Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Die Beschlußempfehlung und der Bericht des Innenausschusses zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland ({0}) - Drucksachen 8/361, 8/917, 8/939 - sollen nach einer interfraktionellen Vereinbarung an den Innenausschuß - federführend -, an den Rechtsausschuß - mitberatend - und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung zurückverwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Es liegt Ihnen ferner eine Liste von Vorlagen - Stand 14. Februar 1978 - vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die gemäß § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Bericht des Bundesministers für Verkehr über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr für die Jahre 1975, 1976 und 1977 - Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 1977 -({1})
zuständig: Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments zur europäischen politischen Zusammenarbeit ({2})
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: 3. Bericht des Ausschusses für die Hochschulstatistik
nach § 21 Abs. 2 des Gesetzes über eine Bundesstatistik für das Hochschulwesen vom 31. August 1971 ({3})
zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Erhebt sich gegen die vorgeschlagenen Überweisungen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das so beschlossen.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 8. Februar 1978 mitgeteilt, daß er Herrn Staatssekretär a. D. Karl Wittrock, Präsident des Bundesrechnungshofs, namens der Bundesregierung um Übernahme der Aufgaben des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung gebeten habe.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 15. Dezember 1977 die in der Zeit vom 19. Januar bis 14. Februar 1978 eingegangenen EG-Vorlagen an die aus Drucksache 8/1525 ersichtlichen Ausschüsse überwiesen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Schlußberichts der Enquete-Kommission Verfassungsreform
- Drucksache 7/5924 Hierzu liegt auf Drucksache 8/1517 ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Die Drucksache, über die wir verhandeln, ist aus der 7. Legislaturperiode. Es ist die Drucksache 7/5924.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich selbst gern einige Bemerkungen zu den Beratungen, die jetzt beginnen werden, machen dürfen. Diese Enquete-Kommission Verfassungsreform wurde auf Grund eines interfraktionellen Antrags im Oktober 1970 einstimmg eingesetzt und im Februar 1973 vom 7. Deutschen Bundestag neu konstituiert. Ihr Auftrag lautete, „zu prüfen" - ich zitiere -, „ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen - unter Wahrung seiner Grundprinzipien - anzupassen ..."
Am 2. Dezember 1976, vor mehr als einem Jahr, hat die Enquete-Kommission ihren Schlußbericht vorgelegt. Dieser Bericht enthält die Beratungsgegenstände, Diskussionsabläufe und Empfehlungen einer über fünfjährigen Arbeit. Seit etwa einem Jahr liegt der Kommissionsbericht auch der Offentlichkeit vor.
Nicht erst mit ihrem Schlußbericht, sondern auch während ihrer langjährigen Tätigkeit hat sich die Enquete-Kommission zunehmend zu einem wichtigen Faktor in der Diskussion der Verfassungspolitik in Wissenschaft und Publizistik entwickelt. Es war richtig, daß die Kommission von Anfang an Wert darauf gelegt hat, ihre Reformüberlegungen in engem Kontakt mit der interessierten Offentlichkeit anzustellen. Vor allem der Schlußbericht der Kommission hat ein lebhaftes publizistisches und wissenschaftliches Echo ausgelöst und auch Eingang in die Lehrveranstaltungen der Hochschulen und Akademien gefunden.
Der Kommission, meine verehrten Herren, gebührt Dank dafür, daß sie diese unterrichtende und auch wegweisende Aufgabe geleistet hat. Ich spreche den Mitgliedern der Kommission diesen Dank im Namen des Deutschen Bundestages aus.
({4})
Präsident Carstens
Der Dank gilt vor allem auch dem Vorsitzenden, unserem Kollegen Professor Friedrich Schäfer, und dem stellvertretenden Vorsitzenden, unserem Kollegen Dr. Carl Otto Lenz.
({5})
Die Anfänge der Enquete-Kommission Verfassungsreform reichen bis in die 5. Wahlperiode zurück. Als Geburtsurkunden können der Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 11. März 1968, die Große Anfrage der CDU/CSU vom 27. Juni 1968 über die Weiterentwicklung des föderativen Systems und die Antwort des Bundesministers des Innern darauf vom 20. März 1969 gelten. Im Bericht zur Lage der Nation hatte es geheißen, daß das föderative System in einer Weise weiterzuentwickeln sei, die einerseits einen nivellierenden Zentralismus verhindere, andererseits aber ein Höchstmaß kooperativen Wirkens der bundesstaatlichen Kräfte garantiere.
Ziel der Anfrage der CDU/CSU war es, Auskunft darüber zu erlangen, ob das Grundgesetz den Anforderungen genügt, die an einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat in einem sich zusammenschließenden Kontinent gestellt werden müssen.
Der Föderalismus war demnach ein zentrales Thema der Enquete-Kommission.
In der Plenardebatte, die dem Einsetzungsbeschluß vorausging, wurden auch die Grenzen der Aufgaben der Enquete-Kommission klar abgesteckt. Eine Totalrevision des Grundgesetzes wurde ausgeschlossen, und die Grundprinzipien der Verfassung, wie Föderalismus , parlamentarisches Prinzip, Volkssouveränität und Grundrechtsbestand, sollten gewahrt bleiben. Übereinstimmend wurde die Notwendigkeit eines breiten politischen Konsenses für die Annahme der Reformempfehlungen betont.
Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission Verfassungsreform hat der Deutsche Bundestag von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die die kleine Parlamentsreform mit der Einfügung des § 74 a der Geschäftsordnung bereitgestellt hat.
Das hier verankerte Institut der Enquete-Kommission soll dazu dienen, Entscheidungen des Bundestages auf bedeutsamen Gebieten langfristig vorzubereiten. Enquete-Kommissionen sind gewissermaßen parlamentarische Planungsstäbe. Unabhängig von laufenden Gesetzgebungsverfahren erfüllen sie ihren vom Parlament erteilten Auftrag durch die Vorlage eines Berichts mit Bestandsaufnahme, Analyse, Vorschlägen und Empfehlungen. Die Besonderheit dieser Enquete-Kommissionen besteht in ihrer personellen Zusammensetzung, die über den Bereich des Parlaments hinausgreift und es so dem Parlament ermöglicht, sich Sachverstand von außerhalb institutionell zunutze zu machen.
Bei der Zusammensetzung der Enquete-Kommission Verfassungsreform waren wohl die Regierungen der Länder, aber nicht die Länderparlamente berücksichtigt worden. Dies führte zur Schaffung einer zusätzlichen Institution, der Länderkommission Verfassungsreform. Sie brachte vor allem die Vorstellungen der Länderparlamente in die Überlegungen zur Verfassungsreform ein und hat für die Tätigkeit der Enquete-Kommission einen wertvollen Beitrag geleistet. Hierfür sei ihr an dieser Stelle ebenfalls gedankt.
({6})
Neben dem weiten Feld der bundesstaatlichen
Ordnung war das andere Arbeitsgebiet der Kommission die Stellung des Parlaments im Staat. Die
Kommission setzt sich für eine stärkere Position des Parlaments im Verfassungsorganismus ein. Sie schlägt außerdem vor, dem Bürger verbesserte Möglichkeiten der Einwirkung auf die Auswahl der Kandidaten zu geben. Begrüßenswert sind auch die Folgerungen, die die Kommission aus der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages gezogen hat. Ihre Empfehlung, die Wahlperioden nahtlos ineinander übergehen zu lassen, ist inzwischen verwirklicht worden.
Zur Daueraufgabe der Parlamentsreform hat die Enquete-Kommission ebenfalls einen Beitrag geleistet. Über die Ausgestaltung der Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren werden wir ebenso zu reden haben wie über die Vorschläge zur Gestaltung der Gesetzgebung.
In zahlreichen Fragen hat die Kommission Änderungsvorschläge geprüft und sie schließlich doch verworfen, weil sie die grundgesetzlichen Lösungen des Parlamentarischen. Rates auch heute noch als richtig ansah. Dies gilt u. a. für das entschlossene Bekenntnis der Kommission zum freien Mandat als einem notwendigen Strukturelement der parteienstaatlichen repräsentativen Demokratie. Das gilt auch für den Bundesrat, das „Gelenkstück" zwischen parlamentarischem System und bundesstaatlicher Ordnung.
Auch soweit die Beratungen der Kommission dazu geführt haben, von einer Empfehlung zur Verfassungsreform abzusehen, erscheinen die Ergebnisse bedeutsam, zeigen sie doch, daß die vor 30 Jahren getroffenen Entscheidungen des Parlamentarischen Rates noch heute als gültig angesehen werden.
Dem 8. Deutschen Bundestag obliegt es nunmehr, über die Empfehlungen des Schlußberichts der Enquete-Kommission zu entscheiden. Vor allem geht es in den folgenden Wochen darum, sich Klarheit zu verschaffen, welche Empfehlungen realisiert werden können, damit unsere Arbeit auf sie konzentriert werden kann.
Es ist zu wünschen, daß der bedeutungsvolle Bericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform in dieser Legislaturperiode noch insoweit verwirklicht wird, als in diesem Hause sachliche Übereinstimmung mit den Vorschlägen der Kommission besteht.
Meine Damen und Herren, ich eröffne nunmehr die Aussprache und erteile das Wort Herrn Abgeordneten Dr. Lenz.
({7})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen es, daß heute - nahezu 18 Monate nach Erstattung des Berichts der Enquete-Kommission Verfassungsreform - die erste Aussprache in diesem Hause darüber stattfindet. Wir begrüßen es auch deshalb, weil das Thema der heutigen Aussprache, „Regierung und Parlament", auf eine Anregung der CDU/CSU-Fraktion zurückgeht; denn ursprünglich war einmal geplant, wie der Herr Präsident dargetan hat, das Thema auf das Bund-Länder-Verhältnis zu begrenzen. Wenn das damals geschehen wäre, könnte die heutige Aussprache gar nicht stattfinden. Wir halten sie allerdings für notwendig; denn gerade auch die Stellung des Parlaments im Staat muß Gegenstand unserer Überlegungen sein.
Wir danken auch dem Herrn Bundestagspräsidenten für seine Würdigung des Berichts der Enquete-Kommission. Niemand Kompetenterer hätte es tun können. Ich selber will mir eine Würdigung ersparen, weil ich ja doch nur als befangen gelten würde. Wir hoffen mit dem Herrn Präsidenten, daß die heutige Debatte eine Grundsatzdiskussion in diesem Lande weiterführt, die sich erfreulicherweise bereits an die Erstattung des Berichts angeschlossen hat.
Grundlage unserer Stellungnahme zu dem heutigen Teil des Berichts ist Ziffer I des Entschließungsantrags, den wir eingebracht haben und in dem wir das Eintreten der Enquete-Kommission Verfassungsreform für den Parlamentarismus, für das parlamentarische Prinzip begrüßen, dessen Kern, das freie Mandat, nicht geschmälert werden darf und dessen Entscheidungskraft sowohl durch Maßnahmen der Parlamentsreform gestärkt als auch vor Beeinträchtigung durch plebiszitäre oder ständestaatliche Einrichtungen geschützt werden soll.
Nach unserer Auffassung muß das Parlament als zentrales Organ der Staatswillensbildung erhalten und gestärkt werden. Ich gebe unumwunden zu, daß einem diese Erkenntnis in der Opposition leichter fällt als in der Regierung. Darin sehe ich eine gewisse Tragik des Parlaments: Diejenigen, die das Leben des Parlaments gestalten können, nämlich die Mehrheitsparteien, haben eine - für mich durchaus verständliche und natürliche - Neigung, das Schwergewicht ihrer Aktion in der Regierung zu sehen, während diejenigen, die das Schwergewicht im Parlament sehen und sehen müssen, nicht die Möglichkeit haben, die Verhältnisse im Parlament zu gestalten, weil dort natürlich das Prinzip der Mehrheitsentscheidung gilt.
Hierin sehe ich eigentlich den Hauptgrund für die Schwierigkeiten, die wir bei der Verwirklichung einer Parlamentsreform immer haben; denn „Stärkung des Parlaments" heißt automatisch auch „Stärkung der Opposition", und darin haben die Regierungsparteien, ganz egal, ob wir oder Sie sie stellen, nicht immer das richtige Einsehen, wenn ich es einmal so formulieren darf.
({0})
Meine Damen und Herren, dennoch muß die Parlamentsreform ein wichtiges Thema der heutigen Aussprache sein. Die Enquete-Kommission hat auch
Vorschläge dazu gemacht, denen wir im großen und ganzen beipflichten. Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, das parlamentarische Verfahren zu entschlacken, weniger Formalien vorzuschreiben, z. B. nur zwei anstatt drei Lesungen. Wir glauben, daß man auf diesem Wege vielleicht noch ein Stück weitergehen kann, als die Kommission es getan hat.
Aber das ist sicherlich nur ein Teil der Parlamentsreform. Ein anderer Teil ist die Verteilung der Redezeit, ein für meine Begriffe zentrales Anliegen eines jeden Parlaments. Ich verhehle nicht, daß die Regeln, die hier in diesem Hause gelten, nicht glücklich sind.
Das fängt bei den verfassungsmäßigen Regeln an. Die Verfassung gibt der Bundesregierung und dem Bundesrat Privilegien zum Reden in diesem Haus. Diese Privilegien mindern natürlich die Möglichkeiten des Parlaments, sich selbst darzustellen. Ich sage das ganz sachlich und ohne Vorwurf. Wir haben das nicht so gemacht. Das steht so in der Verfassung.
({1})
Ich kann, Herr Kollege Kohl, auch die Tatsache nicht ganz verstehen, daß wir die Verfassung so auslegen, daß die Bundesregierung und der Bundesrat nicht nur das Recht haben, jederzeit das Wort zu ergreifen, sondern daß wir ihnen über die Verfassung hinaus das Recht konzedieren, jedesmal so lange zu reden, wie sie wollen. Ich glaube, das ist von der Verfassung keineswegs gedeckt. Wir sollten hier noch ein bißchen bohren.
({2})
Ein anderer Punkt - und hier spreche ich in Gegenwart der drei Herren Fraktionsvorsitzenden und der meisten Parlamentarischen Geschäftsführer - ist die Verteilung der Redezeit zwischen den Mitgliedern dieses Hauses. Auch diese Verteilung ist verbesserungsfähig. Ich will es mal ein bißchen überspitzt ausdrücken: Warum legen sich eigentlich 500 Mitglieder dieses Hauses Beschränkungen der Art, wie wir sie haben, auf, damit die übrigen 18 so lange reden können, wie sie wollen?
({3})
Den einen wird die Redezeit mit dem Scheffel zugemessen, und bei den anderen wird sie mit der Uhr gestoppt. Diese Methode tötet den parlamentarischen Dialog.
({4})
Ein Dialog aus zwei aufeinanderfolgenden Monologen von je einer Stunde Dauer ist ein Ding der Unmöglichkeit. Diejenigen, die eine Rededauer von 10 Minuten oder einer Viertelstunde zugemessen kriegen, dürfen auf den Vorredner überhaupt nicht eingehen, weil sie sonst in der kurzen Redezeit mit der Entwicklung ihrer eigenen Gedanken gar nicht fertig werden.
({5})
Dr. Lenz ({6})
- Herr Kollege Schäfer, was ich hier sage, gilt im Grunde genommen für alle.
({7})
Ich will einen Punkt hinzufügen. Ich finde das System unserer fraktionsorganisierten Debatten auch nicht geeignet, die Vielfalt der in unserem Volk und in diesem Parlament vorhandenen Meinungen zum Ausdruck zu bringen.
({8})
Ich will das, wenn Sie es mir gestatten, an einem Beispiel aus meiner Fraktion demonstrieren. Wir werden demnächst eine Energiedebatte haben. Da entfällt nach den hier im Hause üblichen Verteilungsregeln auf uns ein Viertel der Redezeit; der Rest geht an die Regierung und an die Koalitionsparteien. So ist das. Dieses eine Viertel der Redezeit müssen wir verwenden, um unseren Standpunkt gegenüber der Koalition und der Bundesregierung darzulegen, obwohl wir sehr gern dem Kollegen Gruhl, der eine Auffassung vertritt, die in diesem Punkt keiner von uns teilt, die Gelegenheit geben möchten, seinen . Standpunkt im Deutschen Bundestag darzulegen; denn es gibt Hunderttausende von Bürgern, die so denken wie er, und es muß eigentlich möglich sein, das in diesem Haus auszudrücken.
({9})
- Herr Kollge Schäfer, Sie machen den Zwischenruf: „So war es gestern auch!" Ich will Ihnen sagen: Was mich an dem gestrigen Vorgang so bemerkenswert gedeucht hat, war nicht die Tatsache, daß einmal eine Handvoll Kollegen anders stimmt als ihre Fraktion - ich halte das für normal -, sondern daß von diesem Vorgang so viel Aufhebens gemacht wurde.
({10})
- Herr Kollege, darauf, wer daran allein schuld war, wollen wir jetzt nicht eingehen. Ich könnte dazu sehr viel sagen. Aber dafür reicht meine Redezeit heute ganz bestimmt nicht.
Der Geschäftsordnungsausschuß unter der Leitung des Kollegen Schulte unternimmt aus meiner Sicht begrüßenswerte Versuche, aus diesem Schematismus herauszukommen. Ich hoffe, daß sie in diesem Haus bald praktiziert werden dürfen. Daß das noch nicht der Fall ist, liegt nicht an dem zuständigen Ausschuß.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung zu dem Thema Parlamentsneubau machen. Wir beklagen die Leere dieses Saales. Die Prominenz ist nicht zu übertreffen; aber die Leere ist nicht zu übersehen. Ich fürchte, je weiter wir das Plenum von den Büroräumen der Abgeordneten weglegen, desto leerer wird es werden. Das sollten wir allen Architekten ins Stammbuch schreiben.
({11})
Dies ist sozusagen eine Seite der Parlamentsreform: Stärkung der Funktionsfähigkeit.
Das andere, was wir vermeiden müssen, ist die Schwächung des Parlaments durch die Einführung von Institutionen, die nur geeignet sein können, es zu schwächen. Hier spreche ich zunächst von Volksbefragung, Volksbegehren und Volksentscheid über das im Grundgesetz vorgesehene Maß hinaus. Ich sage Ihnen ganz offen, daß wir mit der Enquete-Kommission davon nicht viel halten, und zwar nicht deshalb, weil wir befürchten, damit könnten die zentralen Fragen des Staatslebens Gegenstand des Volksentscheides werden. Das würden wir nicht fürchten. Wenn z. B. in Nordrhein-Westfalen eine zentrale Frage der Landespolitik zum Gegenstand eines Volksbegehrens gemacht wird, ist das in Ordnung. Was wir befürchten, ist, daß periphere Fragen zum Gegenstand von solchen Institutionen gemacht werden, wie wir das in der Weimarer Republik erlebt haben, wo man bei den sieben Volksbegehren, die es, glaube ich, gab, eines darauf verwendet hat, über die Frage der Entschädigung der ehemaligen Fürstenhäuser zu streiten, wo also mehr Nebenfragen zù Entscheidungen gestellt und manchmal nicht sehr schöne menschliche Gefühle geweckt werden, anstatt zentrale Fragen des Staatslebens zum Gegenstand zu machen.
Wir sind mit der Enquete-Kommission auch gegen die Volkswahl des Bundespräsidenten; denn wir fürchten, daß es, wenn es zwei Amtsträger gibt, die ihr Mandat direkt vom Volk ableiten, und sie unterschiedlicher Auffassung sind, einen Verfassungskonflikt gibt, daß ein Verfassungskonflikt institutionalisiert wird, der unseren Staat in schwere Belastungsproben bringen könnte. Wenn ich das sage, rede ich nicht als akademischer Lehrer, sondern dann rede ich von Dingen, von denen in einem unserer Nachbarländer im Augenblick sehr viel die Rede ist. Das kann dann eben passieren, wenn der Präsident von der einen Couleur und die Volksvertretung von der anderen Couleur ist. Das wollen wir vermeiden. Oberstes Organ - ich kann nur wiederholen, was ich eingangs gesagt habe - der Staatswillensbildung ist nach unserer Auffassung das Parlament. Neben dieses Parlament sollen keine gleichmäßig beauftragten Institutionen treten, damit seine zentrale Stellung nicht geschwächt wird.
Deswegen sind wir auch gegen die Schaffung eines Wirtschafts- und Sozialrates, weil wir fürchten, daß entweder ein solches Nebenparlament zu stark würde - dann würde es den Bundestag beeinträchtigen - oder daß es ein Schattendasein führen würde wie viele ähnliche Institutionen in den Europäischen Gemeinschaften, in den europäischen Nachbarländern. Dann führt das nur zu einer Verkomplizierung und Verlängerung der staatlichen Entscheidungsstränge. Das brauchen wir eigentlich auch nicht; die, die wir haben, sind kompliziert genug.
Wir finden auch, daß das Problem der Beteiligung der Verbände an der Gesetzgebung in unserem Lande so gelöst ist, daß Verbesserungen oder Veränderungen nicht notwendig sind. Auch hier machen wir uns voll und ganz die Beratungsergebnisse der Enquete-Kommission zu eigen. Das Thema Staat und Verbände ist so vielschichtig, daß die Enquete-KomDr. Lenz ({12})
mission gesagt hat, darüber sollte man eine eigene Enquete durchführen, um ihm auf die Spur zu kommen. Es ist ganz unmöglich, das im Rahmen einer 20-Minuten-Rede auszuloten. Ich kann nur unser Ergebnis mitteilen: Wir finden, daß der derzeitige Zustand, wenn vielleicht auch nicht ideal, so doch so beschaffen ist, daß man damit leben kann. Es wird kaum Möglichkeiten geben, ihn wesentlich zu verändern. Bei allen Überlegungen glauben wir auch, daß es letztlich kein Schade ist, daß es so ist, wie es ist.
Lassen Sie mich dann noch einige Bemerkungen zum Thema Bürger - Parlament - Staat machen. Wenn das Parlament das zentrale Organ der Staatswillensbildung bleiben soll, ist es natürlich erforderlich, daß zwischen Parlament, zwischen Gewählten und Wählern enge Beziehungen bestehen. Dadurch verbietet es sich nach unserer Meinung, daß man die Wahlperioden verlängert; denn das würde automatisch zu einer Schwächung dieser Beziehungen führen.
Es ist auch notwendig, daß die Prozeduren von Wahl und Aufstellung des Parlaments klar geregelt werden und den Bürgern Einfluß auf diese Dinge einräumen. Die Enquete-Kommission hat den Zustand, der in diesem Lande existiert, als im wesentlichen gut, in Ordnung und nicht verbesserungsbedürftig befunden.
Sie hat zwei Detailvorschläge gemacht, nämlich einmal die Einführung der Briefwahl durch die Mitglieder der Parteien für die Nominierung der Bundestagskandidaten. Das ist ein Vorschlag, der unserer Auffassung nach ernste Prüfung verdient, obwohl wir nicht verkennen, daß dieser Vorschlag auch seine Problematik mit sich bringt. Wir sind der Auffassung, daß die Parteien - gerade die Parteiorganisationen - sich dieses Themas sehr annehmen sollten; denn sie müssen es nachher ausführen.
Wir finden auch den Vorschlag prüfenswert, das bayerische Listenwahlsystem mit der begrenzt-offenen Landesliste zu diskutieren. Denn es bringt dem Bürger natürlich eine erhöhte Möglichkeit, Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments zu nehmen. Aber auch in dieser Frage, meinen wir, ist noch weitere öffentliche Diskussion notwendig, bevor wir zu solchen Schritten der Verwirklichung schreiten können.
Man könnte nun daraus schließen, daß wir der Auffassung seien, es genüge, wenn der mündige Bürger, von dem so viel die Rede ist, einmal alle vier Jahre wählt. Aber dies ist eine oberflächliche Betrachtungsweise. Denn in Wirklichkeit wählt er in Deutschland nicht einmal alle vier Jahre, sondern in vier bis fünf Jahren mindestens dreimal und einmal - bei Kommunalwahlen - sogar bis zu drei verschiedene Vertretungskörperschaften. Die Möglichkeit, durch Wahlen Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen, sind in der Bundesrepublik Deutschland weiß Gott nicht unterentwickelt. Unser Problem ist nicht, daß wir zuwenig Wahlen haben, sondern daß wir Politiker brauchen, die die genügende Risikobereitschaft haben, trotz der Wahlen gelegentlich auch die notwendigen Dinge rechtzeitig zu tun.
({13})
Auf der anderen Seite gibt es neben den Wahlen noch durchaus die Möglichkeiten, in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen Einfluß auf die Staatswillensbildung zu nehmen, wobei wir alle drei Formen als legitim betrachten; auch die Bürgerinitiativen sind Ausfluß der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit und dürfen selbstverständlich gebildet werden. Sie müssen dort gebildet werden, wo sich die vorhandenen Organisationen der Anliegen der Bürger nicht annehmen. Daß sie ihre eigene Problematik haben, dazu haben wir kürzlich ein Dokument veröffentlicht. Ich glaube, darauf brauche ich in diesem Zusammenhang nicht näher einzugehen.
Die Möglichkeiten, in den Parteien und Verbänden mitzuarbeiten, werden in diesem Lande ' gar nicht ausgenutzt - obwohl ich zugebe, daß ihre Nutzung gelegentlich auch sehr, sehr beschwerlich ist. Es ist nicht jedermanns Sache, sich abends von 8 bis 11 in öffentlichen Gaststätten um das Wohl der Nation zu kümmern, anstatt am Fernsehschirm zu sitzen oder ein Buch zu lesen. Man muß sehen, daß hier in den praktischen Möglichkeiten natürlich gewisse Beschränkungen liegen. Auf der anderen Seite kann Mitwirkung ohne Engagement in keiner Demokratie geboten werden. Wenn Engagement da ist, dann sind Mitwirkungsmöglichkeiten in diesem Lande genug gegeben.
({14})
Wir wünschen - damit komme ich zum Schluß - diesem Bericht eine eingehende Diskussion in der Wissenschaft, in den Landtagen und auch hier im Deutschen Bundestag. Zur Erleichterung der Diskussion haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, der Ihnen vorliegt und der die Punkte zu dem Thema, das wir heute besprechen, zusammenfaßt, die wir für möglich, für realisierungsfähig halten. Ich würde es sehr begrüßen - ich glaube, meine Fraktion mit mir -, wenn wir recht bald in das Stadium der konkreten Beratungen über Verwirklichungen aus dem Bericht der Enquete-Kommission eintreten könnten. In diesem Sinne bitte ich um die Mitarbeit des ganzen Hauses.
({15})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Renger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat einen wesentlichen Teil ihrer Beratungen dem Parlament selber gewidmet. Damit ist sie der Tatsache gerecht geworden, daß der Deutsche Bundestag sowohl aus seiner demokratischen Legitimation heraus als auch im Hinblick auf die ihm vom Grundgesetz zugewiesenen politischen Aufgaben die zentrale Institution in unserem Verfassungsgefüge ist. Ich erlaube mir, an dieser Stelle besonderen Dank unserem früheren Kollegen Dr. Arndt zu sagen, der im besonderen gerade diesen Teil mitberaten hat, und das sehr erfolgreich.
({0})
Der Bundestag ist - erlauben Sie mir diesen kurzen Rückblick - unter den schwierigen Bedingungen
der Nachkriegszeit, des Aufbaus und der Festigung unseres demokratischen Gemeinwesens diesen Aufgaben in hohem Maße gerecht geworden. Die eigentliche Aufgabe der Enquete-Kommission konzentrierte sich auf die Frage, wodurch Vorsorge getroffen werden könnte, daß der Bundestag auch in Zukunft seine volle Funktionsfähigkeit und selbstverständlich seine politische Bedeutung bewahren kann. Auch hierbei mußte sich die Enquete-Kommission mit der Kritik auseinandersetzen, deren sich - wie kann es anders sein - der Bundestag in Teilen der Offentlichkeit, der Publizistik und der wissenschaftlichen Literatur ausgesetzt sieht. Dabei hat sich die Enquete-Kommission weder von den stereotypen Klagen über einen angeblich unaufhaltsamen Verfall des Parlaments beeindrucken lassen - wir wissen, daß es auch berechtigte Kritik am Parlament gibt, die oft im wesentlichen auf der Unkenntnis der parlamentarischen Möglichkeiten und der parlamentarischen Wirklichkeit beruhen oder auch von einem verfehlten Idealbild des Parlaments ausgehen -, noch hat sie etwa die prinzipielle antiparlamentarische Haltung, die ebenfalls oft in der Kritik zum Ausdruck kommt, zum Anlaß genommen, zu falschen Schlüssen zu kommen.
Wir haben die große Schwierigkeit in diesem Parlament - wie wahrscheinlich in jedem anderen Parlament auch -, die Kommunikation zwischen dem Bürger und diesem Hohen Hause herzustellen. Auch wenn sich die Abgeordneten draußen im Lande noch so sehr bemühen, wird dies eine der großen Schwierigkeiten bleiben.
Erlauben Sie mir die Schilderung einer kürzlich gemachten Erfahrung: Vor wenigen Tagen war ich in einer Schülerversammlung mit 700 Schülern. Natürlich war dort die Kritik am Parlament das entscheidende Thema. Ich konnte mir nicht verkneifen, zu fragen - es waren 16 bis 18jährige, von denen einige demnächst in Niedersachsen wählen werden -: Wieviel von Ihnen haben eigentlich die Kommunikation mit der Parlamentariern gesucht? Von den ungefähr 700 Schülern meldeten sich zwei, die in einer Versammlung waren.
Also, so geht es auch nicht, daß man uns schilt und dann kommt keiner, um mit uns an den Stellen zu reden, wo wir den Bürgern zur Verfügung stehen wollen.
Die Enquete-Kommission konnte dies natürlich nicht regeln. Das ist eine Angelegenheit, derer wir uns noch stärker annehmen müssen. Die Enquete-Kommission hat konkrete Vorschläge ausgearbeitet, die dem Parlament helfen sollen, Schwierigkeiten zu überwinden und seinem Verfassungsauftrag gemäß auf der Höhe der politischen Entwicklung zu bleiben.
Meine Damen und Herren, das Parlament ist aufgefordert - Kollege Lenz hat das schon gesagt -, die Vorschläge der Enquete-Kommission sorgfältig zu prüfen und darüber zu entscheiden, wobei wir alle wissen, daß Vorschläge von Enquete-Kommissionen natürlich nicht schon das Gesetz sind, sondern daß Modifizierungen und Änderungen, andere Auffassungen des Gesamtparlaments durchaus möglich sind. Aber wir haben dadurch eine hervorragende Grundlage.
Ich meine, es trifft sich gut, daß gleichzeitig mit der Vorlage des Schlußberichts der Enquete-Kommission auch ein umfangreiches Papier zur Reform der Geschäftsordnung in Kürze fertiggestellt sein wird. Es war schon einmal in der 6. Legislaturperiode vorgelegt worden, mußte aber jetzt noch einmal überarbeitet werden. Es beruht auf Initiativen der Parlamentsreformkommission der vergangenen Legislaturperiode und auf zusätzlichen Beratungsergebnissen des Geschäftsordnungsausschusses.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Dr. Lenz hat an dieser Stelle einen sehr wunden Punkt angesprochen, nämlich die Lebendigkeit der Debatten und das leere Plenum, das wir alle immer sehr beklagen, auch heute morgen wieder; aber es war nicht anders zu erwarten. Diese Klage wird sich fortsetzen. Ich sage hier, wie schon an anderer Stelle: In allen demokratischen Parlamenten dieser Welt sind die Plenardebatten immer nur dann wirklich voll besetzt, wenn es „um die Wurst", um ganz entscheidende Abstimmungen oder wesentliche Themen geht. Im letzteren Fall, wenn es um wesentliche Themen - auch ohne Abstimmung - geht, möchte ich allerdings bitten, in diesem Haus vollständiger versammelt zu sein.
({1})
Ein ganz wichtiger Punkt ist natürlich die Aufteilung der Redezeit, die wir alle oft schon besprochen haben. Dazu liegt ja jetzt ein Antrag vor, der aber vielleicht noch nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Zehn Minuten Redezeit als Regel für nachfolgende Redner scheint mir ein bißchen knapp zu sein. Ich sehe auch schon auf die Uhr! Wenn man dann vielleicht noch einen Gedanken einschieben will, sind die zehn Minuten wirklich sehr knapp. Für sehr gut halte ich dagegen die Idee des Herrn Präsidenten, die Möglichkeit der Intervention von fünf Minuten Dauer zu geben, damit man auf eine Sache gleich lebendig antworten kann. Das ist sicherlich für den amtierenden Präsidenten sehr kompliziert, aber wir sollten versuchen, das analog der Aktuellen Stunde zu versuchen.
({2})
Ich habe gerade in diesen Tagen von meinen Kollegen wieder gehört, daß das böse Wort und die wirklich häßliche Verleumdung - so muß ich es sagen; von hieraus darf ich „Verleumdung" sagen, denn ich nehme das Parlament in Schutz - von den Hinterbänklern gebraucht wird. In diesem Hausegibt es keine Hinterbänkler, und das muß man auch dadurch deutlich machen, daß alle die Möglichkeit haben, intensiver in die Debatte einzugreifen. Ich plädiere also für diese „Fünf-Minuten-Einschiebrede" .
Eine Bemerkung muß ich allerdings dazu noch machen. Für uns ist es immer wieder kompliziert, daß dieses Haus, dieses Hohe Haus, dieses Parlament, teilweise manchmal Kulisse für die Regierung und den Bundesrat ist. Ich bedauere es außerordentlich, daß wir Abgeordneten des öfteren mehr zuhören müssen, als selber zu reden.
({3})
Ich sage das als Parlamentarier. Das gilt natürlich für alle Regierungen, auch für die Landesregierungen.
Ich füge ein weiteres Wort zu den Neubauten an. Verehrter Herr Dr. Lenz, wie Sie wissen, bin ich da sehr engagiert; aber allein die Neubautenregelung mit der Nähe des Plenums wird das auch nicht schaffen. Wir bemühen uns aber, kurze Wege zu schaffen und das künftige Plenum so zu gestalten, daß diese Fünf-Minuten-Intervention vom Platz aus gegeben werden kann und die Platzanordnung anders ist, so daß man nicht nur in das „gegnerische" Weiße des anderen schaut, was zur Emotion anregt, wie wir alle wissen, sondern daß man auch in freundschaftlicher Art dem politischen Gegner in die Augen schauen kann.
({4})
Von den einzelnen Regelungen, die hier zu treffen sind, kann man sicherlich noch keine Wunder erwarten. Es liegt sehr viel an uns wie schnell wir das Notwendige und Vernünftige verwirklichen, und in den letzten Tagen sind wir sehr viel in uns gegangen. Ich möchte darauf hinweisen, daß manche Dinge auch längere Zeit brauchen, ehe sie in das Bewußtsein kommen.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, wie lange es z. B. gedauert hat, bis öffentliche Anhörungen wirklich als eine sehr sinnvolle Einrichtung aufgenommen worden sind. Es ist nämlich so gewesen, daß die in der ersten Legislaturperiode 1952 eingeführten öffentlichen Anhörungen bis zur 5. Wahlperiode in einer Art von Dornröschenschlaf waren. Hinterher wurde das Instrument häufig benutzt, beinahe ein bißchen zuviel, so daß wir in der letzten Wahlperiode schon wieder fragen mußten, ob wir des Guten nicht zuviel machen und wieder zuviel aus dem Plenum hinausverlagern. Auch diese Frage müssen wir neu durchdenken.
Es ist nur konsequent, daß die Enquete-Kommission Verfassungsreform empfiehlt, für die EnqueteKommissionen - dies ist der andere Komplex - endlich' ein Befugnisgesetz zu schaffen. Ich will darauf nicht näher eingehen, sondern nur sagen: Durch das Fehlen eines solchen Befugnisgesetzes sind Enquete-Kommissionen, die wirklich Untersuchungen anstellen wollen, in Schwierigkeiten geraten. Ich erinnere an die Absicht, eine Untersuchung über die Energiefrage vorzunehmen, die wir praktisch deshalb nicht umsetzen konnten, weil kein Mensch ohne Befugnis bei diesem komplizierten Komplex echte Erfahrungen und echte Ergebnisse sammeln kann. Deshalb muß dieses jetzt in Angriff genommen werden. Ich bin davon überzeugt, daß uns gerade dieses Instrument zu guten oder besseren Entscheidungsmöglichkeiten bringt.
Nicht zu Unrecht wird immer wieder bemängelt, daß sich der Bundestag oft allzusehr in die Regelung fachlicher Details und spezieller Einzelfälle verliert, die politisch nur von geringer Bedeutung sind, aber einen hohen Arbeitsaufwand und Spezialkenntnisse erfordern, wobei der Öffentlichkeit kaum verständlich zu machen ist, worum es geht. Es liegt wirklich nicht nur an uns, sondern an dem Mechanismus, den wir haben. Tatsächlich muß das Parlament lernen, Arbeit und Aufgaben in politisch vernünftigem Maße zu delegieren. Es muß andererseits auch lernen, politisch bedeutsame Fragen noch stärker an sich heranzuziehen. Ich weiß, das sagt sich leicht, läßt sich aber sehr viel schwieriger verwirklichen.
So schlägt z. B. die Enquete-Kommission Verfassungsreform zur Entlastung des Bundestages vor, durch eine Änderung von Art. 80 des Grundgesetzes die Delegation der Rechtsetzungsbefugnis auf die Bundesregierung zu erleichtern.
Während bisher bei einer Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung Inhalt, Zweck und Ausmaß durch Gesetz bestimmt sein mußten, soll es künftig genügen, wenn nur der Zweck der Ermächtigung bestimmt ist. Sie sehen, die Absicht dieser Empfehlung ist klar. Das Parlament soll von nebensächlichen Arbeiten befreit werden. Aber ich stimme der Entschließung der CDU/CSU-Fraktion zu dieser Regelung mit einer Einschränkung zu. Ich lehne den Vorschlag der Kommission nicht gleich ab. Ich meine ebenso wie Sie, daß dieser Vorschlag sehr überlegenswert ist, um die Absicht nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es darf nicht passieren, daß wichtige Regelungen dem Parlament weggenommen und irgendwo ohne unsere Kontrolle verabschiedet werden.
In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, daß wir uns hier alle erregt haben, als es um das Straßenverkehrsgesetz ging. Es ging darum, daß die Bundesregierung die Möglichkeit haben sollte, solche Dinge wie Geschwindigkeitsbegrenzungen alleine festzusetzen.
Das geht nicht. Wir müssen diesen Vorschlag also sehr sorgfältig durchdenken.
({5})
- Sehr gut. Wir werden viele Gelegenheiten haben, über die einzelnen Fragen zu sprechen. Das ist ja auch der Grund gewesen, diese Enquete-Kommission einzusetzen. Wir müssen das Ergebnis der Kommission nicht in allen Punkten akzeptieren, aber wir können aus dem Bericht entnehmen, was für unsere Arbeit sinnvoll ist.
Es gibt einen gewissen Widerspruch bei den Überlegungen. Das ist für mich symptomatisch. Es besteht eine Art gespaltene Situation des Parlaments und seiner Interessen. In diesem Widerspruch sehe ich zugleich einen Hinweis für Ziel und Richtung unserer Parlamentsreform.
Das Parlament muß sich rechtsstaatlich gesicherte Möglichkeiten verschaffen, Arbeit zu delegieren. Es muß sich andererseits die Möglichkeit offenhalten, Themen zu beraten und zu beschließen, die es für politisch bedeutsam hält. Diese Möglichkeit muß es sogar in verstärktem Maße haben. Zwischen diesen beiden Dingen müssen wir den richtigen Weg finden.
Ebenso gilt, daß das Parlament die großen politischen Konzeptionen für bedeutsame Zukunftsentwicklungen nicht durch Herumbasteln an zweitrangigen Einzelfragen aus dem Auge verlieren darf. Ich meine damit langfristige Planungen, die uns auch von den jeweiligen Regierungen vorgelegt bzw. nicht vorgelegt werden.
Wenn beide Aspekte miteinander verbunden werden sollen, besteht die Lösung meines Erachtens in der Schaffung flexibler Regelungen, die es dem Parlament erlauben, in dem einen Fall die Arbeit zu delegieren und sich im anderen Fall begleitend in den Entscheidungsprozeß einzuschalten, bevor alle Weichen gestellt sind. Das letztere ist angesichts der Problematik der Planungen von Bundes- und Landesregierungen erforderlich. Diesen Sachverhalt erwähnte ich eben bereits.
Die Empfehlung der Enquete-Kommission, Gesetze in der Regel in zwei statt wie bisher in drei Beratungen zu behandeln, dient der Straffung des parlamentarischen Verfahrens insgesamt und der Konzentration der Plenardebatten.
Ich halte es in diesem Zusammenhang durchaus für erwägenswert, die Regelung einzuführen, daß auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages politisch besonders bedeutsame bzw. kontroverse Gesetze generell wie bisher in drei Lesungen beraten werden. Das bezieht sich auf verfassungsändernde Gesetze sowie auf das Haushaltsgesetz. Dagegen erscheint mir der damit verbundene Vorschlag problematisch zu sein, auf Verlangen einer Zahl von Abgeordneten in Fraktionsstärke zwischen die beiden Beratungen eine gemeinsame öffentliche Sitzung des federführenden und der mitberatenden Ausschüsse - die sogenannte erweiterte Ausschußberatung - einzuschieben.
Meine Damen und Herren, zwar ist der Gedanke vernünftig, hierdurch die Plenardebatten von schwer verständlichen fachspezifischen Details zu entlasten, doch bringt dies meines Erachtens auch die Gefahr mit sich, daß in der Praxis nach und nach wichtige und allgemein interessierende Fragen dem Plenum entzogen werden, das Plenum also eher noch an Bedeutung verliert, statt an Bedeutung gewinnt, was ja unseren Absichten entspricht.
Von wesentlicher, verfassungspolitischer Bedeutung ist die Empfehlung der Enquete-Kommission, dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht - oder genauer: das Recht zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode - zu geben. Das ist ein sehr komplizierter Vorgang. Der Begriff „vorzeitige Beendigung der Wahlperiode" umschreibt insofern einen neuen Tatbestand, als das Parlament nicht einfach aufgelöst und nach Hause geschickt werden kann, sondern bis zur Konstituierung eines neugewählten Bundestages im Amt bleibt, womit auch bei verkürzter Wahlperiode kein parlamentsloser Zeitraum eintritt.
Meine Damen und Herren, dieser Gedanke, daß das Parlament ein ständig vorhandenes Verfassungsorgan sein muß, entspricht durchaus der Intention des Grundgesetzes, und es wäre daher nur konsequent, diese mit den bisherigen Formen der Parlamentsauflösung verbundene Lücke zu schließen. Ich erinnere daran: Bereits verwirklicht worden ist ja die Änderung des Art. 39 des Grundgesetzes; ich brauche darauf jetzt nicht näher einzugehen.
Sehr gründlicher Überlegung bedarf dennoch der Vorschlag, dem Bundestag das Recht zu verleihen, die Wahlperiode aus eigenem Ermessen vorzeitig zu beenden. Die Enquete-Kommission führt hierzu sicherlich gute Gründe an, indem sie darauf verweist, daß dem geltenden Auflösungsrecht noch gewisse monarchisch-konstitutionelle Züge anhaften. Und wer sollte nicht dagegen sein! In entscheidenden Fällen liegt die eigentliche Initiative beim Kanzler, und die allzu restriktive Ausgestaltung des Auflösungsrechts wird - Sie sehen, wie überparteilich ich hier spreche - unter Umständen den politisch unausweichlichen Neuwahierfordernissen, wie sie z. B. in einer parlamentarischen Pattsituation gegeben sind, nicht in angemessener Weise gerecht.
Ich verkenne andererseits nicht, daß die Kommission versucht hat, durch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit leichtfertigen Auflösungsbeschlüssen entgegenzuwirken und die Rechte der Opposition zu wahren. Dennoch muß meiner Ansicht nach bedacht werden, daß mit einem solchen Recht dem Parlament der Weg eröffnet werden könnte, sich in besonders kritischen Situationen der Verantwortung zu entziehen und seine Zuflucht in Neuwahlen zu sachen, die dann den Charakter eines reinen Plebiszits hätten, einer Form der Entscheidung also, die den Prinzipien des Grundgesetzes - und, so glaube ich, nach wie vor unserer gemeinsamen Auffassung - zuwiderläuft.
Meine Damen und Herren, so verlangen die Empfehlungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform sorgfältige Abwägung, aber sie bieten uns zugleich eine Fülle von Reformüberlegungen an, die wir nicht ungenutzt oder gar unbeachtet lassen dürfen. Und durch diese Diskussion wollen wir ja gerade auch darstellen, für wie interessant und wichtig wir diese Dinge halten. Ebenso müssen wir jetzt endlich die bereits in ihren Einzelheiten ausgearbeitete Geschäftsordnungsreform, die für unsere Arbeit ganz gewiß von großer Bedeutung ist, in Angriff nehmen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind aufgefordert, alles zu tun, was geeignet ist, die Stellung des Bundestages als des für unsere Demokratie wichtigsten Verfassungsorgans, seine Funktionstüchtigkeit und nicht zuletzt sein Ansehen bei den Bürgern zu stärken. Die in Ihrer Entschließung enthaltenen Vorschläge werden wir, Herr Kollege Dr. Lenz, in den entsprechenden Ausschüssen beraten; meine Kollegen werden darauf noch zurückkommen.
({7})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder Redner heute morgen ist mehr
oder weniger nur in der Lage, seine persönliche Meinung zu sagen. Es war für die Arbeit der Enquete-Kommission ungemein wichtig, daß die Beratungen über die Parteigrenzen hinweg geführt worden sind und nicht wie sonst bei der Arbeit des Parlaments jeweils zu jeder einzelnen Frage eine Rückkoppelung in die Fraktionen hinein vorgenommen wurde.
Ich werde zu den Bereichen in zwei Kapiteln des Schlußberichts Stellung nehmen und darüber hinaus aus zwei weiteren Kapiteln zu je einer Frage, bei der ich eine andere Meinung als die Kommissionsmehrheit vertrete, Stellung beziehe.
Ich bin zu einem relativ späten Zeitpunkt für unseren ehemaligen Kollegen Dr. Burkhard Hirsch in der Enquete-Kommission nachgerückt. So weiß ich, daß meine Verdienste an dem Gesamtwerk so relativ gering sind, daß ich ohne die Gefahr des Eigenlobes hier sagen kann: Der Schlußbericht der Enquete-Kommission ist ein bedeutsames Werk, das Aufmerksamkeit verdient, und zwar nicht nur etwa bedeutsam in dem, was uns an Änderungsvorschlägen unterbreitet wird, sondern auch und gerade dort bedeutsam, wo die Kommission zu einer vollen Bestätigung dessen kommt, was in unserer Verfassung verankert ist. Ich glaube, das ist schon ein Anlaß, mit Stolz und mit Genugtuung und vor allem mit der Beruhigung desjenigen, der sich in einer gefestigten Position weiß, festzustellen, daß fast drei Jahrzehnte nach Inkrafttreten unseres Grundgesetzes eine Kommission, zusammengesetzt aus Vertretern aller Fraktionen dieses Hauses und aus Experten, über weite Strecken zu: einer Bestätigung dessen gekommen ist, was die Väter des Grundgesetzes vor fast 30 Jahren für uns beraten und festgelegt haben.
Dies wird in Kapitel 1, das sich mit der Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger befaßt, besonders deutlich. Wir haben seit Jahren eine Diskussion, in der wiederholt darauf hingewiesen wird, daß politische Entscheidungen immer schwieriger werden, daß die Direktwirkung auf den Bürger immer direkter, immer gewichtiger wird, während wir auf der anderen Seite zuweilen Entfremdungserscheinungen zwischen den Wählern und den Gewählten feststellen können.
Die Enquete-Kommission hat die Lösung dahin gesucht: Wie kann die Legitimationskraft des demokratisch-repräsentativen Systems unseres Grundgesetzes gestärkt werden? Die Kommission ging davon aus, daß ein hochorganisiertes, kompliziertes Gemeinwesen in einer hochtechnisierten Welt nicht ohne repräsentative, oberste Leitungsorgane denkbar ist. Das Ziel unserer Bemühungen kann daher nicht etwa sein, diese obersten Leitungs- oder Verfassungsorgane abzubauen. Die Aufgabe kann nur sein, sich um eine verstärkte Legitimation zu bemühen und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, daß alles Tun jener obersten Leitungsorgane an den Volkswillen rückgebunden ist. Dazu ist nötig, daß diese Verfassungsorgane nicht nur organisatorischformal, sondern auch politisch-inhaltlich als Ausdruck des Volkswillens verstanden und von der Bevölkerung bejaht und akzeptiert werden.
Die Kommission hat geprüft, ob es zweckmäßig erscheint, plebiszitäre Elemente in unser Verfassungssystem aufzunehmen. Sie ist zu dem Ergebnis gekommen, daß dies nicht nützlich wäre. In diesem Zusammenhang wurde die Frage untersucht: Wäre es gut, Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung auf Bundesebene zu haben, und zwar über das hinausgehend, was wir bezüglich der Neugliederung des Bundesgebiets in Art. 29 des Grundgesetzes vorfinden? Die ausländischen Erfahrungen sind in dieser Hinsicht ja sehr unterschiedlich. Was wir insbesondere in der Schweiz vorfinden, kann für uns - so hat die Kommission gemeint - kein Modell sein, denn die Schweiz, ein überschaubarer Bereich mit einer starken langjährigen Tradition der Referendumsdemokratie, muß heute zuweilen auch Abstimmungsmüdigkeit und alle damit verbundenen Nachteile feststellen.
Für die Kommission waren bei ihrem Votum zu plebiszitären Elementen natürlich die negativen Erfahrungen der Weimarer Zeit und die Erkenntnis mit ausschlaggebend, daß plebiszitäre Demokratie die Integrationskraft der Parteien schwächen kann, daß ein Element der Desintegration in die politische Diskussion kommt, daß sich die Diskussion zusätzlich entrationalisiert, daß den Demagogen eine Chance geboten wird, worauf Theodor Heuss bereits im Parlamentarischen Rat nachdrücklich hingewiesen hat, und daß plebiszitäre Elemente vor allem zur Konfrontation beitragen.
Dies alles zusammengenommen, trägt dann gerade wieder zu dem bei, was wir heute manchmal auch in unserem System - oft zu Unrecht, weil dies nicht ganz so ist - beklagen, daß nämlich eine Entfremdung zwischen dem Bürger und seinem Staat eintritt.
({0})
- Dies war das Ziel, Herr Professor Schäfer: Es sollte das Gegenteil bewirkt werden. Ich stimme aber dem Ergebnis der Kommission zu, daß wohl das Gegenteil erreicht wird und daß man deswegen aus gutem Grunde die Aufnahme solcher plebiszitären Elemente abgelehnt hat.
Ich persönlich bin nachdrücklich der Meinung, daß dem demokratischen Rechtsstaat nur das repräsentative System korrespondiert und gemäß ist. Der liberale Rechtsstaat verlangt ja seiner Natur nach, von seiner Aufgabe her, von seiner Anlage her zunächst einmal die Bereitschaft und die Möglichkeit zum Gespräch und zur Diskussion, die Bereitschaft zum Maß auch in der politischen Auseinandersetzung und die Bereitschaft und Möglichkeit zum Kompromiß. Dagegen ist die plebiszitäre Demokratie außerhalb kleiner politischer Einheiten auf grob gerasterte Fragestellungen, auf Konfrontation, ohne die Möglichkeit zu haben, in der Auseinandersetzung auch aufeinander zuzugehen, angelegt. Das muß in einer hochkompliziert strukturierten Gesellschaft um so mehr gelten, in der die Entscheidungen immer komplexer werden.
Nun werden oft Zweifel geäußert - auch darin sehe ich einen Widerspruch -, ob unsere Parlamente und ihre Mitglieder überhaupt noch in der
Lage seien, die Aufgaben, die sich heute stellen, zu lösen. Ich denke, man muß Dogmatiker oder sehr naiv sein, wenn man daraus den Schluß zieht, daß der einzelne Stimmbürger ohne weiteres in der Lage sei, diese höchst komplizierten Fragen von sich aus als ein Feierabendpolitiker, der er ist und sein muß, zu lösen und zu entscheiden.
Die Enquete-Kommission hat auch die Gefahr gesehen, daß Parlamente versucht sein könnten, sich unter der Entscheidungslast der Verantwortung zu entziehen und diese auf das Ergebnis einer Volksbefragung, eines Volksentscheides abzuschieben. Dies wäre keine gute Entwicklung. Wenn man mehr Legitimation für das repräsentative System will, muß man allerdings dafür Sorge tragen, daß der Bürger in der Lage ist, sich mit diesem System stärker zu identifizieren. Meines Erachtens geht dies nur, wenn man die Voraussetzungen dafür schafft, daß der Bürger auch auf die personelle Zusammensetzung der von ihm gewählten Vertretungskörperschaften mehr Einfluß gewinnt.
Die Kommission hat zunächst einmal untersucht, ob es möglich ist, bei der Auswahl der Kandidaten dem Bürger stärkeren Einfluß zu geben. Ich halte das Ergebnis für richtig, daß man Vorwahlen nach dem Muster der USA nicht befürwortet hat. Wir haben ein unvergleichlich anderes Parteiensystem. Die Parteimitgliedschaft würde entwertet, wenn man Vorwahlen nach dem Muster der USA einführte, und die Parteien würden in ihrer Integrationsleistung insgesamt wohl geschwächt. Die Parteien sind aber ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Staat und dem Bürger in unserer Ordnung. Allerdings werden sie sich auf die Dauer gesehen - hier zeigen sich zuweilen gefährliche Entwicklungen - nicht als Staat im Staate, als geschlossenes System, verstehen dürfen, sondern es ist notwendig, daß Parteien offener nach draußen sind und daß innerparteilich demokratische Willensbildung auch tatsächlich auf allen Ebenen stattfindet.
Um das zu stärken, hat die Enquete-Kommission vorgeschlagen, fakultativ bei der . Aufstellung von Wahlkreisbewerbern für öffentliche Wahlen die Briefwahl vorzusehen. Das ist sicherlich ein Mittel, die Beteiligung von mehr Mitgliedern und damit auch von mehr Bürgern bei der Aufstellung von Wahlkreisbewerbern zu ermöglichen. Damit verbleibt allerdings die Kandidatenaufstellung allein bei den Parteien. Die Enquete-Kommission hat daraus den meines Erachtens richtigen Schluß gezogen: Wenn das so ist, dann muß dafür Sorge getragen werden, daß der Wähler bei der Wahl selbst mehr Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments erhält. Das ist besonders wichtig in einer Zeit, in der sich Lebensverhältnisse ganz allgemein zunehmend anonymisieren, auf der anderen Seite aber beim Einzelmenschen das Bedürfnis nach mehr Personalisierung spürbar wird. Die Schwierigkeiten der Sachentscheidung veranlassen den einzelnen, wenn er ehrlich ist, einzugestehen, daß er häufig für eine bestimmte Sachentscheidung inkompetent ist.
Wenn das aber beim einzelnen Bürger der Fall ist, dann ist dieser Bürger genötigt, bei der Wahl dem Kandidaten seiner Wahl auf Zeit einen persönlichen Vertrauensvorschuß zu geben. Diesem Anliegen werden die starren Landeslisten, die wir in unserem Bundestagswahlrecht heute 'haben, in keiner Weise gerecht. Hier hat der Wähler geringe Möglichkeiten. Die meisten Kandidaten stehen vor der Wahl bereits fest. Dem Wähler wird etwas vorgegeben, was er überhaupt nur noch in einem sehr beschränkten Ausmaß beeinflussen kann. Nach meinem Verständnis beinhaltet Wahlrecht als das vornehmste politische Recht des Volkssouveräns zweierlei: in der parteienstaatlich mitbestimmten Demokratie die Stärkeverhältnisse der politischen Parteien zueinander festzulegen, gleichzeitig aber auch unter den Personen der Kandidaten eine Auswahl zu treffen. Das ist es, was hier im Vorschlag der Enquete-Kommission Verfassungsreform enthalten ist - ein ernster Vorschlag an uns, ja, ich möchte fast sagen: ein Vorwurf, daß wir es künftig nicht dulden sollten, daß bei der Bundestagswahl die Hälfte dieses Wahlrechts, wie ich es eben zu umreißen versucht habe, von den Parteien usurpiert, erbeutet, an sich gerissen wird und dem Bürger draußen nur noch die andere Hälfte des an sich ihm zustehenden Wahlrechts verbleibt.
Die Enquete-Kommission hat deswegen für die Bundestagswahl die Einführung der begrenzt offenen Liste nach dem Muster der bayerischen Landtagswahl vorgeschlagen.
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Ich weiß, daß ein anderer Kollege nachher im einzelnen auf diese Frage eingehen wird. Ich kann es mir deswegen an dieser Stelle ersparen, im einzelnen darzulegen, was dieses System beinhaltet. Der Grundgedanke ist bekannt. Er zielt darauf, nicht nur das Stärkeverhältnis der Parteien festlegen zu können, sondern gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, einen bestimmten Bewerber zu wählen. Dies hat dann im Staatsgefüge, im Verständnis unserer Demokratie weitreichende Folgen. Hier bewegt der Wähler auch innerhalb der Parteien etwas, um nur ein wichtiges Argument zu nennen. Den Parteien ist nach der Wahl die Kontrolle möglich, wer in der Bevölkerung wirklich Ansehen genießt oder welche politische Richtung einer Partei sich stärker oder schwächer durchsetzen konnte. Hier bewegt der Wähler etwas.
Ich nenne nur das eindrucksvollste Beispiel all der letzten Jahre aus dem bayerischen Bereich. Innerhalb meiner Partei war Frau Staatsminister Dr. Hildegard Hamm-Brücher ehedem auf dem Platz 17 der Bezirksliste Oberbayern der FDP zur Landtagswahl 1962 plaziert. Am Tage nach der Wahl fand sie sich auf dem Platz 1 wieder.
({2})
Als ehemaliger Mitwahlkämpfer in diesem Wahlkampf kann ich versichern: Dies war das Ergebnis der Macht des Wählers. Dies war nicht das Ergebnis etwa des Einsatzes großer finanzieller Mittel und einer großen Propagandamaschinerie. Ich habe dies alles miterlebt.
Dieses Beispiel zeigt - neben vielen anderen, die man anführen könnte -, daß hier der Wähler MögEngelhard
lichkeiten erhält und sich dann auch stärker mit dem identifizieren kann, der für ihn im Parlament sitzt, weil es nicht ein allein aus der Parteienmacht vorgegebener Kandidat ist, sondern ein Kandidat und dann ein Abgeordneter, getragen vom persönlichen Vertrauen der Wähler, die ihm persönlich ihre Stimme gegeben haben.
Ich kann mich hier nicht nur persönlich für dieses System aussprechen, sondern dies auch für meine Partei und für meine Fraktion tun; denn seit dem Parteitag im November letzten Jahres in Kiel ist auf meinen Vorschlag hin im Kieler Programm der FDP die Forderung enthalten, daß auf allen politischen Ebenen von der Gemeinde über die Länder bis zum Bund die halboffenen Listen mit ihren starken Möglichkeiten für den Wähler eingeführt werden sollen.
Der Vollständigkeit halber darf ich darauf hinweisen, daß auch die Enquete-Kommission es abgelehnt hat, dem Gedanken der Volkswahl des Bundespräsidenten näherzutreten. Es ist sicherlich richtig, daß es der verfassungsrechtliche Zuschnitt dieses Amtes kaum duldet, es mit der unmittelbaren demokratischen Legitimation der Volkswahl auszustatten und daß darüber hinaus auch die Gefahr besteht, daß bei einer Volkswahl die Kandidaten genötigt wären, in ihrem Wahlkampf in die aktive Tagespolitik hineinzusteigen. Damit behielte das Amt des Bundespräsidenten nicht jene Distanz - ich sage nicht: Neutralität -, die über den Parteien steht, wie dies unsere Verfassung vorgesehen hat.
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Ein eigenes Kapital hat die Enquete-Kommission dem Thema des parlamentarischen Mandats gewidmet. Die Enquete-Kommission hat sich ganz dezidiert für das freie Mandat ausgesprochen; denn dieses freie Mandat ist ein notwendiges Strukturelement der parteienstaatlich bestimmten parlamentarischrepräsentativen Demokratie. Das freie Mandat ist eine Voraussetzung für einen vernünftigen Interessenausgleich im Parlament. Das freie Mandat sichert die Unabhängigkeit des Abgeordneten. Es ist ein interessanter Gedanke, den man im Schlußbericht nachlesen kann: Der Charakter des Abgeordnetenmandats läßt Schlüsse zu auf den Charakter des Staates.
Vielleicht ist es in einzelnen Worten heute nicht mehr zeitgemäß, aber man soll bei der Diskussion um das freie Mandat nie die berühmte Rede des englischen Parlamentariers Edmund Burke vergessen, die dieser 1774 in Bristol an seine Wähler gehalten hat. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren:
Selbstverständlich soll es Glück und Ruhm eines Abgeordneten ausmachen, mit seinen Wählern in stärkster Gemeinschaft, engster Übereinstimmung und innigster Fühlungnahme zu stehen. Ihre Wünsche sollten bei ihm großes Gewicht haben, ihre Ansicht hohe Geltung, ihre Angelegenheit unermüdliche Aufmerksamkeit. Es ist seine Pflicht, ihnen seine Ruhe, sein Vergnügen
und sein Wohlbehagen zu opfern, vor allem aber ihre Interessen den seinigen vorzuziehen.
({4})
Aber seine unparteiische Ansicht, sein reifes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen darf er weder ihnen noch irgendeinem Menschen noch irgendeiner Gruppe opfern. Euer Abgeordneter schuldet euch nicht nur seinen Fleiß, sondern auch sein Urteil, und wenn er dieses eurer Ansicht opfert, dann betrügt er euch, statt euch zu dienen.
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Ich glaube, auch in unserer Zeit ist dieses Zitat von Bedeutung und sollte berücksichtigt werden.
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Die Enquete-Kommission hat dies auch getan und in einer unserer Zeit etwas gemäßeren Sprache Darlegungen gebracht, die dies genau bestätigen.
Angesichts der Bedeutung des freien Mandats hat es die Enquete-Kommission dann auch abgelehnt, Konsequenzen zu ziehen: etwa die des Mandatsverlusts, wenn ein Abgeordneter aus seiner Fraktion austritt, wenn er zu einer anderen Fraktion überwechselt oder wenn er aus seiner Fraktion oder Partei ausgeschlossen wird.
Ich habe manchmal den Eindruck, daß in der Diskussion der letzten Jahre bestimmte Vorkommnisse der 6. Legislaturperiode allzu stark das Bild der Diskussion geprägt und bestimmt haben. Ich glaube, daß man niemals nach den Eindrücken des Augenblicks grundsätzliche Entscheidungen treffen soll. Es ließen sich andere Beispiele konstruieren: etwa das Verhalten eines Abgeordneten, der im Jahre 1933 nicht bereit war, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, und innerhalb des Parlaments daraus die Konsequenz gezogen hat, aus seiner Fraktion auszuscheiden, die für dieses Gesetz votieren wollte.
Ich will damit nur andeuten, daß die Frage des freien Mandats eine sehr grundsätzliche ist und daß wir der Enquete-Kommission dankbar sein sollten für ihre sehr klare Position.
Ich habe noch Bemerkungen zu zwei Sachfragen zu machen, in denen ich persönlich mit der Mehrheitsmeinung der Enquete-Kommission nicht einiggehen kann.
Zum ersten. Die Enquete-Kommission hat sich auch zur Dauer der Legislaturperiode geäußert. Nach ihrer Auffassung besteht kein Anlaß, hinsichtlich der bestehenden vierjährigen Dauer der Legislaturperiode eine Änderung vorzunehmen. Ich habe mich für eine fünfjährige Periode ausgesprochen und mich insoweit einem Sondervotum des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten Dr. Lemke angeschlossen.
Maßgeblich für die Dauer der Legislaturperiode in einer parlamentarischen Demokratie sind zwei Gesichtspunkte: die Effizienz der parlamentarischen Tätigkeit und die Notwendigkeit, in regelmäßigen Zeitabständen die demokratische Legitimation durch
Neuwahlen zu erneuern. Wenn wir davon ausgehen, daß - und das ist ja weithin unbestritten - die parlamentarische Arbeit nach der Wahl fast ein Jahr des Anlaufs braucht und das letzte Jahr einer Legislaturperiode schon ein Opfer der Vorbereitungen auf die Neuwahl und des eigentlichen Wahlkampfes wird, dann bleiben zwei Jahre reiner Arbeitszeit. Durch den Übergang zur fünfjährigen Legislaturperiode ließe sich die reine parlamentarische Arbeitszeit um 50 % steigern.
Diese Argumente erscheinen jedenfalls mir gewichtig. Es ist notwendig, für die Beratung und Verabschiedung gerade großer Gesetzesvorhaben genug Zeit zu haben, damit überhaupt die Aussicht besteht, innerhalb einer Legislaturperiode zu einem Ergebnis zu kommen.
Die letzte Bemerkung. Wie Frau Präsidentin Renger bereits erwähnte, hat sich die Enquete-Kommission mit der Gestaltung der Gesetzesberatung beschäftigt. Die Kommission hat dafür eine ganze Reihe tiefgreifender Änderungen vorgeschlagen. Mein Kollege Dr. Wendig wird darauf später im einzelnen eingehen. Ich beschränke mich auf einen Punkt. Nach dem Vorschlag der Kommission soll der Präsident bei der Schlußberatung von Amts wegen die Beschlußfähigkeit des Hauses feststellen.
Einen solchen Vorschlag kann ich nicht unterstützen. Ich habe mich insoweit dem Sondervotum unseres ehemaligen Kollegen Dr. Arndt angeschlossen, und zwar aus mehreren Gründen. Ich verkenne gar nicht, daß die geringe Besetzung des Plenums in der Offentlichkeit auf Unverständnis stößt, ja daß es geradezu ein Ärgernis ist, daß diese schlechte Be- setzung es vielen Bürgern erschwert, sich zunächst mit dem Parlament, aber auch mit diesem Staat voll zu identifizieren. Doch nach meiner Überzeugung stehen der von Amts wegen vorzunehmenden Feststellung der Beschlußfähigkeit prinzipielle Gründe entgegen. Auch scheint mir diese Maßnahme kein geeignetes Mittel zu sein. Wir werden nicht darum herumkommen, deutlich zu machen, daß dies ein Arbeitsparlament ist, für das immer besondere Eigenarten gelten. Die Anwesenheit aller ist - wenn man es einmal überspitzt ausdrücken darf - das Kennzeichen eines Zuhörerparlaments ohne Einfluß.
({7})
Und dies ist im Ergebnis immer - wenn wir etwa in totalitäre Staaten blicken - ein Scheinparlament. Wir werden nicht darum herumkommen, uns nach wie vor mit der Frage der schlechten Präsenz auseinanderzusetzen. Allerdings sollten wir uns - das ist schon betont worden ({8})
nicht selbst eine Räumlichkeit schaffen, die allen Erfahrungen aller Parlamente in demokratischen Staaten entgegensteht.
({9})
Ich glaube aber darüber hinaus, daß die Feststellung der Beschlußfähigkeit von Amts wegen auch kein praktikables Mittel wäre, zu anderen Ergebnissen zu führen. Es würde für den kurzen Zeitraum der Abstimmung ein falscher Schein erweckt. Störungen und Unruhe würden einziehen, wenn man es einmal nüchtern betrachtet, und zwar in doppelter Weise: für diejenigen, die im Plenum an den Beratungen teilnehmen, aber auch für jene, die gerade andere, unaufschiebbare, wichtige, im Parlamentarismus begründete Arbeiten zu verrichten haben.
Insgesamt meine ich: Die Arbeit der EnqueteKommission, ihr Bericht und die gewonnenen Ergebnisse wären es wert, sehr gewissenhaft von diesem Parlament - nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch - beraten zu werden. Ich hoffe, daß einiges von den Vorschlägen auch seine Umsetzung findet.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Verfassung muß wie alle menschlichen Einrichtungen im zeitlichen Wandel immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie allen gegenwärtigen und künftigen Anforderungen des durch sie organisierten Gemeinwesens gerecht wird; denn sie ist ja kein starres Organisationsstatut, sondern eine lebendige Form für die Verwirklichung des einzelnen in einer Gesellschaft, die sich wie die unsere als freiheitlicher Rechtsstaat und Sozialstaat versteht.
Die Enquete-Kommission Verfassungsreform ist in ihrem Schlußbericht zu dem grundsätzlichen Ergebnis gelangt, daß sich das Grundgesetz in -seinen wesentlichen Aussagen bewährt hat. Dieser Schlußbericht verdient wegen seines, wie ich meine, sachlichen Gewichts hohe Anerkennung. Die Bundesregierung sagt dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der Enquete-Kommission auch aus Anlaß der Parlamentsdebatte heute hierfür vor aller Offentlichkeit ihren ausdrücklichen Dank.
Die Bundesregierung, die die Kommission bei ihren Beratungen ständig begleitet und im jeweils erbetenen Umfang unterstützt hat, teilt deren Beratungsergebnis: daß sich das Grundgesetz in der Tat im Prinzip bewährt hat. Das gilt im großen und ganzen für die Themenfelder, mit denen sich der Schlußbericht der Enquete-Kommission im wesentlichen befaßt, aber auch für die Bereiche, mit denen sich die Kommission nicht eingehender befassen konnte, wie etwa die Grundrechtsgewährungen. Dazu will ich kurz ein Wort einleitend sagen.
Die Kommission hat sich auftragsentsprechend mit den Art. 1 bis 19 des Grundgesetzes nicht befaßt. Das spricht in keiner Weise gegen die zentrale Funktion gerade dieser Verfassungsbestimmungen für einen freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat, wird doch durch sie das Verhältnis von Staat und Bürger in entscheidender Weise geprägt. Es hat auch in der Vergangenheit nicht an Stimmen gefehlt - und sie mehren sich eher in der Gegenwart -, die eine Ergänzung des GrundrechtskataBundesminister Dr. Dr. h. c. Maihofer
logs für erforderlich halten. Ich nenne als Beispiele den Ruf nach Einführung eines Umweltschutzgrundrechtes, eines Datenschutzgrundrechtes, des Rechtes auf Bildung, aber auch des Rechtes auf Arbeit. Es lassen sich in der Tat gute Gründe dafür anführen, unsere Verfassung auch insoweit den sich ständig ändernden tatsächlichen Verhältnissen oder auch nur wertenden Überzeugungen anzupassen.
Auf der anderen Seite müssen auch die entschiedensten Befürworter einer Erweiterung des Grundrechtskatalogs, zu denen ich seit Jahren gehöre, einräumen, daß sich die in der Verfassung verankerten Grundrechte in der annähernd dreißigjährigen Verfassungspraxis voll bewährt haben. Dabei hat sich nämlich gezeigt, was von Anfang an so nicht zu erwarten war, daß diese Verfassungsbestimmungen durch ihre Offenheit durchaus geeignet sind, den sich ständig wandelnden Verhältnissen anzupassen.
Welche - mit anderen Worten - dynamische Kraft diesen Grundrechten innewohnt, läßt sich deutlich an der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dieser Jahrzehnte aufzeigen. Den Erfordernissen eines freiheitlichen Rechts- und Sozialstaates entsprechend wurden die Grundrechte bald nicht mehr ausschließlich als liberale Abwehrrechte im -klassischen Sinne verstanden. Ihnen kommt, wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung inzwischen ausführt, darüber hinaus jeweils ein institutioneller, generell wertsetzender, wie gesagt wird, und sozialstaatlich gebundener Gewährleistungsauftrag zu.
In jüngster Zeit wurden die Grundrechte darüber hinaus auch als Teilhaberechte des Bürgers an staatlichen Leistungen verstanden, in einigen Fällen sogar, etwa auch in Berufung auf Art. 1 unseres Grundgesetzes - der Verfassungsgarantie der Menschenwürde - mit dem Gehalt von Leistungsansprüchen. Das ist eine ganz unerwartete, außerordentlich zukunftsträchtige Entwicklung, wie ich meine, die weit über den ursprünglichen rechtsstaatlichen Garantiegehalt unseres Grundrechtskatalogs hinaus in sozialstaatliche Gewährleistungen eben dieser selben Grundrechte hineingeführt hat. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Aus ihr jedoch wird deutlich, daß die Grundrechte auch nach drei Jahrzehnten eine weiter tragfähige Grundlage für die dynamische Fortentwicklung unserer freiheitlichen rechts- und sozialstaatlichen Gesellschaftsordnung darstellen.
Bei den beiden Themenfeldern, mit denen sich die Enquete-Kommission in Schwerpunkten befaßt hat, nämlich der Stellung des Parlaments und seinem Verhältnis zur Regierung und dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern, geht es, wie die Kommission deutlich gesehen hat, in erster Linie darum, nach Wegen zu suchen, wie unser Gemeinwesen den ja nicht spannungsfrei zusammenstimmenden Prinzipien der parlamentarischen Demokratie auf der einen, der Freiheitlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit auf der anderen Seite, nicht zuletzt aber auch der Bundesstaatlichkeit unabdingbar verpflichtet bleiben kann, jedoch diese zugleich lebendig fortentwickeln soll. Das ist überhaupt das von der Natur der Sache her vorgegebene schwierige Problem: diese zugleich statische und dynamische Funktion einer Verfassung, angemessen gewichtet, miteinander zu verbinden.
Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat mit ihren Vorschlägen zur Arbeitsweise des Deutschen Bundestages in seinem Eigenbereich: dem Parlament wie in dessen Verhältnis zur Regierung wertvolle Beiträge geleistet, wie wir meinen. Natürlich gäbe es aus der Sicht der Bundesregierung hierzu auch einiges Kritisches anzumerken. Doch nicht zuletzt weil diese Empfehlungen des Kommissionsberichts zunächst einmal Angelegenheiten dieses Hauses selber betreffen, ist für die Bundesregierung gegenwärtig nicht der Zeitpunkt, darauf näher einzugehen. Dies wird sie zu gegebener Zeit tun. In ihrer Zielrichtung allerdings unterstützt die Bundesregierung diese Reformvorschläge vorbehaltlos. Sie ist auf ein funktionsstarkes Parlament ebenso angewiesen wie das Parlament seinerseits auf eine handlungsfähige Exekutive. Es kann nicht Sache der Bundesregierung sein, Vorschläge zu machen, wie der Schlußbericht verfahrensmäßig weiterzubehandeln ist. Das verbietet sich einfach.
Ich könnte mir jedoch vorstellen - gestatten Sie mir diese Anmerkung -, daß die Öffentlichkeit wie die Wissenschaft durch die heutige Parlamentsdebatte angeregt und eingeladen wird, die im Schlußbericht der Enquete-Kommission behandelten Fragen ihrerseits vertieft zu untersuchen. Da es um Grundfragen unserer staatlichen Ordnung geht, ist hier jedermann, jeder Bürger und nicht nur eine Gruppe von Fachleuten zur Meinungsbildung aufgerufen. Wann immer das Hohe Haus Gelegenheit nimmt, sich den Beratungsthemen der Enquete-Kommission zuzuwenden, wird jeweils auch die Bundesregierung ihren konstruktiven Beitrag zur weiteren parlamentarischen Behandlung der von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Reformvorhaben leisten.
Und nun noch eine knappe Schlußbemerkung! Vor einigen Jahren pflegten Skeptiker dem Respekt gegenüber dem Grundgesetz den Zweifel beizufügen, ob es sich nicht etwa nur um eine Schönwetterverfassung handele. Das konnten wir vielfältig lesen. Inzwischen hat sich, als unser Land schwere Erschütterungen durchleben mußte, unsere Verfassung gegenüber allen solchen Herausforderungen unerschüttert gezeigt. Sie steht heute - wie ich meine - gefestigter da als je zuvor, auch und gerade im Bewußtsein der Bevölkerung. Nur: Unser Grundgesetz muß in einer Republik, unserer Res publica, das uns allen Gemeinsame, das Verbindende über alle Gegensätze hinweg bleiben und auch weiterhin im Wandel der Zeiten bleiben können.
Hieran zu erinnern und damit zu appellieren an die stets aufs neue zu übende Bereitschaft aller zum Konsens der Demokraten - einem ja leider heute etwas abgegriffenen Wort -, der dennoch unumgänglich das Fundament jeder Konstitution darstellt, im Rahmen und nach Maßgabe unserer freiheitlichen demokratischen rechts- und sozialstaatlichen Verfassung scheint mir nicht nur angemessen, sondern auch notwendig an diesem Tage, an dem
wir mit dem Schlußbericht der Enquete-Kommission letzten Endes unsere Verfassung selbst würdigen; eine Verfassung - gestatten Sie mir auch noch diese Bemerkung -, die uns in einer großen Stunde - fast hätte ich gesagt, in einem lichten Augenblick - unserer schweren Geschichte als bleibender Auftrag zugefallen ist, zu einer Ordnung größter möglicher Freiheit und Sicherheit, Wohlfahrt und Gerechtigkeit in einem freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Freund Dr. Lenz hat das Dilemma der Redezeit in der Diskussion so anschaulich dargestellt, daß Sie gleich verstehen werden, warum ich der Versuchung widerstehe, auf meine Vorredner einzugehen. Ich würde mich zum Beispiel gern zu der Problematik äußern, die der Herr Bundesinnenminister mit dem Wort „Schönwetterverfassung" angerissen hat, denn ich vermag mich seinem Optimismus nicht unbedingt anzuschließen. Wir wissen gar nicht, welche Herausforderungen unserer Verfassung noch bevorstehen; mit der des Terrorismus sind wir jedenfalls bis heute noch nicht fertig geworden, wobei das allerdings nicht unbedingt ein Verfassungsproblem ist, sondern das - wie wir auch gestern wieder gesehen haben - einer unzulänglichen Gesetzgebung.
Ich muß mich leider auch zurückhalten, zum Problem des freien Mandats zu sprechen, obwohl die Tatsache, daß gestern ein sozialdemokratischer Abgeordneter hier erklärt hat, er stimme gegen sein Gewissen für ein bestimmtes Gesetz, immerhin in diesem offenen Bekenntnis eine Neuerung in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus ist, die in diesem Jahre 130 Jahre alt wird.
Bei der Austeilung der verschiedenen Themen habe ich das Thema des Bundesrates übernommen, zu dem ein Vertreter der bayerischen Christlich Sozialen Union in besonderer Weise berufen ist.
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Wenn das Wort Bundesrat im Rundfunk und in vielen Zeitungen fällt, wird oft hinzugefügt: das Organ der Länder. Das ist eine sicherlich richtige Erklärung der Zusammensetzung dieses Gremiums, eine Erläuterung, die vielleicht notwendig ist, weil leider die Namen Bundestag und Bundesrat phonetisch so nahe beieinanderliegen, daß sie leicht verwechselt werden können. Sicherlich ist der Bundesrat ein Organ der förderativen Staatsordnung und ein Bindeglied zwischen Bund und Ländern. Dieser Gesichtspunkt, der seine Zusammensetzung betrifft, sollte aber mindestens nicht der Ausgangspunkt der heutigen Betrachtungen im Zusammenhang des ersten Teils des Berichts der Enquete-Kommission sein.
Ich möchte von der Stellung des Bundesrates als eines Bundesorgans ausgehen, dessen Aufgabe dem Konzept einer gesamtstaatlichen Ordnung entspricht. Man hat in vielen Ländern ein verschieden ausgestaltetes Zweikammersystem. Zwar bestreiten manche zuständigen Stellen, daß man den Bundesrat formell eine zweite Kammer nennen könne - ich will darüber nicht streiten; die Bedenken sind aus der Zusammensetzung heraus gegeben, daß es nicht ein in unmittelbaren Wahlen gewähltes Parlament ist -; aber sicher ist, daß der Bundesrat unserer Verfassung die Rolle einer zweiten Kammer spielt, die vom Verfassungsgesetzgeber so gewollt ist und die der Tradition des modernen deutschen Verfassungsrechts entspricht. Von der Reichsverfassung von 1848, die nicht in Kraft getreten ist, über die Bismarck-Verfassung und die Weimarer Verfassung bis heute waren immer zwei Kammern der Gesetzgebung, wenn auch mit verschiedenen Stufen der Zuständigkeit, vorgesehen.
Daß und warum diese Rolle einer zweiten Kammer dem Bundesrat zugeschrieben ist, hat das Mitglied des Parlamentarischen Rates, unser späterer Kollege Dr. Adolf Süsterhenn klar zum Ausdruck gebracht, als er in der Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 30. November 1948 die Meinung dargelegt hat - ich zitiere -,
daß wir hier nicht eine Verfassung à la Rousseau schaffen dürfen, also eine Konzentration der totalen Kompetenzenfülle bei dem Parlament, sondern daß wir daneben auch mit Montesquieu den Gedanken der Gewaltenteilung berücksichtigen müssen. Der Gedanke der Volkssouveränität würde in Form der repräsentativen Demokratie voll zum Druckbruch kommen, wenn das vom Volk gewählte Parlament der totale Träger aller Gewalt sein würde. In diesem Sinne erscheint mir cum grano salis die Gegenüberstellung von Rousseau und Montesquieu sachlich gerechtfertigt.
Etwas später sagte Dr. Süsterhenn:
Wie Kollege Dr. Lehr heute morgen in einem anderen Zusammenhang ausgeführt hat, vertreten wir grundsätzlich das machtverteilende Prinzip. Wir wollen eine pluralistische Staatsgestaltung haben, eine Verteilung der Staatsgewalt auf eine Reihe von Organen, nicht nur im Sinne der Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz gemäß der klassischen Theorie, sondern darüber hinaus im Sinne einer weiteren Verteilung der Macht. Diesen Gedanken der Machtverteilung glauben wir u. a. am besten dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß neben dem Volksparlament, das aus der Volkswahl hervorgegangen ist, völlig gleichberechtigt in der Legislative eine andere Körperschaft in Gestalt der sogenannten zweiten Kammer steht.
Der Ausgangspunkt ist also sicherlich die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundesrates. Sie enthält eine Einschränkung der Rechte des direkt gewählten Parlaments. Dies ist gewollt. In der Balance der Macht, die eigentlich allen demokratischen Staaten in dieser oder jener Form eigen ist, gehören die Bremsen, die der Bundesrat als eine Art zweite Kammer dem Bundestag als der ersten Kammer auferlegt, zum Sinn eines Verfassungsstaates. Der Zweck ist die Verhinderung übereilter oder politisch nicht ausgereifter oder nur von allzu knapper Mehrheit getragener Gesetze. Nicht nur ZufallsentscheidunDr. Jaeger
gen, auch Augenblicksmehrheiten sollen hier korrigiert werden. Darüber hinaus soll überhaupt angestrebt werden, daß ein breiterer Konsens in der öffentlichen Meinung vorhanden ist, der entweder durch die Zustimmung des Bundesrates oder dadurch zum Ausdruck kommt, daß eine breitere Mehrheit im Bundestag notwendig ist, um eventuell den Bundesrat zu überstimmen.
Ich glaube, diese Gedanken, die in vielen Verfassungen und gerade in unserem Grundgesetz zum Ausdruck ,gekommen sind, gelten in unserer Zeit noch mehr als früher. Seit wir die Wissenschaft der Demoskopie haben und die Meinung des Volkes alle paar Monate - manchmal noch öfter - ermitteln können, wissen wir, wie wandelbar die Stimmung ist. Wir wissen nicht nur innerhalb einer Wahlperiode, sondern auch während des Wahlkampfes, in welchem Maße der Anteil der Bekenntnisse für die einzelnen Parteien steigt und fällt.
Die Stimmung am Wahltag mag manchmal selbst dann als Augenblicksstimmung erscheinen, wenn keine Verfälschung des Wahlergebnisses durch eine verfassungswidrige Propaganda der Bundesregierung zustande kommt, wie wir das bei der letzten Bundestagswahl erlebt haben.
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- Das ist jedenfalls die Wahrheit, Herr Kollege. Und die Wahrheit muß man halt gelegentlich aussprechen.
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts können Sie ja nicht leugnen.
Meine Damen und Herren, es kommt aber etwas anderes, auch sehr Ernstes hinzu. Nicht nur bei uns in Deutschland, sondern so ziemlich in allen großen europäischen Ländern erleben wir eine Teilung der Wählerschaft in zwei fast gleich starke Blöcke. Dabei handelt es sich nicht um Zwei-Parteien-Systeme, sondern um Zwei-Block-Systeme. Das bringt selbst dann Probleme mit sich, wenn nicht - wie in Italien - der eine Block totalitär und damit demokratiefeindlich ist. Auch wenn beide Blöcke anerkannterweise demokratisch sind wie in unserem eigenen Lande, wird dadurch die Gesetzgebung und die Regierungsführung schwierig. Der Bundesrat hat dabei eine Ausgleichsfunktion zu erfüllen.
Wir können - ganz gleich, ob die CDU/CSU oder die Sozialdemokratie die Regierung gestellt hat - feststellen, daß die Partei, die auf Bundesebene in der Opposition steht, häufig die Landstagswahlen gewinnt und damit ihren Einfluß im Bundesrat verstärkt. Das ist eine Entwicklung, die vom Verfassungsgesetzgeber ermöglicht und konkret vom deutschen Volke gewünscht wurde.
Die Folgen haben wir beispielsweise auf außenpolitischem Gebiet gesehen: In den 50er Jahren drohten die Verabschiedung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und in den 70er Jahren das Abkommen mit Polen beinahe zu scheitern. Das ist sicherlich für die jeweilige Regierung lästig. Aber demokratisches Regieren und demokratische Gesetzgebung sollen ja nicht im Druckknopf-Verfahren erfolgen.
Im übrigen ist das mitunter auch für die jeweilige Opposition lästig. Die Opposition muß sich bei ihrem Verhalten im Bundestag, wo sie üblicherweise überstimmt wird, überlegen, wie sie nachher im Bundesrat dasteht. Dabei erwähne ich noch nicht einmal das Problem der Koalitionsregierungen. Allein die klare Mehrheit der Opposition im Bundesrat veranlaßt sie, abzuwägen, ob sie etwas ganz scheitern läßt oder zu einem Kompromiß bereit ist, was dazu führt, daß sie Verantwortung mit übernimmt.
Auf diese Weise, glaube ich, stärkt der Bundesrat das politische Verantwortungsbewußtsein, zwingt die Bundestagsmehrheit zur Zurückhaltung und veranlaßt die Bundestagsopposition zur Mäßigung. Durch den Einfluß des Bundesrates werden weiterhin sachliche Überspitzungen und gesetzgeberische Parforceritte vermieden. So können Entscheidungen heranreifen und Kompromisse erzielt werden. Der Bundesrat ist somit staatspolitisch bedeutsam und erwünscht.
Eines der oberflächlichsten Argumente, das ich in der politischen Diskussion gehört habe, beinhaltet die Aussage, der Bundesrat sei heute eine Art „Gegenregierung". Das ist eine Aussage, die dadurch nicht besser wird, daß sie sogar vom Bundeskanzler Schmidt am 17. Mai 1974 in diesem Hause gemacht wurde.
Zunächst einmal hat hier der Bundeskanzler die Staatsgewalten verwechselt. Denn der Bundesrat ist überhaupt keine Regierung. Also kann er auch keine Gegenregierung sein. Er ist ein Parlament, kann also allenfalls ein Gegenparlament sein.
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- Darüber kann man streiten. Ich bin mit Adolf Süsterhenn einer Meinung. Aber ich weiß, daß die Meinung des Bundesverfassungsgerichtes Ihrer Auffassung entspricht. Das ist ein theoretischer Streit, der sich auf die Zusammensetzung bezieht. Davon habe ich gesprochen. Ganz sicher hat der Bundesrat die Rolle einer zweiten Kammer, auch wenn er nicht so zusammengesetzt ist, wie das bei den meisten zweiten Kammern der Fall ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer?
Wenn Sie meine Redezeit verlängern, gerne.
Herr Kollege Jaeger, wenn Sie der Bundesregierung dieses wörtliche Zitat von der „Gegenregierung" anlasten, dann müßte man Ihnen jetzt Ihre Formulierung „Parlament" genauso anlasten.
Würden Sie bitte Ihre Frage stellen.
Wir sind uns doch einig, daß der Bundeskanzler damit einen politischen Gestaltungsversuch des Bundesrates gemeint hat, der einer Regierungstätigkeit nahe kommt.
Nein, Herr Kollege Schäfer, ich vermag Ihnen hier nicht zuzustimmen. Der Herr Bundeskanzler hat, wenn er das Wort „Gegenregierung" verwendet hat, die Gewalten miteinander verwechselt. Sie mögen sagen, bei einem Nichtjuristen sei das verzeihlich, aber bei einem Bundeskanzler ist es, so würde ich sagen, trotzdem erstaunlich.
Dann, wenn ich mich dazu äußere, daß der Bundesrat ein Parlament ist, geht unser Streit eigentlich nur darüber: Ist ein Parlament nur etwas, was aus direkten Wahlen hervorgeht, oder kann es auch etwas sein, was indirekt gewählt oder von der Mehrheit der Landtage bestellt ist?
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Darüber kann man streiten, aber eigentlich ist das ein Streit über reine Rechtstheorie, der sich nicht lohnt. Denn die Rolle des Bundesrates ist die einer zweiten Kammer; er kann Gesetze verhindern.
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Ich muß noch einmal sagen: Man kann, wenn man die deutsche Verfassungsgeschichte sieht und an den
p Bismarckschen Bundesrat oder an den Reichsrat denkt, durchaus der Meinung sein, das sei auch ein Parlament, aber ich will mich darüber mit Ihnen nicht streiten, weil es ja Rechtstheorie ist, -ob man das nun „Parlament" nennt oder nicht. Sicherlich geht es um einen Teil des Gesetzgebungsverfahrens, und somit übt der Bundesrat - mindestens teilweise, also mit beschränkten Rechten - die Rolle einer zweiten Kammer aus, und damit sind wir in der verfassungspolitischen Wirklichkeit sogar einander nähergekommen.
Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat das Recht, zur gesamten Politik Stellung zu nehmen. Ministerpräsident Hans Ehard, der einer der Schöpfer, ja der eigentliche Schöpfer des Bundesrates ist - er hat das Modell, dann allerdings gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister, unserem späteren Kollegen Dr. Menzel, im Parlamentarischen Rat durchgesetzt -, hat, als er Bundesratspräsident wurde, im September 1950 erklärt:
Es erweckt leicht eine falsche Vorstellung vom Bundesrat, ihn nur als eine Interessenvertretung der Länder zu bezeichnen und gewissermaßen damit sein Interesse zu partikularisieren. Das Interesse des Bundesrates ist wie das des Bundestages und der Bundesregierung auf den Bund gerichtet. Darum liegen alle Bundesangelegenheiten, vor allem soweit sie die Schicksalsfra- gen der Gesamtnation betreffen, in der Sphäre seines teilnehmenden Interesses.
Meine Damen und Herren, im Rahmen der abgestuften Zuständigkeit, die besonders bei Zustimmungsgesetzen, die ja durch das Votum des Bundesrates scheitern können, zum Ausdruck kommt, hat der Art. 50 des Grundgesetzes tatsächlich die Bedeutung eine „alle Bereiche der Bundespolitik umfassenden Kompetenzformel" - um Ministerpräsident Hans Filbinger in seiner Eigenschaft als Bundesratspräsident zu zitieren. Ich kann mir in diesem Zusammenhang aber auch nicht den Hinweis auf Worte ersparen, die etwa der sozialdemokratische Erste Bürgermeister von Hamburg, Brauer, oder der sozialdemokratische Senator Ehlers aus Bremen gesprochen haben, möchte aber vor allem den ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zinn zitieren, der als Präsident des Bundesrates am 30. Oktober 1953 erklärt hat:
Man hat dem Bundesrat gelegentlich und vor
allem in außenpolitischen Fragen auch vorgehalten, daß er seine Beschlüsse unter parteipolitischen Gesichtspunkten gefaßt habe. Wer diesen Vorwurf erhebt, zeigt eine gewisse bedauerliche Unkenntnis der politischen Situation. Nach seiner Zusammensetzung und seiner Funktion ist der Bundesrat ein politisches Organ. .. Er ist als Bundesorgan dazu berufen, im Rahmen seiner Zuständigkeit an der politischen Willensbildung des Bundes mitzuwirken. Ich frage mich: Wie sollte er dieser Aufgabe gerecht werden, ohne politische Entscheidungen zu treffen?
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Ich muß es mir aus Zeitmangel ersparen, auch Bemerkungen des späteren Bundeskanzlers Brandt in seiner Eigenschaft als Regierender Bürgermeister von Berlin oder das Rentenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1975 zu zitieren, die klar zum Ausdruck gebracht haben, daß der Bundesrat dort, wo er Zustimmungsrechte hat, aber auch dort, wo er Einspruchsrechte hat, diese auf das gesamte Gesetz - und keineswegs nur auf die die Länder interessierenden Teile des Gesetzes - stützen kann, ja seinem Wesen nach stützen muß.
Gewiß ist der Bundesrat nicht, wie ich persönlich es beispielsweise gewünscht hätte und wie es auch Dr. Süsterhenn in der Rede, die er für die Fraktion der CDU/CSU im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates gehalten hat, zum Ausdruck gebracht hat, in vollem Sinne gleichberechtigt. Aber auch die gestufte Abstimmung, die also eine qualifizierte Zustimmung bei Verfassungsänderungen, eine einfache Zustimmung bei Zustimmungsgesetzen und einen Einspruch bei einfachen Gesetzen mit sich bringt, hat dem Bundesrat eine Bedeutung gegeben und seine Aufgabe, Organ der Gesamtpolitik zu sein, zum Ausdruck gebracht.
Es ist vielfach gesagt worden, daß der Mangel völliger Gleichberechtigung des Bundesrates eine Folge seiner Zusammensetzung sei, daß er eben nicht ein Organ unmittelbar frei gewählter Volksvertreter, sondern ein Organ der Landesregierungen ist, die allerdings von den Landtagen bestimmt worden sind. Dazu muß ich bemerken, daß mir das nicht überzeugend erscheint. Die Enquete-Kommission stellt klar: dem demokratischen Prinzip entspricht auch eine mittelbare Bestellung der Vertreter, jedenfalls in einem Organ, das an der Gesetzgebung
Di. Jaeger
mitwirkt, das ich also Zweite Kammer nennen möchte. Außerdem ist es geschichtlich öfter so, daß das sogenannte Oberhaus - der Bundesrat wäre ja, wenn wir britische Verhältnisse annähmen, ein Oberhaus, so wie der Bundestag als Volksvertretung als Unterhaus zu bezeichnen wäre - nicht voll gleichberechtigt ist oder in seinen Rechten abgebaut wurde. Schließlich darf ich darauf hinweisen, daß der österreichische Bundesrat, der im Unterschied zum Bundesrat unserer Verfassung ein freies Mandat hat, ebenfalls nicht völlig gleichberechtigt ist, so daß ich nicht glaube, daß das zwangsläufig mit der Zusammensetzung zusammenhängt.
Aber die Zusammensetzung, daß nämlich die Länderregierungen im Bundesrat abstimmen, entspricht dem Prinzip des Föderalismus, mindestens einer Möglichkeit, die das Prinzip des Föderalismus offenhält, und es entspricht deutscher Verfassungstradition seit 1871. Der Umstand, daß die Verwaltungserfahrung der Länder, die die meisten Gesetze auszuführen haben, bei der Gesetzgebung unmittelbar mitwirkt, hat sich doch oft, wie ich als früherer Ausschußvorsitzender weiß, sehr segensreich in unserer Gesetzgebung ausgewirkt.
Außerdem ist der Gedanke, daß die Länderregierungen abstimmen und bei der Gesetzgebung mitbestimmen, ein in die Zukunft weisender Gedanke, weil im künftigen vereinten Europa der Ministerrat der Länder - allerdings der Nationalstaaten, also auf einer höheren Stufe - ebenfalls solche Rechte in Anspruch nehmen kann, in Anspruch nehmen soll und heute schon in Anspruch nimmt. Ich glaube, daß das überhaupt der einzige Weg ist, ein vereintes Europa zu schaffen.
Die Enquete-Kommission hat mit Recht festgestellt, daß der Konsens, der sich über die Bedeutung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat im Laufe der Beratungen herausgestellt hat, bis zum heutigen Tage fortdauert. Ich kann sagen, er hat sich verfestigt. Die Enquete-Kommission hat mit Recht auch festgestellt, daß in dem Maße, in dem durch Verfassungsänderungen die Rechte der Länder eingeschränkt werden und damit die Bedeutung ihrer Eigenstaatlichkeit geringer wird, das Gewicht des Bundesrates als föderatives Organ geradezu zunehmen muß.
Sicherlich hat sich der Bundesrat bewährt. Ich meine, Ministerpräsident Kiesinger hat als Präsident des Bundesrates am 9. November 1962 mit Recht gesagt:
Es gibt keinen wirksameren Schutz gegen provinzielle Verkümmerung und partikulare Absonderung als diese Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung im Bundesrat.
Er hat den Bundesrat einen Integrationsfaktor genannt. Ich glaube, diese Integrationsfunktion des Bundesrates sollte in der Zukunft der deutschen Verfassung fortgesetzt werden.
Ich stimme deshalb der Enquete-Kommission zu, wenn sie den Bundesrat ein integrales Organ des bundesstaatlichen Systems nennt und wenn sie erklärt, die zentrale Rolle des Bundesrates als föderatives Organ müsse uneingeschränkt erhalten bleiben. Dies ist auch die Meinung der Fraktion der CDU/CSU.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schöfberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den Schlußbericht der Enquete-Kommission aufmerksam gelesen hat, kann sich dem Dank des Herrn Präsidenten an die Kommission uneingeschränkt anschließen. Selbst in einem als fleißig bekannten Arbeitsparlament wie dem Bundestag ist diese Arbeit eine hervorragende; sie sticht hervor. Allerdings habe ich trotz eifriger Lektüre keine Ausführungen über Redezeit und die innere Parlamentsreform gelesen. Das sind schon Probleme und Vorhaben, die wir ohne Verfassungsreform bewältigen müssen und auch bewältigen können.
Zur Verfassungsreform ist die qualifizierte Mehrheit notwendig. Deswegen wird sich wohl von Anfang an die Einsicht verbreiten müssen, daß vordergründiger Streit in besonderem Maße unfruchtbar bleiben muß.
Manche Bürger fragen: Warum denn überhaupt Verfassungsreform? Dem Begehr nach Verfassungsreform haftet ja, wenigstens am Rande, ein bißchen der Geruch der mangelnden Treue zum Bestehenden an. Viele - vor allem jüngere - Mitbürger beklagen, daß das Grundgesetz schon öfter als dreißigmal geändert worden sei, während es die amerikanische Verfassung in 200 Jahren nur zum 21. Amendment gebracht habe.
Verfassungsänderungen entsprechen aber nun einmal dem Selbstverständnis unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz .ist keine zementierte Verfassung. Seine einzelnen Normen beanspruchen keinen sakrosankten Ewigkeitswert. Irreversibel sind erklärtermaßen Art. 1 über die Würde des Menschen und Art. 20 über die Fundamentalnormen, die Grundwertentscheidungen des staatlichen Zusammenlebens. Im übrigen sind nach dem erklärten Willen der Verfassung alle anderen Normen veränderbar, d. h., die Kraft der Selbsterneuerung im demokratischen Prozeß ist geradezu ein Wesensmerkmal unseres Grundgesetzes als lebendiger Verfassung. Diese Chance gilt es in der Politik rechtzeitig zu nutzen.
Weder die Enquete-Kommission noch der Bundestag haben die Absicht, eine Totalrevision des Grundgesetzes anzustreben. Niemand will die Bundesrepublik bei dieser Gelegenheit neu verfassen, weder in ihren Werten noch in ihren Institutionen. Rechtzeitige Verfassungsreform heißt aber werterhaltende und wertfördernde Strukturreform. In die konkrete Aufgabe übersetzt, bedeutet dies: Dort, wo Grundrechte und Grundwerte in der Verfassungswirklichkeit zu einem neuen Durchbruch drängen, müssen rechtzeitig politische Weichen gestellt, Strukturen verändert, Institutionen reformiert oder Prozesse der Entwicklung eingeleitet werden, damit die Verfassung lebendig bleibt, damit sie nicht
Friktionen erleidet, damit wir nicht etwa nach Jahren versäumter Gelegenheiten in einer uns nicht lieben verfassungswidrigen Verfassungswirklichkeit erwachen.
Der erste Schwerpunkt der Arbeit der Enquete-Kommission waren die politischen Mitwirkungsrechte der Bürger in der repräsentativen Demokratie. Auf dieses Thema will ich mich beschränken. Als Bürger ides Freistaates Bayern, der in seiner Verfassung Volksentscheid und Volksbegehren kennt, bedaure ich es eigentlich sehr - das ist meine private Meinung, nicht .die Meinung meiner Fraktion -, daß die Enquete-Kommission Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung als Neuerung abgelehnt hat.
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Die Enquete-Kommission meint, dadurch würde die Bedeutung des Parlaments eingeschränkt. Nun ist dies ja eine petitio principii. Das ist genauso, als wenn man sagte: Ich bin gegen Hagelschlag, denn bei dieser Gelegenheit hagelt es immer. Es ist halt die Eigenheit von Volksentscheiden und Volksbegehren, daß an der Stelle des Parlaments unmittelbar Recht gesetzt wird. Wir in Bayern leben eigentlich sehr gut und sehr erfolgreich mit diesen Einrichtungen. Es ist auch kein Mißbrauch damit betrieben worden. Das Parlament ist nicht aus den Angeln gehoben worden. Wir stellen nur fest: In 30 Jahren sind zwei Volksentscheide gescheitert und zwei Volksentscheide gelungen. Der Volksentscheid über die Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule an Stelle der früheren Bekenntnisschule als Regelschule und der Volksentscheid über die Rundfunkfreiheit hatten Erfolg.
In Bayern jedenfalls konnten wir feststellen, daß durch diese Volksentscheide allenfalls die mit absoluter Mehrheit regierende Staatspartei ein bißchen durch das Volk selbst in die Schranken gewiesen worden ist. Die Bedeutung des Parlaments ist dabei unberührt geblieben, und die demokratische Ordnung ist damit sicher gestärkt worden. Warum eigentlich diese für mein Gefühl unbegründete Furcht vor den Entscheidungen des. Volkes im_ Gesamtgefüge der repräsentativen Demokratie?
Das zweite Problem, das die Enquete-Kommission deutlich angesprochen hat, ist die Aufstellung von Wahlkandidaten. Nur 5 °/o der Bürger sind Mitglied einer politischen Partei. Nur Mitglieder einer politischen Partei haben maßgebenden Einfluß auf die Aufstellung von Bewerbern. Bei vielen Bürgern verdichtet sich der Eindruck, das Rennen sei, was die Personen anbetreffe, lange bevor die Wahlkabinen eröffnet werden, längst gelaufen. Und wenn dann das Rennen in einem Wahlkreis sehr spannend wird und der bisher immer unterlegene Kandidat den Wahlkreis gewinnt, stellt der Bürger mit Überraschung fest, daß nichtsdestoweniger der unterlegene Kandidat auch wieder dem Deutschen Bundestag angehört. Das verstehen jene nicht, die im Wahlsystem halt nicht so bewandert sind. Deswegen sollte man durchaus überlegen, wie dem Bürger mehr Einfluß auf die Aufstellung von Kandidaten eingeräumt werden kann.
Die Primaries nach amerikanischem Vorbild eignen sich mit Sicherheit nicht für unser Parteiensystem, für unsere politische Landschaft, denn sie passen auf locker gefügte, heterogene, sehr unprogrammatische Wahlvereine, wie es sie in den Vereinigten Staaten gibt. In New Orleans kandidieren allein sieben Kandidaten der Demokratischen Partei für das Amt des Oberbürgermeisters. Die Partei ist also offenkundig nicht in der Lage, selbst zu filtern, so daß man hier wohl einen Bürgerentscheid vorkoppeln muß, um überhaupt zu einem geordneten Wahlverfahren zü kommen. Bei uns aber, wo die Parteien gefestigte, programmatische, beständige politische Gruppierungen sind, die an der Willensbildung des Volkes von Verfassungs wegen mitwirken, eignen sich solche Primaries sicher nicht. Die Briefwahl aller Parteimitglieder dürfte für jeden, der das Innenleben einer Partei kennt - wie wir alle -, auch sehr problematisch sein.
Ein anderer Vorschlag der Kommission ist allerdings bestechend. Ich wiege mich nicht in der Hoffnung, daß er morgen oder auch nur bis zur nächsten Bundestagswahl zu verwirklichen sein wird. Ich meine den Vorschlag der Kommission, begrenzt offene Listen einzuführen und damit dem Vorbilde der bayerischen Verfassung und des bayerischen Wahlsystems nachzueifern. Der Grund, warum meine Fraktion mich hierher geschickt hat, besteht vielleicht darin, daß ich als Bayer dieses System gut kenne. Ich habe ja schon zweimal unter diesem System kandidiert und bin auch gewählt worden.
Das bayerische Landtagswahlsystem räumt dem Bürger eine größere Auswahl, eine intensivere Wahl ein als das Bundeswahlsystem. Das kann niemand bestreiten, der die Unterschiede kennt. Unser Bundeswahlsystem ist ein Verhältniswahlrecht mit einer quasi aufgepappten Erststimme, damit die Wahl in den Wahlkreisen ein bißchen interessanter wird, damit das persönliche Element in der Politik zum Vorschein gebracht wird. Aber wir alle wissen doch, daß die Erststimme - um das einmal flapsig auszudrücken - ein besserer Wahltotalisator im Wahlkreis ist, daß sie jedoch für die quantitative Zusammensetzung des Parlaments, für die Stärke der einziehenden Fraktionen keinerlei Bedeutung hat. Wenn die Entscheidung über den Sieger im Wahlkreis gefallen ist, hat die Erststimme für die Zusammensetzung des Parlaments jegliche Bedeutung verloren.
Beim bayerischen Wahlsystem ist dies anders. Da ist die Erststimme - wie die Zweitstimme -eine vollwertige, vollgültige Stimme für die quantitative und qualitative Zusammensetzung des Parlaments. Während im Bundestagswahlsystem allein die Zweitstimme für die quantitative Zusammensetzung des Parlaments entscheidend ist und die Erststimme nur bei Überhangmandaten eine Rolle spielt, hat in Bayern der Bürger zwei volle Stimmöglichkeiten.
Ich will nicht auf die technischen Einzelheiten eingehen. Das läßt sich in den Beratungen prüfen und abklopfen. Es ist nur so, daß wir in Bayern eine sogenannte bewegliche Liste haben. Daran knüpfen sich die Vorteile dieses Wahlsystems. Der
Bürger muß also nicht mit seiner Zweitstimme eine Partei wählen. Er kann entsprechend seiner Präferenz innerhalb der Liste einer Partei einen Kandidaten wählen und wählt damit gleichzeitig seine und des Kandidaten Partei.
Man wird fragen: Wie viele Bürger machen denn von dieser besonderen Möglichkeit Gebrauch? Es sind in Bayern immerhin 85 % aller Wahlberechtigten, die die Zweitstimme nicht nur durch ein Kreuz in der sogenannten Kopfleiste abgeben, sondern einen einzelnen Bewerber auswählen.
Dieses Verfahren ist in Bayern also seit 30 Jahren bewährt und bei der Bevölkerung sehr beliebt. Bei der Auszählung werden nun Erst- und Zweitstimmen gleichermaßen gewichtet und zusammengeworfen, und es zieht derjenige Kandidat ins Parlament ein, der die größere Summe an Erst- und Zweitstimmen auf sich vereinigt hat.
Das ist auch für die Kandidaten ein Vorteil. Ich sage das einmal deutlich. Der „stille Experte", der in der Öffentlichkeit nicht oder ganz wenig bekannt ist, oder das Mitglied des Vorstandes eines großen deutschen Unternehmens, das als Lobbyist über einen „warmen" Listenplatz mit ins Parlament gebracht werden soll, haben bei diesem System keine Chance, werden sehr wahrscheinlich nicht gewählt werden. Andere aber, die durch Arbeit in Verbänden, durch Arbeit in Berufsgruppen, durch überregionale Arbeit bekannt werden, springen auf dieser beweglichen Liste weit nach vorn. Wir haben in Bayern Fälle, in denen einzelne Bewerber - das gilt für alle Parteien - bis zu 40 Plätze gutgemacht haben. Die Frau Staatsminister Hamm-Brücher ist ein lebendes Beispiel dafür, daß man 40 Plätze nach vorn springen kann. Sie ist nämlich einmal von ihrer Partei weit unter ihrem Wert und entgegen ihrem Bekanntheitsgrad am Ende der Liste angesiedelt worden und dann als zweite in den Landtag eingezogen.
Sicher muß man hier darauf hinweisen, daß der Einfluß der Parteivorstände und Delegiertenkonferenzen bei der Aufstellung der Bewerber nach wie vor gegeben ist; denn die Liste wird so aufgestellt wie auch die Bundestagswahllisten. Aber die Letztentscheidung liegt beim Bürger. Das heißt, der Einfluß der Bürger steigt gegenüber dem Einfluß von Vorständen und parteiinternen Delegiertenkonferenzen. Das muß man sehr klar sehen.
Aber bei uns in Bayern haben die Parteien das dankbar angenommen. Sie haben diese Wahlentscheidung auch als Barometer für die Beliebtheit der angebotenen Kandidaten verstanden. Wenn in Bayern die Parteien darangehen, eine neue Liste für die Landtagswahl aufzustellen, nehmen sie als erstes die Liste der letzten Wahl und orientieren sich an der vom Bürger bestimmten Reihung. Es hat nämlich keinen Sinn, einen Bewerber immer obenan zu stellen, wenn er vom Bürger nicht akzeptiert wird; umgekehrt gilt dasselbe, nämlich daß es keinen Sinn hat, jemanden immer an das Ende der Liste zu setzen, wenn dieser immer um 12, 20 oder 40 Plätze nach vorne gewählt wird.
Wir sollten uns also bei den Beratungen die Mühe machen, dieses bayerische Wahlsystem, das übrigens seine weitergehenden Entsprechungen im baden-württembergischen und im bayerischen Kommunalwahlsystem hat, näher anzuschauen, zu prüfen, und uns die von der Enquete-Kommission Verfassungsreform bereits aufgeworfene Frage vorlegen, ob wir mit der Einführung dieses Systems der beweglichen Liste im Bundeswahlgesetz dem Bürger auch auf Bundesebene eine Möglichkeit mehr geben können, entscheidender an der Zusammensetzung des Parlaments und damit an der Gestaltung unserer parlamentarischen Demokratie mitzuwirken.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wendig.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Eingang zwei allgemeine - oder wenn Sie wollen: grundsätzliche - Bemerkungen.
Für mich steht zu Beginn einer Debatte zum Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform die Frage, welche zwingenden Gründe den Verfassungsgesetzgeber dazu nötigen, weniger als 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes eine mehr oder weniger umfassende Änderung der Verfassung zu debattieren. Diese Zurückhaltung, so möchte ich es einmal nennen, ist grundsätzlich für uns schon bei einer einzelnen Verfassungsänderung oberstes Gebot. Die Verfassung als Staatsgrundgesetz hat vor jeder anderen gesetzlichen Norm grundlegend statische Bezüge, und dies, wie ich meine, mit gutem Grund. Das Selbstverständnis des Staates, die dauerhafte Bindung der Bürger an die stataliche Gemeinschaft und die Bildung einer staatsbürgerlichen Tradition über Generationen hinweg - dies alles zwingt dazu, die einmal beschlossene Verfassung möglichst unverändert zu erhalten. Es wäre für den hohen Rang der Verfassung, für Bürger und Staat nichts schädlicher als ein beständiges Novellieren.
Gleichwohl wird man Wortlaut und Inhalt der Verfassung von Zeit zu Zeit in sehr behutsamer und sehr sorgfältiger Weise daraufhin zu überprüfen haben, ob sie aufgekommene Probleme auf die Dauer befriedigend, zu lösen vermag oder ob vor allem neue Erkenntnisse und neue Tatsachen dazu zwingen, eine Präzisierung oder möglicherweise eine Änderung von Normen vorzusehen. Das müssen dann allerdings Entwicklungen von Rang und Gewicht sein und nicht nur, wie mein Kollege Engelhard vorhin gesagt hat, Ereignisse oder Vorkommnisse des Augenblicks.
Für die Arbeit der Enquete-Kommission und auch für die Debatte ihres Schlußberichts genügt aber nicht schon die schlichte und vielleicht nicht einmal ganz richtige Erkenntnis, der Verfassungsgesetzgeber von 1949 habe - teils vielleicht sogar unter Zeitdruck - unter besonderen politischen und staatsrechtlichen Ausnahmeverhältnissen nur eine unvollkommene Verfassung schaffen können oder schaffen wollen. Das Grundgesetz - ich darf das für
mich und wohl auch für meine Fraktion unterstreichen - hat sich sowohl im allgemeinen als auch im besonderen als eine constitutio perfecta bewährt. Notwendige Korrekturen sind aus gegebenen Anlässen mit Maß vorgenommen worden.
Was nach meiner Auffassung bei einer solchen Überlegung stärkeres Gewicht hat, ist dann allerdings die Erkenntnis, daß das Grundgesetz von 1949, noch zu stark im konstitutionellen deutschen Staatsrecht befangen, diesen Staat vielleicht ein wenig zu sehr von der Exekutive her gedacht hat. Zu Recht führt nämlich der Schlußbericht der Enquete-Kommission folgerichtig aus, daß das Parlament der Legitimitätsspender für die gesamte weitere staatliche Organisation sei - ich nehme den Bundesrat hier einmal aus - und daß das Parlament die Legitimität an die Organe der Exekutive und der Judikative weiterleitet. Wie gesagt, der Bundesrat ist hierbei ein besonderes Problem. Ich will auf die Ausführungen des Kollegen Dr. Jaeger hier nicht im einzelnen eingehen. Auch wir unterstreichen die Notwendigkeit, den Bundesrat als ein Organ des Bundes beizubehalten, das freilich - auch darüber besteht ja kein Streit -.kein frei gewähltes Parlament ist. Aber darüber brauchen wir jetzt wohl nicht zu debattieren.
Ein zweiter allgemeiner Grundsatz. Man mag mit Recht darüber streiten, ob es sinnvoll ist, die verfassungsrechtlichen Normen mit solcher Perfektion auszugestalten, daß jeder denkbare Konflikt von vornherein lösbar erscheint. Das wäre vielleicht ein wenig zuviel des Guten - wenn ich es einmal so leger ausdrücken darf. Auf der anderen Seite wird aber wohl auch zu bedenken sein, daß für denkbare Konflikte präzise Regelungsnormen in der Verfassung parat sein müssen. Es wäre nach meiner Meinung gefährlich, stieße man bei der Lösung oder den Versuchen zur Lösung solcher Konflikte allzu schnell an die Grenze des von der Verfassung gesetzten Rechts. Man sollte nämlich, meine ich, alles vermeiden, was die politisch verantwortlichen Kräfte bei der Bewältigung solcher Situationen allzu leicht auf die Konstruktion eines in der Verfassung nicht vorgesehenen Staatsnotstands drängen könnte.
Gehen wir von diesen beiden Grundforderungen aus, so erhält der Abschnitt über die allgemeine Stellung des Bundestages in dem Schlußbericht der Enquete-Kommission ein besonderes Gewicht.
Zwei Vorschläge der Kommission sind durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes im Jahr 1976 bereits realisiert worden. Art. 39 in seiner jetzigen Fassung legt fest, daß erstens die Wahlperiode erst mit dem Zusammentreten des neuen Bundestages endet und zweitens der neue Bundestag spätestens am 30. Tag nach der Wahl zusammentritt.
Einen weiteren sehr wesentlichen Fortschritt in diesem Sinne bedeutet für mich der Vorschlag der Kommission, das Institut der Parlamentsauflösung durch die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode zu ersetzen. Mir erscheint hierbei wichtig, daß nach den Vorschlägen der Kommission dieses Instrument nicht nur an die Stelle der Parlamentsauflösung durch den Bundespräsidenten treten soll, also in den Fällen des Art. 63 Abs. 4 und des Art. 68 des Grundgesetzes. Der Bundestag selber muß, meine ich, die verfassungsrechtliche Möglichkeit haben, mit einer qualifizierten Mehrheit die vorzeitige Beendigung einer Wahlperiode zu beschließen. Vor dem Hintergrund zurückliegender Ereignisse wäre dies nach meiner Auffassung eine saubere und dem Rang des Parlaments durchaus angemessene Lösung.
Als in der Tendenz positiv möchte ich weiter den Vorschlag bewerten, in Art. 68 des Grundgesetzes bei der Regelung der Vertrauensfrage neben der bisherigen Regelung - der Wahl eines neuen Bundeskanzlers - die Möglichkeit vorzusehen, daß der Bundestag dem amtierenden Bundeskanzler das Vertrauen ausspricht. Wir meinen, diese Alternative bietet besser als die gegenwärtige Regelung des Art. 68 die Möglichkeit, bestimmte Situationen im Interesse einer Stabilisierung der politischen Lage zu bewältigen.
Die Abschnitte über die Gestaltung der Gesetzgebung und über die Rechtsetzungskompetenz der Exekutive, denen ich mich jetzt zuwenden möchte, will ich in einem engen Zusammenhang dargestellt sehen.
Zwei Grunderkenntnisse in der Entwicklung unserer hochdifferenzierten Industriegesellschaft mit der Notwendigkeit zur Spezialisierung der Gesetzgebung auf der einen und der langfristigen Aufgabenplanung auf der anderen Seite treffen hier zusammen. Da ist zum einen die Zunahme der Gesetzgebung in einer Vielzahl von Einzel- und Spezialgesetzen, die, wie der Schlußbericht - nach meiner Meinung: zutreffend - feststellt, nicht nur Routineaufgaben des Parlaments sind und deren Materien daher weiter in einem gewissen Rahmen der Regelung durch Gesetze bedürfen sollen. Zum anderen haben die Bereiche längst zugenommen und nehmen weiter zu, in denen eine langfristige Aufgabenplanung unerläßlich ist. Diese wird von der Exekutive betrieben. Das Parlament hat nur bei einzelnen Maßnahmegesetzen einen - zudem nur geringen - politischen Einfluß. Das hat dazu geführt, daß die Parlamente einerseits an einer Überfülle notwendiger Gesetzesarbeit zu ersticken drohen und ihnen andererseits kein hinreichender politischer Einfluß auf die Aufgabenplanung zusteht, einen Bereich, der für die Zukunft unseres Staates und unserer Gesellschaft oft von weit größerer Bedeutung ist.
Wollte man den Gesetzgeber von legislativer Routinearbeit zugunsten der Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive entlasten, wäre die Stellung des Parlaments in weiten Bereichen der Gesetzgebung noch mehr geschwächt. Das wollen wir wiederum auch nicht. Beklagen wir doch heute schon ein zu weites Ausufern der Verordnungspraxis in der Exekutive.
Das alles im Interesse einer Ausgewogenheit und einer besseren Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie zu lösen gleicht auf den ersten Blick sehr der Frage, wie die Quadratur des Zirkels nun eigentlich zu lösen sei.
Der Schlußbericht der Enquete-Kommission hat eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt, die im einzelDr. Wendig
nen sicherlich sehr sorgfältig zu erwägen sind. Ob sie bei ihrer Verwirklichung den Gesamtkomplex, den ich mit diesen wenigen Sätzen eben angesprochen habe, schon zufriedenstellend zu lösen vermögen, möchte ich einstweilen noch mit einem Fragezeichen versehen. Sicher gibt es über das Ziel, die parlamentarische Arbeit durch Straffung, durch Vereinfachung und erhöhte Transparenz zu verbessern, keinen Zweifel. Man wird aber noch sehr eingehend prüfen müssen, ob diese Zwecke bei Verwirklichung der Vorschläge der Kommission schon zufriedenstellend erfüllt werden können.
Die Beschränkung der Gesetzesberatung auf zwei Lesungen ist sicher erwägenswert, bringt aber im Verhältnis zur bisherigen Praxis bei der Mehrzahl der Routinegesetze wohl noch keinen großen zeitlichen Gewinn. Mehr Gewicht hätte vermutlich der Vorschlag, die erste Lesung durch eine schriftliche Stellungnahme der Fraktionen vorzubereiten und zwischen die erste und zweite Lesung auf Antrag eine erweiterte Ausschußberatung einzuführen. Das ist sicherlich auch problematisch; davon war schon einmal die Rede. Hierbei muß aber wohl auch die Überlegung einbezogen werden, oh der oft zeitraubende Meinungsbildungsprozeß innerhalb einer Fraktion bei einer solchen Lösung nurmehr an den Anfang des Gesetzgebungsverfahrens gerückt wird und ob der reale zeitliche Einsparungseffekt im Endergebnis vielleicht doch nicht so groß ist. Sicher scheint mir allerdings zu sein, daß die Vorschläge der Kommission der Lebendigkeit und der Transparenz der Parlamentsdebatten zugute kommen werden.
Nach den Empfehlungen der Kommission soll schließlich der Präsident am Ende der zweiten Lesung von Amts wegen die Beschlußfähigkeit des Parlaments feststellen. Hierzu liegt ein Sondervotum Dr. Arndts vor, dem sich vorhin auch Herr Kollege Engelhard in seinen Ausführungen angeschlossen hat. Ich will darauf nicht näher eingehen, sondern möchte nur dartun, daß ich mich diesem Sondervotum mit denselben Gründen, die Herr Engelhard ausgesprochen hat, anschließen würde.
Zu einem letzten Komplex in diesem Bereich. Nicht voll zufriedenstellen können mich die Kommissionsvorschläge zum Problem der Rechtsetzung durch die Exekutive. Ich begrüße allerdings ausdrücklich die Kommissionsmeinung, die ein selbständiges, d. h. von der Ermächtigung des Gesetzgebers unabhängiges Verordnungsrecht der Regierung ablehnt. Anderenfalls würde das eine Schwächung des Parlaments bedeuten, die mit unseren Vorstellungen von dem Rang und der Funktion der parlamentarischen Demokratie unvereinbar wäre. Ich glaube, diese Frage ist für uns indiskutabel. .
Ein Kernstück der Reformvorschläge liegt im Bereich des Art. 80 des Grundgesetzes und damit zunächst bei der Frage, wie die Schranken, die der Gesetzgeber bei der Verordnungsermächtigung zu beachten hat, präziser zu umschreiben sind. Hier hat die Kommission, wenn ich recht sehe, zwei Ziele im Auge. Einmal will sie die Unsicherheit beheben, die sich bei den bisherigen Schranken - das sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung - auch oder vielleicht auch wegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben haben. Gleichzeitig denkt sie zweitens an eine Lockerung der Anforderungen mit dem Ziel, das Parlament zu entlasten. Also im Ergebnis eine Senkung des Delegationsrisikos und eine Erweiterung des Delegationsspielraums.
Die Beschränkung der Anforderungen nur noch auf den Zweck der Ermächtigung - das ist der Vorschlag - mag beide Ziele erreichen. Dann werden aber - für mich gilt das jedenfalls - alle die Bedenken wieder lebendig, die wir schon bei der jetzigen oft ausufernden Verordnungspraxis der Exekutive erhoben haben. Das ist genau der Punkt, an dem man sich nach eingehender Prüfung wird entscheiden müssen: Wollen wir mehr Entlastung für das Parlament, und müssen wir dann etwa eine Stärkung der Exekutive und eine Schwächung der Legislative zwangsläufig in Kauf nehmen? Ich will diese Frage heute nur stellen, ohne sie zu beantworten.
Wenn ich vorhin gesagt habe, daß die Vorlage der Kommission mich in diesem Bereich nicht voll zufriedenstellt, so habe ich damit zugleich die Prüfung anregen wollen, ob es nicht außerhalb des Art. 80 des Grundgesetzes andere Möglichkeiten für eine Entlastung der Parlamente gibt, die nicht so unmittelbar auf eine Verstärkung der Verordnungsermächtigung für die Exekutive abzielen. Wir werden also den Art. 80 des Grundgesetzes in seiner künftigen Funktion nicht isoliert von den anderen Bereichen betrachten können. Dabei ist unter anderem auch an die notwendige Frage zu denken, wie man die Mitwirkung der Parlamente bei den Planungsvorhaben der Exekutive wirksam verstärken kann. Das scheint mir eine ganz zentrale Frage der künftigen Überlegungen und Beratungen zu sein.
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus diesem Bereich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Auch für eine Vertiefung der einzelnen Probleme reicht die Zeit in einem kurzen Debattenbeitrag nicht aus. Wir sollten aber bei der Erörterung des Gesamtberichts erkennen, daß hier für das Parlament einer der besonderen Schwerpunkte liegt. Entlastung der Parlamente ist gut. Für den Wert der parlamentarischen Demokratie ist aber vor allen Erwägungen der Rationalität weit wichtiger, daß die zentrale Funktion des Parlaments als Legitimitätsspender für alle Organe der staatlichen Gewalt bestehenbleibt und, wo nötig, verstärkt wird.
Wir, die Freien Demokraten, werden mit unserem liberalen Verständnis für die gegenwärtige und künftige Grundordnung unserer staatlichen Gemeinschaft bereit sein, unseren Beitrag zur Verwirklichung notwendiger Verfassungsreformen zu leisten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klein.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehrere meiner Herren Vorredner haben bereits auf die Breite des Verfassungskonsenses hingewiesen, für die auch der Schlußbericht dieser Enquete-Komission ein
Dr. Klein ({0})
weiteres Zeugnis ablegt. Ich erwähne dies zum wiederholten Mal, weil ich glaube, daß darin ein Politikum von großer Bedeutung zu sehen ist. Denn diese Tatsache belegt eindrucksvoll, wie wenig Resonanz extreme verfassungsfeindliche Gruppierungen und Bestrebungen bei den in unserem Land politische Verantwortung tragenden Kräften haben. Diese Feststellung darf freilich nicht dahin mißverstanden werden, als sei damit etwas Wesentliches über die Gefährlichkeit dieser Bestrebungen ausgesagt, die sich mit Sicherheit nicht nur nach der Zahl ihrer Anhänger allein bemessen läßt.
Ich will dieses Thema nicht vertiefen. Aber es schien mir doch wichtig, und sei es nur an diesem einen Beispiel, die politische Dimension unserer heutigen Debatte aufzuzeigen. Denn so dankbar ich für die heute morgen mehrfach der Arbeit der Kommission zuteil gewordene Anerkennung bin, will es mir doch nicht so scheinen, als hätten alle Kollegen in diesem Hause diese politische Bedeutung voll realisiert.
Ich möchte mich mit drei Komplexen aus dem Bericht der Verfassungs-Enquete-Kommission befassen.
Gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zur Freiheit des Mandats. Die Kommission hält hier am rechtlichen Status quo fest. Jede Aufweichung des freien Mandats wird abgelehnt. Nachteilige Rechtsfolgen dürfen nach ihrer Auffassung an die Ausübung des Mandats nicht geknüpft werden, sei es auch, daß der Inhaber des Mandats aus seiner Fraktion austritt, aus ihr ausgeschlossen wird oder zu einer anderen Fraktion übertritt. Zu einem so klaren Bekenntnis bestand Veranlassung nach den Erfahrungen, die eine Reihe von Kollegen in diesem Hause in der 6. Legislaturperiode haben machen müssen, aber etwa auch im Hinblick auf die Vorgänge bei der Wahl des niedersächsischen Ministerpräsidenten am 6. Februar 1976. Die damals zum Teil aufgekommene Atmosphäre der Unfreiheit, die zwangsläufig auch einen Verlust an tatsächlicher Freiheit mit sich brachte, erforderte den größtmöglichen Schutz des freien Mandats. Dies ist auch weiterhin der Fall.
Die Kommission war sich im Prinzip in dieser Frage einig. Von Funktion und Bedeutung des freien Mandats in der repräsentativen parteienstaatlichen Demokratie gibt sie eine eindrucksvolle Darstellung. Ich will mich mit zwei knappen Zitaten - mit Erlaubnis der Frau Präsidentin - begnügen. An einer Stelle heißt es:
Im demokratisch legitimierten freien Mandat als dem Kernstück der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes wird der wesentliche Unterschied zwischen der freiheitlichen Demokratie und totalitären Herrschaftsformen deutlich.
Und an anderer Stelle heißt es:
Wenn sich die Kommission mit Nachdruck für die Beibehaltung des Artikels 38 GG in seiner jetzigen Fassung ausspricht, so ist dies darin begründet, daß das freie Mandat sowohl als Kernstück der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie unverzichtbar wie auch für die
Funktionsfähigkeit der innerparteilichen Demokratie von wesentlicher Bedeutung ist. Es schirmt die politischen Parteien gegen oligarchisierende Tendenzen immer wieder ab und begünstigt und fördert die Offenheit der Willensbildung in Partei und Fraktion.
Wir wissen, daß diese Intention mitunter nur unzureichend erreicht wird, aber sie wird doch jedenfalls in Teilen erreicht, und damit ist schon ein wesentliches Anliegen der Verfassung erfüllt.
Meinungsverschiedenheiten gab es innerhalb der Kommission nur über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer einfachgesetzlichen Festlegung des Mandatsverlusts als Folge des freiwilligen Aus- oder Ubertritts. Sie, Herr Kollege Schäfer, haben dazu ein Sondervotum abgegeben, ohne dieses Sondervotum allerdings ausmünden zu lassen in eine Empfehlung für eine entsprechende Novellierung des Wahlgesetzes. Alles in allem ist also ein erfreulich hohes Maß an Übereinstimmung zu konstatieren. Bei aller Anerkennung der Bindung des Abgeordneten an Partei und Fraktion vermag ich dennoch Ihrem Votum, Herr Kollege Schäfer, nicht zuzustimmen. Der Kernsatz Ihrer Argumentation, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes schütze nur die Art der Ausübung des Mandats, nicht aber die Voraussetzungen seines Erwerbs und seines Verlusts, kann mich nicht überzeugen. Ich glaube, Sie halten diesen Satz auch selbst nicht durch, wenn Sie dann in der weiteren Folge auch den Mandatsverlust als Folge des Partei- bzw. Fraktionsausschlusses nicht. als verfassungsrechtlich zulässig ansehen, was aber wohl in der Konsequenz Ihrer Auffassung liegen müßte. Im übrigen verkennen Sie, wie ich glaube, mit dieser Ihrer Kernthese die disziplinierenden Rückwirkungen eines für den Fall des Austritts drohenden Mandatsverlustes. Ihre diesbezüglichen Ausführungen sind deshalb in diesem Punkt, wie mir scheint, durch eine bei Ihrer Erfahrung eher verwunderliche Praxisferne gekennzeichnet.
Ich möchte 'die Gelegenheit nehmen, noch zwei Mißverständnisse auszuräumen, die in diesem Zusammenhang eine gewisse Popularität besitzen.
Die Wahl des Parlaments gibt nicht einer bestimmten Mehrheit ein auf Zeit unantastbares Mandat. Dieses Mandat, das der Wähler erteilt, hat das Parlament als ganzes inne. Und wie sich während. der Dauer der Legislaturperiode legitimerweise Meinungen bei den Wählern oder in den Parteien ändern können, so auch innerhalb des Parlaments. Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten kennzeichnet ihre individuelle Verantwortung. Das heißt, bei Verschiebungen und Verwerfungen der öffentlichen Meinung muß der Abgeordnete zum Beispiel auch prüfen, ob ,die Ursache dafür in einer Änderung der Haltung seiner Partei oder Fraktion liegt, für die er im Wahlkampf geworben hat. So legitim es ist, wenn eine Partei innerhalb der Legislaturperiode ihre Politik ändert, so wenig hat sie Anspruch darauf, daß ihre Abgeordneten diese Änderung mitvollziehen.
({1})
Wie der Partei so muß es auch dem Abgeordneten
unbenommen bleiben, sich an das dem Wähler vor
Dr. Klein ({2})
der Wahl gegebene Wort gebunden zu fühlen. Ich glaube, in der öffentlichen Diskussion wird diese mögliche Konstellation zu häufig übersehen.
Ich komme zum zweiten Punkt. Gewissen im Sinne des Art. 38 ist, wie mir scheint, nicht etwas, das der Abgeordnete nur bei besonders hehren Anlässen hervorholen dürfte, während er im übrigen gehalten ist, der Fraktions- und Parteilinie zu folgen. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 bedeutet vielmehr, daß sich der Abgeordnete für jede anstehende Entscheidung seine politische Überzeugung gewissenhaft zu bilden hat und dabei Weisungen und Aufträgen Dritter nicht unterworfen ist. Gewissen in diesem Sinne dürfe nicht als kleine Münze ausgegeben werden, lautet die These. Ich halte diese These für gefährlich; denn sie verschafft dem imperativen Mandat Raum. Die Legitimität nicht parteikonformen Verhaltens wird dadurch eng begrenzt. Aber das Gegenteil ist richtig: Das Handeln nach eigener begründeter und gegebenenfalls zu begründender politischer Überzeugung ist das Alltagsbrot des verantwortlichen Parlamentariers.
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- Leider, wenn es so ist, Herr Kollege Sieglerschmidt.
Das zweite Thema, dem ich mich kurz widmen möchte, sind die parlamentarischen Kontrollrechte. Auch hier fehlt es uns nicht an aktuellen Anlässen der Diskussion. Einmal mehr haben wir uns zur Zeit mit Untersuchungsausschüssen zu beschäftigen, wie ich es formulieren möchte. Enquete-Kommissionen tagen, die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste bildet den Gegenstand der Arbeit eines Unterausschusses des Rechtsausschusses. Mit Fragen des Petitionsausschusses haben wir uns vor einiger Zeit in diesem Hause befaßt. Seine Aktualität ist permanent, die Anregungen der Kommission sind hier sogar schon Bestandteil der geltenden Verfassung geworden.
Ich möchte zu den Enquete-Kommissionen einige ins einzelne gehende Bemerkungen machen. Enquete-Kommissionen sind geeignete Instrumente zur Unterstützung des Gesetzgebers bei der Vorbereitung schwieriger Gesetzesvorhaben. Sie sind allerdings auch geeignet, den Informationsvorsprung der Regierung ohne den organisatorisch und finanziell sehr viel aufwendigeren Weg der Errichtung einer eigenen Parlamentsbürokratie auszugleichen. Die Institutionalisierung dieser Enquete-Kommissionen auf, der Ebene der Verfassung, wie die Kommission sie empfiehlt, mag sinnvoll sein. Ob sie notwendig ist, mag dahinstehen. Problematisch erscheinen mir jedenfalls die von der Kommission gesteckten Grenzen des Enquete-Rechts, die wesentlich weiter als diejenigen des Petitionsausschusses, ja sogar wohl auch als diejenigen von Untersuchungsausschüssen gezogen sind. Das gilt besonders für die Auskunftsrechte gegenüber Privaten. Ich möchte vor der Einführung von Offenbarungspflichten Privater in bezug auf Gegenstände warnen, die dem Steuer-, Bank-, Geschäfts- oder Versicherungsgeheimnis unterfallen. Achterberg hat in einer Auseinandersetzung mit diesem Teil des Kommissionsberichts auf gewisse Widersprüche im Bericht selbst hingewiesen. Er schließt sich dieser von mir soeben ausgesprochenen Warnung an.
Lassen Sie mich ergänzend noch einen anderen Punkt erwähnen. Die Kommission hat sich, soweit ich sehe und auch soweit ich mich an die mündlichen Erörterungen erinnere, mit dem häufig, wie mir scheint, unbefriedigenden Umgang der Regierung, welcher Regierung auch immer, mit dem parlamentarischen Fragerecht in seinen unterschiedlichen Formen befaßt. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Art. 43 Abs. 1, über die wir derzeit verfügen, ist schmal. Sie läßt beispielsweise im dunkeln, in welchem Umfang die Mitglieder der Regierung verpflichtet sind, dem Parlament auf seine Fragen zu antworten, ob diese Pflicht ihre Grenze etwa erst dort findet, wo stichhaltige Geheimhaltungsgründe eine Beantwortung ausschließen, oder schon da, wo es die Regierung für politisch opportun hält, nicht oder ausweichend zu antworten. Vor allem aber sind Auskunftsrechte - soweit vorhanden - solche des Parlaments als ganzem. Denn die Geschäftsordnung des Bundestages, die die Einbringung von Anfragen auch durch eine Minderheit gestattet, kann die Regierung nicht zur Auskunftserteilung verpflichten. Es handelt sich also nicht um verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte der Opposition, auf die im parlamentarischen Regierungssystem - wie die Dinge nun einmal liegen - die ganze Last der öffentlichen Kontrolle der Regierung fällt. Ich meine, auch diese Überlegungen sollten bei den Beratungen des Hauses ihre Berücksichtigung finden.
Drittens einige Bemerkungen zu dem Thema Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive, zu dem bereits Herr Kollege Wendig Stellung genommen hat. Der Grundgedanke der Kommission war, dieses Haus von Routinearbeit, wie die Kommission sagt, zu entlasten. - Dabei sehe ich einmal von dem, wie ich glaube, nicht realisierbaren Vorschlag zu Art. 80 Abs. 2 zur Reduzierung der Zustimmungsrechte des Bundesrates ab. - Mir scheint die Tauglichkeit des dazu gemachten Vorschlags, die bekannte Trias von Inhalt, Zweck und Ausmaß auf den Zweck zu reduzieren, zweifelhaft zu sein. Wir stehen doch der Tatsache gegenüber, daß die Rechtsprechung in den letzten Jahren den Gesetzesvorbehalt kontinuierlich ausgedehnt und damit die Befassungspflichten dieses Parlaments, des Parlaments überhaupt, wesentlich ausgedehnt hat über den dem konstitutionellen Staatsrecht entstammenden, überkommenen Eingriffsvorbehalt hinaus.
Die jüngsten Ergebnisse dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gehen - auf eine etwas vergröbernde Formel gebracht - dahin: Was für den Bürger wesentlich ist, muß auf der höchsten politischen Ebene, von der unmittelbaren Repräsentanz des souveränen Volkes, muß also vom Parlament entschieden werden.
Die Form des Gesetzes hat also nicht mehr nur die klassische Funktion der Gewährleistung von Rechtssicherheit für den Bürger, sondern auch die demokratische Funktion der Ver-Öffentlichung von Entscheidungen. Sie garantiert durch das dem Zustandekommen des Gesetzes vorgeschaltete Verfah5780
Dr. Klein ({4})
ren die Transparenz des politischen Entscheidungsprozesses.
Wie soll der Gefahr der Überlastung der Parlamente und damit der Gefahr der Politikunfähigkeit der Parlamente in dieser Situation begegnet werden? Mir will scheinen, daß erfolgversprechender als die Vorschläge der Kommission Erwägungen sind, die dahin gehen, der Gesetzgeber möge sich mehr als üblich - vielleicht befinde ich mich in einem gewissen Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Wendig - auf Rahmenregelungen beschränken, sich dafür aber bezüglich der von der Exekutive zu erlassenden Voraussetzungen ein Mitwirkungsrecht vorbehalten.
Dafür gibt es mehrere Variationsmöglichkeiten, die auch schon zum Teil bei der Gesetzgebung dieses Hauses praktiziert worden sind. Ich erinnere etwa an die Möglichkeit des Zustimmungsvorbehaltes und auch des Vetovorbehaltes. Beide haben in § 51 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Stabilitätsgesetzes ihren Niederschlag gefunden.
Eine weitere Variante wäre der sogenannte Rückholvorbehalt, die Einräumung des- Rechtes an eine Minderheit - wie immer man sie begrenzt -, das Parlament mit einer solchen Normsetzung durch die Exekutive zu befassen. Ich hege keine verfassungsrechtlichen Bedenken, etwa unter dem Gesichtspunkt des Gewaltenteilungsprinzips, gegen eine solche Lösung. Auch könnte ich mir vorstellen, daß sich das Bundesverfassungsgericht angesichts solcher Parlamentsvorbehalte zu einer etwas restriktiveren Behandlung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 veranlaßt sehen könnte.
Ich muß nun allerdings daran erinnern, daß der Bundestag ja vor nicht allzu langer Zeit einmal einen Anlauf in dieser Richtung unternommen hat, und zwar mit dem Versuch einer Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes.
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Der Versuch ist inzwischen erneut auf dem Wege. Aber der damalige Anlauf ist kläglich und, 'wie ich glaube, in einer für dieses Haus blamablen Weise gescheitert. Hier hat sich, so scheint mir, die Schwäche des Parlaments gegenüber der vereinigten Kraft der Bürokratie in Bund und Ländern in einer bedenklichen Weise manifestiert. Ich glaube, hier ließe sich mehr Demokratie wagen, meine sehr verehrten Damen und Herren, indem das Parlament mehr Selbstbewußtsein zeigte.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf mich zunächst als früherer Vorsitzender dieser Enquete-Kommission Verfassungsreform für die anerkennenden Worte, die heute hier für die Arbeit gewidmet wurden, recht herzlich bedanken, insbesondere für die Mitglieder, die nicht dem Hause angehören. Es waren immerhin 14 Mitglieder, die von außerhalb zu dieser Kommission gekommen sind und in vollem Umfang an der Arbeit mitgewirkt haben.
Ich freue mich, daß man allseits erkannt hat, daß die Kommission nicht von einem Bestreben geleitet war, möglichst viel originell neu zu machen, sondern von dem Bestreben, an die kontinuierliche Entwicklung anzuknüpfen. Je länger man sich dann mit der Verfassung befaßt, um so größer wird die Hochachtung vor den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die 1948/49 dieses Grundgesetz geschaffen haben. Man erkennt Notwendigkeiten der Weiterentwicklung, man erkennt aber auch die Notwendigkeit - das ist das, was Herr Kollege Wendig wohl zum Ausdruck bringen wollte -, langfristig kontinuierlich nach der gleichen Verfassung zu leben, daß sie sich im Bewußtsein des Volkes verankert, und nur die Änderungen mitzuvollziehen und so zu gestalten, wie sie den Bedürfnissen entsprechen.
Nun möchte ich auf einige der Vorredner eingehen, aber zunächst zu zwei Punkten etwas sagen. Ich glaube, wir müssen uns davon freimachen, daß wir nur an den Wortlaut des Grundgesetzes denken. Die Verfassung ist mehr als das Grundgesetz. Sie ist mehr, sie ist etwas anderes als ein Organisationsstatut; die Verfassung umfaßt die Art und Weise des Zusammenlebens dieses Volkes, dieser Gesellschaft. Sie umfaßt nicht nur die Regeln, das Organisationsstatut, was auch im Grundgesetz steht.
Hier sind es zwei Punkte, auf die ich eingehen will. Das ist die Einbeziehung des einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in den Willensbildungs- und Meinungsbildungsprozeß hi diesem Staat. Sicher ist es richtig, wenn wir in Kapitel 1 bezüglich Parlament und Regierung das Schwergewicht unserer Überlegungen darauf konzentrierten, daß das Parlament seine Funktionsfähigkeit verbessern soll, daß es seine Aufgabe voll erfüllen kann. Das wird es aber nie erreichen, wenn es nicht von einer Vielzahl, einer möglichst großen Zahl von Bürgern getragen ist und wenn nicht eine Großzahl, Vielzahl oder alle gesellschaftlichen Gruppen sich mit diesem Staat identifizieren und sich in ihm wiederfinden. Das kann man, werden Sie mir gleich antworten, ja nicht gesetzlich regeln. Nein. Vieles kann man nicht gesetzlich regeln. Wenn Sie, Herr Kollege Klein, z. B. ganz richtig sagen, daß ich Bedenken habe, einen Fraktionswechsel einfach so hinzunehmen, dann haben Sie auch richtig referiert, daß ich keinen Vorschlag mache, weil ich in der Tat der Meinung bin, das entziehe sich der gesetzlichen, der verfassungsrechtlichen Rgelung, sondern sei eine Frage, bei der sich der einzelne demgemäß zu verhalten habe, und jeder Fall liegt wieder anders.
Ich bin gegen eine gesetzliche Regelung, weil es nicht gelingen wird, zwischen Art. 38, der Freiheit des Abgeordneten - die ich will -, und Art. 21, der Meinungsbildungsaufgabe der Parteien, einen Kompromiß zu finden, der für alle Fälle befriedigend ist. Deshalb stelle ich ohne Vorschlag die Problematik dar. Ich bin der Meinung, man muß in dieser
Dr. Schäfer ({0})
Richtung weitergehen. Ich vermute, daß Sie gar nicht anderer Meinung sind als ich, daß nämlich der Abgeordnete, der hier im Hause ist, getragen sein soll von der politischen Gruppe, die ihn zur Wahl aufgestellt hat, getragen sein soll von den Wählern, die diese Partei gewählt haben, und nicht den Versuch machen darf, irgendwo auf der anderen Seite einzusteigen. Vielleicht gehen unsere Meinungen auseinander, so sehr wohl nicht.
Lassen Sie mich zu dem ersten Punkt kommen, zu der Einbeziehung des einzelnen. Der einzelne ist in dieser Gesellschaft verhältnismäßig hilflos. Deshalb schließt er sich mit Gleichgesinnten zusammen. Das ist das, was wir heute - erfreulicherweise - als Bürgerinitiativen erleben, Bürgerinitiativen der verschiedensten Art, Bürgerinitiativen, bei denen die Besitzer von Vorgärten sich zusammenschließen, um etwas zu erreichen, praktisch Interessengemeinschaften, bis zu denjenigen, die aus tatsächlichen Überzeugungsgründen für die Realisierung einer bestimmten Sache oder meistens für die Nichtrealisierung einer Sache eintreten. Dort ist dann die Überlegung sehr nahe - mein Freund Schöfberger hat den Bogen zu dieser Frage schon geschlagen -, ob es nicht richtig ist, ihnen auch die Möglichkeit des Volksbegehrens zu geben, über das einzige Volksbegehren, nämlich Gebietsneugliederung nach Art. 29 des Grundgesetzes, hinaus.
Ich will hier einen Gesichtspunkt anführen, der noch nicht angeführt wurde. Ich habe Bedenken dagegen. Denn sowohl die Bürgerinitiative als auch das Volksbegehren beziehen sich immer auf einen politischen Teilaspekt, auf eine Frage, die man ernsthaft nur entscheiden und lösen kann, wenn man die Dinge gesamtpolitisch sieht, wenn man sie gesamtpolitisch gestern, heute und morgen zu verantworten hat. Diese Initiativen bilden sich, und die Volksbegehren ad hoc werden dann entschieden. Nachher lösen sie sich auf. Ich bin dafür, daß Verantwortliche da sind, ich bin dafür, daß Parteien die Verantwortung tragen und dafür auch stehen müssen, wenn sich nachher etwas anders entwickelt hat. Ich bin dafür, daß diese Fragen aus der Gesamtverantwortlichkeit und der Gesamtzusammenschau der politischen Fragen heraus entschieden werden. Deshalb - das war eine der tragenden Überlegungen der Enquete-Kommission - waren wir der Meinung, daß diese Entscheidungen nur von denjenigen getroffen werden können, die integrierend wirken können. Aber es bleibt ein Unbehagen. Es bleibt ein Unbehagen, das sich an die Parteien wendet, das sich an uns Abgeordnete selbst wendet, ob wir auch den richtigen Kontakt - das können wir jetzt nicht regeln, sondern das müssen wir tun - mit solchen Bürgerinitiativen - sage ich jetzt ganz allgemein - aufnehmen und sie richtig in die Verantwortung bringen, ob wir sie richtig beteiligen und den guten Willen haben, die Dinge besser zu machen - denn alle diese Initiativen sind ja von der Überzeugung getragen, Besseres vorzuschlagen -, sie mit in die Diskussion einzufügen. Das kann man nicht- regeln, sondern das muß man tun.
Das Zweite: die Interessengruppen oder die Gruppen der Gesellschaft, die Interessen vertreten. Es ist in diesem Staat legitim, seine Interessen zu vertreten. Es ist legitim und richtig, wenn man sich mit Bürgern gleicher Interessenlage zusammenschließt. Art. 9 gewährt deshalb auch die Koalitionsfreiheit. Es ist gut und richtig und in unserem Staat unverzichtbar, daß die Tarifpartner frei sind und daß der Staat die Entscheidungen der Tarifpartner im Tarifvertrag - das sind politische Entscheidungen - als Fakten seiner Entscheidung und seiner Weiterarbeit zugrunde legt.
Trotzdem entsteht die Frage - dieses Kapitel steht zunächst für sich -: In welcher Weise kann man das Wissen und die Kraft der Gruppen, die ganz konkrete, klare Vorstellungen haben und die ihre Interessen ehrlich und offen vertreten, für diesen Staat nutzbar machen? Wir haben in dieser Hinsicht - Frau Renger hat es gesagt - in den letzten 20 Jahren einiges mit Anhörverfahren entwickelt. Zum Teil wurde, wie ich glaube, nicht immer ganz glücklich verfahren. Ich kenne andererseits Vorgänge des Anhörverfahrens, die eine hervorragende Basis gegeben haben, insbesondere dann, wenn es gelungen ist, Befürworter und Nichtbefürworter am gleichen öffentlichen Verfahren zu beteiligen, so daß in aller Ehrlichkeit von dem einen seine Meinung zu sagen war und der andere korrigieren konnte oder bestätigen mußte. Ein solches Verfahren ist absolut notwendig. Wir können es allerdings auch nicht gesetzlich regeln.
Ich muß mich nun mit dem Gedanken auseinandersetzen, ein solches Verfahren zu institutionalisieren. Es gibt Vorschläge, einen Wirtschafts- und Sozialrat zu schaffen, das Verfahren also in einem Verfassungsorgan mit beratendem Charakter zu institutionalisieren, das in wirtschafts-, finanz-, sozial- und steuerpolitischen Fragen mitreden kann. Wer wäre in einem solchen Organ dann alles vertreten? Die Wirtschaftsverbände, der Bauernverband, die Gewerkschaften, der Beamtenbund - keiner hat die Mehrheit; jeder vertritt seine Vorstellungen. Wenn jeder ehrlich seine Vorstellungen vertritt, kann dieses Gremium auch nicht abstimmen. Denn wenn ich meine Interessen ehrlich vertrete - und dazu bin ich von meinem Verband ja in das Gremium geschickt worden -, kann ich nicht darüber abstimmen, daß weniger empfohlen wird. Oder es gibt Arrangements zu Lasten derjenigen, die nicht vertreten sind. Dies ist meines Erachtens eine falsche Betrachtung. Die gesellschaftlichen Kräfte müssen und sollen nicht innerhalb des Staatsapparates wirken, sondern sie sollen auf den Staatsapparat wirken. Sie sollen auf diejenigen Organe wirken, die die Entscheidungen zu treffen haben.
Damit komme ich auf die Aufgabe der Parteien und die Aufgabe der Fraktionen zu sprechen. Von dieser Aufgabe dürfen wir - so wie unsere Entwicklung, Gott sei Dank, gelaufen ist - keine Partei entbinden. Die Parteien sind eben keine Teile mehr, wie das Wort sagt. Sie vertreten nicht die Auffassung eines Teiles der Bevölkerung, sondern die Parteien vertreten etwas, was nach Auffassung ihrer Mitglieder die bestmögliche Konzeption für das ganze deutsche Volk ist. Sie müssen den Interessenausgleich bei sich selber suchen. Denken wir doch alle miteinander an die Parteitage. Die Partei
Dr. Schäfer ({1})
muß auf Parteitagen aus verschiedenen Vorstellungen eine Gesamtkonzeption entwickeln, d. h., sie muß integrierend wirken.
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- Sie bleibt Teil in der Vorstellung, aber sie erarbeitet ihr Konzept für das Ganze. Darüber sind wir uns klar. Das ist eine gute Entwicklung. Sie bleibt Teil, aber ihr Konzept ist für das Ganze. Sie erarbeitet nicht ein Konzept für einen Teil der Bevölkerung. Vielen Dank für Ihren Zwischenruf, der mir Gelegenheit gab, dies zu verdeutlichen. Eine Partei versteht sich heute nicht mehr beispielsweise als Bauernpartei. Einen solchen Zustand haben wir heute Gott sei Dank nicht mehr. Die Parteien müssen vielmehr für alle zusammen da sein. Wir können dafür gegenseitig Beispiele anführen, brauchen dies aber gar nicht zu tun, weil wir die Gegebenheiten kennen. Die Entscheidung über den Interessenausgleich können deshalb nicht diejenigen finden, die berufen sind, Interessen zu vertreten, sondern müssen diejenigen finden, die eine Legitimation vom ganzen Volk haben, eine integrierte Regelung zu finden, nämlich die Abgeordneten, die Parteien.
Diese Konzeption muß aber ihre Ergänzung finden. Deshalb haben wir mit gutem Grund den Grundsatz der Sozialdemokraten in die Tat umgesetzt: „Wir streiten für die Demokratie. Sie muß die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden, weil sie Ausdruck der Achturig vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist." Wir sind der Auffassung, daß dieser Grundsatz nicht nur den öffentlichen, den staatlichen Bereich, sondern den gesamten Lebensbereich umfaßt, in dem der einzelne wirkt und in den er eingefügt ist.
({3})
- Das ist ein großer Unterschied z. B. zu der Auffassung von Herrn Heck. Das müssen Sie einmal nachlesen, Herr Benz. Der Herr Heck hat es sehr stark bestritten. Herr Heck ist der Auffassung. daß Demokratie - das hat er als Generalsekretär der CDU gemacht - ({4})
- Ja, schön, darüber müssen wir ja reden, wenn wir verschiedener Meinung sind. - Deshalb haben wir das Betriebsverfassungsgesetz aus gutem Grund ein Verfassungsgesetz für die Betriebe genannt; deshalb haben wir aus gutem Grund die Mitbestimmung im Sinne der Mitverantwortung und des Mit-bestimmens weiterentwickelt.
({5})
- 1971/72
({6})
haben wir es in dem Sinne geändert, wie ich eben ausgeführt habe. - Herr Jenninger, ich kann doch nicht so schnell schwätzen, wie Sie schreien. Das Gesetz ist 25 Jahre alt.
({7})
- Entschuldigen Sie, Sie können anscheinend nicht zuhören. Ich kann Ihnen doch nicht helfen, wenn Sie nicht zuhören. Ich habe gesagt, es ist 25 Jahre alt, und wir haben diesem Gesetz 1971/72 einen ganz neuen Inhalt gegeben. Ist Ihnen das so unangenehm?
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- Na also! Warum wollen Sie unbedingt behaupten, daß ich etwas falsch sage, wenn Sie bloß nicht zuhören? Aber, Herr Jenninger, das ist bei Ihnen nichts Neues. Das sind entscheidende Fragen der - -({9})
- Ach, wissen Sie, Herr Lenz, wenn Sie fragen, ob das auch auf die Familie anwendbar sei, dann haben Sie von normalen Lebensverhältnissen keinerlei Ahnung.
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Im Intimbereich - das ist wieder ganz charakteristisch für die CDU - sind sie immer für den Staat und für gesetzliche Regelung, ob das § 218 ist oder ob das andere Dinge sind. Das überlassen Sie den Menschen nicht selber. Unsere Regelungen - wenn Sie auf das Fürsorgerecht anspielen - sind in Art. 6 wohlbegründet und durchaus in Ordnung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaeger?
Herr Kollege Dr. Schäfer, würden Sie zugeben, daß Ihnen in der Eile der Debatte - Sie haben ja nicht vom Konzept gesprochen - ein Irrtum unterlaufen ist? Sie werden den Schutzbereich des § 218, bei dem es um menschliches Leben geht, sicherlich nicht zum Intimbereich zählen können. Hier geht es nicht um ein Sittlichkeitsdelikt, sondern um ein Delikt gegen das Leben.
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Das ist ein Irrtum Ihrerseits.
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- Das habe ich vielleicht verkürzt so gesagt. Mir geht es darum, Herr Jaeger: Gewissensentscheidung ist eine Sache des Individuums und nicht von Behörden. Eine Behörde kann nicht für mein Gewissen entscheiden, sondern nur ich selbst. Ihre Regelung sah vor, daß an Stelle der Frau ein Gremium entscheiden soll. Ich habe Ihnen damals schon gesagt, daß dies schlecht ist. Man kann das Gewissen nicht durch einen Behördenspruch ersetzen.
Dr. Schäfer ({1})
Aber bleiben wir bei Ihnen, Herr Jaeger. Sie haben über den Bundesrat gesprochen und haben fröhlich die Jahreszahlen 1871, 1919 und 1949 genannt. Aber Herr Jaeger, Sie wissen doch, daß das falsch ist. 1871 kam das Deutsche Reich durch einen Vertrag der Fürsten mit dem Norddeutschen Bund zustande. Die Fürsten waren die Träger der Souveränität. Die Fürsten entsandten Vertreter in den Bundesrat. Der Bundesrat war der Träger der Souveränität. Der Bundesrat beschloß die Gesetze und nicht der Reichstag.
({2})
Der Bundesrat war das entscheidende Gremium. In dem Augenblick - Herr Jaeger, das wissen Sie doch; sagen Sie es doch auch so -, in dem die Fürsten als Träger der Souveränität wegfielen, nämlich 1918-1945, kamen sie Gott sei Dank nicht wieder -, und alle Staatsgewalt vom Volke ausging, war nun ganz konsequent, daß die Gesetze vom Bundestag bzw. vom Reichstag beschlossen wurden.
Die Schwierigkeit, in der wir sind
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- kleinen Augenblick -, ist folgende: Das Grundgesetz behandelt vorrangig die Wahl, den Wahlvorgang, die Legitimation dieses Hauses durch den Wähler. Es sagt deshalb im Grundsatz: Wenn der Bundesrat nicht damit einverstanden ist, kann ihn dieses Haus überstimmen. Die politische Legitimation entscheidet. Bei zustimmungsbedürftigten Gesetzen entscheidet plötzlich nicht mehr die Legitimation, auch nicht die Wahl, sondern die Tatsache, daß Länder, Gebietskörperschaften, durch die aus Wahlen hervorgegangenen legalen Regierungen vertreten sind. Wenn sie sich nicht einigen können, entsteht eine Situation, daß niemand handlungsfähig ist. Damit müssen wir uns beschäftigen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne. Bitte, Herr Klein.
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen bekannt, daß das Verständnis der Verfassung von 1871, das Sie eben vorgetragen haben, das Verständnis ist, das Bismarck seinen Staatsstreichplänen im Jahre 1890 zugrunde legte, aber nicht dasjenige der zur Zeit der Verfassung von 1871 allgemein vertretenen Lehre?
Nein, das ist falsch, Herr Klein. Das ist schlicht falsch, was Sie sagen. Damit müssen Sie sich noch einmal befassen. Ich werde es auch tun. Dann können wir vielleicht die Ergebnisse unserer Prüfungen austauschen.
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Dann sind wir am Schluß vielleicht beide klüger.
Zu Ihrer Bundesratssache will ich Ihnen nur noch folgendes sagen. Ich freue mich, daß Sie den Herrn Kiesinger zitiert haben, der als Bundesratspräsident gesagt hat, daß der Bundesrat ein Integrationsfaktor sei. Wissen Sie, daß er das 1962 gesagt hat?
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- Ja, aber jetzt kommt der Fortgang. - Und wissen Sie, daß es dann so ungefähr 1973 oder 1974 einen Bundesratspräsidenten Filbinger gab? Und wissen Sie, daß der nachfolgende Bundesratspräsident Kubel bei seiner Übernahme Grund hatte, nach der Handhabung, die in dem Jahr der Präsidentschaft des Herrn Filbinger tatsächlich praktiziert wurde, nachdem der Herr Filbinger dieses Wort von Herrn Kiesinger nicht aufgenommen hatte, an das Wort von Kiesinger zu erinnern? Das ist die Praxis, Herr Jaeger, um bei dem zu bleiben, was Sie selber vorgetragen haben. Das ist das, was der Bundeskanzler mit Recht gerügt hat und weshalb er gesagt hat: Ihr wollt so tun, wie wenn ihr eine Gegenregierung wäret. Das dürft ihr nicht sein.
Ihre Formulierungen, die Sie so schön vorgelesen haben, hätten - von Ihnen aus gesehen - in der Forderung enden müssen, dem Gesamtstaatsveranwortlichkeitsgefühl - vom Bundesverfassungsgericht auch als Bundestreue dargestellt - in der Praxis auch gerecht zu werden.
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Dann könnten wir uns hier über Beispiele unterhalten, angefangen vom Finanzausgleich bis zu anderen Vorgängen, wo ich Ihnen dann sagen kann, daß es im Bundesrat das gegeben hat, was der Herr Kiesinger 1969 gesagt hatte, als er es kaum verwinden konnte, daß er nicht mehr Bundeskanzler war. Damals sagte er: Wir werden euch - FDP - hinauskatapultieren, und wir werden im Bundesrat und überall Opposition machen. Sehen Sie, das ist die falsche Haltung. Ausgerechnet der Herr Kiesinger hat dann von Opposition mit Hilfe des Bundesrats gesprochen. Dort liegt der Fehler.
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- Ach, das verstehen Sie nicht? Tut mir leid, Herr Benz.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaeger?
Bitte, Herr Jaeger.
Wenn es mir auch leider nicht möglich ist, im Rahmen einer Frage all die Äußerungen zu erwidern, die Sie eben getan haben, möchte ich mir doch eine Frage erlauben: Ist Ihnen nicht klar, Herr Dr. Schäfer, daß der Begriff der Bundestreue das Verhältnis von Bundes- zu Landesorganen betrifft, daß aber der Begriff der Bundestreue nicht im Verhältnis von Bundesorganen ange5784
wendet werden kann? Denn der Bundesrat ist genauso wie die Bundesregierung oder der Bundestag ein Bundesorgan, und Bundestreue kann es nur von außerhalb, von den Ländern her geben.
Das ist sophistisch herrlich und trotzdem nicht richtig; denn im Bundesrat wirken die Länder durch Regierungsmitglieder mit, und so bezieht es sich auf diese ebenfalls.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich möchte eine Anregung zu der Frage geben: Wie soll es weitergehen? Wir werden noch vor der Sommerpause den Bericht der Wahlkreiskommission bekommen. Der Bericht der Wahlkreiskommission gibt regelmäßig Veranlassung, daß sich dieses Haus damit befaßt, welchen Auftrag es der Regierung geben will, ein Wahlgesetz vorzulegen. Ich meine, wir sollten bis dahin intern in den Fraktionen die Prüfung der Vorschläge der Enquete-Kommission über die Aufstellung von Wahlbewerbern und möglicherweise Änderungen des Wahlsystems als Auftrag geben. Ich denke, es wäre gut, Herr Minister, wenn auch Ihr Haus schon Vorüberlegungen anstellte; denn wenn man es realisieren will, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt.
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Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben eben in unseren Reihen festgestellt, daß wir hier mit 25 % anwesend sind. Das ist von unserer Fraktion schon ein Anfang für das, was heute hier angeregt wurde, wobei das Geheimnis der kleinen Basiszahl immer wieder eine bedeutende Rolle spielt. Das räumen wir gern ein.
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Es ist hier sehr vieles zu Recht lobend aus dem Bericht -der Enquete-Kommission hervorgehoben worden, das einmündete in Anregungen, mit denen wir uns in Zukunft weiter zu befassen haben werden. Ich möchte einen Punkt ansprechen, in dem es, wie ich meine, sehr zu Recht nicht zu einer Anregung gekommen ist. Das ist die Frage, ob man irgendwelche Regelungen der Existenz und der inneren Verfassung der vielfältigen Verbände, die zum Teil erheblichen politischen Einfluß ausüben, treffen sollte oder nicht.
Unsere Partei hat sich damit sehr gründlich befaßt. Das ist von einigen, die bei der Größe ihrer Verbände eigentlich nicht so empfindlich sein sollten, ungewöhnlich gereizt und empfindlich zur Kenntnis genommen worden. Aber das Ergebnis war so, daß wir auf unserem kürzlichen Bundesparteitag in Kiel zu demselben Ergebnis gekommen sind wie die Enquete-Kommission, nämlich daß es angesichts der enormen Vielfalt in der Erscheinung dieser Verbände und angesichts der Tatsache, daß die zur Verfügung gestellten allgemeinen rechtlichen Ordnungen in unserem Lande dazu führen müssen, daß die einzelnen sich freiwillig zusammenschließen und ihre Rechte dort geltend machen, wie es ihren Interessen entspricht, vermutlich nur Schaden stiften könnte, wenn man versuchte, von außen gesetzgeberisch in diese so vielfältigen Verbände hineinzuregieren.
In Wirklichkeit muß die Lösung in dem gesucht werden, was in anderem Zusammenhang schon angesprochen wurde, nämlich im Selbstbewußtsein dieses Parlaments im ganzen und im Selbstbewußtsein und der Integrität jedes einzelnen Mitglieds dieses Parlaments. Da liegt meiner und unserer Meinung nach die richtige Möglichkeit der Kontrolle von Verbänden und der Eindämmung eines Einflusses, der über die legitime Interessenwahrung im Einzelfall vielleicht einmal hinausgehen und sich in das einschalten sollte, was unter viel einschränkenderen Bestimmungen den Parteien anvertraut ist.
Deshalb sind wir tatsächlich der Meinung: Die Kommission hat recht daran getan - wenn ich den Bericht richtig verstanden habe: wohl gegen gewisse Minderheitsmeinungen -, hier zu sagen: Wir wollen das zwar noch weiter prüfen, aber es besteht im jetzigen Zeitpunkt keine Veranlassung zu Empfehlungen.
Zu diesem Selbstbewußtsein und zu dem, was man bei der Beobachtung der Verbände von hier aus immer wieder beachten muß, wenn man solche Regelungen überflüssig machen und den Einfluß der Verbände nicht schädlich werden lassen will, gehört natürlich auch, daß man die Verbände nicht überbewertet.
Ich wäre deshalb dem Bundesinnenminister sehr dankbar, wenn er auf die mehrmals aufgetauchte und mehrmals wieder verschwundene Idee endgültig verzichten könnte, ausgerechnet ein Gesetz über die Beteiligung von Verbänden an den Beratungen seines Hauses oder auch der Bundesregierung zu machen. Wenn jemand von uns Sachverstand zur Kenntnis nehmen möchte, dann wird er sich den da anhören, wo er ihn vermutet, und versuchen, möglichst unterschiedliche Stimmen zu hören und daraus das Mittel zu ziehen. Aber wir wollen die beteiligten Herren nicht noch übermütiger machen und ihr gelegentlich schon recht ordentlich entwikkeltes Selbstwertgefühl nicht noch weiter steigern, indem wir ein Gesetz über die Anhörung von Verbänden machen. Ich bitte wirklich herzlich, diese Sache endgültig zu vergessen.
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Sie taucht merkwürdigerweise in dem Zwischenbericht über den Stand der Arbeiten zur Dienstrechtsreform vom Dezember wieder einmal auf.
Im übrigen täuschen wir uns häufig über die unpolitische Natur der Verbände und über die Art, wie sie sich jeweils auf das Interesse konzentrieren, das zu verfolgen sie vorgeben. Ich möchte Ihnen ein meiner Meinung nach sehr plastisches Beispiel nennen, nämlich die Wahl des Intendanten des ZDF vor nicht allzu langer Zeit. Da konnte man studieren, wie sich die ungewöhnliche Pluralität völlig unpolitischer Verbände zu zwei exakt gleich großen, politisch streng geschlossenen Blöcken addierte. Da haben sich die evangelische Kirche und
die katholische Kirche, die Agrarier, die freien Be- rufe, die Sportler und wer noch alles auf geheimnisvolle Weise streng parteipolitisch organisiert.
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Der Aberglaube, man könne die Dinge entpolitisieren, wenn man die Vielfalt der Verbände und die pluralen gesellschaftlichen Kräfte in diesem Bereich installiert, stellt sich dann, wenn es um wirklich erheblich politische Entscheidungen geht, als Augenwischerei und ein Versuch heraus, die Dinge zu verlagern, statt sie gleich ehrlich anzusprechen, wie sie sind.
Aus jenem Vorgang und etlichen anderen kann man etwas lernen. Jeden einzelnen, der etwas von uns will und der uns gute Ratschläge für die Gesetzgebungsarbeit geben möchte, müssen wir uns angucken. Wenn er gar keinen Verband hinter sich hat, aber sehr gescheit ist und möglichst noch eine ordentlich gefertigte Synopse mitbringt, die die Arbeit erleichtert, wird man ihn sich sehr gern anhören. Aber wenn einer ankommt und erzählt, wie ungeheuer viele tausend Mitglieder er vertritt, und sagt, daß man auf der Stelle tun muß, was er will, weil alle diese Mitglieder immer FDP gewählt haben, das jedoch andernfalls in Zukunft nicht mehr tun würden - eine Behauptung, die jeder von uns, nach seiner Partei abgewandelt, kennt und die an Glaubwürdigkeit durch häufige Wiederholung nicht gewinnt -, und wenn er außer seinem Selbstwertgefühl gar nichts vorbringt, dann wird er einen ungewöhnlich geringen Einfluß auf unsere Gesetzgebung ausüben, wenn wir das Geschäft richtig verstehen und wenn wir uns die Leute und das, was sie zu sagen haben, angucken und nicht so sehr danach fragen, wer alles dahintersteht.
Es gibt ja auch Verbände, die mit zum Teil erheblichem Aufwand Public Relations, wie man so sagt, betreiben. Wir haben kürzlich Veranlassung genommen - im Einzelfall kann man so etwas ja mal regeln -, das von hier aus etwas unter Kontrolle zu nehmen, nämlich im AGB-Gesetz. Da haben wir die Klagebefugnis der Verbände daran geknüpft, daß sie - ich weiß die Zahl jetzt nicht genau - etwa 60 oder 70 natürliche Personen als Mitglieder vorweisen können. Im Verhältnis zu dem, was von da so vorgetragen wird und mit welcher Wucht das vorgetragen wird, ist es erstaunlich, daß es sich bei den Beratungen als zweckmäßig erwiesen hat, auf diese sehr bescheidende Zahl zu gehen, um sicherzustellen, daß hier überhaupt Mitglieder vorhanden sind. Das allerdings wollten wir in diesem Zusammenhang sicherstellen. Darum haben wir es hineingeschrieben. Da konnte man aber nur eine ganz geringe Zahl festlegen.
Das war einiges weniges zur Realität der Verbände und zu dem, was sie für unsere Arbeit bedeuten können. Ich wiederhole: Ich glaube, unser gesundes und vernünftiges Selbstbewußtsein - das des Parlaments und das der einzelnen Abgeordneten - wird hier eine bessere Kontrolle sein als der Versuch wie auch immer zu gestaltender gesetzlicher Regelungen. Dafür in diesem Bereich Dank für den Bericht der Kommission!
Wir sind alle der Meinung - obwohl wir als Freie Demokraten unter der Gewissensstrapazierung einzelner Abgeordneter in den letzten Jahren in besonderer Weise zu leiden hatten -, daß dennoch an dem freien Mandat nicht gerührt und gerüttelt werden sollte. Wir sind der Meinung, daß wir mit allem, was damit zusammenhängt, weiterhin leben müssen, wenn wir nicht riskieren wollen, daß sonst in Einzelfällen Disziplinierungen überhand nehmen, daß die Möglichkeiten der freien Entscheidung zu sehr beschnitten werden. Diese Möglichkeit muß erhalten bleiben.
So wie Sie aber, Herr Professor Klein, diese Gewissensentscheidungen vorhin hochstilisiert haben, so hoch möchten wir sie doch nicht in jedem Fall angesiedelt wissen. Es gehört doch nun einmal für jeden dazu, der es auf den uns bekannten mühsamen Wegen der Parteiarbeit geschafft hat, bis zu einem Bundestagsmandat zu kommen, daß er den Gesamtzusammenhang politischer Entscheidungen versteht, daß er versteht, daß der einzelne seinen Beitrag zu der Entscheidung seiner Gruppe, seiner Partei leisten kann, Entscheidungen aber nur in der Geschlossenheit aller getragen werden können, die sich auf diese Weise zusammengefunden haben, und daß ohne ein erhebliches Maß an Solidarität, Loyalität und Kameradschaft die Dinge eben nicht zu bewegen sind. Wenn das jeder einzelne weiß, dann relativiert sich das, was Sie gesagt haben, es sei geradezu das tägliche Geschäft - so ähnlich haben Sie es ausgedrückt; das ist Ihnen in der Formulierung vielleicht etwas überspitzt geraten -, daß der Abgeordnete seinem Gewissen folge.
Sie wissen bei vielen Vorlagen, die wir heute Mittag vielleicht noch im Schlußgalopp verabschieden werden, nicht, was darin steht - genausowenig wie ich übrigens -, und wir werden ihnen doch zustimmen, weil wir uns eben auf Kollegen verlassen müssen und weil wir wissen, daß wir uns in einem Ganzen bewegen und das mitzutragen haben, was an anderer Stelle auch einmal andere tun. Das ist das tägliche Geschehen, und ich glaube nicht, daß jemand von uns sein Gewissen besonders belasten muß, wenn es am Schluß einer Debatte noch einmal zu einer bündelweisen Abstimmung kommen sollte.
Noch viel weniger kann ich einsehen, daß es der Selbstdarstellung und der besonderen Selbstverwirklichung einzelner dient, wenn sie sich bei jeder Gelegenheit hierauf berufen, statt die Werte der Kameradschaftlichkeit, der Solidarität oder der Loyalität so hoch anzusiedeln, wie sie angesiedelt werden müssen, wenn das hier, gleich in welcher Fraktion, richtig funktionieren soll, wenn hier klare Entscheidungen getroffen werden sollen und das politische Geschäft sinnvoll betrieben werden soll. Deshalb Ja zum freien Mandat, aber die Gewissensübungen nicht zu hoch hängen, die man gelegentlich hier sehen konnte und in Zukunft vermutlich noch sehen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lenz?
Bitte schön.
Herr Kollege Kleinert, fanden Sie es wirklich so schädlich, daß der Kollege Klein darauf hingewiesen hat, daß die Arbeit in diesem Hause mit Gewissenhaftigkeit getan werden muß?
Sprachlich sehr schön.
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Ein Problem ist schon von mehreren angesprochen worden, das uns ganz offensichtlich noch weiterhin begleiten wird. Das sind die Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive. Ich wäre sehr dankbar, wenn sich die offensichtlich besonders Interessierten, von denen noch eine erhebliche Zahl im Saale ist - das ist alles sehr relativ -, zusammenfänden, auch ohne daß das irgendwo auf einer Tagesordnung erscheint, um sicherzustellen, daß wir mit dem jetzt laufenden bescheidenen Versuch nicht wieder so kläglich scheitern wie bei unserem ersten Anlauf. Wir werden eher Erfolg haben, wenn wir uns vorher über die systematisch richtige Einordnung und über die Möglichkeiten unterhalten, wie man zu einem befriedigenderen Ergebnis kommen kann.
Das gleiche gilt für die weitere Behandlung dessen, was uns vorgelegt worden ist und was wir heute ja nur teilweise ansprechen konnten und- wollten. Ich glaube, wir müssen das Gespräch unter denjenigen, die die Dinge fördern wollen, weiter suchen, besonders in nächster Zeit wohl auch die inoffiziellen Gespräche, bevor wir uns dann daranmachen - vernünftigerweise wohl in kleineren Abschnitten -, das eine und das andere dieser doch sehr umfangreichen Vorlage in politische Praxis umzusetzen, und zwar so pfleglich, wie das unsere Verfassung, so wie sie sich in den letzten 30 Jahren bewährt hat, verdient.
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Das Wort hat der Abgeordnete Mende.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer. die Ehre hat, nun bald 30 Jahre dem Hohen Haus anzugehören, und dieses Schicksal mit sieben anderen Kollegen noch teilt, der kann nicht umhin, in die Spätlese dieses Schlußberichtes etwas Wasser zu gießen, bei aller Hochachtung vor der Gedankenfülle und vor der Materialiensammlung dieses Schlußberichtes der Enquete-Kommission.
Ich möchte zu zwei Fragen Stellung nehmen, die mir im Bericht nicht genügend stark ausgebaut sind, zu Kapitel 4, parlamentarische Kontrollrechte, und zu Kapitel 8, Stellung der Verbände.
Es zeigt sich seit 1949 immer mehr, daß sich die Exekutive personell, materiell, aber auch in ihrer politischen Funktion so ausweitet, daß eine Kontrolle durch die Legislative kaum noch in dem Umfange möglich ist, wie er vom Verfassungsgeber gedacht war. Allein das Zahlenverhältnis der in der Exekutive tätigen und der hier dem Bundestag als Hilfskräfte zur Verfügung stehenden Beamten und Angestellten beträgt 40 : 1.
Hinzu kommt, daß Gesetzgebungsvorgänge das Haus erreichen, die bei strenger sachlicher Prüfung schon den Kabinettstisch als Kabinettsvorlage nicht passieren sollten. Man hat manchmal den Eindruck, daß sich die Fleißarbeit von Referenten in den Ministerien als Kabinettsvorlage niederschlägt und dann auch als ein Gesetzentwurf der Bundesregierung hier im Hause erscheint. Nach vielem, was wir in der Vergangenheit in bezug auf die Eindämmung der Gesetzesflut beteuerten, sollte daher nun endlich sowohl in der Regierung - zweckmäßigerweise beim Bundesinnenminister - wie auch im Parlament - zweckmäßigerweise beim Ältestenrat - eine Schleuse eingerichtet werden. Vor jedem Gesetz muß die Grundfrage stehen: Ist eine gesetzliche Regelung dieser Materie notwendig, oder kann man wie Großbritannien auch dadurch ein demokratischer Staat sein, daß man nicht unbedingt jedes und alles in Gesetzgebungsnormen faßt? Der Bundeskanzler beklagte hier unlängst, daß er schon nicht mehr in der Lage sei, sich durch die Bürokratie seiner Wasser- und Elektrizitätsrechnung hin-durchzulesen. Der Bundestagspräsident hat am Jahreswechsel von der Gesetzgebungsflut gesprochen, die uns überspüle. Aber das sind Reden und Vorsätze, die wir seit über 20 Jahren hören. Nur haben sie bisher keine Auswirkung gehabt.
Leider gilt nach wie vor das bittere Wort Kurt Tucholskys „Deutsches Schicksal: vor dem Schalter zu stehen, deutsches Ideal: hinter dem Schalter zu sitzen" oder, etwas einfacher ausgedrückt, „Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare".
Meine Anregung geht dahin, diese Schleuse für die Gesetzgebung sowohl in der Regierung wie im Parlament einzuführen. Keine Vorlage darf durch den Präsidenten auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn nicht allseits die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung anerkannt ist.
Die zweite Frage: Stellung der Verbände in der politischen Ordnung. Um nicht mißverstanden zu werden: ich halte die Gewerkschaften für einen lebensnotwendigen Bestandteil unseres freiheitlichen demokratischen Rechts- und Sozialstaates. Die Verdienste Hans Böcklers und Ludwig Rosenbergs um den Aufbau dieses demokratischen- Rechts- und Sozialstaates sind unbestritten.
Dennoch müssen wir uns nach den Erfahrungen der letzten Jahre die Frage stellen, ob nicht die große Organisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes als die Interessenvertretung der Arbeitnehmer gelegentlich die Grenze überschritten hat, die nach dem Grundgesetz und nach überkommenem Recht der Tarifautonomie den Gewerkschaften gesetzt ist.
Es hat in den 50er Jahren hier einmal eine sehr harte Auseinandersetzung zwischen dem damaligen Justizminister Thomas Dehler und dem Deutschen Gewerkschaftsbund gegeben, als einige Heißsporne des Deutschen Gewerkschaftsbundes - nicht die
Führung! - mit dem Generalstreik drohen wollten, wenn die Gesetze über die Wiederbewaffnung hier eine Mehrheit finden sollten. Da hat Thomas Dehler von dieser Stelle erklärt: Wer es unternähme, eine gesetzgebende Körperschaft durch Druck oder Drohungen zur Fassung oder Unterlassung von Beschlüssen zu nötigen, werde mit Zuchthaus bestraft. Er zitierte einen über 100 Jahre alten Strafrechtsparagraphen. Es gab natürlich sehr viel Unmut, und Thomas Dehler mußte sich fortan den Beinamen „der Zuchthaus-Dehler" gefallen lassen. Außer diesem einen und einzigen Fall ist mir aus den 50er und 60er Jahren ähnliches nicht bekannt.
Wohl aber beklagen wir in den 70er Jahren ein unmittelbares Eingreifen des Deutschen Gewerkschaftsbundes in die Gesetzgebung dieses Hohen Hauses, zum Beispiel bei § 218 StGB. Die Führung des DGB hat diesem Hohen Haus die Fristenlösung als die beste Lösung zur Annahme empfohlen und sich damit unmittelbar in den Gesetzgebungsvorgang eingeschaltet.
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Ich frage mich: Was geht den DGB dieser Vorgang, die gesetzgeberische Arbeit des Deutschen Bundestages zu dieser Frage unmittelbar an?
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Ein Weiteres! Bei dem Moskauer und bei dem Warschauer Vertrag hat der Deutsche Gewerkschaftsbund die Annahme dieser Verträge empfohlen und hat Kollegen dieses Hohen Hauses, die der Opposition angehören und gleichzeitig Funktionen im Deutschen Gewerkschaftsbund haben, unter Druck gesetzt, worüber Beweise vorliegen, die zu gegebener Zeit bei den Beratungen ausgewertet werden können. Ich frage mich: Was geht den Deutschen Gewerkschaftsbund als berechtigte Interessenvertretung der Arbeitnehmerinteressen des deutschen Volkes die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in dieser unmittelbaren Form an?
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Hinzu kommt, daß in diesem Hohen Haus viele Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen unmittelbar Mitglied in dieser großen Organisation der Gewerkschaft sind oder sogar hohe Funktionen bekleiden.
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1957 waren 202 Mitglieder dieses Hohen Hauses gleichzeitig Mitglieder bzw. Funktionäre des DGB; das sind 38,9 %. 20 Jahre später, 1977, sind es 327 Mitglieder des jetzigen Deutschen Bundestages; das sind 63,1 %. Ich empfehle den Gremien, die sich mit der Auswertung dieses Schlußberichts der Enquete-Kommission befassen werden, einmal folgende Frage zu prüfen: Wieweit wird ein Parlament durch eine unmittelbare Empfehlung eines Verbandes an seine Mitglieder beeinträchtigt, die hier im Parlament die Zweidrittelmehrheit haben? Eine interessante Frage der Grenzziehung von Verbänden gegenüber dem einzigen Souverän der parlamentarischen demokratischen Ordnung, dem frei gewählten Parlament, das sich natürlich am Gemeinwohl viel stärker orientieren muß, als es ein Gewerkschaftsbund tun kann, der in der Hauptsache eine Interessenvertretung ist, die sich letztlich allerdings auch am Gemeinwohl orientieren sollte.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Bitte schön!
Herr Kollege Mende, was halten Sie denn davon, daß der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses ist, der bekanntlich auch über Besoldungsfragen zu entscheiden hat?
Es gibt ähnliche Überlegungen. Sie haben aber nichts mit der Frage zu tun, wie sich ein großer Verband öffentlich in die Gesetzgebung so unmittelbar eingeschaltet hat, wie ich das an den beiden Beispielen des § 218 und des Moskauer und des Warschauer Vertrags aufgezeigt habe.
Lassen Sie mich zum Schluß auch noch einige Bemerkungen zu der inneren Ordnung dieses Hauses machen. Frau Präsidentin, ich bitte, das nicht als eine Kritik an den hochansehnlichen amtierenden Präsidenten dieses Hauses anzusehen. Aber wenn die freie Rede wieder die Grundlage des Dialogs werden würde, wäre dem Parlamentarismus viel geholfen. Am Dialog sind wir bisher weitgehend vorbeigegangen. Aber es ist nicht im Sinne des Parlamentarismus, wenn Kollegen mit Manuskripten zu einer Tagesordnung kommen und man manchmal Mühe hat, ihnen zuzuhören, und sie sich gelegentlich sogar in der Vorlesung der Zeilen verheddern.
Frau Präsidentin, es gibt seit 29 Jahren den § 37. Da nicht alle Abgeordneten die Geschäftsordnung immer unter dem Arm tragen, möchte ich für die 490 Damen und Herren, die an dieser Sitzung hier nicht teilnehmen, wenigstens - mit Ihrer Genehmigung - zu Protokoll ausführen, welche Möglichkeiten § 37 dem amtierenden Präsidenten gäbe.
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Es heißt hier:
Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen. Im Wortlaut vorbereitete Reden sollen eine Ausnahme sein; sie dürfen nur verlesen werden, wenn sie beim Präsidenten mit Angabe von Gründen angemeldet worden sind und der Präsident in die Verlesung einwilligt.
Der Präsident hat den Redner zu mahnen, wenn dieser ohne seine Einwilligung eine im Wortlaut vorbereitete Rede vorliest. Nach einer weiteren Mahnung soll er ihm das Wort entziehen.
Wenn dieser § 37 härter gehandhabt werden würde,
({1})
würde für den Dialog und für die Lebensfähigkeit des Parlamentarismus im Bundestag und in den Landtagen viel geschehen.
Zum zweiten glaube ich, daß auch die Anwesenheit nicht so leichthin, wie es zum Teil im Bericht in dem Anhang Dr. Arndt dargestellt wurde, beurteilt werden kann. Anwesenheit ist nicht nur bloße Präsenz. Ich erinnere an August Dresbach, der hier in den fünfziger Jahren einmal scherzhaft gesagt hat, er habe seinem Verleger erklärt, er habe als Journalist seinen Kopf und nicht das Gesäß verpachtet. Natürlich ist es etwas peinlich, wenn bei Schlußabstimmungen kaum 10 % der Abgeordneten ein Gesetz beschließen. In den internationalen Parlamenten versucht man, das Quorum herbeizuläuten. Vielleicht wäre auch hier entweder die Abstimmung zu den Gesetzen an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde ein Mittel, wenigstens mehr Präsenz bei der Abstimmung zu erreichen, oder auch das Unterbrechen der Sitzung und die Herbeiführung der Beschlußfähigkeit. Nur ist das heutige optische Bild - der heutige Freitag mag eine Ausnahme sein - keine Empfehlung für die Besucher, den Parlamentarismus als eine lebendige Form des Austausches von Argument und Gegenargument anzusehen.
Ich hoffe sehr, daß das hohe Maß an Gemeinsamkeit, das hier von verschiedenen Rednern festgestellt wurde, auch bei den Einzelheiten und Ausführungsgesetzen vorherrschen wird, einschließlich einer Überprüfung des Stoppuhrmechanismus, wie er heute beim Ältestenrat für die Einteilung von Rednerzeiten und die Rednerliste üblich ist. Dieser Stoppuhrmechanismus ist auch eine Sünde wider den Geist des Parlamentarismus.
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Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Aussprache liegen nicht vor.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU Drucksache 8/1517 soll nach einer gestern im Ältestenrat getroffenen Vereinbarung erst mit dem Schlußbericht an den Ausschuß überwiesen werden. Die Aussprache über die Teile des Schlußberichts der Enquete-Kommission Verfassungsreform, die heute nicht behandelt werden konnten, soll in einer späteren Plenarsitzung fortgesetzt werden. In dieser Sitzung soll dann auch über die Überweisung des Schlußberichts und des Entschließungsantrages beschlossen werden.
Hierzu hat sich Herr Abgeordneter Lenz zu Wort gemeldet.
Frau Präsidentin, ich möchte dem nicht widersprechen, was der Ältestenrat empfohlen hat. Ich darf aber darauf hinweisen, daß in Ziffer 4 unseres Entschließungsantrags steht, daß die Beschlußempfehlungen zur Verwirklichung dieser Entschließung bis zum 1. Juli 1979 vorliegen sollen. Das ist kein willkürlich gegriffenes Datum, sondern ein Datum, das auf Erfahrung beruht. Wenn sie bis dahin nicht da sind, werden sie in dieser Wahlperiode wohl kaum mehr Wirklichkeit werden.
Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, daß, wenn die nächste Debatte im Herbst dieses Jahres stattgefunden haben wird, nur noch wenige Monate bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehen.
Meine Damen und Herren, jetzt muß ich Herrn Abgeordneten Kleinert enttäuschen. Wir haben heute kein Bündel weiterer Abstimmungen mehr vor uns. Wir sind am Ende der Tagesordnung.
Ich berufe das Haus für Mittwoch, den 22. Februar, 13 Uhr zur Fragestunde ein.