Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Es liegt Ihnen folgende Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die gemäß § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Tagung der parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 15. bis 22. September 1976 in Straßburg ({0})
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Entschließungsantrag über die Regionalpolitik der Gemeinschaft bezüglich der Regionen beiderseits der Binnengrenzen der Gemeinschaft ({1})
zuständig: Ausschuß für Wirtschaft ({2}) Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Betr.: Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Entscheidung zur Verabschiedung des Jahresberichts über die Wirtschaftslage der Gemeinschaft sowie zur Festlegung der wirtschaftspolitischen Leitlinien für 1977 ({3})
zuständig: Ausschuß für Wirtschaft
Betr.: Zweiter Teil der 22. ordentlichen Sitzungsperiode der Versammlung der Westeuropäischen Union vom 29. November bis 2. Dezember 1976 in Paris ({4})
zuständig: Auswärtiger Ausschuß ({5})
Verteidigungsausschuß
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Den Haager Tagungsergebnissen des Europäischen Rats vom 29. und 30. November 1976 ({6})
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Erweiterter Verkehrswegeplan für das Zonenrandgebiet;
hier: Bericht des Bundesministers für Verkehr 1976 über den Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes
Bezug: Beschluß des Deutschen Bundestages vom 22. Januar 1969 ({7})
zuständig: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen ({8}), Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen, Haushaltsausschuß
Betr.: Bericht des Bundesrechnungshofes nach § 99 der BHO zu Nr. 158 der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung für das Halbjahr 1973 ({9})
zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1973 ({10}) ({11})
zuständig: Haushaltsausschuß
({12})
Betr.: Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung ({13}) für das Haushaltsjahr 1973 ({14})
zuständig: Haushaltsausschuß
({15})
Betr.: Rechnung und Vermögensrechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1974 - Einzelplan 20 - ({16})
zuständig: Haushaltausschuß
({17})
Betr.: Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1974 ({18}) ({19})
zuständig: Haushaltsausschuß
({20})
Betr.: Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung (einschließlich der Bundesvermögensrechnung für das Haushaltsjahr 1974 ({21})
zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Überplanmäßige Haushaltsausgabe im Haushaltsjahr 1976 bei Kap. 0902 Tit. 697 04
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({22})
zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Außerplanmäßige Ausgaben bei Kap. 11 11 - Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und gleichartige Leistungen Titel apl. 681 51 - Mobilitätshilfen Titel apl. 681 52 - Eingliederungshilfen Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({23}) zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Überplanmäßige Ausgabe bei Kap. 23 02 Tit. 896 02 - Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zum Europäischen Entwicklungsfonds der Europäischen Gemeinschaften Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({24}) zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 3. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1973
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({25})
zuständig: Haushaltsausschuß
({26})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 4. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1973
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({27})
zuständig: Haushaltsausschuß
({28})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 2. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1974
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({29})
zuständig: Haushaltsausschuß
({30})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 3. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1974
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({31})
zuständig: Haushaltsausschuß
({32})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 4. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1974
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({33})
zuständig: Haushaltsausschuß
({34})
Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 2. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1975
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({0})
zuständig: Haushaltsausschuß
({1})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 3. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1975
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({2})
zuständig: Haushaltsausschuß
({3})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 4. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1975
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({4})
zuständig: Haushaltsausschuß
({5})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 2. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1976
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({6})
zuständig: Haushaltsausschuß
({7})
Betr.: Zusammenstellung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im 3. Vierteljahr des Haushaltsjahres 1976
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({8}) zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: über- und außerplanmäßige Haushaltsausgabe im
Haushaltsjahr 1976 bei Kap. 09 02 Tit. 698 02
Bezug: § 37 Abs. 4 BHO ({9}) zuständig: Haushaltsausschuß
- Es erhebt sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 17. Dezember 1976 dem
Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages
zugestimmt.
In der gleichen Sitzung hat der Bundesrat der vom Deutschen Bundestag am 14. Dezember 1976 beschlossenen Weitergeltung der
Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses nach Artikel 53 a des Grundgesetzes
Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115 d des Grundgesetzes
sowie der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({10})
zugestimmt.
Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 10. Januar 1977 unter Bezugnahme auf § 17 Abs. 5 Postverwaltungsgesetz den Nachtrag zum Voranschlag der Deutschen Bundespost für das Rechnungsjahr 1976 übersandt. Der Nachtrag liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 10. Januar 1977 das Gutachten der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel übersandt. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/51 verteilt.
Wir kommen nun zur
Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Abgeordnete Katzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
({0})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung am 16. Dezember 1976 ein Wort zur Rentenreform vorangestellt. Ich verstehe, daß die Regierung bemüht ist, ihr sehr unangenehme Dinge vorweg zu behandeln und vom Tisch zu bringen. Die Bürger im Lande und
wir hier im Hause allerdings haben erwartet, daß der Bundeskanzler klärende Worte zu dem finden wird, was vor und nach den Wahlen das Vertrauen des Bürgers in die parlamentarische Demokratie zutiefst erschüttert hat.
({1})
Tatsächlich kann von der selbstkritischen Offenheit des Bundeskanzlers, zu der Herr Kollege Brandt unsere Anerkennung vermißt hat, überhaupt keine Rede sein. Der versuchte Wortbruch ist und bleibt eine unentschuldbare Ungeheuerlichkeit.
({2})
Versprochen wurde, die bruttolohnbezogene Rentendynamik beizubehalten. Statt dessen sollen 1979 und 1980 die Renten jedoch an die Nettolöhne mindestens angepaßt werden; das heißt, sie sollen gekürzt werden. Versprochen wurde von Ihnen eine jährliche Rentenanpassung. In Wahrheit soll im Jahr 1978 eine Rentenanpassung ausfallen. Versprochen wurde schließlich, keine Beiträge zu erhöhen. Schon in diesem Jahr aber sollen die Beitragsbemessungsgrenze und damit die Beiträge in der Krankenversicherung drastisch erhöht werden.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben der Union und mir persönlich im Wahlkampf unchristliches Verhalten vorgeworfen.
({3})
Sie haben gesagt, wir hätten gegen das 8. Gebot
„Du sollst kein falsches Zeugnis geben" verstoßen.
({4})
Dies, Herr Bundeskanzler, hat uns schwer getroffen. Nach all dem, was nach dem 3. Oktober geschehen ist, überlasse ich das Urteil über diese unfaire Entgleisung getrost der deutschen Öffentlichkeit.
({5})
Herr Redner, fahren Sie bitte fort!
Diese Ungeheuerlichkeit, Herr Bundeskanzler, wird nicht dadurch besser, daß sich daran leider auch - ich muß das sagen: leider auch - Teile der Gewerkschaften beteiligt haben. So gab der Vorsitzende der IG Metall, Eugen Loderer, als Begründung für eine Rentnerveranstaltung der IG Metall mit Walter Arendt an - ich zitiere -:
Es ist sogar unsere Pflicht, unsere Rentner zu einer Aufklärungskampagne mit Arbeitsminister Arendt einzuladen, wenn die CDU mit ihrem Krisengerede die Rentner verunsichert.
Den Arbeitnehmern und Rentnern hat Herr Loderer damit keinen Gefallen getan, und dieser Bundesregierung nebenbei auch nicht.
({0})
Die in der Regierungserklärung vorgelegten Pläne zur Sanierung der Rentenversicherung bedeuten einschneidende Kürzungen sozialer Leistungen. Das von Ihnen damals geprägte Wort von der sozialen Demontage machen Sie jetzt selbst wahr.
({1})
Nach den bisher vorliegenden Plänen würde ein Rentner, der heute eine monatliche Rente von 900 DM bezieht, 1979 wegen der Anpassungsverschiebung und der Nettolohnanpassung im Jahr rund 900 DM weniger bekommen als nach der jetzigen Rentenformel, also eine - auf die heutige Rente bezogen - volle Monatsrente verlieren.
Für den neuen Bundesarbeitsminister war das unmittelbar nach seinem Amtsantritt „kein Grund zur Dramatisierung". Ich muß sagen: Die Betroffenen denken darüber ganz anders,
({2})
und ich füge hinzu: Wenn wir, jeder einzelne von uns persönlich betroffen wären, würden wir ganz anders darüber denken.
({3})
- Herr Kollege Gansel, wenn Sie das Bedürfnis haben, sich zu profilieren, setzen Sie sich mit Ihrer eigenen Fraktion auseinander! Da müssen Sie, glaube ich, anfangen.
({4})
Ich kann nur allen empfehlen, sich immer bewußt zu sein: Hier geht es doch nicht um Zahlenspiele, hier geht es doch nicht um Statistiken, hier geht es doch nicht darum, aneinanderzureihen. Diesen beklemmenden Eindruck mußte man ja in den letzten Wochen haben, wenn man das Fernsehen verfolgt hat. Jeden Abend neue Tataren-Meldungen, die einfach darüber hinweggingen und -gehen, daß es sich hier doch um Menschenschicksale handelt, mit denen Sie umgehen, und nicht um Statistiken, mit denen Sie Politik zu betreiben haben.
({5})
Die Regierungserklärung und die Einlassung des Kanzlers haben eins deutlich gemacht - das ist das erste Fazit, das ich ziehen möchte -: Diese ' Bundesregierung ist im Amt, weil sie keine Skrupel hatte, mit einem groß angelegten Täuschungsmanöver Wählerstimmen zu erschleichen. Das muß Ihnen, Herr Bundeskanzler, leider gesagt werden.
({6})
Damit nicht genug, Herr Bundeskanzler: Um Ihre Wahl als Kanzler nicht zu gefährden, durfte Walter Arendt seinen Rücktritt erst bekanntgeben, nachdem Sie gewählt waren - mit der knappsten Mehrheit, die möglich ist.
({7})
Herr Bundeskanzler, Sie haben uns - das ist Ihr gutes Recht - nach unserer sachpolitischen Alternative gefragt.
({8})
Ich werde Ihnen darauf klar antworten und Ihnen ganz klar und präzise sagen, welche Politik wir wollen.
Bevor ich das tue, lassen Sie mich eine Bemerkung machen und die Frage zu beantworten versuchen: Wie kam es eigentlich zu dieser Entwicklung? Walter Arendt hat, wenn ich es richtig sehe, einen entscheidenden Fehler gemacht, der zu der heutigen Entwicklung geführt und ihn schließlich und letztlich zum Rücktritt veranlaßt hat. Er hat den Fehler gemacht, den ich ihm in den letzten sieben Jahren hier im Hause oft habe vorwerfen müssen - darüber haben wir häufig kontroverse Diskussionen miteinander gehabt -, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik nicht als Einheit zu sehen.
({9})
Von dieser Stelle aus habe ich Herrn Arendt immer wieder gesagt: Dies muß zusammen gesehen werden, sonst führt der Weg in die Irre. Er aber meinte, er müsse sich von uns distanzieren, indem er sagte, nein, das sei keine Einheit, das sei, um es so zu formulieren, ein Anhängsel an die Wirtschaftspolitik. - Nein, meine Damen und Herren, mitnichten! Unsere Formulierung ist so, daß Wirtschafts- und Finanzpolitik im Dienste der Sozialpolitik, der Gesellschaftspolitik, im Dienste des Menschen stehen. Aber es muß zusammen gesehen werden.
({10})
Ich füge hinzu: Eine der Grundbedingungen unserer Politik und wesentliche Voraussetzung für unsere Mitarbeit bei der Lösung der anstehenden Probleme ist es, diesen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Politikbereichen wiederherzustellen. Und ich ergänze: Dazu gehört nicht minder die Familienpolitik. Es muß aufhören, daß gerade die kinderreichen Familien in unserem Lande permanent diskreditiert und geradezu als etwas abgestempelt werden, was aus dem vorigen Jahrhundert stamme.
({11})
Daß die Bundesregierung aus diesen Fehlern nichts, aber auch gar nichts gelernt hat, beweist die Regierungserklärung in aller Deutlichkeit. Nicht nur der Form nach, Herr Bundeskanzler, haben Sie das Rententhema vor die Regierungserklärung gezogen, sondern auch inhaltlich wird an keiner Stelle der Erklärung der Zusammenhang der Rentenpolitik mit anderen Politikbereichen sichtbar. Die isolierte Behandlung einzelner Fragenkomplexe war und ist charakteristisch für diese Bundesregierung.
CDU und CSU haben frühzeitig darauf hingewiesen, daß eine langfristige finanzielle Sicherung der Rentenversicherung nür gewährleistet ist, wenn das
wirtschaftliche Wachstum nicht auf Dauer gefährdet wird. Ihr monotoner Hinweis auf die Weltwirtschaftskrise - ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß wir bereits eine Million Arbeitslose hatten, als der deutsche Export noch auf dem höchsten Nachkriegsniveau war
({12})
und daß der Anstieg des Exports im Jahre 1976 an der Arbeitslosigkeit nichts geändert hat - dies macht die Bundesregierung zum Gefangenen ihrer eigenen Diagnose. Wer wie ein Wetterfrosch auf die Veränderung des ausländischen Konjunkturhimmels starrt, ist zur politischen Ohnmacht, zur Handlungsunfähigkeit im eigenen Lande verurteilt.
({13})
Die - trotz der Lippenbekenntnisse - krasse Mißachtung grundlegender Zusammenhänge der Sozialen Marktwirtschaft hat dazu geführt, daß zigtausend Betriebe in den letzten Jahren stillgelegt worden sind und die gesamte wirtschaftliche Investitionstätigkeit zurückgegangen ist.
Zum drittenmal in Ihrer Regierungszeit treten wir in ein neues Jahr mit über einer Million Arbeitslosen ein. Es ist die längste und höchste Arbeitslosigkeit seit den Wiederaufbaujahren. Die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung ist unter Ihrer Verantwortung zum brennendsten Problem unserer. Gesellschaft geworden. Nun haben endlich - ich betone: endlich - in dieser zentralen Frage unserer Wirtschaftsordnung auch die Gewerkschaften ihre lange Zeit geübte Zurückhaltung gegenüber der Bundesregierung aufgegeben. Die deutschen Gewerkschaften können und wollen nicht länger eine Politik mitverantworten, die an den fundamentalen Interessen der Arbeitnehmer vorbeigeht.
Es sind in den letzten Wochen von den verschiedensten Seiten zum Teil widersprüchliche, zum Teil ergänzende Vorschläge zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit gemacht worden. Man mag zu diesen Vorschlägen - und auch zur Forderung des DGB-Vorsitzenden Vetter, der hier zumindest mit einem mutigen Schritt deutlich gemacht hat, daß dies der zentrale Punkt ist, an dem wir anfangen müssen - im einzelnen stehen, wie man will; sie machen deutlich, wie drängend die Lösung dieser sozialen Frage geworden ist. Sie machen allerdings - das ist wenig schmeichelhaft für Sie, Herr Bundeskanzler - auch deutlich, daß dieser Bundesregierung in dieser Frage kein Vertrauen mehr entgegengebracht wird.
({14})
Die Bundesregierung hat dieses Problem lange vernachlässigt, verharmlost nach dem Motto: Den Arbeitslosen geht es doch gut! Ich erinnere mich noch sehr wohl an eine Debatte im vergangenen Jahr hier im Hause, als ich dieses Thema anschnitt und mir ein SPD-Abgeordneter zurief: Aber was wollen Sie denn eigentlich, das Arbeitslosengeld ist doch erhöht worden?! In der Tat ist dies der fundamentale Unterschied: Sie beschränken sich darauf, Arbeitslosigkeit zu bezahlen, wir wollen Arbeitslosigkeit beseitigen. Das ist unsere Aufgabe, der wir uns stellen.
({15})
Für die Arbeitslosen war und ist die finanzielle Seite sicherlich wichtig; aber Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dies sei das Wichtigste. Wir haben immer darauf hingewiesen - dies ist erstmals durch eine wissenschaftliche Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bestätigt worden -: Am schwersten wiegt die psychische Belastung. Wer aus meiner Generation, wer wie ich aus einer kinderreichen Familie kommt und erleben mußte, wie sein Vater 1933 arbeitslos war, der stellt fest: Materiell ging es uns noch viel schlechter als den Arbeitslosen heute, und dennoch ist mir - ich war damals ein kleiner Junge - nicht dies in Erinnerung geblieben, sondern in Erinnerung ist mir ein Vater, der in der vollen Kraft seiner Jahre untätig zu Hause sitzen und das Gefühl haben mußte, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Das ist das Problem, um das es geht, das ist die Frage, die wir zu stellen haben!
({16})
Auch für die Gesellschaft ist es mit der Bezahlung von Arbeitslosigkeit nicht getan. Der Wachstums-
und Beschäftigungsrückgang bedeutet allein für die Rentenversicherung einen Einnahmeausfall von rund 10 Milliarden DM pro Jahr; ganz zu schweigen von den sonstigen Ausfällen an Steuern und Abgaben. Wenn es allerdings - Herr Bundeskanzler, dies sage ich mit großem Ernst, und Sie werden uns an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, dieses Problem anzugehen - Kräfte in unserer Gesellschaft geben sollte, die darauf spekulieren, die Finanzprobleme, die hier anstehen, durch mehr Inflation zu lösen, dann muß diesen Kräften rechtzeitig eine klare, unmißverständliche Absage erteilt werden.
({17})
Denn dies wäre zwar möglicherweise für den Augenblick das Leichteste. Wir haben ja oft von dem süßen Gift der Inflation gesprochen. Aber es würde die Probleme und den Problemstau nur in unerträglicher Weise verstärken, vor sich herschieben.
Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit sollten uns Lehre genug sein. Ich würde unsere wirtschafts- und finanzpolitischen Kollegen sehr bitten, bei diesem Aspekt das wahrzumachen, was ich von der Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik bis zur Familienpolitik angesprochen habe: daß wir bei der Frage der Mehrwertsteuer auch diesen Aspekt sehen müssen, weil er auch hier Rückwirkungen hat, über die wir nicht einfach hinweggehen dürfen.
({18})
Man hätte erwarten können und müssen, daß diese Zusammenhänge in der Regierungserklärung dargestellt werden, weil sie in der Tat die Hauptursache der Probleme in der Rentenversicherung sind. Hier muß deshalb auch angesetzt werden. Statt dessen versucht man, in der Rentenreform von 1972 einen „Schwarzen Peter" zu finden. Dazu kann ich
nur folgendes sagen. Der Herr Bundesarbeitsminister Arendt hat am 4. September 1972 betont - Zitat -:
Aktualisierte Berechnungen haben ergeben, daß es möglich ist, sowohl das Rentenreformprogramm der Bundesregierung wie auch die Anpassung zum 1. 7. 1972 anstelle des 1. 1. 1973 zu verwirklichen.
Der damalige Bundesfinanzminister und heutige Bundeskanzler hat damals zugleich - ich vermute, ungewollt - den Hauptgrund für die derzeitige Rentenmisere genannt, als Herr Schmidt am 22. September 1972 vor dem Deutschen Bundestag erklärte - als damaliger Finanzminister -:
daß unsere gestrigen Rentenbeschlüsse .. in Zukunft nur dann finanziert sein werden, wenn Sozialdemokraten bis 1985 für kontinuierliche Vollbeschäftigung in diesem Lande sorgen und Hört! Hört! bei der CDU/CSU)
Nur dann sind sie finanziert. Aber sie werden
finanziert sein, denn wir werden dafür sorgen.
({19})
So Herr Finanzminister Schmidt, damals.
({20})
Was dem folgte, war in einer leidvollen Phase deutscher Innenpolitik Verschleierung, Schönfärberei und Flickschusterei -, wobei wir den Namen „Flickschusterei" einem Kollegen der FDP verdanken. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, daß er dieses sein eigenes Werk so nannte.
({21})
Was Sie noch vor vier Wochen in der Regierungserklärung, die ja eigentlich wirklich nicht für vier Wochen, sondern für vier Jahre gelten sollte - der Meinung waren wir damals; heute sehen wir das natürlich ganz anders, unter dem Eindruck dieser letzten Wochen -, was Sie im Dezember noch als endgültig entschiedenes, sozial ausgewogenes und ausreichendes Regierungskonzept bis 1980 verkündet haben, ist seitdem immer wieder Gegenstand von neuen Koalitionsverhandlungen. Es ist ja für alle bedrückend gewesen, jeden Abend diese Nachrichten zu sehen und zu hören. Wie ich nun erfahren habe: Graf Lambsdorff war gestern so freundlich, im „Morgen-Magazin" zu sagen „Natürlich ist das nicht zu Ende, das wird selbstverständlich weitergeführt werden". Nun schön, und wir hören jetzt intern, die nächste Koalitionsrunde, das nächste Koalitionsgespräch über das, worüber wir heute sprechen, fängt am nächsten Montag an und wird am Montag weitergeführt. Meine Damen und Herren, das ist eben das Ergebnis der Flickschusterei, mit der Sie hier anfangen zu arbeiten.
({22})
Herr Bundeskanzler, haben Sie eigentlich kein Gespür und kein Gefühl dafür, daß dies eine Zumutung ist für dieses Haus, für die Opposition, aber noch mehr für die Menschen draußen im Lande? Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, nach Ihrer gestrigen Einlassung muß ich sagen: nein, Sie haben überhaupt kein Gespür dafür, daß dies so nicht geht.
({23})
Meine Damen und Herren, unser Angebot, an der Lösung der schwierigen aufgestauten Probleme mitzuwirken, liegt Ihnen seit August 1975 vor;
({24})
wir haben dies damals hier im Hause wiederholt angesprochen. Damals haben Sie in dem Stil „Wir brauchen keine Opposition" dieses Angebot ausgeschlagen. Sogar im Wahlkampf haben wir auf die finanzielle Situation der Rentenversicherung hingewiesen und damit der Regierung - was für eine Oppositionspartei weiß Gott nicht leicht ist - die Chance gegeben, dieses Thema im Wahlkampf positiv aufzugreifen. Sie haben diese Chance nicht genutzt. Die Oppostion ist dabei an die äußerste Grenze dessen gegangen, was in einem Wahlkampf möglich ist. Wir sagten: Es gibt Probleme. Die Regierung bezichtigte uns daraufhin der Panikmache und Schwarzmalerei. Der Bundeskanzler sah noch zwei Tage vor der Wahl allenfalls „Problemchen". Meine Damen und Herren, und dann erwarten Sie von uns, daß wir Probleme lösen, von denen Sie behaupten, sie gebe es überhaupt nicht! Meine Damen und Herren, so eine Opposition können Sie überhaupt nicht kriegen!
({25})
Aus all dem folgt: Wir lehnen es ab, durch Beteiligung an leeren Formelkompromissen mitverantwortlich zu werden.
({26})
Die Politik der Flickschusterei muß ein Ende haben. Was sind denn die Nachrichten, die Sie uns permanent geben?
({27})
- Ja, wenn Sie sich darüber nicht aufregen, dann, muß ich sagen, wundere ich mich. Ich rege mich in der Tat darüber auf, wie man in dieser Frage mit uns und dem deutschen Volke umgeht. Das ist allerdings bedauernswert.
({28})
Was für eine Flickschusterei! Da wird einmal die Rezeptgebühr für Rentner von sage und schreibe 3,50 DM als wesentlicher Bestandteil der Koalitionsvereinbarungen bezeichnet; aus der SPD hört man gleichzeitig, in dieser Frage sei überhaupt noch nicht entschieden und in dieser Form auch noch nicht. Da erklärt der Bundeskanzler: Es wird kein Krankenversicherungsbeitrag für Rentner eingeführt; die Beitragssätze , zur Rentenversicherung bleiben unverändert. Im Gegensatz dazu wird von der FDP die Beteiligung der Rentner an der Krankenversicherung ins Gespräch gebracht, und vom neuen Arbeitsminister wird - so in der „FAZ" vom 22. Dezember 1976 - auch eine Erhöhung der Rentenbeiträge nicht ausgeschlossen.
Wie diese Widersprüche in der Regierungskoalition schließlich aufgelöst werden, bleibt bis zur Stunde ein völliges Geheimnis. Aber selbst in den Kernpunkten der bisher vorliegenden Pläne ist vieles unklar und kann so von uns nicht akzeptiert werden.
Deshalb fragen wir die Bundesregierung: Warum weigert sie sich, die von der Rentenversicherung gestundeten Zuschüsse in Höhe von 9 Milliarden DM zurückzuzahlen,
({29})
obwohl Sie, Herr Bundeskanzler, doch in einer Betriebsversammlung vor der Belegschaft der Opel-Werke in Rüsselsheim am 23. März 1976 zur Frage der Bundeszuschüsse - von denen Sie dann sagen, das sei eine Einrichtung der Union - folgendes ausgeführt haben - ich zitiere -:
Da gab es in den 60er Jahren einen Arbeitsminister, der hieß Katzer, und der andere, der Finanzminister, hieß Strauß. Die haben angefangen, sich bei der Rentenversicherung Geld zu leihen, und damit nun die Skeptiker endlich aufhören, darüber sich aufzuregen, will ich das nun mal laut und deutlich sagen. Der Arbeitsminister Arendt
- damals noch und der Finanzminister Apel und der Bundeskanzler Schmidt sind sich darüber einig, daß für den theoretischen Fall - von dem ich weiß, der tritt gar nicht ein -,
({30})
- ich zitiere aber für den theoretischen Fall ich hier heute schon versichern darf,
({31})
sind wir darauf vorbereitet von Staats wegen, die Schulden sofort bar an die Rentenversicherung zurückzuzahlen ...
Meine Damen und Herren, das ist ein stolzes Wort. Nehmen Sie 9 Milliarden DM bar in die Hand, zahlen Sie sie zurück, dann sind wir eine Sorge in der Rentenversicherung los!
({32})
Glaubt die Bundesregierung wirklich ernsthaft, mit der Verschiebung von 30 Milliarden DM von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung eine dauerhafte Lösung des Problems erreichen zu können? Abgesehen davon, daß die Krankenversicherungsbeiträge weiter werden steigen müssen, führt die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze zu einer drastischen Belastung der Facharbeiter und der mittleren Einkommensbezieher. Meine Damen und Herren, es ist doch Augenauswischerei, wenn es auf der einen Seite heißt „Wir wollen die Beiträge der Rentenversicherung nicht erhöhen", auf der anderen Seite aber über die Krankenversicherung die Versicherungsträger zu Erhöhungen gezwungen werden. Betroffen werden doch die Aufsteiger, betroffen wird der Facharbeiter, betroffen werden die Leute der mittleren Einkommensschichten.
Ich bekomme in den letzten 14 Tagen pro Tag an die 200 Briefe.
({33})
- Ja, das weiß ich haarscharf. Das sind zum Teil 5 000 Unterschriften. Die haben das letzte Mal SPD gewählt, da können Sie sicher sein! Die sind das leid, vollkommen leid!
({34})
So werden sich z. B. die Höchstbeiträge der Krankenversicherung gegenüber 1969 am 1. Juli dieses Jahres schließlich vervierfacht haben.
Der gravierendste Eingriff ist für 1979 und 1980 geplant. Die laufenden Renten sollen dann nicht mehr bruttolohnbezogen, sondern nettolohnbezogen angepaßt werden. Ich glaube, wenn unser Freund Schellenberg noch hier säße, er hätte das nicht mitgemacht. Lediglich die Berechnungsgrundlage für die erste Rente soll sich noch an der Bruttolohnentwicklung orientieren.
Wie man es angesichts dieser Handhabung vermeiden will, daß zwei Arbeitnehmer, die zu unterschiedlichen Zeiten in Rente gehen, aber in ihrem Erwerbsleben die gleichen Leistungen erbracht haben, dann unterschiedliche Beträge erhalten, bleibt mir völlig unerklärlich.
Herr Kollege Gansel, ich hörte Sie zufällig vorgestern im Dritten Programm des Westdeutschen Fernsehens, wo Sie dafür plädierten, die kleinsten Renten anzuheben. Ich kann nur sagen: Wenn Sie das wahrmachen wollen, was Sie im Fernsehen gesagt haben, können Sie einer Nettolohnberechnung in diesem Hause nicht Ihre Zustimmung geben; denn dies trifft genau die kleinen Rentner, die Sie angeblich schützen wollen.
({35})
Meine Damen und Herren, wir wollen doch redlich miteinander umgehen. Es geht nicht, daß Sie sich draußen im Lande als Retter der kleinen Rentner aufspielen und hier mit Ihren Beschlüssen dazu beitragen, daß genau das Gegenteil von dem passiert, was Sie dem staunenden Publikum draußen im Lande per Fernsehen verkünden.
({36})
Es ist doch ganz logisch - das brauche ich Ihnen auch nicht zu sagen -, daß mit der Nettoanpassung vor allem die kleinen Renten betroffen werden; denn das Prinzip der steuerlichen Gerechtigkeit, wonach die unteren Einkommensgruppen von der Belastung mit Steuern und Beiträgen möglichst freigehalten werden, ist dann nicht mehr wirksam.
Herr Bundeskanzler, die Diskussion mit Herrn Eppler über das, was er in der Fernsehsendung sagte, die wir alle gesehen haben, sollten Sie mit ihm selbst führen. Bei dieser Sendung hat mich eigentlich weniger der Inhalt als vielmehr die Süffisanz gestört, mit der er die Lernfähigkeit des Bundeskanzlers angesprochen hat. In derselben Sendung hat Herr Eppler davon gesprochen, daß wir
eine Sockelrente einführen müßten. Meine Damen und Herren, es muß aufhören, daß Sie draußen im Lande so tun, wie wenn Sie das machen wollten, und hier mit Ihren Beschlüssen das Gegenteil vorbereiten. Das ist keine redliche Politik. Und wenn, meine Damen und Herren, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium in einem Kompendium, das der Fraktion vor der Weihnachtspause offenbar als Sprachregelung zugesandt wurde, behauptet „Das System der bruttolohnbezogenen Rente bleibt erhalten", dann ist dies doch - damit mag sich Ihre Fraktion auseinandersetzen ({37})
ein unerträglicher Umgang mit der Wahrheit. ({38})
Meine Damen und Herren, ein weiterer wesentlicher Punkt der Rentenvereinbarung der Koalition ist die Veränderung der Rücklagevorschriften. Ganz unabhängig von der Frage, ob diese Maßnahme kurzfristig überhaupt durchführbar ist - da gibt es, wie Sie wissen, erhebliche Zweifel -, wird sie hinsichtlich ihrer praktischen Auswirkungen vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger einer - wie ich glaube, zu Recht - scharfen Kritik unterzogen. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger sagt:
Auch längerfristig ist es deshalb nicht zu verantworten, die Rentenversicherung auf ein Rücklagevermögen von einer Monatsausgabe zu beschränken. Sie ist kaum ausreichend, um normale Einnahme- und Ausgabeschwankungen während des Jahres auszugleichen. Bereits bei geringsten Konjunkturschwankungen führt eine Ein-Monats-Rücklage mit Sicherheit zu erheblichen Finanzierungsproblemen. Die Rentenversicherung gerät über die Bundesgarantie in eine enge Abhängigkeit vom Bundeshaushalt.
Daß diese Gefahren selbst in der Koalition gesehen werden, zeigen die Äußerungen des FDP-Fraktionsvorsitzenden, unseres Kollegen Mischnick, der, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege Mischnick, das Abschmelzen der Rücklagen nur als eine vorübergehende Maßnahme ansieht. Demgegenüber sagt der neue Bundesarbeitsminister in einer seiner ersten Äußerungen, er halte die Rücklage von drei Monaten von vornherein für einen Systemfehler. Wenn ich dies dann mit den jüngsten Beschlüssen im Bereich der Arbeitslosenversicherung vergleiche, mit denen die berufliche Rehabilitation aus dem Aufgabenbereich der Rentenversicherungsträger herausgelöst und der Arbeitslosenversicherung zugeordnet wird, werde ich den Verdacht nicht los, daß dies gewollt ist und Sie die Gelegenheit benutzen, um Ihr Traumziel, die Schaffung einer Einheitsversicherung, hintenherum zu verwirklichen. Dem werden wir entschiedenen Widerstand entgegensetzen, meine verehrten Damen und Herren.
({39})
Die Union hat ihre Positionen in dieser Auseinandersetzung nie im unklaren gelassen. Ich darf sie charakterisieren. Die Politik der Regierung läuft auf
eine allmähliche Ausplünderung unseres Systems der sozialen Sicherung hinaus:
({40})
Wenn die Kasse der Rentenversicherung nicht mehr stimmt, dann plündern Sie die Krankenkasse,
({41})
wenn dort nichts mehr zu holen ist, dann gehen Sie zur Arbeitslosenversicherung, und wenn da nichts mehr zu holen ist, dann gehen Sie zu den Kommunen. Über die Sozialhilfe holen Sie es dem Steuerzahler aus der Tasche. Das ist der Kreislauf, den Sie hier praktizieren, meine Damen und Herren von der Koalition.
({42})
Meine Damen und Herren, aus diesem Teufelskreis müssen wir heraus.
({43})
- Sie kommen ja nachher dran. - Dazu aber brauchen wir keine alternativen Einzelmaßnahmen zu Ihrem Flickwerk, sondern wir brauchen eine andere, eine neue Politik
({44})
mit einer klaren ordnungspolitischen Konzeption.
({45})
Bis heute fehlt für eine solche Politik, die Vertrauen schafft, von Ihrer Seite jede Voraussetzung. Deshalb lautet unsere erste Forderung: Wir brauchen endlich klares Zahlenmaterial. Herr Bundeskanzler, was muten Sie uns eigentlich zu! Bis zu dieser Stunde fehlt uns jedes Zahlenmaterial. Sie haben uns, was die Zahlen angeht, auf den nächsten Rentenanpassungsbericht vertröstet. Ich stelle fest: Wir haben bis zur Stunde nur das Zahlenmaterial des Verbandes der Rentenversicherungsträger vorliegen und kennen im übrigen nur die Zahlen, die wir über Presse und Rundfunk erfahren. Ich nenne dies einen Skandal. Sie fragen uns: Wo ist Ihre Alternative? Ich sage Ihnen: Legen Sie uns erst einmal die Zahlen auf den Tisch, damit wir Alternativen entwickeln können, denn ohne Zahlen geht das nicht.
({46})
Unsere Alternativen sind doch ganz unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um ein Minus von 70 Milliarden, 80 Milliarden, 90 Milliarden oder 100 Milliarden DM handelt. Sie sind sich doch im Augenblick selbst nicht im klaren darüber, wie hoch das Defizit in Wahrheit eigentlich ist. Dies ist das erste. Wir arbeiten mit einem Taschenrechner, während Ihnen Tausende von Beamten zur Verfügung stehen. Diese Beamten sollten nicht nur für die Regierung arbeiten, sondern auch dafür eingesetzt werden, daß die Opposition in die Lage versetzt wird, Ihnen saubere, solide Alternativen auf der Grundlage eines gesicherten Rechenwerkes vorzulegen. Wir werden das gern tun.
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Ein zweites. Herr Arbeitsminister, lassen Sie mich ein Wort zu den Beamten Ihres Hauses sagen, die ja jetzt zu „Sündenböcken" für die Rentenmisere gestempelt werden. Ich kenne die Herren ja
fast alle aus meiner Amtszeit. Es sind gute, solide und zuverlässige Mitarbeiter. Sie rechnen das aus, was die Politiker ihnen auszurechnen aufgeben. Nein, meine Damen und Herren, Sie können nicht die Mathematiker aus dem Arbeitsministerium für die Rentenmisere verantwortlich machen. Das wäre zu einfach und zu bequem. Die Verantwortung müssen Sie schon selbst übernehmen.
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Als weitere Voraussetzung fordern wir die Vorlage eines umfassenden und geschlossenen Konzepts und die Vorlage alternativer Berechnungen, die - ich zitiere aus § 9 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums in der Wirtschaft -„Umfang und Zusammensetzung der voraussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens darstellen".
Unter Berufung auf das Stabilitätsgesetz und auf § 50 des Gesetzes über die Grundsätze das Haushaltsrechts des Bundes und der Länder, wonach in einem anderen Zusammenhang die gesetzgebenden Körperschaften von der Regierung die Vorlage von Alternativrechnungen verlangen können, fordere ich Sie hiermit auf, zusammen mit dem seit Oktober überfälligen Rentenanpassungsbericht Berechnungen darüber vorzulegen, welches Ausmaß und welche Auswirkungen Ihre Vorschläge und die vom Sozialbeirat in seinem Gutachten zum Rentenanpassungsbericht 1976 sowie die vom Sachverständigenrat und vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger zur Diskussion gestellten Möglichkeiten haben werden. Dies ist keine formale Angelegenheit. Es ist die prinzipielle Frage der Qualität von Politik, die den Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Haushaltsreform bewogen hat, diese „Bestimmung zur Verbesserung der Beurteilungsmöglichkeiten" festzulegen. Dies war im übrigen der Kommentar des ehemaligen Finanzministers Alex Möller.
Meine Damen und Herren, damit habe ich den Rahmen abgesteckt, unter welchen Bedingungen eine Beteiligung der Opposition an der Lösung der Probleme sinnvoll erscheint. Wir meinen, daß wir vor allem aus diesem Hickhack herauskommen müssen. Dies wird nur dann möglich sein, wenn wir uns uneingeschränkt und konsequent auf die bewährten Grundsätze der bruttolohnbezogenen, dynamischen, einkommens- und beitragsgerechten Rente mit ihrer Lohnersatzfunktion besinnen, so wie wir sie im Jahre 1957 unter Konrad Adenauer und Anton Storch in diesem Hause eingeführt haben.
({49})
Dies bedeutet, daß wir daran festhalten, daß den Arbeitnehmern im Alter der erarbeitete Lebensstandard erhalten bleibt und sie darüber hinaus an der Steigerung des wirtschaftlichen Leistungsvermögens Anteil haben. Dies bedeutet schließlich ferner, daß die eigene Leistung und nicht ein willkürlich bestimmter politischer Maßstab wie bei der Nettoberechnung in Zukunft über die Rentenhöhe bestimmt, wie das der Fall wäre, wenn man einmal von diesem klaren ordnungspolitisch sauberen Weg abgeht. Auch das bringt Belastungen - das verschweigen wir überhaupt nicht -, aber diese sind sozial gerechter als alles das, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat, und wo sie in einem Zickzackkurs, um Löcher zu stopfen, andere Löcher aufreißt. Dies ist - und begreifen Sie dies als ein Angebot im Hause und für das, was im Bundesrat geschieht - unsere Alternative.
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- Ja, das werden wir tun, Herr Kollege. - Dies ist unsere Alternative. Diese Alternative ist, anders als der Wechsel von der brutto- zur nettolohnbezogenen Rente, in der Lage, das verlorengegangene Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung wieder herzustellen, denn dies, meine Damen und Herren, ist eine ehrliche Lösung.
({51})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Sund.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich frage: Wollen wir eigentlich diese Debatte so fortsetzen, wie sie hier heute morgen begonnen hat?
({0})
- Amüsieren Sie sich! - Wem soll das eigentlich nützen?
({1})
- Hier ist so oft in diesen Tagen gesagt worden, daß diese oder jene Ermahnung auch für denjenigen gesprochen wird, der selbst diese Ermahnung anbringt. So miteinander umzugehen
({2})
und Politik zu Polemik verkommen zu lassen, ich glaube, das hilft hier nicht weiter.
({3})
Ich meine, wir sollten hier nicht Diskussionsmechanismen in Gang setzen, von denen wir nur ahnen können, wohin sie führen, wo solche Diskussionsmechanismen enden. Es geht doch nicht darum, hier Positionen aufzubauen, hier Scheinangebote zu machen, die auf den Versuch hinauslaufen, seine Position als eine glaubwürdige, als eine alternative, als eine Gegenposition darzustellen, während man in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts hat.
({4})
Hier ist doch nicht eine neue Politik, wie angekündigt, angeboten worden. Ihre neue Politik und das Angebot dazu bestand doch in nichts anderem,
({5})
als daß Sie alternative Berechnungen im Rentenbericht gefordert haben, und die haben Sie seit dem vergangenen Jahr.
({6})
Herr Kollege Katzer, es geht nicht um Zahlenspiele - so haben Sie gesagt -, es geht um Menschen. In der Tat, aber das ist doch der Inhalt unserer Politik.
({7})
- Ich bin ja nicht mehr ganz neu in diesem Haus, aber ich muß Ihnen offen gestehen, die Art und Weise, wie Sie hier reagieren, finde ich nicht in Ordnung.
({8})
Merken Sie denn nicht, daß der Versuch unternommen wird, hier über Probleme wirklich sachlich und nicht in einer Art und Weise zu reden,
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die nur noch als Demagogie bezeichnet werden kann?
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Meine Damen und Herren, Sie sprechen hier von „Täuschungsmanövern". Herr Kollege Kohl, ich denke an den Wahlkampf, ich denke an die „Sozialgarantie". Schieben wir doch nicht gegenseitig den Schwarzen Peter hin und her. Das ist doch die Quelle für den Überdruß von Bürgern, und nichts anderes.
({11})
Herr Kollege Katzer, es gibt sicherlich - hier dürfen Sie nicht künstlich ein Mißverständnis aufbauen - einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik. Aber die Sozialpolitik hat eigene Ziele, und sie ist keine bloße Funktion der Wirtschaftspolitik. Das hat Walter Arendt immer betont, und das ist auch die Position der Sozialdemokraten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammenhang sprechen.
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Bitte, fahren Sie fort.
Die Bundesregierung, sagten Sie, habe die Arbeitslosigkeit verharmlost. Sozialdemokraten, Herr Kollege Katzer, wissen, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Warum wollen wir denn ein Recht auf Arbeit? Das erreichen wir aber nicht mit plakativen Forderungen, sondern durch eine mühsame und
praktische Politik, in der es darum geht, Zug um Zug die Vollbeschäftigung herzustellen, und dies unter Bedingungen, die nicht einfach sind. Das wissen Sie so gut wie wir.
({0})
Angebote zur Zusammenarbeit! Wir haben Angebote zur Zusammenarbeit nie ausgeschlagen. Wir prüfen alles, was vernünftig und was ernsthaft gemeint ist; aber nur dies. Warum müssen denn Angebote, wenn Sie sie machen, gewissermaßen im Ton einer Drohung vorgetragen werden?
Ich meine, daß es nicht gut ist, wenn man hier so tut, als ob die bruttolohnbezogene Rente und die Lohnersatzfunktion der Rente in Zweifel gezogen würden. Sie tun so, als würfen wir dies alles in den Orkus. Sie wissen doch, daß das eine gemeinsame Grundlage ist. Warum sagen Sie das denn nicht?
({1})
Ich meine, die Bundesregierung hat ein Programm zur Konsolidierung der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung vorgelegt,
({2})
mit dem die sozialpolitisch notwendigen Konsequenzen aus der weltwirtschaftlichen Situation und aus den schon lange spürbaren strukturellen Schwächen des Gesundheitswesens gezogen werden. Das Programm ist so angelegt, daß es nicht zu unvertretbaren sozialen Härten kommen wird. Die nicht zu vermeidenden Lasten werden gerecht auf Rentner, auf Arbeitnehmer, auf Arbeitgeber und auf die Anbieter von Gesundheitsleistungen verteilt. Allerdings wird nach Verwirklichung des Programms jeder Bürger feststellen können, daß sein schon erreichter Einkommensstandard gewährleistet bleibt. Hier geht es um das Ausmaß künftiger Steigerungen. Dieses Konsolidierungsprogramm bietet eine praktische Chance zur Zusammenarbeit aller Parteien bei der erforderlichen Lösung der Aufgaben, vor denen die Sozialpolitik steht.
Die mögliche Zusammenarbeit aber - ich finde, darauf sollten wir uns wirklich verständigen können - gebietet Sachlichkeit. Daran sollten sich auch die gesellschaftlichen Gruppen und deren Verbände beteiligen. Ein solches Vorgehen dient der Sache eher, als wenn Verbandsspitzen Protestaktionen einleiten und steuern, bei denen das Argument durch den undifferenzierten und einseitigen Angriff ersetzt wird, der lediglich das Klima der Auseinandersetzung aufrauht und das notwendige Gespräch belastet. Sie, Herr Kollege Katzer, haben hier von den Serien von Briefen gesprochen. Sie wissen inzwischen auch, daß es sich hierbei um Aktionen handelt, die aus einer bestimmten Interessenposition heraus systematisch und mit exakten Handlungsanweisungen versehen gesteuert sind.
({3})
- Das wissen doch auch Sie. Warum führen Sie das hier denn so in die Diskussion ein?
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Es kann dabei nicht angehen, daß die Verbände die Probleme und Lösungsvorschläge nur aus einem, nämlich aus ihrem besonderen Gesichtswinkel sehen und sich nicht auch für andere verantwortlich fühlen wollen. Darum verdienen auch Anregungen und gewiß nicht bequeme Vorschläge der Gewerkschaften besonderen Respekt, die nicht durch die Devise gekennzeichnet waren, nur Leistungen anderer Gruppen zu fordern, sondern die verantwortungsbewußt auch die eigene Beteiligung beinhalteten.
Wir haben unsere soziale Sicherung gemeinsam aufgebaut. Dabei hat es selbstverständlich voneinander abweichende grundsätzliche und aktuelle Positionen gegeben. Die Auffassungsunterschiede sind häufig auch in scharfen Auseinandersetzungen verdeutlicht worden. Das Ergebnis ist jedoch ein System sozialer Sicherheit, das trotz seiner Mängel, die noch immer vorhanden sind, Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Im Gegenteil, wir haben ein wesentliches Stück des Sozialstaatsgebots unserer Verfassung verwirklicht.
Die Bundesrepublik war in der Vergangenheit und ist auch noch heute ökonomischen Belastungen ausgesetzt und wird ihnen in Zukunft ausgesetzt sein, die weder von der Bundesregierung und dem Bundesgesetzgeber, gleich, welcher politischen Herkunft er auch immer wäre, noch von Landesregierungen, noch von den Gewerkschaften, noch von den Unternehmern voll steuerbar sind.
Das weltweite Absacken der Konjunktur hat deutliche Spuren in die Finanzlage der Sozialversicherungsträger eingegraben. Statt konkrete Lösungsalternativen zu entwickeln, haben die Oppositionsparteien versucht, allein die Bundesregierung für die schwierige Wirtschaftslage verantwortlich zu machen. Eine richtige und gebotene antizyklische Haushaltspolitik wurde unter dem Stichwort „Staatsverschuldung" in Mißkredit gebracht. Obwohl die Opposition, ausgehend von den gleichen Daten wie wir, allen Rentengesetzen der vergangenen Jahre zugestimmt hat, pendelt sie zwischen Sozialgarantie und Rentenhysterie.
Unsere Probleme sind gemeinsame Probleme; Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, meine Damen und Herren von der Opposition. Sie haben alle Entscheidungen in der Rentenversicherung genauso und auf den gleichen Grundlagen vollzogen wie wir. Sie können sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen.
({5}) Und die Probleme sind nicht erstmalig.
Erinnern wir uns: Bundesregierung und Parlament standen schon einmal vor der notwendigen Aufgabe, durch ein unabweisbares Konsolidierungsprogramm im Sozialbereich ihre Folgerungen aus einer rezessiven Entwicklung zu ziehen, Damals, ab 1966, haben wir Sozialdemokraten daran mitgewirkt, ein Programm zur Absicherung des sozialen Leistungsgefüges zu entwickeln und mitzutragen. Instrument war das Finanzänderungsgesetz 1967, durch das damals in 20 Artikeln 36 Bundesgesetze geändert worden sind. Ein Großteil dieser Änderungen bzw. Einsparungen bezog sich auf die soziale Sicherheit im weiteren Sinn, z. B. auch auf das Kindergeld, die Kriegsopferversorgung und das Wohngeld, vornehmlich aber auf die Sozialversicherung.
Ich erinnere daran: Um den Bundeshaushalt zu entlasten, wurden vor allem die Mutterschaftshilfe in der Krankenversicherung und die Bundeszuschüsse in der Rentenversicherung gekürzt. Diese Kürzungen mußten weitergegeben werden und führten u. a. in der Rentenversicherung zu einer Erhöhung des Beitragssatzes. Die heutigen Beitragssätze mit ihren Steigerungen bis auf 18 % stammen doch aus dieser Operation. Das werfen wir niemandem vor. Das soll hier nur festgehalten werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth?
Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammenhang 'vortragen.
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, daß wir in dieser Zeit nicht nur die Erhöhung der Beiträge in der Rentenversicherung hinzunehmen hatten. Es wurde auch die Beitragsbemessungsgrenze erhöht. Weiter kamen hinzu: Wegfall der Versicherungspflichtgrenze für die Angestellten, Arbeitgeberbeitrag für beschäftigte Rentner, Fortfall der Heiratserstattung, die sogenannte Abschmelzung in der knappschaftlichen Rentenversicherung, ein Rentnerbeitrag zur Krankenversicherung, Erhöhung der Rezeptblattgebühr. Alles in allem wurde damals ein Konsolidierungsprogramm abgewickelt, das, wenn man die damaligen und die jetzigen Gesamtausgaben der Sozialversicherung als Maßstab heranzieht, ein wesentlich größeres Volumen als das jetzt anstehende Programm hatte.
({1})
Das Konsolidierungsprogramm, das wir heute durchführen müssen, bricht nicht mit der Sozialpolitik seit 1969. Die sozialen Reformen der Koalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten stehen nicht zur Disposition.
Die Weltwirtschaftskrise hatte nachhaltige Folgen für die Finanzentwicklung der Rentenversicherung. Es gab und es gibt Beitragsausfälle infolge von Arbeitslosigkeit und Wegfall von Überstunden. Rezessionsbedingt haben viele Arbeiter und Angestellte von der Möglichkeit Gebrauch machen können, vorzeitig Rente zu beanspruchen. Dazu kommt das vorübergehende starke Ansteigen des Rentenniveaus wegen des Zusammentreffens hoher Rentenerhöhungen mit geringeren Lohnzuwächsen.
Diese konjunkturellen Faktoren folgen wie schon in der Rezession 1966/67 zum großen Teil mit einer zeitlichen Verzögerung dem Ablauf der Konjunktur. Hinzu kommen die Auswirkungen des sogenannten Rentenbergs und vor allem der starken Kostensteigerungen im Gesundheitswesen, die über die Zahlung zur Krankenversicherung der Rentner auf die Rentenversicherung durchschlagen.
Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition: Solche sachlichen Zusammenhänge sich vor Augen zu führen, ist sicher nicht so zündend wie eine Rede, die in der Tat nichts anderes versucht, als aus schwierigen Problemen der Sozialpolitik ein Melodrama zu entwickeln.
({2})
Wir haben keine überstürzte und keine überzogene Reaktion auf die Entwicklung gewollt. Verfrühte Eingriffe auf der Beitrags- und Leistungsseite wären zudem konjunkturpolitisch völlig verfehlt gewesen. Daher war es richtig, zunächst auf die Rücklagen zurückzugreifen.
Dazu gab es bis zum Sommer 1976 Anlaß zu optimistischeren Annahmen über die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Darin wurden wir von den Wirtschaftssachverständigen bestärkt.
({3})
Darauf gründete sich die Zusage von SPD und FDP, die Renten zum 1. Juli 1977 um 10 0/o zu erhöhen. Auch Sie haben sich auf der gleichen Grundlage der gleichen Daten zu dieser Rentenerhöhung bekannt.
({4})
Ich betone: Sie haben hier genauso und auf der gleichen Grundlage entschieden.
Im übrigen haben weder die Regierung noch die Koalitionsparteien in Abrede gestellt, daß zu einem späteren Zeitpunkt Maßnahmen erforderlich sein können. Vor allem wurde klar in Aussicht gestellt, daß die sogenannten Überzahlungen in der Krankenversicherung der Rentner beseitigt werden müssen, wie es bereits ein Gesetzentwurf der Bundesregierung aus dem Jahr 1974 vorsah. Die Beseitigung der Überzahlung wurde aber vom Bundestag nicht beschlossen, weil es uns geboten erschien, sie durch ein umfassendes Programm zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen zu flankieren.
Jetzt zeigt sich ganz deutlich, daß die Weltwirtschaftskrise sich viel nachhaltiger auf die Finanzentwicklung der Rentenversicherung auswirken wird,
({5})
als noch vor Monaten unterstellt werden konnte. Der wirtschaftliche Aufschwung verläuft ruhiger, als erwartet.
({6})
Trotz fortdauernden Wirtschaftswachstums ist die Zahl der Arbeitslosen mit derzeit rund 1 Million noch immer zu hoch.
({7})
Die Erwartungen der Sachverständigen im In- und Ausland über die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre sind zurückhaltender geworden. Ursachen dafür sind vor allem rezessive Tendenzen und zunehmende Zahlungsbilanzprobleme in wichtigen Partnerländern unserer Wirtschaft. Dazu bedarf es doch keines weiteren Beweises.
Obwohl langfristige Vorausberechnungen immer auf tönernen Füßen stehen, ergab sich für die Koalition auf Grund der neuesten Daten eine neue Situation. Sie hat sich deshalb sowohl in der mittelfristigen Finanzplanung als auch bei den langfristigen Vorausberechnungen für die Rentenversicherung entschieden, von zurückhaltenden wirtschaftlichen Annahmen auszugehen. Darin steckt ein Stück Vorsicht und Vorsorge.
({8})
Wir werden aber alle Kraft darauf verwenden, diese positiven Annahmen nicht als Ziele unserer Wirtschaftspolitik hinzunehmen, sondern bessere Ergebnisse zu erreichen.
({9})
Das gilt vor allem für die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung; sie bleibt vorrangiges Ziel.
Woher kommt die Unsicherheit in der öffentlichen Diskussion, und was haben wir zu lernen? Da wird mit Milliarden-Defiziten hausiert. Dem Bürger muß angst und bange werden. In Wirklichkeit aber handelt es sich um veränderte Annahmen für die Rechnung künftiger Jahre. Nun kann niemand in die Zukunft schauen. Wir können alle miteinander keine sicheren Prognosen abgeben. Wir können nur, wie wir uns selber gesetzlich vorgeschrieben haben, mit geschätzten Annahmen rechnen. Diese Annahmen können sich als falsch erweisen. Darum können sich auch die finanziellen Perspektiven der Rentenversicherung sehr schnell ändern, so wie z. B. die im Sommer 1972 vom Kollegen Katzer errechneten Überschüsse von 200 Milliarden DM binnen 15 Monaten durch die Ölpreiskrise zur Makulatur geworden waren.
({10})
In der 15-Jahresrechnung - das sollte man sich vor Augen halten - verursacht eine Veränderung der Einkommensannahmen um ein Prozent eine Differenz von plus/minus 30 Milliarden DM für die Rentenversicherung. Das können Sie auch nachlesen in den Alternativrechnungen des Rentenberichtes 1976, der in diesem Zusammenhang überhaupt ein lesenswertes Dokument ist.
({11})
Wenn wir nunmehr in unserer mittelfristigen Finanzplanung wie auch in den Rentenberechnungen von anderen Voraussetzungen als noch bei der Verabschiedung des 19. Rentenanpassungsgesetzes ausgehen, so nicht deshalb, weil nun - im Gegensatz zu den früher „falschen" Zahlen - die „richtigen" Zahlen auf den Tisch gelegt worden wären. Die Kenntnis der Rechnungsmethoden und der jeweils letzten Kassenergebnisse der Rentenversicherungs242
träger war jedem, der sich sachkundig machen wollte, auch der Opposition, jederzeit zugänglich.
({12})
Geheimnisse, die man erst durch einen Kassensturz, wie Sie sagen, hätte aufdecken können, hat es nie gegeben und wird es auch nicht geben. Alle Differenzen, die es in diesem Zusammenhang gegeben hat und die es weiterhin geben wird, haben ihre Ursache in verschiedenen Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung. Und Streit über Annahmen wird stets möglich sein.
Ein anderes kommt hinzu: Es ändern sich auch die Erfahrungswerte über die Lebenserwartung, und es ändern sich die Daten über die Zusammensetzung der Rentner. Jeder kann sich vorstellen, daß das nicht ohne Einfluß auf künftige Ausgaben bleibt. Auch hier sind Änderungen in den Annahmen erfolgt, und zwar auf der Grundlage sorgfältiger Vorbereitung und Abstimmung.
Wer nicht bereit ist, diese Überlegungen und die in ihnen notwendigerweise enthaltenen Risiken mitzuvollziehen, der muß sich fragen lassen, wie er denn solche Rechnungen sicherer machen will. Will er die Lohnentwicklung und die Gewinne, die Produktion, die Preise, die Arbeitsplätze und damit die Freizügigkeit festschreiben? Denn das wäre genau die Konsequenz, die sich derjenige vor Augen führen muß, der meint, er könne Abweichungen in Annahmen und in ihren Rechenergebnissen vermeiden.
Nein, wir sollten vorsorgliche Rechnungen als das nehmen, was sie sind: als Hilfen und Orientierungsmöglichkeiten für politische Entscheidungen und nicht als Veranstaltung zur Verunsicherung der Menschen.
({13})
Niemand darf so tun, als ob Abweichungen in solchen Rechnungen tatsächliche Defizite seien. Wer das macht, ist kein seriöser Diskussionspartner.
({14})
Die Rentenversicherung basiert auf der Solidarität der Generationen. Die jeweils arbeitende Generation muß für die Rentner die Renteneinkommen erwirtschaften, so wie diese für die vorherige Rentnergeneration gebürgt haben. Das bedeutet zugleich, daß alle Renten aus dem laufenden Volkseinkommen geleistet werden müssen. Darum erfolgt die Aufbringung der Mittel durch das Umlageverfahren. Mit Rücklagen können nur Spitzen ausgeglichen werden. Deshalb eröffnet auch jede Steigerung des Volkseinkommens die Möglichkeit der Sicherung und des Ausbaus von Leistungen und wirft jede Stagnation Probleme auf. Weil wir in der gesetzlichen Rentenversicherung ein Umlageverfahren haben, das auf dem Generationenvertrag aufbaut, ist es auch falsch, die Höhe der Rücklagen zu einem Dogma zu erheben. Die Rücklage der Rentenversicherung von gegenwärtig rund 35 Milliarden DM, die im Verlauf der vergangenen Hochkonjunktur angesammelt worden ist, soll zur Finanzierung der künftigen Rentenzahlung bis auf die tatsächlich erforderliche Reserve herangezogen werden.
Dieser Rücklagenabbau ist ein ökonomisch sinnvoller Vorgang. Die Rücklage ist kein Selbstzweck, sondern sie dient geradezu dazu, um bei Bedarf eingesetzt zu werden. Andernfalls wäre sie keine Rücklage, sondern eine letztlich sinnlose Zwangssparkasse. Wir müssen daraus erkennen, daß auch die bisherige Rücklagepraxis gesamtwirtschaftlich nicht immer sinnvoll gewesen ist.
Lassen Sie es mich noch einmal ganz deutlich machen: Die gesetzliche Rentenversicherung beruht eben im Gegensatz zur individuellen privaten Lebensversicherung auf dem Umlageverfahren, und keine noch so große Rücklage kann etwas daran ändern, daß die Rentenzahlungen einzig und allein aus dem laufenden Sozialprodukt, nicht aber aus aufbewahrten Teilen des Sozialprodukts früherer Jahre bestritten werden können.
({15})
Es gibt in diesem Sinne kein volkswirtschaftliches Sparen im Sinne eines Hortens von Vorräten, die dann von späteren Generationen irgendwann verbraucht werden können.
Die bisherige Schwankungsrücklage hat nicht die versprochene antizyklische Wirkung gehabt, weil die - ich betone - rechnerischen Defizite bzw. Überschüsse der Rentenversicherung keineswegs pünktlich im Tiefpunkt bzw. auf dem Höhepunkt der Konjunkturbewegung aufgetreten sind, sondern mit einer störenden zeitlichen Verzögerung.
Hinzu kommt doch, meine Damen und Herren, daß ernsthaft gefragt werden muß, ob den Beitragszahlern höhere Beiträge zugemutet werden können, bevor die Rücklagen in Anspruch genommen worden sind, die sie ja mit ihren Beiträgen aufgebaut haben. Auch die Rentner müssen erwarten können, daß zunächst auf die Rücklagen zurückgegriffen wird, bevor man sich für Änderungen des Leistungsrechts entscheidet. Deshalb ist der allmähliche Abbau der Rücklagen vertretbar. Er wird darüber hinaus einen durchaus positiven, belebenden Einfluß auf die Konsumgüternachfrage und auf den Konjunkturverlauf haben.
Sorgen um die Liquidierbarkeit der Rücklagen sind unbegründet. Man muß nämlich bedenken, daß sich dieser Rücklagenabbau keinesfalls abrupt, sondern über vier Jahre verteilt vollziehen wird.
({16})
- Die bruttolohnbezogene dynamische Rente bleibt grundsätzlich erhalten.
({17})
- Bei der Festsetzung von Zugangsrenten wird auch künftig nach der bisherigen Formel die Bruttolohnentwicklung zugrunde gelegt.
Während also die Art der Ermittlung von Neurenten unangetastet bleibt, wird sich die laufende Anpassung der Bestandsrenten ab 1. Januar 1979 anders als bisher nicht mehr gleichsam schematisch an der Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage orientieren, sondern vorübergehend etwas
niedriger ausfallen und sich an die finanzielle Leistungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger anpassen. Für die Dauer des Finanzierungsengpasses werden wir also bei der Anhebung der Bestandsrenten aus dem bisherigen Mechanismus ausklinken, jedoch nicht um ihn außer Kraft zu setzen, sondern um später wieder in eine bruttolohnbezogene Dynamik einzuschwenken. Dieses Verfahren entspricht voll und ganz dem geltenden Recht. Das ist wieder sehr technisch, und das, meine Damen und Herren, ist immer unser Problem bei der Diskussion über solche Fragen. Was heißt das?
Die beabsichtigten Rentenanpassungen der nächsten Jahre werden auf jeden Fall das Realeinkommen der Rentner sichern und auch einen Zuwachs an Kaufkraft bringen. Das ist das Ergebnis einer solchen technischen Operation.
Ohne Abweichung vom bisherigen Verfahren werden die Renten am 1. Juli dieses Jahres um 9,9 % erhöht. Die nächste Anpassung wird dann zum 1. Januar 1979 erfolgen. Sodann werden die weiteren Anpassungen jeweils zum Jahresbeginn vorgenommen. Damit wird die von der CDU/CSU im Jahre 1972 durchgesetzte Vorziehung des Anpassungstermins zurückgenommen. Sozialdemokraten waren es, die schon damals auf die Überforderung der Rentenfinanzen hingewiesen haben, die aus der Vorziehung resultiert.
Zudem wird die Bundesanstalt für Arbeit ab 1. Januar 1979 für alle ihre Leistungsempfänger Rentenversicherungsbeiträge zahlen. Damit wird die Rentenversicherung zu einem Teil von den Einnahmeschwankungen befreit, die sich aus der unterschiedlich großen Zahl der Beitragszahler zur Rentenversicherung ergeben. Schon heute übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Rentenversicherungsbeiträge für die Bezieher von Kurzarbeitergeld, und eine so systematische Lösung wie die, die hier gefunden worden ist, ist schon mehrfach im Bundestag diskutiert und als erstrebenswert angesehen worden. Daß die Bundesanstalt für Arbeit auch den Teil der beruflichen Rehabilitation übernehmen wird, der bisher noch von den Rentenversicherungsträgern durchgeführt wird, bedeutet ohne Zweifel eine strukturelle Verbesserung im Rehabilitationsbereich, es bedeutet mehr Bürgernähe, und wir erwarten dabei auch eine erhebliche Verkürzung der Bearbeitungsdauer.
In den vergangenen Tagen wurde vielfach darüber diskutiert, ob diese Maßnahmen von der Bundesanstalt ohne eine Anhebung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung verkraftet werden können. Das wird der Fall sein, wenn es gelingt, die Arbeitslosenquote gemäß den Daten zurückzuführen, die der mittelfristigen Finanzplanung und den Rentenberechnungen zugrunde liegen. Wir werden unsere ganze Kraft daran setzen, diese Daten nicht nur zu erreichen, sondern sie weitergehend abzubauen, zurückzuführen.
Die vorgesehenen Maßnahmen im Rentenrecht vermeiden eine Beitragssatzsteigerung in der Rentenversicherung, und sie vermeiden einen Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung. Bei der Bewertung künftiger Rentensteigerungen sollte man nicht außer acht lassen, daß die Stabilitätspolitik der sozialliberalen Koalition gegenüber dem Höhepunkt der Preissteigerungswelle den Preisanstieg auch für die Rentnerhaushalte nahezu halbiert hat.
({18})
Es wird nun vorgebracht, durch die schon angesprochene Beseitigung der Überzahlungen der Rentenversicherung an die Krankenkassen in der Krankenversicherung der Rentner werde das Finanzierungsproblem lediglich von der Renten- auf die Krankenversicherung verlagert oder „verschoben", wie Sie zu sagen belieben. Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß die Krankenkassen von einer Rückzahlungsverpflichtung befreit werden, der sie auf Grund der bisherigen Rechtslage eigentlich nachkommen müßten. Zudem steht den Mehrbelastungen aus der Rentnerkrankenversicherung ein breit gefächerter Katalog kostenentlastender Maßnahmen für die Krankenversicherung gegenüber.
Eine Kostendämpfung im Gesundheitssektor ist unausweichlich. Die zahlreichen Aktivitäten in den vergangenen Monaten und Jahren haben auch bei der Analyse der Kostensteigerungsursachen zu weitgehend gleichen Ergebnissen geführt; es war ein mühsamer Weg. Die übereinstimmende Diagnose sollte für uns aber eine gemeinsame Grundlage der auf uns zukommenden Arbeit sein und die Therapie erleichtern. Anzusetzen ist dabei in der ambulanten Versorgung, in der stationären Versorgung sowie in der Versorgung mit Arzneimitteln. Die starke Kostenexpansion im Gesundheitsbereich geht vor allem auf dessen strukturelle Probleme zurück. Wo anders sollten denn die Rationalisierungsreserven liegen, von denen Herr Geißler immer spricht? Deshalb sind genau an dieser Stelle die Hebel anzustezen.
Die Bemühungen der Bundesregierung sind daher in erster Linie auf eine Stärkung der Selbstverwaltung der Krankenversicherung gerichtet. Den Kassen sollen verbesserte Instrumente an die Hand gegeben werden, die ihnen, ihrer Selbstverwaltung einen größeren Einfluß auf die Kostenentwicklung ermöglichen.
Dieses Ziel der Bundesregierung wird von uns Sozialdemokraten nachhaltig unterstützt. Durch den erheblichen Ausbau der Position der Selbstverwaltung der Krankenkassen, durch ihre Mitwirkungs-
und Mitentscheidungsrechte bei der Krankenhausplanung, bei der Festlegung der Pflegesätze, bei den Vereinbarungen über die Arzneimittelversorgung und die Verbesserung ihrer Basis bei den Honorarverhandlungen wird eine alte Forderung von Sozialdemokraten und auch eine alte gewerkschaftliche Forderung erfüllt. Nur auf diese Weise kann erreicht werden, daß sich die Schere zwischen den Ausgabensteigerungen und den Einnahmen, die von den Einkommen der Beitragszahler abhängen, nicht noch weiter öffnet, sondern geschlossen wird.
Die Finanzlage der Krankenversicherung wird verbessert, indem alle Beitragszahler mit einem Einkommen zwischen 2 550 DM und 2 890 DM ab 1. Juli 1977 stärker in den Solidarausgleich der sozialen Krankenversicherung einbezogen werden.
Das bedeutet, daß die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung von 75 auf 85 0/o der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung angehoben wird. Die Versicherungspflichtgrenze wird auch weiterhin bei 75 % liegen. Die zunächst ins Auge gefaßte Anpassung der Beitragsbemessungsgrenze auf 100 % wurde aufgegeben, um einer Abwanderung zur Privatversicherung zu begegnen und die Auswirkungen auf bestimmte Gruppen abzumildern.
Jeder Versicherte, der den Abschluß einer privaten Krankenversicherung erwägt, muß in seine Entscheidung einbeziehen, daß er als lediger Versicherter zwar zeitweilig günstiger dasteht, aber als späterer Familienvater mit Kindern - das ist ja nicht auszuschließen - viel höhere Beiträge zu zahlen hat und nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren kann. Darüber hinaus setzt künftig eine beitragsfreie Rentnerkrankenversicherung einschließlich ihrer Familienhilfe eine langjährige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung voraus. Eine Abwanderung in die private Krankenversicherung könnte sich schon alsbald für den freiwillig Versicherten als sehr nachteilig erweisen. Das muß deutlich gesagt werden.
Da die Rentnerdichte der einzelnen Krankenkassen stark voneinander abweicht, ergeben sich bisher sehr unterschiedliche Belastungen der Beitragszahler aus der Rentnerkrankenversicherung. Ein umfassender Belastungsausgleich wird die Aufwendungen für die Rentner gerecht verteilen. Dieser Ausgleich zwischen allen Kassen wird zu besseren Ergebnissen führen als der Ausgleich, den der Entwurf des Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetzes schon vorgesehen hatte. Das jetzt beabsichtigte Verfahren wird sich nämlich so auswirken, daß die Beitragszahler entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit solidarisch zur Finanzierung der Krankenversicherung der Rentner beitragen werden.
Mit der Verwirklichung dieses Ausgleichs kann dann auch ein Schlußstrich unter eine Auseinandersetzung gezogen werden, die die Sozialpolitiker bereits seit den 60er Jahren beschäftigt.
Vorgesehen sind auch einige Korrekturen im Leistungsrecht der Krankenversicherung, die Durchforstung des Leistungsangebots sowohl unter sozialpolitischen Aspekten als auch hinsichtlich ihres vertretbaren Umfanges.
Ob der wesentlich verstärkte Einfluß der Krankenkassen auf die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zusammen mit den Einnahmeerhöhungen und Ausgabenverminderungen ausreichen wird, um schon bald die Mehraufwendungen aus der Rentnerkrankenversicherung auszugleichen, das läßt sich nicht genau quantifizieren. Wir sind auf Schätzungen und auf Einschätzungen angewiesen. Niemand wird jedoch bestreiten können, daß zumindest Zug um Zug eine Kompensation erfolgen wird, die eine mögliche Beitragssatzsteigerung in einem engen Rahmen hält. Wir gehen davon aus, daß auch die 1976 deutlich verbesserte Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung dabei nicht ohne Einfluß bleibt.
Um das Konsolidierungsprogramm in der Krankenversicherung durchzuführen, werden innerhalb der Bundesregierung alle für die Kostensteuerung wichtigen Regierungskompetenzen im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zusammengefaßt.
Bei den Aufgaben, die vor uns Parlamentariern liegen, werden wir uns immer wieder die Frage stellen müssen, wie wir eigentlich - ich muß sagen, ich habe das heute wieder sehr empfunden - dem Bürger die Probleme wirklich deutlich machen können, um die es in der Sozialpolitik geht.
Es ist zugegebenermaßen schwierig, komplizierte Zusammenhänge so zu vermitteln, daß alle, die es angeht, unsere jeweiligen Überlegungen mitvollziehen können. Eine Expertensprache - und wir sind weitgehend in dieser Expertensprache gefangen - beschwört Gefahren herauf, sie sät Unsicherheit, und sie schmälert auch das Vertrauen in den Rechtsstaat und in seine sozialen Einrichtungen. Diese Wirkungen sollten wir alle zu verhindern suchen, unabhängig davon, ob unser Platz in der Koalition oder in der Opposition ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden alle Beiträge und Anregungen aufmerksam prüfen, und wir werden unseren Weg gehen und das tun, was im Interesse unseres Landes und zur Stärkung der Solidarität seiner Bürger notwendig ist.
({19})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt ({0}).
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich heute vor Beginn der Sitzung die letzten Tage, die Aussagen, die Erklärungen, die Ergebnisse von Beratungen noch einmal überblickte, hatte ich eigentlich die Hoffnung - und ich glaube, diese Hoffnung haben alle Bürger in diesem Lande - und den Eindruck, daß heute mit dieser Debatte zum sozialpolitischen Teil der Regierungserklärung eine eineinhalbjährige Auseinandersetzung mit nicht immer sehr sachlichen Argumenten und mit unterschiedlichen Auffassungen zu Ende gehen könnte und daß von dieser Regierungserklärung aus und von der Ausformung der Dinge, die in den letzten Tagen noch geschahen, und von den Erklärungen her, die in den letzten Tagen von der Opposition kamen, nunmehr in unserem Lande Beruhigung in den brennenden Fragen der zukünftigen Konsolidierung unserer sozialen Sicherheit eintreten würde.
Bestärkt wurde ich - und wurden wir Freien Demokraten - dadurch, daß sich erstens die Schwerpunkte der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers mit diesen brennenden Fragen befaßten, womit deutlich wurde, daß hier ein Schwerpunkt unserer Aufgaben in den nächsten Jahren liegt, daß zum zweiten die noch notwendige Ausformung in den Details in den letzten Beratungen und mit den neuesten Zahlen so gelungen ist, daß heute wohl anschließend ein klares Konzept vom Bundesarbeitsminister im Detail vorgelegt werden kann, und
Schmidt ({0})
daß zum dritten - das hat mich ganz besonders gefreut; allerdings ist die Freude jetzt schon etwas geringer geworden - der von mir immer sehr verehrte Herr Kollege von Weizsäcker gestern als erster Redner am Beginn seiner Ausführungen in den Vordergrund stellte, bei der Debatte über die Regierungserklärung müsse die Lösung der Probleme den Vorrang haben, und dann erst komme der Angriff auf die andere Seite des Hauses. Ich glaube, dies war ein guter Anfang und ein guter Hinweis für diese Debatte.
Ich war auch sehr froh darüber, daß der Kollege Katzer und, wenn ich richtig im Bilde bin, auch der Fraktionsvorsitzende der Opposition, der Kollege Kohl, erklärt haben: „Die Opposition verfügt über ein geschlossenes Konzept, und wir werden das vortragen." Nun bin ich allerdings nach dem, was der Herr Kollege Katzer vorhin hier geboten hat, wieder von meinen Hoffnungen sehr weit weg. Das, Herr Kollege Katzer, was Sie hier geboten haben - ich muß mich etwas damit auseinandersetzen -, war Fortsetzung des Wahlkampfes.
({1})
Das, was Sie hier geboten haben, war nichts anderes als die Fortsetzung des Wahlkampfes. Ich gebe gern zu: Da hat es auf allen Seiten manches Mal Entgleisungen gegeben.
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Herr Kollege Katzer, wenn Sie hier hergehen und davon reden, Sie hätten keine genauen Zahlen, deshalb könnten Sie hier kein Konzept vorlegen, dann frage ich mich, wieso der CDU-Bundesvorstand in seiner Sitzung - so eine Pressemeldung der CDU - ein klares Konzept beschlossen haben kann. Dann muß es ein Konzept sein, das ohne Zahlen ist; dann ist es also nichts wert!
({3})
Wenn Sie ein Konzept beschlossen haben, dann legen Sie es hier bitte endlich auf den Tisch.
Herr Kollege Franke, Sie haben recht - damit Sie gar nicht erst zwischenfragen, kann ich es gleich jetzt sagen -, und Herr Katzer hat es be stätigt: Sie haben seit vielen Jahren in vielen Debatten, in denen ich oft etwas kritischer als manche andere in diesem Hause - das kann ich wohl für mich in Anspruch nehmen - die zukünftige Situation in der Rentenversicherung angesprochen habe, immer das Angebot gemacht: „Wir von der Opposition sind zu sachlicher Mitarbeit bereit."
Aber wenn dann Vorschläge kamen, die ich oftmals für die Freien Demokraten allein oder manchmal sogar als Anregungen ad personam gemacht habe, dann wurde jeder dieser Vorschläge von irgendeinem Sprecher der Opposition sofort mit dem Hinweis „soziale Demontage" oder „Da darf sich nichts ändern!" in den Orkus geworfen.
Herr Kollege Katzer, man kann es sich auch nicht so einfach machen, daß man die Rentenversicherungsträger nur in der Frage der Rücklage zum
Zeugen heranzieht, sondern man muß sich dann schon einmal mit all dem befassen, was Sozialbeirat, Rentenversicherungsträger, ja sogar Gewerkschaften an Anregungen und Überlegungen für die Konsolidierung der Renten- und der Krankenversicherung vorgetragen haben.
({4})
- Manches, Herr Kollege Müller, deckt sich ja wohl mit dem, was ich mir im letzten Jahr für die Freien Demokraten in einer Reihe von Debatten vorzutragen erlaubt hatte. Ich bin dabei weiter gegangen, als es vielleicht aus damaliger Sicht - der Kollege Sund hat dankenswerterweise Entwicklungszahlen aufgezeigt - für manche notwendig schien.
Sie können nicht gut, wie es geschehen ist, am Ende Ihrer Rede, Herr Kollege Katzer, sagen „Wir brauchen noch einmal Zahlenmaterial" - obwohl Sie das haben, das kann mir keiner erzählen; sonst haben Sie kein eigenes Konzept, das mag ja sein -, „unser Konzept bringt auch Belastungen, aber es sieht anders aus als das, was diese Bundesregierung will", aber wie dieses Konzept aussieht, das behalten Sie weiter für sich, darüber lassen Sie den Bürger draußen im Lande weiterhin im unklaren.
({5})
- Bitte schön, der Herr Kollege Katzer hat alle Vorstellungen, wie sie im Rahmen der Ausformung der Regierungserklärung hier bereits bekannt sind, wie sie der Kollege Sund angesprochen hat - ich komme darauf noch -, als schlecht hingestellt.
Wenn Sie das Konzept haben, das es ermöglicht, die Probleme, die wir heute alle kennen, im Interesse unseres Landes, im Interesse unserer Bürger, im Interesse der Rentner, im Interesse der Beitragszahler zu lösen, dann muß ich allerdings so, wie Sie es immer mit den Worten „Zeigt einmal etwas!" getan haben, sagen: Zeigen Sie mal, was Sie haben! Im Grunde müssen wir hier im Hause diese Probleme doch gemeinsam lösen.
({6})
Aber das kann man nicht nach dem Motto tun, alles anders machen zu wollen, auch nicht, indem man, wie man das früher immer tat, sagt: nicht jetzt, nicht zu dieser Zeit, sondern irgendwann. Man muß vielmehr einmal Butter bei die Fische tun. Das, Herr Kollege Katzer, haben Sie leider nicht getan.
Sie und auch andere Sprecher der Opposition haben es sich in den von ihnen verfaßten Artikeln zu leicht gemacht, wenn sie immer wieder nur sagen, das liege alles an den Zusammenhängen mit der Wirtschaftspolitik, dem Arbeitsmarkt und dergleichen mehr. Sicher, Herr Kollege Katzer, ist da einiges dran. Sicher gibt es diese Zusammenhänge. Dieser Passage Ihrer Rede stimme ich für die Freien Demokraten völlig zu. Es gibt Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik. Denn man kann soziale Sicherheit nur bezahlen,
Schmidt ({7})
wenn man sie über die anderen Bereiche finanzieren kann. Aber das ist doch keine neue Weisheit.
({8})
- Herr Kollege Müller, von diesen Überlegungen sind wir in der Koalition ausgegangen, als wir uns zu nicht immer populären Überlegungen durchringen mußten.
({9})
- Sie sollten sehr vorsichtig sein, an die Adresse der Freien Demokraten zu sagen, wir wollten die Belastbarkeit der Wirtschaft ausprobieren.
({10})
Diese Bundesregierung - wir Freien Demokraten haben das bereits im Wahlkampf gesagt - wird hinsichtlich der Konsolidierungsmaßnahmen keine Beitragserhöhungen vorschlagen oder vornehmen. In Ihren Reihen ist, wenn ich das richtig sehe, der Kollege Katzer gegen Beitragserhöhungen, der Kollege Müller ({11}) für Beitragserhöhungen, und der Kollege Strauß hat hier vor Weihnachten jein gesagt. So war es und so ist es. Das wollen wir hier doch einmal festhalten. Wir - diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen - sind einstimmig gegen Beitragserhöhungen. Es war schwieriger, aber sicher richtiger, diesen Weg zu gehen. Auf die der Bundesanstalt für Arbeit jetzt neu zugewiesenen Aufgaben komme ich im einzelnen noch zu sprechen.
Daß es Zusammenhänge zwischen der Wirtschafts-, Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik gibt, war von dem Augenblick an klar, als man 1957 die Bruttodynamik einführte. Das war eine richtige Entscheidung; aber von diesem Moment an mußte man wissen, daß diese Zusammenhänge vielleicht viel stärker als früher sein würden. Und hier ist ja nun gerade eine der Maßnahmen - das möchte ich hier gleich anschließen -, die von der Bundesregierung vorgeschlagen werden wird, nämlich die Bezahlung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose ab 1. Januar 1979 durch die Bundesanstalt, ein gewisser Ausgleich, um die Auswirkungen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nicht mehr so stark auf die Rentenversicherungsfinanzen durchschlagen zu lassen. Das ist ja eine der in diesem Zusammenhang wichtigen, konstruktiven Lösungen.
({12})
- Sehr richtig, Herr Kollege Müller ({13}).
({14})
- Herr Kollege Müller, ich gehe auf Zwischenrufe gern ein, weil es keinen Zweck hat, die Dinge ungeklärt im Raum stehenzulassen. - Ich wiederhole, Herr Kollege Müller: Sehr richtig! In dem Augenblick, in dem es möglich sein wird, den Beitrag der
Bundesanstalt auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklungen, so habe ich es damals gesagt, zurückzunehmen, wird diese Bundesregierung das tun. Wir Freien Demokraten werden uns sehr dafür einsetzen.
({15})
- Herr Kollege Müller ({16}), in der jetzigen Situation, um dieses Thema nur kurz abzuhaken, in der es darum ging und geht, die drei Säulen unserer sozialen Sicherheit stärker in sich zu verzahnen und ihre Aufgabenbereiche abzugrenzen, wird die Bundesanstalt nicht nur hinsichtlich der Abdeckung der Arbeitslosigkeit selbst und der daraus anfallenden Gelder, sondern auch hinsichtlich der Sozialleistungen in diesem Bereich mit einbezogen. Das ist eine konsolidierende, systemgerechte Lösung. Damit werden wirtschaftliche Schwankungen, Arbeitsmarktschwankungen, die Sie ja auch früher schon in der Großen Koalition durch das Finanzänderungsgesetz überwinden mußten, ausgeglichen.
Nun ist es wohl auch richtig, wenn ich hier ein kurzes Wort zu meiner vor etwa zehn Tagen gemachten Äußerung anführe, daß nämlich die Koalitionsvereinbarungen hinsichtlich der Rentenprobleme „Flickschusterei" seien. Ich gedenke mich hier vor nichts zu drücken.
({17})
- Herr Kollege Katzer, Sie haben dankenswerterweise mich als Urheber genannt. Das ist richtig.
({18})
Aber ich möchte zunächst einmal in Erinnerung rufen, daß es 1967 in der Debatte des von Ihnen vorgelegten Finanzänderungsgesetzes auch ein Freier Demokrat war, der damals Ihnen diesen Vorwurf machen mußte.
({19})
Das Wort ist in diesem Bereich also schon einmal gefallen.
({20})
Herr Kollege Katzer, lassen Sie mich aber folgendes deutlich machen. In der Regierungserklärung, die der Herr Bundeskanzler hier vorgetragen hat, waren klare Absichtserklärungen, klare Formulierungen enthalten, in welcher Richtung -
({21})
- Herr Kollege Katzer, habe ich nicht auch in den manchmal harten Debatten recht gehabt, die es bereits vor der Wahl gab?
({22})
Ich erinnere an die Rentendebatte am 20. Februar 1976 und an die Haushaltsdebatte im Mai 1976.
({23})
Schmidt ({24})
Wäre nicht mancher in diesem Hause froh, wenn man sich damals etwas nüchterner auch in Richtung auf den Wahltag zubewegt hätte, wobei ich die Opposition hier durchaus einschließe.
({25})
- Herr Kollege Vogel, nicht die Regierungsfraktionen, nicht die Regierungsparteien, nicht die Bundesregierung haben eine Sozialgarantie gegeben. Es hat Hinweise auf eine Beitragsanpassung zum 1. Juli gegeben. Es hat aber gleichzeitig auch Hinweise auf Maßnahmen gegeben. Ihrem Herrn Bundesvorsitzenden blieb es vorbehalten, am 2. Mai 1976 seitens der Opposition eine volle Sozialgarantie für den Fall in Aussicht zu stellen, daß Sie am 3. Oktober die Mehrheit erringen. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht wissen, wie Sie, wenn dieser Fall eingetreten wäre - er ist nicht eingetreten -, wenn Sie also verantwortlich wären, handeln würden und handeln müßten. Sie sind als Opposition mitverantwortlich. Deshalb habe ich kein Verständnis dafür, daß Sie hier nicht einmal ein Konzept vorlegen, sondern immer nur alle Vorschläge ablehnen bzw. als soziale Demontage herunterputzen.
({26})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
Bitte schön.
Herr Kollege Schmidt, halten Sie Ihre Argumentation wirklich für fair, wenn Sie der SPD das Spiel überlassen, die Union als unsozial zu beschimpfen, und Sie von sich aus jetzt so tun, als sei unsere Sozialgarantie überzogen gewesen?
Ich tue nicht nur so - diese Sozialgarantie war überzogen.
({0})
Nur Fragen sind zugelassen.
({0})
Ja, bitte, Sie können jederzeit noch einen Zwischenruf machen.
({0})
Es war unverantwortlich, eine volle Sozialgarantie zu geben. Eine volle Sozialgarantie ist von keinem Vertreter der Regierungsfraktionen gegeben worden. Es ist zur Frage der Rentenanpassung gesprochen worden. Es sind auch . Einzelfragen angesprochen worden. Meine Damen und Herren, die Renten sind sicher. Wenn der Herr Kollege Katzer vorhin gesagt hat, die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen
werden, würden zu Rentenkürzungen führen, so war das eine klare Täuschung der Öffentlichkeit.
({1})
Herr Kollege Katzer, ich bitte jetzt einmal aufzupassen. Wenn Sie die Vorschläge, die seitens der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen gemacht werden, vorhin so ausgelegt haben, daß sie zu Rentenkürzungen führen, so war das eine klare Täuschung der Öffentlichkeit. Ich will nicht sagen, daß Sie gelogen haben; es war aber eine Täuschung der Öffentlichkeit, denn die vorgesehenen Maßnahmen zielen auf eine Veränderung der Anpassungsquote ab.
({2})
Es wird keine Rente gekürzt. Das habe ich schon im letzten Jahr mehrmals in diesem Hause gesagt, als ich meine Vorschläge machte.
({3})
- Es wird keine einzige Rente gekürzt. Die Renten werden aber langsamer angepaßt werden müssen.
({4})
- Herr Kollege Müller ({5}), Sie nennen das Wortspielerei. Wenn Sie den Rentnern sagen, daß die Renten gekürzt würden, und dies nicht stimmt, ist dies allerdings Lüge.
({6})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Geisenhofer?
Bitte.
Herr Kollege Schmidt ({0}), geben Sie zu, daß die Umschaltung von der bruttolohnbezogenen Rente auf die nettolohnbezogene Rente eine wesentliche Minderung der Rentenanpassungsquoten zur Folge haben wird, so daß die Inflationsrate nicht mehr abgedeckt ist und die Rentner die Leidtragenden dieser Maßnahme sind?
Herr Kollege Geisenhofer, hier brauche ich gar nichts zuzugeben. Es ist eine Tatsache
({0})
- lassen Sie mich doch ausreden; Sie können nicht einmal zuhören -, die ich bezüglich der Aktualisierung in diesem Hause schon soundso oft dargelegt habe, daß die Renten, wenn wir eine andere Anpassung wählen, natürlich nicht in dem Maße steigen, wie das bisher der Fall war. Das ist eine ganz klare Tatsache. Das hat aber doch nichts mit Rentenkürzung zu tun.
({1})
Schmidt ({2})
Herr Katzer hat hier gesagt: Die Renten werden ab 1. Januar 1979 gekürzt.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu den einzelnen Schwerpunkten etwas sagen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie vorher noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Urbaniak?
Bitte.
Kollege Schmidt, können Sie mir bestätigen, daß die Berechnung der Renten nach dem Bruttolohn Bestandteil des Konsolidierungsprogramms ist und daß dies für die nächsten Jahre voll durchgehalten werden soll?
Es ist völlig richtig, daß in der Regierungserklärung steht, daß die erste Rentenberechnung bruttolohnbezogen erfolgt und die Anpassungen dann nach einem anderen Modus erfolgen.
({0})
Aber das ist ja nachzulesen. Ich nehme an, das hat
jeder in der Regierungserklärung nachgelesen und
braucht hier nicht noch einmal bestätigt zu werden.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einiges aus der Sicht der Freien Demokraten zu den Schwerpunkten sagen. - Bitte schön, Herr Kollege Geisenhofer.
Herr Kollege Schmidt ({0}), bestätigen Sie mir, daß nach Ihrem Programm, nach dem Programm der Regierung, die erste Rentenanpassung bruttolohnbezogen vorgenommen wird und dann die laufenden Rentenanpassungen nettolohnbezogen erfolgen sollen und daß damit die kleinen Leute, vor allem die Kleinrentner, die Leidtragenden einer künftigen Inflationspolitik sein werden, die von Ihnen weitergeführt wird?
Herr Kollege Geisenhofer, ich habe eben gesagt, das können Sie in der Regierungserklärung nachlesen, daß dem so ist.
({0})
- Das haben wir doch nie bestritten, daß hier Notwendigkeiten sind.
({1})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das haben wir nie bestritten. Ich glaube, ich war einer der ersten in diesem Hause, die darauf hingewiesen haben, daß im Laufe der Zeit Diskrepanzen zwischen Arbeitenden und Rentenbeziehern aus einer brutto-
- oder nettolohnbezogenen Rentenanpassung von 11 % und einer Bruttolohnanpassung von 6 % sprich: Nettolohnanpassung von 4 % - zu Problemen führen werden, über die man nachdenken muß. Daraus müssen sich andere Anpassungsmodalitäten ergeben. Dabei befand ich mich im übrigen in der guten Gesellschaft einer Reihe von Fachleuten der Opposition, die bereits ähnliches gesagt haben.
Herr Kollege Geisenhofer, zu Ihrer Frage gleich noch eins: Hier wird immer argumentiert: wenn es um Anpassungen geht, ob nun brutto- oder nettolohnbezogen, dann bedeutet das für Kleinrentner weniger als für Bezieher höherer Renten. Das ist in der Sache mathematisch völlig richtig. Ich glaube, es muß aber auch einmal in diesem Hause von dieser Stelle aus gesagt werden, daß wir die Rentenversicherung und ihr Solidarprinzip nicht an denen ausrichten können, die nur einen Bruchteil ihres Lebens rentenversichert waren und in anderen Abschnitten ihres Lebens einem Beruf nachgingen, aus dem sie noch andere Altersversorgungen zur Verfügung haben, aber auch nicht an denen, die sich dank einer vernünftigen Entscheidung zwar freiwillig in die Rentenversicherung einkaufen konnten, dabei aber natürlich niedrigere Renten bekommen. Das Schema der Rentenversicherung und des Solidarsystems ist vielmehr an demjenigen ausgerichtet, der 35 bis 45 Jahre lang Beiträge nach seiner Leistung gezahlt hat. Daran muß gemessen werden. Man kann nicht immer wieder notwendige Maßnahmen deswegen nicht machen wollen, weil einer, der zufälligerweise neben einer hohen Pension oder neben anderen Altersversorgungen eine niedrigere Rente hat, schlechter wegkommt. Einen Teil des Personenkreises, Herr Geisenhofer, den Sie meinen und dessentwegen auch ich sehr große Sorgen habe - ich meine einen bestimmten Bezieherkreis von Kleinstrenten -, haben wir über die Mindestrente Gott sei Dank in eine gute, in eine bessere Situation bringen können. Solche Kleinstrentner, die durch von ihnen selbst nicht zu vertretende Umstände, seien es Kriegswirren oder sonstige Umstände, in diese Situation gekommen sind, gibt es noch, und denen müssen wir helfen. Aber das kann nicht im Rahmen des Solidarsystems der Vollrentner geschehen, sondern hier müssen wir uns vielleicht noch einmal zusätzliche Dinge überlegen. Dazu ist - das muß auch von dieser Seite einmal gesagt werden - von diesem Hohen Hause ein Rechtsanspruch in der Sozialhilfe geschaffen worden. Daran muß man auch einmal erinnern, daß man damals gesagt hat: Wir schaffen diesen Rechtsanspruch, um all den Menschen zu helfen, die ohne eigenes Verschulden in solche Situationen gekommen sind. Hier muß man einmal die Systeme und die Überlegungen etwas voneinander trennen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Frage der Rücklagen sagen. Hierüber hat es eine lange Diskussion gegeben, und hier sind die kritischen Bemerkungen insbesondere der Rentenversicherungsträger sehr deutlich gewesen. Herr Kollege Sund hat schon auf zwei wichtige Momente hingewiesen. Rücklagen können nicht thesauriert, als ein Vermögenswert hingelegt werden, der nie angefaßt werden darf. Hier ist sicher eine Überlegung dieses Hohen Hauses aus früheren Zeiten überprüfenswert, nämlich ob die langfristige Festlegung von Rücklagen dem
Schmidt ({2})
Zweck gerecht wird, Schwankungen auszugleichen. Der Weg des Ausgleichs über Rücklagen wird im Rahmen der Vorlage der Bundesregierung beschlossen werden. Es wird nicht - das ist für uns Freie Demokraten sehr wichtig - zu einem Abbau der Rücklagen bis auf null und zu einer überhaupt nicht mehr zu erwartenden Wiederaufstockung dieser Rücklagen kommen. Den letzten Berechnungen - das gilt auch für die Einfügung der Bundesanstaltslösung in das Konzept - sind echte, keine geschönten Zahlen zugrunde gelegt worden. Wenn wir davon ausgehen, daß wir auf Grund der Gesamtentwicklung auch noch 1980 mit 2,8 %, d. h. 650 000 Arbeitslosen rechnen müssen, und wenn wir diese Zahlen in unser Rechenkonzept aufnehmen, können wir diese Zahlen als echte, vernünftige Zahlen ansehen. Durch die Aufnahme der Bundesanstaltslösung in das Paket wird es sogar möglich sein, daß die Rücklagen bis 1980 für 1,5 Monate reichen, was ich für günstiger halte, weil wir mit der Einmonatsreserve, die zunächst vorgesehen war, schon bei kurzfristigen Einnahme- und Ausgabenschwankungen in Schwierigkeiten kommen könnten.
Eindeutig ist jedenfalls - dafür möchte ich ganz besonders dem Bundesarbeitsminister und der Bundesregierung Dank sagen -, daß die Wiederaufstockung der Rücklagen ermöglicht wird und damit die Selbständigkeit der Rentenversicherung mit einer Bundesgarantiehaftung für einen ganz, ganz schlimmen Fall erhalten bleibt. Wir werden - solche Überlegungen möchte ich hier ganz klar zurückweisen - nicht den Weg in die Einheitsversicherung gehen, in eine Altersversorgung, die im Endeffekt von Finanzmitteln des Bundes, des Haushalts abhängt. Dieser Weg wird mit diesem Konzept vermieden. Aufstockungen sind möglich, und sie werden erreicht werden, vor allem auch dann - hier warte ich auch wieder auf Vorschläge -, wenn Sie einmal sagen, wie Sie denn das nun einmal vorhandene Problem lösen würden. Denn, Herr Kollege Katzer - zwei Bemerkungen seien mir dazu erlaubt -, so ganz unschuldig ist ja die Opposition an einer Reihe von Problemen, mit denen wir es zu tun haben, nicht.
({3})
Ich denke nur daran - damit komme ich zu einem zweiten Schwerpunkt -, welche Sorge uns, nicht erst seit heute, sondern seit drei, vier Jahren, die sogenannte Krankenversicherung der Rentner macht. Ich erinnere dabei nur an das, was damals unter Ihrer Federführung, Herr Kollege Katzer, an - sagen wir einmal - großzügigen Regelungen auch für solche Rentenbezieher eingeführt wurde, die nur eine Kleinstrente erhalten und ihre Altersversorgung aus einem ganz anderen Bereich beziehen. Wenn heute Rentenbezieher, die nie in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren und nie einen Beitrag - pflichtmäßig oder freiwillig - in die gesetzliche Krankenversicherung gezahlt haben und die aus einem kleinen Rentenanspruch eine Rente von 200 DM, vielleicht sogar bloß von 100 DM Rente neben einer hohen Pension oder einer anderen hohen Altersversorgung haben, zu ihrer Rente sämtliche beitragsunabhängigen Leistungen, nämlich kostenlose Krankenversicherung, Kindergeld von 150 DM pro Monat usw., erhalten, dann sind das Dinge, die unter Ihrer Federführung, Herr Kollege Katzer, 1968 durch das Finanzänderungsgesetz eingeführt wurden und die wir durch die 20-Jahresfrist, die in Zukunft in das Gesetz eingeführt werden soll, ändern werden.
({4})
- Verehrter Herr Kollege, der Herr Kollege Katzer ist sehr still. Er würde sich sicher zur Wehr setzen, wenn es nicht stimmte, daß das damals die Große Koalition unter seiner Federführung gegen unsere Stimmen getan hat.
({5})
Wir müssen das bereinigen. Ich hoffe, darin sind wir uns einig. Das wäre schon eine gute Sache.
Herr Kollege Katzer, ich kann es für mich in Anspruch nehmen - deshalb sage ich: So ganz unschuldig sind Sie nicht und Sie wissen es -, daß ich am 19. und 20. September 1972 von dieser Stelle - der Kollege Sund hat es vorhin schon angesprochen - für die Freien Demokraten davor gewarnt habe, die Anpassung der Renten vom 1. Januar auf den 1. Juli vorzuziehen. Ich kann mich erinnern, damals gesagt zu haben: Ich warne davor, heute eine Maßnahme durchzuführen aus gewisser Optik, die dann eines Tages zurückgenommen werden muß.
({6})
- Ich habe doch recht. Ich habe gesagt, ich warne davor, daß das präjudizierend für alle anderen Rentenanpassungstermine zum 1. Januar wirken wird. Da haben Sie gesagt, Herr Kollege Katzer, das habe mit der Kriegsopferrente, mit der Lastenausgleichsrente gar nichts zu tun. Zwei Jahre später hatte es etwas damit zu tun. Jetzt ist die Situation anders.
Herr Kollege Katzer, ich sage hier für mich persönlich: Wenn ich damals die Erfahrung von heute gehabt hätte, hätte ich die Vorziehung abgelehnt, als einziger vielleicht in diesem Hause.
({7})
Aber man kann immer dazulernen. Deshalb sage ich hier, Herr Kollege Katzer, obwohl ich mich immer wieder freuen würde, wenn Ihre Angebote kämen: So ganz unschuldig sind Sie und die Opposition an diesen Dingen nicht.
({8})
Man sollte sich deshalb hier nicht so herstellen, sondern konkrete Vorschläge machen.
Meine Damen und Herren, ein letztes zum Bereich des Gesundheitswesens, zum Bereich der Krankenversicherung. Zunächst möchte ich etwas zur Beitragsbemessungsgrenze und zu den 5,6 Milliarden DM sagen, die den Krankenversicherungen bisher von der Rentenversicherung übertragen wurden, also etwas zu der Verringerung der Leistungen der Rentenversicherung an die Krankenversicherung
Schmidt ({9})
von 17 auf 11 % sagen. Herr Kollege Sund hat schon darauf hingewiesen, daß diese Angelegenheit bereits 1975 in diesem Hause diskutiert wurde. Ich darf vielleicht noch darauf hinweisen, daß das Gesetz, das die Verringerung auf 11 % festschrieb, ebenfalls unter Ihrer Federführung, Herr Kollege Katzer, verabschiedet wurde; das war das Finanzänderungsgesetz. Diese Rückführung erfolgt also auf einer gesetzlichen Grundlage, die seinerzeit von Ihnen geschaffen wurde. Sie war notwendig, wenn man Rentenversicherung und Krankenversicherung in ihrer selbständigen Struktur als Teile unserer sozialen Sicherheit beibehalten will. Diese 11 % wurden damals nicht willkürlich festgelegt, sondern sie sollen ja dem entsprechen, was in etwa der Durchschnittsbeitrag an die Krankenversicherung ist. Daß das durch die Überzahlungen auf 17 Milliarden DM kam und daß wir das zurückführen müssen, ist ein Problem, mit dem wir uns nun in dem Gesamtkonzept zur Kosteneindämmung im Gesundheitswesen auseinandersetzen müssen.
({10})
Hier hat natürlich gerade in den letzten Tagen und Wochen die Frage der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze eine Rolle gespielt. Herr Kollege Katzer, wenn Sie von 200 Briefen sprachen, dann kann ich Ihnen sagen, bei mir -
({11})
- Dann kommen wir ungefähr auf das gleiche.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Ja bitte, Herr Kollege Müller.
Herr Kollege Schmidt, würden Sie dem Hause sagen oder zugeben, daß, als die 11 Prozent, in Wirklichkeit 10,98 Prozent, eingeführt worden sind, der Durchschnittsbeitrag noch bei 8 Prozent lag, während er heute bei über 11 Prozent liegt? Würden Sie mir zweitens auch darin zustimmen, daß Sie seit 1971, seitdem das nicht mehr funktioniert, Zeit genug gehabt hätten, diese Sache zu ändern?
Zum ersten möchte ich auf den damaligen Gesetzentwurf verweisen, in dem Sie nachlesen können, daß man in der Schichtung 20 : 80 als Interessenquote - Sie sind ja Fachmann, Sie wissen, was ich meine - auf diese 11 Prozent kam. Zum zweiten haben Sie natürlich recht, daß durch Rechtsverordnung die Dinge auf Grund der Rechtslage eher hätten geändert werden können.
({0})
Herr Kollege Müller, Sie müssen mir aber auch darin zustimmen, daß diese Frage im letzten Bundestag seit drei Jahren in der Diskussion war, daß wir uns aber alle darüber klar wurden, daß die Gesamtregelung der Krankenversicherung der Rentner etwas mehr als nur diese Tatsache beinhaltet und daß sie
in ein Gesamtkonzept hineingehört. Jetzt ist sie darin.
Aber wie gesagt, in dem Zusammenhang hat die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze eine Rolle gespielt. Ich möchte hier klar sagen, daß es sich immer nur um die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze handelte. Es ist sicher richtig, daß bei den Überprüfungen, bei der Ausformung dessen, was zunächst in der Regierungserklärung stand, von der Absicht, auf 100 Prozent in der Beitragsbemessungsgrenze hinaufzugehen, Abstand genommen wurde. Wir Freien Demokraten glauben, daß die jetzige Lösung, die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf 85 Prozent und die klare Beibehaltung der Versicherungspflichtgrenze bei 75 Prozent - diese 75 Prozent waren einer der ersten Beschlüsse der sozialliberalen Koalition 1970 in diesem Hause -, eine gute Lösung ist. Herr Kollege Katzer, ich weiß nicht, ob Sie bei der ersten Konzipierung Ihrer Rede schon wußten, daß die Beitragsbemessungsgrenze nur auf 85 Prozent angehoben werden soll.
({1})
- Man mußte sorgfältig über diese Dinge beraten. Ich frage eben deshalb, weil ich Ihnen nicht unterstellen wollte, daß Sie die sich nunmehr ergebenden 20 DM für die Spanne zwischen 2 550 DM und 2 890 DM bei 11 bis 11,5 Prozent eine drastische Erhöhung nennen. Da Sie hier aber von einer drastischen Erhöhung gesprochen haben, wollte ich doch nur klarstellen, daß es keine drastische Erhöhung ist.
({2})
- Verehrter Herr Kollege, ich muß nun wieder die Sozialpolitiker fragen: Sind 20 DM für eine Beschäftigtengruppen mit Einkommen von 2 550 DM aufwärts eine hohe Beitragsmehrbelastung?
({3})
- Wir sprechen jetzt hier von der Beitragsbemessungsgrenze. Herr Kollege Katzer hat von einer drastischen Erhöhung gesprochen. Ich habe eben nur gesagt, daß das nicht so ist. Sie haben die 51 DM gemeint. Diese kommen nicht. Es kommen 20 DM.
({4})
- Den Personenkreis kenne ich mindestens so gut wie Sie.
Nun, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie mögen da anderer Meinung sein. Dann wäre ich allerdings dankbar, wenn ich einmal das Konzept des Ausgleichs für diesen Bereich der sozialen Sicherung und für die Kosteneindämmung im Gesundheitswesen generell bekäme. Auch in diesem Zusammenhang kann ich mich nur daran erinnern, daß ein solches Parteikonzept sehr schnell wieder in der Schublade verschwunden ist, weil zwar in der CDU Vorstellungen bestanden, aber die CSU das als Wahlpartner - und jetzt wieder als gemeinSchmidt ({5})
samer, halber oder dreiviertel Koalitionspartner - im Wahlkampf nicht wünschte. Oder wo ist denn das Konzept von Herrn Professor Beske, das einmal gesundheitspolitisches Konzept der CDU/CSU werden sollte? Wann ist denn das verabschiedet worden? Auch hier also kein Konzept zur Kosteneindämmung. Und wenn Sie dann nur sagen, in diesem Bereich dürfe nichts geschehen, dann müssen Sie eben auch darlegen, auf welche Weise Kosten eingespart werden sollen.
Wir Freien Demokraten begrüßen es in diesem Zusammenhang ganz besonders, daß neben dieser mäßigen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze
({6})
- Wenn Sie Forderungen von anderen Seiten, von Kassen usw., hören, dann werden Sie vielleicht zustimmen, daß das eine sehr maßvolle Anhebung ist; mäßig also im Sinne von maßvoll.
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- Das werden wir ja noch feststellen. Jedenfalls führt doch kein Weg daran vorbei - darüber haben wir in der Vergangenheit, insbesondere in den letzten zwei Jahren hier sehr häufig diskutiert, und wir waren uns im Ziel eigentlich immer einig -, daß in der Krankenversicherung Kostendämpfungen erfolgen müssen. Gleichzeitig waren wir uns damals schon dessen bewußt, daß auf Grund der von mir vorhin geschilderten gesetzlichen Grundlage Verlagerungen aus der Rentenversicherung zu erwarten sind. Sie sollten den auf Grund der Vereinbarungen in aller Kürze zu erwartenden Regierungsentwurf - den der Herr Bundesarbeitsminister sicher auch noch erläutern wird - aufmerksam lesen. Dann werden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die notwendigen Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen nicht dirigistisch, nicht durch Staatseingriffe, sondern unter voller Respektierung des gegliederten Systems unserer Krankenversicherung, unter Ausgestaltung, Stärkung des Selbstverwaltungsprinzips verwirklicht und daß die Probleme der Krankenhausbedarfsplanung und der Wirtschaftlichkeit dieser Institutionen so gelöst werden, daß damit Auswüchse in diesem Bereich, die wir alle in unseren Ländern und Kommunen erleben, dann - allerdings in Zusammenarbeit mit den Ländern - vermieden werden können.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung - und das darf ich für die Freien Demokraten sagen -, daß es möglich sein wird, die zur Zeit im Raume stehende Beitragserhöhung der Krankenversicherung von einem Prozent mindestens auf die Hälfte, wenn nicht noch weniger herunterzudrücken, wenn wir bereit sind, diese Maßnahmen - wie gesagt: im Rahmen unseres freiheitlichen Gesundheitssystems - konsequent anzuwenden.
Allerdings brauchen wir dazu genau wie in dem Bereich der Rentenversicherung entweder auch einmal die Zustimmung der Opposition, wenn unsere Vorschläge gut sind - und ich gehe davon aus, daß sie gut sind; denn bisher gibt es keine besseren -,
oder die besseren Vorschläge der Opposition zur Lösung dieser Probleme. Die gibt es aber bis heute nicht. Das Nein der Opposition zu all den unterbreiteten Lösungsvorschlägen, das „heute nicht", das „ja, aber anders", das „ein anderes Mal" genügt nicht, um dem Bürger draußen, dem Rentner und dem Beitragszahler die Sicherheit zu geben, die wir, diese Bundesregierung und diese sozialliberale Koalition, ihm heute durch diese Erklärung geben wollen.
({8})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Katzer hat eingangs den Zusammenhang zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik vermißt. Ich hoffe sehr, Herr Kollege, daß Sie geneigt sind, mir genau zuzuhören, denn eben das habe ich vor: diesen Zusammenhang zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hier darzustellen.
({0})
Sie werden allerdings einige Geduld benötigen, denn diese Zusammenhänge sind komplex.
Meine Damen und Herren, der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stellen sich in dieser Legislaturperiode drei große Aufgaben: erstens Konzentration aller gesellschaftlichen Kräfte auf die schrittweise Verbesserung der Beschäftigungslage ({1})
Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung ist unsere Aufgabe Nr. 1 -,
({2})
zweitens Konsolidierung der Finanzen der Rentenversicherung und damit Bewahrung und Festigung der sozialen Sicherheit im Alter, Sicherung der dynamischen Rentenanpassung und damit Teilhabe aller Rentner an den Erfolgen der wirtschaftlichen Entwicklung,
({3})
drittens breit angelegte Kostendämpfung im Gesundheitswesen ohne Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit und ohne unzumutbare Belastungen der Beitragszahler.
({4})
Zum Problemkreis Nr. 1: Als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung teile ich die Sorgen aller um die heutige Beschäftigungslage, zuerst und vor allem die Sorgen der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. Ich will hier gar nichts beschönigen. Die Arbeitsmarktlage ist noch keineswegs zufriedenstellend, obwohl wir mit dem Abbau der Kurzarbeit seit dem Tiefpunkt der Rezession um mehr als 700 000 beträchtliche Erfolge erzielt haben und obwohl, wenn man die saisonalen Komponenten berücksichtigt, der gesamte Arbeitsmarkt zum Jahreswechsel 1976/77 erheblich besser aussieht als ein
Jahr zuvor; der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat diese Erfolge in der letzten Konzertierten Aktion sehr ausführlich und überzeugend dargestellt.
Wir können uns aber nicht damit zufriedengeben - wir haben das in der Vergangenheit nicht getan, und wir werden es auch in Zukunft nicht tun --, wenn wir im internationalen Vergleich bei den Preisen und der Beschäftigungslage auch noch so gut dastehen. In der Regierungserklärung der Bundesregierung ist die Gewinnung der Vollbeschäftigung als eines der wichtigsten Ziele unserer Politik genannt worden. Darum steht auch im Arbeitsprogramm des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung die Arbeitsmarktpolitik an erster Stelle, auch wenn sich die öffentliche Diskussion zur Zeit fast ausschließlich mit den Problemen der Renten-
und Krankenversicherung beschäftigt. Die Arbeitsmarktpolitik behält dessenungeachtet den ersten Rang in unserer Aufgabenstellung. Von ihren Möglichkeiten - genaugenommen allerdings von den Erfolgen der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik insgesamt - wird die finanzielle Situation der Sozialversicherung entscheidend mitbestimmt. Isolierte Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik sind von unterschiedlichem Gewicht, je nachdem, ob sie in einer Schönwetter- oder in einer Schlechtwetterperiode der Konjunkturentwicklung ergriffen werden.
Hinter uns liegt die tiefste Weltrezession seit 1945, und kein Beobachter, der ernstgenommen werden will, wird bestreiten können, daß die Bundesrepublik Deutschland diese schweren Verwerfungen des Weltmarktes in ungleich größerer politischer und sozialer Stabilität bestanden hat als alle unsere Nachbarn rings um uns herum.
({5})
Aber natürlich blieben auch wir von den Folgen der Verwerfungen der Weltmärkte nicht verschont, und zwangsläufig mußten diese Folgen im Bereich der Rentenversicherung, in den Finanzrechnungen der Rentenversicherung, besonders spürbar werden. Denn gerade in den Finanzrechnungen der Rentenversicherung zeigt sich jede rezessive Wirtschaftsentwicklung in doppelter Weise negativ: Die Einnahmenseite verschlechtert sich, weil langsamer wachsende Löhne und Gehälter zwangsläufig auch langsamer wachsende Beitragseinnahmen der Rentenversicherung mit sich bringen und eine Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation die Zahl der Beitragszahler zur Rentenversicherung schrumpfen läßt. Die Ausgabenseite wird durch frühzeitigen Rentenbeginn und durch höhere Arbeitslosigkeit stärker in Anspruch genommen.
Heute, am Anfang des Jahres 1977, ist deutlich, daß das Konjunkturtief der Jahre 1974/75 hinter uns liegt. Die 1976 erreichte Zunahme des Sozialprodukts um real 5,6 % ist eine stolze Ziffer, auch wenn man das niedrige Ausgangsniveau berücksichtigt. Aber dieses kräftige Wachstum hat nur zögernd und nur langsam auf den Arbeitsmarkt durchgeschlagen, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß in vielen Wirtschaftszweigen die Kapazitäten
so weit heruntergefahren waren, daß bis zur Wiedereinstellung von Beschäftigten eine beträchtliche Produktionsausweitung notwendig ist und daß gleichzeitig und parallel dazu erhebliche Produktivitätssteigerungen stattgefunden haben, die aber auch unsere Position auf den Weltmärkten erheblich verbessern. Aber gerade diese Stärkung der Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft läßt es uns trotz aller mehr politischen als ökonomischen Risiken der Weltmarktentwicklung als berechtigt erscheinen, daß wir mit, wenn auch gedämpfter Zuversicht auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung blicken.
Wir brauchen keine kurzfristigen Aktionen; aber wir müssen, wie das der Sachverständigenrat formuliert hat, wachstumspolitische Vorsorge treffen, und wir müsen dies so tun, daß hieraus kurz-, aber auch mittelfristig dauerhafte Beschäftigungsimpulse hervorgehen. Diese Forderung ist deshalb besonders wichtig, weil in den nächsten Jahren geburtenstarke Jahrgänge in das Erwerbsleben treten: Das sind jährlich 80 000 Jugendliche mehr als bisher. Wir dürfen es nicht zulassen, daß den jungen Menschen der berufliche Lebensweg erschwert oder gar verbaut wird, weil sie einem geburtenstarken Jahrgang angehören.
({6})
Hier liegt neben der beschäftigungspolitischen eine hohe moralische Aufgabe, und zwar nicht nur für die Regierung. Hier ist sozial verantwortliches Handeln aller im Lande, insbesondere auch der Unternehmer und ihrer Verbände, notwendig.
({7})
Wir brauchen in den nächsten Jahren mehr Arbeitsplätze. Das auf mehrere Jahre angelegte Investitionsprogramm zur Wachstumsvorsorge, das die Bundesregierung zur Zeit vorbereitet, wird ein wichtiger Beitrag zur Lösung dieser Aufgaben sein. Im Mittelpunkt dieses Investitionsprogramms werden der Ausbau der Infrastruktur und die Verbesserung der Umwelt stehen; und gerade der Bundesarbeitsminister wird sein besonderes Augenmerk darauf richten, daß bei der Auswahl der vorgesehenen Projekte die beschäftigungspolitischen Wirkungen ein wichtiger Maßstab sein werden.
Um das Richtige tun zu können, sind eingehende Analysen notwendig, bedarf es differenzierter Betrachtung. Der Arbeitsmarkt zeigt heute ein sehr differenziertes Bild und unterschiedliche Tendenzen. Die kräftigen Zuwachsraten des ersten Halbjahres 1976 in einer Reihe von Wirtschaftszweigen haben dort bereits zu erheblichen Facharbeiterengpässen geführt, während auf der anderen Seite anhaltende Beschäftigungsprobleme bei einigen Gruppen bestehen.
Von Arbeitslosigkeit am stärksten betroffen sind ungelernte Arbeitnehmer. Ihr Anteil an der Gesamtarbeitslosenzahl liegt bei 50 %. Mangelnde berufliche Qualifikation bedeutet immer noch ein besonderes Beschäftigungsrisiko. Deshalb werden wir unsere intensiven Bemühungen um eine bessere berufliche Qualifikation, Fortbildung, Umschulung usw. intensiv fortsetzen.
Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen sind Frauen. Sie sind von den Rationalisierungstendenzen in Verwaltungen und im Handel besonders betroffen, und auch der Mangel an Teilzeitarbeitsplätzen trifft Frauen besonders hart. Jede dritte der arbeitslos gemeldeten Frauen sucht ausschließlich eine Teilzeitbeschäftigung. Alle Arbeitgeber, ob in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, sind hier aufgerufen, mehr Einfallsreichtum und vielleicht auch ein wenig mehr guten Willen bei ihrer künftigen Personalplanung für dieses Problem aufzuwenden.
({8})
Ebenso liegen bei älteren Arbeitnehmern besondere Beschäftigungsprobleme vor. Zwar haben sich die tariflichen und gesetzlichen Schutzvorschriften für ältere Arbeitnehmer bewährt, so daß dieser Personenkreis zunächst unterdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen wurde. Aber die Wiedervermittlung arbeitslos gewordener älterer Arbeitnehmer ist besonders schwierig, so daß eine vergleichsweise lange Dauer der Arbeitslosigkeit bleibt.
Sorge bereitet mir ferner die Situation der arbeitslosen Jugendlichen. Am Beginn des Arbeitslebens ohne sichere berufliche Perspektive zu sein ist eine Lebenserfahrung, die sehr nachhaltige Auswirkungen auf die weitere Entwicklung haben kann. Von Arbeitslosigkeit sind vor allem die jungen Menschen betroffen, die keine berufliche Qualifikation haben. Mit der Verabschiedung des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes hat der Deutsche Bundestag aus dieser Erkenntnis die notwendigen Konsequenzen gezogen. Mit etwas weniger Obstruktion auf Ihrer Seite ({9}) wäre es schneller und besser gegangen damals in der letzten Legislaturperiode.
({10})
Jetzt geht es darum, in gemeinsamen Anstrengungen mit der Wirtschaft ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Ausbildungplätzen sicherzustellen sowie die überbetriebliche Ausbildung auszubauen. Das ist der beste Schutz der Jugendlichen vor Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung hat dazu ein konkretes Programm beschlossen und mit der Durchführung begonnen.
Wir haben in der Vergangenheit das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium voll zur Überwindung der beschäftigungspolitischen Probleme eingesetzt. Das Maßnahmebündel richtet sich an alle Gruppen von Arbeitslosen, auch an Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze gefährdet sind. Dadurch wurden, grob geschätzt, eine halbe Million Arbeitsplätze geschaffen, erhalten oder sicherer gemacht. Im November 1976 wurde dann erneut ein zusätzliches arbeitsmarktpolitisches Programm mit einem Gesamtvolumen von rund 1,6 Milliarden DM beschlossen. Das Programm verbindet Mobilitäts- und Eingliederungshilfen für längerfristig und dadurch schwer vermittelbare Arbeitslose mit Maßnahmen zugunsten von Schwerbehinderten und mit verstärkten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Außerdem wurden die Zugangsvoraussetzungen für die berufliche Bildung, insbesondere von jüngeren Arbeitslosen, erleichtert. Die dazu notwendige. Verordnung wurde bereits erlassen.
Diese arbeitsmarktpolitischen Programme und Maßnahmen sind ein flankierender Beitrag zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. Wir wissen, daß damit die gesamtwirtschaftliche Dynamik gestützt, nicht aber ersetzt werden kann. Zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung müssen alle politischen Bereiche zusammenwirken, neben der Arbeitsmarktpolitik insbesondere die Wirtschaftspolitik, dabei nicht zuletzt die Struktur-, die Geld- und Kreditpolitik, die Finanzpolitik, die Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik.
Aber nicht nur der Bund, sondern auch alle Länder und Gemeinden sind aufgerufen, gemeinsam mit uns ihre Kräfte auf die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung zu konzentrieren.
({11})
In einem föderativen Bundesstaat mit unabhängigen Gebietskörperschaften sind die Mittel des Bundes allein nicht ausreichend. Hier bedarf es des gemeinsamen konstruktiven Vorgehens.
({12})
Ich sage es noch einmal in aller Deutlichkeit: Arbeitslosigkeit ist eine Herausforderung an uns alle, nicht allein an den Bund mit seinen begrenzten Möglichkeiten, sondern auch an Länder, Gemeinden und die gesellschaftlichen Gruppen. Bei allen Investitions- und Personalplanungen muß der bestehende große gesamtwirtschaftliche Bedarf an Arbeitsplätzen mehr Berücksichtigung finden. Ich möchte von dieser Stelle aus besonders an die Unternehmer appellieren, das Vertrauen der Bevölkerung in die Kraft der deutschen Wirtschaft zur Investition und zur beschäftigungswirksamen Expansion nicht zu enttäuschen.
({13})
Auch am unternehmerischen Verhalten wird es liegen, ob unsere marktwirtschaftliche, aber sozial gebundene Wirtschaftsordnung, die ihre Überlegenheit gegenüber anderen Wirtschaftsordnungen bisher unter Beweis gestellt hat, diese Position auch in Zukunft behaupten kann.
({14})
- Das Vertrauen ist durch uns sicher nicht verspielt worden; lassen Sie sich bitte darauf nicht ein.
({15})
Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor der Aufgabe, parallel zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung aus den Folgen der Rezession auch die notwendigen Konsequenzen zur Konsolidierung der Rentenversicherung zu ziehen. Niemand kann verhindern, daß jede Rezession zugleich starke Auswirkungen auf die Finanzlage der Rentenversicherung hat; das sollten auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, eigentlich wissen. Aus diesem Wissen heraus sollten Sie zu konstruktiver Mitarbeit bereit und vielleicht auch fähig sein,
Denn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, hatten während der Rezession 1966/67 mit uns gemeinsam die Regierungsverantwortung, und vielleicht sollten Sie sich einmal daran erinnern, welch gravierende Maßnahmen damals notwendig waren, um die Konsolidierung der Rentenversicherung sicherzustellen.
({16})
Ich darf nur an die schrittweise Erhöhung des Beitragssatzes von 14 auf 18 %erinnern. Diese Maßnahme hat die Finanzgrundlagen der Rentenversicherung stabilisiert, hat aber auch die Abgabenbelastung der Arbeitnehmer wesentlich erhöht. Und jetzt sprechen Herr Biedenkopf und andere von der gestiegenen Staatsquote als einem Kriterium des Vorwurfs gegen uns!
({17})
Verehrter Herr Kollege Katzer, aus dieser Zeit haben Sie ein gutes Image als Stabilisator, und so hatte ich so sehr gehofft, Sie würden hier konkret sagen, was die Opposition in dieser Frage für richtig hält.
({18})
Aber nichts! Mein konkretes Programm werden Sie, wenn Sie nur Geduld haben, zuzuhören, Stück für Stück und Schritt für Schritt jetzt vorgetragen bekommen.
Meine Damen und Herren, die Einnahmen der Sozialversicherung sind nicht isoliert zu betrachten, können nicht aus dem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang gelöst werden. Die Bundesregierung ist verpflichtet, nicht nur die Einnahmenseite zu sehen, sondern auch die Lage der Arbeitenden und der nicht mehr Arbeitenden, der Beitragszahler und der Rentner, in gleicher Weise zu berücksichtigen. Und so sind wir manchen gutgemeinten, aber sehr isolierten Ratschlägen nicht gefolgt.
Wie groß die Folgen rezessiver Wirtschaftsentwicklung sind, kann an wenigen Daten verdeutlicht werden. Erstens. Jeder Prozentpunkt weniger Lohn-
und Gehaltszunahme verringert gegenwärtig die Einnahmen der Rentenversicherung um rund 800 Millionen DM jährlich. Zweitens. Jeder Rückgang der Beschäftigung um 200 000 Personen bringt derzeit einen Einnahmeausfall in der Rentenversicherung von knapp 1 Milliarde DM im Jahr.
Aber eine Rezession führt nicht nur zu geringeren Einnahmen in der Rentenversicherung, sie zieht auch Mehrausgaben nach sich. Viele Arbeitnehmer sind auf Grund der Rezession vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Tarifvertragliche oder betriebliche Sozialpläne und vorgezogenes Altersruhegeld haben es ihnen erleichtert. Aber auch das flexible Altersruhegeld auf Grund individueller Entscheidung des einzelnen wurde weitaus stärker in Anspruch genommen, als früher erwartet werden konnte.
({19})
- Aber natürlich wegen der Arbeitsmarktlage. Wer bestreitet das, Herr Franke?
({20})
Parallel zu dieser Entwicklung hat die Krankenversicherung der Rentner erhebliche zusätzliche Belastungen für die Rentenversicherung gebracht. Die Zahlungen der Rentenversicherung stiegen bis auf 17 % der Rentenausgaben im Jahre 1976, obwohl der gesetzliche Anteil nur 11 % beträgt. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, die Sie das kritisieren: Diese 11 % entsprechen dem heutigen durchschnittlichen Beitragssatz in der Krankenversicherung, und wenn die Rentenversicherungen in den vergangenen Jahren diese Überzahlungen leisten konnten, dann deshalb, weil sie auf Grund der angesammelten Rücklagen dazu in der Lage waren, während die Krankenversicherung unmittelbar mit starken Kostensteigerungen konfrontiert war. Es war aber immer klar, daß diese Überzahlungen nur für begrenzte Zeit zu vertreten waren. Auf Dauer kann die Krankenversicherung von den Rentnern keinen höheren Beitrag erwarten, als es dem Durchschnittsbeitrag aller Versicherten entspricht, wenn die Solidargemeinschaft nicht Schaden leiden soll.
({21})
So hatte auch die Bundesregierung bereits 1975 in ihrem Entwurf für das Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz vorgesehen, die Zahlungen auf 11 % zurückzuführen. Dieser Teil des Gesetzes konnte in der 7. Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden. Die Bundesregierung hat aber nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie ihre Absicht in der 8. Legislaturperiode verwirklichen will. Es kann also niemand überrascht sein von dieser jetzigen Maßnahme, wobei die bisherigen Überzahlungen - das sind immerhin 15 Milliarden DM - nicht zurückgefordert wurden. Es wäre vielleicht gut, wenn manche von denen, die heute dagegen protestieren, sich daran erinnerten, daß sie jahrelang von der Rentenversicherung Zahlungen bekommen haben, die über dem gesetzlichen Soll lagen und eigentlich rückzahlbar wären.
Meine Damen und Herren, daß die unterschiedlichen Lohn- und Gehaltssteigerungen und die Veränderungen der Beschäftigungslage einen nachhaltigen Einfluß auf die Finanzentwicklung der Rentenversicherung haben, hat die Bundesregierung im übrigen nie verheimlicht.
Herr Kollege Katzer, Sie fordern: Die Zahlen auf den Tisch. Der Rentenanpassungsbericht 1976 liegt vor, und der Rentenanpassungsbericht 1977 wird am 29. Januar im Sozialbeirat in seinem Zahlenwerk vorliegen. Er wird diesem Hause zusammen mit dem Gesetzgebungswerk, das wir im Februar im Kabinett verabschieden werden, zugeleitet werden.
Niemand kann doch wohl im Ernst erwarten, daß, wenn ein solches Konsolidierungsprogramm beschlossen wird, wir Ihnen dann noch vorläufige Zahlen ohne Berücksichtigung dieses Konsolidierungsprogramms zuleiten. Sie werden voll und umfassend über das sich aus diesem Programm ergebende ZahBundesminister Dr. Ehrenberg
lenwerk informiert werden. Aber Sie werden uns schon gestatten müssen, daß wir es gründlich und ausführlich durchrechnen. Sonst werfen Sie mir vor, noch ein paar Mathematiker mehr als bisher brächen zusammen. Diese Zeit müssen Sie uns schon lassen.
({22})
- Aber bitte sehr! Wir wollen Ihnen alle Zeit einräumen. Wir hoffen, daß wir uns dann im Gesetzgebungsverfahren entsprechend verständigen können, daß der Ausschuß alle benötigte Zeit zur Verfügung hat.
({23})
- Und auch Alternativrechnungen. Auch das wird Ihnen geliefert werden.
({24})
Meine Damen und Herren, unsere Berechnungen, die bereits die vorläufigen Ist-Ergebnisse des Jahres 1976 berücksichtigen und die wir in den nächsten Tagen mit den Rentenversicherungsträgern abstimmen und dann dem Sozialbeirat vorlegen werden, zeigen: Die Rücklagen der Rentenversicherung betragen 1976 35,8 Milliarden DM. Das sind rund 1,2 Milliarden DM mehr, als die Rentenversicherungsträger selbst noch im Oktober 1976 geschätzt hatten. Diese Mehreinnahmen stammen in erster Linie aus freiwilligen Beiträgen, aus Nachzahlungen freiwillig Versicherter. Sie sind dann doch wohl, eingegangen im Dezember 1976, ein in Mark und Pfennig ausgedrückter Beweis des Vertrauens der Bürger in diese soziale Rentenversicherung.
({25})
Meine Damen und Herren, jeder sollte wissen, daß die Diskussion über Defizite in der Rentenversicherung weniger mit der aktuellen Finanzlage der Rentenversicherung - Sie haben die Rücklagenzahl gerade gehört - als mit der länger- und mittelfristigen Vorausschau der Finanzrechnungen auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun hat. Die gegenwärtig diskutierte mittel- und längerfristige Finanzlücke der Rentenversicherung ergibt sich aus der Scherenentwicklung der künftigen Einnahmen und Ausgaben auf Grund der gegenwärtigen gesamtwirtschaftlichen Annahmen. Aus gutem Grund, um der Kontinuität aller Finanzrechnungen willen, legen wir
- aber im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung - ebenso wie im Finanzministerium und ebenso wie die Länder in ihren Haushaltsrechnungen - unsere Vorausberechnungen auf die mittelfristige Zielprojektion der Bundesregierung hin an, die ihrerseits - mit der Bundesbank, mit dem Steuerschätzerkreis abgestimmt - die Annahmen enthält, die sich aus der gegenwärtigen Situation nach übereinstimmendem Urteil dieser Institutionen ergeben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder ({0}) ?
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, da Sie soeben von den Rücklagen der Rentenversicherung gesprochen haben: Würden Sie dem Haus und der Öffentlichkeit denn auch sagen, in welche sozialen Aufgaben und soziale Infrastrukturmaßnahmen diese Rücklagen investiert worden sind und wie Sie von heute auf morgen aus diesen Investitionen wieder herauskommen wollen?
Verehrter Herr Kollege, ich wäre darauf später eingegangen, bin jedoch bereit, das vorwegzunehmen.
({0})
- Ich bin zur Annahme konstruktiver Vorschläge der Opposition immer bereit, Herr Breidbach. Sie müssen nur kommen. - Die Rücklagen der Rentenversicherung schichten sich von 35 Milliarden DM, die wir jetzt haben, bis zum Jahre 1980 auf etwa 17 bis 18 Milliarden DM herunter - nach den gegenwärtigen, noch nicht völlig mit den Rentenversicherungsträgern abgestimmten Rechnungen. Das Problem, das Sie angesprochen haben, geht zurück auf die Zeit bis 1969, als die gesetzliche Vorschrift noch eine Jahresrücklage vorsah und die Versicherungsträger die Rücklagen dementsprechend zu einem Teil sehr langfristig, nämlich zum Zwecke der Wohnungsbaupolitik, angelegt haben. Dieser Teil begrenzt sich auf einen Sockel von knapp 5 Milliarden DM. Diese knapp 5 Milliarden DM sind in kleingestückelten, sehr niedrig verzinslichen Hypotheken angelegt. Nach der heutigen Übersicht ist dieser Bestand für eine Liquiditätsreserve zwar nicht verfügbar, was dem Charakter einer Rücklage vernünftigerweise widerspricht, er braucht aber auch nicht verfügbar zu sein, weil dieser Sockel als unterster Bestand der Rücklage auch in den Jahren, in denen die Finanzlücke aus heutiger Sicht am größten ist, nicht in Anspruch genommen zu werden braucht. Ihre Frage hinsichtlich des Zurückfahrens von heute auf morgen hat nie zur Diskussion gestanden. Alle Überlegungen haben stets auf den Zeitraum bis 1980 und nicht auf wenige Wochen abgezielt.
({1})
Lassen Sie mich nun zu der Problematik langfristiger Vorausberechnungen zurückkehren. Ich habe vorhin schon deutlich gemacht, um welche Größenordnungen sich die Finanzrechnungen der Rentenversicherung bei schwankendem Wirtschaftsverlauf verändern. Lassen Sie mich Ihnen hier ein weiteres Beispiel geben. Die von der Bundesregierung im November 1976 ihrer neuen mittelfristigen Zielprojektion zugrunde gelegten Annahmen, die von zurückhaltenderen Einschätzungen des wirtschaftlichen Wachstums und entsprechend niedrigeren Zuwächsen der Löhne und Beschäftigten ausgingen, als noch vor dem Sachverständigengutachten angenommen wurde, brachten für die mittelfristigen Vorausberechnungen der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung bis zum Jahre 1980 ein rechne256
risches Minus von rund 9 Milliarden DM - eine Scherenentwicklung der Zukunft, deren Größe völlig von den Veränderungen des Arbeitsmarktes und den Lohn- und Gehaltszuwächsen abhängig ist.
Vielleicht wird sich die Opposition bei dieser Gelegenheit auch an ihre eigenen Fehleinschätzungen der Finanzentwicklung der Rentenversicherung im Jahre 1972 erinnern. Die Größenordnung, Herr Kollege Katzer, die Sie damals genannt haben, wage ich hier schamhaft gar nicht zu nennen.
({2})
- Und Sie haben 50 Milliarden DM draufgelegt, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt.
({3})
- Oh doch! Sie haben ein privates Institut rechnen lassen und noch etwas draufgelegt.
({4})
- Glauben Sie, es trügt mich nicht.
({5})
-Nein, Sie haben damals etwas draufgelegt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, die
reduzierten Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung, der verstärkte Rentnerzugang und die höhere Lebenserwartung sowie die durch den überproportionalen Kostenanstieg im Gesundheitswesen verursachte Überzahlung der Rentenversicherung an die Krankenversicherung erfordern ein Konsolidierungsprogramm, um die Schere zwischen künftigen Einnahmen und Ausgaben rechtzeitig zu schließen. Für die Regierungskoalition war es dabei eine selbstverständliche Rahmenbedingung ihres Programms, daß die Substanz der sozialen Sicherung auch unter schwierigeren wirtschaftlichen Bedingungen nicht angetastet werden darf. Das heißt: Die dynamische Rente bleibt. Die Rentner nehmen auch weiterhin am wirtschaftlichen Wachstum teil. Der mit der Rentenreform von 1972 erreichte soziale Fortschritt - flexible Altersgrenze, Rente nach Mindesteinkommen - bleibt erhalten. Die Beiträge in der Rentenversicherung brauchen nicht erhöht zu werden.
({6})
Damit wird der Generationenvertrag zwischen Erwerbstätigen und Rentnern abgesichert und stabilisiert. Jeder, der heute arbeitet, sichert mit seinen Beiträgen die Renten derjenigen, die aus dem Erwerbsprozeß ausgeschieden sind. Diese Solidarität untereinander ist nur dann auf Dauer zu garantieren, wenn die Erwerbstätigen nicht das Gefühl haben, unzumutbar belastet zu werden.
Der Bundeskanzler hat die Grundzüge des Programms in seiner Regierungserklärung dargelegt. Ich möchte hier noch einmal der Vollständigkeit halber kurz zusammenfassen.
Erstens. Die Renten werden zum 1. Juli 1977 um 9,9 % erhöht.
Zweitens. Die darauf folgenden Rentenanpassungen erfolgen wieder jeweils zum 1. Januar. Eine solche Anpassung erfolgt erstmals am 1. Januar 1979. Die von der Opposition 1972 durchgesetzte Vorziehung ist auf Dauer nicht finanzierbar. Die damals bereits geäußerten Befürchtungen haben sich in der Zwischenzeit bestätigt.
({7})
Die Vorziehung ist im übrigen für heutige Finanzprobleme der Rentenversicherung mitverantwortlich.
Drittens. Die Festsetzung der Neurenten erfolgt weiterhin auf der Grundlage des Anstiegs der Bruttolöhne und -gehälter. Sollte die wirtschaftliche Entwicklung es erforderlich machen, kann in den Jahren 1979 und 1980 bei den Bestandsrenten von dieser Grundlage abgewichen werden, jedoch darf das Niveau des Anstiegs der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer - nach den heutigen Schätzungen, verehrter Herr Kollege Breidbach, beträgt dieser Anstieg 6,1 % - nicht unterschritten werden.
Viertens. Die Zahlungen der Rentenversicherung an die Krankenversicherung der Rentner werden ab 1. Juli 1977 auf 11 % der Rentenausgaben begrenzt.
Fünftens. Bei einigen Leistungen werden Korrekturen vorgenommen. So sollen z. B. die Kinderzuschüsse auf ihrem bisherigen Stand von rund 153 DM festgeschrieben werden. Außerdem sind Kuren in Zukunft auf die eigentlichen Mitglieder der Solidargemeinschaft und auf das medizinisch Notwendige einzuschränken.
Flankierend zu diesen Eckwerten haben die Regierungsparteien zur langfristigen Stabilisierung der Rentenfinanzen am 13. Januar 1977 ein wichtige systemstabilisierende Ergänzung beschlossen. Die Bundesanstalt für Arbeit wird ab 1. Januar 1979 für ihre Leistungsempfänger volle Beiträge zur Rentenversicherung zahlen. Außerdem übernimmt die Bundesanstalt für Arbeit von der Rentenversicherung die Aufgabe der beruflichen Rehabilitation. Für die Krankenversicherung der Arbeitslosen zahlt die Arbeitslosenversicherung seit eh und je Beiträge. Wir gehen diesen vernünftigen Weg, den Weg der sauberen Trennung der Risiken der sozialen Sicherheit konsequent weiter.
Hier erfolgt eine klare und funktionsentsprechende Zuordnung der Aufgaben und der Finanzierung der sozialen Sicherung auf die drei großen Säulen Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung. Herr Kollege Katzer, wie jemand in dieser funktionsgerechten Trennung den Weg zur Einheitsversicherung sehen kann, ist mir nun wirklich völlig verborgen geblieben.
({8})
Es ist doch nur aus der Sucht, uns in jedem Fall etwas Kollektivistisches anhängen zu wollen, zu erklären, wenn angesichts jener sauberen Trennung der Risiken der Verdacht geäußert wird, man wolle die Einheitsversicherung still und heimlich durch die Hintertür einschleichen lassen.
Im Gegenteil, meine Damen und Herren, in unserem System der sozialen Sicherung hat die Rentenversicherung vor allem die Aufgabe, für das Alter vorzusorgen, während die Arbeitslosenversicherung die Risiken auf dem Arbeitsmarkt abzudecken hat. Daher ist es nur konsequent, wenn auch während der Zeiten von Arbeitslosigkeit Zahlungen an die Rentenversicherung erfolgen und arbeitsmarktbezogene Rehabilitationsmaßnahmen von der Arbeitsverwaltung übernommen werden. Damit werden auch die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit transparent und bei einer Bundesanstalt voll erkennbar. Dies ist nicht nur Konsolidierung, dies ist Stabilisierung uneres sozialen Sicherungssystems.
({9})
Wir haben mit dieser Maßnahme die Rentenversicherung unabhängiger gemacht von den Schwankungen des Arbeitsmarktes und der Zahl der Beitragszahler. Sie haben in Zukunft immer noch das Risiko unterschiedlich hoher Lohnzuwächse, Sie können aber zuverlässig nach der Bevölkerungsstatistik mit einer überschaubaren Zahl von Beitragszahlern kalkulieren.
Meine Damen und Herren, das Modell der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Jahre 1957, das in Schönwetterperioden hervorragend funktionierte, haben wir mit dieser Maßnahme nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftsrezession wetterfester gemacht und unabhängiger von den Risiken des Arbeitsmarktes.
Das von der Regierungskoalition beschlossene Programm zur Rentensicherung ist in sich ausgewogen und solide. Wir schließen damit die gegenwärtig sichtbare rechnerische Auseinanderentwicklung zwischen künftigen Einnahmen und Ausgaben. Es ergeben sich, um einige Zahlen vorweg zu nennen, durch das Koalitionsprogramm folgende Minderausgaben bzw.. Mehreinnahmen für die Rentenversicherung bis zum Jahre 1980: Rund 32 Milliarden DM durch Begrenzung der Zahlungen an die Krankenversicherung der Rentner auf 11 % der Rentenausgaben; knapp 19 Milliarden DM durch die Wiederherstellung des Rentenanpassungstermins, wie er bis zum Jahre 1972 bestand, sowie durch die Anpassung der Bestandsrenten 1979/80 mindestens entsprechend den Nettolohnzuwächsen der Arbeitnehmer; knapp 4 Milliarden DM durch Korrekturen in Teilbereichen des Leistungsrechts; mehr als 6 Milliarden DM durch die künftigen Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit. Darüber hinaus kann die Rücklage von gegenwärtig 35,8 Milliarden DM in Anspruch genommen werden. Nach unseren jetzigen Vorausschätzungen auf der gegenwärtigen Grundlage wird sie aber nicht unter die Größenordnung von 1,5 Monatsausgaben im Jahre 1980 sinken, wahrscheinlich nicht einmal ganz bis dahin.
Meine Damen und Herren, mit diesem Konsolidierungsprogramm wird die auf den gegenwärtigen Grundannahmen beruhende Schere zwischen künftigen Einnahmen und Ausgaben geschlossen. Es ist
ein in sich ausgewogenes Programm. Es dient sowohl den Interessen der Rentner als auch den Interessen der Versicherten und, Herr Kollege Katzer, es ist ein Programm auf Dauer. Wenn Ihre internen Beobachter Ihnen etwas von einer neuen Koalitionsrunde gemeldet haben sollten: Ich weiß nicht woher, ich weiß nicht, wer wann wen wo wie dazu eingeladen haben soll. Unser Programm ist abgeschlossen, vereinbart. Sie werden in Kürze den Gesetzentwurf auf dieser Basis zugeleitet bekommen.
({10})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burger?
Bitte sehr.
Bitte schön.
Herr Bundesminister, Sie haben bei Ihrem Programm kein Wort zu den Kriegsopferrenten gesagt. Wie werden die Kriegsopferrenten von diesem Programm betroffen?
Die Kriegsopferrenten bleiben in ihrer Parallelität zur Rentenversicherung, d. h. alles, was hier über Termine gesagt wurde, gilt genauso für die Kriegsopferrenten.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Burger?
Wenn es sein muß, auch das.
Heißt das konkret, daß die damalige verspätete Anpassung der Kriegsopferrenten in diesem Paket nicht berücksichtigt wird?
Das heißt konkret, daß die völlige Parallelität, die wir in der Gesetzgebung zwischen Rentenversicherung und Kriegsopferversorgung festgelegt haben, so bleibt. Sie werden zu den gleichen Terminen angepaßt.
({0})
Bevor ich zu dem gesundheitspolitischen Programm übergehe, ist noch eine Antwort an Herrn Katzer notwendig. Verehrter Herr Kollege Katzer -
({1})
- Ich will bei der Erörterung parteiinterner Probleme nicht stören.
({2})
Ich würde Herrn Katzer nur gern Antworten geben, auf die er Anspruch hat.
({3})
Ich würde mir ungern nachsagen lassen, seine direkten Fragen nicht beantwortet zu haben.
Herr Kollege Katzer, Sie haben bei der Aufzählung einer Vielzahl von Ihnen scheinbar festgestellter Widersprüche auch aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitiert, nämlich eine angebliche Äußerung von mir, ich hielte Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung für möglich. Das stand so nicht in der „Frankfurter" - dort stand es nur sehr vage -, sondern in einer Überschrift der in Bonn erscheinenden Zeitung „Die Welt" . Dort stand am 22. Dezember: „Ehrenberg schließt höhere Rentenbeiträge nicht aus." Diese Überschrift war, wie so oft etwas, was in der „Welt" steht, schlicht falsch.
({4})
Ich habe am selben Tag über das Bundespresseamt dieser Zeitung und der Presse mitteilen lassen:
Der Minister hatte vielmehr am Montag in einer Pressekonferenz und auch später mehrfach öffentlich erklärt, daß die im Koalitionskompromiß gefundenen und mittlerweile bekannten Maßnahmen geeignet sind, die Rentenzahlungen zu sichern, ohne daß dazu die Beiträge in der Rentenversicherung erhöht werden müssen.
Wenn einzelne Journalisten das trotzdem nicht verstehen, können Sie das mir nicht anlasten.
Sie haben zum zweiten, Herr Kollege Katzer, den Bundesfinanzminister und die Bundesregierung auf die Rückzahlung der gestundeten Bundeszuschüsse angesprochen. Zwischen dem Bundesfinanzminister und mir besteht Einigkeit darüber, daß die verbrieften Schuldforderungen größtenteils 1977, ein kleiner Teil 1978 vorzeitig eingelöst werden. Das bedeutet für den Bundeshaushalt keinerlei zusätzliche Belastungen, sondern lediglich eine Umschuldung von Titeln in der Bundesschuldenverwaltung.
({5})
- Das sind etwas mehr als 3,5 Milliarden DM. Die nicht verbrieft, sondern nur in Stundungen festgelegten Bundeszuschüsse von zweimal 2,5 Milliarden DM, die für die Jahre 1981 und 1982 zur Rückzahlung vorgesehen sind, sind in einer Vereinbarung zwischen uns in diesen Terminen geblieben, weil sie mir erstens, wenn ich sie jetzt bekäme, in der langfristigen Rechnung, die der Sozialbeirat sehr kritisch durchleuchtet, in den Jahren 1981 und 1982 fehlen würden und weil zweitens das gegenwärtige Konsolidierungsprogramm voll ausreicht, so daß wir sie vorher nicht benötigen und unsere langfristige Rechnung darum so erhalten wollen, wie sie jetzt ist. Das ist ein vernünftiges Haushaltsgebaren, das den Bedürfnissen der Sozialversicherung Rechnung trägt.
Aber ich muß in diesem Zusammenhang, weil Sie das direkt angesprochen haben, auf eine Einlassung des Kollegen Strauß in der ersten Debatte über die
Regierungserklärung zurückkommen. Herr Strauß hat damals massiv den Vorwurf erhoben, daß Finanzminister Apel seine Schulden nicht zurückfahre. Aber Herr Strauß hat etwas nicht mehr gewußt oder die Kenntnis davon aus der Zeit, als er Finanzminister in der Großen Koalition war, verdrängt. Verehrter Herr Kollege Strauß, in der Zeit, als Sie Finanzminister in der Großen Koalition waren, wurden zwar keine Bundeszuschüsse gestundet, aber es wurden rund 4 Milliarden DM an Bundeszuschüssen schlicht ersatzlos gestrichen.
({6})
Diese gestrichenen Zuschüsse vermißt die Rentenversicherung in ihren langfristigen Rechnungen allerdings sehr viel stärker als jene zweimal 2,5 Milliarden DM, die sie von dem gegenwärtigen Finanzminister in den Jahren 1981 und 1982 zu erwarten hat.
Gleichzeitig mit der Konsolidierung der Rentenversicherung haben wir unser Programm zur Kostendämpfung und Strukturverbesserung im Gesundheitswesen beschlossen. Sie alle wissen, daß in der Krankenversicherung seit längerem die Ausgaben erheblich schneller gestiegen sind als die Einnahmen. Die Folge war eine anhaltende Erhöhung der Beitragssätze. Schon Ende der 60er Jahre war der durchschnittliche Beitragssatz in der Krankenversicherung bis auf 10,5 °/o gestiegen. Durch die Einführung der Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer im Krankheitsfall wurden die Krankenkassen entlastet, so daß der Satz vorübergehend auf durchschnittlich 8,2 % gesenkt werden konnte. Inzwischen ist er aber wiederum auf 11,3 °/o - also noch mehr als vor der Lohnfortzahlung - gestiegen.
Zu einem Teil haben die steigenden Kosten des Gesundheitswesens ihre Ursache in den Leistungsverbesserungen der letzten Jahre, Leistungsverbesserungen, die gesundheitspolitisch richtig, gewollt und notwendig waren. Sie haben ihre Ursache aber auch in unzweckmäßigen und unwirtschaftlichen Strukturen. Diese Strukturen haben die Kosten des Gesundheitswesens über das ökonomisch vertretbare Maß hinaus steigen lassen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich anerkennen, daß es im letzten Jahr durch gemeinsame Anstrengungen aller Beteiligten und der Bundesregierung gelungen ist, den Kostenzuwachs zu dämpfen. Aber das allein reicht nicht aus. Die Koalition hat deshalb ein umfassendes Programm zur Kostendämpfung und zur Strukturverbesserung im Gesundheitswesen beschlossen. Es geht uns dabei um folgende Zielvorstellungen:
Die steigende volkswirtschaftliche Belastung durch den Gesundheitsaufwand muß nachhaltig begrenzt werden, d. h., die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung muß sich stärker an der Entwicklung der Einnahmen ausrichten.
Das gute medizinische Versorgungsniveau muß aufrechterhalten und noch verbessert werden.
Der Handlungsspielraum der Selbstverwaltungskörperschaften der Krankenkassen und der Ärzte soll wesentlich erweitert und dabei die Position der Krankenversicherung gestärkt werden.
Wirtschaftliches und sparsames Handeln aller Beteiligten einschließlich der Versicherten ist zu stärken.
Das heißt:
1. Der Zuwachs der Ärzteeinkommen soll stärker an der allgemeinen Einkommensentwicklung orientiert und die Arzneimittelversorgung kostengünstiger gestaltet werden.
2. Die Bundesregierung wird eine Kommission unabhängiger Sachverständiger berufen, die Transparenzlisten über Preise und Wirksamkeit vergleichbarer Medikamente erstellt. Außerdem soll die Mißbrauchsaufsicht des Bundeskartellamts über den Arzneimittelmarkt verstärkt werden, um überhöhten Preisen entgegenzuwirken.
({7})
3. Die Krankenhausversorgung soll wirtschaftlicher werden. Die Krankenhäuser erhalten das Recht zur vor- und nachstationären Behandlung. Die Krankenkassen werden in Zukunft einen größeren Einfluß auf die Krankenhausplanung erhalten. In Zukunft werden auch die Pflegesätze nicht mehr vom Staat festgelegt, sondern zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen ausgehandelt werden. Die Krankenkassen können dann mehr als bisher dazu beitragen, den Anstieg der Pflegekosten zu begrenzen. Der Stärkung der Verhandlungspositionen der Krankenkassen messe ich eine ganz entscheidende Bedeutung zu.
4. Die Krankenhausträger sind in angemessenem Rahmen an den Investitionen bei der Neuerrichtung von Krankenhäusern zu beteiligen. Auch dort muß ein Stückchen Kostenbewußtsein geweckt werden.
5. Die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung soll ab 1. Juli 1977 auf 85 % - das sind 2 890 DM im Monat - der sich auf 3 400 DM belaufenden Grenze in der Rentenversicherung erhöht werden. Die Versicherungspflichtgrenze bleibt bei 75 % der Beitragsbemessungsgrenze. Das sind monatlich 2 550 DM. Die ursprünglich vorgesehene Anpassung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung an die der Rentenversicherung ließ uns nach gründlicher Prüfung so große Verschiebungen befürchten, daß es uns vernünftig erschien, den Schritt auf 85 °/o statt 100 0/o zu tun. Wir haben diesen Problemen mit dem ergänzenden Beschluß Rechnung getragen.
6. Künftig sollen - das scheint mir für die Struktur der Krankenversicherung besonders wichtig zu sein - die Belastungen aus der Krankenversicherung der Rentner gleichmäßig auf alle Versicherten verteilt werden. Dies wird - vereinfacht ausgedrückt - dadurch erreicht, daß die Belastung durch die Krankenversicherung der Rentner errechnet und der Kostenanteil an dem gesamten Beitragsaufkommen festgestellt wird. Kassen mit einer relativ geringen Rentnerdichte haben dann dieser Feststellung entsprechend Ausgleichszahlungen an die Kassenarten mit hoher Rentnerdichte zu leisten. Für die Fachleute gesagt: Es findet nicht ein Pro-Kopf-Ausgleich, sondern ein Ausgleich nach der Grundlohnsumme statt.
7. Eine Reihe von weiteren kleineren, aber im Gesamtkonzept notwendigen und wichtigen Maßnahmen: Der Höchstbetrag für die Rezeptblattgebühr von 20 % soll von 2,50 DM auf 3,50 DM erhöht und auch die Rentner sollen an diesen Arzneimittelkosten beteiligt werden. Die Rezeptblattgebühr entfällt jedoch bei chronischen Krankheiten und bei Wiederholungsrezepten.
({8})
Diese Einbeziehung der Rentner in die Arzneimittelkostenbeteiligung hält die Koalition insbesondere im Hinblick darauf, daß die Rentner auch künftig keinen individuellen Krankenversicherungsbeitrag zu zahlen haben, für zumutbar und im Sinne der sozialen Ausgewogenheit für notwendig.
({9})
Haushaltshilfe durch Verwandte soll künftig nicht mehr uneingeschränkt von den Krankenkassen finanziert werden. Zuschüsse zum Zahnersatz sollen auf 80 % der Kosten begrenzt werden, der Eigenanteil der Versicherten beträgt jedoch höchstens 500 DM. Kuren sollen nur nach vertrauensärztlichem Gutachten und nur noch innerhalb der Bundesrepublik gewährt werden.
Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Dieses Programm geht davon aus: Die Verantwortung der Selbstverwaltung der Ärzte bleibt erhalten. Das soziale und medizinische Leistungsniveau der Krankenversicherung wird finanziell konsolidiert und weiterentwickelt. Der soziale Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung als Solidargemeinschaft wird gestärkt. Das gegliederte Krankenversicherungssystem wird in seiner Funktionsfähigkeit verbessert.
In der öffentlichen Diskussion und auch heute wieder ist dieses Programm wiederholt als ungerechtfertigte Verlagerung der Probleme von der Rentenversicherung zur Krankenversicherung kritisiert worden. Demgegenüber möchte ich nochmals mit allem Nachdruck sagen: Die Rückführung der Zahlung der Rentenversicherung an die Krankenversicherung auf 11 % ist keine ungerechtfertigte Verlagerung der Probleme. Die Krankenkassen erhalten von der Rentenversicherung den Beitrag, den sie auch von den übrigen Versicherten im Durchschnitt erhalten. Die Begrenzung auf 11 % ist darum keine Verschiebung von Finanzierungslasten, sondern eine klare, sachlich begründete Abgrenzung der Aufgaben innerhalb unseres Systems der sozialen Sicherheit. Diese Regelung entspricht dem Weg der Klarheit und der sachgerechten Aufgabenverteilung, den die Bundesregierung auch mit der vorgesehenen Neuregelung der Beziehungen zwischen Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung eingeschlagen hat.
Unser System der sozialen Sicherheit und der gesundheitlichen Sicherung hat sich im Grundsatz be260
währt. Gerade deshalb sollte jeder den Mut haben, dort, wo Mängel aufgetreten sind, für deren Beseitigung zu sorgen, damit dieses Gesundheitssystem leistungsfähig bleibt und gestärkt wird. Das Konsolidierungsprogramm ist dazu ein entscheidender Beitrag.
Lassen Sie mich zum Abschluß meiner Ausführungen auf ein Zitat des verehrten Kollegen von Weizsäcker zurückkommen. Er hat gestern an dieser Stelle gesagt: Die Probleme sind nicht unlösbar. Meine Damen und Herren von der Opposition, das kann ich nur unterstreichen. Meiner Hoffnung freilich, daß diese Aussage des Kollegen von Weizsäcker das Anzeichen für konstruktive Mitarbeit der Opposition an der Lösung dieser Probleme sein könnte, steht leider die wenig qualifizierte Erklärung des Bundesvorstands der CDU vom 17. Januar 1977 entgegen. Auch Sie, Herr Kollege Katzer, haben meine Hoffnung nicht bestärkt. Vokabeln wie Offenbarungseid, Flickschusterei, Verschleierung
({10})
sind nicht nur unzutreffend, sondern sie führen -
({11})
- Kein Eigentor, Sie haben es aufgenommen. Der Kollege Schmidt ({12}) muß sich seinen Flickschuster selber suchen. Da hilft ihm nichts.
Sie führen die vor den Wahlen begonnene Verunsicherungskampagne systematisch weiter. Sie wollen mit diesen Vokabeln doch nichts anderes, als Ihre eigene Konzeptions- und Alternativlosigkeit verdecken.
({13})
Herr Kollege Katzer, das muß ich Ihnen abschließend einfach noch sagen: Allein die Forderung nach einer neuen Politik und allein die Forderung „Zahlen auf den Tisch", das erinnert wenig angenehm an die ewige Forderung des jetzt nicht anwesenden Kollegen Strauß nach dem Kassensturz, die er stellte, obgleich sein Kollege im Haushaltsausschuß ihm sagen konnte - wenn er selbst nicht hineinsehen wollte -, wie es um die Haushaltslage des Bundes bestellt war. So, ohne daß Sie einen einzigen konstruktiven Vorschlag machen, ohne daß Sie eine einzige Maßnahme nennen, die Sie statt dessen ergreifen würden, wenn Sie bereit wären mitzuarbeiten, kann man den Beitrag der Opposition hier nur als Polemik ohne Substanz bezeichnen.
Ich bedaure das. Ich glaube, diese Probleme sind groß und wichtig genug, daß alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ihren Beitrag zu ihrer Lösung leisten sollten. Aber wenn Sie nicht wollen oder nicht können: Wir haben nicht so viel Zeit. Der Termin 1. Juli 1977 ist für uns bindende Verpflichtung. Wir werden das Gesetzgebungswerk so rechtzeitig einbringen, daß dieser Termin eingehalten werden kann.
Wenn Ihr Beitrag nicht kommt, so werden wir uns davon nicht beirren lassen, sondern unser Programm
im Interesse der Bürger dieses Landes konsequent in die Tat umsetzen.
({14})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Franke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Ehrenberg, welch großes Interesse Sie hier im Hause ausgelöst haben, mögen Sie bitte an der dürftigen Besetzung Ihrer eigenen Fraktion einmal abmessen.
({0})
Ich könnte mir vorstellen, daß das auch noch eine Reaktion auf die vielen Vorschläge ist, die in den letzten Tagen, in den letzten Wochen von Ihnen und Ihrem Vorgänger jeweils in veränderter Form vorgelegt worden sind.
Herr Minister Ehrenberg, Sie haben eben gesagt: „Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht ...", als Sie sich auf Daten aus dem Jahre 1972 bezogen. Sie haben nicht nur keine gute Erinnerung an das Jahr 1972, sondern auch die letzten 10 oder 14 Tage haben Sie wahrscheinlich ganz und gar aus dem Gedächtnis verdrängt, weil sie unangenehm waren. Das Wort von der sozialen Flickschusterei haben wir aufgenommen. Es stammt aber ganz eindeutig von Ihrem Koalitionspartner Schmidt ({1}) von der FDP.
({2})
Ich will mich dem zuwenden, was etwas länger zurückliegt. Sie saßen damals auf der Bank, auf der Sie auch jetzt sitzen, als beamteter Staatssekretär. Ich hatte mich damals mit dem Herrn Minister Arendt darüber auseinanderzusetzen, wie hoch die Schätzungen für die nächsten Jahre seien und worauf man dann bei den Beschlüssen des Jahres 1972 aufbauen könnte. - Sie haben das eben nicht mitbekommen: Ich hätte gern um das gewettet, was Ihnen in nächster Zeit monatlich zufließt. Ich wiederhole diese Wette. - Wir haben 1972 ausgerechnet, daß für den 15-Jahres-Zeitraum bis 1988 200 Milliarden DM zur Verfügung stehen würden. Wir haben damals richtig gerechnet. Walter Arendt hat sich damals über mehrere Kurven hinweg von etwa 188 Milliarden DM auf dann 210 Milliarden DM hochgerechnet. Er hat auf unsere 200 Milliarden DM, die wir solide errechnet hatten, noch 10 Milliarden DM hinzugelegt, um das Gesamtpaket von 1972 finanzieren zu können, welches Sie zu verantworten haben; denn Sie haben in der Schlußabstimmung, in der dritten Lesung, dem Gesamtpaket zugestimmt. Sie können die Verantwortung dafür nicht auf die damalige und heutige Opposition schieben.
({3})
Dann hat das Bundesarbeitsministerium, in dem Sie zu der damaligen Zeit beamteter Staatssekretär waren, noch ein Sicherheitspolster von 28 Milliarden DM hinzugerechnet.
Verehrter Herr Minister - ich hätte beinahe gesagt: Walter Arendt - Ehrenberg, Sie haben als
beamteter Staatssekretär damals daran mit herumgerechnet. Sie haben auch die Verantwortung dafür zu übernehmen und nicht uns die Verantwortung für diese Zahlen, die Sie errechnet haben, zuzuschieben.
({4})
Aber Herr Ehrenberg geht in diesem Stil weiter. Ein lieber Kollege aus meiner Fraktion war so freundlich, einmal aufzuschreiben, an wen Sie während Ihrer Rede heute morgen appelliert haben, und zwar in dem gleichen Stil wie der Bundeskanzler; er appelliert an Mächte, an finstere Mächte draußen, an Gruppen in unserer Gesellschaft. Sie haben das auch getan. Einmal haben Sie an die Arbeitgeber, an die Unternehmer appelliert, dann an Verbände, dann an Personalabteilungen, dann an kredit-, forschungs- und finanzpolitische Institutionen, an Länder und Gemeinden.
({5})
Herr Minister, die Fragen, die wir jetzt zu regeln haben und die Sie hier zu vertreten und für die Sie letztlich auch Regelungsmöglichkeiten vorzuschlagen haben, auch bei der Bewältigung der Arbeitsmarktprobleme - das alles ist kein Problem, das Sie den Leuten draußen in die Schuhe schieben können, sondern das ist das Ergebnis einer Unterlassungssünde dieser Regierung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Seit 1969 tragen Sie die Verantwortung. 1969 hatten wir eine Arbeitslosenquote von etwa 1 %. Wir hatten, nebenbei gesagt, eine Inflationsrate von etwa 1 %. Ein Jahr, nachdem Sie an die Regierung gekommen waren, gingen die Inflationsraten hoch. Rainer Barzel hat Ihnen als damaliger Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU das ins Stammbuch geschrieben. Damals war der Bundeskanzler noch Willy Brandt. Ich will mir ein böses Wort ersparen, welches aus Ihren eigenen Reihen kommt und besagt, daß er angeblich oder wahrscheinlich oder auch sicherlich heute noch nicht mit Zahlen umgehen kann. Rainer Barzel hat damals gesagt: Wenn Ihr diese Maßnahmen jetzt durchführt, wird das Ergebnis dieser Maßnahmen Inflation sein, und als Ergebnis der Inflation kommt ein großes Arbeitsplatzrisiko, d. h. Arbeitslosigkeit, auf uns zu. Ich setze jetzt das fort, was ich schon am 16. Januar 1975, also vor zwei Jahren, an dieser Stelle gesagt habe: Wenn diese Arbeitsmarktpolitik von Ihnen als das Ergebnis Ihrer Inflationspolitik betrieben worden ist, werden Sie die soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zu finanzieren in der Lage sein. Nun haben wir die Situation, meine Damen und Herren.
({7})
Dann haben Sie, Herr Ehrenberg, zwar etwas vorsichtiger formuliert, aber im Kern doch vorwurfsvoll auch an die Krankenversicherung und an die Krankenversicherungsträger appelliert. Sie haben gesagt, Sie wollten die 17 °/o Rentenausgaben an die Krankenversicherung auf 11 % zurückführen. Wie ist es denn zu diesen 17 % gekommen, meine sehr verehrten Damen und Herren? Ich darf unterstellen, daß nicht jeder, der hier oder auch draußen als Zuhörer ist, die gesetzlichen Grundlagen dafür im Gedächtnis hat. Nach § 393 a der Reichsversicherungsordnung hatte das Arbeitsministerium eine Beitragsbemessungsverordnung zur Übertragung der Krankenversicherungsleistungen zu erlassen. Im August 1973 hat der Sachverständigenrat für die Weiterentwicklung der Krankenversicherung Ihnen, dem Arbeitsminister, wirklich nahe ans Herz gelegt, diese Verordnung zu erlassen. Dann wäre es nicht zu solchen Übertragungen gekommen, und 1973 wäre manches leichter gewesen als heute, nachdem Sie die Karre so in den Dreck gefahren haben.
({8})
Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zu den Ausführungen des Ministers Ehrenberg und auch zu der Kraft seiner prognostischen Fähigkeiten anfügen. Ich habe hier eine Mappe Äußerungen von Ehrenberg, die natürlich von einem lieben Kollegen zusammengestellt worden ist. Da sagt der Abgeordnete Ehrenberg' im „Manager-Magazin" vom 9. September 1976, ein paar Tage vor der Wahl - ich darf mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren -:
Das böseste Beispiel für diesen Tatbestand ist die seit einem Jahr immer wieder neu hochgepustete Diskussion um die finanzielle Lage der sozialen Rentenversicherung.
({9})
Hier jagen sich Tatarenmeldungen, die von der baldigen Pleite bis zu unmittelbar bevorstehender Beitrags- bzw. Leistungskürzung reichen.
Das sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt, auch angesichts der Daten, die er im September 1976 haben mußte, und insbesondere auch in Kenntnis der Untersuchungsergebnisse des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 10. März 1976. Bei dieser Anhörung waren z. B. die Deutsche Bundesbank und der Verband der Rentenversicherungsträger, und zwar sowohl Arbeiterrenten-
und Angestelltenversicherung vertreten, und auch Professor Meinhold, der Vorsitzende des Sozialbeirats beim Bundesarbeitsministerium, und der Chef des Bundesaufsichtsamts für das Versicherungswesen sind von uns vernommen worden. Als Ergebnis dieser von uns erzwungenen Sachverständigenanhörung kam das heraus, was wir zu diesem Zeitpunkt schon seit eineinhalb Jahren wußten: Durch diese Ihre Wirtschaftspolitik ist die soziale Sicherung in unserer Bundesrepublik Deutschland gefährdet, und dies haben ausschließlich Sie und nicht irgendwelche anonyme Gruppen in unserer Gesellschaft zu verantworten.
({10})
- Herr Wolfram, ich kann Ihnen nur empfehlen: Reizen Sie mich nicht!
({11})
- Das können Sie nicht in vollem Umfang verstehen; denn das bezieht sich auf eine Begebenheit
zwischen Wolfram und mir. Wolfram, bleiben Sie
ruhig!
({12})
- Es wird bestritten, ob das Eis oder Kuchen war. ({13})
In einer Anzeige vom 13. August 1976 - wir waren im Bundestagswahlkampf - formulierte Ehrenberg -
(
Das sind sozialpolitische Kostbarkeiten! - Katzer [CDU/ CSU] : Das kennen nur Insider!)
- Herr Schmidt ({0}), auf Sie komme ich gleich noch.
Herr Abgeordneter, fahren Sie bitte in Ihrer Rede fort!
({0})
Ehrenberg sagte also im August 1976:
Seit dem Frühjahr dieses Jahres steigen die Einnahmen der Rentenversicherung wieder kräftig auf Grund der besseren Konjunktur. Die Opposition aber operiert mit den Zahlen des vergangenen Jahres, obgleich auch da schon die düsteren Voraussagen nicht eintraten. Die Rentenversicherung schloß 1975 noch mit einem Überschuß von 600 Millionen DM ab und nicht mit dem vorausgesagten Defizit.
Diese solide Finanz- und Rechenbasis ist durch noch so viel Propagandaaufwand nicht zu erschüttern. Die Renten sind solide finanziert,
- jetzt kommt es und weder Rentenkürzungen noch Beitragserhöhungen sind zu erwarten. Dafür steht Walter Arendt, der erfolgreichste Arbeitsminister der Bundesrepublik Deutschland, ein.
({0})
- Er ist in Bad Lauterberg.
Wie falsch diese Behauptung ist, ergibt sich daraus, daß die Bürger mit der Frage Nettoanpassung oder Bruttoanpassung in der Regel nichts anzufangen wissen. Aber die Nettolohnanpassung, die ab 1979/80 geplant ist, führt zu effektiven Kürzungen der Renten.
({1})
Die Versprechungen, es würden auch durch diese Maßnahmen Renten nicht gekürzt, sind so falsch wie Ihre Behauptungen in Ihren Anzeigen, wo immer Sie sie auch abgegeben haben.
({2})
Was heißt das: Nettolohnrente? Das heißt Bruttoeinkommen minus Steuern und Abgaben. Wahrscheinlich wird es so definiert. Das heißt, die Bezieher kleiner Renten kriegen einen größeren Abschlag als diejenigen, die eine hohe Rente bekommen bzw.
ein hohes Einkommen bezogen haben. Sie werden ja nachher „Nettolohnbezug" definieren. Wenn es aber so wird, wie Sie in der letzten Zeit haben verlauten lassen, werden diejenigen die aus Ihren Lebenseinkommen hohe Renten beziehen, eine höhere Steigerungsrate haben als diejenigen, die eine niedrige Rente beziehen. Das wird also eine niedrigere Rente werden. Die Schere geht weiter auseinander. Das kann man nicht soziale Symmetrie nennen.
({3})
Aber nicht nur der jetzt amtierende Arbeitsminister ist angesprochen. Ich erweise selbstverständlich dem Amt des Bundeskanzlers - dem Amt - Respekt. Aber ich hatte hier eine Diskussion mit dem Abgeordneten Schmidt ({4}), unten aus dem Plenum des Bundestages, von der Regierungsbank heruntergehend, einen Disput am 8. April 1976. Schmidt ({5}) - ich darf es mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren - fragte:
Ich muß eine lange Frage formulieren, Herr Kollege, um im Einklang mit der Geschäftsordnung zu bleiben:
Jetzt kommt es:
Unterstellt, daß Sie mir unterstellen, daß ich die volkswirtschaftlichen Zahlen richtig zu deuten weiß - -({6})
- ich tue das ja auch nicht, aber er hat sich selbst hier beleidigt, das werden Sie gleich sehen Können Sie sich erstens vorstellen, daß ich der Meinung bin,
- Schmidt ({7}), der Bundeskanzler, von hier unten daß auch im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt die gegenwärtige Vermögensanhäufung in den Rentenversicherungen voll ausreicht ...?
Der Weltökonom sprach da, der Weltökonom.
({8})
Er löst alle Probleme vom Kap der Guten Hoffnung bis zum Kap Horn.
({9})
Nur bei uns ist er nicht in der Lage, die volkswirtschaftlichen Daten richtig zu deuten und daraus die Konsequenz zu ziehen.
({10})
Am 8. April, fünf Monate vor der Bundestagswahl!
Die Linie wird fortgeführt, bis zu dem „Problemchen". Herr Schmidt, Sie konnten gar nicht verhindern, daß immer gleich, wenn Sie „Problemchen" sagen, die Leute „Schmidtchen" sagen. Das kann man nicht ändern, das ist so.
({11})
Es heißt weiter - ich habe das unterstrichen, dann können Sie es gleich noch einmal nachlesen, was Sie gesagt haben -:
... können Sie sich drittens vorstellen, daß das, was Sie als Vorwurf an mich richten, vielleicht heute morgen bei den absoluten Zahlen, die ich ja nur nenne, um Ihrer schamlosen Propaganda, die Renten seien nicht gesichert, entgegenzutreten ..
Ich wiederhole: Im Bewußtsein und in Kenntnis der Daten aus der Sachverständigenanhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vom 10. März 1976 sagt drei Wochen später der damalige Bundeskanzler - und heutige Bundeskanzler -: Das alles nehme ich nicht zur Kenntnis; ich als der richtige Deuter der Zahlen sage, da gibt es überhaupt keine Probleme, auch für die Zukunft sind die Renten gesichert. Herr Schmidt, Verzeihung: Herr Bundeskanzler, Sie haben damals nach meiner Auffassung auch für das Gesamtklima in der Bundesrepublik Deutschland mit dieser Ihrer Strategie und Taktik denjenigen, die davon betroffen werden, nämlich den Rentnern, den vielen von der Sozialversicherung bezahlten Menschen - 11,2 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland -, von denen 2,3 Millionen unter dem Sozialhilfesatz liegen, nicht geholfen. Wenn Sie jetzt Rentenkürzungen vornehmen - durch Nettolohnanpassungen und welche anderen Dinge auch immer -, wird ein vergleichbares Ehepaar - 65 Jahre und älter -, das bei einer Durchschnittsrente nach 40jähriger Versicherungszeit heute 917 DM Rente erhält, Ansprüche an die Sozialhilfe stellen können, wenn es keine anderen Einkommen hat, und bekommt monatlich 974,85 DM, und das, ohne jemals einen Beitrag gezahlt zu haben. Meine Damen und Herren, alles das, was Sie hier vorgenommen haben, ist lediglich ein gigantischer Verschiebebahnhof zu den Kostenträgern der Sozialhilfe, nämlich zu den Städten und Gemeinden. Sie haben damit das Problem nicht gelöst!
({12})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt ({0})?
Schmidt ({0}) sogar gerne!
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Franke, kannten Sie die eben von Ihnen genannten Zahlen aus der Sachverständigenanhörung auch?
Aber selbstverständlich.
Gut. Dann eine zweite Frage: - Franke ({0}) : Herr Kollege Schmidt, nach der Geschäftsordnung dürfen Sie nur eine Frage stellen, aber Sie dürfen von mir aus gleich noch eine stellen. Darf ich nur gleich darauf antworten: Wir
haben selbstverständlich der Erhöhung im letzten Jahr - zum 1. Juli 1976 - zugestimmt. Herr Kollege Schmidt, wir kommen sofort auf die nächste Frage zurück. Ich darf das hier einmal sagen: Ich bedanke mich für Ihre Fairneß, die Sie üben, wenn Sie hier oben stehen, und ich will versuchen, das in gleicher Weise zu machen. Sie jedenfalls lassen jede Frage von uns aus zu, und das tun, meine Damen und Herren, nicht alle Kollegen. Aber ich glaube, es wäre ein schlechter Stil, wenn man es nicht täte, wir wollen dieses gute Beispiel weiter fortführen.
({1})
Darf ich bitte noch einmal sagen: Die Erhöhung des letzten Jahres war notwendig, und die Erhöhung zum 1. Juli 1977 ist notwendig. Und Sie können die Sozialgarantie von Helmut Kohl nur so - im Gesamtzusammenhang aller unserer sozialpolitischen Leistungen - verstehen. Denn wenn Sie die Renten in diesem Jahr nicht erhöhen, jagen Sie, schicken Sie die Leute zum Sozialamt, damit sie sich dort den Rest für die Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse holen.
({2})
Aber, meine Damen und Herren, es wäre unredlich - und wir haben hier nie diesen Eindruck erweckt, auch Helmut Kohl nicht -, zu sagen, wir hätten dafür auch - und hier mußte man zwischen zwei Dingen unterscheiden - eine Beitragsgarantie gegeben. Das war eben so nicht weiterhin zu finanzieren, und zwar deswegen, weil Sie, meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine stabile soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland selbst zuungunsten u. a. auch dieses betroffenen Personenkreises verändert haben.
({3})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt ({0})?
Bitte schön.
Herr Kollege Franke, gehe ich auf Grund der Tatsache, daß Sie vorhin mit Ja und dann noch länger geantwortet haben, recht in der Annahme, daß Sie dann trotz besseren Wissens Ihrem Bundesvorsitzenden geraten haben, eine Sozial-, Beitrags- und Rentengarantie zu geben, obwohl Sie heute anderen vorwerfen, damals daraus andere Schlüsse gezogen zu haben?
Herr Kollege Schmidt, welche anderen Schlüsse haben Sie denn daraus gezogen? Wir haben hier im Bundestag das 19. Rentenanpassungsgesetz einstimmig verabschiedet. Haben Sie denn andere Schlüsse daraus gezogen?
Herr Kollege Schmidt, darf ich Sie noch einmal daran erinnern, daß wir - und zwar wir beide - hier im Bundestag auch einen Disput über die Auswertung der Sachverständigenanhörung vom 10. März 1976 gehabt haben. Und ich muß gestehen,
daß Sie mir im Grunde tendenziell zugestimmt haben; nur in der Koalition haben Sie eben das bis zum 3. Oktober vernebelt, und am 4. Oktober kamen Sie dann mit der überraschenden Mitteilung: Es ist doch nicht genug Geld da.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Schmidt ({0}) ?
Bitte sehr.
Herr Kollege Franke, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß zwar sowohl die Freien Demokraten als auch unser Koalitionspartner vor der Wahl eine Zusage für eine Rentenanpassung zum 1. Juli 1977 und eine Garantie, daß keine Beitragserhöhung stattfindet, gegeben haben, daß aber gleichzeitig andere Maßnahmen von uns als notwendig angesehen wurden,
({0})
während Sie eine gesamte Sozial- und Beitrags- und Rentengarantie gegeben haben?
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich kann man das so sehen. Nur, Herr Kollege Schmidt ({0}), auch hier nehme ich das, was Sie im Wahlkampf zu dieser Frage gesagt haben. Das liegt hier schwarz auf weiß vor. Da haben Sie gesagt:
Die CDU will ein Geschäft mit der Angst alter Menschen machen.
({1})
Was glauben Sie wohl, weshalb ich die Pause gemacht habe? Damit Sie dazwischenrufen können! - Und weiter heißt es:
Dabei schreckt sie vor nichts zurück.
({2})
Sie behauptet wahrheitswidrig, daß die FDP
die Renten kürzen will. Das ist nicht wahr.
Meine Damen und Herren, was tun Sie als Koalitionspartner mit der SPD? Sie kürzen die Renten! Meine Damen und Herren, die Nettolohnanpassung ist eine Kürzung der Renten!
({3}) Ich darf einen weiteren Satz zitieren:
Die FDP garantiert: Die Renten werden nicht gekürzt. Auch in Zukunft werden die Renten in jedem Jahr erhöht werden.
({4})
- Herr Kollege Mischnick, wir haben uns schon einmal privat darüber unterhalten; das soll hier in die Debatte nicht eingehen.
Meine Damen und Herren, das ist Sophistik, das ist eine Täuschung der Bürger.
({5})
Sie waren sich schon damals darüber im klaren, daß Sie hier die Daten verändern werden. Dann haben Sie die Bürger getäuscht! Herr Kollege Katzer hat heute morgen recht gehabt, als er sagte: Sie haben sich die Stimmen der getäuschten Bürger am 3. Oktober erschlichen!
({6})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Herr Gansel, bitte schön. Gansel ({0}) : Danke sehr.
Herr Kollege Franke, hätten Sie die Freundlichkeit, deutlich zu machen, daß die von der Koalition jetzt beschlossene Änderung keine Kürzung der Renten bedeutet, sondern daß statt einer Bruttolohnanpassung von wahrscheinlich 7 % nur eine Nettolohnanpassung in Höhe von 6 % stattfinden wird, daß also nicht, wie Sie es dargestellt haben, bei den Renten etwa Steuern oder Sozialabgaben abgezogen werden, sondern daß die Renten auch in Zukunft über den Kaufkraftverlust hinaus ansteigen werden und sich die Schere nur deshalb weiter öffnen wird, weil es Ihre alte Konzeption der Nichtberücksichtigung von Kleinrenten gibt, die Sie 1972 noch einmal bestätigt haben?
({1})
Die Rentenhöhe bestimmt sich heute nach der Höhe der Beitragsleistungen und der Zahl der Beitragsjahre. Wenn heute die Schere zwischen denjenigen, die im Arbeitsprozeß stehen, und denjenigen, die Rente erhalten, auseinandergeht, dann doch nicht deswegen, weil die Renten zu hoch sind, sondern deshalb, weil die Steuer- und die Abgabenprogression bei den im Arbeitsprozeß Stehenden zugreift. Das ist der Grund, meine Damen und Herren.
({0})
Hermann Fredersdorf, der Vorsitzende des Bundes der Steuerbeamten, Mitglied der SPD - der muß es dann ja besser wissen -, hält die Steuerreform für einen großen Schwindel. Verantwortlich ist die in die Steuerreform eingebaute Progression. Fragen Sie doch einmal die Mitarbeiter der Fraktionen oder überhaupt dieses Hauses danach, wo bei ihnen die Steuerprogression einsetzt. Das ist der Grund: die unsoziale Besteuerung der mittleren und kleinen Einkommen. Das ist der Grund für das Auseinandergehen der Schere.
({1})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Bitte schön.
Herr Kollege Franke, hätten Sie die Güte, zu bestätigen, daß der Umstand, daß nach 19 Bruttolohnanpassungen seit 1957 heute die Durchschnittsrente einer Arbeiterin, einer Frau also, nach 35 bis 40 Versicherungsjahren nur 570 DM beträgt, das Ergebnis eines Rentensystems ist, das die Sozialdemokraten nicht erfunden, sondern das Sie von Jahr zu Jahr immer wieder bestätigt haben, welches genau diesen Schereneffekt zum Ergebnis hat? Welche Vorschläge, diese Schere zu schließen, können Sie machen?
Verehrter Herr Kollege Gansel, Sie sind noch nicht so lange im Hause und können das nicht genau wissen: 1957 hat die SPD der damaligen Rentenreform einstimmig ihre Zustimmung gegeben. Das stelle ich heute nur fest.
Ich stelle fest, daß die SPD und die Bundesregierung bis zum heutigen Tage nicht bereit sind - das kam auch in den Ausführungen von Herrn Minister Ehrenberg zum Ausdruck -, die von Ihnen gerade angeschnittene Frage zu lösen.
Wir haben einen Verfassungsgerichtsauftrag, bis zum Jahre 1984 diese Fragen zu lösen. Es gibt nur eine einzige Partei in der Bundesrepublik Deutschland, die auf ihrem vorletzten Parteitag in Mannheim die. Frage der Partnerrente zwischen Mann und Frau angefaßt hat und zu lösen bereit ist.
({0})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hölscher? - Bitte!
Herr Kollege Franke, wie können Sie es verantworten, durch mißbräuchlichen Sprachgebrauch des deutschen Wortes „Kürzung" weitere Verunsicherung bei den Rentnern hervorzurufen,
({0})
und wären Sie bereit, zu bestätigen - einmal in einer konkreten Zahl ausgedrückt -, daß es in Zukunft nur darum geht, wenn heute jemand 1 000 DM Rente erhält, daß die Anpassung dann 60 DM, 80 DM oder 110 DM beträgt, daß sich die Diskussion also nur um die Rentensteigerungen, aber nicht um die Rente in ihrer Substanz dreht?
({1})
Hier müssen wir jetzt einmal auf die hinter der Rentenversicherung stehende Philosophie eingehen. Für uns ist unstreitig, daß die nicht mehr arbeitende Generation in vollem Umfang ihren Anteil an dem Lohnzuwachs der arbeitenden Generation haben soll. Wenn Sie der nicht mehr arbeitenden Generation die Einkommenssteigerungsraten der aktiven Generation vorenthalten, so ist das nichts anderes als die Kürzung eines Anspruchs.
({0})
Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter? - Bitte!
Darf ich Sie dann fragen, Herr Kollege Franke, wann wir das mit Spannung erwartete Konzept des Bundesvorstandes, das Sie öffentlich mit großer Wirkung angekündigt haben, erhalten werden, damit wir sehen können, wo denn die Alternativvorschläge der Opposition sind?
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich zitiere die Redner unserer Fraktion aus der ersten Ausspracherunde: Helmut Kohl, Franz Josef Strauß usw.
({0})
Sie haben gesagt: Sie können mit uns über alles reden.
({1})
Und ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Wir sind auch bereit, Entscheidungen mitzutragen. Und Helmut Kohl hat weiter gesagt:
({2})
Sie können aber mit uns nicht am Ende reden, sondern Sie müssen hier mit uns am Anfang in ein Gespräch eintreten, wenn Sie wollen, daß auch die unpopulären Maßnahmen, die jetzt leider zu tragen sind, hier von uns mitgetragen werden sollen. - Aber trösten Sie sich: Zur rechten Zeit werden Sie von uns weiter hören.
({3})
Aber nicht nur jetzt, sondern auch früher schon sind Angebote zur Zusammenarbeit gemacht worden. Lesen Sie doch bitte nach: Am 16. Januar 1975 habe ich Ihnen das Angebot für meine Fraktion gemacht, eine gemeinsame Bestandsaufnahme vorzunehmen und, wenn notwendig, auch gemeinsam unpopuläre Maßnahmen zu tragen. Wir waren nicht so wie Herbert Wehner 1966, der gesagt hat: Erst müßt Ihr den Offenbarungseid leisten. Nein, unser Verständnis zur Regelung sozialpolitischer Fragen mit staatspolitischem Inhalt geht so weit, daß wir auch jetzt noch bereit sind, diese Dinge mitzutragen, meine Damen und Herren von der Koalition. Sie werden sehen, wir kommen damit noch zur rechten Zeit.
Herr Abgeordneter,. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder ({0}) ?
Sofort, Herr Kollege Schröder. Ich möchte nur noch eben fortfahren. - Weitere Gespräche und Angebote hat es am 20. März 1975, am 20. Februar 1976, am 8. April 1976 - das war das Gespräch mit dem Kollegen Schmidt ({0}) - und am 14. Mai 1976 gegeben. Jedesmal haben wir auf die bedrohliche Entwicklung in der Renten266
versicherung hingewiesen und gesagt, wir sind bereit, notfalls auch unpopuläre Maßnahmen mitzutragen. Auf unser Angebot sind Sie nicht zurückgekommen. Uns können Sie die Verantwortung für die nicht geregelten Fragen heute nicht in die Schuhe schieben. Sie können nicht danach rufen, daß wir Ihnen das jetzt vorlegen, wo Sie noch nicht einmal sämtliche Daten zusammengestellt haben, weil sie angesichts der verschiedenen Auffassungen in den Koalitionsparteien hin- und hergeschoben werden. Wenn die Daten auf dem Tisch liegen, werden wir uns zu dieser Frage äußern.
({1})
Herr Abgeordneter Schröder, Sie haben jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Franke, ich wollte Sie nur gefragt haben, ob Sie der Öffentlichkeit sprachlich-definitorisch darlegen können, wie man eine Alternative zu etwas darstellen kann, was überhaupt nicht vorhanden ist.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Mit dieser Frage ist auch gleichzeitig die Antwort für diejenigen gegeben, die hier zugehört haben. Es gibt von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, heute noch kein auf den Tisch des Hauses gelegtes Konzept. Nach den Gepflogenheiten dieses Hauses wird aber erst dann zu etwas Stellung genommen, wenn es hier auf dem Tisch dieses Hauses liegt.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Mit dem, was Sie hier vorlegen, kurieren Sie an den Symptomen. Ich bin nicht davon überzeugt, daß die Einlassung, die Herr Minister Ehrenberg hier zur Frage der Arbeitsmarktpolitik gemacht hat, dazu geeignet sind, die Ursache zu kurieren. Die Ursache für den Niedergang in der Finanzierung der Rentenversicherung ist eindeutig der wirtschaftliche Niedergang auf Grund der Freisetzung von Arbeitskräften. Im Augenblick sind eine Million Arbeitslose registriert. Wenn wir die Zahlen von 1972 nehmen, fehlen uns in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt sogar 2 Millionen Arbeitskräfte. Sie haben das Loch in der Rentenkasse und in der Steuerkasse verursacht. Sie finden uns jederzeit an Ihrer Seite, wenn Sie bereit sind, diese Frage ordnungspolitisch sauber anzupacken. Alle unsere Vorschläge - z. B. jene zur Ankurbelung der Wirtschaft vom 16. Februar 1976, die letztlich zu dem Carry-back geführt haben - haben Sie abgelehnt. Unsere Vorschläge zielten darauf ab, die Investitionsfreudigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu forcieren.
Meine Damen und Herren, die große Misere ist nicht nur aus diesen Zahlen ersichtlich. Die große Misere besteht auch darin, daß die Bürger unseres Landes zu dieser Regierung, die nach 7, 8 Jahren abgewirtschaftet ist, kein Vertrauen mehr haben und daß diese Regierung daher abgelöst werden
muß. Erst dann wird es in der Bundesrepublik Deutschland besser.
({0})
Das Wort hat der Herr Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Dr. Stoltenberg.
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Diskussion in diesem Haus und die vielfältigen Debatten draußen im Lande verfolgt, wird eines feststellen: Das Debakel um die Renten- und Krankenversicherung hat eine tieferliegende Krise in der inneren Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland offengelegt. Wir spüren in diesen Wochen zusammen mit vielen Bürgern, wie sehr der Versuch, jetzt gleichsam in einem Gewaltakt, aus dem Stand heraus die erkennbaren Fehlbeträge von 80 bis 100 Milliarden DM in den kommen Jahren bis 1980 zu beseitigen, die Grundlagen dieser Koalition belastet und ihre Handlungsfähigkeit in anderen Sektoren schwächt. Es gibt draußen eine tiefgehende Unruhe über die gebrochenen Wahlversprechungen, die sich ankündigenden drastischen Leistungsverschlechterungen und die Beitragserhöhungen.
Es hat - ich sage dies zu einigen Beiträgen - überhaupt keinen Sinn, in dieser Debatte dialektisch zu versuchen, klare Wahlaussagen, die auf einen gesetzlichen Besitzstand abzielten, zu verändern oder anders auszulegen.
({1})
Die Menschen wissen, was ihnen von dieser Regierung und den sie tragenden Kräften vor dem 3. Oktober versprochen wurde. Sie wissen, daß Entscheidendes davon jetzt zurückgenommen werden soll.
Es gibt darüber hinaus aber eine weitergehende Erörterung. Viele betroffene und nachdenkliche Menschen fragen sich angesichts des Debakels und der schweren Krise in der Sozialversicherung, ob dies nun ein großes isoliertes Thema bleibt oder ob dies im Grunde nur der Ausgangspunkt, das Symptom für eine weiterreichende Erschütterung der Grundlagen unserer wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Ordnung ist. Auch zu dieser Frage wird man, wie ich glaube, Stellung nehmen müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Koalition, diese Frage nimmt gleichsam den roten Faden unserer jahrelangen Kontroversen in den finanz-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Debatten dieses Hauses, des Bundesrates und in der deutschen Öffentlichkeit auf. Wir haben Sie in vielen Diskussionen - und auch da könnte man bis 1970 zurückgreifen und viele Zitate bringen - auch im Deutschen Bundestag immer wieder warnend auf die Gefahr einer Überforderung unserer Volkswirtschaft, der Steuer- und Beitragszahler hingewiesen. Ich hoffe, daß jedenfalls in der kommenden Zeit solche Warnungen nach dem Rentendebakel nicht mehr mit den abgedroschenen Vokabeln der Schwarzmalerei oder der Panikmache beantwortet werden.
({2})
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
Weil dies so ist, muß die Fachdebatte, die heute über die erschreckenden Fehlbeträge in der Sozialversicherung begonnen hat, sicher heute nur im Ansatz, aber in den kommenden Wochen sehr gründlich im größeren Zusammenhang mit den Themen der öffentlichen Finanzen, des Wirtschaftswachstums, der Steigerung der Investitionen und der Vollbeschäftigung geführt werden. Mir kommt es hier zunächst auf einen anderen Punkt an, gerade auch als Mitglied des Bundesrates, also des Partners dieses Hohen Hauses in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland.
({3})
- Partnerschaft schließt ja politische Kontroversen nicht aus, sehr geehrter Herr Abgeordneter, aber Partnerschaft heißt, daß wir bei allen deutlichen Gegensätzen eine gemeinsame verfassungsmäßige Verantwortung haben, gerade auch in einer ernsten Zeit.
({4})
Ich möchte etwas zu dem von Ihnen in der Koalition gewählten Verfahren in der Entscheidungsfindung, in der Gesetzgebung sagen: Es ist äußerst gefährlich, auch im Hinblick auf das, was an Terminproblemen jetzt auf die gesetzgebenden Körperschaften zukommt. Viel zu lange wurden die deutlich erkennbaren Probleme von der Bundesregierung bestritten und verharmlost. Das war zunächst - und hierzu ist genügend gesagt worden - eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit der führenden Politiker der Bundesregierung und der Koalition. Man soll die Erschütterung in diesem Bereich nicht geringschätzen. Aber es ist noch ein Stück mehr als diese moralische Dimension, denn die jahrelange Verschleierung, Verschleppung, das Bestreiten klar erkennbarer Probleme hat diese Probleme nun finanziell und materiell in eine Größenordnung gebracht, die ohne harte und brutale Eingriffe in soziale Besitzstände kaum noch lösbar erscheinen.
({5})
Dieses gefährliche Verfahren führt nun zu jenem eigentlich unerträglichen Zeitdruck, vor den sich Bundestag und Bundesrat gestellt sehen. Herr Ehrenberg hat eben noch einmal gesagt: Der 1. Juli ist das unverrückbare Datum für die Wirksamkeit. Wir stehen noch Wochen vor der ersten Beratung im Bundesrat und viele Wochen vor der ersten Beratung im Deutschen Bundestag. Das ist die Frage, die mit dem Selbstverständnis der gesetzgebenden Körperschaften und ihrer staatspolitischen Verantwortung unmittelbar verbunden ist. Es sind Defizite, deren Größenordnung alle Beispiele in der Nachkriegsgeschichte verblassen, sie zu einer vernachlässigenswerten Größe herabsinken läßt. Wir haben das Schauspiel sich ständig ändernder Berechnungsgrundlagen, Eckwerte und Detailplanungen. Das ist in allen Einzelpunkten, insbesondere was die Krankenversicherung betrifft, überhaupt nicht abgeschlossen, konnte in diesen wenigen Wochen auch gar nicht abgeschlossen sein.
Die Regierung war, was dieses Verfahren mit den möglicherweise schlimmen Konsequenzen für die Gesetzgebung betrifft, im Grunde gewarnt; denn
niemand, meine Damen und Herren, von den damals Beteiligten - und auch ich gehöre, was den Schlußgang dieser Beratungen betrifft, zu Ihnen, neben Herrn Kollegen Kohl und anderen von unserer politischen Seite - wird die schlimmen Erfahrungen mit der unter unvertretbarem Zeitdruck 1974 verabschiedeten sogenannten Steuerreform vergessen.
({6})
Niemand von denen hätte sie wirklich vergessen sollen, die jenen Zeitdruck erzeugt haben, die jenen Terminkalender vorprogrammiert haben und die wir nun mit gewissen, begrenzten Veränderungen erneut auf der Regierungsbank und in der Spitze der Koalitionsfraktionen sehen. Damals bestand die Regierung mit den sie tragenden Parteien kompromißlos darauf, tiefgreifende Systemveränderungen im Einkommensteuerrecht im Vermittlungsverfahren in wenigen Tagen und in einer abschließenden nächtlichen „Gipfelkonferenz" im Junktim mit den dringend erforderlichen Sofortentlastungen auf Biegen oder Brechen durchzusetzen. Der Bundesfinanzminister hat dann ja wenige Monate später in denkwürdigen Aussprüchen zu erkennen gegeben, daß er die Auswirkung der eigenen Vorlage in entscheidenden Punkten mit den bekannten Folgen für Millionen Mitbürger nicht vorhergesehen habe.
Leider haben wenige daraus gelernt, offenbar auch nicht der Herr Bundesarbeitsminister Ehrenberg, weder was das Verfahren noch was die Neigung zu bedenklichen Zitaten anbetrifft. Herr Apel hat damals gesagt: „Ich denke, mich tritt ein Pferd." Herr Ehrenberg hat in seiner Pressekonferenz bei der Verkündung der vorläufig letzten Eckwerte auf die Frage, was denn passiere, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Prognosen nicht stimmten und sich einschneidend veränderten, erklärt: „Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot." Ich hoffe nicht, daß dies eine Überschrift für die Wirkungen dieses neuen, letzten Konzepts sein wird.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt wird dieses gefährliche Verfahren, was Termine, Fristen anbetrifft, bei einem vielleicht sogar noch schwerwiegenderen Thema als der Steuerreform wiederholt. Wir alle kennen das auch ein bißchen aus der Nähe und Beobachtung von der menschlichen Seite. Überlastete Spitzenpolitiker, von denen die meisten überhaupt nicht die erforderlichen Detail- und Fachkenntnisse von dem komplizierten Netzwerk der modernen Gesetzgebung haben können, formulieren in pausenlosen Besprechungen einen Koalitionskompromiß nach dem anderen. Ohne die erforderliche, die unentbehrliche intensive Zwischenerörterung der Ressorts mit den Organen der Selbstverwaltung -
({8})
- Ja, sehr geehrter Herr Wehner, Sie gehören auch zu diesen überlasteten Spitzenpolitikern.
({9})
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
Sie sind ein großer Taktiker; aber von der Sozialversicherung verstehen Sie überhaupt nichts, wie Sie unter Beweis gestellt haben.
({10})
- Ja, ja.
({11})
- Sie zeigen durch Ihre Reaktion, weil Sie so gereizt sind, daß es Sie trifft.
({12})
Ich komme nachher noch auf einen zweiten Punkt
({13})
- Ja.
({14})
- Sehr geehrter Her Wehner, an die gemeinsame Kabinettszeit haben Sie sich seit 1969 sehr selten erinnert. Sie haben in Ihrem Verhalten auch wenig Veranlassung gegeben, sonst hier lebhaft daran zurückzudenken.
({15})
Das war eine tiefe Zäsur: der Wehner vor 1969 und nach 1969, jedenfalls in der Erscheinungsweise.
({16})
Also reizen Sie sich nicht und reizen Sie mich nicht. Ich möchte gerne fortfahren.
({17})
- Ja, das ambulante Gewerbe! ({18})
- Ja, das originäre. Ich gehöre als Mitglied des Bundesrates weder zum originären noch zum ambulanten Gewerbe. Ich möchte das hier nur ganz kurz zum Ausdruck bringen.
({19})
- Überhaupt nicht, verehrter Herr! Ich freue mich über Ihre wachsende Gereiztheit. Das zeigt, in was für einer schlechten Verfassung sich Ihre Partei befindet.
({20})
Aber, verehrter Herr Abgeordneter Wehner, dies war wirklich ein Punkt, bei dem ich Ihre Gereiztheit überhaupt nicht verstehe, weil die Frage der Entscheidungsfindung in solchen zentralen Bereichen unseres sozialen Lebens und der Gesetzgebung Sie alle bewegen und beschäftigen müßte, es sei denn, daß meine Erinnerung an die Spitzentreffen der vergangenen Wochen bei Ihnen noch einmal ganz besonders unangenehme Reminiszenzen ausgelöst hat.
({21})
Das wäre nach dem, was man von Beteiligten davon hören kann, allerdings nicht unbegreiflich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies ist das Problem. Überlastete Spitzenpolitiker formulieren ({22})
- Nein, ich spreche zur Zeit über das Verfahren der Gesetzgebung, Herr Glombig, und die Beteiligung der mitverantwortlichen Kräfte.
({23})
Das ist ein Thema, das man im Grunde in dieser Situation des Deutschen Bundestages und des Bundesrats etwas nachdenklich erörtern sollte, und zwar neben all den fachlichen Fragen, mit denen ich mich auch auseinandersetze. Von denen verstehen Sie persönlich, wie ich konzediere, mehr als ich, was aber nicht bedeutet, daß Sie im Rahmen Ihrer Koalition zu den besseren Ergebnissen kommen.
({24})
Aber dieses Verfahren, sehr geehrter Herr Abgeordneter Glombig, bedeutet ja auch, daß es nicht zu der notwendigen Rückkopplung der ersten politischen Daten mit den Organen der Selbstverwaltung kommt - deren bittere Proteste, auch aus Ihrem Lager, haben wir alle gehört -, nicht zu den wissenschaftlichen Beratungsgremien und nicht zu der fachkundigen Öffentlichkeit.
Das ist zu Beginn auch dieser Wahlperiode die Gesetzgebungspraxis einer Koalition, die 1969 einmal mit dem Anspruch antrat, mehr Demokratie wagen zu wollen.
({25})
Die Konsequenz eines solchen unerträglichen Termindrucks ist immer - in der Gefahr stehen wir bei dem, was Sie vorgegeben haben, jetzt auch im Bundesrat -, daß die Folgewirkungen bestimmter Eingriffe und Beschlüsse überhaupt nicht in allen Konsequenzen erkannt werden können. Entschuldigen Sie, das war doch das Dilemma der Steuerreform!
({26})
Das ist die große Gefahr, vor der wir stehen. Zweitens führt es - meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sage Ihnen das in aller Offenheit - zu einem Abbau der gesetzlich festgelegten und politisch gebotenen Beteiligungsrechte der Selbstverwaltung, der Beiräte und der fachlichen Öffentlichkeit.
({27})
Insofern bleibt das Angebot zum offenen Gespräch, das Herr Abgeordneter Sund für Ihre Fraktion hier noch einmal formuliert hat, wie ich fürchte
- obwohl es sicher gut gemeint ist -, eine theoretische Deklamation.
Ich möchte an dieser Stelle trotz Ihres Ärgers zu Beginn der neuen Wahlperiode gerade auch als Mitglied des Bundesrats eindringlich an die Bundesregierung und die Koalition appellieren, mit dieser
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
unvertretbaren Praxis einer Gesetzgebung unter äußerstem Termindruck Schluß zu machen.
({28})
- Ja, bei uns sind gewisse Fristen vorgegeben, wie Sie wissen. Ich meine gewisse Fristen für die Stellungnahme. Beim Vermittlungsverfahren ist es manchmal gut, mehr Zeit zu haben. Dazu gehören allerdings auch mehr Offenheit vor Wahlen und 'die Bereitschaft, rechtzeitig mit allen tragenden politischen Kräften eines Landes den Dialog zu eröffnen, bevor alles in fragwürdigen Kompromissen zementiert wird.
Nun sind - auch darauf ist hingewiesen worden, meine Damen und Herren - die Aufgaben der Länder und Gemeinden zentral von den vorgesehenen schweren Eingriffen berührt. Der geplante Rückgang von der brutto- zur nettobezogenen Steigerung der Rente müßte für die ohnehin hart belasteten Gemeinden, aber auch für die Länder als Träger der überörtlichen Sozialhilfe zu einem massiven Anstieg der Anträge auf Sozialhilfe führen, und zwar bei dem von Ihnen geplanten Konzept mittelfristig wahrscheinlich in der Größenordnung von Milliarden. Es ist überhaupt nicht zu verantworten - das sage ich Ihnen, Herr Glombig -, daß diese Konsequenz in Ihren Koalitionsgesprächen, nachdem jetzt alles fest sein soll, in keiner Weise mit den Ministerpräsidenten, den Sozialministern der Länder oder mit den kommunalen Spitzenverbänden erörtert worden ist, und zwar weder politisch noch fachlich.
({29})
- Das kommt, nachdem Sie sagen, jetzt sei alles festgeschrieben. Das ist ein gefährliches und ungutes Verfahren.
({30})
Wir werden im Gesetzgebungsverfahren allerdings mit aller Gründlichkeit auf diese Themen zurückkommen. Aber es wäre richtig gewesen - ja, es ist in der Geschäftsordnung der Bundesregierung vorgeschrieben, sehr geehrter Herr Abgeordneter -, daß das vor der Entscheidung im Kabinett geschieht, wenn wir Beteiligungs- und Anhörungsrechte in diesem Land ernst praktizieren.
({31})
Wir werden uns im Bundesrat unserer verfassungsmäßigen Mitverantwortung für diese schicksalhaften Fragen der sozialen Sicherung nicht entziehen.
({32})
- Ja, natürlich! Wir werden uns unserer Verantwortung nicht entziehen, verehrter Herr Kollege. Alles, was ich sage, stört Sie heute. Sie haben unter den Koalitionsverhandlungen offenbar ganz erheblich gelitten und sich seitdem noch nicht sehr gut erholen können.
({33})
Wir müssen uns teilweise auch an den Reparaturarbeiten an den Folgen einer verfehlten Politik beteiligen, vor der wir immer wieder gewarnt haben. Aber dies kann überhaupt kein Blankoscheck für Sie sein. Bei der jetzt angewendeten Praxis sind sehr deutliche Auseinandersetzungen über Sachfragen dieses Konzepts zwischen Bundestag und Bundesrat überhaupt nicht zu vermeiden.
Daß Sie nun immer wieder nach der Alternative fragen, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann ich nicht als einen in dieser Situation wirklich ganz ernsthaft gemeinten Beitrag ansehen.
Wir werden unsere erste Stellungnahme im Gesetzgebungsverfahren voraussichtlich am 4. März im Bundesrat abgeben, und wir werden sie sehr sorgfältig erarbeiten. Aber in einem Zeitpunkt, wo es außer Pressekommuniqués, die sich ständig verändern, keine Grundlage dafür gibt, daß eine pflichtgemäß verantwortungsbewußte parlamentarische Opposition und die Bundesländer im Bundesrat Ihre Entscheidung prüfen, kann überhaupt nicht verlangt werden, daß wir hier zu allen Details abschließend Stellung nehmen. Bei aller Bereitschaft, uns an der ernsthaften Erörterung notwendiger Schritte zu beteiligen, sage ich ganz deutlich: Diese Einzelerörterung hat da ihre Grenze, wo es um die politische Verantwortung geht. Auch die weitere Diskussion über die Alternative kann nicht und wird nicht dazu führen, daß die politische Verantwortung dieser Regierung und dieser Koalition für die Fehlentwicklung und für die notwendigen harten Eingriffe irgendwie verwischt werden kann.
({34})
Lassen Sie mich hier einige grundsätzliche Bemerkungen für unsere Meinungsbildung anschließen. Die Sanierung muß von realistischen Berechnungsgrundlagen ausgehen. Deswegen sind die Berechnungsgrundlagen und die Grundannahmen des Regierungskonzepts sehr sorgfältig zu prüfen. Dabei geht es vor allem, um eines - es wurde schon gesagt -: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik des Bundes muß durch ein - immer noch fehlendes - Gesamtkonzept die Voraussetzungen für eine nachhaltige Steigerung der Investitionen und den Abbau der Arbeitslosigkeit schaffen. Ein zweites: Der geplante Übergang von der bruttobezogenen zur nettobezogenen Rentenregelung begegnet auch aus meiner Sicht schwersten Bedenken. Er bedeutet vor allem eine Schlechterstellung für die Bezieher kleiner Renten durch niedrigere Anpassungssätze auf einem nach wie vor unbefriedigenden Ausgangsniveau. Wenn der Herr Bundestagsabgeordnete Gansel soeben in einer Zwischenfrage den Eindruck erwecken wollte, es handle sich hier um eine Differenz zwischen 7 % brutto und 6 % netto, dann zeigt er nur, daß er als Angehöriger einer Partei, die sich Arbeiterpartei nennt, den Kontakt mit den Menschen dieses Landes und den Wirkungen der Steuerprogression und der Abgaben völlig verloren hat.
({35})
- Sehr geehrter Herr Konrad, ich weiß nämlich wie
jeder, der seinen Lohnzettel sieht, daß die Differenz
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
zwischen brutto und netto heute nicht zwischen 7 und 6, sondern zwischen 7 und 4 im Durchschnitt verläuft. Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Damit kommen wir in die Nähe des Problems der realen Sicherung des Besitzstands.
({36})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gansel?
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}) : Herr Gansel, bitte sehr.
Herr Stoltenberg, sind sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß mein Hinweis in meiner Frage sich auf die demagogische Behauptung bezog, Kürzung oder Nettolohnanpassung wäre ein Abziehen von Steuer und Sozialabzügen von einer Rente, und sind Sie bereit, zu akzeptieren, obwohl Sie dem Kollegen Wehner zugegeben haben, daß Sie kein Fachmann in Fragen der Sozialversicherung sind,
({0})
daß die schematische Übertragung der Abzüge eines Arbeitnehmers auf die Anpassungsformel in der Rentenversicherung falsch ist, und sind Sie bereit, die Zahlen 7 %o bzw. 6 % sich von der Selbstverwaltung oder vom Ministerium bestätigen zu lassen?
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({1}) : Zur Frage des Fachmanns will ich nicht Stellung nehmen; Sie haben mich falsch zitiert. Mit der allgemeinen Intention Ihrer Frage setze ich mich nicht auseinander. Ich bleibe nach den mir vorliegenden Zahlen dabei, daß es eine Irreführung ist, zu behaupten, daß der Übergang von brutto auf netto eine Differenz zwischen sieben und sechs Prozent bedeutet. Davon kann überhaupt keine Rede sein, wie Ihnen jeder Fachmann Ihrer eigenen Fraktion bestätigen wird.
({2})
Eine Überbelastung des Systems der gegliederten Krankenversicherung mit Wahlmöglichkeiten für die Bürger ist nicht vertretbar. An dieser Forderung sind die Konsequenzen einer möglichen Systemveränderung, direkt oder indirekt, sehr sorgfältig zu prüfen. Wir werden nichts mitmachen, was eine Systemveränderung hin zur Einheitsversicherung bewirkt.
({3})
Im übrigen, sehr geehrter Herr Minister Ehrenberg, die massive Mehrbelastung der Krankenversicherungen trifft die notwendigen Bemühungen der Selbstverwaltung um Kostenentlastungen und Einsparungen ganz entscheidend. Kostenentlastungen und Einsparungen in der Krankenversicherung sind eine Notwendigkeit; nicht in dem Sinne, daß etwas weggenommen wird, was jetzt ausgegeben wird, aber damit der Kostenanstieg in den kommenden Jahren abgebremst werden kann. Das ist von Ihnen zu spät eingeleitet worden. Aber wenn Sie denjenigen, die sich im Interesse ihrer Beitragszahler um Kostenentlastungen, Begrenzung des Kostenanstiegs nachdrücklich bemühen, als Prämie neue schwere Lasten durch den Verschiebebahnhof auferlegen, dann treffen Sie diese Anstrengungen der Selbstverwaltung der Sozialversicherung im Kern. Das halte ich für ganz gefährlich.
({4})
Die Bremsstrecke in der Begrenzung des Kostenanstiegs der Krankenversicherung wird ohnehin eine längere sein, als Sie in Ihren Rechnungen jetzt unterstellen.
({5})
Graf Lambsdorff stimmt hier ausdrücklich zu. Das ist in einer weiteren fachlichen Erörterung auch des Zahlenwerks einer der ganz empfindlichen Punkte, sehr geehrter Herr Graf Lambsdorff.
Ich möchte zum Allgemeinen zurückkommen und folgendes sagen. Viele Menschen haben jetzt erkannt: Nicht nur in der Sozialversicherung liegen gewaltige Probleme vor uns, auch bezüglich der wirtschaftlichen Zukunft, auf dem Arbeitsmarkt, vor allem im Bereich der staatlichen Finanzen und nicht zuletzt in der Energiepolitik. Aus Zeitgründen, im Hinblick auf die Geschäftslage dieses Hohen Hauses und den vorgesehenen Debattenablauf, will ich jetzt das ganze Feld der Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik ausklammern und mich - nicht aus aktuellen Gründen, sondern wegen der prinzipiellen Bedeutung - der Frage der Energiepolitik zuwenden.
Lassen Sie mich zur Finanzpolitik nur eines feststellen - ich sage das nach sehr gründlicher Prüfung vieler Unterlagen wohlüberlegt; und auf diesem Gebiet glaube ich in der Tat auch ein Experte im engeren Sinne zu sein -: Wenn die sehr optimistischen Annahmen über Wirtschaftswachstum, die wir der öffentlichen Finanzplanung zugrunde gelegt haben, in den nächsten Jahren deutlich unterschritten werden, dann stehen wir bei diesem Umfang der Verschuldung in Staat und Kommunen in ein bis zwei Jahren vor einem Sanierungsproblem in den Haushalten, das in der politischen Brisanz kaum hinter dem der Sozialversicherung zurücksteht.
({6})
Die Konsequenz, Herr Finanzminister, muß, glaube ich, eine doppelte sein: noch überzeugendere und anstrengendere Bemühungen um Wirtschaftswachstum, Investitionen und Beseitigung der Arbeitslosigkeit - mehr, als in dieser Regierungserklärung erkennbar wurde - und zum zweiten die offene Darlegung der Probleme und die Bereitschaft von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, auch Einsparungsvorschläge für die öffentlichen Haushalte bis zur Überprüfung der gesetzlichen Leistungen vorzulegen, weil wir von dieser Verschuldung herunterkommen müssen - die ist nach wie vor zu hoch -,
({7})
weil alle konjunkturpolitischen Absichten, auch angekündigte neue Strukturprogramme - über die
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
ich jetzt aus Zeitgründen nicht das sage, was aus unserer Sicht dazu zu sagen wäre -, fragwürdig bleiben, wenn die Investitionsquoten im Bundeshaushalt und auch in den anderen öffentlichen Etats von Jahr zu Jahr heruntergehen.
({8})
- Und in den Ländern und Gemeinden. Wir haben einen Finanzverbund, sehr geehrter Herr Finanzminister, natürlich. Wenn das gleichförmig beim Bund, bei elf Ländern und Tausenden von Kommunen geschieht, dann liegt das nicht mehr an der Selbstverwaltung in Freiburg oder Oldenburg und auch nicht mehr an der Regierung in Bremen oder in Schleswig-Holstein, sondern dann ist das ein Gesamttrend der staatlichen Finanzpolitik, über dessen Ursachen wir in erster Linie in Bonn zu diskutieren haben.
({9})
Das möchte ich zu Ihrer Zwischenbemerkung sagen.
Nachdem Sie aus einer Krisensituation heraus den Rentnern diese brutalen Eingriffe in ihre gesetzlichen Besitzstände zumuten, kann ich Ihnen nur raten, jetzt ernsthaft zu prüfen, wo sonst Einsparungsmöglichkeiten bestehen.
({10})
- Natürlich, meine sehr geehrten Damen und Herren, da ist doch Ihre Diskussion über soziale Gerechtigkeit gefragt. Ist es vertretbar, den Rentnern diese starke Verkürzung der Leistungen zuzumuten und gleichzeitig im bisherigen Umfang öffentliche Sparförderung für die mittleren Einkommen zu zahlen? Darüber muß in Deutschland offen diskutiert werden, auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit.
({11})
Ich beschränke mich auf diese Bemerkungen und möchte jetzt im letzten Teil meiner Ausführungen einiges zu den schwerwiegenden Unbekannten sagen, die jetzt für die wirtschaftliche Zukunftsentwicklung und auch für die soziale Entwicklung mit den Kontroversen über die Energiepolitik und Energieversorgung entstanden sind.
({12})
- Da bin ich in der Tat Experte - schon deswegen, weil ich einmal, mitgetragen von Ihrem Vertrauen, der zuständige Bundesminister für diesen Bereich war; das war die Zeit, an die mich vorhin Herr Wehner erinnern wollte.
Vor allem die sich steigernden Auseinandersetzungen um den Bau von Kernkraftwerken und -anlagen stellen eine Belastung nicht nur im ökonomischen Bereich, sondern auch für den inneren Frieden und die Rechtssicherheit in der Bundesrepublik Deutschland dar.
Das Bundeskabinett dieser Koalition hat Ende 1973 unter dem Schock der Energieversorgungskrise einen erheblich größeren Anteil an Kernenergie für die künftige Stromversorgung gefordert, in seiner Planung hineingeschrieben und die Bundesländer dringend ersucht, für eine Beschleunigung dieses Ausbauprogramms Sorge zu tragen.
({13})
Das ist der Ausgangspunkt jeder ernsthaften Diskussion.
Diese Vorschläge fanden in den vergangenen Jahren die Zustimmung aller Parteien und aller Bundesländer. Auf Grund dieser Bonner Appelle haben wir z. B. auch in Schleswig-Holstein Ende 1973 das jetzt viel diskutierte Brokdorf als Standort für das dritte Kernkraftwerk in Schleswig-Holstein öffentlich benannt und die erforderlichen Beratungs- und Genehmigungsverfahren in der Landesplanung und nach dem Atomrecht eingeleitet.
Der Deutsche Bundestag - dies möchte ich unseren Kritikern, auch unseren besonderen Kritikern aus dem Bereich der SPD und der FDP, hier sagen - hat zum letzten Mal am 13. Mai 1976 auf der Grundlage ausführlicher Vorlagen und Anhörungen seines zuständigen Ausschusses das Problem der Kernenergie und der Energieversorgung behandelt, wenn auch zu einer sehr späten Stunde. Ohne Gegenstimme - in einem Punkt bei zwei Enthaltungen - ist in jener Sitzung vor nunmehr etwa acht Monaten ein Beschluß dieses Hohen Hauses gefaßt worden, der sich für die Verwirklichung der Ziele auch auf dem Gebiete des Kernkraftwerkbaus ausspricht und alle Aspekte der Sicherheit dabei besonders gründlich behandelt.
Zu der jetzt auch von vielen Abgeordneten der SPD und der FDP geäußerten heftigen Kritik an unseren Entscheidungen im Rahmen dieses Programms der Bundesregierung für Brokdorf
({14})
- ja, ich beziehe Herrn Gruhl gern in diese kritische Betrachtung ein, nur muß ich ihm zubilligen, daß er schon vor dem 13. Mai dasselbe gesagt hat; das ist ein gewisser Unterschied ({15})
will ich hier in der gebotenen Kürze folgendes sagen.
In den drei Jahren von der öffentlichen Benennung dieses Standortes bis zum Baubeginn sind alle Einzelmaßnahmen im engen Zusammenwirken mit den zuständigen Organen der kommunalen Selbstverwaltung und intensiven Diskussionen mit den dort lebenden Menschen getroffen worden. Ich betone hier noch einmal, weil ständig, auch über Medien, ein anderes Bild erzeugt wird: Die Gemeindevertretung der zuständigen Gemeinde und der Kreisausschuß des zuständigen Kreises haben diesem Vorhaben und der Änderung der Landesplanung praktisch einstimmig zugestimmt. Das waren die Repräsentanten der dort lebenden Bevölkerung. Die Teilgenehmigung ist nach der erforderlichen schriftlichen Zustimmung des Bundesinnenministers und der Reaktorsicherheitskommission ausgesprochen worden.
({16})
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
Alle von Bundesseite in dem umfangreichen Briefwechsel gemachten rechtlichen Auflagen und auch darüber hinausgehende Empfehlungen sind voll beachtet worden.
({17})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, drittens entsprechen der heftig angegriffene Sofortvollzug
({18})
und der Baubeginn am Morgen des nächsten Tages der Praxis aller Landesregierungen in den letzten Jahren. Ich nenne hier nur einmal als Beispiele: Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich: erste Teilgenehmigung am 9. Januar 1976, Baubeginn am 10. Januar 1976; Kernkraftwerk Grohnde: erste Teilgenehmigung am 8. Juni 1976, Baubeginn am 9. Juni 1976; Kernkraftwerk Gundremmingen II: erste Teilgenehmigung am 19. Juli 1976, Baubeginn am 20. Juli 1976.
({19})
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß bei keinem dieser genannten Beispiele - und man könnte die Liste verlängern - Politiker der Bundesregierung oder der Koalition öffentlich Kritik an diesem rechtmäßigen Verfahren geübt haben.
({20})
Ich halte es nicht für verantwortlich - ich sage das in aller in diesem Rahmen gebotenen Ruhe -, wenn namhafte Politiker der Koalitionsparteien bei ihrer massiven öffentlichen Polemik gegen die schleswig-holsteinische Landesregierung und die überwiegend im Staatsbesitz Hamburgs bzw. weitgehend des Bundes befindlichen dort tätigen Energieversorgungsunternehmen den Eindruck erwekken, es sei eine Art brutale
({21})
Übertretung und Überschreitung von Bürgerrechten oder eine Nacht- und Nebelaktion erfolgt. Es hat kein Kernkraftwerk in Schleswig-Holstein - und wir bauen das dritte, die zwei vorhergehenden ohne jeden Konflikt und jede dramatische Zuspitzung - und, wie ich glaube, in Deutschland gegeben, bei dem das Gespräch mit der Bevölkerung vorher so intensiv angeboten und auch wahrgenommen wurde.
({22})
Ich kann nur jeden warnen - auf die allgemeinen Probleme der Durchführung des Energieprogramms der Regierung komme ich gleich -, als verantwortlicher Politiker in gefährlicher Weise die Parolen kompromißloser Kernkraftwerksgegner und auch einiger agitatorischer Sendungen in den Medien für diesen Meinungsstreit zu übernehmen.
Ich muß mich hier, auch aus aktuellem Anlaß, mit dem Interview des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Bremer Bürgermeisters Koschnick mit einer Hamburger Illustrierten auseinandersetzen - als besonders schlechtem Beispiel -, der im Zusammenhang mit dem Sofortvollzug in Brokdorf uns vorwarf, die Bedürfnisse und die Besorgnisse der Bevölkerung skandalös übergangen zu haben. Wann
hat Herr Koschnick jemals gegen den Sofortvollzug und den sofortigen Baubeginn irgendwo einen erkennbaren Vorbehalt in den letzten Jahren im Kreis der Ministerpräsidenten, in Bremen oder sonstwo angemeldet?
({23})
Vor seiner eigenen Haustür, in Esensham bei Bremen, wurde ein Kernkraftwerk mit Sofortvollzug und sofortigem Baubeginn gebaut, das der Stromversorgung Bremens dient. Vor seiner eigenen Haustür ist das geschehen; übrigens auch in Biblis, bei Biblis II, in Hessen mit denselben Instrumenten, die bis zum vergangenen Herbst zwischen den Ländern und den die Regierungen tragenden demokratischen Parteien unbestritten waren.
({24})
Ich sage hier gleich im Vorgriff auf einige Sätze, die ich nachher noch zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers anführen möchte: Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers macht insoweit auch klar, in der noch zu zitierenden Formulierung, daß das das bisher gemeinsam geübte Verfahren gewesen ist.
({25})
- Sie sind ein besonders großer Experte und müssen dem Haus erst einmal erklären, warum Sie heute in Schleswig-Holstein anders reden, als Sie im Mai 1976 abgestimmt haben, sehr geehrter Herr Abgeordneter. Seien Sie nicht 'so selbstgerecht.
({26})
Sie müssen diesem Hohen Hause das erst einmal erklären, dann das Gespräch mit den Gewerkschaften führen und lesen, was die dazu sagen. Ich werde Ihnen das gleich noch vortragen.
Aber ich sage Ihnen in aller Offenheit, ohne mich von Ihnen noch länger reizen zu lassen, Herr Konrad - versuchen Sie es nicht -, wenn ich an die kommenden Jahre der Durchführung des Energieprogramms denke, und zwar auch nach dem gestrigen Beschluß der SPD in der Bremer Bürgerschaft, wo man das Landesparlament mißbraucht hat, um den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten in einem Beschluß in massivster Form persönlich mit verfälschten Zitaten anzugreifen: wer in SPD und FDP aus taktischen Gründen weiterhin die Durchführung des Energieprogramms der Bundesregierung zum parteipolitischen Schlaginstrument gegen die zuständigen Landesregierungen benutzen will, der gefährdet die Grundlagen dieses Energieprogramms und damit unsere Energieversorgung der 80er Jahre.
({27})
Ich möchte hinzufügen: Über die Frage der konkreten Formen der Durchführung müssen wir immer neu miteinander sprechen, auch im Lichte praktischer Erfahrungen. Natürlich wissen wir alle, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß in den letzten zwei Jahren, insbesondere seit den großen Auseinandersetzungen um Wyhl die Spannungen zugenommen haben und eine Zäsur entstanden ist.
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
Wir haben in Schleswig-Holstein zwei Folgerungen aus diesen Vorgängen gezogen: Einmal haben wir die Diskussion mit der Bevölkerung in jenem Raum noch intensiver geführt. Ich kann jedem von Ihnen, der daran interessiert ist, Schreiben von Organisationen aus dem Raum Brokdorf und der Wilstermarsch, im Kreis Steinburg übersenden, in denen diese Organisationen, Lehrerverbände u. a., uns vor einem Jahr mitteilten, sie machten von unserem Angebot an Veranstaltungen und Diskussionen keinen Gebrauch mehr, weil es ein Übermaß an Möglichkeiten für sie gegeben habe. Das ist die Wirklichkeit von dem, was hier zum Teil verfälscht wird.
Ich sage hier auch ganz deutlich: die lautstarken Gegner der Kernkraftwerke vertreten nicht die Mehrheit der Bürger des dortigen Raumes und unseres Landes. Deswegen muß man hier zu bundesweiten Aktionen greifen. Das Zentrum dieser Aktionen ist leider Bremen geworden. Herr Koschnick sollte sich lieber einmal um die unerträglichen Hochschulverhältnisse auch in diesem Zusammenhang kümmern,
({28})
als gegen uns zu polemisieren. Da werden für die konkreten Gewaltaktionen, die für Februar geplant sind und jetzt in allen Einzelheiten dokumentiert vorliegen, Kontaktadressen an dieser staatlichen Bremer Universität angegeben. Das ist der Skandal in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({29})
Dieser Skandal beunruhigt auch viele, wie ich weiß, in Ihren Reihen, im Kreise der Bundesregierung und der Fraktionen von SPD und FDP zutiefst.
({30})
- Ja, das mache ich schon, Herr Konrad. Nehmen Sie das alles ein bißchen ernster. In Ihrer selbstgerechten Oberflächlichkeit leisten Sie keinen guten Beitrag für diese Diskussion.
({31})
- Sehr geehrter Herr Abgeordneter, es muß jeden bestürzen, wenn im November 16-, 17jährige Kinder und Jugendliche aus Bremen, aus Frankfurt, aus Essen, zum Teil mit Waffen von Kommunisten und Terroristen nach Brokdorf gefahren werden, um dort die Polizei tätlich anzugreifen. Das hat doch mit dem Für und Wider um Kernenergie in unserem Lande nichts mehr zu tun. Darüber rede ich zur Zeit.
({32})
Die zweite Folgerung für uns war bei der Vorgeschichte, mit dem Baubeginn die erforderlichen polizeilichen Sicherungsmaßnahmen gegen die von einigen Bürgerinitiativen, vor allem aus Bremen und Hamburg, vorher öffentlich angekündigte rechtswidrige Besetzung der Baustelle vorzunehmen. Ich sage zu der Kritik an diesem Vorgang, auf die Sie sich auch in Ihren Zwischenrufen beziehen:
Es gibt kein Bürgerrecht auf Baustellenbesetzung in diesem Lande, wie manche Leute heute im Fernsehen behaupten.
({33})
Nach meinem Amtsverständnis ist es unsere Pflicht als Repräsentanten des Staates in Bund und Ländern, das Eigentum und die Unversehrtheit eines jeden Bürgers zu schützen. Darauf sind wir vereidigt. Das sollte unter uns unstrittig sein. Das gilt für Privatleute. Das gilt für einen Bauernhof. Das gilt für einen Handwerksbetrieb. Das gilt auch für die rechtmäßig genehmigte Baustelle gemeinwirtschaftlicher Energieversorgungsunternehmen im öffentlichen Besitz, die im Rahmen des Energieprogramms der Bundesregierung tätig werden sollen, meine Damen und Herren.
({34}) Ich muß das hier einmal deutlich sagen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}) : Gerne, sehr geehrter Herr Abgeordneter.
Vielen Dank, daß Sie jetzt das Maß an Höflichkeit gegenüber einem anderen Abgeordneten zeigen, das Sie gegenüber dem Abgeordneten Konrad bislang haben vermissen lassen.
({0})
- Vielleicht darf ich diese Bemerkung machen -
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({1}) : Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zur Frage!
Ich weiß; aber man darf sich doch noch bedanken.
Herr Ministerpräsident, darf ich Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung ausdrücklich festgestellt hat, daß das Bürgerrecht auf Demonstration nicht bedeutet,
({0})
daß es ein Recht auf Demolieren gibt? Wollen Sie das bitte bestätigen,
({1})
und wollen Sie bitte Ihre Kritik dort anbringen, wo sie am Platze ist, aber doch nicht hier? Denn wir teilen ja Ihre Auffassung in bezug auf extreme Gruppen.
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({2}) : Ja, ich kenne natürlich diese Aussage des Herrn Bundeskanzlers, und ich würde mich freuen, wenn sie von allen Mitgliedern der Regierungsparteien in der Diskussion draußen im Lande und in
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
ihrem Verhalten nicht nur theoretisch, sondern auch
sehr konkret auf den Punkt, um den es jetzt geht,
entsprechend angewandt würde. Darum geht es!
({3})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg ({0}) : Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich nun bei der Geschäftslage des Hauses fortfahren möchte. Die Form der Antwort richtet sich ein bißchen nach der Art der Anfrage und des Zwischenrufs. Das will ich nur zu der Vorbemerkung von eben sagen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, kein Mensch in unserem Lande kann heute sagen - und das ist es, was in der Tat viele beunruhigt -, wel- ches energiepolitische Konzept die Regierungskoalition und die sie tragenden Parteien vor allem im Bereich der Kernenergie konkret vertreten.
({2})
Und hier geht es auch um das Selbstverständnis dieses Hohen Hauses; ich habe das angedeutet. Ich habe Ihnen die Entschließung vom Mai vergangenen Jahres, die ja einstimmig bei zwei Enthaltungen gefaßt wurde, in Erinnerung gerufen, und ich muß die Abgeordneten der SPD und der FDP aus Schleswig-Holstein und den anderen Ländern nun wirklich einmal eindringlich fragen - Sie, von denen jetzt viele draußen im Lande reden, bis hin, Herr Mischnick, zu sehr dubiosen Formulierungen, zu verwaschenen Formulierungen in Komitees von Fraktionsvorsitzenden; vergleichen Sie das einmal mit den Texten vom Mai -: Was hat sich eigentlich in diesen acht Monaten in der ernsthaften, fachlichen, wissenschaftlichen, auch kritischen Debatte über das Für und Wider der Nutzung der Kernenergie grundlegend geändert? Ich sage Ihnen eines: Nichts hat sich in diesen acht Monaten von jener Entschließung des Deutschen Bundestages bis zu dem, was wir an verwirrenden, bedenklichen, die Menschen beunruhigenden Parolen heute draußen im Lande auch von Mitgliedern dieses Hohen Hauses hören, geändert!
({3})
Deswegen brauchen Sie sich auch nicht zu wundern, wenn mancher etwas nach den Motiven fragt, die mit diesem Meinungswandel verbunden sind.
Ich will das hier aus verschiedenen Gründen nicht weiter vertiefen, aber es ist ein bedenklicher Vorgang, wenn zuständige Bundesminister wie Herr Friderichs - öffentlich geschehen in der Presse und auch auf Parteitagen - deshalb massiv von Bundestagsabgeordneten - ich denke hier vor allem an eine bestimmte Dame -, aber auch von Parteifreunden draußen im Lande auf das heftigste angegriffen werden, weil sie das sagen, was man vor der Wahl in diesem Hohen Hause beschlossen hat.
Und es ist auch ein nicht vertretbarer Widerspruch - leider ist Herr Wehner gegangen -, wenn
sich z. B. in Hamburg der von SPD und FDP gebildete Senat in diesen Tagen - auch in den Kontroversen - für den zügigen Bau des Kernkraftwerks in Brokdorf ausspricht, das ja 50 % des Stroms nach Hamburg liefern soll und bei dem der Senat ja Großaktionär des einen Energieversorgungsunternehmens ist, das baut, während die Regierungsparteien - zunächst die Damen und Herren der FDP und in den letzten Tagen, im Gegensatz zu früheren Äußerungen, auch die der SPD - jetzt in den Ruf nach einem Baustopp einstimmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dieser „Arbeitsteilung" können Sie doch draußen im Lande kein glaubwürdiges Energiekonzept der Koalition vertreten!
({4})
Die Regierung - in Hamburg SPD- und FDP-Senatoren - darf noch gerade dafür sein, weil man ja weiß, was der Fall von Brokdorf für die Stromversorgung in Hamburg bedeutet,
({5})
weil man ja weiß, daß es kein Naturgesetz ist, daß 50 % der Hamburger Stromversorgung aus schleswig-holsteinischen Standorten kommen.
({6})
Aber die Parteien übernehmen dann die Gegenposition, und damit glauben sie, an Überzeugungskraft oder Anziehungskraft in bezug auf die Wähler zu gewinnen.
Dieses Hamburger Beispiel steht ja leider nicht allein. Herr Wehner ist leider gegangen.
({7})
- Ich verstehe das ja auch. Er hat sich vorhin so geärgert; er muß ja auch einmal eine ruhige Stunde haben. Aber er wird es vielleicht nachlesen.
Auch Herr Wehner hat uns heftig kritisiert wegen des Baubeginns in Brokdorf. Ich sage Herrn Wehner und auch Frau Schuchardt hier in aller Deutlichkeit: Wenn das noch ein paar Monate so weitergeht, dann können Sie eine gemeinsame Kommission vielleicht aus Herrn Wehner und Frau Schuchardt bilden für den nächsten Kraftwerksstandort für Hamburg und Norddeutschland und diesen in Ihren jeweiligen Wahlkreisen im eigenen Lande suchen! Das wird die Konsequenz sein.
({8})
Wir praktizieren wirklich staatspolitische Verantwortung in diesem Bereich, auch gegenüber Hamburg, auch gegenüber dem Bund; denn durch die Appelle des Bundes veranlaßt haben wir für dieses Kraftwerk den Standort benannt und den Bau begonnen. Aber irgendwo müssen Sie die Grenzen unserer Belastungsfähigkeit auch erkennen, insofern, als Sie uns nicht für blöd halten können, meine
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
Damen und Herren, in dieser Art, wie diese Debatte mit uns geführt wird.
({9})
Dies mußte ich in etwas deutlicheren Worten zu den Hamburger Verhältnissen bei SPD und FDP sagen. Darauf bezog sich meine Bemerkung.
Ich komme jetzt zum eigentlichen Haupthema zurück.
({10})
- Dies war alles sehr wichtig und findet großes Interesse auch außerhalb dieses Hauses; da können Sie ganz sicher sein.
({11})
- Lesen Sie einmal nach, was Sie zum Thema Entsorgung und Sicherheit im Mai hier in diesem Hohen Hause mit beschlossen haben;
({12})
da brauchen Sie mich nicht zu fragen.
Ich sage Ihnen: Wenn sich die Bundesregierung und die Mehrheitsparteien nicht alsbald auf eine einheitliche Auffassung zur Energieversorgung und der künftigen Rolle der Kernenergie einigen, dann ist in vielerlei Hinsicht eine sehr ernste Zuspitzung zu erwarten, nicht nur in neuen vorbereiteten Gewaltaktionen radikaler Kräfte, sondern auch in der zunehmend besorgten Arbeitnehmerschaft und den Gewerkschaften vieler Betriebe.
({13})
Sie können mit diesen jetzigen politischen Widersprüchen nicht mehr lange leben. Wir alle werden Schaden erleiden, wenn das nicht besser wird.
Ich will Ihnen das an einem aktuellen Beispiel demonstrieren. Vorgestern haben wir in der gesamten norddeutschen Presse in großen Schlagzeilen den dringenden Appell der drei Bundesminister Friderichs, Maihofer und Matthöfer an den Kollegen Ernst Albrecht gelesen, nun endlich den Standort für die Entsorgungsanlage festzulegen und die vorbereitenden Arbeiten zu ermöglichen.
Das ist das eine. Am nächsten Tag erleben wir diese Exkursion der SPD in der Bremer Bürgerschaft,
({14})
die massiven Angriffe gegen den benachbarten Regierungschef der CDU wegen der Maßnahmen zur Durchführung des Energieprogramms. Zugleich lesen wir in denselben Zeitungen die Erklärungen zahlreicher Landesverbände der SPD und FDP und vieler Abgeordneter dieses Hauses nach dem zweijährigen Baustopp, dem Moratorium, der erneuten
Prüfung einer seif 20 Jahren ernsthaft und gewissenhaft erörterten Frage, ob Kernenergie sicher ist.
Ja, glauben Sie denn, daß das ein Weg ist, den Sie in dieser total aufgelösten Schlachtordnung auch nur noch drei Monate weitergehen können?
({15})
Der Bundesminister Ravens erklärt den Bau einer Entsorgungsanlage in Niedersachsen zu einer „nationalen Aufgabe", und Herr Kühn stiehlt sich mit seinen Freunden für die nächsten drei Jahre aus dieser politischen Verantwortung und Diskussion heraus.
({16})
So kann es in diesem Lande doch nicht weitergehen.
({17})
Meine Damen und Herren, Klarheit in den politischen Zielen und Grundlagen ist auch die unverzichtbare Voraussetzung für den intensiveren Dialog mit den Bürgern, die überzeugende Begründung und Darstellung der Regierungspolitik in den Medien gegenüber den Fragen und Sorgen vieler.
Ich komme zum Abschluß noch kurz auf die Regierungserklärung selbst zu sprechen.
({18})
- Auf den Text, sehr geehrter Herr Abgeordneter; zur Sache selbst habe ich mich die ganze Zeit geäußert. - Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am 16. Dezember - ich zitiere - klar gesagt:
Auf den Ausbau auch der Kernernergie kann nicht verzichtet werden. Kernenergie bleibt zur Deckung des vorhandenen Strombedarfs notwendig und unerläßlich.
Dieser Meinung bin auch ich mit der Mehrheit dieses Hauses, einer Mehrheit quer durch alle Fraktionen. Aber erörterungsbedürftig wird - auch in den folgenden Konferenzen mit der Bundesregierung - ein anderer Satz sein. Der Bundeskanzler hat erklärt:
Die Bundesregierung hält die bisherige regelmäßige Praxis, den Bau von Kernkraftwerken - ungeachtet der Einwendungen - durch den sofortigen Vollzug zu beginnen, für unbefriedigend.
Der Bundeskanzler spricht von einer regelmäßigen
- ich habe dieses Wort unterstrichen - Praxis. Über diese Verfahrensfragen einer Änderung der bisher allgemein geübten Praxis kann man mit uns sprechen, freilich - ich würde das einigen Herren der Regierung sagen, wenn sie hier wären, aber ich sage es auch dem Parlamentarischen Staatssekretär Baum - nicht in der Form belehrender oder kritisierender Hinweise, sondern in der Form des vernünftigen Dialogs.
({19})
- Das, worauf wir uns hier beziehen, haben wir alles gelesen. - Eine Feststellung allerdings, meine
Ministerpräsident Dr. Stoltenberg
sehr geehrten Damen und Herren, habe ich in der Regierungserklärung vermißt. Da ist der Entwurf von Herrn Friderichs - wie auch in manchen anderen Punkten - dann wohl nicht zum Zuge gekommen. Man hat den Eindruck, daß das in diesem Teil ein bißchen aus verschiedenen Häusern stammt. Aber ich glaube, Herr Minister Friderichs, diese Feststellung ist unbestritten: Ohne die rechtliche Möglichkeit des Sofortvollzugs kann in der vor uns liegenden Zeit in Deutschland überhaupt kein Neubau eines Kohle- oder Kernkraftwerks begonnen werden, weil die Prozesse - und es gibt heute gegen jedes Kraftwerk Prozesse: gegen die Kohlekraftwerke genauso wie gegen Kernkraftwerke - in der Regel drei bis fünf Jahre dauern.
Bei acht Kernkraftwerken, für die an sich die Voraussetzungen für den Baubeginn gegeben sind, werden Teilgenehmigungen gegenwärtig nicht vollziehbar oder nicht erteilt. Dasselbe gilt auch für Kohlekraftwerke.
({20})
Diese Verzögerung bringt zunächst einmal Milliarden an Mehrkosten, die der Stromverbraucher bezahlen muß. Ein Kernkraftwerksbau, meine sehr geehrten Damen und Herren, und ein Kohlekraftwerksbau in der heute üblichen Größenordnung sichern nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung die Beschäftigung von fast 10 000 Arbeitnehmern für vier Jahre. Wenn das in der jetzigen kritischen Lage auf dem Arbeitsmarkt so weitergeht, wenn hier nicht gleichsam die Schwelle durch politischen Konsensus und auch durch die erhofften rechtlichen Entscheidungen überwunden werden kann, besteht natürlich die Gefahr einer weiteren sprunghaften Zunahme der Arbeitslosenzahlen - abgesehen von den gar nicht kalkulierbaren wirtschaftlichen Folgen für die 80er Jahre, wenn eine Lücke in der Stromversorgung entsteht.
Nehmen Sie, meine Damen und Herren, diesen Hinweis ernst.
({21})
- Nicht alles, was ich gesagt habe, wurde ganz ernst genommen. Aber dies ist ein Hinweis, der auch Sie besonders berührt, meine sehr geehrten Damen und Herren. - Sie kennen das Thema in den Betrieben und Gewerkschaften sehr genau. Es nimmt an Brisanz zu. Und ich füge etwas hinzu: In den Vorständen einiger großer deutscher Energieversorgungsunternehmen beginnen in diesen Wochen die internen Diskussionen, ob nicht der Zeitpunkt in Sicht ist, in dem man den gesetzlichen Auftrag zur Sicherstellung der Energieversorgung für die 80er Jahre offiziell an die Bundesregierung zurückgeben muß. Auch diesen Hinweis sollten Sie ernst nehmen.
Wir haben heute nicht zum ersten Mal die Notwendigkeit eines intensiven Dialogs mit interessierten und besorgten Bürgern betont. Dazu gehören auch viele Mitglieder von Bürgerinitiativen. Wir machen diesen Unterschied zwischen legalen demokratischen Gegnern der Kernenergie und Radikalen und Gewalttätern.
({22})
- Wenn Sie dies einfach so dahinsagen, sehr geehrter Herr Abgeordneter, dann lesen Sie doch bitte einmal die verschiedenen aufsehenerregenden Artikel im Organ des Deutschen Gewerkschaftsbundes „Welt der Arbeit" und in der Zeitschrift der IG Bergbau und Energie. Sie finden darin eine ganze Reihe von Artikeln, die in den letzten Wochen erschienen sind
({23})
und in denen in aller Härte und Eindringlichkeit die zunehmende Unterwanderung vieler Bürgerinitiativen durch kommunistische, terroristische und radikale Gruppen beschrieben wird.
({24})
Deswegen müssen diese beiden Gruppen sehr deutlich auseinandergehalten werden. Der Versuch der Tarnung und des Mißbrauchs muß vermieden werden. Wir sehen uns - speziell in Verbindung mit Brokdorf - mit der Ankündigung neuer schwerer Ausschreitungen und Gewaltaktionen konfrontiert. Solche Aktionen werden in Bremen im Bereich der staatlichen Universität offen diskutiert und teilweise auch vorbereitet. Dieses Thema wird auch in Hamburg und woanders behandelt. Ich glaube, wir sollten uns - unabhängig von allen parteipolitischen Gegensätzen und auch unabhängig von der Beurteilung des Pro und Kontra der Kernenergie sowie der Beurteilung von einzelnen Entscheidungen des Bundeskabinetts und der Landesregierungen - darin einig sein, daß wir alle den Versuch, Demonstrationen aufzubauen und zu mißbrauchen, durch die auf Grund geplanter Gewaltanwendung bürgerkriegsähnliche Verhältnisse in unserem Land geschaffen werden sollen, nachdrücklich und mit äußerster Entschiedenheit verurteilen und alles tun, um ihm entgegenzutreten.
({25})
Dies ist neben der dringend gewordenen Meinungsbildung oder Wiederherstellung der Übereinstimmung in der Koalition im Hinblick auf die Sachfragen der Energiepolitik der Bundesregierung und die Durchführung des Energieprogramms der wichtigste Punkt in der vor uns liegenden Zeit.
({26})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Westphal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort an meinen Vorredner. Herr Ministerpräsident Stoltenberg, es ist Ihr Recht, hier als unser Gast, als Gast unseres Präsidenten zu sprechen. Niemand wird Ihnen dieses Recht hier bestreiten.
({0})
Sie haben sogar das Recht, sich jederzeit in die Rednerfolge so einzureihen, wie Sie es als Ministerpräsident wünschen.
({1})
Sie haben das Recht gehabt, eine Stunde der Redezeit hier auszufüllen. Was Sie aber nicht können, ist, uns zu dem Zeitpunkt, den Sie wünschen, hier eine verspätete Brokdorf-Debatte aufzuzwingen.
({2})
Sie werden heute im Verlaufe dieser Debatte über die Regierungserklärung unseres Kanzlers selbstverständlich Antworten auf die energiepolitischen Fragen bekommen. Das ist doch klar. Ich bin nur gespannt, ob Sie so viel Geduld haben und hier so lange wie andere ausharren werden, um zu hören, was die Abgeordneten der Koalition oder Herr Minister Friderichs zu dieser Thematik zu sagen haben. Wir waren ja gespannt auf Ihre Rede: Einer der großen Zampanos, die da Wirtschaftspolitik in der Union zu vertreten haben - Stoltenberg, Biedenkopf, Barzel; entschuldigen Sie, ich kenne noch nicht die Rangfolge in der Hierarchie ({3})
kommt hierher, spricht zu uns, hält uns einen Monolog über Verfahrens- und Terminfragen, philosophiert über die Problematik der Überlastung von Spitzenpolitikern, antwortet auf die Frage, ob er eine Alternative zur Rentenpolitik habe, dies sei verfrüht, dies könne man von ihm nicht erwarten, und bringt im Zusammenhang mit der Steigerung von Brutto- und Nettobezügen einiges durcheinander. Jeder weiß doch, daß, wenn sich eine Steigerung ergibt, eine Bruttosteigerung höher ist als eine Nettosteigerung. Aber auch eine Nettosteigerung bleibt nun einmal eine Steigerung. Nur darum ging es.
({4})
Auf Prozentsätze lasse ich mich dabei gar nicht ein. Und dann kommt dieser wirtschaftspolitische Sprecher der Union aus dem hohen Norden und sagt zum Thema Wirtschafts- und Finanzpolitik: Das klammere ich heute aus. Ganz enttäuscht saß ich da unten und packte meine Notizen weg. Außer dem Thema der Verschuldung blieb nichts.
Lassen Sie mich gleich, Herr Stoltenberg, obwohl ich im Zuge dessen, was ich hier ausführen will, noch einmal auf das Thema Verschuldung an anderer Stelle zurückkomme, sagen: Wir sind einverstanden, daß dies ein Teil der Politik ist, die wir im finanziellen Bereich zu machen haben. Wir haben sie sogar bereits angefangen. Sie ist darauf gerichtet, die hohen, insbesondere die rezessionsbedingten Schulden abzubauen. Aber, Herr Stoltenberg, wissen Sie nicht, daß wir am 20. des Monats Januar 1977 stehen? Wenn es nach der Politik dieser Regierung der sozialliberalen Koalition gegangen wäre, würden wir seit dem 1. Januar 1977 beginnen, in verstärkter Weise Mittel zu beschaffen, um Schulden
abbauen zu können, wenn Sie nicht im Bundesrat mitgeholfen hätten, zu verhindern, daß wir die angemessene Erhöhung der Umsatzsteuer bekommen.
({5})
Meine Damen und Herren, analysiert man die bisher in dieser Debatte von den Rednern der Oppo, sition gehaltenen Reden im Hinblick auf die finanzpolitischen Themen, dann ergibt sich als zusammen-, fassende Wertung - und ich benutze einmal die von Herrn Strauß so sehr geliebte Form des rhetorischen Dreiklangs -: Nichts Neues, viel Unzutreffendes und keine Alternativen. Doch die Fülle der Behauptungen über die Politik der sozialliberalen Koalition, die wieder und wieder vorgetragen worden sind, zwingt zur Entgegnung. Die Ausgangslage ist zu klären, auch wenn dabei in mancher Hinsicht ein Rückblick auf die inzwischen hinter uns liegende Zeit erforderlich wird; dies gibt eine durchaus gute Chance, der Einseitigkeit der Argumentation der Opposition entgegenzutreten, in der z. B. und insbesondere die Interessen der größten gesellschaftlichen Gruppe, der wir Sozialdemokraten uns verpflichtet fühlen, nämlich der Arbeitnehmer, höchstens von Zeit zu Zeit als schmückendes Beiwerk vorkommen, aber real eben doch nicht beachtet werden. Es gibt uns auch die Chance, die Kontinuität unserer Argumentation zu verdeutlichen sowie zurückliegende Ursachen aufzuklären und deren heutige Wirkung aufzuzeigen.
Nach Herrn Strauß und auch heute morgen nach Herrn Katzer und weiteren Sprechern der Opposition war bis 1969 die Welt heil und in Ordnung. Souverän „schlabbern" die Herren von der Opposition den Sturz Erhards 1966 sowie dessen wirtschafts- und finanzpolitische Gründe. Nachdem Herr Strauß nicht mehr Finanzminister sein durfte, geht nach seiner Ansicht alles bergab. Fast wie selbstverständlich ist in seinem völlig unzutreffenden Schwarzweißgemälde die Gegenthese eingebaut, daß man nur eine Versetzung von Herrn Strauß an die Machthebel der Regierungsspitze des Bundes brauchte, dann wäre alles gleich wieder gut. Wie durch Zauberkraft würde wieder Vertrauen in die Wirtschaft zurückkehren, - was ja eigentlich, wie jeder weiß, Helmut Schmidt und Herrn Friderichs gegenüber gar nicht fehlt -, und gleich morgen ginge dann das Investieren wieder los.
Diese für naive Gemüter bestimmte Argumentationskette hat - man muß ihm dankbar dafür sein - Herr Otto Wolff von Amerongen, ein Mann, der die Wirtschaft kennt und in ihr große Verantwortung trägt, mitten in der Zeit des Bundestagswahlkampfes nüchtern auseinandergenommen, als er in einer Rede vor hessischen Unternehmern klarstellte, daß Investitionen nicht politisch, sondern von Gewinnerwartungen bestimmt sind, und daß wahrscheinlich keine Mark mehr oder weniger investiert würde, wenn die Unionsparteien in Bonn die Koalition abgelöst hätten. Die „Stuttgarter Zeitung" vom 24. September 1976, der ich den Hinweis auf diese Rede entnehme, kommentiert dazu:
Die Mär vom angeblich durch die Politik der sozialliberalen Koalition verdorbenen Investitionsklima oder „investitionsfeindlichen" gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik wurde durch eine Rede von Wolff von Amerongen vor hessischen Unternehmern zu dem, was sie ist, nämlich eine Mär.
Auch die Menschen draußen wissen, daß die naiv vereinfachenden Vorstellungen, wie sie uns von den Sprechern der Opposition weisgemacht werden sollen, so nicht zutreffen. Es heißt die Erkenntnisfähigkeit des Bürgers weit zu unterschätzen, wenn man ihm einreden will, daß, erstens, an allem, was in der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung in unserem Lande schwierig und problematisch ist, die Regierung schuld sei und, zweitens, daß wiederum dies nur so lange richtig sei, wie diejenigen nicht in der Regierung sitzen, die diesen Vorwurf gerade erheben. So dumm ist der Bürger nicht.
({6})
Denn das öffentliche Bewußtsein trägt durchaus die nüchterne Wirklichkeit mit, daß diese unsere Zeit der Mitte der 70er Jahre - ich will damit ganz ruhig sagen: die rauhe Wirklichkeit von heute - nicht mit den 50er oder 60er Jahren vergleichbar ist.
({7})
- Vielleicht geht der Herr Ministerpräsident jetzt zu Mittag essen.
({8})
- Na, ich sehe Sie später. ({9})
Wir haben es mit anderen, schwierigen Umständen zu tun. Die wesentlichen Ursachen dafür sind: bei uns und weltweit wirken die Folgen der Ölkrise, die Veränderungen im Welthandel, die Strukturprobleme ausgereifter Volkswirtschaften. Das heißt, Wachstum kann nicht mehr so steil nach oben steigen wie in den vergangenen Jahren. Hinzu treten bei uns durch den stark veränderten Generationenaufbau neue Probleme, die bedeuten, daß einerseits für viele junge Menschen mehr als sonst Plätze in Schulen und im Berufsleben geschaffen werden müssen und daß andererseits eine immer zahlreicher werdende ältere Generation den im Erwerbsprozeß stehenden Menschen auf mittlere und längere Sicht zunehmende Verpflichtungen anlastet.
Die materiellen Konsequenzen der Solidarität sind es also, mit denen wir zu ringen haben. Das gilt sowohl für die Solidarität nach innen, also z. B. zwischen den Generationen, als auch für unsere Solidarität nach außen, z. B. mit den Menschen, die in den jetzt noch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückhängenden Teilen der Erde leben und die das gleiche Recht zu leben und zu arbeiten haben wie wir. Es gibt im übrigen weltweit keine anderen Antworten der Praxis - und das ganz ohne jegliche Ideologie - als die, daß bei der Meisterung dieser schwierigen Probleme der Staat eine größere Verantwortung zu tragen und eine größere Rolle zu spielen hat als in vergangenen Jahrzehnten.
Die sozialliberale Koalition hat sich diesen Verpflichtungen gestellt. Sie wird dies auch weiterhin tun. Dies zeigt zum einen der Blick auf die bisherigen konjunktur- und stabilitätspolitischen Programme und Maßnahmen im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung bis 1976, und dies zeigt genauso die Regierungserklärung für die jetzt begonnene Legislaturperiode mit dem eindeutigen Schwergewicht einer Politik, die darauf gerichtet ist, unsere Wirtschaft so anzuregen und so zu strukturieren, daß sie Dauerarbeitsplätze anbietet, die einen hohen Grad der Beschäftigung ermöglichen.
Trotz aller gegenteiligen Behauptungen der Herren Strauß und anderer muß unsere Politik doch wohl sehr viel erfolgreicher gewesen sein; denn im internationalen Vergleich stehen wir in allen für den Wohlstand der einzelnen und für die Entwicklung einer Gesellschaft entscheidenden Faktoren auf guten, vordersten Plätzen. Das gilt für die Daten des Wirtschaftswachstums, der Preisstabilität, der Devisenreserven, auch der relativ geringen Arbeitslosenquote, und das gilt für das ganze Netz der sozialen Sicherheit. Dies werden meine Freunde nach mir noch im einzelnen mit sehr konkreten Zahlen belegen können.
Auf Grund der anerkannten Position unseres Landes in der Welt suchen nicht nur junge Staaten der Dritten Welt Rat und Hilfe hier bei uns, sondern durchaus auch etablierte Industrienationen, denen wir helfen müssen und werden, übrigens auch im eigenen Interesse.
Schließlich zeigt ja das Beispiel der letzten Tage, daß unser angeblich so bankrotter Staat von dem Chef eines seit vielen Jahren christdemokratisch regierten Landes - ich will nicht sagen, daß es ultramontan von uns liegt - besucht wird, der hierher nach Bonn kommt und uns nach wie vor für eine gute Adresse hält.
Ich halte fest: Hinter uns liegen keine einfachen Jahre. Für die nächste Zeit wird uns weiterhin eine Reihe von Schwierigkeiten begleiten. Aber der angeblich abgewirtschaftete Staat am Rande des Chaos und des Ruins existiert nicht. Die deutsche Wirklichkeit ist anders. Das „Finanzchaos" ist vielmehr ein von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, konstruiertes Phantom Ihres Wunschdenkens, geboren auch aus der Absicht, einen Grauschleier vor Ihre eigene Konzeptionslosigkeit und den Mangel an Alternativen zu legen.
({10})
Wir setzen dagegen: In unserem Land läßt es sich leben, verglichen mit anderen, auf einem hohen Niveau gesicherter Solidarität und auch Liberalität, um deren ständige Verbesserung wir bemüht sind. Die Menschen unseres Landes wissen das sehr wohl, auch wenn sie sich manchmal über uns ärgern, manchmal sogar leider zu Recht, wie ich offen hinzufügen möchte.
Herr Strauß, Sie hören nicht auf, zu behaupten, unsere Politik seit 1969 bestehe aus einer Überforderung der öffentlichen Haushalte, wir hätten immer mehr und mehr vom Sozialprodukt verteilt, sogar mehr, als produziert worden sei. Daneben steht Ihr Wort von der durch uns geweckten Anspruchsinflation. Lassen Sie mich nüchtern und den Tatsachen entsprechend dazu folgendes feststellen.
Der Bund hat seit 1969 in den Jahren der Hochkonjunktur bis einschließlich 1973 seine Haushalte fast vollständig aus Steuern und Verwaltungseinnahmen finanziert. Die Neuverschuldung des Bundes betrug in den genannten vier Jahren bis 1973 bei Gesamtausgaben von rund 419 Milliarden DM nur gut 9 Milliarden DM. Dabei wurden gleichzeitig etwa 6 bis 7 Milliarden DM als Sonderguthaben des Bundes bei der Bundesbank angelegt, d. h. als Rücklagen für konjunkturschwache Zeiten angesammelt. Bis zur Rezession hat der Bund also seine Haushalte nicht nur praktisch ohne Kreditaufnahme finanziert, sondern die Bundesschulden in diesen genannten vier Jahren auch noch, gemessen am Bruttosozialprodukt, abgebaut, und zwar von 7,5 auf 6,2 v. H.
Da wirft uns die Opposition mangelnde Sparsamkeit und Aufblähung der Haushalte durch verschwenderische Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition vor. Auch hier gilt es, falsche Behauptungen durch den Hinweis auf die Tatsachen zurechtzurücken. In den Jahren 1962 bis 1969 stiegen die Bundesausgaben durchschnittlich um 7 1/2 %. Es ist richtig, daß sie von 1970 bis 1976 stärker angestiegen sind, und zwar im Schnitt um 3 % jährlich.
Ursachen hierfür sind - das ist klar - einerseits die erheblichen Mehraufwendungen für die soziale Absicherung der Bürger in unserem Land während der Rezession. Wir sind stolz darauf, daß wir die Bürger in der schwierigen Zeit nicht haben hängen lassen.
({11})
Die Bemerkung des Herrn Katzer von heute morgen, wir bezahlten nur die Arbeitslosigkeit, während Sie sich darum bemühten, diese zu überwinden, hat mich tief getroffen, weil sie so unanständig war. Wer hat denn den Konjunkturprogrammen nicht zugestimmt? Das war doch Ihre Seite.
({12})
Wir waren es doch, die Konjunkturpolitik gemacht und dafür gesorgt haben, daß Arbeitsplätze erhalten worden sind. Gleichzeitig haben wir selbstverständlich gesagt, daß auch das Arbeitslosengeld angehoben werden müsse.
({13})
Eine zweite Ursache für die Steigerung der Bundesausgaben ist die Belastungsverschiebung von den Ländern zum Bund durch die volle Übernahme der Kindergeldzahlung auf den Bund im Rahmen der Steuerreform. Auch diese enorme sozialpolitische Leistung, die eine Ausweitung des umverteilten Volumens von rund 11 Milliarden DM auf 15 bis 16 Milliarden DM zugunsten der Familien brachte
- 40 % mehr -, war keine Verschwendung, sondern notwendig. Im übrigen - das sei hinzugefügt -: Dieser Form von „Verschwendung" haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zugestimmt.
Schließlich sind drittens die Ausgaben des Bundes in den genannten Jahren durch Mehrausgaben für längst fällige Reformen und Verbesserungen angewachsen, die politisch positiv auf unser Konto gehen. Ich erinnere beispielshalber nur an die Erhöhung und Dynamisierung der Kriegsopferversorgung und der Altershilfe für die Landwirte, die Reform der Ausbildungsförderung für Schüler weiterführender Schulen und für Studenten, die Erhöhung des Wohngeldes, die Schaffung des 624-DM-Gesetzes und die positiven Wirkungen der Steuerreform.
Obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, fast allen diesen von der sozialliberalen Koalition vorangetragenen Verbesserungen der Lebenssituation unserer Bürger in der Schlußphase doch ihre Zustimmung gegeben haben, sagte Ihr finanzpolitischer Sprecher in Ihrem Namen hier zu uns im Dezember 1976, dies alles sei eine Überforderung der öffentlichen Haushalte, sei eine Verteilung von mehr und mehr Sozialprodukt und müsse nun endlich aufhören. Das kann jeder, der Ohren hat, zu hören, doch nur so verstehen, daß die Leistungen für Arbeitnehmer, für Familien, für Mieter, für Rentner, für Verbraucher reduziert, zusammengestrichen werden sollen, wenn es in diesem Land nach der finanzpolitischen Pfeife des Herrn Strauß ginge. Das machen wir nicht mit.
({14})
Wenn das die Alternative der Opposition ist, dann gute Nacht.
Sie ist im übrigen genauso unsozial wie die von einer großen Zahl von Oppositionspolitikern gleichzeitig gespielte entgegengesetzte Show unseriös ist, in der eine Serie von Steuergeschenken, die Senkung der Mineralölsteuer, die sofortige Anhebung des Wohngelds, die Überbietung der Regierungserklärung beim Kindergeld, beim Bundesausbildungsförderungsgesetz und bei der Vermögensbildung gefordert werden. Die Sache wird dann makaber, wenn der finanzpolitische Sprecher der Union einen beachtlichen Teil seiner Redezeit im Dezember darauf verwendet, uns allen weismachen zu wollen, das einzige, was helfen würde, uns aus schwieriger wirtschaftlicher Situation herauszuholen, müßte darin bestehen, die Unternehmer von ertragsunabhängigen Steuern zu entlasten. Was ist das für eine Vorstellungswelt! Die Wähler haben recht daran getan, ihn nicht Finanzminister werden zu lassen.
({15})
Ganz besonders gezielte Vorwürfe richtet die Opposition gegen die hohen Kreditaufnahmen des Bundes seit 1975. Die Opposition tut so, als ob die Bundesregierung die hohen Finanzierungsdefizite leichtfertig und aus Spaß herbeigeführt hätte.
({16})
- Nehmen Sie mir bitte nicht übel, daß ich diese Rede ablese. Ich lese sie zum Teil ab. Zum Teil spreche ich sie aber auch frei.
({17})
- Schön, Herr Franke. Vielleicht sind Sie in dieser Hinsicht besser. Aber sonst? Fragezeichen!
({18})
- Gut. Wenn das die einzigen Argumente sind, nehme ich sie hin. Vielleicht werde ich noch besser. Niemand wird mich hindern, von Minute zu Minute besser zu werden, auch im freien Sprechen.
({19})
- Schön. Falls Sie mir nicht weiter zuhören wollen, weil Ihnen das Ablesen keinen Spaß macht, gibt es draußen andere Möglichkeiten.
({20})
Jetzt kommen wir wieder zum Thema. Ganz besonders gezielte Vorwürfe richtet die Oppostion gegen die hohen Kreditaufnahmen. Ich habe das eben schon gesagt.
({21})
- Was ich hier sage, schmerzt Sie wohl sehr!
({22})
Die Opposition tut so, als ob die Bundesregierung die hohen Finanzierungsdefizite leichtfertig oder gar aus Spaß herbeigeführt hätte. In Wirklichkeit spiegelt sich darin die weltweite Rezession, die uns veranlaßte, das aufgenommene Geld bewußt als Maßnahme antizyklischer Finanzpolitik einzusetzen. Dabei waren wir uns doch einmal einig darüber, daß dies eine der wenigen wirkungsvollen Möglichkeiten des Staates ist, bei konjunkturellen Krisen in der marktwirtschaftlichen Ordnung gegensteuern zu können. Diese Kreditaufnahmen waren eine zentrale Voraussetzung für die Finanzierung der Konjunkturprogramme und für die Ausübung der Solidarität mit den von der Krise Betroffenen.
Diese Mittel haben ein weiteres Abgleiten der Wirtschaft verhindert und viele Tausende von Arbeitsplätzen erhalten. Die bewußte Inkaufnahme der hohen Haushaltsdefizite ist deshalb auch von der Deutschen Bundesbank, vom Sachverständigenrat und von den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten als richtig und notwendig angesehen worden. Im übrigen befinden wir uns bereits in einem Jahr, in dem die von uns begonnene Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte als die Politik des Schuldenabbaus verstärkt fortgeführt werden könnte - wie ich das vorhin schon zu Herrn Stoltenberg sagte -, wenn die von uns dem Wähler offen vorgetragene Notwendigkeit der Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Punkte - die der Wähler, so kann man doch wohl auf Grund der Ergebnisse der Wahlen sagen, akzeptiert hat - von der Opposition in der Ländervertretung nicht verhindert worden wäre.
Heute klingen die Äußerungen der Opposition zum Thema Mehrwertsteuererhöhung schon ganz anders, wenn auch noch ziemlich durcheinander. Herr Gaddum sprach sich in einem Rundfunkinterview gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer aus, weil sie nicht in die konjunkturelle Landschaft passe. Herr Stoltenberg stellte dagegen die Zustimmung zu einer Mehrwertsteuererhöhung in Aussicht; freilich sei diese Maßnahme für die Union nur der letzte Schritt nach der Ausschöpfung aller Sparmaßnahmen. Okay. Herr Häfele hatte andererseits bereits angekündigt, „diesen Schacher" mit der Mehrwertsteuer würde die Union nicht mitmachen. Und Herr Strauß, der die Zustimmung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer von einer Umverteilung sehr bestimmter Art abhängig machen möchte, anwortet - man höre und staune - schließlich auf den Einwand, ob denn nicht wenigstens der rezessionsbedingte Schuldenanteil durch Mittel aus dem Aufkommen der angehobenen Mehrwertsteuer abgebaut werden sollte, man könne über alles reden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, keiner von uns aus der Koalition wird Ihnen hindernd im Wege stehen, wenn Sie bei diesem schwierigen Prozeß von Minute zu Minute klüger und vernünftiger werden wollen. Wir sind überzeugt, daß die Regierungserklärung unseres Bundeskanzlers Ihnen zu diesem Fragenkomplex eine vernünftige Politik vorschlägt, obwohl wir wissen, daß es besser gewesen wäre, wenn diese Politik schon am 1. Januar 1977 hätte beginnen können.
Zur Betrachtung der Ausgangslage der Finanzpolitik dieser Legislaturperiode auf der Grundlage der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt gehört auch ein kurzer Blick auf den Abschluß des Haushalts 1976. Ich muß schon sagen, die Reaktionen der Oppositionspolitiker, die sonst so schnell mit ihrer Kritik bei der Hand sind, auf die Mitteilung des Bundesfinanzministers zu dieser Haushaltsabschlußmeldung waren erstaunlich leise. Das wird verständlich, wenn man daran denkt, daß die Union sonst hätte zugeben müssen, daß ihre Schmähungen des Bundeshaushalts 1976 unberechtigt waren. Soweit uns die Zahlen vorliegen und man sie heute schon auswerten kann, können wir sagen, daß der Haushalt 1976 im Vollzug voll unter der Konzeption gestanden hat, die uns auch in der Zukunft leiten wird: Sparsamkeit bei den Ausgaben und Vermehrung der Steuereinnahmen durch konjunkturelle Erholung. Beides hilft uns, die eingeleitete Konsolidierungspolitik voranzutreiben, d. h., die hohen Finanzierungsdefizite aus der Rezessionszeit mittelfristig abzubauen. Konkret auf das Jahr 1976 bezogen heißt das, daß das Finanzierungsdefizit gegenüber den ursprünglichen Planungen nochmals zurückgenommen werden konnte, und zwar auf knapp 26 Milliarden DM gegenüber dem Haushaltssoll von 33 Milliarden DM. Allerdings, dieser erfreuliche Abschluß verleitet uns nicht zu einer Euphorie. Wir werden deshalb nicht eine Maßnahme von den in der Regierungserklärung genannten auslassen können, und wir erwarten, daß diese bereits erfolgreiche Konsolidierung des Bundeshaushalts
ihre Fortsetzung in den in der nächsten Woche bevorstehenden Beschlüssen des Bundeskabinetts zum Bundeshaushalt 1977 ebenso wie in der zugleich fortzuschreibenden mittelfristigen Finanzplanung finden wird.
Nachdem wir zusammenfassend sagen können, daß es die Politik der Regierung der sozialliberalen Koalition war, die uns geholfen hat, besser als alle anderen Industrieländer dieser Welt durch die weltweite tiefgreifende Krise zu kommen, nachdem wir hinzufügen können, daß uns dabei in ganz beachtlicher Weise das von dieser Koalition geschaffene und ausgebaute Netz der sozialen Sicherung geholfen hat, und nachdem wir deshalb klar feststellen können, daß es, insgesamt gesehen, überhaupt keinen Grund gibt, aus der Kontinuität dieser Politik auszusteigen, erklären wir hier, daß auch die Haushalts- und Steuerpolitik der neuen Legislaturperiode, also die künftige Politik im Bereich der öffentlichen Finanzen, orientiert sein wird an dem vorrangigen Ziel, das sich die Bundesregierung gesetzt hat, nämlich an der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung durch ausreichendes Wirtschaftswachstums bei gleichzeitigem weiteren Stabilitätsfortschritt.
Das heißt für unseren Bereich der Politik, der hier besprochen wird, daß sich der sparsame Umgang mit den Ausgaben darin zeigen wird, die normalen Ausgabenzuwächse des Bundeshaushalts mittelfristig unter den Zuwachsraten des nominalen Sozialprodukts zu halten, daß wohl oder übel der Rahmen für neue, zusätzliche Leistungen, die dem Bürger zugute kommen werden, im konsumtiven Bereich gering sein muß, aber ausreichen wird, um z. B. Leistungsverbesserungen beim Wohngeld, beim Kindergeld und in der Ausbildungsförderung zustande zu bringen, daß wir uns nicht davon abbringen lassen werden, die insbesondere ressionsbedingte hohe Verschuldung Stück für Stück und Jahr für Jahr abzubauen, daß wir unsere Bereitschaft erklären, die von der Bundesregierung bereits eingeleitete gezielte Arbeitsmarktpolitik - ich erinnere an das im Spätherbst verkündete 430-MillionenDM-Programm - durch den Bundeshaushalt zu finanzieren, daß wir darüber hinaus unsere Bereitschaft erklären, die Finanzierung des geplanten und in der Vorbereitung befindlichen mehrjährigen öffentlichen Investitionsprogramms zur wachstumspolitischen Vorsorge seitens des Bundes sicherzustellen, d. h. mitzuhelfen, unsere Wirtschaftsstruktur so zu verändern, daß sie den technologischen Ansprüchen der Zukunft entspricht und auf Dauer eine hohe Beschäftigung ermöglicht.
Aus diesen finanzpolitischen Überlegungen heraus - das sind meine abschließenden Bemerkungen -, aus dieser Konzeption ergibt sich auch unsere Antwort zu dem Problem der Mehrwertsteuererhöhung. Wir haben es dem Bürger in Wahlkampfzeiten offen gesagt: Wir brauchen diese Anhebung der Mehrwertsteuer im notwendigen Prozeß der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Wir brauchen sie - das muß heute hinzugefügt werden - trotz der guten Haushaltsabschlüsse, die der Finanzminister vorlegen konnte. Wir müssen mit Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteueranhebung die Schulden abbauen, und wir müssen uns damit gleichzeitig neuen Spielraum schaffen, um öffentliche Finanzen zur Verfügung zu haben, die uns helfen können, eine Politik zur Sicherung und Schaffung von Dauerarbeitsplätzen zu verwirklichen.
Dazu gehört die Anregung des Verbrauchs, der die Binnenkonjunktur zusätzlich beleben kann und beleben sollte. Hierzu gehört in gewissem, leider eng begrenztem Rahmen eine bestimmte steuerliche Entlastung von Arbeitnehmereinkommen. Hierzu gehört auch ein Teil von Maßnahmen, die der Verbesserung der Investitionsbereitschaft der Unternehmen dienen.
Wir möchten dabei in die konkrete Diskussion um das von der Regierung vorgelegte Steuerpaket den Grundgedanken mit eingeben, der eigentlich für alle Beteiligten im gesamten Parlament gültig sein müßte, daß es im Rahmen eines zu beschließenden Steuerpakets keine Geschenke geben darf, die keine Arbeitsplätze bewirken.
({23})
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten begrüßen die in der Regierungserklärung und in den Eckdaten zum Etat 1977 vorgezeichnete Linie einer Haushalts- und Finanzpolitik, die uns nüchtern, ohne Überschwang und mit Augenmaß heraussteuert aus einer schwierigen Zeit, in der das notwendige wirtschaftliche Wachstum ebenso seinen Platz hat wie der schrittweise Ausbau unseres Sozialstaates. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({24})
Das Wort hat Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Leider hat es diesmal der Ablauf des politischen Zeitgeschehens erstens so mitgebracht, daß wir uns etwas reichlich weit vom Wahltermin entfernt haben, was den Eindruck aufkommen läßt, der eine oder andere hätte bei dieser Debatte bereits das Ergebnis vergessen. Zweitens hat es der zeitliche Ablauf auch mit sich gebracht, daß wir die Debatte zur Regierungserklärung in zwei Fortsetzungskapiteln durchführen. Ich möchte dennoch, was ich auch schon bei früherer Gelegenheit getan habe, zunächst einmal den Wahlhelfern der Koalition und in diesem Fall insbesondere auch meiner Partei in diesem Hause herzlich danken. Mein erster Dank gilt wie jedes Mal dem Kollegen Strauß, der uns gegen die „Nordlichter" kräftig zur Seite gestanden hat.
({0})
Er hat das diesmal, jedenfalls was Nordrhein-Westfalen anbelangt, in Zusammenarbeit - das ist vielleicht eine Kombination, die Ihnen nicht unbedingt recht ist, aber uns angenehm war - mit unserem neuen Kollegen, dem hier herzlich begrüßten Professor Biedenkopf getan. Daß die FDP in Nordrhein-Westfalen zum erstenmal den Bundesdurchschnitt des Wahlergebnisses ihrer Partei erreicht hat, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen. Wir bedanken uns und freuen uns darüber. Warum sollte sich Herr
Köppler allein über das nordrhein-westfälische Ergebnis freuen?
({1})
Herr Kollege Strauß hat in seinem Beitrag im Dezember zur Regierungserklärung leider das alte Verfahren wieder aufgegriffen, von dem wir geglaubt oder angenommen hatten, wir hätten es ihm abgewöhnt. Er ist nämlich wieder mit einer Sammlung von Zeitungszitaten hier oben erschienen. Dieses Mal waren es Zitate über den Bundeskanzler, selbstverständlich sorgfältig ausgewählt unfreundliche Zitate. Herr Strauß, wir haben uns schon einmal in dieser Form miteinander unterhalten. Ich kann mit einer hübschen Sammlung von Zitaten nach Kreuth kontern. Der „General-Anzeiger" :
Nicht viel mehr als der Kreuther Faustschlag erregte viele innerhalb und außerhalb der CDU der überfallartige Stil, in dem er ausgeführt worden ist. Sollten Strauß und seine Verschworenen ihre nachträglichen Überzeugungsversuche am Ende ins Wasser des Tegernsees schreiben müssen, dann nicht zuletzt deshalb, weil auch der Stil die Politik macht.
Die „Frankfurter Rundschau" :
Wer alles glaubt, was Franz Josef Strauß so von sich gibt, ist selbst schuld.
({2}) Die „Westfälischen Nachrichten" :
Die Gründe dafür liegen zu einem großen Teil
in der Person von Strauß selbst, der seinen fatalen Hang zur Selbstüberschätzung immer weniger zu zügeln versteht und sich davor hüten muß, daß ihm nicht Größenwahn nachgesagt wird.
({3})
Ich möchte gern, daß wir davon abkommen, in diesem Zeitungszitierstil miteinander zu sprechen,
({4})
und ich hoffe sehr, daß dies zum Abgewöhnen beiträgt.
({5})
Im übrigen verstehe ich gar nicht, warum Sie so empört reagieren;
({6})
denn wer sich die Wienerwald-Rede mit einiger Sorgfalt durchliest, der wird wohl auch sagen können: Diese Rede hätte man auch im Bürgerbräukeller halten können. Jedenfalls erinnert sie an Reinhold Maiers Ausspruch: Wer so spricht, der schießt auch.
({7})
- Herr Franke, nur keine Aufregung, wir kommen noch zu einer sachlichen und beruhigten Unterhaltung!
({8})
Aber wir sind nicht bereit, die Angriffe so, wie sie gestartet worden sind, unwidersprochen stehenzulassen. Ich habe im Jahre 1972 große Aufregung und großen Unwillen bei Ihnen erregt - ich erinnere mich dessen noch -, als ich davon sprach, daß Sie, Herr Strauß, ein politisches - wohlgemerkt: ein politisches; ich unterstreiche das dreimal - Sicherheitsrisiko für uns seien.
Nach den Ereignissen von Kreuth hieß es in der holländischen Zeitung „De Volkskrant" - Herr Präsident, ich bitte um Genehmigung, dies zu zitieren -:
Wenn man in diesen Tagen sieht, wie Franz Josef Strauß mit seinen politischen Freunden umspringt, kann man Angst bekommen bei dem Gedanken, wie er wohl seine politischen Gegner behandeln würde, wenn er dazu Gelegenheit bekäme.
({9})
Der Wähler wußte sehr gut - ich möchte dieses Wahlergebnis in Ihre Erinnerung zurückrufen -, warum er eine Partei nicht in die Regierung gewählt hat, die unter dem maßgeblichen Einfluß unseres Kollegen Strauß steht.
Dabei wußte er noch nicht einmal - und ich will dies hier nicht wörtlich zitieren, Herr Kollege Kohl -, was Herr Strauß, nachdem er monatelang für den „Kanzler für Deutschland" durch die Bundesrepublik gezogen ist, wenige Wochen nach der Wahl über denselben Kanzlerkandidaten von sich gegeben hat. Nur, Herr Strauß, Sie dürfen dann nicht von „Wählerbetrug" sprechen.
({10})
- Über die Frage von gutem und schlechtem Gewissen werden wir uns an Hand von Wahlaussagen und Wahlkampfführung auch noch zu unterhalten haben. Aber ich habe in dem Zusammenhang alles unerwähnt gelassen, was aus den Reihen Ihrer eigenen Partei, etwa aus Niedersachsen - Titulatur „Politclown" - in die Öffentlichkeit gesetzt worden ist.
({11})
Die Mehrheit der Wähler hat für die Regierung gestimmt. Deshalb, Herr Franke, habe ich es erstaunlich gefunden, daß Sie gesagt haben, diese Regierung finde kein Vertrauen, diese Regierung müsse abgelöst werden. Als ob wir ein halbes Jahr vor neuen Bundestagswahlen stünden! Nein, am 3. Oktober hat die Mehrheit der Wähler in der Bundesrepublik diese Regierung mit der Fortsetzung ihrer Arbeit beauftragt. Dies ist das Ergebnis, von dem wir ausgehen.
({12})
- Nein, ich lese ganz einfach die Wahlergebnisse ab, und damit komme ich zu diesem Gesamtergebnis. - Sie hat dabei auch über die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung entschieden. Sie hat differenziert entschieden. Sie hat nämlich die
Schwierigkeiten und Probleme sehr wohl gesehen, in denen wir uns befinden, in denen Sie sich befänden, wenn Sie die Regierung zu stellen hätten. Die Wählerschaft hat differenzierter geurteilt als Sie in Ihrem Pauschalurteil: „Das Ganze taugt nichts, die Richtung paßt mir nicht, die müssen abtreten." Dabei, ich wiederhole es, sind die Probleme von den Wählern nicht übersehen worden. Aber es ist eine Leistung honoriert worden, die sich, wie wir alle wissen, vor allem im internationalen Vergleich gut sehen lassen kann.
Nun weiß ich, daß schon wieder der Ruf kommt - wie oft haben wir ihn gehört, vor allem auch vom Kollegen Barzel -: „Der internationale Vergleich ist gänzlich unzulässig." Er war erfreulicherweise für die Urlauber, die in diesem Sommer 1976, unser Land verlassen hatten, nicht unzulässig, sondern er hat ihre Stimmabgabe, zu Recht, beeinflußt.
({13})
Es ist unsere Aufgabe, diesen Wählerauftrag zu erfüllen. Die Großwetterlage für die Erfüllung dieses Auftrages ist wahrlich nicht berauschend und ist wahrlich nicht übertrieben günstig. In der Beurteilung sind wir ja wohl mit Ihnen einig. Wir haben die unterschiedlichsten Konjunkturprognosen vorliegen, von der OECD über die Gemeinschaftsinstitute mit Minderheitenvotum, über den Sachverständigenrat und die Bundesregierung, die sich ihm angeschlossen hat. Hier gibt es Unterschiede, d. h. mit anderen Worten, wir bewegen uns konjunkturpolitisch, was die Wachstumsaussichten anlangt, auf einem nicht sehr gesicherten Erkenntnisboden.
Ich möchte eine Bemerkung zu Gutachten, die uns vorgelegt werden, machen. Wenn die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel in der Bundesrepublik Deutschland dieser Tage ein 1 100 starkes Gutachten mit, ich glaube, 99 Minderheitenvoten vorlegt, so, meine ich, hätte es ihr besser angestanden, dieses Gutachten nicht abzuliefern. Damit kann man nichts anfangen.
Die Bundesregierung hat, und zwar noch im Laufe der Koalitionsverhandlungen, Herr Kollege Franke, ihre Erwartungen über die Wachstumsaussichten nach unten korrigiert. Ich glaube nicht, daß sie sie pessimistisch korrigiert hat, aber realistisch. Dies war gut, und wir begrüßen das. Wir wollen uns nichts vormachen, obwohl aus einer solchen Korrektur für den Finanzminister und für den Arbeitsminister rechnerische und wahrscheinlich dann auch faktische Probleme entstehen. Aber wir sehen, daß es vielfältige Risiken für die konjunkturelle Entwicklung im Lande gibt.
Nicht zuletzt ist die Frage der Ölpreiserhöhung eines dieser Probleme. Ich möchte nicht auf die Überlegungen eingehen: Bleibt das so, wird das anders? Aber mich hat eines in der ganzen Diskussion gewundert. Es hat sehr früh Jubelrufe gegeben, das sei nun zu Ende. Ich befürchte, die sind verfrüht. Zumindest läßt sich das Ende einer massiven Kartellpolitik noch gar nicht absehen. Es hat wenig ordnungspolitische Betrachtungen gegeben, die zu dem Schluß kommen könnten und führen müßten, so meine ich jedenfalls, daß auch noch so massive Kartelle - und dies war wohl das massivste Kartell der Wirtschaftsgeschichte, das wir erlebt haben - auf die Dauer dann nicht halten, wenn die Interessen der Beteiligten nicht ebenso massiv dauerhaft parallel verlaufen. Es ist erfreulich, daß dies anders aussieht. Wobei ich die außenpolitischen Folgegedanken - Einwirkung auf Israel, Einwirkung auf die neue amerikanische Verwaltung, Einwirkung auf den Nord-Süd-Dialog - einmal völlig beiseite lasse.
Meine Damen und Herren, ich hatte vor, hier eine Bemerkung darüber zu machen - und bei der will ich bleiben -, daß wir, Herr Ministerpräsident Stoltenberg, in diesem Augenblick keine spezifische energiepolitische Debatte führen wollen und wollten, weil wir die Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, die angekündigt und zugesagt ist, abzuwarten haben.
({14})
- Herr Kühn ist nicht im Bundestag, Herr Kühn ist nicht die Bundesregierung. Aber ich gestehe Ihnen völlig offen, daß es dringend an der Zeit ist, auch Meinungsunterschiede, die sich aus der Sache ergeben und in dieser Frage der Beurteilung von Kernenergie quer durch alle Parteien gehen
({15})
- das merken Sie dort, wo Ihre Parteien mit an der Regierung sind; da wird es gleich schwieriger -,
({16}) aufzuklären.
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, daß es zunächst einmal unbestreitbar ist, daß, wer auf Kernenergie grundsätzlich und bedingungslos - dies unterstreiche ich - verzichten will, auf eine wichtige Substitutionsmöglichkeit für Öl verzichtet und der Ölpreiserhöhung und damit auch der Abhängigkeit vom 01 freien Raum gibt. Er muß außerdem - dies sei nur am Rande bemerkt - etwa 19 Milliarden DM öffentliche Förderungsmittel abschreiben. Meine Damen und Herren, da möchte ich wenigstens nicht die gleichen im selben Augenblick dafür eintreten sehen, daß die öffentliche Hand doch geschickter und erfolgreicher investieren könnte als die Privaten.
Ich bin aber durch Ministerpräsident Stoltenberg doch veranlaßt, wenigstens ganz kurz Stellung zu nehmen. Ich teile die Bedenken des Kollegen Westphal. Nichts gegen die Interventionsrechte des Bundesrates! Ich wäre der letzte, der sie bestreiten würde. Aber Sie zwingen uns hier eine Debatte in einem Zeitpunkt auf, unvorhergesehen und unangekündigt, die so nicht geplant war und wohl von Ihnen auch nicht so beabsichtigt war. Ob das der richtige Stil, ob das das richtige Verfahren ist, lasse ich einmal dahingestellt.
Lassen Sie mich ganz kurz auf ein paar Punkte eingehen:
Erstens. Meine Damen und Herren, wir sind gegen Demonstrationen unter Anwendung von Gewalt, wie es die Regierungserklärung klar zum Ausdruck
gebracht hat. Ich hoffe, daß niemand in diesem Hause anderer Meinung ist.
({17})
Zweitens. Auf Ihre Frage: Was hat sich in den letzten acht Monaten fachlich geändert? lautet die Antwort: Vermutlich nichts. Aber in der Bewußtseinsbildung, Herr Ministerpräsident - und Bewußtseinsbildung der Bevölkerung spielt nun einmal in der demokratischen Willens- und Meinungsbildung eine Rolle -, hat sich wohl einiges geändert. Ich sage: leider. Aber es hat sich geändert. Wir müssen uns trotz der Informations- und Aufklärungsarbeit, die Sie unternommen haben - und ich bestreite sie nicht -, fragen, ob wir alles getan haben, um diese Entwicklung frühzeitig abzufangen, und zwar wir alle miteinander, meine Damen und Herren. Ich schmeiße hier nicht mit Steinen, und ich glaube, ich werde dann auch nicht mit Steinen beworfen.
Drittens. In der Entsorgungsfrage, meine Damen und Herren, warten wir auf die Antwort aus Niedersachen. Wir wollen nicht drängen; denn auch diese Willensbildung ist nicht einfach. Wir wissen, daß es eine andere geologische Gegebenheit in der Bundesrepublik wohl nicht gibt. Eines möchte ich allerdings aus meiner Sicht hinzufügen: Bei der Idee, dies außerhalb der Bundesrepublik zu veranstalten, sollte wenigstens sehr sorgfältig in Erwägung gezogen werden, in welchem Maße wir uns dann international auch hinsichtlich unserer zukünftigen technologischen Entwicklung - denn die hängt damit zusammen - abhängig machen.
({18})
Viertens. Diesen Punkt brauche ich dem Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Es gibt einen Gerichtsentscheid, man mag ihn bedauern oder nicht bedauern. Ich weiß, er ist einstweilig, aber er ist nun einmal da und muß aus der Welt geschafft werden.
Fünftens. Ich sage noch einmal: Der Herr Bundeswirtschaftsminister - und damit die Bundesregierung - wird ein fortgeschriebenes Energieprogramm vorlegen.
({19})
Dieses Energieprogramm wird selbstverständlich unter der Devise stehen, daß - ich darf es einmal so plastisch und volkstümlich ausdrücken - die Lichter in der Bundesrepublik nicht ausgehen dürfen. Hoffentlich - und ich sage das mit aller Betonung, gerade weil uns das Schicksal Berlins so am Herzen liegt - bekommen wir nicht im Falle eines konventionellen Kraftwerkes ausgerechnet in Berlin vorexerziert, wie das Lichterausgehen in der Wirklichkeit aussehen könnte.
Und schließlich: Ich hielte es für richtig und für notwendig, daß die Bundesregierung in diesem neuen fortgeschriebenen Energieprogramm deutlicher begründet, warum wir soundso viel Energie dann und dann brauchen. Es wäre sicherlich gut - ich könnte mir vorstellen, daß solche Absichten nach dieser Bewußtseinsänderung, und so wie die Diskussion gelaufen ist, auch bestehen -, daß man
wirklich einmal klar aufgeschrieben und nachgewiesen bekäme - „nachgewiesen" immer mit dem Vorbehalt, daß man nur denjenigen überzeugen kann, der bereit ist, sich überzeugen zu lassen und nationalen Gründen zugänglich bleibt; mit anderen können Sie diese Diskussion dauerhaft nicht führen; dies muß man, glaube ich, sehen -, wie denn eigentlich die Alternative ohne Kernenergie in diesem Lande Bundesrepublik Deutschland aussehen würde. Ich glaube, wir haben ein berechtigtes Verlangen danach, auch diese Frage beantwortet zu erhalten.
Lassen Sie mich zu der allgemeinen Frage zurückkommen, wie wir unsere wirtschafts-, konjunktur-
und damit auch sozialpolitischen Probleme - den Zusammenhang, so glaube ich, haben wir heute morgen gesehen - lösen wollen. Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung sehr zu Recht, wie ich meine, das Wahlergebnis insgesamt - Herr Kohl hat es zunächst mißverstanden - als einen Erfolg und einen Sieg der Demokratie schlechthin hingestellt. Er hat damit gemeint, radikale Randgruppen hätten in der Wählerschaft der Bundesrepublik keine Resonanz gefunden. Ich füge hinzu: Etwa 90 Prozent der Wahlberechtigten in der Bundesrepublik haben ebenfalls entschieden, daß der Lösungsrahmen für diese Probleme die soziale Marktwirtschaft ist und bleibt. Ich glaube, auch davon müssen wir nach den Wahlaussagen und dem Wahlergebnis Kenntnis nehmen.
Erlauben Sie mir hierzu bitte eine Zwischenbemerkung. Parlament und Parteien haben sich nach meinem persönlichen Eindruck im Wahlkampf und danach eher vom Wähler entfernt, als daß wir die Chance zu dem viel beschworenen Gespräch mit dem Bürger genutzt hätten. Ich denke, wie sollten mit dieser Haltung Schluß machen, die nämlich die Wurzel unseres Auftrages in der repräsentativen parlamentarischen Demokratie gefährden kann. Wer Bürgerinitiativen kritisiert - das gilt auch für Sie, Herr Ministerpräsident Stoltenberg -, und zwar vor allem ihren, wie ich finde, manchmal reichlich elitären Anspruch, der sollte ihnen jedenfalls nicht einen Freiraum sträflich offenlassen, in dem sie sich bewegen können, ja vielleicht sogar nach ihrer subjektiven Vorstellung bewegen müssen.
Lassen Sie mich auf das eingehen, was wir heute morgen über die Entwicklung unserer Sozialversicherung gehört haben. Herr Katzer hat wie üblich eine wirkungsvolle Rede gehalten. Ich gestehe ganz offen, wenn man an wirkungsvollen Reden generell Spaß hat, hat man auch an solchen der Opposition Vergnügen. Ich hatte mein Vergnügen daran, wie Herr Katzer das hier gemacht hat, nicht an dem, was er alles gesagt hat.
({20})
- Das mag ja wohl sein. Aber das andere Ich bezieht sich in diesem Falle, Herr Kohl, auf die Form, wie Sie wahrscheinlich sehr wohl gemerkt haben.
({21})
- Dies sage ich nicht, weil ich es muß, sondern weil es so ist und weil es so gemeint war.
Was heute morgen an Zwischenrufen hörbar wurde, läßt bei mir die Frage aufkommen, ob das Fehlen der Einsicht in den großen strukturellen, wirtschaftlichen, konjunkturpolitischen und damit auch gesellschaftspolitischen Wandel, der uns einfach von den Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft und ihrer Ergebnisse her aufgezwungen ist, darauf beruht, daß dieser Wandel nicht gesehen wird, oder darauf, daß man ihn nicht sehen will. Ist es Uneinsichtigkeit oder ist es Unaufrichtigkeit? Das erste wäre auch schlecht; das zweite wäre sicherlich katastrophal.
({22})
Meine Damen und Herren, auch aus dieser Überlegung heraus meine ich, daß auf der Basis dieses Wahlergebnisses die Lösungen für die Wirtschaftspolitik nach wie vor im Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft zu suchen sind. Ich frage Sie, welche Entscheidungen für den Wähler trotz aller Schwierigkeiten nähergelegen hätte. Anders gefragt: Welches wirtschaftliche System ist denn nach Auffassung des Wählers und auch nach unserer Meinung insgesamt effizienter und leistungsfähiger? Es geht gelegentlich auch um den Vergleich von zwei niemals fehlerfreien Ordnungen. Auch das Bessere ist der Feind des Guten. Es kann und wird niemals alles optimal sein.
Dies gilt auch für die Wiederherstellung oder für die Erhaltung der Vollbeschäftigung in unserem Lande. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, und zwar nicht nur national, sondern auch international, dann schafft die Martkwirtschaft Vollbeschäftigung. Vergessen wir doch nicht, welches zusätzliche Angebot an Arbeitsplätzen nach 1948 in dieser Wirtschaftsordnung unter noch stimmenden Rahmenbedingungen zustande gebracht worden ist. Wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann kann nach meiner Überzeugung auch die intelligenteste und menschlichste Wirtschaftsordnung nicht das Optimum leisten.
Meine These lautet: In den letzten zehn bis zwölf Jahren haben wir zuviel an marktwirtschaftlichen Einrichtungen, an marktwirtschaftlichen Funktionsabläufen demontiert, sie manipuliert, in sie eingegriffen, wie immer Sie das nennen wollen. Aber, meine Damen und Herren, bevor Sie hier in die Rufe ausbrechen „Das seid ihr da, diese Koalition", darf ich daran erinnern, daß es begonnen hat mit der verspäteten Aufwertung 1968, mit der Verteidigung gegen Kräfte des Marktes, die man nicht hinnehmen wollte, daß es begonnen hat mit dem Blockieren der Kartellnovelle, daß die 73er und 74er Vorschläge zum Wettbewerbsrecht, zur Novellierung des UWG, die aus Ihren Reihen, aus den Reihen der Opposition kamen, eben nicht marktwirtschaftlich waren, daß wir vor wenigen Wochen Vorschläge der Mittelstandsvereinigung von Herrn Lampersbach gehört haben, das Kartellamt als Preisprüfungsbehörde einzusetzen. Dies hat mit Marktwirtschaft und unserer Ordnung nicht zu tun - ebensowenig wie die im Anhörungsverfahren bei allen Instituten durchgefallenen bayerischen Vorschläge zur Regionalisierung der Konjunkturpolitik.
Meine Damen und Herren, deswegen hätte ich gerne eine Antwort auf den Brief gegeben, den Herr Professor Erhard dem Vorsitzenden meiner Partei geschrieben hat. Aber der Vorsitzende meiner Partei hat mich, weil er einen gepflegten Wahlkampfstil bevorzugt hat,
({23})
gehindert, die Antwort auf diesen Brief zu geben. Sie hätte nur gelautet, meine Damen und Herren: 1972 war der Brief noch unterschrieben worden: gez. Ludwig Erhard, gez. Karl Schiller. 1976 wurde er nur noch unterschrieben: gez. Ludwig Erhard. Karl Schiller hat inzwischen wohl gesehen, in welcher politischer Gruppierung seine marktwirtschaftlichen Überzeugungen besser aufgehoben sind als bei Ihnen.
({24})
- Herr Kohl, ich bin mir völlig unklar darüber, wieso Sie eine Gedankenlinie von Hessen-Süd zu Karl Schiller und Ludwig Erhard ziehen können. Das liegt wohl ein Stück auseinander.
({25})
- Herr Franke, Sie haben heute morgen gesagt, Sie seien allen Lösungen gegenüber aufgeschlossen, die ordnungspolitisch vertretbar seien.
({26})
Und kurz vor Ihnen hat der Herr Bundesarbeitsminister gesagt, daß die Kosten in der Sozialversicherung - ich bin auf diesem Gebiet wahrlich kein Spezialist, ich bewege mich auf diesem Eise vorsichtig ({27})
dort zugeordnet werden müssen, wo ihre Ursachen und die Ursachen für ihre Aufwendung entstehen. Diese Zuordnung der Kosten ist ordnungspolitisch sauber. Und Sie haben nicht recht, Herr Stoltenberg, wenn Sie sagen, es sei falsch, der Krankenversicherung Kosten aufzubürden. Wenn es Kosten sind, die ihrem Entstehen nach ordnungspolitisch der Krankenversicherung zuzurechnen sind, dann müssen sie auch ihr aufgebürdet und von ihr bezahlt werden. Übrigens: Der lange Weg - über den ich mit Ihnen einig bin - wird einzig und allein abgekürzt werden, wenn wir wirklich einmal klar sehen, welche Kosten auf den einzelnen Gebieten von Fall zu Fall entstehen. Sonst geht dieses Durcheinander, dieses Ineinander-Vermischen weiter. Dies halte ich in dem Zusammenhang für ordnungspolitisch geboten.
({28})
- Dies ist zwar richtig, Herr Franke, aber auch dies war eben ordnungspolitisch nicht richtig. Wenn wir dies wieder entflechten können, um eine - lassen Sie mich es einmal so sagen - saubere Kassenführung einzuführen, werden wir unseren Bürgern das Gesamtsystem wieder etwas verständlicher machen. Denn glaube doch keiner, der es hier nicht versteht, daß es draußen von allen besser verstanden wird; kann ja wohl auch nicht sein. Auch dies schiene mir jedenfalls ein Fortschritt.
Diese vielfältigen Eingriffe, meine Damen und Herren, über die wir zu klagen haben, haben auch Folgen für unsere Gesetzgebung, Folgen, die ebenfalls Herr Stoltenberg vorhin mit „Gesetzgebung unter äußerstem Termindruck" beklagt hat. Ich fürchte, daß dies eine beinahe zwangsläufige Folge ist. Ein Gesetz jagt das andere, eine Rechtsverordnung die andere. Es ist ja geradezu makaber, daß der Fleiß eines Parlaments zum Ende einer Legislaturperiode danach beurteilt wird, wieviel Gesetze es verabschiedet hat. Ich befürchte gar, die statistischen Zahlenangaben für solche Fleißnoten in der deutschen Öffentlichkeit werden von der Verwaltung dieses Hauses zur Verfügung gestellt. Ich halte dies für eine grundsätzliche Fehlbeurteilung.
({29})
Diese Flut von Gesetzen greift immer tiefer, immer mehr Details regelnd in das Leben jedes einzelnen ein. Die Menschen werden so vielleicht immer mehr betreut - ich weiß gar nicht, ob sie das wünschen -, aber sie werden wahrscheinlich auch immer unselbständiger. Der Bundeskanzler hat unter dem Gelächter der Opposition hier über seine Stromabrechnung berichtet. Meine Damen und Herren, ich will dies fortsetzen: Es gibt an deutschen Volkshochschulen inzwischen Kurse, in denen einem das Ausfüllen von Formularen beigebracht wird. So weit haben wir es inzwischen mit unserer Verwaltung in diesem Lande gebracht. Es fragt sich, ob dies eine wünschenswerte Entwicklung hin zum mündigen Bürger ist. Oder schreckt uns die zugegebenermaßen sehr makabre Formulierung von Ernst Jünger, wonach die Lage des Haustiers in der Regel die Lage des Schlachttiers nach sich zieht.
Obwohl, wie erwähnt, mehr als 90 % für die Fortsetzung unserer wirtschaftspolitischen Arbeit auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft sind, gibt es immer wieder Zweifel an den Fähigkeiten dieses Systems, Zweifel an den Fähigkeiten des Marktes. Wenn der Markt nicht mehr funktioniert, lautet die Konsequenz häufig: Der Staat muß her; der Staat muß dies regeln. - Meine Damen und Herren, warum fragen wir aber nicht zunächst einmal: Können wir nicht bewirken, daß der Marktmechanismus wieder hergestellt wird, wo er verlorengegangen ist?
({30})
- Nichts dergleichen, Herr Breidbach. Ausgerechnet Sie zeigen in diese Richtung!
Jedes Bemühen in dieser Hinsicht wird von der FDP unterstützt werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort „Kartellnovelle". Ich nenne weiter das Stichwort „Verbesserung des Verbraucherschutzes". Wem dient denn diese Wirtschaftsordnung, wenn nicht dem Verbraucher? Ich nenne das Stichwort „Verbesserung der Wettbewerbssituation auch für die kleinen und mittleren Unternehmen". Ein weiteres Stichwort in diesem Zusammenhang wird vielleicht die KWG-Reform, die angekündigt worden ist, sein.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt - als ich dies sagte, sah ich in einigen Gesichtern einen etwas erstaunten, fragenden Ausdruck, den ich verstehe -, daß die Marktwirtschaft wohl die menschlichste Wirtschaftsordnung sei. Dagegen gibt es ganz gewiß Widerspruch. Ich will versuchen, mit Hilfe von zwei Zitaten kurz darzustellen, was ich meine. Das erste Zitat ist eine sehr simple Passage, die Sie - vor 200 Jahren zu Papier gebracht - bei Adam Smith finden. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten:
Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers, Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen -, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.
Dies nenne ich den menschlichen Ansatz der Marktwirtschaft, weil sie nämlich den Menschen so nimmt, wie er ist, ihn nicht aber so nimmt, wie er sein sollte oder wie er sich nach irgendwelchen Vorstellungen darstellen sollte.
Man kann das auch moderner und anspruchsvoller formulieren. Ich will versuchen, das, was ich meine, an Hand eines Zitats von Wolfram Engels deutlich zu machen:
Diktatur und Planwirtschaft können gut funktionieren, wenn die Männer an ihrer Spitze weise, gerecht und edel sind. Marktwirtschaft und Demokratie funktionieren auch mit den Menschen, die wir vorfinden, mit selbstsüchtigen, unvollkommenen Menschen. Beide Systeme sind auf Edelmut nicht angewiesen. Sozialistische Systeme nehmen eine moralische Überlegenheit in Anspruch, weil sie nicht auf Egoismus gegründet sind; besser: in sozialistischen Systemen sind die Mechanismen abgeschafft, die den Egoismus der Allgemeinheit dienstbar machen. Weil sie aber den Egoismus selbst nicht abschaffen konnten, scheitern sie zumeist in der Praxis.
Meine Damen und Herren, dies wäre allerdings eine Ordnung, die als Grundlage für das Zusammenleben in unserem Lande nicht ausreichte. Es wäre zunächst nur die Ordnung des Catch-as-catch-can, des Manchester-Liberalismus und des Laisser-faire. Es ist das Ergebnis nicht zuletzt auch unserer Arbeit, daß wir inzwischen dafür gesorgt haben, daß dann, wenn sich ein Teilnehmer am Wirtschaftsleben besserstellt, wenn er gegen die Interessen des Ganzen verstößt, das System als falsch erkannt wird. Auch Wettbewerb ist nicht selbstverständlich. Anders ausgedrückt, wir, der Staat, müssen für die Einhaltung der Wettbewerbsregeln sorgen, wir, der Staat, müssen diese Wettbewerbsregeln aufstellen.
Es ist völlig falsch und völlig abwegig, zu glauben, daß der liberale Staat, daß der marktwirtschaftliche Staat ein Nachtwächterstaat sein dürfte.
Diese grundsätzliche Bejahung darf uns nicht verleiten, kritische Fragen einfach abzutun. Im Gegenteil, nichts liegt uns heute näher, so meine ich, als die Frage nach der Vollbeschäftigung: Kann unsere Wirtschaftsordnung den Arbeitswilligen in absehbarer Zeit Arbeitsplätze zur Verfügung stellen? Im Sinne dessen, was wir vorhin miteinander diskutiert haben über mehr Aufrichtigkeit, scheint es mir notwendig, zu sagen: Niemand hat ein Rezept dafür, dieses Problem in kürzester Frist, heute und morgen und schnell zu lösen. Es gibt kein Gutachten, keine Vorhersage, keine Konjunkturprognose, die das zum Ausdruck brächte. Wer etwas anderes sagt oder etwas anderes fordert, der müßte den Beweis dafür erbringen, daß das geht.
Die Frage nach der Vollbeschäftigung steht nach den Grundsätzen unseres Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, das wir uns selbst als Richtschnur gegeben haben, im Zusammenhang mit der Frage nach Wachstum, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Stabilität. Das letzte Stichwort führt zu der doch sehr häufig gestellten und gelegentlich mit recht rigoroser Kritik an der Bundesbank verbundenen Fr- Je: Haben wir eigentlich mit zu straffer, mit zu energischer Stabilitätspolitik Wachstum gebremst und Arbeitsplätze gefährdet? Dies ist eine Frage, die heute vielfach diskutiert wird, und zwar nicht nur in Tageszeitungen, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen. Dazu gibt es ein, wie ich meine, ganz überzeugendes, weil auf praktischen und leidvollen Erfahrungen basierendes Zitat. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten:
Wir pflegten zu denken, daß man sich durch Ausgaben aus einer Rezession herausziehen und die Beschäftigung durch Steuernachlässe und vermehrte Staatsausgaben steigern könne. Ich sage Ihnen in aller Offenheit, daß diese Option nicht mehr besteht und daß sie, soweit sie je existierte, nur dadurch wirkte, daß eine höhere Dosis Inflation injiziert wurde, die wieder höhere Arbeitslosigkeit zur Folge hatte.
Dies war der britische Premierminister James Callaghan am 28. September 1976, und auf englisch klingt dies noch viel schöner.
In puncto Stabilität haben Bundesregierung und Bundesbank gemeinsam höchst erfolgreich gearbeitet. Sie kennen die internationalen Vergleichszahlen, und ich brauche Sie auch mit den Ergebniszahlen nicht zu langweilen. Dies geht allerdings nur über verstetigte Geldmengenpolitik. Dies ist über Fiskalpolitik allein - das wird mir der Bundesfinanzminister sicher bestätigen - gar nicht machbar. Die Diskussion, welche Rahmensätze, welche Prozentsätze in der Geldmengenpolitik möglich und erforderlich sind, ist offen. Der Kollege Sprung hat heute einen neuen Beitrag dazu geliefert. Ich glaube aber, eines sollte man sehen: Auch eine erfolgreiche Politik dieser Art setzt voraus, daß die Glaubwürdigkeit der Notenbank erhalten bleibt, daß sie ihr Ziel auch wirklich konsequent anzustreben versucht. Dies
ist notwendig. Ob das im Jahre 1976 voll erreicht worden ist, mag dahingestellt bleiben, aber wenn dies nicht mehr der Fall ist, wird dieser Wegweiser wohl auch nicht mehr beachtet werden.
Mit dem Bundeswirtschaftsminister, der sich zum Jahresende zu dieser Frage geäußert hat, tritt die FDP-Fraktion dieses Hauses für entschiedenes Festhalten an einer stabilitätsorientierten Wachstumspolitik ein. Wir weisen darauf hin, daß die rückläufige Inflationsrate des Jahres 1976 letztlich auch dazu geführt hat, daß das Arbeitnehmereinkommen reale Steigerungen erfahren hat. Ich glaube, es wäre nicht schlecht, wenn das bei den jetzigen Tarifverhandlungen und Tarifrunden mit beachtet würde.
Was wir also für die Vollbeschäftigung brauchen, ist allerdings, um das noch einmal zu sagen, reales Wachstum. Die Frage stellt sich an alle Wirtschaftsordnungen, und sie wird ja gestellt: Brauchen wir überhaupt Wachstum, können wir nicht mit Nullwachstum leben? Wie ist es mit der Endlichkeit unserer Vorräte? Wie sieht es überhaupt mit unseren Ressourcen aus, auch mit den Kapitalressourcen? Die Antwort darauf kann nur lauten: Nullwachstum bedeutet Reduzierung des Lebensstandards und bedeutet völligen Verzicht darauf, unsere Verpflichtungen gegenüber der Dritten und Vierten Welt erfüllen zu können. Ich jedenfalls glaube nicht daran, daß in auf Wahlen angelegten Demokratien die Aufgaben, die uns im Nord-Süd-Konflikt zum realen Vermögenstransfer gestellt sind, durch Hergabe vom Geschaffenen erfüllt werden können. Ich glaube, es wird nur möglich sein, dies durch Abgabe vom Zuwachs darzustellen, wenn wir dafür auf Zustimmung unserer Bevölkerung, die wir ja brauchen, rechnen wollen.
Woher soll im Jahre 1977 und in den folgenden Jahren das reale Wachstum kommen? In erster Linie, so wird allgemein gesagt, aus der Entwicklung des Konsums und aus der Entwicklung unserer Exporte. Frage: Sind die Konsumerwartungen gerechtfertigt? Ich wiederhole hier, was ich schon früher einmal sagte: Keine Bundesregierung kann aus Sparern Konsumenten machen - mit noch so viel Steuersenkungen, Kindergeldern, Abzugsfähigkeit der Schuldzinsen und was man sich alles ausdenken könnte -, wenn die Menschen sparen wollen. Aus der allgemeinen Großwetterlage heraus werden sie sparen und eben nicht in diesem Umfang konsumieren. 1977 werden wir sehen, wie das geht; 30 Milliarden DM prämienbegünstigte Sparguthaben werden in diesem Jahr fällig. Der Herr Bundesarbeitsminister hat noch in seiner Funktion als wirtschaftspolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gesagt: Keine Prämien für Wiederanlage. Völlig einig! Staatliche Prämien wären in meinen Augen völlig verfehlt, wären in unseren Augen verfehlt. Was die Kreditinstitute machen, ist deren Sache.
Aber die Freien Demokraten sind - anders als Herr Ministerpräsident Stoltenberg - sehr bedenklich und sehr zögerlich bei der Frage des weiteren Abbaus der Sparförderung. Wir wollen erst einmal abwarten, was aus diesen 30 Milliarden DM Guthaben wird. Bleibt es bei dem Erfahrungssatz,
daß 60 % konsumiert und 40 % wieder angelegt werden? Wird dies anders? Können wir uns den Abbau der Sparförderung sowohl unter Gesichtspunkten der Vermögensbildung als unter Gesichtspunkten der langfristigen Kapitalmarktförderung eigentlich leisten? Eines jedenfalls ist auch an Vorschlägen von Herrn Strauß, die er während des Wahlkampfes gemacht hat, nicht richtig: Die Sparförderung abschaffen und dafür auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten ist kein sozialer Akt; denn die Sparförderung ist an Einkommensgrenzen geknüpft, und die Mehrwertsteuer ist dies bekanntlich nicht.
Die Vorhersagen über den Konsum und den privaten Verbrauch gehören zum Schwierigsten der wirtschaftspolitischen Prognose. Wir können allerdings eines hinzufügen: Die Erfahrungen des Jahres 1976 haben uns gelehrt, daß auch ansteigender Verbrauch - er ist ja in den ersten neun Monaten gut gestiegen; die Sparquote ist erst in den letzten drei Monaten wieder gewachsen - allein das Heil ganz gewiß nicht bringen kann, die Wiederherstellung einer ausgeglichenen konjunkturellen Lage nicht bewirkt.
Das zweite Konjunkturstandbein ist der Export. 34 Milliarden DM Handelsbilanzüberschuß im Jahre 1976; dies alles trotz einer 10 %igen D-Mark-Aufwertung im gewogenen Durchschnitt gegenüber den Währungen unserer Wettbewerbsländer von Juni 1975 bis 1976. Aber so erfolgreich das ist, so gut das klingt, es weckt natürlich Kritik im Ausland. Das Aufhäufen von Währungsreserven allein ist kein ideales Ergebnis, wenn man die Verschuldungslage unserer Abnehmerländer dabei berücksichtigt. Die FDP begrüßt es, daß die Bundesregierung multilaterale Kredithilfen erwogen und durchgeführt hat, zuletzt für Großbritannien. Aber wir wissen auch, daß dies ein Dauerzustand nicht sein kann. Jeder Unternehmer wird sehr leicht sagen können, daß er auf die Dauer seinen Kunden ohne Aussicht, seine Kredite auch einmal wiederzubekommen, nicht kreditieren kann.
Meine Damen und Herren, die Opposition klagt über die wachsende Verschuldung des Ostblocks. Nun ist dies ganz gewiß ein Punkt, der zum Nachdenken Anlaß gibt. Aber manchmal frage ich mich, ob diese Klagen eigentlich politisch oder ökonomisch bedingt sind. Die Gesamtverschuldung der europäischen Staatshandelsländer ist nämlich absolut gesehen noch keineswegs alarmierend. Ob Sie die Höhe mit 50 oder 70 Milliarden DM annehmen, ist im Grunde genommen unwesentlich, solange die Schwelle beim Schulden- und Zinsentransfer nicht überschritten wird und das Tempo der Verschuldung der vergangenen Jahre - dies allerdings sei hinzugefügt - sich nicht in derselben Weise fortsetzt.
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Ein Stimmungspegel für die Verschuldungslage ist der Eurodollarmarkt, auf dem die Ostblockländer ihre Anleihen bisher jedenfalls ohne Schwierigkeiten placieren konnten, wenn auch neuerdings mit leicht steigenden Zinsen. Im übrigen kann man nach den bisherigen Erfahrungen davon ausgehen, daß die Sowjetunion noch immer ein Moratorium ihrer Comecon-Partner zu verhindern wissen würde, da
sowohl Rohstoff- als auch Goldreserven trotz des augenblicklichen Tiefstandes so hoch zu veranschlagen sind, daß keine wesentlichen Exportkreditforderungen notleidend werden dürften.
Allerdings meine ich, daß die Bundesregierung Anlaß hat, einmal zu überprüfen, ob den rohstoffreichen Entwicklungsländern nicht eine gleiche Hermes-Praxis, wie wir sie gen Osten durchführen, zur Zeit vorenthalten wird. Ich finde, es ist etwas schwer einzusehen, warum den nach diesen Ländern liefernden Exporteuren nach teilweiser Überwindung der weltweiten Rezession nicht wieder in verstärktem Umfang Bürgschaften und Garantien eingeräumt werden sollen. Diese Mittel zur Exportförderung brauchen wir. Sie gehören in diese Wirtschaftsordnung übrigens ebenso sehr wie die Förderung der Beratung, insbesondere der Außenhandelskammern, die für die bundesrepublikanische Wirtschaft - übrigens unter Entlastung unserer Botschaften - draußen tätig sind. Auch hier würde ich es begrüßen, wenn die Bundesregierung trotz, wie wir alle wissen, knapper Finanzen eine Möglichkeit sähe, die Mittel dafür etwas aufzustocken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Graf Lambs- dorff, darf ich aus Ihren Ausführungen zu den Ostkrediten schließen, daß Sie andere als ökonomische Maßstäbe nicht anlegen?
Herr Kollege Narjes, es ist eine außerordentlich schwierige Frage, ob man mit der Zurverfügungstellung von Krediten nicht z. B. militärische Aufrüstung ermöglicht. Aber die lupenreine Beantwortung dieser Frage könnte nur bedeuten: Dann gibt es überhaupt keine Handelsbeziehungen. Diese Frage haben wir längst, schon zu Zeiten von CDU- und FDP-getragenen Regierungen, in anderem Sinne beantwortet.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Können Sie mir zustimmen, Graf Lambsdorff, daß Quantität unter Umständen in eine andere Qualität umschlagen kann?
Das halte ich nicht für völlig ausgeschlossen.
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Meine Damen und Herren, nun zu der Frage, wo die Exportchancen der deutschen Wirtschaft liegen. Ich bin davon überzeugt - und ich hoffe, daß wir diese Überzeugung teilen -, daß die Exportchancen im wesentlichen dort liegen, wo wir hohe Technologien entwickeln. Ich erinnere mich der Äußerung eines Unternehmensleiters vor wenigen Monaten mir gegenüber: „Wir entlassen Arbeiter und suchen Ingenieure." Wir reden wahrlich nicht dem Blaupausenexport das Wort, wohl aber der Tatsache, daß nur hochqualifizierte Güter, mit hohem Intelligenzaufwand hergestellt, unsere Zukunft sichern können.
) Deswegen - lassen Sie mich diese eine abschweifende Bemerkung zum bildungspolitischen Gebiet machen -: Aus der Sicht des Wirtschaftspolitikers kann der Ausbildungsstand der nach uns kommenden Generation überhaupt nicht hoch genug sein. Ich halte es für falsch, über die hohen Zahlen von Studenten und Abiturienten zu klagen, allerdings mit der Einschränkung der Regierungserklärung, daß der Universitätsabschluß nicht unmittelbaren Anspruch auf die Einstufung nach A 13 oder A 14 im öffentlichen Dienst zu garantieren hat.
({1})
Aber seien wir uns darüber im klaren und sehen wir es doch in dieser Arbeitsmarktlage: Je besser einer ausgebildet ist, um so geringer ist sein berufliches Risiko. Dies wird auch so bleiben, und es wird sich verschärfen.
Meine Damen und Herren, ich will auf die Bereiche des Technologieexports - da ist man schnell wieder beim Kernkraftbereich, einer der Technologien, wo wir in der Welt führend sind - nicht weiter eingehen. Ich will vielmehr sagen, daß wichtiger als Konsum und Export wohl die Investitionen der Privaten sind. Die Bruttoanlageinvestitionen der Privaten haben 1976 nach ersten Schätzungen 237 Milliarden DM erreicht. Für 1977 rechnet der Interministerielle Arbeitskreis Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen mit einem Betrag von 260 Milliarden DM, also mit einer Zunahme von etwa 22 Milliarden DM.
Ich nenne diese Zahl, weil wir uns daran klarmachen können: Es wäre illusorisch, zu glauben, daß die öffentliche Hand die Investitionsaufgabe der Privaten ersetzen könnte. Es geht schon vom Volumen her nicht. Ich sage dies gerade heute deutlich, nachdem der Hamburger Wirtschaftssenator Nölling ein Investitionsprogramm von 20 Milliarden DM aus öffentlichen Mitteln vorgeschlagen hat. Der amerikanische Präsident schlägt ein Volumen von 15 Milliarden bei einem Bruttosozialprodukt von 1 700 Milliarden Dollar vor. Wie sollen wir 20 Milliarden DM bei 1 100 Milliarden DM Bruttosozialprodukt eigentlich inflationsfrei finanzieren? Dieses Kunststück müßte der Finanzminister einmal vormachen. Ich fürchte, er kann es nicht. Selbst wenn die Anregungen aus Hamburg kommen, Herr Finanzminister.
({2})
Aber es ist um so wichtiger, daß wir die Mittel, die in beschränktem Umfang zur Verfügung stehen, so einsetzen, daß sie einen möglichst hohen Multiplikatoreffekt für die Anregung privater Investitionen haben. Dies gilt im übrigen auch für ausländische Investitionen in der Bundesrepublik. Deswegen ist es notwendig, daß die wegen der Körperschaftsteuerreform erforderlichen Revisionen der Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Ziel, Wettbewerbsgleichheit herzustellen, bald verabschiedet werden.
In diesem Zusammenhang spielt die Gewinnfrage eine Rolle. Vor nicht langer Zeit haben wir darüber diskutiert, daß Gewinne dringend notwendig sind.
Ist der Verdacht berechtigt, daß manchmal die Gewinne nur herbeigesehnt werden, wenn sie nicht vorhanden sind, und daß es, wenn sie da sind, nicht mehr so gut ist? Auch wenn es kürzlich als alte Masche bezeichnet wurde, trifft es zu: Nur der Unternehmer investiert, der eine ausreichende Rendite erwarten kann, und insofern ist der Gewinn ein marktwirtschaftliches Lenkungsinstrument. Hier hat der Sachverständigenrat recht, wenn er sagt, daß die Pfandbriefrendite für eine unternehmerische Investition nicht ausreicht, weil sie das Unternehmensrisiko nicht abdeckt. Das Gewinnwachstum des Jahres 1976 hat die Schäden der Vorjahre noch nicht korrigiert. Die Deutsche Bundesbank hat deswegen mit Recht festgestellt, daß es gefährlich wäre, diese Entwicklung abzubremsen, wie sie das im Dezemberbericht 1976 zum Ausdruck brachte.
Wir sind für eine Verbesserung der Ertragssituation der Wirtschaft. Aber wir wollen eine Korrektur zugunsten der Arbeitnehmer durch Vermögensbildung. Wir begrüßen ausdrücklich die Passagen über die Vermögensbildung, die der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vorgetragen hat. Wegen dieser Zielsetzung sind wir auch für die steuerlichen Erleichterungen eingetreten, die im Rahmen des finanzpolitisch Darstellbaren möglich sind.
Die Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen in der SPD hat - wir teilen diese Auffassung - die angekündigte Senkung der Vermögensteuer als überfälligen Schritt steuerlicher Gerechtigkeit gerade wegen der kleinen und der mittleren Unternehmen herausgestellt. Es ist manchmal etwas schwer verständlich, warum dies im Hinblick auf die kleinen und die mittleren Unternehmen notwendig ist. Das liegt ganz einfach daran, daß gewissermaßen vom Vater her traditionell das nicht industriell genutzte Vorratsvermögen an Grund und Boden bei kleinen und mitleren Unternehmen größer als bei großen Unternehmen ist und daß gerade deswegen die Kombination von höherer Vermögensteuer und höheren Einheitswerten diese Unternehmen in besonderem Maß getroffen hat.
Der Kollege Strauß - er ist nicht hier; ich wollte ihm das gern noch einmal zu erläutern versuchen -hat noch einmal das Thema der Hinzurechnung der Dauerschulden bei der Gewerbekapitalsteuer angeschnitten. Ich wiederhole, was ich ihn in einer Zwischenfrage gefragt habe: Wenn wir dies abschaffen würden, würden wir die Fremdfinanzierung der deutschen Wirtschaft auf dem Gewerbesteuersektor gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung begünstigen. Das kann nicht das Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein.
Allerdings ist eines klar. Die vorgesehenen steuerstrukturellen Maßnahmen sind nur im Rahmen einer Mehrwertsteuererhöhung denkbar. Diese Mehrwertsteuererhöhung bewegt sich - so meinen wir - europakonform. Dabei möchte ich noch einmal sagen: Der Spielraum zur späteren Abschaffung der Gewerbesteuer durch Anpassung an die europäischen Umsatzsteuersätze wird auch mit einer Mehrwertsteuererhöhung um zwei Punkte in der Bundesrepublik am 1. Januar 1978 nicht verfrühstückt.
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- Der Durchschnittssatz liegt bei 16 0/0, Herr Jenninger, und wir gehen jetzt auf 13 %.
Wenn es uns gelingt, die Investitionsneigung wieder zu verstärken, bleibt natürlich die Frage - sie wird ebenfalls häufig in der wirtschaftspolitischen Diskussion gestellt, und ich verstehe sie -: Was sollen denn Investitionen, wenn es keine Nachfrage gibt? Aber dies ist eine Frage, die aus dem Denken der 40er, 50er Jahre entstanden ist, beruhend auf den wirtschaftspolitischen Erkenntnissen von Keynes. In der Zeit des Keynesianismus war gewissermaßen der Staat dafür zuständig, für Nachfrage zu sorgen. Es gibt aber viele Phasen der Wirtschaftsgeschichte, in denen primäre Expansionsimpulse vom Angebot ausgingen, von neuen Produktionsverfahren und neuen Gütern, die spontan produziert wurden und sich selbst einen Markt schufen. Wir können unseren Stau an Strukturwandel wohl nur durch solche Innovationen wenigstens teilweise auflösen.
Ich habe schon im Sommer 1975 an dieser Stelle über den Zusammenhang von Konjunkturzyklen und Innovationsmangel gesprochen. Deswegen halte ich es für begrüßenswert, daß die Bundesregierung die Forschungsförderung verstärken will. Denn ich bin selbstkritisch genug, um zu sehen, daß der Abbau wahrscheinlich nicht der weiseste Entschluß von allen war. Aber ich verbinde diese Absicht der Bundesregierung mit der dringenden Bitte an die begünstigte Wirtschaft, vom Mißbrauch dieser Mittel Abstand zu nehmen; denn das war ja einer der Gründe, warum Forschungsförderung in der alten Form nicht aufrechterhalten werden konnte.
Innovationen können aber nur einen Teil des Strukturwandels auflösen, der zur Arbeitslosigkeit führte. Hier kommt auch der Strukturpolitik des Staates eine Aufgabe zu, allerdings mit gebotener Vorsicht; denn der Staat kann nicht dazu da sein - und er kann diese Aufgabe auch nicht erfüllen, selbst wenn er es wollte -, mit strukturpolitischen Mitteln die Schäden zu beseitigen, die andere dadurch angerichtet haben, daß sie dank ihrer Marktmacht nicht marktkonforme Preise und Löhne durchgesetzt haben.
Staatliche Wachstums- und Strukturpolitik kann die Tarifparteien von ihrer beschäftigungspolitischen Aufgabe insofern entlasten, als sie die Rahmenbedingungen für risikobehaftete Investitionen für Innovationen, für die Gründung neuer Unternehmen und für die Mobilität der Arbeitskräfte verbessern kann. Die Möglichkeiten, die die Bundesregierung hat, müssen wir nutzen. Aber das ist im übrigen auch die Quintessenz sowohl des Programms der Bundesregierung vom Herbst vorigen Jahres wie auch des Programms der wachstumspolitischen Vorsorge; so hat es der Sachverständigenrat genannt. Wachstums- und Strukturpolitik kosten freilich öffentliches Geld, und schon deshalb - ich habe das vorhin gesagt - sind die staatlichen Möglichkeiten begrenzt.
In diesem Zusammenhang wird die Diskussion fortgesetzt werden, ob arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie die Verteilung von Arbeitszeit möglich sind, hilfreich sein können. Ich sage ausdrücklich:
Wir begrüßen den mutigen Diskussionsbeitrag des DGB-Vorsitzenden in dieser Frage, über Arbeitszeitverkürzung auch einmal unter Verzicht auf Lohnausgleich reden zu wollen. Daß das ein schwieriges Unterfangen ist, daß das in vielen Bereichen technisch vielleicht auch nicht geht - sicherlich nicht geht -, daß das in Schichtbetrieben nicht möglich ist, daß es in vielen Bereichen ja auch heute einen Arbeitskräftemangel gibt, und zwar bei qualifiziert Ausgebildeten, das wissen wir. Die Anregung aber ist couragiert, und sie verdient anerkannt zu werden.
Für uns wird sehr viel davon abhängen, ob wir die Lehren aus der Rezession, aus den vergangenen Jahren zu ziehen in der Lage sind, ob wir den Mut dazu haben, zu sehen, daß gutgemeinte Aktionen in einer rezessiven Phase plötzlich Schattenseiten, Kehrseiten der Medaille entwickeln. Lassen Sie mich einige anführen, aber lassen Sie mich, um ja kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, gleich hinzufügen: Das heißt nicht, daß ich das etwa abgeschafft oder auch grundsätzlich geändert wissen wollte; ich möchte nur die Problematik deutlich machen.
Kündigungsschutz für ältere Mitarbeiter kann zu erhöhter Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen führen. Die flexible Altersgrenze mit 63 Jahren hat zu massivem Druck auf 63jährige zum Ausscheiden geführt, die gar nicht ausscheiden wollten. Der Verbraucher-
und Umweltschutz - Verursacherprinzip völlig unbestritten - wird letztlich vom Verbraucher bezahlt, von niemandem sonst. Maßnahmen zur Förderung von Eigentum an Grund und Boden können Mobilität herabsetzen. Und Mindestlöhne, Sockelbeträge, auch Urlaubsgelder führen zu erhöhtem Rationalisierungsdruck gerade gegen minderqualifizierte Arbeit, die ohnehin am gefährdetsten ist. Das gilt übrigens auch für die öffentliche Hand.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dem Stichwort Rationalisierungsinvestitionen gibt es Irrtümer in unserem Lande. Natürlich ist es richtig, daß durch Rationalisierungsinvestitionen ein Arbeitsplatz in einem Unternehmen vernichtet werden kann. Aber es ist doch ebenso richtig, daß für die Beschaffung der Rationalisierungsinvestitionen andere Arbeitsplätze aufrechterhalten bzw. geschaffen werden, es ist ebenso richtig, daß die vorhandenen Arbeitsplätze in dem Unternehmen wettbewerbsfähiger und damit sicherer und ungefährdeter gemacht werden, und es ist schließlich ebenso richtig, daß die Wettbewerbssituation generell verbessert wird.
Das gilt auch für Auslandsinvestitionen. Ich weiß, daß das Stichwort des „export of jobs", wie es die Amerikaner nennen, sehr leicht auch bei uns in die Debatte kommen kann. Aber wer sich einmal deutsche Auslandsinvestitionen angesehen hat, weiß doch, welche Sogwirkung solche Investitionen auf Nachlieferungen von der heimischen Industrie ausgeübt und im übrigen zum Teil dazu geführt haben, daß hier Arbeitsplätze beseitigt werden, auf denen keiner mehr arbeiten will, die keiner mehr haben möchte.
Die Frage: Ihr habt eine Million Arbeitslose, wollt ihr denn eigentlich nichts Zusätzliches, nichts Neues
I tun? beantworten wir - und die Bundesregierung auch - ganz sicher: Selbstverständlich wollen wir Zusätzliches tun, selbstverständlich wollen wir alle Anstrengungen unternehmen, um diesem Problem gerecht zu werden, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Aber die Grundfrage lautet dann: Geht dies? Ist dies notwendig? Ist es förderlich unter Änderung des Systems? Ich wäre, weil ideologische Bindung an wirtschaftliche Systeme uns nicht weiterhelfen kann, sofort bereit, zu sagen: geben wir es auf, wenn sich andere, bessere Wege finden, wenn man uns bessere vergleichbare Wege nachweisen kann. Nur, wir alle miteinander, meine ich, sehen doch wohl keine.
Deswegen sollten wir sagen, daß unsere freiheitliche Wirtschaftspolitik bisher - wenn auch mit Einschränkungen, wenn auch mit Mängeln, wenn auch mit Verbesserungsbedürftigkeit - in Europa und in der Welt bewiesen hat, daß Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Geldwertstabilität und Wachstum des Bruttosozialprodukts weder mit den bürokratischen Mitteln von Planwirtschaft noch mit vermachteten Märkten auf der Basis von Interessentenpolitik zu erreichen ist, daß Wettbewerb die schöpferischen Kräfte der Menschen freisetzt und daß nur Wettbewerb Machtzusammenballungen verhindert, wobei Liberale gegen wirtschaftliche Machtzusammenballungen immer wachsam und mißtrauisch sind und sein müssen, völlig gleichgültig, ob sie in privater Hand entstehen oder in der Hand des Staates vorhanden sind.
({4})
Vor allem aber muß liberale Wirtschaftspolitik Freiheitsräume schaffen und unserer sozialen Verantwortung gerecht werden. Deswegen haben die Freien Demokraten in ihrer Wahlplattform gesagt: Keine Partei steht so entschlossen zur Sozialen Marktwirtschaft wie die Liberalen, und deswegen bejahen wir die wirtschafts- und konjunkturpolitischen Ausgangslinien, die die Regierungserklärung des Bundeskanzlers uns aufgezeigt hat. Die Fraktion der Freien Demokraten in diesem Hause wird diese Politik, diesen Bundeskanzler und diesen Bundeswirtschaftsminister in den nächsten vier Jahren mit ihrer Unterstützung, ihrem Vertrauen und ihrer Mitarbeit begleiten.
({5})
Das Wort hat der Bundesfinanzminister, Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte hat es eine Reihe von finanzpolitischen Argumenten gegeben, die mich veranlaßt haben, Ihnen die Antworten zu geben, soweit sie notwendig sind.
Ich beginne mit dem Punkt, den Sie, Herr Kollege von Weizsäcker, gestern angesprochen haben, indem Sie über die Europa-Finanzierung gesprochen haben. Sie waren der Meinung, der Bundesregierung wegen ihres Verhaltens Vorwürfe machen zu sollen. Sie selbst haben - ich habe mir das mitgeschrieben - gesagt, Sie seien der Meinung, man solle in Europa Zahlungen aus dem Bundeshaushalt für den Fortschritt erbringen. Dieser Meinung kann ich voll und ganz beipflichten. Nur, wenn wir uns die Struktur der europäischen Ausgaben angucken, kommen eben doch Zweifel auf, ob das zur Zeit gewährleistet ist.
Im laufenden Haushaltsplan 1977 gibt die Gemeinschaft 6,6 Milliarden Rechnungseinheiten - das sind über 24 Milliarden DM - für die Agrarpolitik aus. Wenn man dies in Beziehung setzt zu dem, was Sie als Ausgaben für den Fortschritt bezeichnen, sehen die Ausgaben für den Fortschritt allerdings sehr kümmerlich aus. In diesem selben Haushaltsjahr werden 400 Millionen Rechnungseinheiten für den Regionalfonds ausgegeben - das sind 6 % der Ausgaben für die Agrarpolitik - und für den Sozialfonds, der die Arbeitslosigkeit innerhalb der Gemeinschaft bekämpfen soll, 172 Millionen Rechnungseinheiten; das sind ganze 2,5 % der Ausgaben für die Agrarpolitik.
Ich will die Zahlenreihe in diesem Punkt hier nicht verlängern, aber ich muß Sie alle schon bitten, Verständnis dafür zu haben, daß wir ein vorrangiges Interesse haben müssen, in Brüssel zu einer Umschichtung der Ausgaben zu kommen.
({0})
Es kann doch wohl nicht die Absicht der Integrationspolitik sein, daß der Anteil der Agrarausgaben in Brüssel immer stärker wächst. Er macht inzwischen 75 % der Gesamtausgaben der Europäischen Gemeinschaft aus - 75 %! -, und für den Teil, der Strukturpolitik, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist, bleibt dann immer weniger nach.
({1})
- Herr Kollege Ritz, ich möchte ausdrücklich nicht der deutschen Landwirtschaftspolitik hier Vorwürfe machen. Es liegt an Brüsseler Mechanismen, es liegt z. B. daran, daß wir Mechanismen haben, die bei einem Verfall des britischen Pfundes und einem Verfall der italienischen Lira die Mitgliedstaaten verpflichten, über Brüsseler Mechanismen viele Milliarden D-Mark, französische Franc oder holländische Gulden nach Brüssel zu transferieren, damit die Abwertung dieser Währungen bei den Nahrungskosten der Bevölkerung nicht wirksam wird. Herr Kollege von Weizsäcker, diese Milliarden zahlen wir klaglos, und zwar deswegen, weil wir ein Interesse daran haben, daß über diese Strukturmechanismen die Möglichkeit für Arbeitnehmer und kleine Leute, die Deflations- und Stabilisierungspolitik in diesen Ländern zu tragen und zu akzeptieren, erhöht wird.
({2})
- Ja, das muß man offen sagen, obwohl Sie mir auch zugeben werden - Herr Kollege Dr. Ritz, wir sind ja alte Bekannte und Freunde -, daß es dann auch notwendig wäre, uns sehr ernsthaft zu überlegen - was auch deutsche Agrarpolitik tangieren könnte -, ob wir nicht auch einen Beitrag dazu
leisten müssen, um diesen Grenzausgleich abzubauen und die Überschußproduktion bei Milch, die so teuer ist, in Grenzen zu halten.
Herr Kollege von Weizsäcker, Sie haben gesagt: Wir sollten uns eigentlich nicht zu sehr in die Brust werfen; denn wenn man es auf das Bruttosozialprodukt eines jeden Landes beziehe, dann sei unser Anteil auch nicht so viel größer als derjenige unserer Partner. Ich glaube nicht, daß wir so rechnen können. Es gibt innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sechs Länder, die, wenn Sie so wollen, Nettoempfänger von Brüsseler Leistungen, und drei Länder, die Nettozahler sind. Die Nettozahler sind Luxemburg, Belgien und die Bundesrepublik. Ich sage auch dies völlig klaglos. Nur wird hier natürlich auch deutlich, in welchem Umfang Brüsseler Leistungen aus deutschem Steueraufkommen - hier muß ich einschränkend hinzufügen: aus dem Aufkommen, das dem Bund zufließt; die Länder beteiligen sich an dieser Operation nicht - uns in Schwierigkeiten bringen.
Damit komme ich zur letzten Zahl. Wir haben im Jahre 1976 7 Milliarden DM nach Brüssel gezahlt. Das war doppelt soviel wie 1971. Wir haben in diesem Zeitraum unsere Nettozahlerlast dadurch, daß wir mehr gezahlt, aber immer weniger zurückbekommen haben, verfünffacht. Nun sagt die Bundesbank in ihrem letzten Monatsbericht: 1980 werdet ihr wohl 12 bis 13 Milliarden DM zahlen müssen. Schön wäre es. Ich fürchte - in unserer mittelfristigen Finanzplanung haben wir sehr viel mehr angesetzt -, es werden 15 Milliarden DM sein, wenn wir Glück haben; wenn wir Glück haben! Dies heißt, meine hochverehrten Damen und Herren: der Bundesanteil aus 4 Mehrwertsteuerpunkten nach der jetzigen Aufteilung der Mehrwertsteuer zwischen Bund und Ländern.
Ich sage das nur deswegen, damit niemand in diesem Lande folgende Operation für möglich hält. Hier wende ich mich insbesondere an die Opposition, aber ich muß das auch an andere Adressen in diesem Hause richten. Man kann nicht sagen: Wir könnten sehr viel mehr für die Entwicklungshilfe tun, wir müßten uns sehr viel stärker für die Brüsseler Institutionen engagieren, natürlich dürfe der Verteidigungsetat nicht zur Sparkasse der Nation werden, und gleichzeitig könnten wir dasselbe Geld binnenwirtschaftlich noch einmal ausgeben. Dies geht nicht. Wer sich für diese Mehrleistung ausspricht - ich nehme das alles klaglos hin und werde dennoch dafür sorgen, daß wir nicht der Zahlmeister Europas werden; das ist wohl auch im Interesse dieses Landes; dafür werde ich u. a. auch bezahlt - und das klaglos hinnimmt, meine Damen und Herren von der Opposition, der muß auch klaglos die Zugeknöpftheit des Bundesfinanzministers in einer ganzen Reihe von sicherlich notwendigen Aufgaben hinnehmen. Wenn dies Ihre Priorität ist, dann verstehen Sie bitte auch, daß ich z. B. beim Thema BAföG eine gewisse Reserve an den Tag legen muß; denn es ist leider noch nicht erfunden, wie man das Geld zweimal ausgeben kann.
Ich möchte zu einem zweiten Bereich kommen; Herr Kollege Stoltenberg ist dankenswerterweise noch da. Er hat zu den Themen der Haushaltspolitik, der Steuern, der Finanzen hier relativ wenig gesagt. Das ganze Thema hat in der Debatte eine große Rolle gespielt, und Herr Kollege Dr. Stoltenberg ist noch hier, was ich sehr begrüße. Wir hätten es natürlich sehr viel mehr begrüßt, wenn Sie als Spitzenkandidat der SPD Schlewig-Holsteins für Ihre Partei nicht hier, sondern dort säßen; Sie hätten dann auch weniger Zeitzwänge und könnten öfter an der Debatte teilnehmen.
({3})
- Habe ich „SPD" gesagt? Um Gottes willen!
({4})
Dies will ich Ihnen nicht antun, auch uns nicht, Herr Kollege Stoltenberg.
({5})
Um Gottes willen. Schönen Dank, Herr Schriftführer!
Sie haben in der „Welt" das gesagt, was Sie hier in Kurzform gesagt haben, in einem Interview. Ich möchte das deswegen hier ansprechen. Sie haben erstens gesagt: Der Gang in die große Verschuldung begann unter Willy Brandt. Da hat mein Kollege Heinz Westphal Ihnen schon deutlich gemacht, daß dies objektiv falsch ist, - objektiv falsch ist! Von 1970 bis 1973 ist der Bundeshaushalt quasi zu 100 % selbstfinanziert worden. Das war die Zeit der konjunkturellen Rücklagen, der vielen Milliarden, die wir später zur Finanzierung der Konjunkturprogramme eingesetzt haben. Nehmen wir also erst mal dies weg, dies stimmt nicht.
Dann kommt das, was Sie anmerken. Sie sagen erstens, es komme auf eine deutliche Verringerung der gefährlichen Überschuldung der Staatshaushalte an. Ja, Sie haben in Ihren Worten sogar dasselbe an die Wand gemalt, was Sie in der Rentenversicherung heute zu Unrecht behaupten, nämlich die finanzielle Krise. Ich kann Ihnen hier nicht folgen, Herr Kollege Stoltenberg. Gucken wir uns doch mal die Situation an! Der Bund hat im Krisenjahr 1975 33 Milliarden DM Neuverschuldung gemacht, im Jahre 1976 25,8 Milliarden, sagen wir 26 Milliarden. Der Haushalt für 1977 wird von mir so vorgelegt, daß wir mit 22,8 Milliarden DM auskommen. Das ist also doch eine deutliche Absenkung der Nettokreditaufnahmen des Bundes. Beim Gesamthaushalt sieht es sogar noch sehr viel günstiger aus. Da werden die Gesamtschulden des Gesamthaushaltes, Bund, Länder und Gemeinden, 66 Milliarden DM in 1975, auf 40 Milliarden DM in diesem Jahre zurückgehen.
Meine Sorge ist eine ganz andere. Meine Sorge ist die, daß die Finanzminister von Bund und Ländern, daß wir also gemeinsam diesen Prozeß der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte fortsetzen können, daß wir gemeinsam die Kraft haben, überzogene Ansprüche an den Bundeshaushalt abzuwehren. Da haben Sie, Herr Kollege Stoltenberg, in Ihrer Fraktion eine große Aufgabe vor sich. Denn
die ganze Latte, die mir hier vorliegt, vom Erziehungsgeld über die Partnerschaftsrente bis, bis, bis
- dies würde in der Tat die öffentlichen Haushalte sprengen. Wenn Sie also diese Befürchtung haben, daß wir in Schwierigkeiten kommen, dann nutzen Sie bitte Ihre politische Kraft in Ihrer Fraktion aus, damit deutlich wird, was machbar ist und was nicht machbar ist.
({6})
- Ich komme sofort noch auf Herrn Nölling; das ist überhaupt kein Problem für mich. Ich bin nämlich damit bei dem nächsten Punkt.
Der nächste Punkt ist die Bemerkung von Herrn Stoltenberg, es komme nun wirklich darauf an, die öffentlichen Haushalte auf der Ausgabenseite umzustrukturieren, weg von den konsumtiven Ausgaben, hin zu den investiven Ausgaben. So interpretiere ich Sie wohl richtig. - Gut, nun will ich mit Ihnen hier nicht die Debatte führen, daß natürlich die Abgrenzung zwischen investiven und konsumtiven Ausgaben so eine Sache ist. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Das Darlehen im Rahmen von BAföG ist eine investive Ausgabe, der Zuschuß im Rahmen von BAföG ist eine konsumtive Ausgabe. Der Bau einer Kaserne ist eine konsumtive Ausgabe, das Darlehen an die Bundesanstalt für Arbeit ist eine investive Ausgabe. Aber wir wollen dies nicht vertiefen. Wir haben immer mit diesen Definitionen gelebt. Der wissenschaftliche Beirat unseres Ministeriums wird dazu eine Meinung äußern, und die werden wir dann gemeinsam diskutieren, damit wir zu volkswirtschaftlichen Definitionen der Investitionen kommen.
Aber wir stützen uns mal auf die alten Definitionen. Da muß ich nun die Zahlen vorführen. Innerhalb eines Jahrzehnts, Herr Kollege Stoltenberg, hat sich das folgendermaßen entwickelt. Entwicklungen der investiven Nettoausgaben der Gebietskörperschaften, Anteil an den jeweiligen Gesamtausgaben des Haushaltes:
1966 haben wir 15,5 % der Gesamtausgaben des Bundes für investive Ausgaben verwandt, im Jahre 1976 14,4 %. Da sind also, zugegeben, die Anteile der investiven Ausgaben beim Bund um gut einen Prozentpunkt gefallen.
Nun komme ich zu den Ländern. Bei den Ländern waren 1966 26,1. % von den Gesamtausgaben investive Ausgaben. Im letzten Jahre haben die Länder noch ganze 18 % an investiven Ausgaben geleistet.
({7})
- Das ist nicht unredlich; das sind Zahlen. Die passen Ihnen nicht, das gebe ich Ihnen zu. - Die Investitionsausgaben aller Bundesländer - aller! - sind also um 8 Prozentpunkte oder um 25 °/o zurückgegangen.
({8})
- Na, so billig kann man sich das natürlich auch machen.
Und dann kommt der Anteil der Gemeinden: Investitionsausgaben 1966 44 % von den Gesamtausgaben, im letzten Jahre 26 %.
({9})
Ich meine also, meine sehr verehrten Damen und Herren, dann, wenn wir hier über eine Verbesserung des investiven Teils der öffentlichen Ausgaben reden wollen, sollten bitte alle vor der eigenen Tür kehren, und dann sieht es beim Bund sehr gut aus und bei den Ländern sehr viel schlechter.
Herr Bundesfinanzminister, Sie gestatten eine Zwischenfrage? - Bitte!
Herr Minister, wäre es dann um der Vollständigkeit willen nicht auch ehrlich, daß Sie die Personalkostenanteile bei Bund, Ländern und Gemeinden angeben? Das ist nämlich ein wesentlicher Punkt.
({0})
Aber natürlich, sicherlich. Ich habe auch immer zur Entschuldigung der Gemeinden hinzugefügt, daß natürlich eine Schule Lehrer braucht, daß ein Krankenhaus Krankenschwestern braucht. Aber nun drehen Sie doch nicht Ihre eigene Argumentation um. Sie führen das Datum „öffentliche Investitionen" vor, leiten daraus Vorwürfe her, und wenn ich diese Vorwürfe mit Zahlen konfrontiere, drehen Sie sie um. Ich bin gern bereit, Ihnen zuzugeben, daß natürlich bei den Gemeinden die Personalkosten ein Problem sind.
Nur, worauf ich hinaus will - und damit greife ich den Zwischenruf „Nölling" auf -, ist doch folgendes. Wenn es so ist - und dies belegen meine Zahlen auch -, daß die öffentlichen Investitionen in ihrem Schwerpunkt bei den Ländern und den Gemeinden liegen, wenn es so ist, daß die Haushalte der Länder und der Gemeinden ihre Nettoverschuldung, ihre Defizite haben sehr viel schneller abbauen können, dann, Herr Kollege Stoltenberg, bin ich sehr dafür, daß wir möglichst bald gemeinsam darüber reden, wie dieses öffentliche Infrastrukturprogramm, das wir in Vorbereitung haben, durch eine Vielzahl von Maßnahmen auf Länderebene ergänzt werden kann,
({0})
und daß wir nicht nur über die Mitfinanzierung dessen reden - und reden müssen -, was sich der Bund vorstellt, sondern wir - und zwar wir alle, die Gebietskörperschaften, die Länder und die Gemeinden und der Bund - die gesamtstaatliche Verantwortung übernehmen, um ein Programm zu machen, das auch in der Tat Schwerpunkte setzt, keine Umfinanzierung bringt und einen Push in den öffentlichen Investitionen bringt. Dazu bin ich bereit.
Ich bin allerdings nicht bereit, zu sagen: Hannemann - nämlich Du, Bund -- geh Du voran, mach'
uns Angebote, sage uns, wie das gehen soll, übernimm die Finanzierung; wir entlasten unsere Haushalte dann, indem wir einfach euch die Finanzierung überlassen, und für die Investitionsquote des Gesamthaushalts kommt dabei am Ende nichts heraus. Dies ist keine vernünftige Operation.
({1})
Und wenn Sie, Herr Kollege Stoltenberg, in einem anderen Zusammenhang sagen, Sie bräuchten Zeit, um dies mit zu überlegen: Diese Zeit räume ich Ihnen gern ein, weil ich möchte, daß Sie in der Lage sind, auch seitens Ihres Landes - ebenso wie Hamburg, und das ist meine Antwort an Herrn Dr. Nölling - die liegengelassenen Investitionsprogramme aufzugreifen und aktiv in Struktur- und Beschäftigungspolitik umzusetzen.
Nun darf ich Ihnen hier eine Zahl vorführen, die Sie sicherlich sehr interessieren wird. Denn man hat ja manchmal Zweifel, ob öffentliche Investitionsprogramme überhaupt so viel Beschäftigung bringen. Wir haben von Amts wegen für die vier Konjunkturprogramme - Januar 1974, September 1974, Dezember 1974 und August 1975 - 17,0 Milliarden DM - da habe ich die Steuerreform nicht mit eingerechnet - ausgegeben. Es gibt inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen, die uns sagen, damit, auch über die so verketzerte Investitionszulage - es sind ja im wesentlichen Investitionen gewesen -, hätten wir bis zu 57 Milliarden DM an Endnachfrage bewegt.
Es gibt eine weitere sehr interessante Zahl; wir haben das sehr vorsichtig geschätzt und uns der wissenschaftlichen Institute bedient. Wir haben mit diesen Milliarden, die sich zu 57 Milliarden DM über Multiplikatoreffekte aufsummiert haben, 741 000 Dauerarbeitskräfte gesichert und beschäftigt. Wie sähen wir also aus, wenn wir diese Konjunkturpolitik nicht gemacht hätten? Dann wären wir heute in der Tat in einer ganz schwierigen Situation.
({2})
Nur eines muß ich hinzufügen: Diejenigen - darin sind wir uns wahrscheinlich weitgehend einig -, die da meinen, das Heil komme allein aus den öffentlichen Investitionen, irren sich. Worauf es wesentlich ankommt - dies hat die Bundesregierung unter wesentlicher Mitwirkung des Finanzministeriums praktiziert; denn dafür liegt ja bei uns die Federführung -, ist die internationale Solidarität. Hier wird nicht mehr über internationale Solidarität geschwätzt, hier wird gehandelt. Wenn wir 25 0/o dessen an potentiellen Lasten auf unsere Volkswirtschaft nehmen, was notwendig ist, um die englische Volkswirtschaft aus den Schwierigkeiten herauszubringen, dann ist das ein Wort. Ich darf ebenfalls an die anderen Stützungsaktionen erinnern.
Im übrigen, meine Damen und Herren, bin ich nicht von diesem weltweiten Pessimismus befallen, was die Weltkonjunktur anlangt. Hier halte ich es mehr mit der letzten Schätzung des DIW, die deutlich macht, daß auch hier die Dinge sehr viel günstiger stehen. Wir möchten gern demnächst dem
Finanzausschuß vorführen, wie sich die Leistungsbilanz- und Zahlungsbilanzüberschüsse und -defizite auch der Dritten Welt entwickelt haben.
Es sieht günstiger aus, als manche sagen. Das entbindet uns nicht von unserer Verantwortung, aber es macht deutlich, daß Pessimismus vom Welthandel her nicht angemessen ist - Vorsicht sehr wohl, aber keineswegs Pessimismus.
Ich greife gern etwas auf, was Sie, Kollege Graf Lambsdorff, sehr richtig gesagt haben. Die Politik der Bundesbank wird von uns gedeckt. Alle, die uns hier zu Experimenten raten, finden nicht unseren Beifall. Wir wollen keine Ausweitung des Geldvolumens um jeden Preis. Wir sind der Meinung, daß die Politik der Bank richtig war. Die Politik der Deutschen Bundesbank hat die Zinsen mit nach unten gebracht, und zwar ohne die befürchteten Schwierigkeiten hervorzurufen. Die Bundesbank hat das Wirtschaftswachstum finanziert, aber nicht die Inflation.
Ich füge folgendes hinzu. Ich spreche deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen - da treffe ich mich mit Herrn Stoltenberg - die Bitte aus, öffentliche Defizite nicht als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Es kommt darauf an, daß auch die staatliche Finanzpolitik durch Rückführen der öffentlichen Defizite ihren Beitrag zum weiteren Sinken des Zinsniveaus leistet.
({3})
- Dies ist ganz wichtig zu wissen. Wenn Sie rufen „Wem sagen Sie das!" sage ich Ihnen: Dann müssen Sie eine ganze Reihe Ihrer plakativen Forderungen, die Sie vor sich hertragen - Steigerung konsumtiver Aufgaben, wo auch immer - redressieren. Da müssen Sie sich der finanziellen Disziplinierung genauso unterwerfen wie andere in diesem Hause, so unbequem das auch für Ihre Klientel sein mag. Tut mir leid.
({4})
Ich möchte Ihnen nur eine Zahl ins Gedächtnis rufen. Ein Prozent Zinssenkung bringt runde 4 Milliarden DM Ersparnis für unsere Wirtschaft. Sie ist mit ungefähr 400 Milliarden DM im Bankenapparat verschuldet. Da sehen Sie, welche Größenordnungen das eigentlich sind.
Ich bekenne mich ausdrücklich zu unseren Plänen, die ertragsunabhängigen Steuern um etwa 2 Milliarden DM zu senken. Nur, meine Damen und Herren: Wem nützte eigentlich diese Politik, wenn wir nicht über die Solidität der Finanzpolitik erreichten, daß von hier aus kein Zinsschub eintritt? Wem nützten eigentlich diese 2 Milliarden DM, wenn 1 %
Zinsen 4 Milliarden DM Kostenbelastung sind? Ich gebe zu: Ich rechne etwas sehr global; dennoch ist dieses ja wohl sehr eingängig.
Lassen Sie mich nur wenige Bemerkungen zum Thema Mehrwertsteuer machen. Mein Kollege Heinz Westphal hat hier vorgeführt, wie sehr unterschiedlich die Meinungen bei der Opposition noch sind. Sie reichen von Ihnen, Herr Häfele, der Sie den
1 Schacher nicht mitmachen wollen, bis hin zu anderen, die das anders beurteilen. Ich will das hier gar nicht vorführen und kritisieren. Nur um eines bitte ich Sie sehr herzlich, und zwar darum, daß es möglich wird, daß Sie in diesem Punkte sehr bald mit einer Stimme sprechen.
Der Bundesfinanzminister weiß sehr wohl, daß Steuergesetzgebung nur geht, wenn alle politisch relevanten Kräfte in diesem Lande zustimmen, auch wenn sich im Bundesrat die Dinge vielleicht anders entwickelt haben und wir insofern eine neue Perspektive haben.
({5})
Nur, ich möchte mit Ihnen den Dialog führen. Unser Angebot kennen Sie. Ihres kennen wir nicht. Ich sage das ohne Vorwurf. Ich möchte, daß wir dann, wenn diese Gesetzesvorlagen hier im Bundestag eingebracht werden, wissen, was Sie wollen, daß nicht die einen sagen: Schacher auf keinen Fall! und die anderen sagen: Ja, unter gewissen Bedingungen . . . Diesen Standpunkt vertrat gestern abend der Ministerpräsident Albrecht im Fernsehen. Mir wäre das sehr lieb.
Mir wäre ein Zweites sehr lieb, nämlich, daß wir endlich von Ihnen Klarheit darüber bekämen, wie Sie es mit der Sparförderung halten. Man kann doch nicht auf der einen Seite - Herr Stoltenberg hat das heute, glaube ich, nicht gemacht, aber in dem „Welt"-Interview hat er es gesagt, und Herr Strauß hat es hier gesagt - sagen: Nun schränkt mal weiter die Sparförderung ein - ({6})
- Das ist aber kein Grund. Ich habe hier eine sehr abgesicherte und durch Koalitionsvereinbarungen fundierte Position.
({7})
- Nun gut. Ich bin im übrigen nicht sicher, ob Ehrenberg das gesagt hat. Ich werde ihn da einmal befragen.
({8})
- Das ist gut. Aber jetzt rede ich über Sie, lieber Herr Kollege Franke. Ich bitte Sie darum, daß Sie sich in dieser Frage klarwerden.
({9})
- Wir sind uns klar. Lesen Sie das, was in der Regierungserklärung zu diesem Thema steht: Anhebung von 624 DM auf 936 DM, wenn es aus tarifpolitischen Gründen notwendig ist, Verbesserung des Anlagenkatalogs, Beseitigung steuerlicher Hemmnisse, soweit vorhanden. Wir haben hier kein Problem.
Aber Sie müssen sich klarwerden. Sie können doch nicht, meine hochverehrten Damen und Herren von der Opposition, uns durch Herrn Pieroth sagen lassen, die Vermögenspolitik sei zentrales Thema, und den Einstieg in die betriebliche Vermögensbildung über 624- bzw. 936-DM-Gesetz durch Infragestellung der Sparförderung selbst in Frage stellen.
Ich füge eines hinzu, Herr Kollege Stoltenberg, nur zu Ihrer Information: Selbst wenn wir heute und jetzt - was ich nicht tun werde - die Sparförderung auf Null schrieben - ({10})
- Wohin wollen Sie die denn sonst schreiben bei Einkommensgrenzen von 24 000 DM und 48 000 DM? Dann wird das Ganze doch langsam komisch. Entweder - oder! Dieses sind doch schon harte Einkommensgrenzen. Reden Sie doch einmal mit einem ledigen Facharbeiter mit 24 000 DM Jahresgehalt. Da können Sie doch nicht auf 16 000 DM gehen oder auf 32 000 DM für Verheiratete. Also: Entweder - oder, bitte schön!
({11})
Sie wollen doch wohl auch nicht noch die Fördersätze reduzieren. Also: Entweder - oder, bitte schön!
Sie können doch dieses nun als Haushaltspolitiker, der Sie ja auch indirekt sind, weil Sie als Ministerpräsident hier ebenfalls Verantwortung tragen, nicht außer acht lassen, daß, selbst wenn Sie die Sparförderung heute auf Null schrieben - ich rede im Konjunktiv -, Sie erst in sechs oder sieben Jahren, wenn die festgelegten Beträge fällig werden, Kasse machen werden. So ist der Mechanismus. Sie sparten also in den nächsten Jahren überhaupt nichts.
Ich sage Ihnen ein Weiteres, nicht nur, weil ich hier unter scharfer Beobachtung meiner Freunde aus Baden-Württemberg bin: An der Bausparförderung ändere ich eh nichts. Ich hielte dies auch für konjunkturpolitisch lebensgefährlich.
({12})
Wenn Sie dieses, meine Damen und Herren von der Oppostion, nicht wollen, dann können Sie doch wohl die Sparförderung auch nicht einschränken, sonst erreichten Sie doch nur eines, nämlich, daß das unechte Bausparen gefördert wird. Wer im übrigen auch dem Bausparen an den Kragen will - ich will es nicht -, der muß dann auch über Sonderausgabenregelungen in diesem Bereich reden. Lassen Sie uns also diese Idee vergessen. Sie liefert leider - oder: Gott sei Dank - keine Kasse für die Nation.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen: In dieser Debatte ist gefragt worden, in welchen ordnungspolitischen Eckwerten wir uns eigentlich bewegen. Wir werden diese Debatte fortsetzen. Ich habe gehört, der nächste Redner der Opposition wird u. a. zu diesem Thema sprechen. Lassen Sie mich Ihnen deswegen einige Stichworte geben, damit Sie sich notfalls mit ihnen kritisch auseinandersetzen können. Der Bundeskanzler hat in seiner Neujahrsansprache gesagt, daß nichts mehr so werden wird, wie es einstmals war. Man kann es auch anders formulieren: Wir leben in einer anderen Welt. Ich will das gar nicht dramatisieren, aber es ist, glaube ich, gut, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß die
Dritte und die Vierte Welt erwacht sind und Erwartungen an uns haben - Erwartungen, die im übrigen Sie, Herr Dr. Kohl, auch in Ihrer Rede am 17. Dezember aufgegriffen haben, indem Sie uns zu Mehrleistungen aufgefordert haben. Ich muß Ihnen allerdings dazu sagen: Wenn das Geld dazu da wäre, würde ich es auch gerne tun. Sie müßten uns bei Gelegenheit einmal sagen, wie das finanziert werden soll.
({13})
- Wir haben versprochen, das 0,7-Prozent-Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren.
({14})
- Es hat ja auch keinen Zweck, daß wir uns hier etwas vormachen. Wir haben durch die Verbesserung der mittelfristigen Finanzplanung sichergestellt, daß wir wenigstens etwa bei der Hälfte des Zieles bleiben und nicht absinken. Dann sehen wir immerhin noch gegenüber den USA und Japan und vielen anderen Industrienationen ziemlich gut aus.
Aber jetzt zu den Eckwerten.
Erstens. Wir werden keine nationale oder nationalistische Politik machen können. Wir müssen deswegen auch das, was wir im Bereich der nationalen Politik zur Stabilisierung der nationalen Konjunkturpolitik - Arbeitsmarktpolitik, Infrastrukturpolitik - machen, in Weltzusammenhänge einpassen und dürfen nicht die Größenordnungen übersehen. Da sind eben 1 100 Milliarden DM Sozialprodukt und 250 Milliarden DM Exportvolumen unseres Landes. Das kann man nicht durch nationale Maßnahmen überspielen.
Zweitens. Wir werden eine ausgewogene Haushalts- und Finanzpolitik brauchen - nicht zuletzt deswegen, um nicht über die Zinsentwicklung neue Schübe der Kosten- und Inflationssteigerung in Gang zu bringen. Dafür tragen wir alle zusammen Verantwortung.
Drittens geht es um die Konsolidierung des sozialen Sicherheitssystems und viertens geht es darum, unsere Arbeitnehmer und unsere Steuerzahler nicht zu überfordern.
Ich stelle fest, daß das Problem nicht bei der Steuerbelastung liegt. Auf Grund der Steuerreform ist die Steuerlastquote für längere Zeit unter 24 Prozent des Bruttosozialproduktes abgesunken. Daß man erneut zu gegebener Zeit über neue Maßnahmen nachdenken muß, liegt ja wohl auf der Hand. Deswegen steht dazu auch einiges in unserem Steuerpaket, z. B. zur Verbesserung des Kindergeldes, zur Verbesserung der Höchstsätze für die Sonderausgaben, zur Verbesserung der Lage der geschiedenen Väter und vieles andere mehr.
Das Problem resultiert aus der Explosion der Sozialversicherungsabgaben; das sieht man.
Nun, meine Herren von der Opposition, da verstehe ich Ihre Kritik überhaupt nicht mehr. Wenn uns doch eines gelungen ist, dann ist es das, daß wir versucht haben, die Auswirkungen auf die sogenannte Staatsquote, auf die Abgabenquote, durch
das Paket von Maßnahmen, das wir beschlossen haben, so gering und so tragbar wie möglich zu machen, eben nicht den bequemen Weg der Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu gehen, es sozial ausgewogen zu machen.
Insofern muß ich Ihnen sagen: Das war eines der Anliegen des Finanzministers.
({15})
Wenn es da nach anderen gegangen wäre, wäre es sehr viel schlimmer! Natürlich wird bei der Krankenversicherung eine Beitragssteigerung eintreten, aber nicht in dem Maße, wie es andere gewollt haben.
({16})
Ich habe absichtlich eine Rede ohne Polemik gehalten - absichtlich -, obwohl manches dazu gereizt hätte, dies zu tun. Ich meine aber, es ist dem Ernst der Lage nicht angemessen, sich gegenseitig Polemik um die Ohren zu hauen.
({17})
Wir haben unser Angebot in der Regierungserklärung. Sie haben zusätzliche Erklärungen von mir. Ich bin jederzeit bereit, mit Ihnen in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Er verlangt allerdings - das ist meine Bitte -, daß Sie uns sehr bald sagen, was Ihre Vorstellungen in der Finanzpolitik sind.
({18})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Biedenkopf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe gerne auf die Anregung des Bundesfinanzministers ein, einige kommentierende Bemerkungen zu den ordnungspolitischen Eckwerten zu machen, von denen er gesprochen hat. Ich tue das um so lieber, als auch Graf Lambsdorff in seinen Ausführungen auf Fragen der Ordnungspolitik eingegangen ist, wobei mich bei den Ausführungen von Graf Lambsdorff der außerordentlich große Beifall aus dem Bereich der Regierungskoalition im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Notwendigkeit von Gewinnen, von Investitionen und zu den ordnungspolitischen Erklärungen besonders beeindruckt hat.
({0})
In der Tat ist eine Auseinandersetzung über die ordnungspolitischen Eckwerte Voraussetzung dafür, daß sich das Angebot des Bundesfinanzministers, in eine konstruktive Zusammenarbeit mit diesem Hohen Hause einzutreten, verwirklichen läßt, denn ohne einen inhaltlichen Konsens, ohne eine Übereinstimmung über das, was man mit Politik erreichen will und was man langfristig an Verwirklichung von Zielen vorhat, ist diese Zusammenarbeit allenfalls punktuell möglich.
Die Debatte heute hat gezeigt, was Hans Katzer bereits zu Beginn seiner Ausführungen festgestellt hat, daß es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, daß die Auflösung dieses Zusammenhangs allemal dazu führt, daß die politischen Entscheidungen in den jeweiligen Teilbereichen in erheblichem Maße Gefahr laufen, falsch zu sein, und daß ein wesentlicher Grund - und das möchte ich als eine erste Schlußfolgerung auch aus dieser Debatte heute ziehen - für die wachsenden Schwierigkeiten, unsere Probleme zu lösen, darin liegt, daß wir im politischen Handeln, daß insbesondere aber diese Regierung und die sie tragende Koalition bei ihrem politischen Handeln diesen Zusammenhang zwischen Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht anerkannt hat.
({1})
Es ist gar keine Frage, daß heute manches von der Regierungsbank und der Regierungskoalition im Bereich von Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik anders formuliert wird als noch vor wenigen Jahren. Es ist gar keine Frage, daß das Maß der Ernüchterung, das uns alle ergriffen hat, nicht ganz vor den Türen der Regierungskoalition haltgemacht hat. Das ist aber noch keine ausreichende Grundlage für konstruktive Zusammenarbeit, meine Damen und Herren. Die Grundlage für konstruktive Zusammenarbeit ist erst dann gegeben, wenn man sich über die Ursachen für die heute bestehenden Schwierigkeiten verständigen kann.
({2})
Denn ohne eine übereinstimmende Ursachenanalyse werden wir uns immer im Bereich des Korrigierens an Symptomen bewegen.
Ein klassisches Beispiel für das, was passiert, wenn man sich über die Ursachen eines Problems nicht einig ist, ist das Lavieren und die Flickschusterei, wenn ich den Ausdruck von Herrn Schmidt ({3}) übernehmen darf, im Bereich der Rentenpolitik. Was die Regierung uns dort in den letzten Wochen vorgeführt hat, ist ein Musterbeispiel, gewissermaßen reif für die Vorlesung, ein Musterbeispiel für die Folgen, die es hat, wenn man über die Ursachen einer Malaise nicht übereinstimmt und wenn man in einer Koalition unfähig ist, diese Ursachen aufzuzeigen, und wenn man deshalb in einem Zahlenwerk, das man nicht mehr versteht, Korrekturen vornehmen muß, deren Auswirkungen man nicht übersehen kann.
({4})
Es ist immerhin erstaunlich, daß die Bundesregierung mit dem ganzen Apparat ihrer Bürokratie, den sie ja unter Berufung auf die wachsende Komplexität der Gesellschaft ständig ausdehnt, nicht in der Lage ist, die Konsequenzen einer Veränderung von Beitragsbegrenzungen und ähnlichen Daten in der Renten-und Krankenversicherung rechtzeitig genug zu übersehen, um nach 14 Tagen festzustellen, daß die Folgen ihres Handelns völlig andere sind als die, von denen sie ausgegangen ist. Es ist kein Wunder, meine Damen und Herren, daß diese Regierung die Opposition deshalb ständig um Alternativen bittet.
Denn sie ist offenbar noch nicht einmal in der Lage, in einer solchen relativ einfachen Frage die Wirkungen der von ihr in Aussicht genommenen Maßnahmen abzuschätzen.
({5})
Es ist in der Regierungserklärung viel von rationaler, zukunftschauender, vorsorgender, planender Politik die Rede. Die schöpferische Fähigkeit in der Erfindung von Formeln ist in der Regierung seit Karl Schiller ungebrochen.
({6})
Für eine gewisse Zeit kann man sich mit Formeln behelfen.
({7})
Aber spätestens mit dieser Regierungserklärung ist deutlich geworden, daß die Tatsachen die Formeln eingeholt haben und daß sie sich als das erweisen, was sie sind, nämlich die Flucht vor der Wirklichkeit unserer politischen Situation.
({8})
Seit der Regierungserklärung, die in epischer Breite angelegt war, ist für jeden erkennbar, daß die Bundesregierung die großen Probleme der Zukunft ohne ein geschlossenes Konzept angeht. Seitdem ist ganz klar erkennbar, daß es der Bundesregierung nicht gelungen ist, deutlich zu machen, nach welchen ordnungspolitischen Eckdaten sie handelt, und zwar im Sinne von Eckdaten, die, wie der Ökonom sagen würde, operational sind, d. h., die man wirklich umsetzen kann.
({9})
- Ja. Juristen haben es eben an sich, ab und zu einmal über den Zaun zu gucken, im Unterschied z. B. zu einigen anderen Berufssparten, die bei Ihnen besonders vertreten sind.
({10})
Die Eckdaten, die der Herr Bundesfinanzminister genannt hat, sind keine operationalen Eckdaten, sondern allenfalls Ziele, und zwar sehr breit angelegte Ziele. Natürlich muß unsere nationale Wirtschaftspolitik in die Weltwirtschaft passen. Das ist noch nie bestritten gewesen. Die Frage ist aber doch nicht, ob sie passen muß, sondern wie sie aussehen muß, damit sie paßt.
({11})
Natürlich ist es unbestritten, daß wir eine ausgewogene Haushalts- und Finanzpolitik brauchen. Aber warum unterhalten wir uns denn über eine riesige Verschuldung in den öffentlichen Kassen nach sieben Jahren sozialdemokratisch geführter Politik im Bund? Weil eben eine ausgewogene Finanzpolitik nicht möglich war, weil jahrelang die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft auf der einen Seite als unendlich angesehen wurde, auf der anderen Seite dauernd beeinträchtigt wurde und auf der dritten Seite noch mehr versprochen wurde, als die angeb298
lieh schon unendlich leistungsfähige Wirtschaft tatsächlich leisten kann.
({12})
Heute streiten wir uns über die Folgekosten dieser Politik, und nun werden wir aufgerufen, mitzuarbeiten und Alternativen vorzulegen.
Die Konsolidierung des sozialen Sicherheitssystems wird als Eckwert angegeben. Auch das ist doch in diesem Hause völlig unbestritten. Aber warum ist denn die Frage nach der Konsolidation notwendig geworden? Wir müssen doch darüber reden, welche Ursachen dazu geführt haben, daß wir heute über Renten in einer Weise diskutieren müssen, die an Dramatik kaum noch zu überbieten ist. Wir müssen doch danach fragen, warum diese Eckwerte nicht vor dem 3. Oktober bekanntgegeben wurden, warum vor dem 3. Oktober erklärt wurde, das seien überhaupt keine Probleme und man brauche deshalb nicht politisch darüber zu sprechen.
Meine Damen und Herren, wir lesen, daß Unternehmer und Steuerzahler nicht überfordert werden sollen. Ich nehme dankbar zur Kenntnis, daß die frühere Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei, man müsse einmal die praktische Belastbarkeit der Wirtschaft erproben, der Einsicht Platz gemacht hat, daß solche Experimente lebensgefährlich sind.
({13})
Jeder im Land weiß, daß die Steuerkraft des Staates, die soziale Sicherheit des Bürgers und das Ansehen und die Leistungskraft unseres Landes im europäischen Verbund und in der Welt von unserer Wirtschaftskraft abhängig sind. Die Bundesrepublik Deutschland verdankt ihren Aufstieg, ihre politische Stellung, ihren Einfluß in Europa ebenso ihrer Wirtschaftskraft wie dem sozialen Frieden, der sozialen Sicherheit und einer ausgebauten Infrastruktur.
Man hätte deshalb von der Regierungserklärung Auskunft darüber erwarten dürfen, wie diese Wirtschaftspolitik - nicht: wie einzelne Maßnahmen dieser Politik, sondern wie die Wirtschaftspolitik selbst -, d. h. ihre Grundlagen, aussehen soll, zumal im ersten Kapitel der Regierungserklärung selbst in Aussicht gestellt wird, daß man etwas über die ökonomischen Grundlagen erfahren soll. Was wir in der Regierungserklärung erwarten durften, ist ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept. Wir durften in einer Erklärung, die ja nach den eigenen Einlassungen der Bundesregierung die Grundlage für die Arbeit der nächsten vier Jahre sein soll, eine Aussage darüber erwarten, an welchen Zielen sich die Regierung langfristig orientiert und was sie im Sinne des Allgemeinwohls für notwendig hält.
Aber nach der Auffassung nicht allein meiner politischen Freunde, sondern z. B. auch der Zeitschrift „Der Gewerkschafter" war die Regierungserklärung mehr eine detaillierte Bestandsaufnahme als eine perspektivische Vorausschau. Eine Politik der stetigen Reformen - so heißt es dort wörtlich - wurde zwar verkündet, doch blieb offen, wie sie aussehen soll. So lautet die Beurteilung der Regierungserklärung durch eine führende Gewerkschaftszeitschrift.
Kein Wunder, daß uns deshalb jeder Redner aus der Regierungskoalition nach unseren Alternativen fragt. Man ist offenbar sehr um Antworten auf die anstehenden Probleme verlegen.
({14})
Was in der Regierungserklärung selbst nicht zu finden ist, findet sich in der politischen Debatte außerhalb der Regierungserklärung, jedenfalls in Andeutungen. Da wird z. B. vom Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei ernsthafter Zweifel daran geäußert, ob die Soziale Marktwirtschaft überhaupt in der Lage sei, unsere Probleme zu lösen.
({15})
Sie wird in einer Weise in Frage gestellt, die es zumindest erforderlich gemacht hätte, in der Regierungserklärung dann Aussagen darüber aufzunehmen, welches denn die Alternativen zur sozialen marktwirtschaftlichen Ordnung sind.
({16})
Es wird im Rahmen der Sozialistischen Internationale, in der wir ja führende Leute auch aus diesem Haus haben - ({17})
- Nein, im Gegenteil. Ich finde das sehr hilfreich; dann brauche ich nicht immer erst dorthin zu fahren, wo Sie Ihr Hauptquartier haben, sondern wir können gleich hier über Sozialismus reden.
({18})
Es gibt in den Erklärungen der Sozialistischen Internationale Einlassungen zu der Wirksamkeit und der politischen Erwünschtheit der sogenannten kapitalistischen Ordnung, womit unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gemeint ist. Es ist ganz eindeutig, daß die Erklärungen dieser Organisation, zu deren tragenden Elementen die deutsche Sozialdemokratische Partei gehört, nichts mit der in unserem Land verwirklichten und praktizierten freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Sinne haben.
Wir hätten deshalb von der Regierung gern etwas präzisere Auskünfte darüber gehabt, in welcher Weise sich die Regierungspolitik von diesen - von der Sozialdemokratischen Partei doch mitgetragenen und gegen ihren Willen gar nicht denkbaren - internationalen Erklärungen absetzt.
({19})
In der Regierungserklärung sind einige Aussagen enthalten, denen ich sofort zustimmen kann. Es heißt dort, das Wachstum sei nicht mehr unendlich. Es heißt dort - ich zitiere -, daß Reformen nicht notwendig bedeuten, daß der Staat fortwährend neue und zusätzliche Leistungen erbringen kann. An anderer Stelle heißt es in der Regierungserklärung - ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren -: Wachstum im eigenen Land kann nicht allein zur Mehrung des eigenen Wohlstands verwendet werden. Das sind Aussagen, die auch in den politischen Aussagen meiner Partei enthalten und zutreffend sind.
Aber es kommt doch nicht allein auf diese Aussagen an. Denn eine Regierungserklärung ist ja kein Kompendium zur Belehrung der Abgeordneten über den Tatbestand, sondern sie soll Auskunft über das beabsichtigte Handeln geben.
({20})
Es reicht nicht aus, solche Feststellungen zu machen, sondern es ist dringend erforderlich - und zwar gerade dann, wenn man ordnungspolitisch denkt -, Konsequenzen zu ziehen.
Welches sind denn die Auswirkungen dieser Feststellungen zum Beispiel für unsere soziale Sicherheit? Was bedeutet denn die Tatsache, daß wir a) geringeres Wachstum haben und b) einen Teil dieses geringeren Wachstums auch noch für die Lösung unserer Verteilungskonflikte abgeben müssen? Wie stellt sich denn die Regierung unter beschränktem Wachstum in Zukunft die Lösung von Verteilungskonflikten vor, vor allem, wenn sie zwischen organisierten Gruppen der Gesellschaft auf der einen Seite und nicht organisierten Teilen unserer Gesellschaft auf der anderen Seite auftreten? Nach welchen Kriterien sollen denn diese Verteilungskonflikte gelöst werden? Wie sind denn die Prioritäten, an denen sich die Regierung orientiert, wenn sie diese von ihr selbst ja vorausgesehenen und in ihren Ursachen richtig diagnostizierten Verteilungsprobleme löst? Wie sollen denn die Verhältnisse von Vollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei Wachstum praktisch aussehen?
Graf Lambsdorff, daß das die Ziele des Stabilitätsgesetzes sind, ist in diesem Haus unbestritten. Aber es wäre wichtig gewesen, in der Regierungserklärung zu erfahren, ob die Regierung die Auffassung der Sachverständigen, die die Beurteilung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels zum Auftrag hatten, teilt, daß die Vollbeschäftigung absoluten Vorrang hat, daß also die Vollbeschäftigung möglicherweise auch zu Lasten der Preisstabilität verwirklicht werden soll, ob die Preisstabilität ein primäres oder ein sekundäres wirtschaftspolitisches Ziel ist, und ähnliches mehr.
Davon steht in der Regierungserklärung in einer irgendwie brauchbaren Deutlichkeit nichts.
({21})
In der Regierungserklärung stehen Ausführungen zur Tarifpolitik. Dort wird gesagt - und ich teile diese Ansicht -, daß sich die Gewerkschaften in einer konjunkturell schwierigen Situation verantwortungsvoll gezeigt haben.
({22})
Ich gehe - um das ganz eindeutig zu sagen - nicht davon aus, daß das nur eine Maßnahme der Gewerkschaften war, um die Bundesregierung oder die sie tragende Koalition zu unterstützen. Sondern ich bin der Meinung, daß die Gewerkschaften zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Erkenntnis aber auch dringend erforderlich war, erkannt haben, daß eben doch ein Zusammenhang zwischen Lohnpolitik und Arbeitslosigkeit besteht. Und das betrachte ich als einen Fortschritt.
({23})
Es ist in der Regierungserklärung insbesondere nichts zu der Frage gesagt, was die Konsequenzen des Wandels für unsere Ordnungspolitik sind - Konsequenzen, nach denen Graf Lambsdorff vorhin die Opposition mit der Feststellung gefragt hat, daß es, wenn man über diese Konsequenzen keine Auskunft gebe, entweder ein Zeichen von Ignoranz oder ein Zeichen von Täuschungsabsicht sei.
({24})
Oder von Uneinsichtigkeit; ich addiere gern einige weitere ähnliche Vokabeln zu dieser Aufzählung.
Aber ich möchte gleich darauf hinweisen, daß man genau diese Ihre Feststellung, die ich inhaltlich völlig teile, in erster Linie an die Adresse der Bundesregierung zurückgeben muß. Denn in der Regierungserklärung ist trotz ihrer epischen Breite nichts darüber gesagt, was denn die Folgen - und zwar die dramatischen Folgen - für unsere innen- und wirtschaftspolitische Lage sind, die sich aus diesem Wandel ergeben.
({25})
Dagegen - und das scheint mir ebenfalls eine sehr wichtige Feststellung über die Regierungserklärung zu sein - zeichnet sich diese Erklärung durch eine Häufung von Anrufungen der Verantwortung gesellschaftlicher Gruppen aus. Ich habe selten ein Dokument vergleichbarer Art gelesen, in dem die Regierung in allen Bereichen, die sie zunächst als Bereiche ihrer eigenen Verantwortung definiert, auf eigene Handlungsaussagen oder Handlungsanweisungen verzichtet und statt dessen die gesellschaftlichen Gruppen in die Verantwortung nimmt. Fortwährend ist in der Regierungserklärung davon die Rede, daß Gewerkschaften, Tarifparteien, Verbände, Industrie, Unternehmen, Handwerk, Kirchen und wer sonst auch immer aufgerufen seien, verantwortlich zu handeln, dies und jenes zu erledigen. Sicherlich ist es die Aufgabe des Staates und insbesondere seiner Regierung, auch die gesellschaftlichen Gruppen zur Mitwirkung bei der Lösung politischer Probleme zu ermutigen. Aber diese Regierungserklärung ist keine Ermutigung in diesem Sinne, sondern sie ist eine Flucht aus der eigenen Verantwortung und ein Abschieben der Verantwortung auf die gesellschaftlichen Gruppen und Verbände.
({26})
Hier wird gewissermaßen das Alibi für den Fall vorbereitet, daß sich die Regierung nicht gegen organisierte Besitzstände durchsetzen kann. Wenn sie es nicht kann, kann sie unter Berufung auf ihre Regierungserklärung feststellen, daß sich die gesellschaftlichen Gruppen ihrer verantwortlichen Mitwirkung versagt hätten. Aber das ist ordnungspolitisch gesehen ein entscheidender Schritt in Richtung auf Vergesellschaftung staatlichen Handelns; denn wem die Verantwortung von Regierungs wegen übertra300
gen wird, der wird natürlich sagen: Wenn ich die Verantwortung übernehmen soll, dann möchte ich auch die Risiken kontrollieren, d. h., der wird sagen: Wenn ich Verantwortung tragen soll, möchte ich auch mitentscheiden.
Man kann einer gesellschaftlichen Gruppe nicht zumuten, daß sie politische Verantwortung in wichtigen Teilbereichen übernimmt, aber dann kein entsprechend ausgestaltetes Mitspracherecht hat. Das bedeutet aber, daß die Verantwortung, die an sich nach den Vorstellungen unserer Verfassung bei Regierung und Parlament lagert, zunehmend, und zwar ganz bewußt, auf die gesellschaftlichen Gruppen verschoben wird. Das ist weder im Interesse des Staates noch im Interesse der betroffenen Gruppen selbst, weil die Übernahme dieser Verantwortung und die Mitwirkung auch an der Gestaltung der Politik notwendige Konsequenzen für die Autonomie dieser Gruppen haben muß.
({27})
Das ist nicht im Interesse der Bürger, weil der Rechtsschutz der Bürger und ihre Möglichkeit, durch den Stimmzettel als Souverän mitzuwirken, bei der Verlagerung politischer Verantwortung auf die Gruppen nachhaltig beeinträchtigt wird, und es liegt auch nicht im Interesse der Verwirklichung demokratischer Kontrolle.
({28})
Unsere Verfassung, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, versteht unter demokratischer Ordnung klare Zuständigkeiten von Staat, gesellschaftlichen Gruppen und Bürger, nicht eine Gemengelage ohne nachweisbare und nachvollziehbare Verantwortungsstrukturen; eine Gemengelage, die dann durch die Bürokratien zusammengehalten wird, die sich natürlich grenzüberschreitend zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen verständigen, und die den gesellschaftlichen Gruppen eine Art Kartell der organisierten Gruppen geradezu aufdrängt, weil ohne eine solche Kooperation im Sinne eines Kartells die abgeschobene Verantwortung gar nicht realisiert werden kann; ein Kartell der organisierten Gruppen, das dann wiederum als Alibi für staatlichen Handlungsverzicht und für neue Vergesellschaftungsforderungen herangezogen wird.
({29})
Die einzigen, die bei dieser Entwicklung profitieren, sind die Bürokratien und die Funktionäre, die sich in diese Gemengelage mit geringstmöglichem Risiko einnisten und handeln, ohne jemals von irgend jemandem zur Verantwortung gezogen werden zu können.
({30})
Wer in der Erklärung der Regierung eines Landes von der Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland in dieser Weise auf die Gesellschaft ausweicht, bei dem besteht der Verdacht, daß er den Überblick verloren hat, der notwendig ist, um wirklich selbst kraftvoll zu regieren.
({31})
In der Regierungserklärung selbst gibt es ein hervorragendes Beispiel dafür, daß dieser Überblick verlorengegangen ist. Ich werde mir erlauben, auf einige der Gründe für den Verlust dieses Überblicks noch hinzuweisen.
Die Bundesregierung schlägt in der Regierungserklärung eine Kommission, eine Enquete vor, die die Transfereinkommen erforschen soll. Die Regierungserklärung enthält die Feststellung, daß eine Fülle solcher Transfereinkommen in unserem sozialen System vorgesehen sei und daß es erforderlich sei, die Auswirkungen dieser vielfältigen Transferierungen von Einkommen zwischen den staatlichen Kassen, sozialen Systemen und privaten Haushalten durch eine Enquete zu erforschen. Was heißt das denn? Das heißt, daß die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung - jedenfalls mittelbar - zugibt, daß sie selbst über die Auswirkungen dieser Transfereinkommen keine klaren Vorstellungen mehr hat.
({32})
Das bedeutet aber, daß bei jeder weiteren sozialpolitischen Maßnahme, die mit einem Transfereinkommen verbunden ist, die Bundesregierung keine Auskunft mehr über die Wirkungen dieser Maßnahme geben kann.
Das heißt, daß in diesem sehr wichtigen Bereich, der, wenn ich mich richtig erinnere, mehr als 30 Milliarden DM umfaßt, ein Regierungshandeln nicht mehr möglich ist - wenn man unter Regierungshandeln ein gezieltes Handeln versteht. Was man hier tun kann, ist allenfalls noch, nach dem System „Versuch und Irrtum" zu handeln, d. h. irgendein Transfereinkommen zu beschließen und dann zu sehen, was am Ende dabei herauskommt, um das dann durch eine Intervention zu korrigieren, von der man natürlich wieder nicht weiß, welche Folgen sie hat, so daß Sie letztlich bei dem Murphy-schen Gesetz sind: „Alles geht schief, was schiefgehen kann."
({33})
Diese Nichtvoraussehbarkeit konkreten Regierungshandelns ist ein generelles Charakteristikum dieser Regierung und ihrer Politik.
({34})
Das gilt, wenn ich die letzten Jahre Revue passieren lasse - und wir müssen ja die Glaubwürdigkeit und die Tragfähigkeit der Regierungserklärung einer Regierung, die im Amt bleibt, auch an dem messen, was in der Vergangenheit geschehen ist -, für die Steuerpolitik. Man denke nur an die unterschiedlichen Einlassungen des Bundesfinanzministers zur Wünschbarkeit bzw. Unwünschbarkeit von Mehrwertsteuererhöhungen - in relativ kurzen Zeitabständen. Dies gilt im Bereich der Sozialpolitik für die Rentenfrage; wir haben dazu heute morgen eine Menge gehört. Dies gilt insbesondere aber auch für die Mittelstandspolitik.
Einem Handwerker oder einem kleinen Unternehmer, der die Ausführungen in der Regierungserklärung zur Unterstützung der Regierung für den Mittelstand, zu den Hilfen, die die Regierung dem MitDr. Biedenkopf
telstand in der Vergangenheit gegeben hat, liest, müssen die Tränen der Rührung in die Augen schießen, daß ihm soviel geholfen worden ist, und er überhaupt nichts davon gemerkt hat.
({35})
Bis zur Lektüre dieser Passagen stand der, wahrscheinlich - in Anlehnung an politologische Untersuchungen über kapitalistische Verhaltensweisen - in die Irre geführte Handwerker
({36})
unter dem - jedenfalls subjektiv zutreffenden - Eindruck, daß die Politik der Regierung ihm das Leben zur Hölle macht. Die Möglichkeit, eine eigene soziale Vorsorge für das Alter zu schaffen, wurde systematisch erschwert.
({37})
- Wir haben vorhin schon aus anderem Anlaß Gelegenheit gehabt, die Weltferne der sozialdemokratischen Fraktion feststellen zu können; das ist eben der Nachteil, wenn eine Fraktion sich überwiegend aus Funktionären zusammensetzt.
({38})
Herr Abgeordneter Biedenkopf, ich gehe davon aus, daß sämtliche Mitglieder des Hauses gewählte Abgeordnete nach Art. 38 des Grundgesetzes sind.
({0})
Herr Präsident, diese Annahme ist völlig richtig, aber kein Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe.
({0})
Herr Abgeordneter Biedenkopf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Emmerlich?
({0})
Herr Professor Dr. Biedenkopf, darf ich nach Ihrer soeben ausgesprochenen Bemerkung davon ausgehen, daß Sie deshalb vom Amt des Generalsekretärs der CDU zurückgetreten sind?
({0})
Ich darf Ihnen darauf sagen, daß wir sehr viel weniger Schwierigkeiten haben, Positionen zu wechseln, weil wir nicht an Ämtern kleben; das ist wiederum ein erheblicher Unterschied zu Ihnen.
({0})
Ich darf im Zusammenhang mit der Mittelstandspolitik darauf hinweisen, daß sowohl die steuerlichen Vorschriften über die Rücklagen für Altersvorsorgen als auch die Besteuerung insgesamt, die Gestaltung der Vermögensteuer auch für privates Vermögen oder für Vermögen, die Einzelpersonen
betrieblich nutzen, allesamt dazu geführt haben, daß der Aufwand, den ein Selbständiger in diesem Lande treiben muß, um eine seinem Einsatz, seiner Leistung und seinem Berufs- oder Lebenseinkommen angemessene Altersversorgung zu erarbeiten, unvergleichlich viel höher ist als in allen anderen Bereichen der Gesellschaft.
({1})
Es ist heute eines der Hauptprobleme der mittelständischen Wirtschaft, daß sie einem Geschäftsführer oder einem leitenden Angestellten nicht mehr eine z. B. dem öffentlichen Dienst oder vergleichbaren Bereichen entsprechende Altersversorgung anbieten kann und daß junge und begabte Nachwuchsleute zunehmend nicht mehr für den Bereich zur Verfügung stehen, der noch immer für zwei Drittel der Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland sorgt und dem wir noch immer unsere Flexibilität, unsere Leistungsfähigkeit und unsere wirtschaftliche Vorrangstellung in der Welt verdanken, nämlich der mittelständischen Wirtschaft.
({2})
Wenn wir schon über Ordnungspolitik reden, dann bedeutet das, daß wir die inneren Zusammenhänge des geordneten Systems beachten müssen. Wenn wir im Bereich der sozialen Sicherheit, aus welchen Gründen auch immer, im Bereich der Steuerreform und in anderen Bereichen Eingriffe in die Möglichkeiten der privaten Altersvorsorge und der betrieblichen Altersvorsorge mit der Wirkung vornehmen, daß es für einen weiten Bereich unserer Wirtschaft nicht mehr möglich ist, z. B. mit dem öffentlichen Dienst zu konkurrieren, dann können wir auch auf diese Weise, ohne irgendeinen anderen Eingriff in der mittelständischen Wirtschaft vorzunehmen, die Leistungsfähigkeit dieses Wirtschaftsbereiches verringern. Wenn wir nicht bereit sind, Fragen in dieser Weise zu stellen, dann werden wir eines Tages noch so viel Investitionsmittel in verdienstvoller Weise für die mittelständische Industrie zur Verfügung stellen können; sie haben dann keine Wirkung mehr, weil die Leute, die das Risiko übernehmen müssen, die die Leistung erbringen müssen, die als Unternehmer tätig sein müssen, nicht mehr zur Verfügung stehen, da sie inzwischen unter das sichere Dach des öffentlichen Dienstes geflüchtet sind.
({3})
Eine Regierungspolitik, die den Anspruch erhebt, Ordnungspolitik zu sein, muß in der Lage sein, solche Auswirkungen ihres Handelns vorauszusehen.
Ich sagte, es ist viel von vorausschauender Wirtschaftspolitik die Rede. Alles das, was wir in der Vergangenheit beobachten können, läßt diese Voraussicht vermissen, und zwar in dem Sinne, daß die Regierung nicht in der Lage war - das wird auch zunehmend zugestanden -, die tatsächlichen Auswirkungen ihres Handels vorauszusagen.
Das ist einer der entscheidenden Gründe dafür, daß wir in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind. Wenn man vorausschauende Wirtschaftspolitik machen will, muß man voraussagen können, wie die
Bürger sich verhalten, wenn man bestimmte Dinge tut, es sei denn, man befiehlt es den Bürgern.
({4})
Man kann natürlich diese vorausschauende Wirtschaftspolitik, wie die Sozialdemokratische Partei das will, mit einem ganzen Schema von Plänen bewerkstelligen. Der Orientierungsrahmen '85 der SPD gibt einen interessanten Einblick in die Vorstellungen, die die Sozialdemokratische Partei von der Planbarkeit unserer Wirtschaft und Gesellschaft hat. Es ist sicher das politische Dokument mit der größten Ansammlung von scheinbar rationalen Begriffen, das in den letzten Jahren produziert worden ist. Es sind regionale Wirtschaftsausschüsse, Planungsausschüsse, Planungsebenen, Planungsgruppen vorgesehen, und sie gehen alle von der Prämisse aus, daß es mit Hilfe unserer Wirtschaft und mit Hilfe der großen gesellschaftlichen Gruppen möglich ist, mittelfristige und langfristige Vorausschauen zu entwickeln und Handlungsanweisungen zu liefern, an denen man sich dann orientieren kann. Diese Prämisse ist falsch.
Graf Lambsdorff hat vorhin das Gutachten der Sachverständigen zu dem Thema „wirtschaftlicher und sozialer Wandel in der Bundesrepublik" angesprochen und gesagt, er halte nichts von diesem Gutachten. Ich bin anderer Meinung. Dieses Gutachten ist in zweierlei Hinsicht ein außerordentlich verdienstvolles Dokument. Es gibt zunächst einmal durch die hohe Zahl von Sondervoten einen Überblick darüber, worüber die großen gesellschaftlichen Gruppen übereinstimmen und wo nicht. Wir haben bisher eine solche Kompilation von Konsens und Dissens noch nicht gehabt. Darin liegt ein großer Wert. Aber der viel größere Wert in meinen Augen ist die Tatsache, daß es einer hervorragend besetzten wissenschaftlichen Kommission - mit der Vertretung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen - auch nach fünfjähriger Arbeit nicht gelungen ist, politische Handlungsanweisungen von kurz- oder mittelfristiger Natur für wirtschaftliches Handeln zu liefern. Dieses Gutachten hat den durchschlagenden Beweis dafür geliefert, daß die Planbarkeit der Wirtschaft nicht möglich ist.
({5})
- Wenn die verehrten Herren Kollegen von der Freien Demokratischen Partei der Meinung sind, daß man dafür keine Gutachten brauche, dann hätte ich mich gefreut, wenn sie bei ihren politischen Überlegungen - und wenn ich richtig unterrichtet bin, treffen sie ja Ihre Koalitionsentscheidungen ausschließlich unter Sachgesichtspunkten -,
({6})
wenn sie bei ihren politischen Überlegungen zu der Frage der Affinität dieser liberalen Partei im Kräftefeld der größeren Parteien auch konkrete Aussagen zu solchen Problemen in Richtung Sozialdemokratischer Partei gemacht hätten. Denn wenn ich Ihre Einlassungen richtig verstehe, fühlen Sie sich aus sachpolitischen Gründen im Bündnis mit der Sozialdemokratischen Partei am richtigen Ort. Die Sozialdemokratische Partei hat sehr klare Äußerungen dazu gemacht, was sie für Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaft hat. Sie müssen sich an Ihren Taten messen lassen, nicht an den hervorragenden Reden, die Graf Lambsdorff hält.
({7})
Ein ordnungspolitisches Problem erster Klasse
- und damit will ich diesen Bereich verlassen -, was im Programm der Sozialdemokratischen Partei und diesmal auch in den Wahlaussagen angesprochen ist, ist die Forderung nach der Anmeldung größerer Investitionen. Man hat ja - darauf hat der Bundeskanzler und darauf haben andere immer wieder hingewiesen - auf die Forderung nach Investitionslenkung verzichtet.
({8})
- Die Stahlindustrie - darf ich Sie daran erinnern - ist paritätisch mitbestimmt.
({9})
Wir sollten, wenn wir schon über die Stahlindustrie und über deren Investitionslenkung sprechen, was ich sofort tue, mal untersuchen, welche Zusammenhänge zwischen der paritätischen Mitbestimmung und dieser Lenkung bestehen.
({10})
Diese Investitionslenkung will man nicht mehr durchführen. Statt dessen hat man gesagt: wichtige Investitionen müssen angemeldet werden. Diese Anmeldung wird als eine Vergrößerung der Transparenz marktwirtschaftlicher Entscheidungen dargestellt. Meine Damen und Herren, ich halte die verehrten Kollegen aus dem sozialdemokratischen Lager, die sich so etwas ausdenken, für viel zu intelligent
({11})
- bitte sehr! -, ({12})
als daß sie nicht wüßten, welche konkreten Wirkungen ein solches Investitionsanmeldeverfahren hat. Die Wirkungen sind so, daß natürlich eine Anmeldestelle eingerichtet werden muß und daß die Anmeldung nur einen Sinn hat, wenn sie öffentlich ist. Es ist selbstverständlich, daß die Investitionsvorhaben so rechtzeitig angemeldet werden müssen, daß diejenigen, die die Anmeldung zur Kenntnis nehmen sollen, noch ihre eigenen Entscheidungen danach ausrichten können. Das gilt sowohl für die Kreditwirtschaft wie für die Konkurrenz. Ein solches Anmeldeverfahren in einem bestimmten Markt hat die zwangsläufige Folge, daß diejenigen, die anmelden, vorher bei ihren Konkurrenten umfragen, ob sie auch etwas anmelden, und daß sie dann, wenn die Konkurrenten feststellen, hier will jemand etwas anmelden, eine Verständigung darüber herbeiführen, wer was anmeldet.
Das Verfahren hat die weitere notwendige Konsequenz, daß die Kreditgewährungsausschüsse in den
Großbanken auf Grund dieser Anmeldungen nur noch solche Investitionen finanzieren - und 75 bis 80 % unserer Investitionen werden durch Kredit finanziert -, die sie auf Grund der Gesamtanmeldungen für sinnvoll halten.
Meine Damen und Herren, diese Investitionsanmeldung führt zu einem gigantischen Investionskartell, und sobald dieses Kartell besteht, wird von der Sozialdemokratischen Partei aus Gründen des Allgemeinwohls seine Vergesellschaftung gefordert werden.
({13})
Dann haben Sie - wenn auch auf einem Umweg, und ich muß gestehen: sehr viel eleganter als durch den direkten Eingriff - genau das gleiche Ziel erreicht, und Sie haben - das darf ich Ihnen als Kartellrechtler sagen - einen Vorteil: Sie haben eine Lenkungsorganisation aufgebaut, an deren weiterem Betrieb in Zusammenarbeit mit der Bürokratie die betroffene Privatwirtschaft auf das höchste interessiert ist. Das heißt, Sie haben gewissenmaßen das Interesse der Privatwirtschaft für staatliche Planung eingespannt. Deshalb darf man das nicht staatliche Planung, sondern muß es vergesellschaftete Planung nennen, und das - kombiniert mit den Mitwirkungen der gesellschaftlichen Gruppen - gibt dann eben genau die Art von Kartell organisierter Gruppen, gegen die kein Kraut mehr gewachsen ist,
({14})
auch nicht mehr das einer demokratisch gewählten Regierung.
({15})
Meine Damen und Herren, Wirtschaftspolitik - und zwar freiheitliche Wirtschaftspolitik - im Gesamtzusammenhang bedeutet in unserer Sicht der Dinge ein Zusammenwirken zwischen Staat und Wirtschaft oder, breiter formuliert, zwischen Staat und Bürger in seinen Institutionen. Der zentrale Punkt, der uns in der ordnungspolitischen Debatte trennt, ist nicht die Frage, ob der Staat mitwirken soll - natürlich muß er mitwirken, er muß mitwirken durch die Steuergesetzgebung, durch die Sozialgesetzgebung, durch die Strukturpolitik, durch eine Fülle von Maßnahmen -, sondern die Frage, wie er mitwirkt, zu welchem Zweck er mitwirkt und wo er mitwirkt.
Das Zusammenwirken von Staat und Bürger im Bereich der Wirtschaftspolitik setzt voraus, daß der Staat, wenn er irgend etwas tut, das Handeln seiner Bürger und ihrer Einrichtungen und Institutionen wenigstens in etwa voraussehen kann, und daß für den Bürger das Handeln des Staates wenigstens in großen Zügen voraussehbar ist. Meine Damen und Herren, ein Zusammenwirken unter freiheitlichen Bedingungen ist nur möglich, wenn sich der Bürger in etwa darauf verlassen kann, welches das gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handeln des Staates und seiner Einrichtungen sein wird, und der Staat sich in etwa darauf verlassen kann, wie die Bürger sich verhalten, wenn er bestimmte Chancen eröffnet oder Hindernisse errichtet; im allgemeinen gesprochen: wenn er interveniert. Ohne ein solches „sich gegenseitig wenigstens in großen Zügen Aufeinander-verlassen-Können" ist eine freiheitliche Wirtschaftspolitik unmöglich.
Die Voraussetzung dafür, daß das so ist, ist eine gemeinsame, verpflichtende Ordnung. Ich muß hier, weil das seit vielen Jahren in der ordnungspolitischen Diskussion auf das heftigste umstritten ist, mit allem Nachdruck feststellen, daß die soziale Marktwirtschaft als eine Wirtschaftsordnung nicht eine Zweckmäßigkeitsordnung, sondern ein Teil unserer Rechtsordnung ist und daß der Staat und die Bürger, daß beide dieser Ordnung unterliegen. So wie in einer rechtsstaatlichen Demokratie sowohl die staatliche Gewalt wie die Bürger dem Gesetz unterworfen sind, so ist auch in der Wirtschaftsordnung der Staat, sind die Unternehmen, die Verbände und die Bürger der rechtlich geordneten Wirtschaftsverfassung unterworfen.
({16})
- Das will ich Ihnen sagen, wer das bezweifelt.
({17})
- Ich war bisher immer der Meinung, daß das Militär die Schule der Nation sei; aber wenn Sie das Parlament als die Schule der Nation ansähen, würde ich sagen, das ist ein sehr viel zweckmäßigerer Vergleich.
({18})
- Herr Kollege Wehner, ich hätte nie gewagt, Ihnen eine Vorlesung zu halten. Ich habe es mir immer als Ehre angerechnet, vor Ihnen reden zu dürfen.
({19})
- Wir sind halt sparsam, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich.
({20})
Die Voraussetzung dafür, daß dieses Zusammenwirken funktioniert, ist, daß die Wirtschaftsordnung glaubwürdig bleibt. Wenn sich der Staat aus den Bindungen an die Grundregeln der Wirtschaftsordnung befreit, um in beliebiger Weise handeln zu können - das ist genau das, was geschieht, wenn man die ordnungspolitischen Zusammenhänge auflöst -, dann verliert diese Wirtschaftsordnung auch ihren verpflichtenden Charakter gegenüber dem Bürger.
Sie können nicht in der Wirtschaft ein ordnungspolitisch zutreffendes Handeln erwarten, wenn die Regierung diese Ordnung in ihrem politischen Handeln und durch ihre Mehrheitsfraktionen ständig mit Füßen tritt.
({21})
Der Herr Bundeskanzler hat sich ja während des Wahlkampfs verschiedentlich darüber lustig gemacht, daß wir die Gewinnung und die Erhaltung des Vertrauens des Bürgers in die staatliche Wirtschaftspolitik als eine wichtige Voraussetzung für die Wiedergenesung unserer Wirtschaft und für die Erstarkung unserer Wirtschaftskraft bezeichnet haben. Mir beweist das ebenso wie die Regierungs304
erklärung, daß der Bundeskanzler sich der besonderen Bedeutung dieser ordnungspolitischen Verpflichtung der Wirtschaft gar nicht bewußt ist.
({22})
Er hat bei Karl Schiller gelernt, und er ist wie Karl Schiller ein ökonomischer Positivist.
({23})
Er hat aber in seiner Regierungserklärung immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß mehr Solidarität nötig sei. Solidarität womit denn? Ich kann doch vom Bürger zur Bewältigung schwieriger Aufgaben Solidarität nur verlangen, wenn ich im Bereich des Staates, des staatlichen Handelns, der staatlichen Autorität und der öffentlichen Einrichtungen die Bereitschaft vorlebe, Solidarität mit der gemeinsamen Ordnung zu üben.
({24})
Ich kann eben, Herr Bundesfinanzminister, die Steuermoral beim Bürger als eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer freiheitlichen Ordnung nur einklagen, wenn ich als Verwalter der öffentlichen Kassen mit der größten Peinlichkeit darauf bedacht bin, daß Steuergelder nicht verwirtschaftet oder veruntreut werden.
({25})
Wenn aber dieser ordnungspolitische Zusammenhang gefährdet wird, meine Damen und Herren, dann tritt etwas ein, was wir heute in allen Bereichen unserer Gesellschaft erleben: Die Bürger verhalten sich nicht mehr im Rahmen der Ordnung, die Bürger brechen aus der Ordnung aus, und der Staat muß deshalb immer mehr reglementieren. Der Staat gibt einen Anreiz zu Investitionen, und dann wundert sich die Regierung, daß die Leute nicht investieren. Sie investieren nicht deshalb nicht, weil sie kein Geld hätten, sondern sie investieren deshalb nicht, weil sie der Sache nicht mehr trauen.
({26})
Sie trauen der Sache nicht mehr. Ich darf Karl Schiller zitieren. Er sagte: Wir können die Pferde zur Tränke führen, aber saufen müssen sie selbst.
Die Pferde, die jetzt wieder mit Investitionshilfen an die Tränke geführt werden sollen, saufen eben nur, wenn sie dem Gebräu trauen, was da in der Tränke drin ist.
({27})
Wenn sie aber in langer Erfahrung - jetzt schon mehrere Jahre - immer wieder feststellen mußten, daß der Genuß der Flüssigkeit in der Tränke nachhaltige Schwierigkeiten in der einen oder anderen Richtung auslöst, dann ist die Zurückhaltung gerechtfertigt und von der Einstellung der Betroffenen her auch vollkommen verständlich.
({28})
Nur, die Regierung darf sich nicht wundern, wenn
jetzt plötzlich traditionelle marktwirtschaftliche Mittel versagen. Sie versagen deshalb, weil die Spielregeln nicht eingehalten worden sind.
({29})
- Aber nur bestimmte Personen, wie wir ja wissen.
({30})
Dieses Versagen, meine Damen und Herren, führt nun zu einer immer stärkeren staatlichen Einwirkung auf die Wirtschaft: Wird nicht investiert, weil das Vertrauen fehlt, kommt die Forderung nach gelenkten Investitionen. Wird nicht freiwillig gehandelt, kommt die Forderung nach Reglementierung. Und so überzieht dieses staatliche Eingreifen bisher freiheitliche Bereiche, die Wirtschaft und die Gesellschaft.
Es war der Bundeskanzler selbst, der in seiner Regierungserklärung die Verbürokratisierung der Gesellschaft beklagt hat. Er hat ja das mit großer Leidenschaft vorgetragene Beispiel der Gasrechnung gebracht.
({31})
- Das des Gehaltszettels auch. - Ich glaube, jeder, der einmal einen Handwerksbetrieb von innen gesehen hat, weiß, daß die Gasrechnung und der Lohnzettel noch eines der wenigst problematischen Dokumente in diesem Bereich sind.
({32})
Wenn ein Handwerksmeister heute zwei hauptberuflich tätige Berater beschäftigen muß, um die Gesetze zu verstehen, die er beachten muß, wenn er Mitarbeiter beschäftigt und wenn er seine Steuererklärung ausfüllt, dann ist auch das ein Hindernis für die Gründung neuer, selbständiger Existenzen, und zwar ein erhebliches.
({33})
Diese Verbürokratisierung, meine Damen und Herren, hat eine Fülle von Konsequenzen. Ich kann auf sie nicht alle eingehen, sondern möchte nur drei erwähnen. Die erste Konsequenz ist die, daß die Bürger in unserem Lande ihre Intelligenz, ihre Innovation, ihren Erfindungsgeist immer mehr darauf richten, die Bürokratie zu unterlaufen. Das heißt, sie verwenden immer mehr Energie darauf, sich gegenüber einem überwuchernden System zu behaupten, statt produktive Tätigkeiten auszuüben.
({34})
Immer mehr Leistungen werden in unserer Gesellschaft im Gesinne der Gesamtproduktion fehlgeleitet, weil wir ein dauerndes Wettrennen, z. B. zwischen der Finanzverwaltung und dem steuerberatenden Beruf, haben, wobei Sie an den Honoraren der steuerberatenden Berufe ablesen können, in welchem Umfang die steuerberatenden Berufe der Finanzverwaltung voraus sind.
({35})
Diese Konkurrenz ist keine produktive Konkurrenz mehr, sondern sie ist die Konsequenz einer zunehmenden Verbürokratisierung unserer Gesellschaft und - volkswirtschaftlich gesehen - eine FehlDr. Biedenkopf
allokation von Ressourcen, d. h. eine Verschwendung volkswirtschaftlicher Mittel.
({36})
Eine zweite Konsequenz des Verlustes der ordnungspolitischen Orientierung ist - ich habe es vorhin schon angedeutet -, daß die Lösung von Verteilungsproblemen immer mehr auf die gesellschaftlichen Gruppen übergeht und die Verteilungsfragen, die ja so dringlich sind, gerade unter dem Gesichtspunkt des Wandels, von dem Graf Lambsdorff gesprochen hat, in erster Linie nicht mehr von den staatlichen Autoritäten, sondern von den gesellschaftlichen Gruppen entschieden werden. Daß die gesellschaftlichen Gruppen jetzt aber nach ihren eigenen Interessen handeln, liegt in der Natur der Sache. Wenn Herr Kluncker im Fernsehen erklärt -ich glaube, es war am 3. Januar in der Sendung „Monitor" -, daß es seine Aufgabe sei, zunächst einmal die Interessen seiner Mitglieder bei einem enorm bedeutsamen Verteilungskonflikt zu vertreten, der ja tief in die öffentlichen Kassen greift, dann gibt er sein Selbstverständnis einer Organisation wieder, die eben nicht mehr von einer politischen Führung in einen ordnungspolitischen Zusammenhang eingebunden ist, sondern allenfalls noch aus Gründen der eigenen Räson auf die öffentliche Meinung hört.
({37})
- Die Schlußfolgerung daraus will ich Ihnen sagen.
({38})
- Ach, Verbändegesetz, das würde Ihnen so passen. Es gibt eine viel wichtigere Schlußfolgerung: daß nämlich die Regierung in ihrer Regierungserklärung etwas dazu sagt, wie diese Verteilungskonflikte unter Gesichtspunkten des Allgemeinwohls gelöst werden müssen,
({39})
und damit, verehrter Herr Kollege, genau das tut, was nach dem ja auch von Ihnen mitgetragenen Stabilitätsgesetz vorgesehen war, nämlich den autonomen Sozialpartnern Orientierungsdaten zu geben, an denen sie sich - Sie haben das Gesetz mit beschlossen ({40})
orientieren können, wenn sie ihre Autonomie in Anspruch nehmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?
Bitte schön.
Herr Kollege Professor Biedenkopf, das, was Sie fordern, ist ja gar nicht das eigentliche Thema. In der Konzertierten Aktion
werden solche Erwägungen ja durchaus angestellt und Hinweise gegeben.
({0})
Ich muß Sie fragen: Kommen Sie, wenn Sie ausdrücklich die Forderung einer Gewerkschaft als Beispiel nennen und die Schlußfolgerung ziehen, der Staat müsse diese Organisation in eine Ordnung
- in welche auch immer - nehmen, nicht haarscharf an die Grenze heran - vielleicht gehen Sie sogar schon über die Grenze hinweg -, wo die Tarifautonomie angetastet würde?
({1})
Aber ich bitte Sie! Ich erinnere Sie daran, daß in der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt ausdrücklich die Feststellung enthalten war, er trete für die Tarifautonoime ein, aber nur für eine am Allgemeinwohl orientierte Tarifautonomie. Dies hat der Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht. Ich stimme dieser Feststellung zu. Diese Feststellung bleibt allerdings völlig leer, wenn die Regierung nicht zum Ausdruck bringt, was nach ihrer Auffassung das Allgemeinwohl ist. Es ist eine Leerformel und damit wiederum eine Vermeidung von Verantwortung im Sinne der politischen Führung, wenn man so etwas zwar in der Regierungserklärung sagt, aber nicht danach handelt.
Sie fragen nach Alternativen. Wir halten eine Reihe von Maßnahmen - ich will sie abschließend kurz aufzählen - für dringend erforderlich, um das zu gewinnen, was ich einen ordnungspolitischen Neubeginn nennen möchte.
Erstens. Es ist unerläßlich, daß wir - und zwar an Hand jedes Gesetzes, das dieses Hohe Haus erreicht und in diesen Bereich fällt - wieder die Diskussion über die Fragen aufnehmen: Welches sind die zutreffenden Aufgaben des Staates? Wo sollte der Staat nicht eingreifen?
({0})
Wir haben uns angewöhnt, in allen Bereichen der Gesellschaft nach dem Staat zu rufen, wenn die Problemlösung Schwierigkeiten bereitet.
({1})
- Ich nehme niemanden von diesem Ruf aus. Der Staat ist dieser Aufforderung nach meiner Auffassung zu häufig nachgekommen und hat sich damit in einer Weise ausgebreitet, die nicht nur zu bürokratischen Überlastungen auf Gebieten geführt hat, wo private Initiative oder Dezentralisation wesentlich besser funktionieren. Diese Ausdehnung des staatlichen Wirkens hat vielmehr auch dazu geführt, daß der Staat seine eigentlichen Aufgaben nicht mehr ordnungsgemäß erledigen kann. Vorhin ist der Präsident des Bundes der Steuerbeamten schon einmal zitiert worden. Sie brauchen nur einmal die seit Jahren vorgetragenen Klagen dieses Mannes über die zunehmende Ineffizienz der Steuerverwaltung nachzulesen, um einen sehr dramatischen Fall des zu306
nehmenden Versagens staatlicher Leistungen zu haben.
Wir müssen zweitens darum bestrebt sein, die Dezentralisation unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu fördern und voranzutreiben.
Ich stimme der Feststellung in der Regierungserklärung zu, daß das Wettbewerbsrecht fortgeführt werden muß, allerdings mit dem Ziel der Sicherung eines wirklich freien Wettbewerbs.
Was die Forschungspolitik anbetrifft, so sehe ich - wie Graf Lambsdorff - die Gefahr eines Mißbrauchs. Vor allem aber sehe ich die Gefahr, daß die Forschungspolitik vom zuständigen Ministerium zunehmend auch als Strukturinstrument benutzt wird, und zwar zum Nachteil kleiner und mittlerer und zum Vorteil großer Unternehmen.
({2})
Wenn die Bundesregierung Mittel für Forschung im privatwirtschaftlichen Bereich zur Verfügung stellt, so muß erwogen werden, ob die aus solcher öffentlich finanzierten Forschung resultierenden Erfindungen, soweit sie Patentschutz genießen und erlauben, nicht auch in einer Weise Dritten zur Verfügung gestellt werden können, die zumindest anders als in den Fällen gestaltet ist, in denen es sich um privatwirtschaftlich finanzierte Erfindungen handelt.
({3})
Wir müssen weiter - ich habe es in meinen Ausführungen schon gesagt - die Möglichkeiten für Initiativen und Innovationen erweitern. Dies gilt wiederum insbesondere für den Mittelstand, für den Zugang zu unternehmerischer Tätigkeit und für Investitionen.
Was die Rationalisierungsinvestitionen anbetrifft, so halte ich jenen Streit für einen Streit mit falschen Waffen und an der falschen Front. Die Industrieunternehmen, die vor allem Rationalisierungsinvestitionen durchführen, sind zum großen Teil und werden auch in Zukunft zum überwiegenden Teil mitbestimmt. Ich kann Ihnen versichern, daß die mitbestimmten Unternehmen genauso Rationalisierungsinvestitionen betreiben wie alle anderen, weil sie - und zwar gerade die Arbeitnehmervertreter - vor der schwierigen Frage stehen: Sollen wir das ganze Unternehmen gefährden oder müssen wir zur Sicherung des Unternehmens auf Einschränkungen hinarbeiten? Das ist das Problem.
({4})
Meine Damen und Herren, die Regierung wird die Opposition gerade in ordnungspolitischen Fragen kooperationsbereit finden, wenn wir wirklich über Ordnungspolitik sprechen. Aber wir werden nicht bereit sein, einzelne kleine Schritte hier und dort singulär und isoliert zu diskutieren und darauf zu verzichten, nachzufragen und nachzubohren, welche Konsequenzen die Änderungen in den einzelnen Bereichen für die Gesamtordnung haben.
Nur eine solche Politik kann die Glaubwürdigkeit wiederherstellen, ohne die wir in diesem Land keine vernünftige Wirtschaftspolitik betreiben können.
({5})
Das Wort hat der Herr Bundeswirtschaftsminister Dr. Friderichs.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Ich will auf einige Aspekte der heutigen Debatte eingehen. Nach dem ganzen Nachmittag ist es sicher nicht möglich, alle Bereiche erschöpfend zu behandeln.
Herr Professor Biedenkopf hat sich soeben mit primär ordnungspolitischen Frage beschäftigt. Ich will den Teil der Rede, der - jedenfalls der Terminologie nach - etwas polemisch war, nicht behandeln, sondern auf die Ursachen zurückkommen.
Es geht um die Frage, Herr Professor Biedenkopf: Hat die Regierung eigentlich Auskunft über die ordnungspolitischen Grundlagen ihrer Politik gegeben, oder ist Ihre Behauptung, sie habe dies nicht getan, richtig? Sie haben diese Behauptung an den Anfang Ihrer Ausführung gestellt, um auf dieser Behauptung am Ende Ihr gesamtes Konzept aufbauen zu können, obwohl Sie mir zugeben müssen, daß in der Regierungserklärung Definitionen der Ordnungspolitik der Bundesregierung enthalten sind, und zwar die entscheidenden.
({0})
Es steht in dieser Regierungserklärung als ein vorrangiges Ziel - ich betone: als ein in diesem Augenblick vorrangiges Ziel; ich werde mich mit der Frage, ob es dauerhaft vorrangige Ziele gibt, sehr gerne beschäftigen - die Sicherung der Vollbeschäftigung, d. h. stetige stabilitätspolitisch abgesicherte Fortsetzung des Wachstumsprozesses. Dies ist Bestandteil der Regierungserklärung.
Wenn ich mich recht entsinne, steht in der Regierungserklärung an anderer Stelle, daß es darum gehe, die in diesem Staat bestehende Wirtschafts-
und Sozialordnung zu erhalten. Ich denke, dazu haben alle Fraktionen dieses Hauses beigetragen, daß diese Wirtschafts- und Sozialordnung in mühevoller Arbeit nach einem verlorenen Krieg aufgebaut worden ist. Das steht ausdrücklich in der Regierungserklärung.
Anschließend, Herr Professor Biedenkopf, wird auch definiert, was wir darunter verstehen, nämlich individuelle Entscheidungsfreiheit. Ich glaube, mit diesem Teil haben Sie sich befaßt. Warum haben Sie nicht gesagt, daß dies ein Programmpunkt dieser Regierung ist?
Ferner steht ein klares Ja zum Leistungsprinzip drin. Sie fordern es, nachdem Sie gesagt haben, die Regierung sage nichts, obwohl es drinsteht und obwohl ich Ihnen zutraue, daß Sie es auch gelesen haben.
Und es steht das Bekenntnis zum Privateigentum als einer der Grundlagen dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in der Regierungserklärung.
Herr Professor Biedenkopf, es geht weiter: Es steht als nächstes das Ziel einer öffentlichen Infrastruktur drin - hier ist unmittelbar staatliches Handeln geboten, auch in einem föderativen Staat -, die so gestaltet werden muß, daß sie ihrerseits die Voraussetzungen - nicht den Ersatz - von Wachstum und Lebensqualität mit sich bringt.
Herr Professor Biedenkopf, in der Regierungserklärung steht das Ziel, die soziale Sicherung der Menschen in diesem Lande weiterzubetreiben.
Aber es geht noch weiter bei der Ordnungspolitik. Diese Regierungserklärung befaßt sich im außenwirtschaftlichen Bereich, nämlich dort, wo sie sich mit weltwirtschaftlichen Problemen beschäftigt, auch mit ordnungspolitischen Fragen. Der Bundeskanzler hat vor diesem Hause gesagt: Wir erstreben eine marktwirtschaftlich orientierte Gestaltung der Weltwirtschaft.
Daß wir nicht allein auf der Welt sind, wissen Sie so gut wie wir. Daß es dabei Balancen geben wird und daß wir dabei mit Machtstrukturen und mit einer neuen amerikanischen Administration zu rechnen haben, ist ja wohl niemandem hier verborgen geblieben.
Diese Regierungserklärung hebt auch Notwendigkeit und Bedeutung einer baldigen Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen hervor, wenn Sie so wollen, Herr Biedenkopf, des Grundgesetzes der Wirtschaftsordnung, in der wir leben.
Es geht weiter. Sie befaßt sich - aus bestimmten Gründen an einer anderen Stelle - auch mit der Frage der Strukturpolitik. Auch dort steht eindeutig, daß es sich um eine marktkonforme Strukturpolitik handelt, und zwar, Herr Professor Biedenkopf, flankierend zu Wettbewerbs- und Globalpolitik. Ich dachte, es bestünde nun aber auch in Ihren Reihen Konsens darüber, daß nach der Phase der Wettbewerbspolitik in den fünfziger Jahren und der Phase einer Verbesserung des globalen Steuerungsinstrumentariums dieses Staates in den sechziger Jahren
- ausgeformt im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
- wir auch ja dazu sagen müssen, daß dazu ebenso eine über Marktkräfte gesteuerte, aber vom Staat zukunftsorientiert flankierte Strukturpolitik gehört.
Das ist der ordnungspolitische Handlungsrahmen, der in der Regierungserklärung abgesteckt worden ist. Herr Professor Biedenkopf, ich gebe Ihnen einen guten Rat: Lesen Sie einmal die Regierungserklärungen der letzten Bundeskanzler der Christlich-Demokratischen Union nach und prüfen Sie bei Herrn Kiesinger, ja selbst bei Ludwig Erhard nach, ob so viel an Detail und an ordnungspolitischen Eckdaten je in einer Regierungserklärung enthalten war, wie in der des Bundeskanzlers, der hier gewählt worden ist.
({1})
Lassen Sie mich auch ein offenes Wort zu der Frage „Investitionen und Meldung" sagen. In der
Regierungserklärung steht ein „Ja" zu einer größeren Transparenz, insbesondere auch in bezug auf die öffentlichen Investitionen. Ich bin in der Tat dieser Meinung, denn es ist doch kein Geheimnis, daß es ein Nachteil unseres föderativen Staates ist, daß der Gesamtstaat - jedenfalls was die Zentralregierung angeht - einen zeitnahen Überblick über die öffentlichen Investitionen der drei Ebenen der Gebietskörperschaften eben nicht hat. Es ist doch wohl unbestritten, daß ein Teil der öffentlichen Gebietskörperschaften im Jahre 1975 und im Jahre 1976 eine im Grunde genommen konterkarierende Politik betrieben hat. Sie können auch sagen: Ein Teil hat mit einer deflatorischen Politik unsere eigenen Konjunkturprogramme bis zu einem gewissen Grade wieder ausgeglichen. Wir wissen das erst nachher, weil wir eben einen zeitnahen Überblick über die öffentlichen Investitionen nicht haben bei der Form der gesamtstaatlichen Strukturierung, wie wir sie in diesem Lande haben. Da muß man sich wirklich fragen, ob sich die zweitgrößte Industrienation der westlichen Welt im staatlichen Bereich - ich konzentriere mich auf den staatlichen Bereich - eine solche Nicht-Transparenz wirklich mit Verantwortung leisten kann. Ich meine, nein!
Nun haben Sie dargelegt, daß die Regierung die Dinge auf gesellschaftliche Gruppen verschiebe. Sie haben Ihre Philosophie ausgeformt, die uns ja nicht erst aus diesem Hohen Hause bekannt ist, sondern aus einer Reihe von Veröffentlichungen, mit denen es lohnt, sich zu beschäftigen.
Ich gebe Ihnen auch darauf eine klare Antwort: Nicht alle Verantwortung hat der Staat. Dies ist in der Regierungserklärung gesagt. Ein Teil der Verantwortung wird auch von autonomen gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen. Wenn Sie mich fragen, wo im ökonomischen Bereich denn die Grenzen für Staat und Autonomie liegen, dann lassen Sie mich so antworten: Meines Erachtens kommt es auf eine ausgewogene Rollenverteilung zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen an. Wenn ich, was die wichtigsten Punkte im Ökonomischen betrifft, gefragt werde, wer für was zuständig und verantwortlich ist, dann sage ich: Die Bundesbank trägt doch sicher eine primäre Verantwortung für die Geldwertstabilität. Das steht im Bundesbankgesetz. Sie hat durch ihre Geldmengenpolitik dieses Ziel nach meiner Meinung angestrebt und weitgehend auch verwirklicht.
Parlament und Regierung, also wir hier gemeinsam schaffen durch unsere Politik auf mittlere und längere Sicht Voraussetzungen für hohen Beschäftigungsstand und angemessenes und - ich unterstreiche das - auch qualitatives Wachstum. Ich meine also nicht das quantitative Wachstum allein, sondern ich meine es auch eingebunden in die Lebensbedingungen, auch in die ökologischen Bedingungen eines dicht besiedelten Industriestaats. Das ist die Kompetenz von Regierung und Parlament.
Wir tun dies - das ist eine weitere Bedingung - durch die Gestaltung der Wirtschaftsordnung, nämlich mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Verehrter Herr Professor Biedenkopf, da werden Sie mir wohl zustimmen: An meinen
Freunden und mir hat es doch nicht gelegen, daß die Fusionskontrolle in diesem Parlament dreimal gescheitert ist; das wissen Sie genauso gut wie ich. Es war der Kardinalfehler des Gesetzes von 1957, daß die Fusionskontrolle nicht darin enthalten war und daß man den mittleren und kleineren Unternehmen, um die Sie sich so besorgt geben, die Kooperationsmöglichkeiten in diesem Gesetz eben nicht geschaffen hatte. Dreimal war die Fusionskontrolle gescheitert; jetzt haben wir sie.
({2})
Ich gebe zu - und ich bin sehr glücklich darüber -, daß es am Ende gelungen ist, dieses Gesetzeswerk mit den Stimmen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages zu novellieren. Hoffentlich gelingt uns dies jetzt noch einmal.
Der nächste Verantwortungsbereich des Staates ist die Globalsteuerung; das sind die Beschlüsse über die Fiskalpolitik. Aber auch hier müssen wir offen zugeben, daß die Einflußgröße des Zentralstaates bei der Fiskalpolitik angesichts unserer föderativen Gliederung weit hinter der Wirkungsmöglichkeit von zentralstaatlichen Systemen zurückbleibt. Ich bin kein Zentralist - ich sage das, damit es klar ist -, ich bin ein Anhänger des föderativen Systems. Nur wird im Jahre 1977 doch die Frage erlaubt sein, ob das föderative System mit seinen Zuständigkeiten, seinen Steuerverteilungssystemen den an uns von außen herangetragenen Anforderungen der Ökonomie, der Gesellschaftspolitik, der Technologie wirklich noch gerecht wird.
Wir müssen auch offen die Frage stellen, ob das, was man erfunden hatte, um das Problem zu lösen, nämlich die Gemeinschaftsaufgabe, z. B. in der regionalen Strukturierung, den Anforderungen wirklich gerecht wird, die in einem modernen Industriestaat an diesen Bereich der Politik gestellt werden.
({3})
Die Gebiete sind also: Wettbewerb, Wirtschaftsordnung und damit Globalsteuerung, Fiskalpolitik und - ich füge hinzu - eine ergänzende strukturpolitische Initiative, sei sie nun einmal regionalpolitischer Art - Versuch der Gemeinschaftsaufgabe und ähnlicher Dinge - oder sei sie sektoraler Art, insbesondere in Bereichen mit fast infrastrukturellem Charakter, wie es doch weiß Gott bei der Energiepolitik der Fall ist.
Aber, Herr Biedenkopf, ich stehe hier und sage ganz klar, daß den Tarifvertragsparteien auch eine verantwortungsbewußte Mitwirkung bei der Gestaltung stabilitätsgerechter gesamtwirtschaftlicher Geschäftsgrundlagen zukommt.
({4})
- Na gut. Das alles ist gesagt. Das haben übrigens nicht wir in Frage gestellt, sondern Sie haben permanent unter Bezug auf Äußerungen außerhalb der Bundesregierung den Versuch unternommen, dieser Bundesregierung zu unterschieben, daß sie nicht mehr auf den Eckwerten dieser Gesellschaftsordnung stünde; anders ist Ihre Rede jedenfalls nicht zu verstehen.
({5})
Denn, Herr Biedenkopf, wenn in der Regierungserklärung zur Investitionslenkung oder Investitionsmeldung nichts steht, dann ist dieses Nicht-Drinstehen eben auch eine Aussage; das wissen Sie sehr genau. Sonst wäre es ja wohl gefordert worden.
Ich möchte etwas nicht unerwähnt lassen. Als ich gestern erfuhr, Sie würden heute erstmals im Deutschen Bundestag das Wort ergreifen, habe ich natürlich mal ein bißchen nachgelesen. Und so habe ich vor mir einen Aufsatz von Ihnen vom 10. September 1968 liegen. Darin beschäftigen Sie sich mit dem ganzen Problem.
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- 1968! Damals stellte die Partei, der Sie angehören, den Bundeskanzler. Da haben Sie über die Überlagerung staatlicher Verantwortung auf die gesellschaftlichen Gruppen geschrieben - im „Betriebsberater" vom 10. September 1968. Alles, was heute hier als Problem - dieser Kanzler und diese Regierung entzögen sich staatlicher Verantwortung - vorgetragen wurde, haben Sie unter Kurt Georg Kiesinger zu Papier gebracht. Ich habe das hier; das kann ich Ihnen alles vorlesen.
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- Moment; es geht weiter!
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In einem interessanten Punkt haben Sie Ihre Meinung offensichtlich geändert, oder ich habe Sie falsch verstanden. Damals haben Sie die Konzertierte Aktion als Einrichtung sehr kritisch beleuchtet. Sie haben sehr kritisch die Frage gestellt: Paßt sie eigentlich in dieses verfaßte Ordnungssystem hinein, oder wird hier nicht auch diese Verantwortung überlagert? Ich frage Sie: Wie ist das mit Ihrer heutigen Bemerkung zu den Orientierungsdaten zu vereinbaren? Denn diese Orientierungsdaten sind natürlich in jedem Jahr gegeben worden, und sie sind in jedem Jahr mit der Konzertierten Aktion erörtert worden.
Zu einem war ich nicht bereit: der Forderung des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, Stoltenberg, - auch schriftlich niedergelegt, ich habe es dabei - nachzukommen, der nämlich dafür plädiert hat, diese Orientierungsdaten der Konzertierten Aktion müßten ein höheres Maß an Verbindlichkeit erhalten. Da habe ich - ich glaube, mit Ihnen übereinstimmend - gesagt: Nein; das ist genau der Freiraum, den die Tarifvertragsparteien in unserem System haben und nach meiner Vorstellung eines freiheitlichen, demokratischen, sozial verpflichteten Rechtsstaats auch behalten müssen.
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Und nun fragen Sie: Wie ist denn eigentlich die Vorstellung dieser Regierung von zukünftigen Verteilungen? „Verteilungen" kann doch wohl nur bedeuten: Wie soll das Sozialprodukt, das immer 100 O/o beträgt, von welchen Gruppen in Anspruch genommen werden, und welche Rolle spielt dabei die Regierung? Nun, der Staat oder, viel richtiger gesagt, Sie, meine Damen und Herren, entscheiden
unmittelbar über jenen Anteil des Sozialprodukts, den der Staat für sich selbst in Anspruch nimmt. Aber sind Sie wirklich der Meinung - dann wären wir in einem ordnungspolitischen Grunddissens, was ich bis jetzt nicht geglaubt habe -, es sei die Aufgabe der Regierung, Vorstellungen über die Verteilung des Sozialprodukts in die Zukunft hinein festzuschreiben?
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- Ich bitte um Entschuldigung. Dies ist nun wirklich die Aufgabe des Marktes, um die Verteilung des Sozialprodukts -
- ({11})
- Dann habe ich das alles falsch verstanden. Ich bitte um Entschuldigung.
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- Es ist ja hervorragend, und ich bin ja sehr froh, wenn Sie schon wieder der Bundesregierung zustimmen, daß wir auch in der Frage der Verteilung des Sozialprodukts im Prinzip derselben Meinung sind. Okay? Man kann ja auch mal etwas mißverstehen. Aber ich lese das Protokoll sehr genau nach.
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- Ich bitte um Entschuldigung. Sie werden mir nicht unterstellen, daß ich so wie Herr Biedenkopf behauptet habe, Dinge, die in der Regierungserklärung stehen, stünden nicht darin. Ich habe mich bis jetzt wirklich mit seinen Ausführungen befaßt. Das müssen Sie mir zugestehen.
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Und nun lassen Sie mich noch ein Wort zu der von Ihnen gegebenen Transferenquete sagen. Das war gekonnt gemacht. Aber Herr Biedenkopf, Sie wissen doch selbst - ich hoffe es wenigstens -, daß die in der Bundesrepublik Deutschland unter allen bisherigen Bundesregierungen - ich sage: allen - vorhandenen Erkenntnisse und Statistiken uns einen wirklichen Aufschluß über die Gesamtproblematik der Transfer-Einkommen, den wir brauchten, nicht geben. Das wissen Sie.
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- Moment! Ich sage Ihnen das gleich. Ich habe in der Konzertierten Aktion seit drei Jahren Verhandlungen geführt, um nur ein einziges Ziel zu erreichen, nämlich die volkswirtschaftliche Restgröße „Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen" auseinanderzurechnen, weil sie bei jeder Tarifverhandlung eine essentielle Rolle spielt und weil wir bis heute nicht wissen, wie sich in dieser Restgröße die Unternehmereinkommen und die Einkommen aus Vermögen verteilen.
Und nun will ich Ihnen etwas sagen: Glauben Sie denn, ich käme mit einem Statistikgesetz dieser Art
jemals über die Hürde des Bundesrates? Der letzte Versuch, die Statistik in einigen Sektoren der Wirtschaft zu verbessern, ist ebenfalls fehlgeschlagen, weil die Länder gesagt haben, diese unwahrscheinlichen Kosten der statistischen Erhebung könnten sie einfach nicht aufbringen; so der Bundesrat vor etwa eineinhalb Jahren.
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- Das wissen Sie sehr wohl, der Sie den Zwischenruf machen: Warum macht ihr es nicht? Sie müßten doch wohl als früherer leitender Mitarbeiter eines bedeutenden Industrieunternehmens wirklich wissen, daß Sie, wenn Sie diese Statistik - ich nehme nur diese eine - zeitnah für die Tarifpolitik zur Verfügung haben wollen - und beide Tarifparteien wollen es -, für die gesamte deutsche Wirtschaft zu Quartalsberichten übergehen und die Buchhaltung aller Konzerne und aller Unternehmen umwandeln müßten, um endlich auch herauszubekommen, was wirkliche Unternehmereinkommen sind und was in diesen Einkommen Einkommen aus Vermietung und Verpachtung ist. Wir haben das in der Konzertierten Aktion diskutiert. Ich will es, aber mit Ihren Herren - das werden Ihre Länderfinanzminister auch zugeben - geht es nicht. Das soll in diesem einen Punkt geklärt werden.
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Zur Transfer-Enquete: Lassen Sie mich den Punkt, weil er heute morgen eine Rolle gespielt hat, erwähnen. Wenn Sie in meinem Ministerium Akten aus den Jahren 1956 und 1957 lesen, werden Sie feststellen, daß es gar kein Geheimnis ist, daß innerhalb der Unions-Parteien - verständlicherweise - bei der Einführung der jetzigen Rentenformel eine Diskussion stattgefunden hat. Es ist doch gar kein Geheimnis, daß der von mir sehr verehrte damalige Bundeswirtschaftsminister, Professor Ludwig Erhard, gegen diese Formel erhebliche Bedenken hatte, weil er befürchtet hat, sie entwickle sich entweder rechtlich oder faktisch zu einer automatischen Indexierungsformel auf der Basis des Bruttolohnsystems bei der Anpassung. Das können Sie alles nachlesen. Andere haben damals gesagt: Nein, wir sind in unserer Entscheidung frei.
Da der Staat auch hier Transferleistungen leistet, werden Sie mir doch zugeben, daß schon damals Ansätze für Transferleistungen vorhanden waren, die eben nicht von vornherein in ihrer tatsächlichen Entwicklung überschaubar waren. Das ist doch kein Vorwurf, den ich mache, das ist einfach eine Selbstverständlichkeit. Und so ist es den Bundesregierungen in der Zeit danach auch gegangen.
Ich halte es für einen Nachteil, daß wir heute nicht wissen, wie sich das Haushaltseinkommen des einzelnen Haushalts wirklich zusammensetzt. Wir orientieren uns permanent an tariflich fortgeschriebenen Einkommen, ohne die wirklichen Einkommenssituationen einer Vielzahl von Haushalten in310
nerhalb der staatlichen Transfermöglichkeiten zu kennen. Das ist doch unbestritten.
({18})
Da kann man es sich doch nicht so billig machen und fragen: Warum habt ihr es denn nicht gemacht? Die Regierung, die vor uns dran war, hat es auch nicht gehabt. Und Transfereinkommen gab es damals auch. Oder haben Sie die Sparförderung nicht mit eingeführt? Wenn ich mich recht entsinne, ja: 312 DM-Gesetz. Ich kann Ihnen eine Fülle von Gesetzen nennen: Wohnungsbauförderung, Wohnungsbauprämie, Kindergeld, Studienförderung. Das alles sind doch staatliche Transferleistungen, die Sie zu einem erheblichen Teil nicht nur mit beschlossen, sondern zum Teil sogar initiiert haben. Der Vorwurf greift doch nun wirklich nicht. Was soll das denn? Ist es angesichts der Größenordnung dieser Transferleistungen nicht einfach an der Zeit, darüber zu sprechen und es zu prüfen?
Ein bißchen einfach, finde ich, haben Sie sich den Teil Mittelstandspolitik gemacht. Denn ist es wirklich so, daß die Leute in den mittleren Unternehmungen alle sagen, dann gehen wir lieber gleich in den öffentlichen Dienst? Neulich bei der öffentlichen Diskussion über die Höhe der Diäten und der Ministergehälter kam jedenfalls ein Mitglied der Geschäftsleitung eines wirklich mittelständischen Unternehmens zu mir und sagte: Jetzt habe ich endlich einmal erfahren, was ein Bundesminister verdient; ich hätte nie geglaubt, daß Sie etwa bei einem Drittel meiner Bezüge liegen.
({19}) - Eines mittelständischen Unternehmens.
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- Herr Dr. Strauß, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß ich bis vor kurzem in den Genuß von Diäten nicht kam, daher nur meine zu versteuernden Bezüge als Bundesminister hatte. Nur in dieser Eigenschaft habe ich gesprochen. Ich beklage mich doch gar nicht, nur muß man doch die volle Wahrheit sagen. Sie müssen doch auch zugeben, daß ein Großteil der mittelständischen Unternehmen sich gerade in den letzten zwei Jahren im Markt viel flexibler bewegt hat, als es ein Teil der Großunternehmen gekonnt hat. Wir stimmen doch in Grundfragen, wie ich hoffe, überein.
Die Regierungserklärung hat gesagt: Wegen des Mittelstandes - weswegen denn sonst? - gehen wir in der Steuerpolitik bei den ertragunabhängigen Steuern vor und nicht bei denen, die uns z. B. der Sachverständigenrat aus wachstumspolitischen Gründen empfohlen hatte, nämlich bei der Frage der Abschreibung. Ich sage das hier in aller Deutlichkeit, weil ich höre, daß Gerüchte verbreitet werden, die Bundesregierung bereite eine Investitionszulage vor. Ich erkläre hiermit vor diesem Hohen Hause: Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, eine Investitionszulage zu gewähren. Ich sage das deswegen, weil ich nicht will, daß sich - in Erwartung darauf - ein Investitionsattentismus breitmacht, den andere vielleicht herbeireden möchten.
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Was sie durchführen wird, ist ein mittelfristiges Investitionsprogramm, das der Bundeskanzler angekündigt und von dem er selbst gesagt hat, es habe mit einem kurzfristigen oder kurzatmigen Nur-Konjunktur-Anregungsprogramm nichts zu tun, sondern es sei ein Programm, das die Wachstumsvoraussetzungen für unsere Volkswirtschaft positiv beeinflussen solle. Das heißt, daß es in Bereiche der Infrastruktur geht - also nicht bloß Beschaffung ist -, sei es im Bereiche des Verkehrswesens, sei es aber auch im Bereiche der Ökologie oder der regionalen Struktur.
Ich bedaure, daß ich auf die Ausführungen des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein zur Kernenergie nicht mehr ausführlich eingehen kann. Ich hätte es wirklich gern getan; ich habe ihm das vorher auch gesagt. Denn hier gibt es eine ganze Menge - ich sage das hier in aller Klarheit -, wo ich mit ihm absolut übereinstimme.
({22}) Warum soll man das nicht sagen?
Ich weiß eines nicht, Herr Stoltenberg: ob die Form der Rede heute, die für mich die Gefahr heraufbeschwört, daß wir auch dieses Thema noch zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen machen, der Lösung des Problems genützt hat.
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Ich stelle das nur als Frage hin. Ich sage Ihnen hier: Ich teile die Meinung, die in der Regierungserklärung niedergelegt ist, daß die Bundesrepublik Deutschland auf Dauer auf die Nutzung der Kernkraft nicht verzichten kann. Ich habe das immer und unzweideutig gesagt.
Entgegen Ihrer Behauptung, Herr Abgeordneter Dr. Kohl, die Sie bei der Debatte über die Regierungserklärung im Dezember aufgestellt haben, habe ich auch nicht reichlich spät an Schleswig-Holstein geschrieben. Wenn Sie die Daten wissen wollen: Nachdem mich der dortige Kollege morgens um eine schriftliche Stellungnahme zur Vorlage bei Gericht gebeten hatte, hat er sie nachmittags um 14 Uhr gehabt. Nun war ich lange genug in einer Landesregierung, in der Sie Ministerpräsident waren, um zu wissen, daß alles das, was am selben Tag geschieht, auch unter Ihrer Regierung als relativ schnell anerkannt worden ist. Deswegen sollten Sie das auch hier anerkennen.
({24})
Das geschah also am selben Tag. Es hat sich auch niemand beschwert, weder der Ministerpräsident noch der Kollege. Nur Sie glaubten, diesen Schlenker anbringen zu sollen, der in dieser Frage überflüssig war.
Wir stehen doch bei der Kernenergie nach meiner Meinung vor einer Problematik, die nicht einfach quantitativ größer ist als bei der konventionellen Energie, sondern die in der Bevölkerung als ein qualitativ anderes Risiko empfunden wird. Das ist doch ein Faktum. Wir müssen doch den Versuch machen, dieses qualitative Risiko dort, wo es bestehen sollte, zu nennen und dann auch zu sagen:
hier geht Sicherheit vor allem anderen, auch vor Energie.
({25})
Wir müssen aber auch deutlich machen, wo dieses Risiko nicht besteht.
Lassen Sie mich hinzufügen: Wir müssen ebenso deutlich machen, was eigentlich die Alternative ist. Ich hätte beinahe noch etwas gesagt: Ich wünschte, jeder Bürgerinitiative, die ein Kraftwerk ganz oder vorübergehend verhindert, würde man unverzüglich zwei Kohlekraftwerke vor die Haustür bauen. Das wäre eigentlich die einfachste Methode, wenn sie volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich möglich wäre. Warum sage ich das? - Zwei Blöcke - Kohle - mit 700 MW haben bei 4 000 Arbeitsstunden im Jahr einen Auswurf von rund 20 000 t Schwefel. Es kommt dann noch einiges an Staub - selbst bei optimaler Filterung - hinzu. Trotzdem brauchen wir Kohlekraftwerke. Ich will damit sagen: Es gibt nicht die Chance, elektrische Energie ohne Beeinträchtigung der Umwelt zu erzeugen.
({26})
Wir müssen uns nur entscheiden, wie wir es verteilen, und deswegen wollen wir Kohlekraftwerke und Kernenergie haben. Ich finde es beachtlich, daß es die Gewerkschaft Bergbau und Energie war, die sich nicht vor den Wagen einer miesen Kohlelobby hat spannen lassen, sondern gesagt hat: Wir wollen ein klares Verstromungsziel bei Kohle haben; aber wir sind auch bereit, anzuerkennen, daß die Kernenergie der andere Bestandteil unserer Säule ist, wenn dieses Land Wachstum haben soll. Das ist die Voraussetzung.
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Ich spiele sehr mit dem Gedanken, ja ich neige sehr dazu, alternativ zur Fortschreibung des Energieprogramms, bei dem wir die Zahl der Kraftwerke verringern werden, den Versuch zu machen, wenn es geht, eine alternative Rechnung anzubieten darüber, was es bedeuten würde, wenn wir per 1985 auf die Nutzung der Kernenergie ganz verzichteten. Durch zwei Jahre Rezession haben wir ein Weniger an Stromverbrauch gehabt. Wir werden auch 1980 weniger Stromverbrauch haben, als es in der ersten Fortschreibung des Energieprogramms vorgesehen ist, so daß man diese korrigieren sollte, d. h. wir brauchen insgesamt weniger Kraftwerkskapazität; aber es wird ein beachtlicher Bestandteil bleiben. Man müßte in der Alternative sagen: Das bedeutet soundso viel Kraftwerke anderer Bauart. Dann müßten wir über die Standortprobleme miteinander sprechen; denn es ist wohl keine Frage, daß sie nicht hemmungslos allein im Ruhrgebiet gebaut werden können. Dann kommen Transportprobleme und neue Standortfragen. Dann kommt ein anderer Strompreis, und dann müßten die Kritiker sich aber auch die Gegenfrage stellen lassen, was sie eigentlich wegen der dadurch vernichteten Arbeitsplätze zu unternehmen gedenken, wie sie eigentlich das Wachstum in diesem Staat betreiben wollen, wenn sie schlicht und einfach nur „nein" sagen. Das und auch die Ordnungspolitik sind die Fragen, vor denen wir stehen, Herr Biedenkopf. Hierzu habe ich meine Auffassung jetzt klar gesagt.
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- Darf ich Sie nicht mehr anschauen?
({29}) - Danke.
Ich glaube, zur Energie sollte dies angesichts der bevorstehenden großen Debatte genug sein. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir in der öffentlichen Diskussion nur dann bestehen werden, wenn wir in der Frage der Entsorgung den Bürgern im Lande eine schlüssige Antwort zu geben in der Lage sind.
({30})
Anders hat das alles keinen Sinn, und hier sind wir auf das kooperative Verhalten eines Bundeslandes einfach angewiesen, weil ich in Deutschland eine andere Chance nicht sehe und weil ich Zweifel habe, ob eine Chance außerhalb der Republik eigentlich unserem eigenen langfristigen Interesse wirklich dient.
Wir haben hier immer alle gemeinsam gesagt: Chance zum Export haben wir nur mit technologisch hochwertigen Produkten, und Kernkraftwerke sind technologisch hochwertige Produkte. Aber es soll niemand glauben, daß der Schah von Persien, die Regierung von Spanien oder wer auch immer bereit wäre, noch ein deutsches Kernkraftwerk zu kaufen, wenn wir sagen: In unserem Lande bauen wir davon kein Stück mehr, weil sie uns zu gefährlich sind. Das ist doch wohl eine Selbstverständlichkeit. Wieviel hunderttausend Arbeitsplätze in etwa daranhängen, weiß hier wohl jeder. Das muß also so schnell wie möglich gelöst werden.
Lassen Sie mich zukunftsperspektivisch noch etwas hinzufügen. Lassen wir einmal die ganze Frage der OPEC, des Risikos und des Kartells weg: Es ist doch keine Frage, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit der Primärenergieträger Mineralöl früher quantitativ in der Welt zu Ende geht als andere Energieträger, und wir sollten uns auch auf diesen Tag vorbereiten. Der Schah von Persien sagte mir in dem letzten Gespräch: 28 Jahre haben wir noch 01. Das heißt: Wenn es zu Ende geht, wird es im Zweifelsfall wegen Verknappungserscheinungen auch progressiv teurer. Wir müßten also auch die Frage stellen: Wenn die endlichen Energien unterschiedlich verteilt und unterschiedlich schnell verbraucht werden, wo liegt denn dann das Interesse unserer Enkelkinder, wenn sie in diesem Lande weiterleben wollen? Das heißt: Welche Primärenergie, die ich heimisch habe, will ich eigentlich für den Tag anbieten können, oder, anders ausgedrückt, ist es nicht die primäre Aufgabe der Nuklearenergie, eine bestimmte Spanne zu überspringen, bis es uns technologisch möglich ist, z. B. die Solarenergie, also die Sonnenenergie stärker zu nutzen, als es uns bisher aus betriebswirtschaftlichen Gründen möglich ist? Dahinter steckt natürlich auch die Frage der Nutzung der Abwärme und ähnliches mehr.
Zurück zum Ordnungspolitischen! Ich will Herrn Professor Biedenkopf nur sagen, wo ich die Hauptprobleme sehe. Wir müssen leider bei der Novelle schon wieder an die Fusionskontrolle heran. Denn die letzten Jahre der Rezession haben gezeigt, daß Fusionen auf uns zukamen, mit denen wir so und in dieser Form offensichtlich bei der Novelle nicht gerechnet hatten. Ich frage an Hand des letzten Falles - Karstadt/ Neckermann -, ob es wirklich auf Dauer möglich ist, daß der Übernehmende in immer häufigeren Fällen gleichzeitig der Branchengrößte ist. Da liegt ein Problem. Kann man es verbieten? Was kann man da tun? Denn wenn es der Branchengrößte ist und sein Abstand zum Zweiten durch die Fusion plötzlich ruckartig größer wird, dann stehen wir doch vor dem Problem der Folgefusionen des Zweiten, des Dritten und ähnlichen Dingen mehr. Hier bin ich sehr gespannt, ob wir Ordnungspolitik nicht nur nennen, sondern ob wir sie auch gegen den harten Widerstand von Lobbyistengruppen außerhalb des Parlaments durchzusetzen bereit sind.
Der zweite Bereich betrifft nach meiner Meinung den Leistungswettbewerb, also die Probleme der Nachfragemacht im Handel und all der Dinge, die damit zusammenhängen. Lassen Sie mich gleich eines sagen. Herr Biedenkopf hätte sich in diesem Zusammenhang sicher besser mit der Pressemitteilung der Mittelstandsvereinigung der CDU befaßt,
({31})
wo Herr Lampersbach Dinge vorgeschlagen hat, die mit Marktwirtschaft überhaupt nichts mehr zu tun haben:
({32})
das totale Diskriminierungsverbot, das Verbot des Verkaufs von Waren unter Einstandspreis - dann hat der Markt nichts mehr zu sagen -, ja bis hin zur Preiskalkulationskontrolle durch das Bundeskartellamt. Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung wird gerade dieses eben nicht vorschlagen. Dann mag das die angeblich marktwirtschaftlich orientierte Opposition tun.
Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lampersbach zulassen? - Ich muß aber darauf aufmerksam machen, daß um 17.30 Uhr die Konstituierung der Ausschüsse beginnen soll.
Herr Minister, Sie haben mich nur teilweise zitiert. Hier geht es darum - ({0})
Herr Kollege, Frage bitte, damit wir zum Abschluß kommen!
Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, daß ein Feuer, das man leichtfertig entzündet hat, durch das Herbeirufen der Feuerwehr gelöscht werden kann, oder würden Sie das Haus abbrennen lassen?
({0})
Soweit meine Kenntnisse reichen, würde ich den Versuch machen, das Feuer zu löschen. Aber ich weiß nicht, was diese Frage mit meiner Behauptung zu tun hat, Vorschläge, die Sie unterbreitet hätten, fänden in diesem Ordnungssystem keinen Platz. Dies ist meine Meinung. Darüber werden wir bei der Kartellnovelle zu diskutieren haben.
Ich bin sehr froh, daß die Ordnungspolitik diesen Rang hat. Wir werden bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht die Chance haben, über konjunkturpolitische, strukturpolitische und dann später energiepolitische Fragen miteinander zu diskutieren. Ich legte nur Wert darauf, daß die Behauptung, die Regierungserklärung dieses Bundeskanzlers enthalte keine Eckdaten, keine klaren Orientierungen im Bereich der Ordnungspolitik, schlicht und einfach nicht stimmt. Sie stehen in der Regierungserklärung, und ich habe den Versuch gemacht, das, was darin steht, zu interpretieren.
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Meine Damen und Herren, nach den interfraktionellen Vereinbarungen schließen wir um 17.30 Uhr. Herr Kollege Dollinger, Sie haben die Möglichkeit, noch sieben Minuten hier zu sprechen.
({0})
- Es ist das Recht einer Fraktion. - Bitte!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedaure, daß dieser Zeitdruck entstanden ist. Ich habe das nicht zu vertreten.
Wir haben an diesem Nachmittag sehr nüchterne Betrachtungen gehört, wobei ich von der unvornehmen Polemik von Graf Lambsdorff absehe, die er sicher gegen Herrn Strauß getrieben hat, um ein Soll zu erfüllen, um dann um so mehr zu zeigen, daß er in seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen viel näher bei der CDU/CSU als bei seinem tatsächlichen Koalitionspartner steht.
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Bei dieser nüchternen Betrachtung an diesem Nachmittag wurde auch klar, daß offenbar die Stimmung nach dem 3. Oktober 1976 bei der Koalition etwas anders ist als vorher. Der Optimismus und die Schönfärberei von damals sind verflogen, und man sieht bei diesen Diskussionsbeiträgen den Ernst der Lage.
Wenn der Herr Bundeswirtschaftsminister eben gesagt hat, daß es ja in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers viele Elemente der sozialen Marktwirtschaft gibt, so meine ich, das kann man mit gewissen Einschränkungen sagen. Aber eines steht fest: Es kommt nicht auf das Wollen an, sondern auf die Tat; es kommt nicht darauf an, welche Theorie man betreibt, sondern darauf, wie die Praxis aussieht.
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Ich gehe gleich auf einen Gedanken des Herrn Bundeswirtschaftsministers ein. Es hat gerade von der Novelle zum Kartellgesetz gesprochen. Es ist gar kein Zweifel, daß sich in den letzten Jahren der Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland so entwickelt hat, daß die Konzentration in der Wirtschaft immer stärker geworden ist, mit dem ganz klaren Ergebnis, daß die alte geordnete Struktur von Klein-, Mittel- und Großbetrieben in Unordnung geraten ist und man sich heute die Frage stellen muß, inwieweit der Wettbewerb und zwar der Leistungswettbewerb, auf die Dauer überhaupt noch garantiert ist. Auch der Bericht des Bundeskartellamts und der Monopolkommission unterstreicht ja gerade diese Sorge. Es gibt gar keinen Zweifel daran, daß die mittelständische Wirtschaft bei dieser Entwicklung einer falschen Wirtschafts- und Steuerpolitik die Hauptzeche gezahlt hat.
Meine Damen und Herren, wenn die breite Unternehmensstruktur schrumpft, wenn Risikobereitschaft und Unabhängigkeitsstreben nachlassen, wird auch früher oder später das System der sozialen Marktwirtschaft als Wettbewerbswirtschaft in Frage gestellt.
({2})
Es muß ein anderer Gedanke hier noch hinzugefügt werden. Die Methode der wirtschaftlichen Auseinandersetzung in den letzten Jahren, als man immer mehr Neidkomplexe gefördert und Klassenkampf getrieben hat, hat auch dazu geführt, daß die Risikobereitschaft in zunehmendem Maße abgenommen hat. Nicht nur diese Dinge spielen eine Rolle, sondern einfach auch die Tatsache, daß auf die mittelständische Wirtschaft in zunehmendem Maße neue Belastungen zugekommen sind.
Meine Damen und Herren, man sollte sich einmal ernsthaft vor Augen halten, was es bedeutet, was an Konkursen, Vergleichsverfahren, Fusionen und Liquidationen gerade in den letzten Jahren in Deutschland durchgeführt werden mußte und wieviel menschliche Not damit nicht nur für die Inhaber solcher Betriebe, sondern auch für die Arbeitnehmer, die dort tätig waren, verbunden gewesen ist.
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Meine Damen und Herren, deshalb sind wir der Meinung, daß dieses Gesetz novelliert werden muß. Wir können nur hoffen und wünschen, daß dann auch tatsächlich der Leistungswettbewerb und damit die Chancen der mittelständischen Wirtschaft erhalten bleiben.
Der Herr Bundeskanzler hat vor einiger Zeit gesagt, die Marktwirtschaft sei von sich aus niemals sozial. Ich glaube, daß diese Betrachtungsweise hier erwähnt werden muß, weil sie nach meiner Überzeugung zeigt, wie wenig eigentlich hier die Leistungen der sozialen Marktwirtschaft für die Gesamtheit unseres Volkes in den letzten 20 Jahren noch klar erkannt werden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, was will das Volk eigentlich haben? Unser Bürger will die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Er will nicht prozentualen Zuwachs; er will vor allem Kaufkraft. Und er will einen Anteil an den Segnungen des Lebens, die auch etwas Glück beinhalten. Es kommt darauf an, daß eine Politik betrieben wird, die das im Interesse unserer Bürger erfüllt.
Wir sehen heute ein anderes Bild. Es ist nicht die Zeit, das hier im einzelnen aufzuführen, aber es gibt keinen Zweifel mehr daran, daß die Gefährdung der sozialen Marktwirtschaft in den letzten Jahren fortgeschritten ist, und dies zum Nachteil der Struktur unserer Wirtschaft, zum Nachteil der Bürger und mit Gewißheit auch zum Nachteil des Staates. Denn nur ein solcher Staat wird hohe Einnahmen haben, der eine blühende Wirtschaft und gute Einkommensverhältnisse in allen Bereichen der Bevölkerung verzeichnen kann.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat vor einiger Zeit den Wahlkampf unter dem Motto „Modell Deutschland" geführt. Dabei wurde gesagt, dieses Modell Deutschland sei ein Beispiel für die Zukunft, und es sei ein Vorbild für die anderen Länder. Meine Damen und Herren, dieses Modell Deutschland beruht in erster Linie auf Wirksamkeit und Erfolg der sozialen Marktwirtschaft, und es beruht auf dem Fleiß der Arbeiter und der Unternehmer in Deutschland. Ich stelle mir die Frage: Ist dieses System „soziale Marktwirtschaft" nicht in Gefahr, bewußt oder unbewußt durch diese Koalition demontiert zu werden? Wenn das erfolgt, braucht man nicht mehr vom „Modell Deutschland" zu sprechen.
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Die Koalition hat nicht die Kraft, eine klare Politik zu konzipieren, und auch nicht die Kraft, eine klare Politik durchzusetzen. Wir werden kritisch den Weg der Regierung begleiten.
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Meine
Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Aussprache. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 21. Januar 1977, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.