studieren Sie vielmehr genau, woran das gelegen hat. Dann werden Sie feststellen, daß es hier einen weit verbreiteten Unwillen gibt, der nicht nur in die Reihen Ihrer Wähler hineingeht, sondern der auch weit in die organisierte Sozialdemokratie hineinreicht. Wir kennen doch alle die Briefe, die auch an eingeschriebene Mitglieder der SPD geschrieben wurden: daß sie sich hier entsprechend verhalten sollten. Dies macht deutlich: Das Problem geht sehr viel weiter, als Sie es angesprochen haben.
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ich in sieben Thesen nur ganz kurz die wichtigsten Punkte unseres Entschließungsantrages ansprechen. Ich hoffe, daß wir darüber im Ausschuß sprechen können oder daß Sie ihn nach Möglichkeit am besten jetzt schon im Plenum annehmen, Herr Wehner, damit wir die notwendigen Kurskorrekturen durchsetzen können.
({9})
- Herr Wehner, Sie haben doch einmal gesagt: Mehrheit ist Mehrheit. Wenn wir hier heute eine Mehrheit für diesen Antrag schaffen, dann hilft das den Leuten draußen, auch wenn das insgesamt nur eine - ({10})
- Sie haben gesagt, das sei Quatsch.
({11})
- Ah ja, gut. Das finde ich eine interessante Wertung. Ich werde auch hier wiederum in Ihrem Wahlkreis bekanntmachen,
({12})
wie wenig Verständnis Sie dafür haben, notwendige Kurskorrekturen in der Bildungspolitik anzusprechen.
({13})
Erstens. Wir setzen uns für Veränderungen ein, aber für Veränderungen nur dann, wenn man sich vorher in verantwortlicher Weise davon überzeugt
hat, daß Veränderungen auch zu Verbesserungen führen. Ich meine, daß Sie heute diejenigen sind, die Stillstand und Beharren in der Bildungspolitik produzieren, weil Sie sich als die Gefangenen Ihrer eigenen Programmatik erweisen. Insofern sind Sie die Reaktionäre, die an etwas festhalten, was überholt ist. Sie haben sich mit Ihrer Programmatik überholt. Wir brauchen eine Politik der Veränderung Ihrer Politik aus den vergangenen Jahren, um wirklich Verbesserungen für alle Betroffenen erreichen zu können.
Zweitens. Wir setzen uns für ein begabungsgerechtes und differenziertes Bildungssystem ein, das jedem entsprechend der unterschiedlichen Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen einen Bildungsgang eröffnet und eben nicht alle über den Leisten der Theorie schlägt.
Drittens. Die Schule muß in ihrer Erziehungsaufgabe wieder gestärkt werden. Ich finde es skandalös, wenn ein Bundesminister sagt, Mut zur Erziehung sei etwas Rückständiges. Ich wüßte gar nichts Moderneres, Zeitgemäßeres, Notwendigeres als die Rückbesinnung auf die erzieherische Aufgabe der Schulen.
({14})
Ich wüßte gar nichts Rückständigeres, Uninformierteres als einen Bildungsminister, der sagt, es sei rückständig, sich wieder mehr um Erziehung in unseren Schulen zu kümmern.
({15})
Was die Elemente der Erziehung angeht, müssen wir eben auch wieder stärker bewährte Tugenden vermitteln, die für die Persönlichkeitsentfaltung, für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft unverzichtbar sind. Das sind neben Zivilcourage, dem Mut zur Kritik, zu dem wir uns ausdrücklich bekennen, der Offenheit, dem Widerspruch aber eben auch Selbstlosigkeit, Treue, Opferbereitschaft, Wahrheitsliebe, Fleiß, Zuverlässigkeit, Solidarität, Hilfsbereitschaft und andere Dinge, die von Ihnen in den letzten Jahren ständig vernachlässigt worden sind.
Viertens. Wir setzen uns für den kooperativen Föderalismus ein, gegen eine sinnlose Konfrontationspolitik zwischen Bund und Ländern, die kein einziges Problem löst. Lassen Sie mich dazu nur eines sagen: Es wird keine Kompetenzveränderungen geben; der Streit darum ist sinnlos. Diejenigen, die in den letzten Jahren von einer vernünftigen, mittleren Linie am weitesten abgewichen sind und dadurch die Einheitlichkeit in der Tat beeinträchtigt haben, sind in erster Linie aufgefordert, ihren Beitrag zu einer Wiederherstellung des bildungspolitischen Konsens zu leisten. Sie können sich denken, an wen ich in diesem Zusammenhang gedacht habe.
({16})
Fünftens. Wir setzen uns für eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Berufsschule im Rahmen des gewachsenen Systems ein. Eine einseitige Festlegung auf ein neues System von integrierten Gesamtschulen, das noch längst nicht endgültig erprobt ist, halten wir für falsch.
Sechstens. Die berufliche Bildung muß ihre Eigenständigkeit und insbesondere ihren Praxisbezug behalten. Sie darf nicht verschult, sie darf nicht ver-theoretisiert werden, damit sie gerade den stärker praktisch begabten jungen Menschen eine qualifizierende Bildung und Ausbildung geben kann. Wenn Sie in diesem Lande - durch welche Maßnahmen auch immer - die berufliche Bildung stärker verschulen, den Theorieanteil anheben, ansteigen lassen, dann geben Sie nicht zusätzliche Chancen, sondern dann nehmen Sie Chancen, nämlich denjenigen, die stärker praxisorientiert begabt sind. Das ist eine Politik, die keine zusätzlichen Chancen für junge Menschen schafft, sondern ihnen Möglichkeiten nimmt. Deswegen stößt sie auf unsere Ablehnung.
Siebtens. Bildungs- und Beschäftigungssystem müssen besser aufeinander bezogen sein, damit eine qualifizierte Bildung möglichst auch in eine entsprechende Berufstätigkeit münden kann. Bildungsanspruch und Arbeitsmarkt müssen zu einem sinnvollen Ausgleich gebracht werden.
Unser Streit hierbei geht vor allem immer wieder darum, was man eigentlich unter Qualifikation zu verstehen hat. Dazu sage ich noch einmal: Als qualifiziert hat nach unserer Auffassung nicht nur derjenige zu gelten, der eine akademische Ausbildung absolviert hat, sondern auch derjenige mit einem hohen Standard praktischer Berufsausbildung, etwa auch derjenige, der Hervorragendes in der Facharbeit und im Handwerk leistet. Wenn Sie sich zur Überqualifikation bekennen - Sie haben ein besonderes Gewicht auf Abitur und Hochschulen gelegt -, muß ich Ihnen sagen, daß damit eben häufig schon der Weg zur Falschqualifikation eingeschlagen worden ist. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusammenhang die Lektüre einer Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs Grüner, die er vor ganz kurzer Zeit gehalten hat. Er sagte wörtlich:
Wir müssen aber der Möglichkeit ins Auge sehen, daß auch dann, wenn es zu durchgreifenden und unpopulären Maßnahmen kommen sollte, um Akademiker ohne zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte im öffentlichen Dienst zu beschäftigen,
- das ist ja das, was Herr Glotz angesprochen hat dennoch die Akademikerarbeitslosigkeit stark ansteigen könnte.
Bereits heute kommen auf eine der Arbeitsverwaltung als offen gemeldete Stelle für Hochschulabsolventen 4,6 als arbeitslos registrierte Hochschulabsolventen, wohingegen auf eine offene Facharbeiterstelle nur 1,2 als arbeitslos registrierte Facharbeiter kommen.
Herr Grüner fährt fort:
Wenn heute auf 25 000 Bauingenieure und Architekten in Ausbildung 21 000 Maurerlehrlinge kommen und auf 24 000 Chemiestudenten nur 8 000 Jugendliche entfallen, die als Chemiefacharbeiter oder Chemielaboranten ausgebildet werden, dann muß das nicht der Beweis für eine grundsätzlich zu begrüßende Überqualifikation
sein. Denkbar ist auch, daß es sich hier um erste Anzeichen einer beklagenswerten Falschqualifikation handelt, die weder den Jugendlichen noch der Wirtschaft und der Gesellschaft nutzt.
Soweit noch vorsichtig, aber deutlich formuliert der Parlamentarische Staatssekretär Grüner.
Ich meine, der. Herr Bundeskanzler wäre schon ganz gut beraten, wenn er das Gespräch zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Bildungsministerium in Gang brächte; denn es kann nicht angehen, daß das Bildungsministerium Narrenfreiheit hat, indem es hemmungslos das Abitur und die Hochschulbildung propagiert, auf der anderen Seite aber nachdenkliche Reden von seiten des Wirtschaftsministeriums bei den Betroffenen gehalten werden. Dies ist unerträglich. Hier ist auch der Bundeskanzler in seiner Führungs- und Koordinierungsaufgabe gefordert.
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Meine Damen und Herren, dies ist in sieben Punkten die Zusammenfassung unseres Entschließungsantrags. Herr Wehner, wenn Sie richtig zugehört haben, müssen Sie mir zustimmen: Das ist kein Quatsch, sondern das ist ein Antrag, der vernünftige neue Akzente setzt und der mit Mehrheit, auch wenn es in den absoluten Zahlen keine große Mehrheit ist, beschlossen werden sollte.
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Als letzter Redner hat Herr Abgeordneter Schäfer ({0}) das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf nur feststellen, daß ich mir meine Jungfernrede im Deutschen Bundestag etwas anders vorgestellt hatte, als hier jetzt schnell noch einige zusätzliche Gedanken aus dem Effeff heraus zu formulieren und von meinem vorsorglich vorbereiteten Text abzuweichen.
Der Saal ist auch so leer, daß man tatsächlich nicht von einer deutschen Bildungskrise reden kann. Sonst wäre das Interesse in diesem Hause vielleicht doch etwas größer.
Herr Rühe, was ich bei Ihren Ausführungen von eben nicht ganz verstanden habe, sind die Worte „Tendenzwende" und „Diskontinuität" . Ich weiß nicht so recht - die Bank ist ja mit Ihren Leuten schlecht besetzt -, ob der eine oder andere Kultuspolitiker der Länder, der Ihrer Seite nahesteht oder ihr angehört, so ganz mit dieser Formulierung einverstanden gewesen wäre. Zumindest bezüglich der „Diskontinuität" glaube ich, hätten sich weder Frau Laurien noch möglicherweise Herr Maier bereit erklärt, Ihnen zu folgen. Das scheint mir eine sehr merkwürdige, vielleicht auch etwas kühne These zu sein. Denn wir sind immer der Auffassung gewesen, daß die Kontinuität doch gerade im Bildungswesen Platz greifen sollte, daß gerade nicht Sprünge gemacht werden sollten, wie Sie hier sehr häufig beklagt haben. Insofern bin ich eigentlich von dieser neuen Tendenz Ihrer Partei etwas überrascht.
({0})
Sie dürften mit Sicherheit bei aller Mäkelei an dem, was der Herr Bundesminister hier vorgetragen hat, und auch an der Antwort auf diese Große Anfrage immerhin zufrieden sein, daß mit den Zahlen, die genannt worden sind und die ich deshalb nicht wiederholen will, doch zumindest deutlich wurde, daß dieses Land auf einem Weg ist, den es in der Welt, wie ich glaube, schon längst hätte antreten müssen, nämlich daß wir die gravierendsten Versäumnisse der 50er und 60er Jahre, die sich gerade auf 'dem Bildungssektor neben der industriellen Entwicklung ergeben haben, einigermaßen aufholen konnten. Wir brauchen auch international den Vergleich nicht mehr in dem Umfang zu scheuen, wie das noch vor einigen Jahren der Fall war.
Wenn Sie in den letzten Tagen Wahlergebnisse und Wahlanalysen zur Kenntnis genommen haben, wird Ihnen im Gedächtnis sein, daß nicht ganz zu übersehen ist, daß es sehr viele junge Leute gibt, die sich neuerdings Listen zuwenden, die sich als „grün" oder „bunt" bezeichnen. In den Analysen wird zum Teil auch eine gewisse Verdrossenheit mit dem Staat und dem Bildungswesen als Ursache angegeben, wenn man solchen schnellen Analysen glauben kann. Ich bin der Auffassung, daß nur derjenige, der über die in dieser Aussage der Bundesregierung aufgezeigten Zahlen in Unkenntnis ist und sich leichtfertig über das hinwegsetzt, was gemeinsam mit den Ländern - Gott sei Dank -, auch mit CDU-regierten Ländern, erreicht worden ist, sich solchen grünen und bunten Gaukeleien hingibt, die in der politischen Realität - da werden Sie mir sicher zustimmen - sehr schnell zerplatzen würden. Denn man kann natürlich auch heute noch mit vielem unzufrieden sein, aber man kann doch nicht glauben, daß mit irgendwelchen Leerformeln, wie sie in diesen Programmen stehen, bildungspolitischer Fortschritt erzielt wird. Ich habe den Eindruck, das wird sehr schnell einer Ernüchterung weichen - wie schon bei mancher Partei und mancher Splittergruppe, die sich hier in Deutschland angemaßt hat, alles das, was wir tun, als unsinnig zu bezeichnen.
Die FDP bekennt sich zu einem zukunftsweisenden, wettbewerbsorientierten Föderalismus, wie Sie ihn hier ständig fordern. Aber wir haben eigentlich kein Verständnis mehr - und ich meine, das haben viele Leute in diesem Lande nicht mehr -, wenn dieser Föderalismus zu Tode geritten wird, wenn wir uns heute zurückbewegen in eine historische Epoche dieses Landes, von der ich meine, daß sie in der Nähe des Deutschen Zollvereins liegt. Es gibt keine grenzüberschreitende Probleme mit Pässen mehr, aber es gibt neuerdings grenzüberschreitende Probleme zwischen den deutschen Ländern mit verschiedenen Bildungsabschlüssen. Das aber ist in Zeiten der europäischen Einigung eigentlich ein Hintertreppenwitz unserer Geschichte.
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Schäfer ({2})
Das soll nicht heißen, daß wir den Föderalismus ablehnen. Aber ich meine, Kleinstaaterei und Provinzialismus als Föderalismus zu deklarieren hilft uns nicht mehr weiter.
Nun zu Ihrer ständigen Kritik an Reformversuchen wie der Gesamtschule. Herr Pfeifer, Herr Rühe, wo man Presseverlautbarungen von Ihnen liest, findet man immer wieder diese Formulierungen: „Ziel ist Systemveränderung", „Kampf um eine neue Gesellschaft" ; so Herr Rühe vor kurzem in Hamburg, und auch Herr Dregger äußert sich ja in dieser Richtung. Ich kann nur sagen: Wenn es Ihnen gelänge, endlich einmal die Ihnen nahestehenden Lehrerverbände zu bewegen, weniger über Stellenkegel und Beförderungsfragen zu diskutieren, als ihre jungen Leute in Gesamtschulen zu schicken, hätten Sie dort nicht allein die „linken Ideologen". Das ist doch der Punkt. Ihre Behauptung, diese Organisationsform an sich sei schon systemverändernd, trifft doch nicht zu. Sie beleidigen damit das amerikanische Schulsystem - das ist Ihnen vielleicht noch nicht aufgefallen -, denn das ist die Gesamtschule, wenn auch in einer anderen Form. Das ist aber, wie Sie wissen, nicht eine sozialistische Schule.
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- Ich gebe Ihnen zu, Herr Rühe, daß es auch bei der GEW durchaus Tendenzen gibt, die zunächst von solchen Fragen getragen werden. Das will ich in gar keiner Weise bestreiten.
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Wer aber die kooperative Schule verteufelt, muß sich dann halt auch fragen lassen: Lieber Himmel, waren Sie denn in einigen Ländern nicht mal selbst dafür? Das ist heute verschiedentlich angeklungen. Sie können es nachlesen: Wahlprogramm Hessen 1970, kooperative Gesamtschule, Forderung von Dr. Dregger, der jetzt leider nicht mehr im Saal ist. Heute ist das Teufelswerk. Aber wenn Sie dann Flugblattaktionen wie bei dem berühmten Volksbegehren unterstützen - ich habe diese Dinge in meiner Godesberger Wohnung jeden Morgen zur Kenntnis nehmen müssen -, in denen Formulierungen enthalten sind wie die, daß die eigentliche Wurzel des Übels bei dieser Bildungsreform schon in der Aufspaltung in Grund- und Hauptschule liege, wird die Sache allerdings in bezug auf Diskontinuität und Tendenzwende ein bißchen kritisch, Herr Rühe. Dann muß ich nämlich die Frage stellen: Geht es nicht doch um die Wiederherstellung der alten Volksschule, und der Rest bleibt für die Auserwählten?
({5})
Dieses Rad, glaube ich, können auch Sie nicht mehr zurückdrehen.
Nun haben wir gestern abend im Deutschen Fernsehen eine neue Definition Ihrer Partei zur Kenntnis nehmen müssen. Ich war gerade bei der Vorbereitung meiner Rede und konnte zu meiner Überraschung feststellen, daß Sie sich neuerdings als „die liberale deutsche Partei" bezeichnen. Das hat Herr Kohl gestern abend getan, und das wurde
dann von einem Kollegen der CSU wiederholt. Ich kann nur sagen: Wenn Sie das sind, ist wohl die Formel, die Herr Vogel vor kurzem gebraucht hat, Sie seien sowohl sozial als auch konservativ und liberal, nicht mehr richtig. Sie bezeichnen sich als liberale Partei, und dann sagt Herr Dregger in seiner berühmten Marburger Rede zur Bildungspolitik: „Im Hochschulbereich sind ebenfalls Umwidmungen nötig, die sich am Bedarf im Beschäftigungssystem orientieren." - Meine Damen und Herren, das gerät nun allerdings ein bißchen schief in diesem liberalen Bild, das gerät uns Liberalen ein bißchen zu sehr in die Nähe von staatlicher Lenkung und Planung, die Sie an anderer Stelle ständig ablehnen, weil sie den Weltuntergang herbeiführt.
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In der Bildungspolitik scheinen Sie sich hier sozialistischen Vorstellungen der östlichen Seite allerdings anzunähern.
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Das ist hochinteressant. Sie wollen sozusagen am Bedarf orientiert lenken, wohin nun eigentlich die Begabungen zu gehen hätten. Das machen wir als liberale Partei nicht mit.
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- Nun, der „Sozialist Grüner" : Ich bin Ihnen für den Hinweis bezüglich der Rede von Herrn Grüner dankbar, den Sie mir heute gegeben haben. Es ist kein Geheimnis - sollten wir darüber streiten? -, daß es schon oft zwischen Wirtschaftlern und Kulturpolitikern Probleme in diesem Land gegeben hat. Auch Ihre Minister haben häufig beklagt, daß wir gegenüber dem, was man gelegentlich „Primat der Wirtschaft" nennt, ins Hintertreffen geraten seien.
Was es nun mit der Liberalität so auf sich hat, wurde hier von Herrn Weißkirchen angedeutet. Ich möchte hier nicht auf Einzelheiten des Kongresses „Mut zur Erziehung" eingehen. Lesen Sie es in der „Zeit" nach, wo eine Analyse dieser Thesen unter der Überschrift „Totalitäre Tendenz" gegeben worden ist. Wir sollten allerdings einmal anfangen, darüber sehr kritisch nachzudenken.
Wenn in Rheinland-Pfalz die Schrift des Herrn Professor Buchheim an alle rheinland-pfälzischen Schüler zur Pflichtlektüre im Zusammenhang mit dem Studium des Grundgesetzes verteilt worden ist, in der der Sozialismus verteufelt wird, allerdings so unklar, daß man die Sozialdemokratische Partei Deutschlands unter diesen Sozialismus mit einreihen könnte, dann allerdings frage ich mich: Wo ist denn da die Nähe zum Grundgesetz und zu einer pluralen Verfassung dieses Staates?
Sie sollten auch der bayerischen Kultusverwaltung - Herr Pfeifer, ich kenne Sie als Literaturfreund - vielleicht klarmachen, daß harmlose Kinderreime auch von einem Wolf Biermann in einem bayerischen Lesebuch ihren Platz behalten sollten und nicht ausgemerzt werden müssen. Dann nähern Sie sich vielleicht liberalen Grundsätzen. So wie Sie das jetzt tun, habe ich den Eindruck, daß es eine etwas sehr weitgehende Formulierung ist, sie seien
Schäfer ({9})
die liberale Partei. Den Beweis haben Sie wirklich noch anzutreten.
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- Ja, das ist denkbar. Es gibt gewisse Tendenzen in dieser Richtung, Herr Wehner, die das allerdings schon nahelegen. Es wäre auch denkbar, daß man das mit dem Grundgesetz noch vereinbaren könnte.
Was uns Liberale von Ihnen unterscheidet, meine Damen und Herren von der CDU: Unsere Devise heißt eben nicht Auslesen, sondern Fördern. Es heißt nicht Ruhe vor Reformen, sondern Ruhe für sinnvolle Reformen. Dazu braucht es Zeit und Erprobung. Wir können ja den Deutschen Bildungsrat, den Sie einmal torpediert haben, gerne wieder einrichten.
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Wir sind sehr dafür. Wir können dort gemeinsam und langfristig diskutieren.
Es braucht auch Entkrampfung und, Herr Senator Glotz, es braucht sicher auch Entideologisierung. Ich bitte, mich hier jetzt nicht falsch zu verstehen, als gebe es keine Wertvorstellungen. Ich bin mit Ihnen völlig einig. Aber ich meine, daß es ein bißchen zuviel an Ideologisierung auf beiden Seiten gegeben hat. Die Rechten sollten nicht so tun, als sei Ideologie immer nur Sache der Linken. Es gibt nun wirklich Bände von Literatur, von Reden von Ihnen, wo man nachweisen kann, wie ideologisch auch Bildungsnpolitik von Ihnen verstanden wird.
Uns geht es nicht um Systemveränderungen, wie Sie unterstellen, wenn wir uns z. B. positiv zu Gesamtschulversuchen äußern, sondern uns geht es allein um die überfällige Anpassung unseres Bildungs- und Ausbildungssystems an den längst bereits vollzogenen gesellschaftlichen Wandel. Wir laufen nämlich nicht der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hinterher.
Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir Ihren Entschließungsantrag - ich stelle das als Antrag, Frau Präsident - im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft diskutieren sollten. Sie, meine Damen und Herren von der CDU, sollten sich auf das Etikettt zurückziehen, das Ihnen zusteht und auf das Sie eigentlich stolz sein sollten, nämlich eine konservative Partei zu sein. Ich bin der Auffasssung, Sie sollten sich jetzt ihres schönen Etiketts nicht schämen, sondern bei dem bleiben, was sie mit Sicherheit sind und wie auch, glaube ich, die Mehrzahl der deutschen Jugend Sie bisher gesehen hat. Geben Sie nicht leichtfertig diese Position auf!
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Meine Damen und Herren, wir sind am Ende einer Debatte, die auch für diejenigen, die keine Bildungspolitiker sind, sehr interessant war - wenn ich das einmal sagen darf. Ich schließe die Aussprache.
Wir haben noch den Entschließungsantrag auf Drucksache 8/1893 an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Weitere Überweisungen sind nicht erforderlich. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Juni 1978, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.