Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/19/1977

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ältestenrat - Drucksache 8/32 Der Antrag lautet: Der Bundestag wolle beschließen: Das Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen für die Zusammensetzung des Altestenrates wird nach dem Verhältnis der mathematischen Proportion berechnet. Wird zur Begründung des Antrages das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall. Wir kommen damit zur Abstimmung. Wer dem interfraktionellen Antrag auf Drucksache 8/32 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Dann ist das einstimmig so beschlossen. Wir kommen zu Punkt 2 der Tagesordnung: Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nehmen heute die Debatte über die Regierungserklärung wieder auf. Die Lage freilich, in die die Regierung uns dabei bringt, hat schon die Öffentlichkeit zu einer Mischung von Zorn und Hohn gereizt; ({0}) denn ihre Regierungserklärung ist doch für vier Jahre bestimmt, aber in wesentlichen Teilen hat sie nun nicht einmal die Kraft, vier Wochen zu überdauern. ({1}) Unsere Debatte soll richtungweisend für eine ganze Legislaturperiode sein. Dazu muß sie bei der Bevölkerung auch Vertrauen für die Art und Weise bilden, wie wir, ihre gewählten Vertreter, hier mit unserer Verantwortung umgehen. Aber wie soll das gelingen, wenn die Regierungserklärung kaum in die Stimmungslage einführt, die uns in der Bundesrepublik Deutschland heute kennzeichnet? Ich frage, ob denn der Herr Bundeskanzler, der ja gewiß bald kommen wird, kein Interesse für diese Stimmungslage hat. ({2}) Oder scheut er die offene Diskussion über die Einsichten, die er besitzt? Ich meine, der Herr Bundeskanzler hat sich recht wenig Mühe gemacht, die Zeit, in der er regieren will, zu erkennen und zu beschreiben, die Zeit zu beschreiben in ihren eigenartigen Herausforderungen, ihren Krisen und ihren Chancen. Wir empfinden doch alle die Spannung, in der wir leben. Einerseits geht es uns gut. In den meisten Teilen der Welt gibt es mehr materielle Not ({3}) und weniger Freiheit als bei uns. Auf der anderen Seite aber spüren wir eine wachsende Unruhe. Das Ungleichgewicht unter den Generationen nimmt zu. Junge Menschen fürchten um ihre Chance, alte Menschen um ihre Versorgung. Der Kampf um die Arbeitsplätze verschärft sich. Es wachsen nicht nur die Schulden und die Haushaltssorgen, sondern auch die Erwartungen der übrigen Welt an unsere Beiträge und Leistungen. In dieser Lage meldet bei uns jeder seine Sorgen und Forderungen an. Aber dennoch wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Der vernünftige Bürger - und das ist zum Glück die weit überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung - weiß das ganz gut. Deshalb erwartet dieser Bürger, daß eine verantwortliche Regierung auf seine Einsicht setzt und daß sie ihm seinen Beitrag zur Gesundung der Ver128 hältnisse abverlangt. Dazu ist er auch bereit, aber doch nur dann, wenn er spürt, daß die Verantwortlichen ihm mit Ehrlichkeit, mit Voraussicht und mit Führungskraft gegenübertreten. ({4}) Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: die Probleme, die vor uns liegen, sind doch wahrlich nicht unlösbar. Die unendlich vielen Menschen auf der Welt, die Hunger leiden oder in Unfreiheit leben müssen, wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten. Aber was wir brauchen, ist zunächst der Mut zur Wahrheit. Die Regierung ist die erste, die ihn haben muß. Und wenn sie damit Widerspruch auslöst, gerade dann muß sie durchhalten und darf nicht gleich schon vor dem ersten Sturm enttäuschter Hoffnungen kapitulieren. Denn wenn es wahr ist, daß wir über unsere Verhältnisse leben - der Herr Bundeskanzler hat dem schon vor zwei Jahren, als ich ihm dies von dieser Stelle vorhielt, gar nicht widersprochen -, dann wird das doch nicht plötzlich deshalb unwahr, weil die Folgen unbequem werden. Wenn ein Defizit da ist - und davon spricht jetzt, wenn auch in Raten, die Bundesregierung -, dann muß man die Gesamteinnahmen verbessern oder die Gesamtausgaben senken. Es merkt doch jeder, daß es verantwortungslos ist, statt dessen die Probleme innerhalb von sechs Wochen dreimal von einer Kasse zur anderen zu verschieben, die ungewissen Zukunftserwartungen überoptimistisch anzusetzen, sie allzufrüh in bindende Verpflichtungen umzuwandeln und damit die Probleme für gelöst zu erklären. ({5}) Was Sie hier in der Bundesregierung betreiben, ist Demontage des Bürgervertrauens, ({6}) und zwar in die Kraft unseres freiheitlichen Systems, mit unseren Problemen freiheitlich fertig zu werden. Das können wir alle miteinander nicht zulassen, denn es betrifft uns alle miteinander. Herr Brandt hatte ganz recht in der ersten Stellungnahme zur Regierungserklärung, als er hier erklärte, es gehe um nichts Geringeres als um die Bewährungsprobe der Demokratie in unserem Teil der Welt. Sein Beitrag war überhaupt interessanter als die ganze Regierungserklärung. Meine Fraktion befindet sich deshalb nicht etwa mit seinen Gedanken in größerer Übereinstimmung. Aber im Gegensatz zum Bundeskanzler hat Herr Brandt perspektivisch gesprochen, und erst wenn wir dies tun, können wir hier auch untereinander Gemeinsamkeiten und Streitpunkte feststellen. Beides brauchen wir, denn Koalition und Opposition haben in unserer Demokratie eine gemeinsame Verantwortung. Helmut Kohl hat in seiner Antrittsrede vor vier Wochen darauf unmißverständlich hingewiesen. Die Lösung der Probleme hat den Vorrang, und danach kommt der Angriff auf die jeweils andere Seite dieses Hauses. ({7}) In diesem Sinne ist unsere Kritik an der Regierungserklärung zu verstehen, und in diesem Sinne will ich mich am Anfang unserer heutigen außenpolitischen Aussprache den Fragen Europas zuwenden. Meine Fraktion stellt Europa an die Spitze ihrer außenpolitischen Ziele; denn hier wie nirgends sonst durchdringen die Innen- und die Außenpolitik einander, und in Europa wird letztlich über den Erfolg oder den Mißerfolg unserer politischen Zukunft entschieden. Die Bundesregierung oder jedenfalls der Herr Bundeskanzler und seine Partei sehen dies offenbar anders. Mit seiner Regierungserklärung hat er ja nur eine quasi schwebende Zustandsbeschreibung gegeben. Aber sein Wille, sein Programm bleiben dabei dunkel. Was ist die Priorität des Bundeskanzlers? Oder hat er keine? In den Ausführungen zur Außenpolitik hat die Bundesregierung in ihrer Erklärung mit der Entspannung begonnen. Herr Brandt hat dies in seinem Debattenbeitrag ganz ausdrücklich und ohne Widerspruch der Regierung so gedeutet: Die Entspannungspolitik hat in dieser Regierung den Vorrang. Demgegenüber stellen wir die Europapolitik an die Spitze. Ich nenne dafür fünf Gründe. 1. Unsere Volkswirtschaft ist aufs engste mit der Europäischen Gemeinschaft verknüpft. Mehr als 50 % unseres Außenhandels wickeln wir mit den Mitgliedern und den assoziierten Ländern der Gemeinschaft ab. Die Vollbeschäftigung, unsere vorrangige innenpolitische Aufgabe, würde zur Illusion, wenn die Gemeinschaft scheiterte. 2. Unsere zukünftige Leistungskraft hängt davon ab, daß wir wissenschaftlich und technisch in der Spitzengruppe der Welt bleiben. Angesichts der Größenordnung der Probleme reichen aber nationale Anstrengungen dafür nicht aus. Wir sind auf den Rahmen der Gemeinschaft angewiesen. Neulich ist, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, die Verhandlung über den Standort der europäischen Kernfusionsforschung vorläufig gescheitert. Dies ist nur ein Beispiel für eine möglicherweise verhängnisvolle Entwicklung in der Zukunft, wenn die politischen Prioritäten in einigen europäischen Hauptstädten nicht in Ordnung sind. 3. Die Sicherheit Europas ist nur im Atlantischen Bündnis gewährleistet. Unentbehrlich dafür ist die Partnerschaft Amerikas. Aber diese Partnerschaft Amerikas bleibt uns nachhaltig nur dann gesichert, wenn es Europa lernt, nicht nur seinen sicherheitspolitischen Pflichten überhaupt, sondern ihnen vereint nachzukommen. 4. Nun komme ich zu dem möglichen Vorrang der Bundesregierung oder jedenfalls des Bundeskanzlers zurück. Nur zusammengeschlossen kann das freie Europa dem zunehmenden Gewicht des Ostblocks begegnen, Entspannung suchen und auf diesem Weg dann auch dazu beitragen, daß die Spaltung ganz Europas und damit ganz Deutschlands mit der Zeit überwunden wird. Es gibt Entspannung eben nur durch und nur mit Europa, aber nicht an Europa vorbei. ({8}) Auf uns allein gestellt, können wir als Deutsche weder nach innen noch nach außen überleben. 5. Nicht als einzelne Nationalstaaten, sondern nur gemeinsam können wir Europäer in den weltweiten Nord-Süd-Aufgaben sowohl unsere Interessen schützen wie unserer Mitverantwortung für die Entwicklung der Welt gerecht werden. Nun wissen wir natürlich alle, daß es mit Absichtserklärungen in bezug auf Europa nicht getan ist. ({9}) Das Zusammenwachsen selbständiger Staaten ist ein mühsamer Prozeß, voller Widerstände und oft beinahe verzweiflungsvoller Enttäuschung. Aber um so weniger dürfen wir Ziel und Priorität preisgeben oder gar verschweigen. Wir können doch nicht sagen: Die Luft ist schlecht, also wollen wir beim Atmen auf Luft lieber verzichten. Ebensowenig können wir ohne Europa auskommen, nur weil der Weg in den letzten Jahren mit Mißerfolgen gepflastert war. Niemand macht die Bundesregierung für alle diese Mißerfolge verantwortlich. ({10}) - Niemand macht das, Herr Wehner; das wissen Sie ganz gut. Aber Freunde und Gegner der europäischen Entwicklung müssen etwas wissen, was sie von dieser Regierung gar nicht erfahren, ({11}) nämlich ob die deutsche Regierung die europäische Einigung überhaupt für vorrangig hält, wo die Schwierigkeiten auf diesem Weg liegen und welche Mittel die Regierung zu ihrer Überwindung anwenden will. Der Herr Bundeskanzler hat sich in der Regierungserklärung dazu ausgeschwiegen. Im Gegensatz dazu - das unterstreiche ich - hat sich der Herr Bundesaußenminister in seinem Überblick zur Jahreswende ganz ausdrücklich zum Vorrang der Europapolitik bekannt. Wir begrüßen dies und bedauern nur, daß das Auswärtige Amt auf die Abfassung der Regierungserklärung insoweit offenbar einen zu geringen Einfluß hatte. ({12}) Wir hoffen auch, daß der Kollege Genscher bereit ist, die Regierungserklärung heute und hier, wenn auch verspätet, in diesem entscheidenden Kapitel zu verbessern. Einer, der es wissen muß, nämlich unser ehemaliger Kollege Erhard Eppler, hat uns doch empfohlen, immer wieder die Lernfähigkeit des Bundeskanzlers herauszufordern. ({13}) Dies wäre eine gute Gelegenheit. Wir müssen nun von den Schwierigkeiten auf dem Weg zur Europäischen Union sprechen. Ein Hindernis nennt die Regierungserklärung, nämlich die zunehmende wirtschaftliche und soziale Auseinanderentwicklung unter den Mitgliedstaaten. Das trifft zu; durch Resolutionen kann man das nicht aus der Welt schaffen. Auch die Kommission oder ein Ministerrat in Brüssel haben dagegen kein ausreichendes Heilmittel, wenn zu Hause in den Mitgliedsländern die politische Führung fehlt, die die Einsicht, den Willen und die Kraft hat, europäisch zu handeln. ({14}) Aber der Herr Bundeskanzler hat es wohlweislich unterlassen, auf wichtige Gründe einzugehen, warum in europäischen Hauptstädten mehr national als europäisch gehandelt wird. Diesen Gründen entgegenzuwirken, Herr Wehner, wäre ein besserer und ein würdigerer Anlaß für Ihre Aufmerksamkeit als derjenige, auf den Sie sich soeben mit Ihrem Zwischenruf beziehen. ({15}) Widerstände gegen die europäische Einigung gab es nicht nur aus der historischen Tradition, aus der geographischen Lage oder aus der politischen Eigenart einiger Mitgliedsländer, sondern zur Renationalisierung in Europa hat auch eine parteipolitische Ideologie beigetragen. Schon vor einer wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen Auseinanderentwicklung wurde z. B. gegen die Gemeinschaftspolitik mit dem Schlagwort „Europa der Konzerne" zu Felde gezogen, ein auch in der SPD weit verbreiteter Spruch. Das ist zwar ideologisch konsequent, aber sachlich töricht. ({16}) Wo wäre denn Europa ohne die grenzüberwindende Tätigkeit der Unternehmen und nun auch der Gewerkschaften im Gemeinsamen Markt? ({17}) Natürlich dürfen diese Gruppen weder einzeln noch gemeinsam als Tarifpartner die politische Führungsrolle übernehmen; das dürfen sie weder national noch multinational. Die politische Verantwortung hat bei den gewählten politischen Organen zu bleiben, auch in Europa. Aber man sollte doch diese transnational handlungsfähigen Organisationen nicht beschimpfen und verteufeln, sondern man sollte sie unter Kontrolle halten und im übrigen europäisch ermutigen; denn auch sie sind ein wichtiger Baustein für Europa. Ich meine, der Beginn der gesamtwirtschaftlichen Abstimmung auf Gemeinschaftsebene durch Regierungen und Sozialpartner auf der Konferenz in Luxemburg im Juni des vergangenen Jahres war insofern ein bedeutsames Ereignis. Aber das hat die Parteien des Sozialismus, wie wir wissen, nicht gehindert, sich auch im Jahre 1976 überwiegend der Renationalisierung der Europapolitik zu verschreiben. Ich brauche nur einige der bekannten und vielzitierten Äußerungen in Erinnerung zu rufen, so die Äußerung des französischen Sozialistenführers François Mitterrand, der erklärte, ihm sei ein Klassenbündnis mit den Kommunisten im Zweifelsfall wichtiger als das Bündnis des freien Westens. ({18}) Oder denken wir gar an den alten Europäer Mansholt, der erklärte: Lieber kein Europa, wenn es nicht sozialistisch ist. Der Herr Bundeskanzler hat, wie berichtet wurde, damals Mitterrand widersprochen, und das ehrt ihn; aber in Wahrheit hat sich dieser selbe Bundeskanzler mit seiner Formel vom Modell Deutschland auf seine Weise an dem Rationalisierungswettbewerb der Linksparteien beteiligt. ({19}) Unabsehbaren Schaden in derselben Richtung hat vor allem die mehrfach wiederholte Formel seines Finanzministers Apel hervorgerufen, wir seien doch nicht die Zahlmeister Europas. Die Regierungserklärung setzt, wenn auch mit weniger platten Worten, diese unheilvolle Tendenz fort. Was für ein Bewußtsein will denn der Herr Bundeskanzler bei unserer Bevölkerung erreichen, wenn er erklärt, wir hätten 1975 3,2 Milliarden DM mehr gezahlt als erhalten, und wir erbrächten damit vier Fünftel des sogenannten. Nettotransfers? Natürlich können wir nicht einfach die Reparaturkosten für die Fehler bezahlen, welche andere Mitgliedsländer zu Hause machen. Die Gemeinschaft muß wissen, daß Leistungen von uns zum Ausbau der Gemeinschaft dann und nur dann zu erwarten sind, wenn sie mit Fortschritten in Richtung auf Europa verbunden werden. Aber dazu muß doch die Gemeinschaft eben zunächst wissen, ob wir die Union überhaupt noch ernsthaft wollen. Das erfährt sie nicht aus der Regierungserklärung. Bei uns zu Hause muß man verstehen, daß wir unter diesen Umständen doch nicht für andere opfern, sondern für unsere eigene Erhaltung und Zukunft zahlen, unsere Zukunft, die Europa heißt. Die Rechnung der Regierungserklärung täuscht. Tatsächlich gibt die Bundesrepublik nur 0,5 % ihres Bruttosozialproduktes nach Brüssel, während im Durchschnitt 0,7 % des zu Hause berechneten Gesamtbruttosozialproduktes in die Gemeinschaftskasse fließen. Unser Land zieht als stärkste Industrie- und Exportmacht in der Gemeinschaft große handelspolitische Vorteile aus dem gemeinsamen Markt. Das alles gehört mit in die Rechnung. Die deutsche Zahlmeisterattitüde ist aber einfach schlechte Europapolitik; ({20}) denn sie verstärkt nur die Tendenz zur Renationalisierung in Europa, und in Deutschland erweckt sie antieuropäische Gefühle, und diese laufen unseren Interessen zuwider.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Corterier?

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Dr. Peter Corterier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000339, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege von Weizsäcker, glauben Sie, daß zu dieser Tendenz der Renationalisierung, von der Sie gerade sprechen, auch die klare Absäge, die Mrs. Thatcher vor kurzem an ein föderalistisches Europa gemacht hat, gehört?

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich glaube, daß es gerade der politischen Einsicht der Engländer entspricht, daß sie sich - vielleicht anders als manche Kontinentaleuropäer - zunächst auf einen pragmatisch-politischen Weg begeben, dann aber gerade wegen ihres Pragmatismus besser als Kontinentaleuropäer und dort insbesondere Linksparteien in der Lage sind, auch die Folgerungen aus einem einmal vollzogenen Schritt zu ziehen. ({0}) Ich möchte aber zurückkommen auf die Rede von den angeblichen Opfern, die wir bringen. Ich möchte überhaupt jener irreführenden Trennung von Interesse und Ethik in der Politik widersprechen, die allzuoft mit dem Begriff „Opfer" verbunden ist. ({1}) - Meine Damen und Herren, es ist uns mitgeteilt worden - und wir haben das respektiert -, daß der Herr Bundeskanzler zur Verabschiedung des italienischen Ministerpräsidenten noch einige Minuten außer Haus weilen mußte. ({2}) Was soll es denn z. B. heißen, wenn Ihr Finanzminister, Herr Bundeskanzler - und jetzt wende ich mich an Sie persönlich -, erklärt, unser entwicklungspolitisches Engagement werde sich nicht in den Zahlen ausdrücken, die er als Christ für erforderlich halte? Was er für erforderlich hält, dafür soll er sich gefälligst verkämpfen. Er ist doch als Christ und als Politiker ein und derselbe Mensch, oder nicht? Die Trennung beider Bereiche führt auf Abwege. Wer ethische Überzeugungen ohne Bezug zu den eigenen Interessen verfolgt, der gerät in einen ideologischen Irrgarten. ({3}) Wer aber politisch anders handelt, als er es ethisch für richtig hält, wer also seine ethischen Überzeugungen nicht zur Maxime seines politischen Handelns macht, der kommt schließlich sogar auch noch zu einem falschen Verständnis seiner eigenen Interessen. ({4}) In Wahrheit geht es in Europa, wie Roy Jenkins, der neue Präsident der Gemeinschaft, mit Recht gesagt hat, nicht um Pferdewetten und Lotto, wo man nachrechnet, ob man mehr herausholt, als man eingesetzt hat. Sondern es geht um das politische Ziel Europas, dessen Saldo sich in Zahlen allein gar nicht errechnen läßt. Wir möchten diese Gelegenheit benutzen, dem neuen Präsidenten, den wir seit Jahr und Tag als mannhaften Streiter für Europa kennen, für seine ermutigenden Worte zu danken und ihn unserer Unterstützung zu versichern. ({5}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben ihm und seiner Richtung innerhalb der Labour-Party ja einmal auf einem wichtigen Parteitag geholfen. Sie hatten früher auch schon einmal nützliche Gedanken über die Zusammensetzung der Kommission und das, was die Regierungen dazu tun sollten. Sie hatten erklärt, der neue Präsident müsse ganz erheblichen Einfluß auf die Auswahl seiner einzelnen Kommissionsmitglieder erhalten, denn, so sagten Sie über die Brüsseler Kommission vor etwas mehr als einem Jahr - ich darf zitieren -: In den vergangenen 17 Jahren war kaum jemals ein erstklassiger Politiker darunter, und das nennt sich dann Kommission, die sich selbst als europäische Regierung aufwirft. Ich mache mir, Herr Bundeskanzler, Ihre Bewertung der Kommission in diesen letzten 17 Jahren wahrlich nicht zu eigen, aber als Roy Jenkins nach Bonn und nach Hamburg kam, stützte er sich doch wohl auf diese Ihre öffentlich bekanntgemachten Äußerungen, um für seine neue Kommission von Ihnen erstklassige Politiker zu erbitten, überdies - einer wichtigen demokratischen Übung, von ihm selbst auch gepriesen, folgend - je einen aus der Regierung und der Opposition. ({6}) Sie hätten ja eine gute Gelegenheit gehabt, die Schäden Ihrer ständigen Kommissionsschelte wettzumachen. ({7}) Statt dessen haben Sie sich wieder einmal versagt. Sie haben deutscherseits in der Kommission alles beim alten gelassen, und Sie haben durch diese Ihre Politik die beiden schätzenswerten deutschen Mitglieder der Kommission auch noch zum Objekt einer spöttisch-kritischen Presse in der Europäischen Gemeinschaft werden lassen. ({8}) Das alles entmutigt Europa, Herr Bundeskanzler, und von den Stilfragen will ich gar nicht erst reden. ({9}) Ihre Regierungserklärung steht - ich wiederhole es - unter dem Zweifel, ob Sie sich überhaupt noch zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, zu einer politischen Union bekennen. Mit anderen Worten: Wollen Sie - und wenn ja, mit welchen Mitteln - die Außen- und die Sicherheitspolitik und sodann auch allgemeine Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik zur Sache der Gemeinschaft machen, und zwar um dem wirtschaftlichen Ansatz Europas sowohl zum wirtschaftlichen Erfolg wie auch zum politischen Ziel zu verhelfen? In Ihrem mageren Europa-Kapitel sprechen Sie über die Beitrittsbemühungen europäischer Länder. Welche Absicht haben Sie? Sollen solche Beitritte ohne Änderung der institutionellen Entscheidungsbefugnisse in Brüssel betrieben werden? Wenn ja, streben Sie damit also endgültig etwas anderes als die politische Union an? Ich frage Sie danach, denn wir meinen, alle Beteiligten müssen wissen, um welches Europa es sich im Ziel auch bei den weiteren Beitrittsverhandlungen handelt. ({10}) Oder eine weitere Frage, die Europäische Politische Zusammenarbeit, die sogenannte EPZ: Vor sechs Monaten hat der Herr Bundesaußenminister die außenpolitische Zusammenarbeit in der Gemeinschaft als eine - ich zitiere ihn - vorwärtsweisende Entwicklung von größter Tragweite bezeichnet. Die Regierungserklärung aber schweigt sich sechs Monate später über dieses Thema so gut wie aus. Die EPZ ist zweifellos wichtig, wenngleich sie keineswegs eine automatische Vorstufe zur europäischen Union ist. Der belgische Ministerpräsident Leo Tindemans hat in seinem großen Bericht über die Europäische Union mit Recht auf die dringliche Notwendigkeit verwiesen, die Trennung der euro -päischen Außenbeziehungen der Neun in einen außenwirtschaftlichen Bereich der Gemeinschaftseinrichtungen einerseits und einen außenpolitischen Bereich im engeren Sinne bei der EPZ andererseits schrittweise zu überwinden. Wie steht diese Regierung dazu? Der schwerste europapolitische Mangel der Regierungserklärung ist es ja wohl, daß Sie überhaupt den ganzen Tindemans-Bericht mit keinem einzigen Wort erwähnen. ({11}) Um so dringlicher ist es, daß Sie heute und hier dem damit verbundenen Verdacht entgegentreten, Sie wollten in Wahrheit der Europäischen Union überhaupt lieber aus dem Wege gehen, als sich den mit ihr verbundenen Mühen zu unterziehen:

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Corterier?

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Dr. Peter Corterier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000339, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Weizsäcker, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen denn wirklich entgangen, daß die Bundesregierung in einer Drucksache, die dem ganzen Hause vorgelegen hat, dem Tindemans-Bericht im vergangenen Jahr ausdrücklich zugestimmt hat? ({0})

Dr. Richard Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002466, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Abgeordneter Corterier, ist Ihnen wirklich entgangen, daß die Grundlage einer vierjährigen Tätigkeit von Koalition und Opposition zunächst durch die Regierungserklärung gegeben wird? Dies ist das Nachschlagewerk, bei dem sich jedermann innerhalb und außerhalb dieses Landes davon zu überzeugen hat, was die Regierung will und was sie für vernachlässigenswert hält. Daß diese Ihre Regierung kein Wort über den Tindemans-Bericht sagt, spricht wahrlich Bände für Freunde und für Feinde der europäischen Bewegung. ({0}) Natürlich kann sich eine Regierungserklärung selbst dann, wenn sie zweieinhalb Stunden dauert, nicht mit jeder Frage befassen. Aber wenn eine Regierungserklärung den Mut aufbringt, hier mitzuteilen, sie sei dafür, daß die Bundesbahn erhalten bleibt, dann könnte sie auch einige Sätze darüber sagen, daß der Bericht von Leo Tindemans ganz obenan auf der außen- und europapolitischen Tagesordnung steht. ({1}) Es läßt sich eben der Verdacht nicht unterdrücken, daß die Tatsache, daß die Regierung eine Erwähnung unterlassen hat, mit bestimmten, sich leise einschleichenden Absichten zusammenhängen könn132 te. Heute und hier ist der Platz, solchen Verdächten entgegenzutreten. ({2}) Auf viele andere bedeutsame Fragen kann ich nicht eingehen. Ich nenne nur die Entwicklung der Steuern in Europa, die hochbedeutsame Rohstoffpolitik, die GATT-Verhandlungen und das große und schwierige Kapitel der Agrarpolitik. Wir werden auf dies alles bald und gründlich und von unserer Seite aus auch mit eigenen Initiativen zurückkommen. Sie werden in der Fraktion der CDU/CSU eine Zusammenarbeit für jede Politik finden, die in der Perspektive der Europäischen Union liegt. ({3}) Heute möchte ich nur noch auf ein Gebiet eingehen, welches die, wie ich meine, bedeutungsvollste Veränderung des europäischen Klimas mit sich bringen wird; ich meine die bevorstehende Direktwahl zum Europäischen Parlament. Wir haben in den Unionsparteien stets mit besonderem Nachdruck auf das Zustandekommen dieser Wahlen hingewirkt; denn Europa ist für uns nicht die Folge davon, daß wir zufällig geographisch zusammengesperrt sind, sondern es handelt sich um die Gemeinschaft der freien und der demokratisch verfaßten Völker. Das heißt eben, Europa ist Sache des Bürgers selbst, seines eigenen Interesses und seiner eigenen Entscheidung in direkten Wahlen. Diese Wahlen bringen den politischen Parteien eine große Chance und eine nicht minder große Verantwortung. ({4}) Die Parteien haben die Chance, die die europäischen Diplomaten, Räte und Kommissionen nicht haben, nämlich der Bevölkerung im Wettbewerb um die Stimmen mit bekannten politischen Kandidaten die Aufgaben und die Ziele Europas besser als bisher verständlich zu machen. Es wird grenzüberschreitende und damit grenzüberwindende Wahlprogramme und Wahlkundgebungen geben. Damit wird endlich deutlich, daß wir in Europa wirklich in einem Boot sitzen. Gewiß, das Europäische Parlament wird damit noch nicht sofort weitere Befugnisse haben. Die nationale Eigenart und Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten wird nicht verschwinden; sie wird auch im Wahlkampf mit dem notwendigen nachbarlichen Takt zu versehen sein, die Nachbarn werden in ihren Gefühlen zu respektieren sein. Dennoch ist das Entscheidende: Durch diese Wahl wird für jedermann der spürbare Anfang für die europäische Innenpolitik gesetzt. Die Verantwortung der Parteien wird es sein, die Gegensätze untereinander hart auszufechten und doch nicht aus dem Auge zu verlieren, was eine Partei ist, nämlich ein Teil des Ganzen. Das Ganze aber ist das freie Europa. Die Freiheit verantwortlich zu nutzen, sie friedlich zu wahren, das waren die Grundgedanken der Römischen Verträge, deren Unterzeichnung sich in wenigen Wochen zum zwanzigsten Mal jährt. So ist es seither geblieben, und so muß es die Leitlinie für die Zukunft sein. ({5}) Die Freiheit gehört nicht einer Partei allein. Europa muß für jede Partei Platz haben, - ({6}) - Sie werden gleich noch mehr Gelegenheit bekommen, zu klatschen, wo es wichtiger wäre. ({7}) - Ich wiederhole: Die Freiheit gehört nicht einer Partei allein. Europa muß für jede Partei Platz haben, ({8}) die dieser Freiheit verpflichtet ist. Aber eben deshalb kann es auch keine taktischen und keine historischen Kompromisse mit den Feinden der Freiheit geben, auch nicht in der Volksfront. ({9}) Wir werden uns gegenseitig keine billigen Vorwürfe für die Verhältnisse in anderen Mitgliedsländern der Gemeinschaft zu machen haben. Wie die Völker Europas, so haben auch ihre Parteien ihre nationalen Eigenarten. Und die europäischen Parteiengruppierungen stehen hier noch vor Neuland. Ich bedaure es, daß unser Freund von Hassel heute hier nicht nähere Ausführungen dazu machen kann, weil er heute in einem solchen Dienste tätig ist: im Exekutivausschuß der Europäischen Volkspartei bei Leo Tindemans in Brüssel. Aber trotz dieser Probleme wird sich eben keiner auf leisen Sohlen aus der Verantwortung stehlen können. Und dazu gehört die Stellungnahme zu Eurokommunismus und Volksfront. Es bezweifelt ja niemand, daß es kommunistische Parteien gibt, welche die nationalen Interessen ihres Landes in einer Weise vertreten, die sie in Gegensatz zu kommunistischen Führungen anderer Länder bringen kann. Jugoslawien ist dafür ein Beispiel. Und wenn die Kommunistische Partei Italiens erklärt, sie fühle sich in der NATO sicherer als außerhalb - ja, warum sollen wir ihr das nicht glauben? Nur, es ist eben nicht Sache der NATO, einer solchen Partei das Gefühl zu geben, als sei es der Zweck des Bündnisses, in seinen Mitgliedsländern den kommunistischen Parteien den äußeren Schutz dafür zu verschaffen, daß sie mittlerweile im Inneren ihre Gesellschaften nach ihrem Programm revolutionieren können. ({10}) Was die Demokratisierung und die Einhaltung der Spielregeln der eurokommunistischen Parteien betrifft, so möchte ich mich heute darauf beschränken, einen in diesem Hause schon mehrfach zitierten Kenner der Materie sprechen zu lassen. Ich meine Professor Michail Voslenskij. Er schrieb noch im November 1976 in der „Zeit" zum Thema Eurokommunismus - ich darf zitieren, Herr Präsident - das folgende: Ist alles also doch nur Taktik? Der Begriff „Taktik" hat im Marxismus-Leninismus keinen abDr. von Weizsäcker wertenden Sinn. Die Taktik der Aufstellung allgemeindemokratischer Programme bedeutet nicht, daß sie nicht ernst zu nehmen seien; im Gegenteil. Es ist aber klar, daß alle Punkte dieser Programme aus marxistisch-leninistischer, nicht aus bürgerlicher Sicht interpretiert werden. Das gilt natürlich auch für Begriffe wie Demokratie, Pluralismus, Wahlen, Rechte und Freiheiten. Das, meine Damen und Herren, sagt, wie ich meine, genug. Weil das so ist, deswegen werden alle Parteien in der europäischen Wahl zum Thema Eurokommunismus und Volksfront unzweideutig Stellung zu nehmen haben, und zwar um der europäischen Zukunft willen. ({11}) Uns steht in Europa noch ein steiniger Weg bevor. Aber wir gehen ihn mit Überzeugung und mit Zuversicht. Die Gemeinsamkeiten der Überlieferung und der Zukunftsaufgaben sind größer als das, was die europäischen Völker untereinander trennt. Die europäische Einheit - einst geistig gewachsen, vor allem religiös und kulturell - ist nun zur ersten politischen Aufgabe geworden. Sie besteht nicht nur im Bewußtsein der freien Völker Europas, sie ist auch die Hoffnung seiner unfreien Völker. ({12}) Denn Europa steht für eine humane und freiheitliche Lebensform. Es gilt, diese Lebensform für die Vielfalt seiner Völker überzeugend zu verwirklichen, in der Welt zu behaupten und dort verantwortlich fruchtbar zu machen. Die CDU/CSU wird sich mit aller Kraft für diese Aufgabe einsetzen. Sie_ ist in die deutsche und in die europäische Geschichte als die Partei Europas eingegangen. Diesem Ansatz bleibt sie aus lebendiger Überzeugung treu. Die Einigung Europas ist der geschichtliche Auftrag an die heute lebende Generation. ({13})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Bruno Friedrich wird auf die europapolitischen Ausführungen von Herrn von Weizsäcker später eingehen. Ich möchte aber doch an drei Punkten oder drei rhetorischen Fragen von Herrn von Weizsäcker einiges festmachen. Ich halte die Frage, ob wir - die Bundesregierung oder die Koalition - die Gemeinschaft wollen, wirklich für eine rein rhetorische Frage. Vielleicht hätte sich Herr von Weizsäcker die Mühe machen sollen, seinen christdemokratischen Kollegen Andreotti zu fragen, wie ernst wir es mit der Gemeinschaft meinen. Er hätte ihm das sicher gesagt. ({0}) Ich halte es zweitens für eine rhetorische Frage, wenn gefragt wird, was denn den Vorrang habe, Europa- oder Entspannungspolitik. Als ob wir Außenpolitik gewissermaßen abschnittsweise betreiben könnten, einen Monat bezogen auf Europa, einen Monat bezogen auf Entspannung und einen Monat bezogen auf die Dritte Welt! ({1}) Herr von Weizsäcker, das Interessante ist doch, daß Entspannungspolitik und Europapolitik sich ganz durchdrungen haben. Nie war die politische Zusammenarbeit in Europa enger als z. B. bei der Vorbereitung der KSZE. Herr von Weizsäcker, wir haben nicht Entspannung an Europa vorbei betrieben, sondern Europa hat Entspannung leider an Ihnen vorbei betreiben müssen, weil Sie sich der KSZE verweigerten. ({2}) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister für eine Regierungserklärung, in der in einer in manchem schwierigen Situation an einer Außenpolitik der kontinuierlichen Vernunft festgehalten worden ist. Wir sind der Meinung, daß diese Kontinuität in dem Moment um so wichtiger ist, in dem wir - die Bundesrepublik - mit dem Sitz im Sicherheitsrat zusätzliche Verantwortung übernehmen. In der Öffentlichkeit ist im Zusammenhang mit der Regierungsbildung verschiedentlich die Meinung vertreten worden, daß in den nächsten vier Jahren kaum regiert, sondern nur verwaltet werden könnte; große Entscheidungen stünden nicht an. Ich teile diese Meinung nicht, zumal nicht auf dem Gebiet der Außenpolitik. Denn die nächsten vier Jahre werden darüber entscheiden, ob trotz mancher wirtschaftlichen und politischen Momente der Destabilisierung in der Weltpolitik erstens der Nord-Süd-Konflikt im Wege eines Ausgleichs oder vielleicht sogar einer neuen Kooperation abgebaut werden kann. zweitens die dem Frieden der Welt dienende Entspannungspolitik zwischen West und Ost - insbesondere auch auf den Gebieten der Rüstungsbegrenzung, der Abrüstung und der Kontrolle von Waffenlieferungen - fortgeführt werden kann und drittens schließlich Westeuropa zu größerer wirtschaftlicher und politischer Einheit und zu größerer sozialer und demokratischer Stabilität fortschreiten kann. Alle drei Entscheidungen berühren Lebensinteressen der Bundesrepublik, und der Wahrnehmung dieser Interessen wäre mit einem größeren Maß an Gemeinsamkeit von Regierung und Opposition auf dem Gebiet der Außenpolitik sicher geholfen. In der Rede von Herrn Kollegen Kohl gab es Anklänge daran. Aber, Herr Kollege Kohl, es gibt andererseits auch eine Fortsetzung des hinter uns liegenden Wahlkampfes durch die Oppositionsparteien, eines Wahlkampfs, der weitgehend nicht mit sachlichen Argumenten, sondern in Form eines ideologischen Kreuzzuges - „Freiheit oder Sozialismus" - geführt worden ist. ({3}) Wir bedauern daher, Herr Kohl, daß Sie sich diese Kreuzzugsideologie von Herrn Strauß in das Papier haben hineinschreiben lassen, das sich Fraktionsvereinbarung nennt, seinem Inhalte nach aber einer Kapitulationsurkunde der protestantisch-liberalen und der katholisch-sozialen Kräfte der CDU gleichkommt. ({4}) Wir möchten gerne herausfinden, was denn nun eigentlich Ihre Außenpolitik ist und wer für Sie redet. Ich will versuchen, Ihnen dabei einmal darzulegen, in welchem Ausmaß eine von dieser Ideologie bestimmte Außenpolitik im Widerspruch zu den Sicherheits- und Lebensinteressen unseres Volkes stehen würde. Ich beginne mit dem Nord-Süd-Konflikt. Die Regierungserklärung hat sich auf die Darlegung der Grundsätze der sozialliberalen Politik auf diesem Gebiet beschränkt - sicher nicht zuletzt mit Rücksicht auf den Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten, mit denen wir ja gerade auf diesem Gebiet noch enger werden zusammenarbeiten müssen. Die Regierung hat zusätzlich betont, daß wir nicht den Ehrgeiz haben, im Nord-Süd-Dialog eine Sonderrolle zu spielen. Herr Kohl hat diesen Grundsätzen nicht widersprochen. Herr Kohl hat aber in diesem Zusammenhang von einer „geistigen und ordnungspolitischen Dimension" des Nord-Süd-Konflikts gesprochen, die die Bundesregierung übersehen habe. Die geistige Dimension ist Ihnen dann allerdings sehr schnell auf die Ablehnung eines Wirtschaftsdirigismus zusammengeschrumpft, ({5}) über die im übrigen kein Streit besteht. Die eigentliche geistige und politisch-moralische Dimension des Nord-Süd-Konflikts wird durch solche sogenannten ordnungspolitischen Sentenzen meines Erachtens eher verdeckt. Der Präsident der Weltbank, Herr McNamara, hat diese Dimension im vergangenen Oktober in einer Rede in Manila so formuliert - ich zitiere mit freundlicher Erlaubnis des Herrn Präsidenten -: Wenn wir uns heute in der Welt ohne Scheuklappen umschauen, so erkennen wir als eines der Hauptanliegen unserer Zeit den Wunsch nach einem größeren Maß an Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen innerhalb der Länder und von Land zu Land. Diese Tendenz hat seit mehr als hundert Jahren ständig an Bedeutung gewonnen. Der Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung, der Kampf gegen die Rassendiskriminierung, die Bürger- und Frauenrechtsbewegung, alle diese Bewegungen haben eines gemein: das Streben nach größerer sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Chancengleichheit. Diese Bewegungen gewinnen heute in allen Ländern immer mehr an Boden. Das, meine Damen und Herren, ist das innere Prinzip unserer Epoche. Ihm dient seit über hundert Jahren und oft an vorderster Front auch die geistigpolitische Bewegung des demokratischen Sozialismus. Wir müssen im Nord-Süd-Konflikt dabei klar aussprechen - der Bundeskanzler hat es getan -, daß mehr Gleichheit unter den Staaten zwar auch in unserem eigenen Interesse liegt, zunächst aber besondere Anstrengungen der Industriestaaten voraussetzt. Ich füge hinzu, ohne das hier näher ausführen zu können: Ich bin überzeugt, wir werden zu dieser Anstrengung nur fähig sein, wenn wir uns gleichzeitig um größere soziale Ausgeglichenheit innerhalb der Industriestaaten bemühen. ({6}) Die Anerkennung dieser politisch-geistigen Dimension des Nord-Süd-Konflikts bedeutet natürlich nicht, daß wir nicht alle Vorschläge der Entwicklungsländer darauf prüfen müssen, ob sie ihnen und der Stabilität der Weltwirtschaft überhaupt dienen. Auch wir haben Wünsche und Forderungen an die Entwicklungsländer. Nur sollten wir die Prüfung und die Entscheidung dieser Fragen nicht mit „ordnungspolitischen" Dimensionen befrachten, auf die man außerhalb der Bundesrepublik ohnehin weniger fixiert ist als bei uns und die uns daher leicht in Gefahr bringen, uns zu isolieren. Herr Kollege Mischnick hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das marktwirtschaftliche Vokabular in der Dritten Welt außerdem leider aus der Zeit des Kolonialismus belastet ist und sein Gebrauch daher unsere guten Absichten oft unter Ideologieverdacht stellt. Schließlich ist die Weltwirtschaft wie unsere eigene Wirtschaft eine mixed economy. In dieser ist der Markt wichtig. Er kann aber nicht das hier bestehende politische Problem lösen, nämlich das ungleicher wirtschaftlicher Machtpositionen, die durch den Markt in der Regel ja eher noch potenziert werden. Vielmehr geht es auch im weltwirtschaftlichen Maßstab um eine international abgestimmte zukunftsorientierte Strukturpolitik unter dem Leitprinzip größerer sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Chancengleichheit zum Nutzen aller. Ich glaube, die Industriestaaten haben ein gemeinsames Interesse daran, nicht den Eindruck zu erwekken, daß wir unsere Intelligenz vorrangig darauf verwenden, nachzuweisen, was nicht geht, statt darauf, was geht. Ich bin daher der Meinung, wir sollten auch unkonventionelle Ideen in unsere gemeinsame Prüfung einbeziehen, etwa die Idee, die Entwicklungshilfe angesichts knapper Budgets aus anderen Mitteln der Industrie- und der Erdölländer aufzustocken, oder auch die Idee einer Art konzertierter Aktion von Nord und Süd, die dein Elend des Mangels im Süden und zugleich den Problemen der unausgelasteten Kapazitäten im Norden zu Leibe rücken würde, ({7}) d. h. einer konzertierten Aktion, in der sich aktive Wirtschaftspolitik mit einer schrittweisen Lösung des Nord-Süd-Problems verbindet. Wir müssen die Dritte Welt als wünschbaren Partner und nicht als grundsätzlichen politischen Gegner ansehen, ({8}) und wir müssen uns auch einen freien Blick dafür bewahren, daß die Blockfreiheit der Dritten Welt ein positives Element des Machtgleichgewichts in der Welt sein kann. Noch wichtiger ist im Zusammenhang des NordSüd-Konflikts vielleicht etwas anderes: daß wir nämlich unser praktisches Verhalten strikt an der demokratischen Grundwahrheit orientieren - die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat sie „self-evident" genannt -, daß die Menschen gleich sind. Im Verhältnis zur Dritten Welt ist diese Frage ein zentraler Punkt unserer Glaubwürdigkeit. Das gilt in der konkreten Situation, Herr Strauß, insbesondere für unsere Politik im südlichen Afrika. ({9}) Der Parteivorstand der SPD hat dazu vor kurzem eindeutig Stellung genommen, und der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungerklärung gesagt: Auch das südliche Afrika muß sein Schicksal selbst bestimmen, und die Herrschaft der Mehrheit muß bald verwirklicht, gleichzeitig aber der Schutz der Minderheit gesichert werden. Herr Strauß hat das kritisiert. Die Probleme einer vielrassigen Gesellschaft könnten nicht auf diese einfache Formel gebracht werden. Wer denn die Mehrheit sei - hat er gefragt - in einem Land mit vier Millionen Weißen und 17 Millionen Schwarzen und noch anderen kleineren Gruppen? Die Frage hätte sich Herr Strauß doch leicht selber beantworten können: Die Mehrheit sind die 17 Millionen Schwarzen, die unter dem Regime der Apartheid nicht gleich, sondern als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. ({10}) Herr Strauß ist dieser gerade für den Westen entscheidenden Frage dann dadurch ausgewichen, daß er ein militärisches Gemälde entworfen hat, auf dem - um seine Worte zu gebrauchen - „sowjetischen Globalstrategen" die Kap-Route in die Hände fällt. ({11}) Ich will mich über die heutige strategische Bedeutung des Kaps hier nicht auslassen. ({12}) Aber glaubt Herr Strauß wirklich, daß man auf eine grundsätzliche Frage unserer politischen Wertordnung eine Antwort strategischen Inhalts geben kann? ({13}) Herr Strauß, wie wollen Sie eigentlich die mit Helsinki in Europa gerade erst begonnene Menschenrechtsdebatte durchstehen, wenn Sie sich hier vor dem Problem drücken? ({14}) Und ist es nicht so, Herr Strauß, daß - von Ihrer Position aus ironischerweise - der wahrscheinlich sicherste Weg, die Kap-Route zu gefährden, die weitere Unterstützung oder auch nur Duldung der menschenrechtsverachtenden Apartheidpolitik durch den Westen wäre? Es bedarf wahrlich nicht vieler Phantasie, sich das auszumalen. Gerade angesichts der Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen des Westens im südlichen Afrika müssen wir mithelfen, daß dort fünf vor zwölf noch eine Lösung der Vernunft gefunden wird. Das hat der Bundeskanzler sehr zu Recht auf die schon zitierte Formel gebracht. ({15}) Das „moralische Überleben und die Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaftsordnung", von der Herr Strauß gesprochen hat, hängen nicht zuletzt von unserer politisch-moralischen Glaubwürdigkeit ab. Sie würden von einer „Globalstrategie" unsererseits in Frage gestellt, die das innere Prinzip unserer Epoche mißachten, ja unterdrücken zu können glaubte. Das gilt nicht nur für den Nord-Süd-Konflikt. Ich komme damit zum zweiten Punkt, zur Entspannungspolitik. Die Tatsache, daß der neue amerikanische Präsident - entgegen manchen Vermutungen, um nicht zu sagen: Spekulationen auch bei uns - inzwischen klargemacht hat, daß er die Entspannungspolitik energisch fortführen will, zeigt noch einmal, daß es für die Entspannungspolitik zwar unterschiedliche Worte und Nuancen, aber keine Alternative in der Sache gibt. ({16}) Das gilt trotz aller im einzelnen möglichen Kritik, und das gilt auch trotz allen immer wieder zu beobachtenden negativen und störenden Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben. Ich möchte das gerade in dem Augenblick noch einmal festhalten, in dem Henry Kissinger das State Department verläßt und Cyrus Vance diese wichtige Verantwortung übernimmt. Die Menschen und Völker suchen mit Recht Sicherheit, und die gibt es im Atomzeitalter nur im Frieden. Frieden aber setzt Entspannung voraus, oder, in den Worten unseres verstorbenen Bundespräsidenten Heinemann: „Jenseits des Friedens gibt es heute keine Existenz. Die Stunde der Bewährung ist der Frieden." Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition hat die deutschen Interessen in diesen Entspannungsprozeß eingefädelt. Sie war sich dabei wohl bewußt, wie mühsam dieser Entspannungsprozeß sein würde. Wir brauchen für ihn einen sehr langen Atem. Die neue amerikanische Regierung weiß auch, daß wir in der Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts eine canditio sine qua non der Entspannung sehen. In der Diskussion um die Frage des heute gegebenen militärischen Kräfteverhältnisses können wir weder Verharmlosungen noch Tatarenmeldungen gebrauchen. Der amerikanische Oberbefehlshaber in Europa und der scheidende amerikanische NATO-Botschafter haben dazu in sehr nüchterner Form Stellung genommen. Demagogie in dieser Frage schadet unserer Sicherheit. Ich begrüße es daher, daß Herr Kollege Kohl in seiner Rede von dem gegenwärtig bestehenden Gleichgewicht ausgegangen ist. Die Bundesrepublik erfüllt ihre NATO-Verpflichtungen voll. Ich stimme Herrn Kohl darin zu, daß wir nicht mehr tun sollten und daß wir uns - wie er es gesagt hat - im Bereich der europäischen Rüstung nicht zum Primus Europas machen lassen sollten. Die Bundeswehr hat unter Georg Leber den bisher höchsten Stand ihrer Einsatzbereitschaft erreicht. Darauf kann die Bundeswehr stolz sein. Ich möchte an dieser Stelle Georg Leber aber auch noch einmal im Namen meiner Fraktion für die Entscheidung danken, mit der er noch einmal klargestellt hat, daß die militärische Leistungsfähigkeit kein Selbstzweck ist, sondern eingeordnet bleiben muß in unsere demokratische politische Ordnung, deren Schutz sie zu dienen bestimmt ist. ({17}) Diese Klarstellung war auch innerhalb der NATO erforderlich, deren ausdrückliche Aufgabe es ist, demokratische Ordnungen zu schützen und zu verteidigen. So hat die NATO ja auch - wenn Sie mir diesen Einschub gestatten - durch den Sieg der Demokratie in Griechenland und in Portugal an Glaubwürdigkeit gewonnen. Ihre Glaubwürdigkeit würde weiter gestärkt werden, wenn wir zu einer Beilegung des griechisch-türkischen Konflikts um die Ägäis und um Zypern und damit zu einer Stabilisierung der Lage im östlichen Mittelmeer beitragen könnten, die zugleich im Zusammenhang mit der Lösung des israelisch-arabischen Konflikts gesehen werden muß. Doch zurück zur Bundeswehr! Herr Kohl, was der Kollege Wörner zur Rudel-Affäre hat verlauten lassen, scheint mir zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik den Konsens über die politische Ein- und Unterordnung des Militärs in Frage zu stellen. ({18}) Mich wundert das allerdings nicht bei einem Mann, der mit einem unglaublichen Flugblatt kurz vor dem Wahltag - „Nur noch wenige Stunden, dann ist Deutschland frei" - den traurigen Höhepunkt eines Unionswahlkampfes geboten hat, ({19}) der einer Aufkündigung des Verfassungskonsenses unter den diesen Staat tragenden Kräften nahegekommen ist. Selten ist deutlicher geworden, daß die von Herrn Strauß propagierte Kreuzzugsideologie im Widerspruch auch zu den Sicherheitsinteressen unseres Staates steht. ({20}) Sie führt darüber hinaus zu vielen Widersprüchen innerhalb der Union. Herr Kohl, was gilt denn nun eigentlich: Ihre nach vielem Hin und Her erteilte Zustimmung zum Polen-Vertrag, die verständnisvollen Äußerungen Ihrer Parteifreunde Kiep und Albrecht zur Ostpolitik der Koalition, die Bekenntnisse zur Entspannungspolitik, die Sie selbst bei Ihren Besuchen in Belgrad, in Bukarest und in Sofia abgegeben haben? Oder gelten die CSU/CDU-Wahlkampfparolen von der „deutschen Ost- als sowjetischer Westpolitik", vom „Ausverkauf deutscher Interessen" ? Gilt die von der CDU im Wahlkampf verbreitete Landkarte der „roten Gefahr", auf der Belgrad kurzerhand zum Warschauer Pakt geschlagen wurde? Oder gilt gar die düstere Befürchtung Ihres Kollegen Strauß, Sie würden Ihre Memoiren „Vierzig Jahre Kanzlerkandidat - Erfahrungen aus einer bitteren Epoche" in Sibirien schreiben müssen? ({21}) Herr Kollege Kohl, Sie sollten hier - wenn schon nicht für die Fraktion, so doch wenigstens für die CDU-Gruppe in der Fraktion - endlich Klarheit schaffen. Oder stehen die Kampfparolen des selbsternannten Kreuzritters der europäischen Rechten selbst einer solchen Klarstellung im Wege? ({22}) Der Zwiespalt in der Seele der Union wird ja auch durch Aggressionen, wie wir sie neulich wieder von den Herren Mertes und Barzel gegenüber Willy Brandt zum Thema MBFR erlebt haben, nicht ausgeräumt. Willy Brandt hat - übrigens in Übereinstimmung mit Verlautbarungen der neuen amerikanischen Administration - eine neue politische MBFR-Runde gefordert. Dabei hat er in einem Interview die englischen Worte „indigenous forces" mit „nationale Streitkräfte" übersetzt, und Sie wollten daraus ein Mitspracherecht der Sowjetunion über die Stärke der Bundeswehr machen. ({23}) Die Denunzierung, damit der sowjetischen Politik in die Hände zu arbeiten, folgte dem so selbstverständlich auf dem Fuße, als ob solche Denunziationen in Deutschland nicht ihre Geschichte hätten. ({24}) Lassen Sie sich statt dessen doch lieber selbst einmal etwas zum Thema Truppenabbau und Abrüstung einfallen. Denn daß West und Ost, Nord und Süd die Früchte harter Arbeit ihrer Völker für sinnvollere Dinge als für Rüstung ausgeben können, darüber sind wir uns doch sicher in diesem Hause alle einig. ({25}) Im übrigen sollten gerade Sie uns nicht daran erinnern, daß alle diese Vorschläge mit den Verbündeten abgestimmt werden müssen. ({26}) Denn selten ist von Ihrer Seite - ich erinnere mich nur an das, was der Kollege Wörner bei der Option III gesagt hat - in einer so maßlosen Art gegen unsere Verbündeten polemisiert worden wie im Zusammenhang mit mit den MBFR-Verhandlungen. ({27}) Es wäre im übrigen in der Tat kein schlechter Einstieg in die Rüstungs- und Truppenreduzierung in Europa, wenn, wie Willy Brandt es vorgeschlagen hat, zunächst einmal ein Angriff aus dem Stand unmöglich gemacht werden könnte. Für die NATO als ein nur auf Verteidigung ausgerichtetes Bündnis wäre der damit verbundene Zeitgewinn militärisch kostbarer und finanziell billiger als die eine oder andere zusätzliche Rüstungsanstrengung.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ehmke, könnten Sie meiner Anregung folgen, daß Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden vorschlagen, er möge an das Rednerpult des Deutschen Bundestages treten und namens der SPD-Fraktion erklären, daß er die Erklärungen des Verteidigungsministers Leber und die Erklärungen des Außenministers Genscher zur Frage MBFR uneingeschränkt teilt? Dann wäre uns allen im Hohen Hause geholfen; denn ein wichtiger Konsens wäre wiederhergestellt.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mertes, könnten Sie mir gleich einmal bestätigen, daß wir beide uns jetzt einig sind, daß alle darauf zielen, zu einem Erfolg zu kommen, daß Verhandlungen fortgeführt I werden und daß in diesen Verhandlungen kein Vorschlag gemacht wird, der nicht mit allen unseren Verbündeten abgestimmt ist? ({0}) - Ich weiß ja, daß Sie einen Gegensatz zu konstruieren versuchen. ({1}) - Nein, es ist ganz vergeblich; der ist nicht da. Aber ich werde das Detail dieser Darlegung meinem Kollegen Pawelczyk überlassen, der auf diesen Punkt noch speziell eingehen wird. ({2}) Wir hoffen jedenfalls, daß es dem neuen amerikanischen Präsidenten gelingt, SALT II zum Abschluß zu bringen, und sich daran eine neue, eine politische MBFR-Runde anschließen kann. Die Weltwirtschaftskrise, die unsere übrigen Probleme alle so unendlich erschwert hat, hat vielleicht auch das eine gute, daß nämlich bei Erfüllung der sonstigen dringenden Aufgaben auch im Osten nicht mehr soviel Geld für Rüstung da ist. Fortschritte beiden MBFR-Verhandlungen könnten zugleich Gewicht haben für den Fortgang der Entspannungspolitik, insbesondere für die KSZE-Zwischenkonferenz. Es hat seine Bedeutung, daß diese Konferenz in Belgrad stattfindet. Sind doch die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit des blockfreien jugoslawischen Staates - um Präsident Giscard d'Estaing zu zitieren - ein vitales Element des Gleichgewichts und der Entspannung in Europa. Es wird in Belgrad darum gehen, eine nüchterne Bestandsaufnahme nicht nur dessen zu machen, was seit Helsinki geschehen ist, sondern auch dessen, was nicht geschehen ist. ({3}) Es wird weiter darum gehen, praktische Schritte zur Verwirklichung des in Helsinki Beschlossenen zu diskutieren, nicht etwa nur noch einmal das, was in Helsinki schon beschlossen worden ist, zu wiederholen. Ich nenne beispielsweise als zwei wichtige Punkte zunächst die Frage der Familienzusammenführung, in der Fortschritte gemacht worden sind, aber in der es immer noch, wie jeder Abgeordnete aus seinem eigenen Wahlkreis weiß, unendliches menschliches Elend gibt, während auf der anderen Seite diese Frage doch nicht grundsätzliche Interessen der betroffenen Staaten berührt. Wer hat denn etwas davon, daß Eheleute, daß Eltern und Kinder oder Verlobte nicht zusammenkommen? ({4}) Ich nenne aber auch die Frage der Pressearbeit, in der wir in den hinter uns liegenden Wochen so viele Enttäuschungen erlebt haben. Wir wissen selbst, daß Pressearbeit manchmal für Regierungen sehr unbequem sein kann. Aber sie ist eine Voraussetzung dafür, daß die Information ausgetauscht und verbreitet wird, die Voraussetzung für eine bessere Verständigung zwischen Ost und West ist. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, waren seinerzeit gegen Helsinki, wobei Sie sich übrigens nicht in der besten Gesellschaft befanden. Heute drängen Sie mit Ungeduld auf die Verwirklichung der Beschlüsse von Helsinki. Dabei muß aber doch jedem klar sein, daß in Helsinki hohe Maßstäbe aufgestellt worden sind, die nur mit großer Geduld zu verwirklichen sein werden. Die Beschlüsse von Helsinki sind zwei Jahre alt. Die EWG-Verträge sind 20 Jahre alt, und selbst mit diesen Verträgen sind wir noch nicht einmal durch. Helsinki ist kein juristischer Titel, aus dem wir zwangsvollstrecken können. Helsinki ist der Anfang eines schwierigen europäischen politischen Prozesses. Ich freue mich übrigens darüber, daß die amerikanische Kongreßdelegation, die in Sachen KSZE Europa bereist hat, zu einem so positiven Votum in ihrem Bericht gekommen ist. ({5}) Im Ernst will doch auch niemand von Ihnen hinter das zurück, was wir durch die Ostpolitik, durch die Berlin-Regelung, durch die KSZE an menschlichen Erleichterungen erreicht haben. Ohne die Politik der Entspannung wären auch die sowjetischen Dissidenten heute nicht im Westen, die hier, was ihr gutes Recht ist, die Entspannungspolitik teilweise scharf kritisieren. Diese Politik hat mehr bewirkt, als hunderttausend Fackelzüge zu bewegen vermöchten. ({6}) Es ist ja gerade so, daß ein Teil der Probleme, die wir heute haben, gerade daher kommt, daß in so kurzer Zeit so viel bewegt worden ist, was übrigens niemandem von uns Grund zur Schadenfreude gibt. Lassen Sie mich dazu zwei Bemerkungen machen. Die erste betrifft die DDR. Wir haben keinen Grund, die Verletzung der in Helsinki bekräftigten Menschenrechte von seiten der DDR durch das sinnlose Schießen an der innerdeutschen Grenze, die Ausweisung von Regimekritikern etc. zu verschweigen. Darüber besteht im Westen Übereinstimmung bis in die Reihen der westeuropäischen Kommunisten hinein, auch über die empörenden Vorgänge in den letzten Wochen in der CSSR. Wir werden für die bessere Respektierung von Menschenrechten noch lange hart und umsichtig arbeiten müssen. Aber, Herr Kollege Kohl und noch mehr Herr Kollege Barzel, wir müssen uns davor hüten, in Rückkehr zu einer Politik des Alles oder Nichts die Menschenrechte zu einer Waffe oder auch nur zu einem Banner in der politischen Auseinandersetzung zu machen. Das könnte nämlich nur auf Kosten der Menschen im anderen Teil Deutschlands und im anderen Teil Europas geschehen. ({7}) Zum zweiten besteht meines Erachtens ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Chance, den bisher erreichten Lebensstandard in den osteuropäischen Ländern weiter zu erhöhen und zu sichern, und den Chancen für eine breitere Respektierung von Menschenrechten. Jede Einschränkung oder Gefährdung des erreichten Lebensstandards hat jedenfalls bisher zu einer Zunahme politischer Repressionen geführt. Insofern besteht auch weiterhin, in der Terminologie von Helsinki gesprochen, ein enger Zusammenhang zwischen Korb II und Korb III. Wir müssen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Osten sicher unsere eigenen Interessen wahren; wir haben nichts zu verschenken. Wir müssen dies aber auf dem Boden der Einsicht tun, daß eine Zusammenarbeit grundsätzlich beiden Seiten nützt, nicht etwa nur dem politischen Gegner, und daß sie im allgemeinen europäischen Interesse liegt. Das führt mich zu der allgemeinen Frage von Entspannungspolitik und Status quo. Die Entspannungspolitik dient dem Frieden zwischen den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen und Ideologien. Sie geht vom territorialen Status quo aus und verzichtet auf Gewalt. Sie schreibt aber keinen ideologischen Status quo fest, etwa in dem Sinne, in dem die heute nicht mehr aktuelle Sonnenfeld-Doktrin verstanden oder auch mißverstanden worden ist, als ob es diesseits der durch Deutschland laufenden Grenze nur stramme Kapitalisten und jenseits nur stramme Kommunisten geben dürfte. Eine solche Vorstellung ist meines Erachtens für alle Europäer, nicht nur für die europäischen Sozialisten, unannehmbar, so unterstützenswert das Bestreben der Großmächte ist, das einmal erreichte Gleichgewicht nicht ins Rutschen kommen zu lassen. Die Entspannungspolitik will und kann die ideologische Auseinandersetzung nicht beenden. Sie hat im Westen wie im Osten sogar manche Kräfte freigesetzt, die der Kalte Krieg eingefroren hatte, was wir als Sozialdemokraten nur begrüßen können. Wir wissen aber auch, daß es sich hierbei bestenfalls um einen langwierigen Prozeß handeln kann, der sich um des Friedens willen nur innerhalb des bestehenden Macht-Status-quo abspielen kann. Wir alle sind uns dabei sicher - spätestens seit dem Prager Frühling - schmerzlich der Problematik bewußt, die darin liegt, anderen in Sachen Menschenrechte zur Geduld raten zu müssen, während man selbst in Freiheit lebt. Die Entspannungspolitik hat auch in Westeuropa - damit komme ich zu meinem letzten Punkt - neue Kräfte freigesetzt, die auch für die Direktwahlen zum Europäischen Parlament, das durch diese Wahlen politisch gestärkt werden wird, von Bedeutung sein werden. So hat der Abbau des ideologischen Drucks des Kalten Krieges zum Fall der faschistischen Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien beigetragen. Um politische Ordnung im Westen zu legimitieren, reicht es heute glücklicherweise nicht mehr aus, nur antikommunistisch zu sein. Auf der Iberischen Halbinsel ist der demokratische Sozialismus eine entscheidende Kraft auf dem Weg zur Demokratie. Gleichzeitig hat die Entspannungspolitik in den kommunistischen Parteien Westeuropas eine Entwicklung eingeleitet, die man sehr ungenau mit dem Etikett „Eurokommunismus" versehen hat. Die kommunistische Orthodoxie wirft diesen Parteien vor, sich dem Gedankengut des demokratischen Sozialismus zu öffnen. In dieser Situation, meine Damen und Herren von der Opposition, schlägt Ihr Slogan „Freiheit oder Sozialismus" dem demokratischen Europa direkt ins Gesicht. ({8}) Glauben Sie denn, Europa ohne die demokratischen Sozialisten in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Portugal, in Spanien, in Italien, in Skandinavien, in Großbritannien, in Osterreich, in den Benelux-Staaten oder in der Schweiz bauen zu können? Sie sollten aufmerksam die Kritik von Christdemokraten anderer europäischer Parteien zur Kenntnis nehmen. So hat der Vorsitzende der belgischen Christlichen Volkspartei, Wilfried Maertens, bei dem Herr von Hassel heute offenbar gerade zu Besuch ist, folgendes gesagt: Wir sind nicht einverstanden mit bestimmten Elementen der deutschen CDU. In diesem Sinne haben wir ein Problem. Und wir und die Nie, derländer, Luxemburger, Italiener - bald auch die Spanier - stellen so etwas wie den fortschrittlichen Flügel in der europäischen christdemokratischen Bewegung dar, jedenfalls diejenigen unter uns, die sich nicht einer Sammlung all dessen einverleiben lassen wollen, was nicht sozialistisch und was nicht links ist. Wir glauben, daß wir in Europa eine eigenständige, eine fortschrittliche Politik verfolgen müssen, mit einer anderen Einstellung gegenüber den nationalen Belangen. In diesem Sinne gibt es Meinungsverschiedenheiten gegenüber bestimmten Elementen in der CDU und der CSU von Strauß. Aber wir glauben, daß wir in der Europäischen Union die Mehrheit erlangen können. Wir wünschen das den fortschrittlichen Kollegen. ({9}) Sie, meine Damen und Herren von der Union, verwickelt die Straußsche Kreuzzugsideologie insofern doch ständig in Widersprüche. So messen Sie hinsichtlich einer demokratischen Entwicklung in Spanien - ich habe mit Herrn Kollegen von Hassel darüber gesprochen - einer Zusammenarbeit von Sozialisten und Christdemokraten grundsätzliche Bedeutung bei. Auch wir tun das. Aber was soll denn der reaktionäre Slogan „Freiheit oder Sozialismus"? ({10}) Sie rufen danach, daß die italienischen Sozialisten in die christdemokratisch geführte Regierung eintreten, aber doch sicher nicht, um zusammen mit Herrn Andreotti die Freiheit zu beseitigen, sondern um sie zu retten. Das ist nun heute in Italien allerdings keine alleinige Frage prozentualer parlamentarischer Mehrheiten mehr; dazu geht die Krise zu tief. Der christdemokratische Ministerpräsident Italiens, den wir gerade zu einem Besuch hier in der Bundesrepublik begrüßen konnten, teilt doch offenbar die Meinung vieler seiner Landsleute, daß, so wie die Lage nun einmal ist, die Krise ohne die Mitarbeit der KPI nicht zu lösen ist. Und nicht wenige in Italien fürchten, daß die Alternative zu einer gemeinsamen Krisenbewältigung eine neue Form von Faschismus sein könnte. Damit, Herr Strauß, bin ich nun beim „Eurokommunismus". Zunächst eine Feststellung: Der Kommunismus ist in Westeuropa nur dort stark, wo in diesem Jahrhundert zu lange das innere Prinzip unserer Epoche „größere soziale Gerechtigkeit - mehr Chancengleichheit" mißachtet worden ist. ({11}) Wo es starke Sozialdemokratien gibt, haben wir kein kommunistisches Problem. ({12}) Im übrigen - das sage ich zu denen von Ihnen, die in früheren Zeiten so oft nach Griechenland, Spanien und Portugal gefahren sind - unterscheiden sich die westeuropäischen Kommunisten nicht nur von ihren kommunistischen Kollegen im Osten, sondern auch von den Faschisten, die so lange Jahre in Griechenland, Portugal und Spanien geherrscht haben, dadurch, daß ihre politische Macht auf dem Ergebnis freier Wahlen beruht. ({13}) Die Gründe, die zu der Bewegung geführt haben, die man Eurokommunismus nennt, habe ich an anderer Stelle eingehend zu analysieren versucht. Ich möchte das heute nicht wiederholen, sondern nur eines dazu sagen: Wir sollten uns nicht über die grundsätzliche Bedeutung dieses Vorgangs täuschen. Schließlich war es die Spaltung der Arbeiterbewegung durch die Bolschewisten, die vor einem halben Jahrhundert das Hochkommen des Faschismus mit ermöglicht hat. Wenn nach Jahrzehnten einer leidenschaftlichen und bitteren Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten - in deren Mittelpunkt die menschliche Freiheit stand - der westeuropäische Kommunismus wirklich den Weg zur Demokratie finden sollte, so wäre das ein bedeutender Vorgang. Ich teile allerdings Ihre Auffassung, daß heute keineswegs mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sich die kommunistischen Parteien Westeuropas wirklich und endgültig für demokratische Grundrechte und demokratische Spielregeln entscheiden werden. Wir Sozialdemokraten nehmen die Möglichkeit nicht als Gegebenheit, wir sind skeptische und nüchterne Beobachter der Entwicklung. Aber auch Sie, meine Damen und Herren von der Union, dürfen die nüchterne Beobachtung und Beurteilung nicht durch ein Dogma von der Unmöglichkeit eines Wandels verstellen, es sei denn, Ihnen sei eine rechte Mehrheit in Europa auf jeden Fall mehr wert als die Lebensfähigkeit der europäischen Demokratie. ({14}) Mit einer solchen rechten Politik würden Sie dann allerdings ungewollt zugleich der kommunistischen Orthodoxie in die Hände arbeiten. ({15}) Eines sollten wir uns dabei alle zusammen vornehmen. Wir sollten nicht meinen, daß wir die Probleme der französischen, italienischen, spanischen oder portugiesischen Innenpolitik besser beurteilen könnten als die demokratischen Kräfte in jenen Ländern. ({16}) - Ich sage es mir vor allen Dingen selbst, Herr Lenz, weil ich mich auch immer selbst in Versuchung finde, anderen Leuten zu raten, was sie machen sollen; aber Sie können dabei auch ruhig zuhören. ({17}) Ich bin der Meinung, die europäische Geschichte enthält wenig Anhaltspunkte dafür, daß andere europäische Völker politisch weniger begabt oder erfahren seien als unser eigenes Volk. ({18}) Die deutschen Sozialdemokraten haben keinerlei Interesse an einer Stärkung kommunistischer Parteien irgendwo in der Welt; sie haben jedes Interesse an der Stärkung der Kräfte des demokratischen Sozialismus. Weder ideologische Kreuzzüge noch rechte Sammlungsbewegungen können der Demokratie und den Menschen in Europa helfen. Diese Überzeugung teilen wir mit den fortschrittlichen Kräften im liberalen wie im christdemokratischen Lager Europas; nur wir alle zusammen können Europa bauen. Wir halten die Europäer nicht für degeneriert, und wir halten Andersdenkende nicht für „geistige Pygmäen". ({19}) Wir wissen, daß die progressiven Kräfte in Europa, die gerade heute auf neue Unterstützung aus Nordamerika hoffen, mehrheitsfähig sind. Wir wissen auch, daß Außen- und Innenpolitik ein unteilbares Ganzes bilden. Ihr Parteifreund Leisler Kiep hat Ihnen zum Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik einmal folgendes gesagt: Wer die Außenpolitik der Regierung insgesamt als eine Politik in Richtung sozialistische Volksfrontpolitik ansieht, der wird auch auf gesellschaftspolitischem Gebiet die totale Konfrontation suchen. Das ist das, was wir gerade erleben. Ich zitiere weiter Herrn Kiep: Die Union kann nicht die Gesellschaftspolitik von morgen mit der Außenpolitik von gestern koppeln. Deshalb gehört zur Neubesinnung auch eine Neubesinnung in außenpolitischen Fragen. ({20}) - Ich finde es traurig, daß bei diesem Zitat nur meine Kollegen von der SPD klatschen. Diese Äußerung stammt aus dem Jahre 1973. Da Sie dem Ratschlag von Herrn Kiep nicht gefolgt sind, haben Sie heute weder eine Außen- noch eine Innenpolitik. ({21}) In unserer Sicht machen die Ihnen von Herrn Strauß oktroyierten rechten Klischees Sie unfähig, ({22}) Ihre Aufgabe als Opposition zu erfüllen und damit auf Ihrem Platz die Interessen unseres Staates und unseres Volkes wahrzunehmen. Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich habe darum an Sie eine Bitte - auch an Sie, Herr Kohl -, in der Sie auch ruhig ein Stück Abbitte für manches sehen dürfen, was sicher auch wir in den vergangenen Jahren - ich bin mir darüber völlig klar - Ihnen gegenüber falsch gemacht haben. Fehler hat es nicht nur auf einer Seite gegeben. Meine Bitte lautet: Bitte, befreien Sie sich von diesen Klischees, folgen Sie Herrn Strauß nicht noch weiter nach rechts, bleiben Sie bitte Christdemokraten! ({23})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, darf ich vielleicht vorschlagen, daß diejenigen Kollegen, die Zeitung lesen möchten, es an anderer Stelle tun. Es erhöht die Aufmerksamkeit für den Redner nicht. ({0}) Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bangemann.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt es, daß sich das Haus in der Fortsetzung der Debatte zur Regierungserklärung bis jetzt im wesentlichen mit europäischen Problemen befaßt hat. Denn wir sind der Meinung, daß das der Bedeutung dieser Politik entspricht. Wir sind auch nicht traurig darüber, daß die Opposition durch ihren Sprecher selber diesen Beginn der Fortsetzung gewählt hat. Denn sie hat ausgerechnet einen Teilbereich der Politik ausgewählt, in dem ernsthaft nichts an der Regierungserklärung auszusetzen ist. ({0}) Selbst wenn man sehr selbstkritisch der eigenen Arbeit gegenübersteht - und natürlich steht der Opposition mehr noch zu als bloße Selbstkritik, weil sie ja die Politik der Regierung zu kritisieren hat -, kann man doch nun eine Tatsache wirklich nicht übersehen, und das ist die Tatsache, daß es in ganz Europa nicht eine einzige Regierung gibt, die in den vergangenen vier Jahren sich so intensiv, so eindrucksvoll und ohne jeden Zweifel für den Bau Europas und der Europäischen Union eingesetzt hat wie unsere Bundesregierung. ({1}) Daß das nicht jeden Tag wieder von dieser Bundesregierung durch Worte wiederholt wird, daß nicht jede Selbstverständlichkeit wie z. B. ein Bekenntnis zur Europäischen Union in jeder Erklärung dieser Regierung auftauchen muß, meine Damen und Herren, das ist solange überhaupt nicht schädlich, solange diese Regierung mit Taten täglich unter Beweis stellt, daß sie europäisch gesinnt ist. ({2}) Dafür gibt es wirklich Beispiele im Überfluß. Deswegen ist es nicht notwendig, daß die Gemeinschaft aus der Regierungserklärung erfährt, ob wir die Europäische Union wollen oder nicht. Sie erfährt es jeden Tag aus dem, was diese Regierung tut. ({3}) Ich bin auch der Meinung, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Herr von Weizsäcker in der Betonung der Tatsache, daß man Politik nicht machen kann, ohne moralische Grundsätze zu verwirklichen oder verwirklichen zu wollen, etwas Richtiges gesagt hat. Nur: der Gegensatz zwischen dem, was immer dazu erklärt wird von der Union, und dem, was Sie uns an praktischen Beispielen in Ihrer eigenen Politik bieten, ist erstaunlich. Ich denke nur daran, welch eindrucksvolles Beispiel die Union in ihrer Auseinandersetzung um die gemeinsame Fraktion für die Identität von moralischen Grundsätzen und politischem Handeln und für christliche Bruderliebe gegeben hat. ({4}) Ärgerlich allerdings, Herr von Weizsäcker, wird das, wenn Sie in Ihrem eigenen politischen HanDr. Bangemann dein in einem Wahlkampf so diametral den Grundsätzen zuwidergehandelt haben, die Sie in aller christlichen Unschuld hier dann wieder darstellen. ({5}) Sie sagen - und das ist richtig -: Freiheit gehört nicht einer Partei allein. Das stimmt. Aber wie haben Sie sich denn, gemessen an diesem Grundsatz, in Ihrem zurückliegenden Wahlkampf verhalten? ({6}) Haben Sie sich so verhalten? Haben Sie diesen Pluralismus in der Tat bewiesen? Dort im Wahlkampf vergessen Sie dann diese Identität von moralischen Grundsätzen und politischem Handeln, ({7}) und das ist, nach moralischen Grundsätzen geurteilt, schlicht Heuchelei und nichts anderes. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn man Europapolitik in den nächsten Jahren voranbringen will und wenn man zu Resultaten kommen will, dann gilt es, eine Reihe von Grundsätzen zu beachten, die in diesem Zusammenhang nicht immer beachtet werden. Ich bin zunächst einmal der Meinung, daß es schädlich ist, falsche Gegensätze aufzubauen. Ich habe in zurückliegenden Debatten zur Europapolitik davor gewarnt, z. B. einen Gegensatz zwischen der Westpolitik, der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten, und einer Europapolitik zu sehen, und habe für meine Fraktion unsere Meinung zum Ausdruck gebracht, daß solche falschen Prioritäten den Fortgang einer vernünftigen Europapolitik sehr behindern können, weil man nämlich nicht nur - aus zeitlichen Überlegungen heraus - nicht einen Monat lang Europapolitik und in einem anderen Monat partnerschaftliche Politik mit Amerika betreiben kann, sondern weil auch ein Sachzusammenhang zwischen diesen einzelnen Bereichen der Politik besteht. Und ein ebensolcher Sachzusammenhang besteht zwischen der Entspannungspolitik und der Europapolitik - nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang. Wir werden - wenn wir überhaupt eines bekommen - ein ganz anderes Europa in dem Augenblick bekommen, in dem wir die Entspannungspolitik aufgeben. Nur mit der Entspannungspolitik werden wir zu einem Europa kommen, das seine Kräfte auf die Entwicklung einer demokratischen Struktur, auf die Entwicklung von mehr Wohlstand für die Menschen in Europa verwenden kann und sich nicht in einem unsinnigen Rüstungskampf mit anderen Teilen der Welt verzettelt. ({9}) Ich warne deswegen davor, weil Herr von Weizsäcker den Eindruck zu machen schien, daß er einen Gegensatz zwischen einer Priorität Entspannungspolitik und einer Priorität Europapolitik sieht. Er hat bemängelt, daß die Bundesregierung in ihrer Erklärung eine Priorität Entspannungspolitik gesetzt hat, und meinte, daraus, was die Europafreundlichkeit der Bundesregierung angeht, einen Vorwurf ableiten zu können. Das genau ist der falsche Gegensatz, vor dem ich jetzt warne. ({10}) Zweitens bin ich der Meinung, daß wir - und zwar die Politiker in erster Linie - zunächst einmal den Pessimismus bekämpfen müssen, der weitgehend die europapolitische Szenerie zu beherrschen scheint. Zwar verstehe ich natürlich, daß viele Menschen auf Grund der Vorstellungen, die sie selber von einem Europa haben und die eine gewisse Ungeduld vermitteln, den Fortschritt als zu langsam empfinden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir in vielen Bereichen bereits erhebliche Gemeinsamkeiten erreicht haben. Dafür gibt es eine ganze Reihe auch jüngster, auch aktueller Beispiele. Auch die angebliche Niederlage, was den Standort von JET angeht, ist doch, meine Damen und Herren, im Grunde genommen ein Beweis dafür, daß Europa zusammengewachsen ist. Denn wir werden eine "solche Entscheidung treffen, und wir können sie treffen, und daß sie noch nicht getroffen worden ist, ist ein Ergebnis der Tatsache, daß hier eben ganz normale nationale Interessen eine Rolle spielen, nicht aber eine Unfähigkeit der Europäer, zu einer solchen Entscheidung zu gelangen. Ein zweiter, meiner Meinung nach zu Recht auch von Herrn von Weizsäcker angeführter Grundsatz ist der, daß es nicht ein Europa einer politischen Richtung geben kann. Wir müssen vielmehr ein pluralistisches Europa aufbauen, und das gilt für Sozialisten wie für Konservative wie für Liberale, das gilt für jedermann in diesem Europa. Wer glaubt, daß allein seine politische Meinung den zukünftigen Kurs Europas bestimmen kann und bestimmen muß, der verhindert in Wahrheit Europa. ({11}) - Ich spreche jetzt auch - das sage ich hier ganz deutlich - von einem Sozialisten, nämlich von dem französischen Sozialistenführer François Mitterrand, der in der Tat gesagt hat, für ihn sei Europa dann Europa, wenn es ein sozialistisches Europa sei. ({12}) Meine Damen und Herren, das gilt aber für Konservative oder Liberale in gleicher Weise, es gilt für jedermann. Dieses Europa muß ein pluralistisches Europa sein, wenn es lebendig und wünschenswert sein soll. ({13}) Sie müssen auch einem Sozialisten das Recht zubilligen, etwas zu sagen, was seiner Meinung entspricht, auch wenn es der Meinung von anderen nicht entspricht. Darüber kann man sich ja auseinandersetzen. ({14}) Ich bin auch der Meinung, daß das pluralistische Europa mehr noch, als es für die Nationalstaaten gilt, den Grundsatz zu respektieren hat, daß ein demokratischer Staat dann existiert, wenn Minderheiten in ihm leben können; ({15}) denn das zukünftige Europa wird kein Europa von Mehrheiten sein. Die Parteien, die Völker, die politischen Auffassungen, die jetzt in einem nationalstaatlichen Rahmen noch Mehrheiten sind, werden in Europa alle zu Minderheiten. Deswegen wird die zukünftige Europäische Union sehr viel stärker den Gedanken des Minderheitenschutzes in jeder Form zu verwirklichen haben, weil sie erst dann in Wahrheit eine Europäische Union sein wird. ({16}) Das muß man auch einmal unseren britischen Freunden bei ihrer Auseinandersetzung um ein zukünftiges Wahlrecht sagen. Wer im Hinblick auf dieses zukünftige Europa schon im Wahlrecht verhindert, daß solche Minderheiten angemessen beteiligt werden, führt einen Angriff gegen dieses zukünftige Europa. ({17}) In der Tat haben wir uns - auch das zählt für mich zu den Grundsätzen - in diesem Zusammenhang mit dem Eurokommunismus auseinanderzusetzen. ({18}) Ich sage hier für meine Fraktion, daß die Grundsätze, die für uns in der Entspannungspolitik gelten - ein friedliches Nebeneinander zwischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung, der Versuch, menschliche Erleichterungen auf allen Gebieten zu schaffen, in denen der Mensch täglich leben muß -, für uns in gleicher Weise auch in der Auseinandersetzung mit anderen politischen Auffassungen gelten. Wir wollen keine gewaltsame Auseinandersetzung, auch nicht mit Kommunisten. Wir lehnen auch eine blinde Auseinandersetzung ab, die in dem anderen nur noch den Feind sieht und sich mit seinen Argumenten nicht auseinandersetzt. Wir lehnen aber, meine Damen und Herren, genauso jede ideologische Partnerschaft oder Nähe mit jedwedem Kommunismus ab, gleich, ob er nun „Eurokommunismus" genannt wird oder einen anderen Namen trägt. ({19}) Hier muß ich für meine Fraktion ganz klar sagen: Es gibt für uns keinen Unterschied zwischen den Kommunisten in Westeuropa und den Kommunisten in Osteuropa. Einen einzigen Unterschied will ich gelten lassen: Die Kommunisten in Osteuropa sind an der Macht, und die Kommunisten in Westeuropa sind nicht an der Macht. ({20}) Das erklärt vieles von dem, was die Kommunisten in Westeuropa nach außen zu sein vorgeben. ({21}) Es gibt, meine Damen und Herren, im Grunde auch keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Faschisten, jedenfalls gibt es für einen Demokraten keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Faschisten; ({22}) denn ein Demokrat wird in beiden Fällen damit rechnen müssen, daß er sich einem Regime ausgesetzt sieht, das Menschenrechte nicht achtet, das Minderheiten nicht schützt, das freie Wahlen nicht zuläßt. ({23}) Deswegen gibt es für Liberale in dieser Auseinandersetzung überhaupt keinen Zweifel daran, daß wir dafür sorgen müssen, und zwar alle gemeinsam, daß dieses zukünftige Europa denselben Grundsätzen und denselben demokratischen Freiheiten gerecht wird, denen wir in unseren Nationalstaaten selbst gerecht zu werden uns bemühen. Das wird ein Teil der Auseinandersetzung um Europa sein. ({24}) Lassen Sie mich noch einiges zu den Zielen und Inhalten dieser Politik sagen; denn wichtig ist natürlich auch, daß man bei dem, was man für diejenigen, die Europa in den Direktwahlen zu wählen haben, anzubieten hat, die Überzeugung vermitteln kann, daß es sich lohnt, für dieses Europa einzustehen, daß es sich lohnt, auch als Wähler sich darum zu bemühen, daß dieses Europa entsteht. Erstens. Für uns, für die Liberalen, steht dabei im Vordergrund, daß die Europäische Union die Bürgerrechte in der gleichen Weise, wenn nicht besser, schützen muß, wie das bisher die nationalen Mitgliedsländer in ihren Verfassungen tun. Deswegen ist es ganz wichtig, daß das Europäische Parlament und die politischen Öffentlichkeit den ersten Schritt zu einer europäischen Verfassung in den nächsten Jahren darin sehen, diese Bürger- und Verfassungsrechte in der Weise zu garantieren, wie wir das gewohnt sind, d. h.: mit individuellem Rechtsschutz. Wir begrüßen es ganz ausdrücklich, daß inzwischen alle Mitgliedsländer der Europäischen Konvention der Menschenrechte beigetreten sind. Aber das, meine Damen und Herren, ist noch nicht ausreichend. Unser Verfassungsgericht hat in einem in der Europäischen Gemeinschaft viel kritisierten Urteil klar dargelegt, daß wir nicht akzeptieren können, daß eine zukünftige europäische Verfassung einen minderen Schutz für Grundrechte gewährt, als unsere eigene Verfassung dies heute tut. Zweitens. Eines der ganz wichtigen Gebiete, auf denen Europa für die Menschen in der Gemeinschaft glaubhaft werden kann, ist die Wirtschaftspolitik. Viele der Probleme, mit denen wir uns heute in diesem Bereich auseinandersetzen, sind ein Ausdruck der Unfähigkeit der Nationalstaaten, mit dieser Problematik fertig zu werden. Ich behaupte nicht, daß das Problem der Unterbeschäftigung, daß die Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung, daß die Probleme, die bei der Verteidigung der Grundsätze der freien Marktwirtschaft entstehen, in dem Augenblick verschwinden, in dem wir zur Europäischen Union gekommen sind. Aber auf dem Weg dahin müssen wir unseren Bürgern sagen, daß Europa hinsichtlich des Problems der Unterbeschäftigung, hinsichtlich der Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung, auch hinsichtlich der Verteidigung der Grundsätze der freien Marktwirtschaft eine größere Unterstützung sein wird, als jeder Mitgliedstaat sie heute seinen Bürgern anbieten kann. Das muß bezüglich der Direktwahl, die vor uns steht, in das Bewußtsein der Wähler eindringen. Dann werden sie auch erkennen, daß dieses Europa unmittelbare Vorteile für sie hat. Drittens. Wir müssen mit den Problemen der Agrarpolitik in Europa fertig werden. Das ist ein Problem der europäischen Politiker, aber nicht nur derjenigen, die Agrarpolitik machen. ({25}) Denn auch hier gilt oft das, was in der Politik generell gilt: Es werden Lasten und Probleme auf Leute abgeladen, die dafür gar nicht können. Und die werden dann nachher noch dafür beschimpft, daß. diese Lasten auf sie abgeladen worden sind. ({26}) - Das ist, meine Damen und Herren, ein allgemeiner Grundsatz, der selbst, Herr Kohl, auf die Auseinandersetzungen angewendet werden kann, in denen Sie vor kurzer Zeit standen. Auch auf Sie sind einige Lasten abgewälzt worden, für die Sie wirklich nichts konnten. ({27}) - Das sind die normalen Lasten eines Vorsitzenden einer liberalen Partei. ({28}) Es gehört zum Liberalismus, daß der Vorsitzende, der auch in einer liberalen Partei ein bißchen Macht ausübt, immer am schärfsten kritisiert wird. Das ist ein Ausweis für Liberalität ({29}) in meiner Partei. ({30}) - Das gilt selbstverständlich auch von unserem Bundesvorsitzenden. ({31}) Im Verhältnis zu ihm befinde ich mich in der angenehmen Situation, daß ich auf der Seite derjenigen stehen kann, die Kritik üben. Ich bedaure nur, daß er uns so wenig Gelegenheit gibt, Kritik an ihm zu üben. ({32}) In der Agrarpolitik sollten wir von den Belastungen der Währungspolitik wegkommen. Diese Agrarpolitik muß auch den Grundsatz verwirklichen, daß es einen Ausgleich zwischen Verbrauchern und Produzenten geben muß. Wir müssen von der Überschußproduktion wegkommen, die auch nicht damit gerechtfertigt werden kann, daß man sagt: Überall in der Welt herrscht Mangel, und nun laßt doch wenigstens uns - die Industriestaaten - dafür sorgen, daß wir mit unserer eigenen Produktion diesen Mangel beheben. Das wäre ein völlig falsches Konzept. Dieser Mangel kann dort, wo er entstanden ist, nur dadurch beseitigt werden, daß wir den Menschen, die dort leben, und den Ländern, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben, die Möglichkeit geben, diesen Mangel durch ihre eigene Nahrungsmittelproduktion zu beseitigen. ({33}) - Sicherlich gibt es Übergangslösungen. Ich meine nur, daß wir nicht zweierlei gleichzeitig machen können. Wir können nicht auf der einen Seite eine Gemeinschaft von Industrieländern sein, deren Lebensstandard und Existenz ganz wesentlich auf dem Export von Industriegütern beruhen, und auf der anderen Seite auch noch ein 120 %iger Selbstversorger in agrarischen Produkten sein. Das ist eine Gleichung, die nicht aufgehen wird. Deswegen müssen wir in Europa weiter an diesem Problem arbeiten. Wir müssen auch dafür sorgen, daß die regionalen und strukturellen Unterschiede in Europa weniger scharf werden. ({34}) Dies ist eines der Hauptprobleme des Zusammenwachsens der Europäischen Union. Wir müssen unseren Wählern und den Bürgern in der Bundesrepublik klar und deutlich sagen, daß dieses Zusammenwachsen nicht möglich sein wird, ohne daß wir dafür selber Opfer bringen, ohne daß wir selber unsere Leistungen dafür bringen. Dies muß in unserem Lande verstanden werden, denn dieses Verständnis ist auch ein Zeichen für eine beginnende und wachsende Solidarität in Europa. Meine Damen und Herren, Solidarität in Europa im Blick auf die zukünftige Europäische Union bedeutet eben auch Solidarität der finanziell Starken mit denjenigen, die sich unverschuldet in einer Situation befinden, die weniger günstig als die unsrige ist. Solidarität bedeutet Solidarität mit Schottland und Solidarität mit Sizilien, bedeutet allerdings nicht Solidarität mit wirtschaftspolitischem Unsinn. ({35}) Deswegen dürfen wir uns auch nicht scheuen, offen zu kritisieren. Wenn man offene Kritik aussprechen darf, wenn offene Kritik als ein Ausweis von Solidarität auch akzeptiert wird, so ist dies seinerseits ein Zeichen dafür, daß wir uns im Prozeß eines Zusammenwachsens befinden. Kritik kann dann ausgesprochen werden und wird dann akzeptiert, wenn man sich der Basis der gemeinsamen Solidarität sicher weiß. Sie wird nur dann als Einmischung von außen empfunden, wenn man nationalstaatliche Grenzen noch nicht überschritten hat. Viertens. Ich glaube, daß eine wichtige Rolle der Europäischen Gemeinschaft heute schon darin besteht, daß wir in einem Gemeinschaftsrahmen mit dem Problem der Dritten Welt leichter fertig werden als im Rahmen der nationalstaatlichen Zuständigkeiten. Das beweist sich jeden Tag in der Entwicklungspolitik. Das, was die Gemeinschaft mit dem Abkommen von Lomé zur Bewältigung des Nord-Süd-Konflikts geleistet hat, hätte von keinem nationalen Mitgliedsland geleistet werden können. Das, was man bei den Entwicklungsländern an Bereitschaft vorfindet, sich in sachlichen Fragen gegenüber der Gemeinschaft zu öffnen, findet man nicht im Verhältnis der Entwicklungsländer zu den klassischen Nationalstaaten, was natürlich auch eine Reihe von geschichtlichen Gründen hat. Das Beispiel, das mit dem Abkommen von Lomé gegeben worden ist, was die Prinzipien der NordSüd-Politik angeht, ist ebenfalls wegweisend. Wir sind auf die Schwierigkeiten der Entwicklungsländer eingegangen, ohne die eigenen Prinzipien wirtschaftlichen Handelns, die wir für richtig halten, aufzugeben, ohne also in eine zentralistische Planwirtschaft zu geraten, die, wenn sie global ausgeübt würde, dieselben Fehler hätte wie jede zentrale Planwirtschaft, die aber viel katastrophalere Auswirkungen hätte, weil sie in der ganzen Welt Geltung hätte. Dies den Entwicklungsländern klarzumachen, ohne in den Fehler zu verfallen, uns als diejenigen zu empfinden, die dem Kapitän eines im Sturm befindlichen Schiffes vom sicheren Port aus gutgemeinte Ratschläge geben, ist die eigentliche Aufgabe der Entwicklungspolitik der Gemeinschaft. Ich glaube, daß die Gemeinschaft hier sehr viel, mehr als jedes einzelne Land wird leisten können. Bevor ich zu dem Weg und zu der Frage der Instrumente, die angewandt werden sollten, einiges sage, möchte ich noch auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen. Ich glaube, daß die Gemeinschaft sehr viel politischer werden muß, daß sie sich von der Zurückhaltung freimachen muß, es handle sich bei ihr um ein Gebilde, das in erster Linie für bestimmte Sachbereiche - für Wirtschaftspolitik, für Agrarpolitik oder für anderes - zuständig ist. Meine Damen und Herren, diese Gemeinschaft wird von außen ja sehr viel stärker als politisch handelnde Einheit angesehen, als wir selber bereit sind, es zuzugestehen und danach zu handeln. Deswegen glaube ich auch, daß die Mittelmeerpolitik der Gemeinschaft sehr viel stärker die politischen Komponenten aufnehmen muß, die im Mittelmeerraum vorgefunden werden, und zwar auch dann, wenn jene politischen Elemente kontrovers zu der Haltung der Gemeinschaft sind. Im Dialog mit arabischen Ländern kann man z. B. nicht nur über Wirtschaft, über joint enterprises oder irgend so etwas sprechen, sondern in diesen Dialog muß der Nahost-Konflikt einbezogen werden. Wir müssen unsere politische Kraft als Gemeinschaft politisch einsetzen, um zur Lösung dieser Konflikte beizutragen. Diese Aufgabe erfordert zunächst, die Scheu loszuwerden, die Europäische Gemeinschaft und ihre Kraft so einzusetzen, wie sie heute von anderen gesehen wird. Lassen Sie mich in einer letzten Bemerkung etwas zu der Frage sagen, wie man angesichts der vor uns stehenden Direktwahl zu dieser Europäischen Union kommen kann, wie die Instrumente aussehen und welche Wege man beschreiten muß. Es wäre völlig falsch, wenn wir uns in eine Auseinandersetzung über Modelle einlassen würden, die wir vorfinden und die weitgehend theoretischen Charakter haben. Ich halte zum Beispiel nichts von einer Diskussion darüber, ob die Europäische Union ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein soll und welche Elemente dieser Strukturen man akzeptieren kann. Denn diese Diskussion führt uns in eine große theoretische Auseinandersetzung, die dann politisch aufgebauscht wird und bei der jedermann fixierte Positionen bezieht. ({36}) - Wir sind uns ja über den Charakter dieser Europäischen Union einig. Es geht jetzt nur um den Weg dahin. Daß die Europäische Union, Herr Marx, eine politische Einheit sein soll, die in ihrer politischen Kompetenz und in ihrer institutionellen Struktur nicht nur eine Addition von nationalstaatlichen Kompetenzen sein darf, darüber sind wir uns ja einig. Es geht nur um die Instrumente dazu. Diese Diskussion halte ich also nicht für richtig. Ich bin der Meinung, man sollte die bestehenden Institutionen weiterentwickeln und von dem vorhandenen institutionellen Instrumentarium ausgehen, allerdings mit klaren Prioritäten, zum Beispiel mit der klaren Priorität der Stärkung der parlamentarischen Rechte in der Europäischen Union. ({37}) Denn es kann ja nicht ein Ziel eines Demokraten in Europa sein, ein Gebilde zu schaffen, das von Bürokratie und Regierungsbürokratie beherrscht wird und in dem der Bürger nichts zu sagen hat. Das ist für mich und für meine Fraktion ein Grund, warum wir so sehr begrüßen, daß wir im Vorfeld des ersten europäischen Wahlkampfes stehen. Wir Liberalen sind auch ein bißchen stolz darauf, daß wir es als erste geschafft haben - wir freuen uns, daß die Christdemokraten und auch die Sozialisten auf diesem Weg ebenfalls vorangekommen sind -, eine europäische Föderation zu bilden, die in der klaren Absicht daran arbeitet, diesen Wahlkampf mit einem gemeinsamen Programm zu bestreiten. Es wird nicht so sein, daß wir ein FDP-Programm in der Bundesrepublik vertreten und die dänischen Liberalen ein dänisches Programm in Dänemark und die italienischen Liberalen ein italienisches Programm in Italien usw., sondern wir werden mit einem gemeinsamen liberalen Programm von Schottland bis Sizilien einen gemeinsamen Wahlkampf bestreiten. ({38}) Entsprechendes wünsche ich allen Parteien in Europa, weil in dieser Gemeinsamkeit und auch in der Auseinandersetzung, in die wir dann geraten, zum Ausdruck kommt, daß dieses Europa eine Wirklichkeit ist, die wir heute schon vorfinden und die wir nur noch entdecken müssen. Geben wir doch endlich den Pessimismus auf, der so viele Menschen beherrscht, wenn sie von Europa sprechen! Werden wir Realisten und erkennen wir die Wirklichkeit, die Europa heute schon bedeutet! Damit garantieren wir am besten seine Zukunft. ({39})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege von Weizsäcker hat heute morgen an die Verantwortung der Parteien als Träger der politischen Meinungsbildung und als Vertreter des Volkes in den Parlamenten erinnert und auch auf die Probleme des Vertrauens hingewiesen. Ich denke, dieser Hinweis war notwendig. Allerdings befinden wir uns in einer Situation, in der keine Partei Anlaß hat, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Die Herstellung und Sicherung der Glaubwürdigkeit unserer parlamentarischen Demokratie muß unser gemeinsames Anliegen sein. Zu dieser Herstellung der Glaubwürdigkeit gehört der Respekt vor der Pluralität der Meinungen. Deshalb meine ich, daß zur Selbsterkenntnis der Opposition auch ein Überdenken ihres Wahlspruchs aus der letzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gehört. ({0}) Ich denke deshalb, daß sich dieser Spruch auch nicht für die vor uns liegenden europäischen Wahlen eignen würde; denn dieses Europa soll ja auch ein Europa der Pluralität sein. Aber mir scheint besonders wichtig ein Satz zu sein, den Herr Kollege von Weizsäcker gebraucht hat. Er sagte, unsere Debatte solle für eine ganze Legislaturperiode richtungsweisend sein, sie müsse bei der Bevölkerung Vertrauen bilden für die Art, wie wir als ihre gewählten Vertreter mit unserer Verantwortung umgehen. Ich denke, an diesem hohen Anspruch müssen wir uns alle messen lassen, der Redner, der ihn ausgesprochen hat, selbst. Hier muß ich fragen, Herr Kollege von Weizsäcker, ob Sie wirklich den Satz in Ihrer Rede stehenlassen wollen, in dem sie gesagt haben - gerichtet an den Bundeskanzler und die Bundesregierung -: Um so dringlicher sei es, daß sie hier und heute dem Verdacht entgegentrete, sie wollte der Europäischen Union in Wahrheit lieber aus dem Wege gehen, als sich ihren damit verbundenen Mühen zu unterziehen. Die Position der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien zur Europäischen Gemeinschaft und zur Europäischen Union sind unbestreitbar klar und eindeutig. ({1}) Ich darf für die Regierung noch einmal feststellen, damit kein Zweifel bleibt: Die Europäische Gemeinschaft bleibt für uns lebenswichtige Voraussetzung für die Sicherung von Frieden und Freiheit. Wir halten am Ziel der Europäischen Union fest. Das sage ich nicht nur heute, sondern das steht in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, von der behauptet wird, sie habe sich zur Europäischen Union positiv nicht geäußert. ({2}) Natürlich hat der Bundeskanzler - das ist ganz unbestreitbar - in der Regierungserklärung auf den Tindemans-Bericht keinen Bezug geonmmen. Aber ist es nicht in Wahrheit so, daß diese Bundesregierung - wenn ich richtig informiert bin - die einzige in der ganzen Europäischen Gemeinschaft ist, die den Tindemans-Bericht und ihre - und ich unterstreiche - positive Stellungnahme zum Gegenstand einer Vorlage an Bundestag und Bundesrat gemacht hat? ({3}) Die Bundesregierung gab den Anstoß, daß der Deutsche Bundestag und der Bundesrat unsere Stellungnahme und Haltung zum Tindemans-Bericht diskutiert haben. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß diese positive Haltung zu den Vorschlägen von Leo Tindemans unser gemeinsames Wollen im Deutschen Bundestag ist. Wenn das so ist und wenn wir Europa als eine Priorität unserer Politik ansehen, gehört es zunächst einmal dazu, daß das Stück Gemeinsamkeit, das in dieser Überzeugung vorhanden ist, in einer Debatte nicht gleichzeitig von einer Seite in Frage gestellt wird. ({4}) Ich meine, daß gerade wir für die Europäische Union eine ganz besondere Verantwortung haben. Die Kollegen Bangemann und von Weizsäcker haben mit Recht auf die Bedeutung der europäischen Wahlen hingewiesen. Ich empfehle jedoch allen Kollegen, einmal den Prozeß der Meinungsbildung in den einzelnen europäischen Ländern im Zusammenhang mit den europäischen Wahlen zu beobachten. Es ist ganz unbestreitbar, daß der Weg dahin neben einigen anderen Ländern bei uns am leichtesten ist. Wir spüren, wie andere Regierungen, die sich zusammen mit uns verpflichtet haben, die Wahlen 1978 durchzuführen, ganz erhebliche innenpolitische Schwierigkeiten zu überwinden haben. Das zeigt, daß diese Fragen in den einzelnen Ländern unterschiedlich betrachtet, beurteilt und behandelt werden. Das mag im übrigen deutlich machen, warum auch andere Fortschritte, die im Tindemans-Bericht erwähnt sind, nicht schon jene Konkretisierung erfahren haben, die wir uns alle gewünscht hätten. Wenn wir draußen in den Versammlungen sind und gefragt werden: bekommt dieses Europäische Parlament 1978, wenn es gewählt wird, dann auch neue Kompetenzen, was hat die Bundesregierung vorgeschlagen, um die Kompetenzen des dann direkt gewählten Parlaments auszuweiten, dann können wir immer nur sagen: nach unserem Wunsch, nach unserem Wollen hätte dieses Parlament vom ersten Tage seiner Amtszeit an starke, eindeutige Kompetenzen. Aber wir wissen doch, daß schon die Beschlußfassung über die europäische Wahl in manchen Ländern erhebliche Probleme aufwirft. Daher denke ich: tun wir zuerst den ersten Schritt, führen wir die Wahl durch und haben wir das Vertrauen in dieses Europäische Parlament, daß es sich dann auch die Kompetenzen nehmen wird, die einem solchen Parlament zukommen! Aber überlasten wir das Parlament und diese Parlamentswahl heute nicht mit zusätzlichen Forderungen, die am Ende ein Scheitern der Beschlußfassung über die europäische Wahl in anderen Staaten bewirken können! ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor 20 Jahren - wir nähern uns diesem Jahrestag - die Römischen Verträge geschaffen wurden, hat man in der Präambel festgelegt: Entschlossen, durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen . . . Diese Perspektive des Friedens und der Freiheit ist unsere europäische Perspektive, Herr Kollege von Weizsäcker. ({6}) Sie haben eine Reihe von Fragen gestellt, auf die ich eingehen will, weil sie mir berechtigt erscheinen. Aber wenn auch für Sie Europa Priorität hat, finden Sie dann nicht, daß Fragen stellen ausreichen mag für Opposition, daß aber Antworten geben für Alternativen erforderlich ist? Meine Damen und Herren, wir haben im Augenblick das Problem unterschiedlicher wirtschaftlicher Situationen in den europäischen Staaten. Es konnte nicht wundernehmen, daß dieses Thema auch Gegenstand der Unterhaltungen war, die in den letzten Tagen von der Bundesregierung und Vertretern des Parlaments mit dem italienischen Ministerpräsidenten geführt worden sind. Wenn diese Debatte wirklich etwas ergeben soll, wenn sie uns künftig vor Fehlern bewahren soll, dann lohnt es sich, 20 Jahre nach Beginn unserer Arbeit auf Grund der Römischen Verträge einmal der Frage nachzugehen, ob es eigentlich richtig war, mit der Harmonisierung der Wirtschaftspolitik, der Konjunkturpolitik, der Finanzpolitik, der Währungspolitik erst in den siebziger Jahren zu beginnen, ob es nicht leichter gewesen wäre in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Entwicklung der damals sechs Partnerstaaten wesentlich paralleler verlaufen ist als heute. ({7}) Das sage ich jetzt gar nicht allein an die Adresse der Christlich-Demokratischen Union, die damals die Bundeskanzler gestellt hat; wir haben ja während eines wesentlichen Teils dieser Zeit mit Ihnen zusammen Regierungsverantwortung getragen. Ich frage vielmehr uns alle, ob wir nicht das Gebot der Römischen Verträge, zu einer Harmonisierung in diesen Bereichen zu kommen, am Anfang in seiner Bedeutung unterschätzt haben, ob der Glaube an die Kraft der Kommission nicht zu stark war, ob nicht ein zu starkes technokratisches Verständnis in der Europäischen Gemeinschaft vorgeherrscht hat. Wenn man die europäische Haltung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers einer kritischen Betrachtung unterzieht, dann mögen Sie sich in vielen Punkten mit dem Bundeskanzler kritisch auseinandersetzen: Fest steht, daß er es gewesen ist, der innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und innerhalb der westlichen Welt die Initiative für eine Abstimmung in der Wirtschaftspolitik ergriffen hat. ({8}) Ich behaupte, daß die weltwirtschaftliche Lage heute wesentlich schlechter wäre, wenn wir damit nicht begonnen hätten. Wenn wir heute dabei sind, unseren Partnern zu helfen, so aus europäischer Solidarität und keinesfalls als Zahlmeister. Hier bin ich ganz der Meinung derjenigen, die sich gegen Zeitungsartikel auch der letzten Tage aussprechen, wo so sehr davon die Rede ist, daß wir jetzt wieder so viel nach Europa zahlen müssen. Wir zahlen das am Ende natürlich wieder in die eigene Tasche, weil uns nur ein funktionsfähiger Markt auch die eigene Entwicklung sichert. Meine Damen und Herren, in dem Streit um die Priorität der Europapolitik gibt es doch gar keine Meinungsverschiedenheiten. Europa ist das Haus, in dem wir uns einrichten, um in Frieden und Freiheit leben zu können, und die NATO ist das Bündnis, das uns die Sicherheit dieses Hauses gewährleisten soll. Wir brauchen die Entspannungspolitik, um in Frieden leben zu können. In diesem komfortablen Haus Europa wird sich niemand, wie ich denke, wohlfühlen können, wenn er weiß, daß in anderen Teilen der Welt Not und Hunger herrschen. Deshalb unser Engagement für die Politik gegenüber der Dritten Welt! Das zusammengenommen sind die Grundentscheidungen unserer Außenpolitik, die voneinander abhängig sind. Die Schaffung dieser Gemeinschaft hat aber den Vorrang, und darum ringen wir. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist nicht allein damit getan, daß wir zu einer Abstimmung in der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik kommen, sondern ich halte es für eine ganz wesentliche Bewährungsprobe der europäischen Politik, ob es uns gelingt, das Gebot der europäischen Verträge zu verwirklichen, nämlich die Gleichheit der Lebensverhältnisse in diesem Europa herzustellen. Nur wenn uns das gelingt, werden wir schwere soziale Spannungen in diesem unserem Europa überwinden können. Das ist dann zugleich auch ein Beitrag zur Kommunismus- und Eurokommunismusdebatte. Es kann doch gar keinen Zweifel geben, daß wir den Kommunismus jedweder Form ablehnen. Diese Feststellung allein reicht aber nicht aus, wenn wir nicht auch die Frage stellen, wie wir ihm den Boden entBundesminister Genscher ziehen können, wo er durch Wählerunterstützung maßgeblichen Einfluß errungen hat. Hier muß es unser gemeinsames Ziel sein, das zu erreichen, indem wir gesunde Lebensbedingungen in allen Teilen dieses unseres Europas schaffen werden. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, im übrigen ist ganz unverkennbar, daß viele Probleme, die wir heute haben, die uns auf Grund der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Gastarbeiterfrage belasten, auch ein Ergebnis der Tatsache sind, daß wir in den frühen Jahren der Europäischen Gemeinschaft die Notwendigkeit der Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen nicht mit jenem Nachdruck verfolgt haben, der geboten gewesen wäre; denn natürlich ist das Wohlstandsgefälle hin zur Bundesrepublik, Herr Kollege Lenz, auch ein Anziehungspunkt und schafft uns auch auf diesem Gebiet Probleme. Überall gesunde Lebensverhältnisse herzustellen, muß unser gemeinsames Ziel sein. Nun haben Sie als Opposition das Recht zu fragen: Was hat diese Bundesregierung getan, wenn sie das Problem der Herstellung gesunder sozialer Verhältnisse in allen Teilen Europas erkannt hat? Hier muß ich Ihnen sagen, daß in unserer Regierungszeit durch einen Ausbau des Sozialfonds zum erstenmal der Schritt zu einer Sozialpolitik in der Europäischen Gemeinschaft getan worden ist. In unserer Regierungszeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der Regionalfonds geschaffen worden, mit dem wir regionale Unterschiede in dieser Gemeinschaft überwinden wollen. ({10}) Schließlich ist es gelungen, durch die gemeinsame Konferenz von Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgebern unter Übernahme eines ähnlichen Modells, wie wir es mit der Konzertierten Aktion in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen haben, einen Beitrag zu leisten, einen Ansatz für die Sicherung des sozialen Friedens in Europa zu finden. Diese Anregung ging von der Bundesregierung aus. Die Bundesregierung hätte diese Anregung aber allein nicht verwirklichen können, wenn nicht die deutschen Gewerkschaften bei ihren Kollegen in den anderen europäischen Staaten und die deutschen Arbeitgeberverbände bei ihren Kollegen in den anderen Mitgliedstaaten, aus den guten Erfahrungen unseres Landes lernend, dazu beigetragen hätten, daß dort Verständnis für das Anliegen entstand und daß diese Konferenz zusammentrat. Das, meine Damen und Herren, sind Beiträge zur Überwindung schwerwiegender sozialer, wirtschaftlicher Probleme, und in dieser Perspektive werden wir weiter handeln. Nun ist hier auch über die gemeinsame Außenpolitik, über die Europäische Politische Zusammenarbeit, gesprochen worden. Es ist ganz offenkundig, daß dieses wirtschaftlich so bedeutsame und gewichtige Europa seine eigenen Interessen, aber auch seine Verantwortung in der Welt nicht wahrnehmen würde, wenn sich seine Mitgliedstaaten nicht zunehmend zu einer gemeinsamen Außenpolitik zusammenfinden könnten. Deshalb ist die Entscheidung des Jahres 1970 über die Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit ein geradezu historisches Datum in dem europäischen Entwicklungsprozeß. Wenn man weiß, daß auch hier die Bundesregierung nicht zu den Zögernden, sondern zu den Aktiven gehörte, dann ist es einfach nicht richtig, wenn in Reden behauptet wird, über die Ostpolitik habe man Europa vergessen. Nein, meine Damen und Herren, es ist umgekehrt: Die Wahrnehmung unserer Belange auch im Bereich der Entspannungspolitik wäre gar nicht möglich gewesen, wenn wir nicht diese Europäische Politische Zusammenarbeit geschaffen hätten. Herr Kollege Ehmke hat schon auf die enge Zusammenarbeit der Staaten der Europäischen Gemeinschaft bei der Vorbereitung der Konferenz von Helsinki hingewiesen. Hier hätten wir unsere ganz spezifischen Belange nicht durchsetzen können, wenn nicht in der EPZ und, von ihr ausgehend, sich übertragend auf andere Staaten Europas großes Verständnis für unsere besonderen Probleme vorhanden gewesen wäre. Aber es wäre eine Verengung, wenn wir die EPZ nur im Zusanmmenhang mit der KSZE sähen. Es ist hier die Politik gegenüber der Dritten Welt erwähnt worden. Ich erwähne die Mittelmeerpolitik, ich erwähne die Nahostpolitik. So erschließen sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft Feld für Feld zu einer übereinstimmenden Politik und erhöhen damit das Gewicht ihrer Anschauungen. Ich denke, daß diese Europäische Politische Zusammenarbeit die Unterstützung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages verdient. Es wird allerdings - erlauben Sie, daß ich hier eine Frage stelle; Herr Kollege Marx wird ja, wie ich höre, nach mir sprechen - für die Opposition die Frage sein, wie sie diese Europäische Politische Zusammenarbeit nicht nur der Form, sondern auch der Sache nach bejahen will, wenn sie in wichtigen Feldern abweichende Auffassungen von der dort gemeinsam gefundenen Politik vertritt. ({11}) Im Rahmen der EPZ wurde z. B. die Unterzeichnung der Schlußdokumente von Helsinki vorgeschlagen; Sie hatten uns empfohlen, sie abzulehnen. In der EPZ wurde für die Nahostfrage im November 1973, noch vor meiner Amtszeit, eine Position der Europäischen Gemeinschaft entwickelt, die in Ihren Reihen auf heftige Kritik gestoßen ist, obwohl sie sich zunehmend als eine richtige, international anerkannte Position erweist. Ich denke also, daß es nicht ausreicht, zu dieser Politik der Form nach ja zu sagen, sondern daß es notwendig ist, zu erkennen, daß diese Politik auch in der Sache richtig ist und von den Staaten der Europäischen Gemeinschaft auch gemeinsam getragen werden kann. Ich meine, daß wir mit unseren ganz besonderen Problemen ein ganz erhebliches Interesse daran haben, daß sich diese Europäische Politische Zusammenarbeit etwa im Vorfeld der Konferenz von Belgrad bewährt. Ich habe von der Mittelmeerpolitik gesprochen, und ich erwähne auch dieses Gebiet in Form einer europapolitischen Bilanz. Denn ich kann mir die Auffassung des Herrn Kollegen von Weizsäcker nicht zu eigen machen, daß eigentlich der europäische Weg in den letzten Jahren mit Mißerfolgen gepflastert sei. Meine Damen und Herren, wenn man das nicht gelten läßt, was erreicht wurde, dann führt das zu Resignation. Man darf nur die Ziele, die weitergehend sind, nicht vergessen. Diese vergessen wir nicht, indem wir uns uneingeschränkt zum Tindemans-Bericht bekennen. Aber ist es nicht ein großer Erfolg der Europäischen Gemeinschaft, daß wir eine gemeinsame Mittelmeerpolitik finden konnten? Gestern haben wir mit der Unterzeichnung der Maschrek-Abkommen für die Staaten des östlichen Teils des Mittelmeeres einen weiteren erheblichen Schritt getan. Wenn für unsere Sicherheit und Fortentwicklung auch die Rahmenbedingungen um das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft herum von Bedeutung sind, dann gehört dazu eben, daß wir auch den Staaten des Mittelmeerraums helfen, ihre Probleme zu lösen, daß wir mit ihnen in eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit eintreten, daß wir mit ihnen aber auch einen Dialog führen. Diese Funktion hat der europäisch-arabische Dialog. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Nahostkrise ist auch eine Gefahr für den Frieden des benachbarten Europa. Dieses benachbarte Europa hat sich hier seiner Verpflichtung nicht entzogen, sondern durch den europäisch-arabischen Dialog, durch die Abkommen mit den Maghreb- und Maschrek-Staaten durch das am 8. Februar zu unterzeichnende Abkommen mit Israel leisten wir unseren Beitrag zur Stabilität in dieser Region und begünstigen damit auch die Aussichten auf eine friedliche Lösung der dort vorhandenen Probleme. Daß sich die arabischen Staaten stärker auf Europa hin orientieren und z. B. nicht auf die Sowjetunion, wie es noch vor zehn Jahren zu befürchten war, ist ganz gewiß eine positive, nicht von selbst kommende, durch eine aktive Politik der Europäischen Gemeinschaft geförderte Entwicklung, die ich nicht zu den Mißerfolgen, sondern zu den eindeutigen Pluspunkten unserer gemeinsamen Politik in der Europäischen Gemeinschaft rechne. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb sollten wir alle der Versuchung widerstehen, in das allgemeine Unbehagen über noch nicht Erreichtes einzustimmen, sondern das Erreichte gelten lassen und um das, was zu tun ist, ringen. Ich bin dem Herrn Kollegen von Weizsäcker sehr dankbar dafür, daß er die Beitrittsproblematik aufgeworfen hat. Hier stehen wir alle als überzeugte Anhänger der Europäischen Gemeinschaft vor außerordentlich schwierigen Entscheidungen. Eine Reihe von Ländern Europas - ich habe darauf in der ersten Debatte nach der Regierungserklärung schon hingewiesen - erfüllen heute durch eine Veränderung ihrer politischen Verhältnisse die politischen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Ich nenne Griechenland, ich nenne Portugal, ich nenne Spanien. Wir alle wissen, daß diese Länder durch die Präambel, durch den Sinn der Römischen Verträge eine Beitrittsperspektive eröffnet bekommen haben. Ja, sie haben, soweit sie assoziiert sind, sogar einen Anspruch auf Beitritt. Deshalb war es richtig, daß sich die Bundesregierung zu den Befürwortern der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Griechenland gemacht hat, weil wir Griechenland helfen wollen, seine sozialen Probleme zu lösen und damit seine politischen Strukturen - damit sind die demokratischen gemeint - zu festigen. ({13}) Nun wissen wir, daß sich Portugal in einer außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Lage befindet. Wir alle haben mit großer Anteilnahme das Ringen der Demokraten in Portugal um eine freiheitliche Gestaltung dieses uns verbündeten Staates erlebt. Ich denke, wir haben Anlaß, bei dieser Betrachtung davon Kenntnis zu nehmen, daß alle politischen Gruppierungen in diesem Ringen ihren Beitrag geleistet haben. Meine Damen und Herren, unser Interesse, unsere Aufmerksamkeit für Portugal darf aber nicht erlahmen, wenn wir feststellen, daß die Demokraten das Heft nunmehr fest in der Hand haben und die kommunistische Gefahr dort vorderhand gebannt ist. Vielmehr geht es jetzt eigentlich erst um die Frage: Findet dieses Portugal, daß unser Bündnispartner in der NATO ist, in der Europäischen Gemeinschaft auch seine politische Heimat? ({14}) Nun wären wir Illusionisten und würden unserer Öffentlichkeit und der Öffentlichkeit Portugals Sand in die Augen streuen, wenn wir nicht auf die großen Entwicklungsunterschiede zwischen Portugal und den Staaten der Gemeinschaft verweisen würden, auf die großen Fortschritte, die Portugal machen muß, um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, ökonomisch gesehen, werden zu können. Es wird unsere Aufgabe als Deutsche in der Europäischen Gemeinschaft sein, daß wir auf der einen Seite dieses Problem erkennen, daß wir Portugal helfen, dieses Problem zu lösen, daß wir aber auf der anderen Seite gleichzeitig das europäische Engagement der Regierung Portugals nicht enttäuschen, sondern daß wir Portugal eine verläßliche, einklagbare europäische Perspektive eröffnen. ({15}) Denn wir wollen dieses Portugal in der Gemeinschaft haben, und wir werden uns alle gemeinsam Gedanken machen müssen, wie wir Ländern dieser Art helfen können, wie wir ihnen schon ein gewisses Maß an Mitwirkung sichern können, das mehr als eine Assoziierung ist, auch wenn heute die Aufnahme noch nicht möglich ist, wenn möglicherweise lange Verhandlungen erforderlich sind. Wir sind gestern in Brüssel übereingekommen, dafür eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Das ist übrigens auch eine Initiative, die auf uns zurückgeht. Ähnliches wird mit Spanien geschehen, das in dieser Europäischen Gemeinschaft genauso willkommen ist, wo aber auch eine Reihe ökonomischer Probleme, wenngleich anderer Art, zu lösen sind. Ich will damit sagen, daß diese Europäische Gemeinschaft eine Fülle von Problemen gleichzeitig lösen muß. Die in den Mitgliedstaaten vorhandenen eigenen wirtschaftlichen Probleme sind zu überwinden - das erfordert europäische Solidarität - und zugleich muß sie für die europäischen Demokratien offen sein, die Mitglied werden wollen. Denn diese Europäische Gemeinschaft wird mehr und mehr zu einer Kernzelle der Freiheit in Europa, an die sich auch andere Staaten, die aus innerem Verständnis, durch vertragliche Bindungen oder auch aus anderen Gründen nicht Mitglied der Gemeinschaft werden können, anlehnen wollen. Wir messen dem Europarat eine so außerordentlich wichtige Funktion bei, weil er Begegnungsstelle mit diesen Staaten ist. Deshalb ist das Ministerkomitee des Europarates geradezu eine Clearingstelle, eine Aussprachestelle für die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft mit ihren anderen Partnern des Europarates, denen wir nicht das Gefühl geben dürfen, sie seien draußen vor den Toren der Gemeinschaft und von geringerem Interesse. Das macht deutlich, daß die europäischen Perspektiven, die hier mit Recht diskutiert werden, sich aus dem Ziel eines freien, in Frieden lebenden Europas ergeben und daß dieses freie, in Frieden lebende Europa gesunde wirtschaftliche und damit auch politische Verhältnisse braucht, daß dieses freie Europa seine Verteidigungskraft im Atlantischen Bündnis suchen und finden muß und daß dieses freie Europa wissen muß, daß es viele Staaten mit gleichen Wertvorstellungen in Europa gibt, die ihm nicht angehören, aber mit denen eng zusammenzuarbeiten eine dringende Notwendigkeit ist. All diesen Aufgaben stellt sich die Bundesregierung mit ihrer Europapolitik. Diese Aufgaben sind in dem Tindemans-Bericht enthalten, zu dem wir ja sagen. Ich denke, daß unsere Stimme in Europa, weil wir so überzeugt für diese Europäische Gemeinschaft, für die Europäische Union eintreten, nicht geschwächt werden sollte, indem wir uns gegenseitig unseren Willen zu Europa bestreiten, sondern daß wir im Gegenteil zeigen sollten, daß bei allen Gegensätzen hier in der Bundesrepublik Deutschland Europa ein unbestrittenes Thema ist. Erreichen wir das, dann leisten wir nicht nur etwas für das eigene Land, sondern dann leisten wir viel für das Europa der Freiheit, das wir doch alle wollen. ({16})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die ersten beiden Reden der Vertreter der Regierungskoalition gehört hat, nämlich die Reden des Kollegen Ehmke und des Kollegen Bangemann, wird, auch wenn er das noch einmal nachliest, sagen müssen, daß sie in ihren wichtigsten Äußerungen miteinander schlechthin unvereinbar sind. ({0}) Was von Herrn Bangemann über die Kommunisten gesagt worden ist, möchte ich noch einmal wiederholen und unterstreichen. Er sagte, der Unterschied zwischen den Kommunisten im Osten und im Westen bestehe darin, daß die einen an der Macht sind - und ich füge hinzu: die anderen an die Macht wollen -, daß die einen, die die Macht haben, sie in einer unerträglichen Weise jeden Tag zur Verletzung der von Ihnen selbst unterschriebenen Menschenrechte benutzten, während die anderen die Menschenrechte als eine Formulierung gebrauchen, um auf diese Weise, wie der Fisch im eigenen Wasser, den Versuch zu machen, die Macht zu erreichen. Aber wenn die Kommunisten im Westen wirklich für das freie Europa sind und die Freiheit verteidigen, dann sind sie eigentlich keine Kommunisten mehr. Dann können sie sich so nicht nennen, und ich füge auch hinzu, daß die Formulierung Eurokommunismus eine, wie ich glaube, täuschende und tarnende Formulierung ist, weil man mit dem ersten Teil des Wortes, „Euro", den Eindruck erwecken kann, als ob diese Kommunisten in der Substanz, im Innern ihres Wesens, in den Methoden und in den Zielen ihrer Politik etwas qualitativ anderes seien als die Kommunisten im Osten. ({1}) Es gibt natürlich auch den Hinweis - jedermann, hoffe ich, weiß es -, daß viele Kommunisten im Westen nur deshalb leben und arbeiten und agitieren können - der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat gerade eben Portugal angesprochen; ich nenne die kommunistische Partei des Herrn Cunhal -, weil sie in ihren Geldern von der Sowjetunion oder der DDR oder von der CSSR völlig abhängig sind. Von dorther werden sie gespeist. Der alte Satz „Wer das Geld gibt, hat auch etwas zu sagen" gilt auch in den internationalen Beziehungen, in der Wirkung und der Einschätzung der Kommunisten dort. Herr Kollege Genscher, Sie haben, ich glaube, mit Recht gesagt, man müsse dem, was man „Eurokommunismus" nennt, den Boden entziehen. Richtig! Aber wenn Sie ihm den Boden entziehen wollen, Herr Kollege Genscher, dann bitten wir Sie doch, auch auf der internationalen Ebene, auch bei Ihren Partnern hier - denn der „Eurokommunismus" hat ja eine schillernde Facette völlig verschiedener Auffassungen - mit dafür zu sorgen, daß es nicht gerade diesen Eurokommunisten gegenüber eine Fülle von direkten oder indirekten Angeboten für künftige Volksfrontpolitik in Europa gibt. Das nenne ich „Boden entziehen". ({2}) Der Herr Kollege Genscher hat mit etwas Selbstlob zu Europa gesagt - ich nehme jetzt nur ein Beispiel heraus -, man beachte z. B. den europäischen Fonds für die Entwicklungsgebiete, für die Problemgebiete. Er sagte, dies sei jetzt erst geschehen. Das ist richtig. Aber Sie wissen alle, daß man natürlich in den 50er Jahren nicht alles, was man als notwendig ansah, auf einmal schaffen konnte. Die Bundesrepublik Deutschland mußte damals die Voraussetzungen in ihrem Inneren schaffen, industriell z. B., um heute in der Lage zu sein - obwohl ich das Wort „heute" nach den Erfahrungen der letzten Woche gar nicht mehr so gern sage; ich beziehe mich lieber auf die Folgen der CDU/CSU-Politik -, um in der Lage zu sein, überhaupt Geld zu haben, das wir für europäische Entwicklung und europäische Problemgebiete gebrauchen können. Zweitens, Herr Kollege Genscher, wenn Sie schon, auch in Richtung auf die CDU/CSU, sagen: „Leute, überlegt euch, ob ihr da früher eigentlich nicht richtig mitgemacht habt!", muß ich doch entgegnen: es gab schon im Jahre 1957 Vorschläge dieser Art, denen allerdings, Herr Kollege Genscher, damals - ({3}) - Nun gut, dann lassen Sie mich nur sagen, damit das auch für die Öffentlichkeit ganz klar ist, die mithört, daß 1957 Ihre Partei, Herr Kollege Genscher, den Vorschlägen, solche Fonds zu gründen und auf dieser Ebene zu arbeiten, eindeutig widersprochen hat, - Stichwort der damalige Herr Kollege Margulies. Zu Ihrer dritten Bemerkung, Herr Kollege Genscher: Sie sprechen uns auf die EPZ an. Ich hätte gewünscht, Sie hätten einmal den Bundeskanzler darauf angesprochen, denn in der richtungweisenden Regierungserklärung steht über die Europäische Politische Zusammenarbeit kein Wort. Insoweit ist, glaube ich, die Stellung der Frage an uns falsch; aber ich will auf Ihre Frage trotzdem unsere Antwort geben. Herr Kollege Genscher, wer im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit arbeitet - noch dazu ein Land wie das unsere -, wird großen Wert darauf legen, daß seine eigenen politischen Anschauungen dort einen angemessenen Eingang finden. Ich bin ganz sicher, daß uns dies gelungen wäre. Sie haben das Beispiel der KSZE verwendet. Natürlich, Herr Kollege Genscher, wir hätten auf Grund unserer Skepsis hinsichtlich der vielen, wie ich glaube, rauschhaft erregten Hoffnungen, was man jetzt sehr bald mit der KSZE anfangen könnte, manches erheblich gedämpft. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich finde es bemerkenswert, daß viele europäische Politiker und Staatsmänner, die in den letzten Jahren, z. B. im Jahre 1975, zur KSZE ihre positiven Bemerkungen gemacht haben, dann, wenn man mit ihnen allein spricht, ihre Sorge und ihre Skepsis sehr ausführlich darstellen. Ich finde, es gibt einen bemerkenswerten Widerspruch zwischen öffentlicher Darstellung und persönlichem Bekenntnis. Und es gibt auch eine Reihe Europäer, die nach Genf und dann nach Helsinki gegangen sind, die dort eigentlich ziemlich lustlos unterschrieben haben. Aber derjenige, der unterschrieben hat, fühlt sich natürlich hinterher genötigt, seine Unterschrift durch möglichst hoffnungsfrohe Sonntagsreden zu untermauern und zu begründen. Das ist eine ganz eindeutige Sache. Ich möchte im Zusammenhang mit dem, was ich weiterhin ausführen will, natürlich auf die KSZE und auf das, was wir heute von ihr ganz konkret in der DDR und in Osteuropa vorfinden, zu sprechen kommen. Zunächst aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige generelle Bemerkungen machen. Die geschichtliche, die geographische und die politische Lage der Bundesrepublik Deutschland macht in der Außenpolitik Kontinuität nötig. Kontinuität heißt, daß wir eine außenpolitische Linie der Stetigkeit und Verläßlichkeit wollen und brauchen. Wir brauchen sie für uns selbst, aber auch unsere Partner in Europa und in der Welt sollen deutsche Politik als verläßlich und als berechenbar erkennen. Kontinuität heißt, daß dieser freie Teil des deutschen Vaterlandes, der im Herzen Europas liegt und der mehr Nachbarn hat als fast jeder andere Staat der Welt, in einem festen geschichtlichen Bezug und Zusammenhang leben muß, damit er überhaupt in der Lage ist, seine obersten Interessen zu wahren. Meine Damen und Herren, unsere obersten Interessen sind die Freiheit unseres Landes und seiner Menschen, der Friede im Inneren, an unseren Grenzen und gegenüber unseren Nachbarn, die Erhaltung der einen deutschen Nation trotz der tiefen Spaltung. Sicher hat der Herr Bundeskanzler den Bruch der Kontinuität in der deutschen Außenpolitik, wie er im Jahre 1969 vollzogen worden ist, bei seiner Rede hier in Erinnerung gehabt. Er hat trotzdem so wie bei seiner ersten Regierungserklärung von der notwendigen Kontinuität gesprochen, und er versichert, daß wegen dieser Kontinuität die Entspannungspolitik fortgesetzt werden müsse. Das, meine Damen und Herren, ist nun allerdings ein wichtiger Punkt, der genauer Aufklärung und Diskussion bedarf, Denn offensichtlich gibt es zwischen Ihnen, Herr Bundeskanzler, vor allem aber Ihrer Partei, und uns nach wie vor unterschiedliche Auffassungen über den konkreten Inhalt der Entspannung, und es gibt wohl auch tiefe und grundsätzliche Unterschiede im Urteil darüber, was die bisherige Entspannungspolitik, für die Sie Kontinuität wünschen, eigentlich bewirkt hat. Was Sie, Herr Bundeskanzler, darüber hinaus über Ihr künftiges politisches Handeln in der Deutschland- und Außenpolitik sagen, ist doch sehr blaß und hält sich in allgemeinen Wendungen. ({4}) Die entschiedene Stellungnahme, die klare Aussage, das unmißverständliche Urteil sucht man vergebens in Ihrer Regierungserklärung. Ich füge hinzu: Es mangelt überhaupt an jedem Versuch, in die Tiefe der Probleme vorzudringen. ({5}) Daher, meine Damen und Herren, erkläre ich, daß wir ganz unzufrieden sind mit den Redewendungen des Bundeskanzlers über das Ost-West-Verhältnis insgesamt und über das, was er hinsichtlich Umfang, Bedeutung, Wirkung und Gefahr der wachsenden sowjetischen Rüstung nur andeutet und nicht einmal wirklich ausführt. Herr Bundeskanzler, Sie haben wenig Konkretes angeboten über die Perspektiven der Europapolitik - das haben wir eben besprochen -, über den bisherigen Stand der Abreden von Helsinki, über die Abrüstungsproblematik, über den bevorstehenden Besuch von Breschnew und über unsere künftige Politik als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Besonders irritierend war jener Teil der Erklärung des Bundeskanzlers, der mit „Lage der Nation" überschrieben war. Er kann natürlich nicht ein Ersatz sein für den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im gespalteten Deutschland. ({6}) Wir erwarten, um dies hier gleich einzufügen, diesen Bericht der Bundesregierung in allernächster Zeit. Wir wollen auf jeden Fall - sagen wir: im späten Frühjahr - ausführlich über alle Probleme, die uns im innerdeutschen Verhältnis betreffen und belasten, an Hand einer ausführlichen Darstellung des zuständigen Ministers debattieren. Dafür brauchen wir hier genügend Zeit und eine Vorlage, die die Bezeichnung „Bericht zur Lage der Nation im gespalteten Deutschland" auch verdient. Herr Bundeskanzler, sollten Sie hierzu entgegen der Übung des Hauses und gegen die - einem Antrag der SPD entstammende - gesetzliche Verpflichtung nicht bereit sein, so will ich Ihnen schon heute namens der Union die alsbaldige Einbringung einer Großen Anfrage zu innerdeutschen und Berliner Problemen ankündigen, damit auf diese Weise die Gelegenheit geschaffen wird, hier die notwendige öffentliche Debatte zu führen. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn Historiker späterer Zeiten die Regierungserklärungen der letzten sieben Jahre miteinander vergleichen, um auch in diesen Dokumenten das Schicksal z. B. der Entspannungspolitik abzulesen und nachzuzeichnen, dann wird ihnen nicht nur der qualitative Unterschied in Ausdruck und Inhalt z. B. zwischen 1969 und heute auffallen, sondern auch die Tatsache, daß trotz unserer, der Deutschen, weitgehenden Leistungen und Opfer in Verfolg der sogenannten Entspannungspolitik die wichtigen, die uns so sehr bedrükkenden, drängenden Probleme in Europa und in Deutschland geblieben sind. Sie sind vorübergehend gemildert worden - ja; aber sie haben sich jetzt nach den Verträgen erneut verschärft. Meine Damen und Herren, erinnern Sie sich an das Jahr 1969. Der hochfahrende Ton, der frenetische, oft euphorische und übersteigerte Jubel und und Glaube, daß durch deutsche Vorleistungen der Durchbruch in den Beziehungen zum Osten endlich erzielt werden könne, daß es jetzt gelinge, vom Gegeneinander - welches ja nicht wir erfunden und wir nie gewollt haben, auch heute nicht wollen -, von dem von der anderen Seite gewollten Gegeneinander zu einem Miteinander in Ost und West überzugehen, dieser Jubel ist längst verraucht und vorbei. Die Regierungserklärung des Kanzlers Schmidt macht deutlich, daß dem frohgemuten Ruf seines Vorgängers - Herr Kollege Kiesinger, er sagte es damals in Richtung auf die vorhergehende Politik der Großen Koalition - „Jetzt fangen wir erst richtig an!" jetzt eine durchaus deprimierte Stimmung gefolgt ist. Zu viele Rückschläge haben die Ansicht verstärkt, daß man mit gutem Zureden die Methoden und Ziele kommunistischer Politik wirklich nicht ändern kann. Meine Damen und Herren, die Vorstellungen Moskaus - nicht nur die seiner Ostberliner Hilfsschüler - sind auf eine Niederlage der freien Welt, auf die Kapitulation ihrer inneren Ordnung und ihrer äußeren Haltung gerichtet. Es ist falsch, zu glauben, daß die sich häufenden Störungen im Verhältnis Ost-Berlins zu uns Ausdruck einer Laune sogenannter Falken oder Heißsporne in der SED-Führung seien. Es handelt sich überhaupt nicht um isolierte Maßnahmen der DDR, wenn etwa Minenfelder erneuert oder sogenannte Grenzsicherungsanlagen vertieft werden, wenn raffinierte Selbstschußanlagen installiert werden, wenn man Journalisten schikaniert und hinauswirft und die Bonner Ständige Vertretung in Ost-Berlin durch Posten mit und ohne Uniform abschnürt. Die DDR, meine Damen und Herren, ist nach meiner festen Überzeugung und nach allem, was wir aus unverfänglichen Dokumenten wissen, zwar immer der sichtbar Handelnde, aber jede Maßnahme, jede Provokation, die sie vornimmt, ist ihr vorgeschrieben. In Sachen West- und Deutschlandpolitik, in den Dingen um Berlin zumal, gibt es für die SED keinen Spielraum. Die sowjetische Führung behält sich die Anordnung aller Maßnahmen vor. Zwischen ihr und der DDR herrscht eben nicht ein Verhältnis der freien Absprache, sondern des Befehlens und Gehorchens. Meine Damen und Herren, es ist ja bis zum heutigen Tage so - ich muß daran erinnern -, daß in Verwaltung und sozialistischer Wirtschaft, in Armee und Polizei, in Partei- und Staatsapparat drüben die sowjetischen Ratgeber und Aufpasser das gesamte jeweilige Aktionsnetz kontrollieren. Sie sind es doch, die die Weisungen geben und die die Wirkungen überprüfen. Sie formen auch die personellen Entscheidungen. Und hinter ihnen steht - meine Damen und Herren, auch das sollte niemand vergessen - nicht nur die Wirkung der sowjetischen Regierung, sondern im Lande, im deutschen Lande, in der DDR stehen 20 sowjetische Garde- und Elitedivisionen mit einem ganz eindeutigen, klaren Auftrag. Die Zahl nicht nur der Divisionen, sondern der in der DDR lebenden und gerüsteten Soldaten ist weit höher als die Zahl der Soldaten in der Bundeswehr. Meine Damen und Herren, über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und der DDR im Zeitalter der, wie ich glaube, ziemlich falsch verstandenen Entspannung hätten wir vom Bundeskanzler gern mehr gehört. Mehr z. B. darüber, wie er die konsequent weitergeführte Amalgamierung, Einschmelzung der DDR in den Verband der UdSSR, beurteilt. Und, Herr Bundeskanzler, mehr darüber, ob Sie sich Rechenschaft abgelegt haben, daß - trotz aller ohnehin schon engen Bindungen und Verbindungen - seit dem Freundschaftsvertrag - meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle, das ganze Haus, dies einmal nachzulesen - zwischen der DDR und der Sowjetunion vom 7. Oktober 1975 die Abhängigkeit der DDR zu einer vollständigen wurde. Meine verehrten Damen und Herren, ich muß leider sagen - ich habe es hier schon einmal gesagt; ich weiß genau, welche Dimensionen das hat -: Es wurde auch in den bisherigen wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen beiden Teilen in der sozialistischen Welt darauf hingearbeitet, die DDR eines Tages zu einer Provinz der UdSSR zu machen. Das befürchte ich. Herr Bundeskanzler, Sie schweigen darüber, obwohl ich doch überzeugt bin, daß Ihre Experten Ihnen gerade über diesen Europa und Deutschland zutiefst beeinflussenden Vorgang die notwendigen Materialien und Analysen bereitgestellt haben. Sie schweigen leider auch über entscheidende, gerade in diesen Tagen vorgenommene Menschenrechtsverletzungen im anderen Teil Deutschlands. Selbst die kommunistischen Parteien im Westen, die wir soeben genannt haben, reagieren darauf. Meine Damen und Herren, warum gibt es in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers kein Wort über das brutale Vorgehen gegen Ausreisewillige, gegen Regimekritiker, gegen Leute, die sich auf die Charta der Vereinten Nationen berufen, gegen Leute, meine Damen und Herren, die sich auf die Menschenrechts-Pakte, die übrigens auch von der DDR ratifiziert sind, und auf die Schlußakte von Helsinki berufen? Herr Kollege Genscher, dies ist ein Stück Antwort. Wir sind uns, glaube ich, wenn Sie das auch nicht so offen sagen, doch im Innern einig darüber, daß diejenigen, die sich auf die Schlußakte der KSZE berufen, jetzt in der schlimmsten Weise bestraft werden, weil sie das tun. Und ich habe das vom Fernsehen am 1. August 1975 ausgestrahlte Bild noch vor mir, wo Herr Honecker, neben Herrn Schmidt sitzend, diese Schlußakte feierlich unterschrieben hat. Wir alle haben noch die damals gehaltenen Reden und Fernseh- und Rundfunkinterviews im Ohr. Ich muß fragen: Was ist daraus geworden in einer totalitären Diktatur, die mit allem, wessen sie fähig ist, das Unterschriebene, das mit uns Unterschriebene, das mit uns gemeinsam verpflichtend Unterschriebene mißachtet, verhöhnt und ständig verletzt? Die CDU/CSU hat, nachdem man sich in der KSZE einigte, etwas gesagt, was sie auch zu den Verträgen gesagt hat. Sie hat gesagt: Wir haben die Begründung für unseren Widerstand vorgetragen; internationale Verabredungen, Abkommen und moralisch-politische Absichtserklärungen sind aber, wenn sie unterzeichnet worden sind, für eine demokratische Partei bindend. Meine Damen und Herren, richten Sie jenen Vorwurf, den Sie uns gegenüber immer erheben, doch einmal an Ihre Partner, mit denen Sie dies alles ausgehandelt haben. Die Partner sollten sich an das halten, was ausgehandelt wurde. ({8}) Vor wenigen Tagen ist in den sogenannten „Mitteilungen für die Presse" der SPD ein Kommuniqué zu lesen gewesen, dem zu entnehmen ist, daß sich der Kollege Brandt auf einer Sitzung des Vorstandes seiner Partei in aller Kürze über die Kampagne gegen Intellektuelle und Regimekritiker in Osteuropa „besorgt" gezeigt hat. Ich möchte ihn zitieren. Er sagte - dies war für mich ein neues Muster in seiner vernebelnden Sprache -, man sei besorgt über widersprüchliche Entwicklungen. Was meint er damit eigentlich? Meine Damen und Herren, wenn aus dem Munde des Kollegen Willy Brandt einmal Sorge in dieser Richtung ertönt, wird man gewiß aufmerken. Mancher unter uns - auch ich - wird gedacht haben: Spät kommt er, aber er kommt. - Meine Damen und Herren, allein Sorge zu äußern, genügt aber nicht. „Sorge" ist im Hinblick auf das, was sich dort im Augenblick abspielt, ein vergleichsweise mildes Wort, um die Gefühle auszudrücken, die viele der Betroffenen und viele unserer eigenen Landsleute täglich haben, wenn sie lesen, sehen oder hören, wie bösartig jene schikaniert werden, die sich - immer streng im Rahmen ihrer eigenen Gesetze - für die Verwirklichung jener Verabredungen aussprechen, die mit uns unterschrieben wurden. ({9}) - Ich möchte diesen Zwischenruf wiederholen, damit ihn alle hören. Der Zwischenruf lautete, ob ich denn glaubte, daß meine Sprüche das änderten. ({10}) Meine Damen und Herren, dies sind keine Sprüche. Ich versuche vielmehr - zugegeben, auf meine Weise - mit dem ernst zu machen, was wir hier in zwei sehr gründlichen Debatten - ich gehe davon aus, daß jeder in diesen Debatten seine Meinung ganz offen sagte - über die KSZE miteinander gesagt haben. Ich bleibe bei jedem Wort, das unsere Fraktion gesagt hat. Mein Wunsch, Herr Wolfram, an Sie ist, daß auch Sie bei dem, was damals gesagt worden ist, bleiben und sich mit ähnlicher Energie, wie Sie es hier tun, an Ihre Partner drüben wenden. ({11})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Marx, gestatten Sie eine Unterbrechung. Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne haben Mitglieder der türkischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des EuroVizepräsident Stücklen parates unter Leitung ihres Sprechers, des Abgeordneten Cemal Kühlâhli, Platz genommen. ({0}) Verehrte türkische Kollegen, ich möchte Sie herzlich begrüßen. Ich freue mich, daß mit Ihrem Besuch unsere guten Beziehungen zur Türkei ebenso wie zum Europarat auch auf parlamentarischer Ebene weiter vertieft werden. Ich heiße Sie nochmals herzlich willkommen und wünsche Ihnen einen recht angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, in Ihren Ausführungen fortzufahren.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gerne, daß nicht nur der Kollege Brandt, sondern auch seine politischen Freunde nicht nur Sorge äußern, sondern auch ihre Stimme gegen Angriffe erheben, wie sie z. B. auf die tschechoslowakischen Schriftsteller in diesen Tagen erfolgt sind, und zwar nur deshalb, weil sie mit Blick auf die KSZE-Schlußakte ein Interview im deutschen Fernsehen gegeben haben. Wir wehren uns dagegen, wenn Bürgerrechtskämpfer - Herr Kollege Ehmke, das ist eine Schande; Sie stimmen mir hoffentlich zu - als eine „neue Fremdenlegion" bezeichnet ({0}) und als „Agentur der westdeutschen Geheimdienste" - das haben wir 1968 schon einmal gehört - diskriminiert werden. Ich möchte auch wünschen, daß jene Kollegen hier, die oft mit Protest und Demonstration rasch bei der Hand sind, ihre Fähigkeiten auch dann zeigen, wenn Leute wie Ludmilla Alexejewa, Alexander Ginsburg und Jiri Orlow in der Sowjetunion verhaftet und mißhandelt werden. Wenn Sie vorgestern, gestern und heute die Zeitung aufgeschlagen und den Rundfunk gehört haben, ist Ihnen bekannt, daß jetzt - ich nenne nur vier Namen aus unserem Nachbarland - Pawel Kohout, Jiri Hajek ({1}), Franti-sek Kriegel ({2}) und Waclav Havel - das sind ja nicht Anhänger unserer politischen Überzeugung; gerade deshalb sage ich es auch in Richtung unserer, wie ich hoffe, in dieser Sache demokratisch miteinander handelnden Kollegen der SPD - eingesperrt werden und man ihnen wegen angeblicher „illegaler Beziehungen" zum Westen den Prozeß macht. Auch das ist eine Antwort auf die KSZE. In unserem Nachbarland Polen gibt es - man höre - ein „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter", - im Arbeiter- und Bauernstaat Volksrepublik Polen! Wir wissen, wie es diesen Leuten im Augenblick geht und daß vorgestern und gestern wieder eine Reihe von ihnen verhört, unter Druck gesetzt und in die Gefängnisse gebracht worden ist, weil sie sich für Arbeiter einsetzen, die es gewagt haben, gegen die exorbitanten Preiserhöhungen zu demonstrieren. Ich wäre dankbar, wenn wir auch in diesem Fall darin einig sein könnten, unseren Einfluß geltend zu machen, damit zumindest das, was auch die polnische Regierung bei der KSZE unterschrieben hat, beachtet wird. ({3}) Ich lese, daß eine Persönlichkeit wie Havemann in seiner Wohnung völlig isoliert wird. Ich denke auch an die unzähligen Bürger in der DDR, zum Beispiel an die verhafteten Familien aus Riesa, die verhört, verfolgt, gepeinigt, aus ihrem Beruf und aus ihren Wohnungen hinausgeworfen und sogar ausgebürgert werden. Wort für Wort wird das, was in der KSZE beschlossen worden ist, hier verletzt. Ich denke, der eine oder andere unter uns hat gestern abend Jiri Pelikan im ZDF gehört. Pelikan war nicht nur Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei der CSSR und Chef des dortigen Fernsehens, sondern früher auch Vorsitzender des kommunistischen Weltstudentenbundes. Hören Sie, was er, der sich noch immer als Kommunisten bezeichnet, gestern abend von Rom aus sagte: Die 300 Tschechen und Slowaken, die das „Manifest 77" unterzeichnet haben, seien Leute aus allen Gruppen, Schichten und Bekenntnissen. Sie würden gefürchtet und verfolgt, weil sie die Wahrheit sagen, weil sie ausdrücken, was die Bevölkerung denkt und will. Pelikan fügte hinzu, daß die Funktionäre um jenen Herrn Husak, der ja nach Bonn eingeladen worden ist, fürchten, daß das Volk das Wort nimmt, um selbst zu entscheiden. Pelikan sagte am Ende - ich zitiere, was ich mitstenographiert habe -, daß der Kampf für die Menschenrechte nicht nur in den Grenzen der CSSR, sondern auch in Polen, in der DDR und sogar in der Sowjetunion wachse. Seit Solschenizyn und Sacharow, seit Pljuschtsch und Bukowskij - ich nenne nur diese vier Namen stellvertretend für viele Bekannte und auch für viele Namenlose - begonnen haben, eine Bürgerrechtsbewegung zu entwickeln und den ungehemmten Gebrauch und Mißbrauch der Macht in ihrem eigenen Land zu kritisieren, hat die Welt wieder, mit größerer Aufmerksamkeit als in den Jahren vorher, über die Formeln der Entspannungspolitik hinweg, auf und in das Wesen der kommunistischen Diktatur geblickt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Dr. Marx, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mattick?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl.

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Marx, ich wollte Sie fragen, ob Sie auch in der Lage waren, Herrn Pelikan gestern morgen im Deutschlandfunk zu hören, wo er zur Bürgerrechtsbewegung Stellung genommen und die ganz klare Feststellung getroffen hat, daß diese Bürgerrechtsbewegung das Ergebnis der KSZE ist und niemals mehr wegzubringen sein wird. ({0})

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich habe es nicht gehört, aber gelesen. Ich habe ja vorhin - und ich bitte Sie, nehmen Sie das, wie ich das sage - nicht nur auf die KSZE und ihre Wirkungen hingewiesen, sondern ich habe von den Menschenrechtspakten gesprochen, die in all diesen Ländern ja nicht nur unterschrieben, sondern auch ratifiziert worden sind. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß sich diese Leute streng im Rahmen ihrer eigenen Gesetze bewegen. Ich wäre also dankbar, verehrter Herr Kollege Mattick, wenn wir uns beide, wenn sich vielleicht alle Kollegen oder ein Teil der Kollegen in Ihrer Fraktion auf diesem Wege - jeder dort, wo er kann, Sie, Herr Kollege Mattick, z. B. auch auf der NATO-Parlamentarierkonferenz, wo Sie das Gegenteil getan haben ({0}) darum kümmern würden. Mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen - das war unser Ruf. Er ist zuerst durch die CDU/CSU im Bundestag eingebracht worden. Der Westen ist dann mit diesem Ruf nach Genf und Helsinki gegangen. Die Hoffnung vieler war groß - wir alle hatten Hoffnungen, aber manche hatten zu große -, daß das dort nicht nur alles aufgeschrieben, sondern auch verwirklicht werde. Aber ich sage noch einmal: Die Vorgänge in den letzten Wochen - und konzentrieren wir uns nur einmal auf die letzten Wochen - im europäischen Osten und in der DDR waren leider ganz gegenläufig. Jetzt bereiten Diplomaten in Ost und West die sogenannte Folgekonferenz - von ihr hat vorhin der Kollege Ehmke gesprochen - zur Überprüfung der KSZE-Ergebnisse vor. Sie soll im Juni dieses Jahres in Belgrad stattfinden. Der Kollege Brandt hat in seiner Rede am 17. Dezember 1976 in einer mir nicht ganz verständlichen - ich denke, kaum jemandem verständlichen - Terminologie von einer „Durchführungskonferenz" gesprochen. Da sind offenbar der Wunsch und die ungezügelte Hoffnung mit ihm durchgegangen; denn von Durchführungskonferenz ist in den KSZE-Dokumenten überhaupt keine Rede. Ich möchte einmal in aller Kürze auf das hinweisen, was dort steht. Es heißt, daß die Außenminister Vertreter zu einem Treffen benennen. Und unter der Überschrift „Die Folgen der Konferenz" heißt es unter Punkt 3 - ich zitiere -: Die erste der oben erwähnten Zusammenkünfte - es heißt „Zusammenkünfte" und nicht Konferenz wird 1977 in Belgrad stattfinden. Ein Vorbereitungstreffens, das mit der Organisierung dieses ersten Treffens beauftragt ist, wird am 15. Juni 1977 in Belgrad stattfinden. Dieses Vorbereitungstreffen wird Datum, Dauer, Tagesordnung und die sonstigen Modalitäten des Treffens der von den Außenministern benannten Vertreter festlegen. Darum handelt es sich - um das ganz klarzumachen - und um nichts anderes. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, er werde dort einen eigenen Beitrag leisten. Davon gehen wir aus, Herr Kollege Schmidt. Wir werden natürlich in diesem Hause rechtzeitig über dieses Thema noch sprechen müssen; denn ich hege den Verdacht - der durch dieselbe Rede des Kollegen Brandt am 17. Dezember 1976 genährt wird -, daß er die westlichen Politiker ansprechen will, wenn er auffordert, in Belgrad keine Anklagereden zu halten, wie sich Herr Kollege Brandt auszudrücken beliebte. Meine Damen und Herren, wie soll man das eigentlich verstehen? Sollen wir, d. h. soll unsere Bundesregierung tatsächlich darauf verzichten, die vielfältigen Täuschungen und absichtsvollen Verletzungen der Konferenzschlußakte zu verschweigen? Das können Sie doch angesichts der Lage nicht. Ich höre, daß der Bundeskanzler heute noch das Wort nehmen will, um zur gegenwärtigen Situation in der DDR eine Stellungnahme vorzutragen. Mein Wunsch ist, daß diese Stellungnahme mit der notwendigen Ruhe, aber auch mit der notwendigen Bestimmtheit unsere Position ganz klarmacht und daß das, Herr Bundeskanzler, nicht nur für den sogenannten innerdeutschen Bereich, sondern auch für jenen außenpolitischen Bereich gilt, der hier gemeint ist; denn wenn wir - angesichts der Lage - in Belgrad nicht das sagen, was uns bedrückt, wäre das nichts anderes als eine reine Huldigung an den Opportunismus. ({1}) Herr Kollege Ehmke, ich werde noch einmal sehr aufmerksam nachlesen müssen, was Sie gesagt haben; aber ich muß Ihnen sagen: Wenn ich höre, wie Sie hier manche Formulierungen vorgebracht haben - in politischen Begründungen -, und wenn ich noch einmal die Rede von Herrn Brandt nachlese - nicht nur die vom 17. Dezember, sondern auch Interviews -, dann fallen mir München und Chamberlain im Jahre 1938 ein. Die bösen geschichtlichen Erfahrungen, die wir doch alle haben, sollten wir nicht in den Wind schlagen. ({2}) Denn Beschwichtigung und Gefügigkeit haben der Freiheit und der Wahrheit noch nie aufgeholfen. ({3}) Im Gegenteil, solche Haltungen haben zwar im Augenblick einen Vorteil gebracht; man konnte dann sagen: „Peace in our time". Aber das ist eben nicht eingetreten, sondern solche Entwicklungen und Beschwichtigungen haben die Konflikte gefördert; sie haben sie unkontrollierbar gemacht. Genau das will doch niemand hier, und deshalb sage ich es. Herr Außenminister, lassen Sie mich noch etwas anderes sagen. Ich habe die erste Rede unseres Botschafters, die er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in Sachen Unterstützung von Botswana gehalten hat, gelesen. Ich möchte einen Satz vorlesen, den ich der Presse entnehme. Er sagte dort wörtlich, die Bundesrepublik lehne die unerträgliche Politik des Minderheitenregimes ab, das die Rassendiskriminierung fortsetzt und der Bevölkerungsmehrheit Zimbabwes menschliche und politische Grundrechte verweigert. Meine Damen und Herren, ich würde wünschen, daß in der Auseinandersetzung über die Menschenrechte in Deutschland einmal ein deutscher Botschafter vor den Vereinten Nationen folDr. Marx gendes sagt: daß die Bundesrepublik die unerträgliche Politik des Minderheitenregimes in der DDR ablehne, das die Unterdrückung der Menschen dort fortsetzt und der Bevölkerungsmehrheit in der DDR menschliche und politische Grundrechte verweigert. ({4}) Meine Damen und Herren, ich hoffe nicht, daß ich irgend jemanden damit langweile, aber ich möchte noch einmal in allem Ernst durch das Verlesen eines Zitates der beschlossenen politisch-moralischen Absichtserklärungen von Helsinki auf die Substanz dessen hinweisen, was wir heute unter Menschenrechten verstehen. Ich zitiere, nicht aus dem Korb III - das könnte man auch -, ich zitiere aus der generellen Deklaration im sogenannten Korb I, die ersten beiden Sätze unter Punkt VII. Sie lauten: Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen. ({5}) - Natürlich ist es richtig! Aber wir haben leider nicht daran glauben können, daß die andere Seite dies erfüllt, und wir sehen uns in unserer Skepsis leider bestätigt, verehrter Herr Kollege. ({6}) Es heißt dann weiter: Die Teilnehmerstaaten anerkennen die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung - ich bitte diese Konstruktion genau zu sehen ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten zu gewährleisten. Meine Damen und Herren, der Herr Bundesaußenminister hat damals mit unserer Zustimmung gesagt - ich zitiere; Datum: 17. Oktober 1974 -: Wer diese Konferenzbeschlüsse nicht einhält, stellt damit das ganze Ergebnis der Konferenz in Frage. Meine Frage ist nun ganz einfach, ob man dem eigentlich so zusehen will, wie dies alles, was Sie so gelobt haben und wovon wir einen großen Teil auch für richtig, wichtig und existentiell zur Erhaltung der Freiheit angesehen haben, Stück um Stück sozusagen den Bach hinuntergeht. Meine Damen und Herren, in dieser Präambel, die das Bundespresse- und Informationsamt zu der KSZE-Veröffentlichung geschrieben hat, steht, es handle sich um einen „thematisch weitgespannten Verhaltenskodex für West und Ost und er habe das Ziel, eine neue Dimension der Zusammenarbeit über die Systemgrenzen hinweg" zu finden. Meine Damen und Herren, es tut mir leid: wie sich diese neue Dimension im sozialistischen Spiegelkabinett ausnimmt, zeigt uns z. B. das Vorgehen gegen Lothar Loewe. Die Ausweisung des Fernsehkorrespondenten Lothar Loewe ist eine Sache, in der die DDR einfach wortbrüchig geworden ist. ({7}) Sie hat ihn - welch ein Zynismus! - mit der Frist von 48 Stunden zum Heiligen Abend 16 Uhr ausgewiesen. Herr Bundeskanzler, das war wenige Tage nach Ihrer Regierungserklärung, in der Sie gesagt haben, es gehe um die Anwendung und weitere Verbesserung der bestehenden Vereinbarungen. Meine Damen und Herren, was dort passiert ist, ist eine Illustrierung dessen, was die DDR für sich als Entspannung und was sie als ihren Beitrag zur sogenannten „guten Nachbarschaft" versteht. Meine Damen und Herren, ich halte diesen Vorgang für einen gezielten Akt der Willkür der SED, womit der gewiß untaugliche Versuch gemacht werden soll, andere Journalisten zu verunsichern und zur Selbstzensur zu veranlassen. Dies war und ist trotz aller Abmachungen noch immer die Art und Weise, wie man drüben, wo die SED auf dem Rücken des Bürgers kniet, Pressefreiheit und Bürgerfreiheit versteht. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung konnte nichts anderes machen, als dagegen zu protestieren. Natürlich hat sie dabei unsere Unterstützung. Ich erinnere in diesem Augenblick aber daran, wie man früher über uns gehöhnt hat, wenn wir in den innerdeutschen Fragen genötigt waren, zu protestieren, weil wir nichts anderes tun konnten. Die Bundesregierung hat protestiert, und ich halte den Protest für völlig gerechtfertigt in seinem Inhalt und Wortlaut. Dann aber kommt eine Antwort aus Ost-Berlin, und da heißt es, der Protest sei „völlig unbegründet". Mit unverfrorener Ironie wird hinzugefügt, die getroffene Maßnahme gegen Herrn Loewe stehe vollständig mit dem „Geist des Helsinki-Abkommens" in Übereinstimmung. ({8}) Was kann uns ein solcher Vorfall lehren? Bei den vertraglichen Abreden haben sich beide Seiten auf gemeinsame Texte geeinigt. Sie haben, um mit Solschenizyn zu sprechen, Worte und Satzgebilde hin- und hergeschoben, bis sie paßten, aber sie haben die offensichtliche Tatsache übergangen, daß mit den gleichen Worten auf beiden Seiten etwas ganz anderes gemeint war. ({9}) - Meine Damen und Herren, der Kollege Mertes sagt: Dies ist das Entscheidende. Ich halte es in der Tat bei all diesen Verhandlungen - wir haben früher immer wieder den Begriff Dissens eingeführt - für das Entscheidende. Gleiche Worte und gleiche Begriffe verwenden heißt, wie doch die Erfahrung zeigt, noch lange nicht, auch den gleichen Wortsinn und -inhalt damit auszudrücken. Den Geist der Abreden legt die DDR nach ihrem ideologischen Verständnis, nach ihrem Gutdünken aus, und sie versucht, ihn nach dem Prinzip „Steter Tropfen höhlt den Stein" uns aufzuzwingen. ({10}) Auch das ist ein untauglicher Versuch. Meine Damen und Herren, so kommt es, daß sich die DDR trotz aller verbalen Einigung, trotz Grundlagenvertrag und Viermächteabkommen, trotz des ausdrücklichen Wunsches der Bundesregierung, der der Wunsch auch aller Parteien dieses Hauses ist, mit der DDR in guter Nachbarschaft zu leben, feindselig verhält, daß sie die Abgrenzung verschärft, daß sie Tausende von Menschen - man liest, es seien jetzt 5 000 politische Gefangene - einsperrt und daß sie im Innern mit harter Hand gegen jede Form von Kritik und abweichende Meinung vorgeht. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle auf einen Vorgang in unserem eigenen Lande, in der Bundesrepublik Deutschland, aufmerksam machen, der, wenn ich das recht sehe, viele aufs äußerste betroffen und beschämt macht. Ich meine die Auflösung der Ostabteilung bei der Deutschen Welle, die Ende dieses Monats, wie man hört, bevorstehen soll. Diejenigen, die diesen unglaublichen Vorschlag zu verantworten haben, müssen sich vorwerfen lassen, daß sie sich dort völlig anders verhalten, als uns die Regierung hier immer wieder erklärt. Während die Regierung nämlich Festigkeit betont, wird in wichtigen deutschen Medien ein Kurs der Gefälligkeit gesteuert, ein Kurs, meine Damen und Herren, der den anderen nur lästige Wahrheiten mehr und mehr vom Halse halten soll. ({11}) Jeder unter uns, der die Lage in Osteuropa nicht nur oberflächlich kennt, weiß, welche unschätzbare Orientierungshilfe Kurzwellensender des Westens für viele Millionen Menschen dort sind. ({12}) Meine Damen und Herren, ich bitte, das einfach einmal zu sehen. Versetzen Sie sich doch bitte in die Situation der Leute dort. Diese Verbindung ist oft die einzige mit der anderen Welt. Sie ist die einzige Quelle korrekter Nachrichten und die einzige Richtschnur, um die politischen Verhältnisse draußen und drinnen richtig zu verstehen. Durch solche Sendungen wird oft die Isolierung, in der sich die Menschen befinden, durchbrochen. Ich will und ich muß Sie, verehrter Herr Kollege Genscher, Herr Außenminister, auffordern und, ich füge hinzu, Sie bitten, weder direkt noch indirekt zuzustimmen, daß, dem fadenscheinigen Vorwand einer organisatorischen Umgestaltung folgend, die Sendungen der Deutschen Welle nach Osteuropa beschnitten oder in ihrem Inhalt substantiell verändert werden. ({13}) Herr Kollege Genscher, ich glaube, es ist doch auch Ihre Meinung, daß diese Sendungen ein wichtiger Teil der Selbstdarstellung der Freiheit sind. Ich selbst und, ich füge hinzu, viele hier, die Osteuropa kennen, würdigen den unschätzbaren Wert dieser Sendungen. Wir können in diesen Tagen die Mutter Bukowskis fragen; sie wird Ihnen schildern, was diese Sendungen moralisch für viele in einer nahezu verzweifelten und ausweglosen Situation bedeuten. ({14}) Meine Damen und Herren, es ist auch nicht wahr ({15}) - einen Augenblick! -, wenn die sowjetische Propaganda behauptet, es handle sich um Hetzsendungen und daß ein so verantwortungsvoller Journalist und Publizist - ich nenne seinen Namen - wie Botho Kirsch Unwahrheiten über die Entwicklung bei uns und in der sowjetisch geführten Welt verbreitet habe. Wenn ich das seit Jahren recht beobachte, gibt es dort eine ganze Reihe von Untersuchungen. Aber niemand wird diesen Vorwurf aufrechterhalten können. Übrigens sind sehr viele Sowjetbürger und Polen Zeugen für ein hohes Maß an Ausgewogenheit und Objektivität dieser Sendungen. Herr Kollege Mattick!

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Marx, wenn Sie die jetzige Neuorganisation bei der Deutschen Welle und dem Deutschlandfunk meinen, gehen Sie von falschen Vorstellungen aus. Hier wird keine Sendung eingespart; hier ist nur eine Trennung vorgenommen worden. ({0}) - Ich frage Herrn Dr. Marx, ob er von der Tatsache ausgeht, daß Deutsche Welle und Deutschlandfunk auf den Wunsch aller Parteien hin eine Aufteilung vorgenommen haben. Dabei wird es keine Stunde Sendung weniger geben, sondern nur eine andere Aufteilung. ({1})

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mattick, als geborener, wenn Sie so wollen, oder gelernter Marxist würde ich Ihnen antworten, daß es ein Umschlagen von der Quantität in Qualität - und umgekehrt - gibt. ({0}) Nun muß ich hier Karl Marx zitieren, der einmal von sich selber gesagt hat: „Moi, je ne suis pas un marxiste." Wenn Sie, Herr Kollege Mattick, darauf hinweisen, daß eine Änderung im Schema zwischen Deutscher Welle und Deutschlandfunk erfolgen soll, müßte man darüber sprechen. Das will ich im Augenblick aber gar nicht tun. Ich habe ein Thema angesprochen - hier wäre ich für Ihre freundliche Unterstützung sehr dankbar -, nämlich daß sich bei der Deutschen Welle nicht die Sendezeit, sondern die Qualität nicht verändern sollte. Denn Sie wissen so gut wie ich, daß das Verschieben von Personen natürlich auch ein Verschieben von Inhalten ist. Das ist gemeint. Das sollten Sie doch bitte zugeben. ({1}) Ich sage deshalb - ich sage dies auch namens meiner Fraktion -, daß wir alle Verantwortlichen auffordern, nicht Hand an freie Berichterstattung und Meinungsäußerung bei uns selbst zu legen, ({2}) sich bei uns, in einem freien Land, nicht daran zu beteiligen, den freien Austausch von Informationen einzuengen. Wer dies tut, wird den Ehrentitel eines freiheitlichen Demokraten verlieren und sich der Verachtung derer aussetzen, denen er die Stimme der Freiheit verdünnt oder vorenthält. ({3}) Meine Damen und Herren, ich habe gerade den Namen Bukowski genannt. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Herr Bundeskanzler Gelegenheit findet, Herrn Bukowski in Kürze zu empfangen. ({4}) Es wird gut sein, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sozusagen zu Beginn des Jahres der Menschenrechte aus erster Hand von einem Mann, der wegen seiner unbeschreiblichen, uns im Grunde alle beschämenden Tapferkeit und Unbeugsamkeit zwölf Jahre seines kurzen Lebens in Haft war, die andere Seite des Lebens in einem Land erfahren, von dem Ihnen der Generalsekretär der KPdSU bei seinem nächsten Besuch sicher eine andere Schilderung geben wird. Sie haben, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung die Hoffnung ausgesprochen, daß der Besuch von Herrn Breschnew „neue Impulse für eine Ausweitung und Vertiefung" der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit bringen werde. Da sind wir ein wenig skeptischer. Denn bei aller Vergeßlichkeit, zu der unsere Zeit neigt: Wir haben noch den ersten Besuch von Herrn Breschnew im Mai 1973 in Bonn in Erinnerung. Ohne jetzt näher darauf einzugehen, will ich nur daran erinnern - aber ich tue es mit Nachdruck -, wie schwer es damals war, den sowjetischen Herrscher, der partout das Viermächteabkommen über Berlin nach seiner Art und Weise auslegen wollte, zu einer Formel zu bewegen, die lautet: Dieses Abkommen soll „strikt eingehalten und voll angewendet" werden. Meine Damen und Herren, wir finden seither - auch in der Art, wie versucht wird, Ostberlin in den gesamten Bereich der DDR einzuverleiben - gegenteilige politische Entwicklungen. Darüber wird nachher noch unser Kollege Peter Lorenz sprechen. Ich finde, auffallend dünn, um nicht zu sagen: armselig, war die Regierungserklärung dort, wo sie auf die exorbitante Rüstung im Bereich der Warschauer-Pakt-Staaten einging. Wenn ich auch in diesem Fall die Regierungserklärungen seit 1969 vergleiche, so komme ich zu einem frappierenden Ergebnis. In der ersten Regierungserklärung dieser Koalition vom 28. Oktober 1969 wird die sowjetische Rüstung, die damals schon das militärische Gleichgewicht erheblich störte, gänzlich übergangen. Willy Brandt versicherte lediglich - hören Sie bitte diese Formulierung -, daß man konsequent sich für den Abbau der militärischen Konfrontation in Europa einsetzen werde. Das war 1969. Bei seiner zweiten Regierungserklärung im Januar 1973 sagte er, man könne nicht übersehen, daß die Rüstungsentwicklung des Warschauer Paktes das östliche Gesamtpotential steigere. Dies ist ein Satz, der zwar den Vorteil hat, in sich logisch zu sein, aber politisch im Grunde genommen dann nichts sagt, wenn man ihn mit dem nächsten Satz zusammennimmt, in dem Herr Brandt nämlich sagte, man wolle daraus „keine voreiligen Schlüsse" ziehen. Wir haben nie voreilige Schlüsse verlangt, bei Gott nicht, vor allen Dingen nicht auf diesem Gebiet. Aber Schlüsse haben wir verlangt, meine Damen und Herren. Und ich habe eben nicht 1976, sondern den Januar 1973 zitiert. Im Mai 1974 hat dann Bundeskanzler Schmidt in seiner ersten Regierungserklärung gesagt, er betrachte - ich zitiere wieder - „nicht ohne Sorge die wachsenden Rüstungsanstrengungen im Warschauer Pakt". Und diesmal sagte er, daß der stetige Ausbau der militärischen Stärke im Ostblock immer weiter anhalte, obwohl das militärische Potential dieser Staatengruppe bereits weitaus größer sei, als es für seine Verteidigungszwecke notwendig erscheine. Verzeihen Sie, wenn ich sage: Für einen ehemaligen Verteidigungsexperten und Verteidigungsminister ist diese Formulierung wahrhaft ungenügend. Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler, in dieser Sache - dazu wird auch noch Kollege Wörner sprechen - heute etwas deutlicher auszusagen, was Sie eigentlich von dem Ausmaß der Bedrohung halten. Denn, meine Damen und Herren, leider ist die Tendenz zu einer falschen Darstellung und Verharmlosung des wirklichen Ausmaßes der Gefahr bei dieser Regierung schon Bestandteil ihrer Politik geworden. Die Dokumente der NATO sprechen, wie Sie wissen, eine andere Sprache. Aber darüber wird noch im einzelnen näher gehandelt. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat - ich muß sagen: entgegen meiner eigenen Erwartung - über die verwickelten Probleme des Osthandels und über den gegenwärtigen Stand dieser Dinge nur ganz wenig gesagt. Ich möchte hier sagen, daß wir für eine vernünftige Weiterentwicklung der Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten sind, auf der Basis der Gleichberechtigung und, wie man sagt, des „gegenseitigen Vorteils". Das ist ein Thema, das man bei der KSZE im Rahmen des Korbes II besprochen hat, das ist noch nicht erledigt. Aber wir sind dafür, daß wir auf den Gebieten der Politik, der Kultur, der Wissenschaft, der Technik und darüber hinaus auf den Gebieten des Handels und der Wirtschaft unsere Beziehungen weiter voranbringen. Ich sage auch, daß dies vernünftig sein müsse; denn wir müssen auch die Grenzen der Verschuldungsmöglichkeiten der Oststaaten z. B. bei uns sehen. Ich füge hinzu, daß westliche Kreditpolitik jedenfalls der Sowjetunion in den letzten Jahren den Arm für zusätzliche Rüstungen freigehalten hat. Dies hätte den Herrn Kollegen Brandt und den Bundeskanzler auch mit Sorge erfüllen sollen. ({5}) Sie sollten, da die beiden Herren Lenin gelesen haben, sich doch des zynischen Ausspruchs erinnern, daß die Kapitalisten sogar noch den Strick verkaufen, an dem man sie aufhängen wird. Lassen Sie mich in allem Ernst noch in Kürze auf ein Problem eingehen, nämlich auf die gegenwärtigen Gespräche zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Comecon, dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe des Ostblocks. Diesen Gesprächen stehe ich mit großer Zurückhaltung gegenüber, weil es offensichtlich in der Absicht der Sowjetunion liegt, zusätzliche Kontrollen und Reglementierungen der von ihr unterworfenen und beherrschten Staaten Osteuropas zu erreichen. Niemand von uns sollte vergessen, daß der Apparat des Comecon in der Hand sowjetischer Funktionäre liegt und daß der Rat selbst von Anfang an ein Instrument ihrer Ausbeutungspolitik gegenüber Europa gewesen ist. Ich denke, wir sollten uns an den Grundsatz halten, daß wir bei künftigen Verabredungen die mittlerweile gewachsenen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten des Ostens und des Westens nicht unterlaufen und nicht schmälern; sie sind für viele noch eine der wenigen Möglichkeiten, sich einen Fingerbreit freier zu bewegen, als dies sonst erlaubt würde. Morgen, am 20. Januar, wird der amerikanische Präsident Jimmy Carter seinen Eid ablegen. Dies wird ein bedeutsamer Tag in der Geschichte der Vereinigten Staaten sein. Er wird zugleich eine Phase, wie ich denke, konzentrierter Orientierungen und neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Teil der atlantischen Welt einleiten. Wir erklären unsere Zufriedenheit mit den bevorstehenden Kontakten des neuen amerikanischen Vizepräsidenten Mondale hier in Bonn, in Berlin, in Brüssel, in Paris und in London, und wir verbinden mit ihnen und mit den künftigen Kontakten mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Carter den Wunsch, daß die Freundschaft und das Vertrauen zwischen uns und den USA weiter anwachsen und daß es unserer Politik gelingt, darauf hinzuwirken, daß bei allen künftigen Abreden und Bindungen, die die Vereinigten Staaten eingehen werden, das Interesse Deutschlands und Europas die notwendige Berücksichtigung findet. ({6}) Herr Kollege Genscher, da die Zeit eilt und Sie eine sehr lebhafte Bemerkung - mehr als eine Bemerkung- zu Portugal machten, möchte ich mich nur noch ganz kurz dazu äußern. Wir erklären uns auch zufrieden - und wir sind mit Ihnen einig, wenn Sie sich darüber freuen -, daß Griechenland, Portugal und Spanien - so hat es vor allen Dingen bei den beiden letzten den Anschein - in den Kreis der parlamentarischen Demokratien eintreten. Dies ist ein großer Gewinn für Europa. ({7}) - Sagen Sie doch nicht „ohne unsere Mitwirkung"! Sie wissen doch gar nicht - Sie können es gar nicht wissen -, wer von uns auch in der Zeit des Papadopoulos mit wem zusammengetroffen ist. Man könnte sehr viele Namen von Personen nennen, die auch mit Leuten, die unter Hausarrest standen und bei denen Posten vor der Tür standen, in deren Wohnungen stundenlang geredet haben und die das gleiche in Portugal gemacht haben. Herr Mattick, Sie müßten es eigentlich wissen, wenn Sie Ihre Erinnerung daran nicht verlassen hat; denn wir beide haben z. B., als wir einmal aus Ägypten zurückkamen, lange über dieses Thema gesprochen. Ich bleibe dabei, und ich lasse einfach nicht zu, daß die falsche Gleichung aufgestellt wird: auf der einen Seite die CDU, die so ein Techtelmechtel mit den Nicht-Demokraten habe, und auf der anderen Seite die ritterlichen Demokraten. Wir haben in vielfältiger Form - ich gehe jetzt auch im konkreten keinen Schritt weiter, weil sich das, wie Sie wissen, jetzt nicht lohnt - Hilfen geleistet, bis zu finanzieller Hilfe, bis zur Hilfe der politischen Beratung und Schulung. Wir sind stolz darauf, und Sie können uns diesen Stolz nicht abnehmen. ({8}) Ich möchte noch folgendes sagen, weil Herr Bangemann und der Herr Bundesaußenminister zu wirtschaftlichen Hilfen etwas bemerkt haben. Natürlich waren wir bereit und werden es sein, wenn wir in der Lage sind, denjenigen, die unsere Verbündeten und Freunde sind und die in einer besonders schwierigen inneren Lage sind, auch durch finanzielle Hilfe unter die Arme zu greifen. Dies ist allemal besser, als Gelder in den Ostblock zu pumpen. Aber Hilfe kann auch in diesem Fall nur als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Wir sind einig, Herr Bundesaußenminister, ich weiß. Aber lassen Sie mich hinzufügen - da bin ich nicht ganz sicher, ob wir einig sind -: Wenn ich an die Entwicklung in Portugal zurückdenke, von der ich glaube, daß ich sie ziemlich genau kenne, dann finde ich, daß wir Herrn Soares und sein Kabinett auffordern müßten, hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Konzeption zu moderneren Gesichtspunkten zurückzukehren oder sie zu finden und zu entwickeln und auch die große Lehre, die wir in unserem eigenen Lande gefunden haben, nämlich die soziale Marktwirtschaft, bei der Durchrechnung der einzelnen Programme nicht außer acht zu lassen. Denn es ist ja gar kein Zweifel, daß die gegenwärtige Misere - es ist eine ziemlich schlimme Misere - in der portugiesischen Wirtschaft und Landwirtschaft, in der Industrieproduktion, in den Finanzen vielen sozialistischen, kommunistischen und linkskommunistischen Bocksprüngen zu verdanken ist, die Menschen dort vorgenommen haben, bar jeder Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge und vollgestopft mit marxistischen Weltfremdheiten. ({9}) Es geht natürlich nicht, daß wir unsere eigene Bevölkerung auffordern zu helfen - denn das sind ja alles Steuergelder; diese Hilfe finanzieren wir ja alle zusammen - und daß wir ihr zur gleichen Zeit sagen müssen, daß dies allerdings eine permanente Hilfe ist für Leute, die in der Wirtschaftspolitik etwas tun, was sie selbst nie auf gesunde Beine bringen läßt. Wir verbinden also ausdrücklich unsere Bereitschaft zu helfen mit dem Hinweis, daß es dafür auch notwendig ist, die entsprechenden wirksamen Strukturen zu schaffen. Ich muß mir wegen der Zeit versagen, auf eine Reihe anderer Fragen einzugehen, die wir aber dann sicher in den Ausschüssen diskutieren können. Nur, Herr Kollege Mattick, wir werden nicht nur im Ausschuß, wie Herr Wehner das verlangt hat, sondern natürlich auch noch hier im Bundestag durch andere Kollegen die Frage Ihres und Ihrer Freunde Verhaltens bei der letzten NATO-Parlamentarierkonferenz natürlich diskutieren. Ich möchte aber am Schluß meiner Ausführungen auf ein Problem aufmerksam machen, das mich und, wie ich weiß, viele andere tief bedrückt und das der Bundesaußenminister in seinen ersten Formulierungen eben selber angesprochen hat. Ein Blick auf die Landkarte und ein Blick in die politischen Verhältnisse vieler Länder der Welt zeigt, daß unsere Form des Lebens, von der Europäer und Amerikaner einmal geglaubt hatten, man könne sie über die ganze Welt ausbreiten und damit anderen Völkern Wohlstand und Frieden bringen, nur noch in relativ wenigen Ländern vorkommt. Die parlamentarische Demokratie, überall dort für kurze Zeit eingeführt, wo es um Entkolonialisierung ging, ist weltweit auf dem Rückzug. Bei uns selbst spürt man, daß sich Zeichen des Unmuts und der Abkehr, auch der polemischen Gegnerschaft, ja sogar Verfallserscheinungen feststellen lassen. Ich kann und will in diesem Augenblick die Gründe hierfür nicht untersuchen. Aber dieses Haus sollte es bald einmal tun. Wo sonst denn sollte man mithelfen, die parlamentarische Demokratie von mittlerweile angewachsenen Schlacken und von Seetang wieder zu befreien, wenn nicht hier in diesem unserem eigenen Hause? Ich glaube zumindest einen dieser Gründe hier nennen zu sollen: es ist der weit klaffende Abstand zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit auf manchen Feldern unseres öffentlichen Lebens. In der Schule erklärt man den jungen Menschen, daß die Gewaltenteilung des französischen Philosophen Montesquieu in der parlamentarischen Demokratie geradezu klassisch durchgeführt sei; neben der richterlichen Gewalt stünden sich Exekutive und Legislative gleichberechtigt und unabhängig voneinander gegenüber. Die Regierung, so heißt es, werde vom Parlament überwacht und kontrolliert; darin bestehe die in der Demokratie notwendige Ausbalancierung der politischen Macht. In Wirklichkeit, meine Damen und Herren, ist es doch ganz anders. Die Regierung wird hier im Parlament eigentlich nur von der Opposition kontrolliert. Die Regierungskoalition - und man untersuche einmal tiefenpsychologisch dieses Wort „Regierungskoalition" - ist, wie der Kollege Wehner Ende 1969 oder Anfang 1970, glaube ich, in einem Interview gesagt hat, dafür da, der Regierung den Rücken freizuhalten und den Weg nach vorn freizuhauen. Solange sich die Regierungsfraktionen so mißverständlich als den verlängerten Arm der Regierung im Parlament verstehen und die Möglichkeiten und Mittel der Opposition zu einer wirklichen Kontrolle der Regierung so gering sind wie gegenwärtig, ({10}) so lange ist der parlamentarisch-demokratische Mechanismus gefährdet. Meine Damen und Herren, in allem Ernst: Ich bitte die Kollegen der Fraktionen von SPD und FDP, sich überzeugender als in den letzten Jahren als wirkliches Parlament, d. h. als Vertretung des Volkes, als Kontrolle der Regierung, als das zu verstehen und als diejenigen zu sehen, die in ständigem und unmittelbarem Kontakt mit der Bevölkerung leben und die ihre besondere Legitimation durch freie, allgemeine und geheime Wahlen besitzen. ({11}) Meine Damen und Herren, wenn wir uns auf die Wahl eines Europäischen Parlaments, von dem vorhin gesprochen worden ist, vorbereiten und die Menschen in den Ländern Europas dafür gewinnen wollen, ein funktionierendes, mit Kompetenzen, mit Kraft, mit Fähigkeit, mit Kontrollmöglichkeiten ausgestattetes Parlament zu schaffen, dann sollten wir hier, im eigenen nationalen Bereich, Wert und Funktionsfähigkeit der Volksvertretung von Irrtümern befreien. Und dies, meine Damen und Herren, mein letzter Satz dazu: Wir sollten dafür sorgen, daß die Bürger von einer besseren Regierung regiert und von einem guten, kontrollierenden Parlament vertreten werden. ({12})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich. Es kann sein, meine Damen und Herren, daß sich der Beginn der Mittagspause um 10 bis 15 Minuten verzögert.

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer diese Debatte, soweit es um Außenpolitik geht, verfolgt hat, wird als erstes, zunächst wichtigstes Ergebnis festhalten müssen, daß es in der Außenpolitik nach wie vor keine Brücke zwischen der Opposition und der Regierung gibt. ({0}) Dies, Herr Kollege Marx, ist eine schwere Belastung für die Innenpolitik und für die Bundesrepublik im Ausland. Das eindeutige Nein des Oppositionsführers Barzel und des späteren Fraktionsvorsitzenden Carstens hat der neue Oppositionsführer und CDU-Vorsitzende Kohl erneuert. Die Heftigkeit, mit der dies erneuert worden ist, läßt nach Kreuth nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Wiedervereinigung um den Preis der totalen Übernahme Straußscher Außenpolitik erreicht wurde. ({1}) Davon müssen wir ausgehen, und dies ist heute in der Debatte bestätigt worden. Was ist nun und wo ist denn die Gegenposition der CDU/CSU zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers, wo ist in der Union etwas, was den Namen „außenpolitische Konzeption" - und zwar „e i n e Konzeption" - verdient? Wer genau hinsieht, findet da ein breites Spektrum. Es gab in der letzten Periode durchaus einmal Zeichen einer Annäherung an die Regierungskoalition. Am 14. Juni des vergangenen Jahres gab es in Warschau interessante Ausführungen des CDU-Politikers Walther Leisler Kiep. Nach dem Wortlaut der Rede erklärte Kiep in Warschau - ich darf wörtlich zitieren -: Wir können mit Genugtuung feststellen, daß der besondere Rang der polnisch-deutschen Beziehungen, die weiteren Bemühungen um ihren Ausbau und ihre Festigung eine Konstante der deutschen Außenpolitik geworden ist und bleiben wird. Nun kommt ein interessanter Satz. Kiep sagte: Die deutschen Außenminister Heinrich von Brentano, Gerhard Schröder, Willy Brandt, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher kennzeichnen diese Konstante unserer Politik. ({2}) Dies halte ich für einen höchst interessanten Satz, daß ein so bekannter Politiker wie Walther Leisler Kiep Brentano, Scheel, Schröder, Brandt, Genscher in einer Konstanten sieht. Er war einmal - ich glaube, damals noch - außenpolitischer Sprecher des Präsidiums der CDU. An anderer Stelle sagte Kiep in Warschau: Entspannungspolitik ist auch kein automatisch fortschreitender Prozeß. Für uns kommt es deshalb auf Verhandlungsbereitschaft und Willen zum Kompromiß ebenso an wie auf Standfestigkeit und langen Atem. Wer Entspannung wirklich will, muß auf dem Weg zum Ziel auch Spannungszeiten, Stillstand, ja auch Zeiten der Konfrontation durchstehen. Ich habe den Eindruck, daß Sie nicht imstande sind, dieser Maxime Ihres früheren außenpolitischen Sprechers zu folgen. ({3}) Es gibt natürlich auch eine andere Seite. Als der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht im Dezember in Polen auf Kieps Spuren wandelte, schrieb einen Tag nach der ersten Rede des neuen Oppositionsführers der „Bayernkurier" über Albrechts Reise: Kreuth hin, Kreuth her: Was sich in diesen Tagen der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht mit der von ihm eigens inszenierten Neuaufführung der Polit-Operette „Polenblut" leistet, läßt schon wieder Zweifel aufkommen, ob hier jener neue, richtungsweisende Stil sinnvoll und im gemeinsamen Geiste praktiziert wird, auf den sich ja die beiden Unionsparteien, wenn man die Worte, die Kommuniqués und Erklärungen noch richtig zu deuten vermag, fortan festgelegt haben ... Am Ende schreibt der "Bayernkurier": ... sollte doch zutreffen, was die „Welt" zu berichten wußte, daß Albrecht ausdrücklich seine Reise als „Neuorientierung der Ostpolitik der CDU" - im Gegensatz zur CSU und zu Strauß verstanden wissen wollte? Wäre dem so, so müßte Wildbad Kreuth sich nicht als Tagungsstätte, sondern als Dauerkuranstalt zur Rettung der deutschen Politik darstellen. So ist das eben mit diesen Kuranstalten: Zuerst hat Herr Kohl vor einem Jahr hier von diesem Platz aus gesagt „Wir lassen niemand im Regen stehen" und hat den Regenschirm hingehalten; dann hat ihm ein Zimmermann eine richtige Dachkonstruktion, genannt „Dachorganisation", gebaut, und jetzt ist auch noch von einer Dauerkuranstalt die Rede. Herr Kohl hat ja Weihnachten in Sonthofen physisch nachgespurt, wo Strauß geistig vorgespurt hat. ({4}) Aber zwischen Kiep/Albrecht auf der einen Seite und Strauß/Zimmermann auf der anderen Seite gibt es keine politische Gemeinsamkeit. ({5}) Herr Kollege von Weizsäcker, es ist Ihnen heute nicht gelungen, die tiefe Kluft innerhalb der Union zu überbrücken; Sie konnten sie bestenfalls kaschieren. ({6}) Wenn ich das vielleicht noch hinzufügen darf: Ich bewundere Ihren Stil, Ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit, aber sie ist leider identisch mit der Unverbindlichkeit Ihrer Absichten für die Union. ({7}) In der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich die Protokolle nachgelesen, z. B. das Protokoll vom 25. Juli über die KSZE-Diskussion, um in Erfahrung zu bringen, ob wenigstens ein einziger Unionsabgeordneter der KSZE-Akte zugestimmt hat. Da wir ja einige Abstimmungsprobleme innerhalb der Union aus der letzten Periode kennen, habe ich den Namen von Weizsäcker gesucht. Er war nicht unter denen, die abgestimmt haben, er war nicht unter denen, die beurlaubt waren. ({8}) In der Kommunalpolitik kennt man dieses Problem auch. Aber daß der damalige Abgeordnete Kiep am gleichen Tag das gleiche Problem hatte, zeigt, daß die politische Bekenntnismöglichkeit für Christen auch durch Abwesenheit ausgedrückt werden kann. ({9}) Aber man sollte die Auseinandersetzung um die Grundwerte, die auch der Kollege Biedenkopf so oft gefordert hat, hier aufnehmen. Die Union versteht sich als Partei des „C", „C" wie christlich. Nach dem, was der Kollege von Weizsäcker gesagt hat, daß man Ethik und Handeln nicht ({10}) trennen dürfe, daß dies abwegig sei, ({11}) müssen Sie erlauben, daß wir Sie daran messen. Wer eine für christliches Handeln taugliche, klare Aussage in der Außenpolitik sucht, findet sie in der diesjährigen Neujahrsansprache des Papstes. Der Papst sagte u. a.: Der Frieden gerät wiederum in Bedrängnis, zunächst in den Herzen der Menschen, dann in den begrenzten örtlichen Auseinandersetzungen und schließlich in erschreckenden Aufrüstungsprogrammen, die das Potential furchtbarer Zerstörung kaltblütig berechnen, die selbst unsere Fähigkeiten übersteigen, sie in anschaulichen Ausmaßen zu beschreiben. Er fährt fort: Das Leben ist der Gipfel des Friedens. Wenn die Logik unseres Handelns von der Heiligkeit des Lebens ausgeht, dann ist der Krieg als normales und gewohntes Mittel zur Durchsetzung des Rechtes und somit des Friedens im Grunde geächtet ... Und weiter: Dadurch ist sogleich die Politik der starken Aufrüstung in Frage gestellt. Der alte Satz, der auch heute noch, so wie früher, in der Politik gerne angewandt wird: „Wenn du den Frieden willst, bereite dich zum Krieg vor", ist ohne grundsätzliche Vorbehalte nicht annehmbar ... Und schließlich - so der Papst in seiner Neujahrsansprache -: Wir sollten aber wenigstens zugeben, daß diese grundsätzliche gegenseitige Bedrohung von Leben und Frieden, die der Rüstungswettlauf herbeiführt, eine in sich selbst trügerische Formel darstellt, die korrigiert und überwunden werden müßte. Wir sprechen darum unsere Anerkennung aus für die bereits unternommenen Bemühungen, diesen absurden Kalten Krieg einzudämmen und schließlich ganz zu beseitigen ... So der Papst in der Neujahrsansprache. ({12}) - Einen Augenblick, Sie können nachher gleich Fragen stellen. Lassen Sie mich aber erst noch meine Gedanken zu Ende führen. - Es gibt ähnliche bedeutende evangelische Stimmen, die eine entschiedene Friedenspolitik fordern. Und nun zu dieser Debatte.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte dies jetzt weiterführen. - Müßte nun nicht eine Partei, die beansprucht, Lehre und Tat des Christentums so ganz in ihr politisches Wirken aufgenommen zu haben, müßte nicht diese CDU/CSU mit einem christlich geschärften Gewissen in die Theorie und Praxis der internationalen Politik eintreten? Und wenn es so wäre, müßten Sie es nicht als Ihre erste Gewissenspflicht verstehen, aus dem Anruf des Glaubens praktizierbare, aber auch beispielhafte Schritte einer konkreten Friedenspolitik zu entwickeln? Was ich nun sage, klingt unglaubwürdig - ich weiß es -, aber es ist wahr: In den Reden des CDU-Vorsitzenden Kohl, des CSU-Vorsitzenden Strauß, des CDU-Abgeordneten Barzel vom 17. Dezember und, wenn ich richtig hingehört habe, auch in den Reden der heutigen Unionsredner werden wir Friedenspolitik, die Entwicklung einer kriegsverhütenden Politik für den Frieden vergeblich suchen. Friedenspolitik - das gibt es nicht, nicht bei Kohl, nicht bei Barzel und nicht bei Strauß. ({0}) Das gibt es in ihren Reden nicht. Ich sagte ja: es ist unglaubwürdig, aber ich habe diese Begriffe vergeblich gesucht. ({1}) Wenn Sie nun vielleicht einwenden, daß Ihre Ausführungen der Kontext dazu seien, so möchte ich Ihnen darauf antworten: Das, was Sie als Kontext bringen, beinhaltet das Gegenteil von einer Friedenspolitik, wie die Welt sie heute versteht. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte diesen Gedanken weiterführen. Ich werde diese geschlossene Passage erst zu Ende führen. ({0}) Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt und der Liberale Hans-Dietrich Genscher haben in ihrer Regierungserklärung über das Kapitel „Außenpolitik" vier Wort geschrieben: Politik für den Frieden. Deshalb, Herr Kollege von Weizsäcker, ist es falsch, daß, wie Sie vorhin gesagt haben, der erste Begriff der gesamten Außenpolitik die Entspannungspolitik sei. Politik für den Frieden - das gilt für Europa, für die Beziehungen zwischen Ost und West und für den Dialog mit der Dritten Welt. Im Gegensatz zu Ihnen empfinden wir diesen Auftrag zum Frieden bewußt und nennen ihn auch, denn der Friede ist heute der übergreifende Wert für die Menschheit schlechthin. ({1}) Welcher Wert in der Union heute tatsächlich die Richtung bestimmt, ist in der Januar-Nummer der „Herder-Korrespondenz", einer ja sehr angesehenen katholischen Zeitschrift, zu erfahren. Wie „christlich" interpretiert werde - so schreibt der Chefredakteur dieser bekannten katholischen Zeitschrift -, könne christlichen Wählern nicht gleichgültig sein: christlich-sozial, liberal, deutschnational oder nationalistisch-autoritär. Wenn man sich schon so resolut mit bayerisch-europäischem Geschichtsbewußtsein aufs Deutschnationale zubewege, dann dürfe man dies auch so nennen. - So die „Herder-Korrespondenz", eine Zeitschrift, die, wie Sie nicht bestreiten können, dem „Vorwärts" nicht allzu nahesteht. ({2}) - Es ist eine gute Entwicklung, Herr Kollege Czaja, wenn sich die „Herder-Korrespondenz" dem „Vorwärts" annähert. Aus dieser Lage heraus fragt nun der Kollege Barzel den Bundeskanzler nach seinem Problembewußtsein, so als ignoriere der Kanzler die Thesen des Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker, des anderen Weizsäcker, des Physikers. Einen wirklichen Vergleich der Thesen des Friedensforschers mit der Politik der Bundesregierung hat der Kollege Barzel dagegen nicht anzustellen versucht. Dies muß hier nachgeholt werden, weil der Kollege Barzel bei der ersten These stehengeblieben ist. Der Friedensforscher sagt: Der dritte Weltkrieg ist wahrscheinlich. Seine zweite These: Eine Politik, die ihn verhindert, ist möglich und wird heute zu betreiben versucht. Er meint dabei, daß Abschrekkung durch militärische Rüstung aber für eine kriegsverhütende Politik nicht ausreiche. Er sagt: Diese Politik stößt auf Hindernisse, die in gesellschaftlichen Strukturen wurzeln. Die Überwindung der Hindernisse erfordere einen umfassenderen Bewußtseinswandel, und die kriegsverhütende Politik müsse so geführt werden, daß sie den Bewußtseinswandel erleichtere und nicht erschwere. Um einer noch unbekannten Welt gewachsen zu sein - so sagt Carl Friedrich von Weizsäcker -, bedürfe es mehr als konservativer Reformen. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers finden sich viele wichtige Elemente der Denkansätze des Friedensforschers. Bei Ihnen sind sie ausgespart. Wir wollen nicht vergessen, daß eine Woche vor der Konferenz von Helsinki in diesem Hohen Hause ein Antrag zu bescheiden war, der aus einem einzigen Satz bestand: Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Akte nicht zu unterschreiben. ({3}) - Die Gründe? Ihr Hauptsprecher von damals, Herr Marx, hat gerade über eine Stunde lang gesprochen. Herr Kollege Mertes, das müßte Ihnen ja ausreichen, um die Gründe darzulegen. Auf uns und auf Sie wird in diesen Grundsatzdiskussionen noch einiges zukommen, vor allem in der Frage einer neuen Verteidigungsstrategie, wenn neben dem neuen Buch Carl Friedrich von Weizsäckers das Buch von Affheldt, Spannocchi und Brossollet in die Diskussion kommt. Wir wünschen, daß die Gedanken jener, die über die Zukunft nachdenken, auch einmal in diesem Hause erörtert und vielleicht in einem Hearing vorgetragen werden. In der heutigen Diskussion habe ich mich an einen Aufsatz von Professor Brzezinski, dem Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, erinnern müssen, der in dieser Woche in einem deutschen Wochenmagazin erschienen ist. Er beschreibt dort den Wandel im Denken der amerikanischen Elite und sagt: Die Neuorientierung der amerikanischen Politik, und zwar als bewußte Abwendung vom kalten Krieg, erfolgte in den 60er Jahren. Wenn ich das mit unserer Situation vergleiche, muß ich feststellen, daß die deutsche konservative Elite von Professor Schelsky bis Professor Steinbuch, von Professor Maier in München bis zu Professor Biedenkopf in Bonn diesen Denkprozeß der amerikanischen Elite nicht mit vollziehen konnte. ({4}) Das kommt immer wieder hervor. Wenn z. B. der Kollege Marx hier sagt, die Rede des Kollegen Professor Ehmke sei mit der Rede des Kollegen Bangemann von der FDP unvereinbar, dann kann ich nur wieder einen Mann, der nicht in Propaganda reden muß und unverdächtig ist, zitieren, nämlich wieder den Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker, der in seinem neuen Buch auf Seite 218 über den Eurokommunismus sagt: Vom liberalen Denken her muß die Integration auch der Kommunisten in die repräsentative Demokratie, der langsame Abbau ihrer Intoleranz durch Einfügung in ein System der Toleranz, die Nutzung ihres sozialen und moralischen Impulses auch in der Teilhabe an Regierungsverantwortung die richtige Form des Umgangs mit ihnen sein. Ich muß dies nicht teilen. Aber aus der Begründung des Friedensforschers von Weizsäcker ist aus liberalem Denken heraus die These von Horst Ehmke gerade möglich und notwendig. Dies ist das Denken -

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}) ?

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Augenblick, dann können Sie sie stellen. Ich will nur noch anfügen, Herr Kollege Marx: Es ist doch seltsam: Eurokommunisten in Prag loben Sie, und Eurokommunisten in Italien sind für Sie Kommunisten wie eh und je. ({0}) Das ist einfach, logisch falsch, aber auch schlimm. ({1}) Und jetzt bitte die Frage.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Friedrich, kommt Ihnen eigentlich nicht zum Bewußtsein, daß Sie mit Ihrem hier vorgetragenen Anspruch auf die allein seligmachende Friedenspolitik Ihrer Partei und die Regierungskoalition in bedenkliche Nähe zu jenem Satz geraten, den vor kurzem das Politbüromitglied Alfred Neumann in Ost-Berlin sagte, als er formulierte: „Sozialismus und Friede sind zu untrennbaren Begriffen geworden"?

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Jäger, ich weiß nicht, ob Sie nicht empfinden, wie peinlich es für Sie und Ihre Partei ist, daß ein Unionsabgeordneter begründen muß, warum das Wort „Friedenspolitik" nicht in Ihren Reden auftaucht. ({0}) Die klaren Grundsätze der Friedenspolitik, die in der Regierungserklärung genannt werden, bestimmen unseren Weg in Europa, sie sind wichtig für die Fortführung des Entspannungsprozesses und prägen unser Verhältnis zur Dritten Welt, ein Verhältnis, das uns gebietet, ein egoistisches, nur auf sich bezogenes Europa abzulehnen. Von den ersten europäischen Wahlen, die, so wie wir meinen, immer noch 1978 stattfinden können, erwarten wir eine Festigung vor allem der politischen Dimension Europas, aber auch Anstöße zur Reform und Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in der Gemeinschaft. Wenn Europa zwischen den Großmächten leben will, wenn es sich als eine eigene politische Persönlichkeit behaupten will, dann muß es sich als Friedensmacht, als ein Faktor des Gleichgewichts in den internationalen Beziehungen verstehen. Gesellschaftlicher Fortschritt in Freiheit und Eigenverantwortung nach innen und nach außen sind für uns nur denkbar, wenn der Frieden erhalten bleibt. Dabei ist die bloße Abwesenheit von Krieg noch nicht der gesicherte Friede. Deshalb bejahen wir eine bewußt kriegsverhütende Politik. Zusammenarbeit auf allen Ebenen, Kontakte und kultureller Austausch werden nicht den Unterschied der politischen Systeme beseitigen, aber sie sind wichtige und unverzichtbare Elemente einer kriegsverhütenden Politik. Wir stellen ganz eindeutig fest, daß Europas Sicherheit an die Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts gebunden ist. Es gibt auf lange Sicht kein Gleichgewicht ohne die Bündnissysteme. Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft können ihren Sicherheitsinteressen gegenüber dem Warschauer Pakt nur im Bündnis mit den USA gerecht werden. Gegenwärtig ist kein Zeitpunkt abzusehen, zu dem sich das ändern kann, weil die Größenordnungen, und zwar die politischen wie die militärischen, dagegen sprechen. Deshalb müssen wir in der Sicherheitspolitik die nachfolgenden Faktoren und Probleme besonders beachten. Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle, gleichwertiger Abbau der großen militärischen Zerstörungskräfte sind für den Fortgang der Entspannung von entscheidender Bedeutung. Aber - und das ist in Richtung des Warschauer Pakts gesprochen - die Anerkennung des Prinzips der Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts durch den Warschauer Pakt ist für uns unverzichtbare Bedingung. ({1}) So wie es notwendig ist, daß alle Staaten der Gemeinschaft ihren Beitrag für die Sicherheit Europas leisten, müssen auch alle Schritte der Entspannung und Abrüstung - Herr Kollege Mertes, ich komme jetzt zu Ihnen - gemeinsam und in enger Abstimmung vollzogen werden. Das allein ist eine tragfähige Grundlage für die laufenden Abrüstungsverhandlungen. Ich sage das deshalb, weil das fast aufs Wort genau die Ausführungen sind, die der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, im November 1976 auf der Sicherheitskonferenz der sozialdemokratischen Parteien in Amsterdam gemacht hat. ({2}) Deshalb verstehe ich nicht die laufend vorgebrachten Unterstellungen, die Bundesrepublik Deutschland wolle aus den gemeinsamen Bezügen des westlichen Lagers ausbrechen. ({3}) - Einer Ihrer Hauptredner - ich glaube, es war der Kollege Barzel - hat das, wenn ich mich recht erinnere, in der Debatte am 17. Dezember 1976 erklärt. ({4}) Die Verhandlungen über die KSZE-Schlußakte von Helsinki haben gezeigt, wie wichtig es ist, die sich als neutral oder blockfrei verstehenden Staaten in die Entspannungspolitik einzubeziehen. Die künftige Unversehrtheit und bleibende Unabhängigkeit dieser Staaten ist eine wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Weiter: Konflikte der an das Mittelmeer angrenzenden Staaten können den Frieden in Europa gefährden. Auch wenn von diesen Konflikten weitgehend Staaten Nordafrikas und Asiens im Nahen Osten unmittelbar stärker betroffen sind, muß es das Ziel und die Absicht der Staaten der Europäischen Gemeinschaft vor allem in der Europa164 ischen Politischen Zusammenarbeit sein, einen Beitrag für eine dauernde Friedensregelung im Mittelmeerraum und im Nahen Osten zu leisten. Ziel der Entspannungspolitik muß es sein, einen Zustand herbeizuführen, in dem ein militärischer Angriff aus dem Stand unmöglich wird. Nun ist hier das zu erörtern, was für alle Menschen - nicht nur in diesem Lande, sondern auch in Europa und in der ganzen Welt - die sichtbare Kluft der Außenpolitik ist. ({5}) Wir wünschten, daß ein Vertreter, ein Sprecher der Union an diesen Platz hier tritt und erklärt: Wir haben unsere Auffassung vom 25. Juli 1975 korrigiert, und wir stehen heute zu den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki, weil sie das wichtigste Dokument einer friedlichen Zusammenarbeit in Europa und in der Welt ist. Darauf warten wir. ({6}) - Herr Kollege Marx, es geht hier nicht allein um die Prinzipien, sondern es geht inzwischen um die Bewertung. Nun will ich dem, was der neue amerikanische Präsident, Carter, zur Entspannungspolitik sagen wird, nicht vorgreifen. Ich kann es nicht; es wäre schön, wenn wir dies diskutieren könnten. Aber eine Kommission des amerikanischen Kongresses - in der Mehrheit Abgeordnete, die wie der neue Präsident der Demokratischen Partei in den USA angehören - hat einen Bericht zur KSZE vorgelegt. Die Feststellungen dieser Kommission in den USA sind deshalb wichtig, weil in ihnen sowohl eine Bewertung als auch ein Ausblick auf die Folgekonferenz von Helsinki in Belgrad erfolgt. In diesem Bericht heißt es: Die Studienkommission fand, daß europäische Experten in einer Schlußfolgerung über die Vereinbarungen von Helsinki einheitlicher Auffassung waren. Diese Vereinbarungen sind bereits produktiver gewesen, als die westlichen Unterzeichner zur Zeit der Gipfelkonferenz zur Unterzeichnung vor 15 Monaten erwarteten, und ihre potentielle Wirkung für bessere OstWest-Beziehungen auf längere Sicht ist bei weitem bedeutsamer als ihre anfängliche Bedeutung .. Das impliziert die Meinung der Kommission, daß es im Interesse des Westens falsch wäre, den in Helsinki eingeleiteten Prozeß zu beenden, soweit es sich um den wichtigen Prinzipienkatalog handelt. Deshalb spricht sich diese Kommission auch für die Folgekonferenz in Belgrad aus. In diesen Tagen wird der neugewählte amerikanische Präsident seinem Volk neue politische und auch neue moralische Impulse geben. Wir erhoffen uns davon die Stärkung des Friedens, mehr Stabilität in der Wirtschaft und die Fortentwicklung der Demokratie in der ganzen Welt. Unsere freundschaftlichen Bindungen an die USA verhindern aber nicht gute Beziehungen zur Sowjetunion. Wir begrüßen die Klarheit der Auffassung der Bundesregierung in dieser Frage. Die Beziehungen zur Sowjetunion sind im Prinzip gut; wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, sie fortzuentwickeln. ({7}) In der vergangenen Woche hat eine Delegation der SPD Polen besucht und ein durch den Besuch von Edward Gierek vorgeprägtes politisches Klima angetroffen, das von Offenheit und Vertrauen bestimmt war. Der Bundeskanzler, so wurde versichert, genieße in Polen hohes Ansehen. Sie von der Opposition werden das vielleicht als eine banale Bemerkung empfinden. Aber wer weiß, wie schwer die Belastung im polnischen Volk aus dem letzten Krieg ist, der weiß auch, was es bedeutet, wenn im ganzen Land heute noch in Versammlungen über die Ansprache diskutiert wird, die der Bundeskanzler im Fernsehen auch an das polnische Volk gerichtet hat. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Polen haben sich hervorragend entwickelt. Die Ausreise von über 26 000 Deutschen aus Polen im letzten Jahr zeigt, wie ernst es Polen mit der Erfüllung der Vereinbarungen meint. Dies ist zugleich ein sichtbarer Beitrag zur Verwirklichung des Korbes III der KSZE-Schlußakte von Helsinki. Die Beziehungen zur DDR - und ich spreche hier zur DDR insoweit, als die Beziehungen natürlich auch in die Außenpolitik hineinreichen - sind belastet, aber auch für die DDR gibt es im Rahmen des Entspannungsprozesses Grenzen ihres restriktiven Kurses. Weil sie sich in ihren internationalen Beziehungen im Westen, in der Dritten Welt, aber auch im eigenen Lager zu stark isolieren würde, wäre die DDR schuldig an einer langfristigen Stagnation im Entspannungsprozeß. Die Union möchte am liebsten schon jetzt - wir erleben dies bei jeder kritischen Situation - das Scheitern der Entspannung konstatieren, wie sie es immer getan hat, wenn wir in einer kritischen Phase waren. Wir sind nicht bereit, dem zu folgen, weil wir das Erreichte an mehr Menschlichkeit und mehr Humanität nicht aufgeben wollen. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum es für uns unmöglich ist, die Frage einer neuen Deutschlandpolitik überhaupt aufzuwerfen und zu diskutieren. Eine neue Deutschlandpolitik wie jene, von der in der Union gesprochen wird, zu fordern heißt, einen neuen kalten Krieg zu beginnen. Sie erwecken mit dieser Forderung den Anschein, als ob Sie in der Lage seien, die Bedingungen der Weltpolitik, in die die Deutschlandpolitik eingefügt ist, zu verändern. Das ist eine Selbstüberschätzung und eine Täuschung. Niemand hat die Macht und die Kraft, die DDR aus ihrem Bündnis mit der Sowjetunion zu lösen. Im Grunde ist das Problem der Diskussion in diesem Hause, dieses nun fast acht Jahre fortdauernde Aneinander-Vorbeireden, daß sich die Union dem notwendigen BewußtseinswanFriedrich del, der sich in der Welt inzwischen vollzogen hat, verweigert. Gerade zu diesem Bewußtseinswandel hat der Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch - Herr Barzel hat uns darauf angesprochen, und deshalb kann ich es hier zitieren - festgestellt: Die Wiedervereinigung Deutschlands hätte die Wiedervereinigung Europas zur Vorbedingung. Die Ostpolitik der Ara Brandt bedeutete das Opfer westdeutscher Illusionen über diese Tatsachen. Sie bedeutete damit für die Bundesrepublik die Gewinnung eines außenpolitischen Spielraums, der durch die vorangegangene Fixierung auf irreale Forderungen blockiert gewesen war. - Das war Ihre Politik. ({8}) Dieser Realismus hatte zugleich eine moralische Komponente: Wahrhaftigkeit gegenüber dem eigenen Volk, unmißverständliches Bekenntnis zu einer nicht-revanchistischen Politik gegenüber Osteuropa, am eindrucksvollsten symbolisiert in Brandts Warschauer Kniefall. So diente sie dem zur Friedenspolitik notwendigen Bewußtseinswandel. Dies ist der andere Weizsäcker. ({9}) Auf Grund der Weigerung, diesen Bewußtseinswandel mitzuvollziehen, sehen wir die Pflicht der Koalition, die begonnene Friedenspolitik auch bei einer knappen Mehrheit entschieden fortzusetzen. Es ist gut, daß der Bundesrat - hier waren die Väter des Grundgesetzes weise - keine Möglichkeit hat, die Regierung auch bei einer knappen Mehrheit an einer entschieden fortgeführten Friedenspolitik zu hindern. Dies wissen wir. Wir werden diese Friedenspolitik entschieden vertreten. ({10}) Nun will ich hier ganz offen zu dem etwas sagen, was der Herr Kollege Marx zur gegenwärtigen Situation in Europa angesprochen hat: Die Strukturen der Gesellschaft als einer von der Staatsmacht unabhängigen Dimension waren in Osteuropa bis jetzt nicht artikulationsfähig. Dies hat sich geändert, und wir sehen dies als eine Folge des Entspannungsprozesses. Die westlichen Demokratien und die kommunistischen Staaten - dies sollten wir nie vergessen - leben im Entspannungsprozeß nicht unter den gleichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Wir fühlen uns durch den Ostblock nicht sozial, nicht ökonomisch, auch nicht in unserer inneren Staatsstruktur, wohl aber militärisch bedroht. ({11}) Umgekehrt können sich die Staaten des kommunistischen Systems in Osteuropa von den übrigen demokratischen Staaten Europas nicht militärisch bedroht fühlen. Aber sie fürchten offensichtlich immer mehr die nach freier Entfaltung drängenden Kräfte ihrer Gesellschaft. Das ist auf beiden Seiten systemimmanent, ({12}) und von dieser Realität haben wir auszugehen. Entspannungspolitik wird nur möglich sein unter Beachtung aller Bedingungen. Aber, wo immer Menschen bedrängt werden, wo sie durch politische Macht bedroht, verhaftet, verhört, eingesperrt und in ihrer freien politischen und geistigen Entfaltung gehindert oder unterdrückt werden, erheben wir Sozialdemokraten für diese Menschen unsere Stimme, vor allem deshalb, weil wir in der über hundertjährigen Geschichte der Sozialdemokratie selbst so oft die Verfolgten waren. Deshalb sprechen wir für sie. ({13}) - Nur, Herr Kollege Marx, ({14}) wir sprechen hier vor dem Bundestag, aber wir handeln auch. So wie die Machtlage ist, sollte sich nach 20 Jahren Umgang mit Osteuropa herumgesprochen haben, daß jene, die helfen wollen, nicht immer jene sind, die schreien können. ({15}) Dies muß man auch sehen, wenn man Menschen helfen will. Nun las man in den letzten Tagen sehr häufig von einer möglichen Explosion oder von möglichen Explosionen in osteuropäischen Ländern. ({16}) Dabei erwachen Erinnerungen an Ungarn 1956. Wer die Machtlage kennt, auch die damalige vergebliche, auch von außen geschürte Hoffnung, der Westen werde eingreifen, wer sich daran erinnert, was für die Menschen folgte, kann eine solche Explosion nicht wünschen, denn die Menschen zahlten damals einen furchtbaren Preis, ohne zu gewinnen, was sie erhofften. Deshalb erhoffen wir Evolution und nicht Explosion. Deshalb muß in der ideologischen Auseinandersetzung und in der gleichzeitigen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen die Evolution, die schrittweise Veränderung der Systeme hin zu mehr Menschenrechten und zu mehr Freizügigkeit entschieden angestrebt werden. Ich weiß, wer die internationalen Beziehungen unterschiedlicher Systeme ausschließlich ideologisch definiert, z. B. durch die Parole „Freiheit oder Sozialismus", kann solchen Überlegungen nur schwer folgen. Die Parole „Freiheit oder Sozialismus" ist eine, wie Hermann Broch in seiner „Massenpsychologie" bei der Untersuchung des Massenwahns in den 30er Jahren sagte, eine „Siegparole". Sie suggeriert einen neuen Massenwahn, als ob der ideologische Konflikt mit dem Sieg des einen Lagers über das andere enden werde. „Freiheit oder Sozialismus" ist nicht besser als „Sozialismus oder Kapitalismus". Beides halten wir für falsch. Solche Parolen sind falsch und gefährlich, falsch deshalb, weil sie im ideologisch Vordergründigen steckenbleiben, gefährlich, weil solche Siegparolen Haß erzeugen und die Menschheitskatastrophe riskieren: den Sieg des einen Lagers über das andere um den Preis der nuklearen Selbstvernichtung. ({17}) Die Parole „Freiheit oder Sozialismus" beantworten wir mit den Worten „Frieden und Freiheit". Frieden, das ist heute ({18}) der alle Völker, der alle Staaten und Systeme übergreifende Wert. ({19}) Frieden übergreift die Weltkulturen und Kontinente. ({20}) - Herr Kollege Marx, wenn Sie die Fähigkeit hätten, meinen Schluß mit dem zu vergleichen, was ich aus der Neujahrsansprache des Papstes zitiere, wären Sie einer solchen zynischen und höhnischen Bemerkung nicht fähig. ({21}) Frieden ist die unverzichtbare Existenzbedingung der Menschheit. Dazu kommt dann die Freiheit. Freiheit ist unser europäisches Erbe aus griechischer Philosophie, römischem Recht, christlichem Humanismus. Erneuert in der Aufklärung, im liberalen Denken, in der demokratischen Arbeiterbewegung. In den Worten „Frieden und Freiheit" erkennen wir, erkennt meine Fraktion die Politik dieser Bundesregierung. Wir sind der Regierung, dem Kanzler und dem Vizekanzler, dankbar für die Klarheit, mit der sie ihren Willen bekundet haben, eine Politik des Friedens und der Freiheit entschlossen fortzusetzen. Das ist gut für unser Land und gut für Europa. ({22})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, wir treten in die Pause ein. Die Sitzung wird um 14.15 Uhr fortgesetzt. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen vor, daß wir zunächst jene Entscheidungen vornehmen, die für die weitere Konstituierung des Hauses und die Mitarbeit in den europäischen Gremien notwendig sind, Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksache 8/35 Hierzu liegt Ihnen ein interfraktioneller Antrag auf der Drucksache 8/35 vor. Ich frage, ob dazu das Wort gewünscht wird. - Das ist nicht der Fall. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Einsetzung von Ausschüssen - Drucksache 8/36 Ich nehme auf den Antrag Drucksache 8/36 Bezug und frage, ob zu diesem Antrag das Wort gewünscht wird. - Das ist nicht der Fall. Wer dem Antrag, der die Bildung von 19 Ausschüssen vorsieht, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Einstimmig so beschlossen. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament - Drucksache 8/47 Die vorgeschlagenen Kollegen sind auf der Drucksache 8/47 aufgeführt; ich kann wohl darauf verzichten, sie hier zu verlesen. Wird zu dem Antrag das Wort gewünscht oder geheime Wahl beantragt? - Das ist nicht der Fall. Wer der Wahl der im Antrag Drucksache 8/47 genannten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist so beschlossen. ({0}) - Nach den dem Präsidium zugegangenen Mitteilungen ist die Drucksache über Mittag verteilt worden. ({1}) - Ich bedaure das sehr, Herr Kollege Wehner, und bitte die Verwaltung, das nachzuprüfen. Werden hierzu noch nachträglich Bedenken erhoben? - Nein, das ist offensichtlich nicht der Fall. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats - Drucksache 8/48 Ich möchte mich hierzu vergewissern: Ist die Drucksache zu diesem Punkt verteilt worden? ({2}) - Wenn sie verteilt ist, kann dieser Punkt also zur Abstimmung gestellt werden, wobei ich auf die Drucksache 8/48 Bezug nehme, in der die Vorschläge enthalten sind. Es wird kein Antrag auf geheime Abstimmung gestellt. Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zuzustimmen wünscht, die hier aufgeführten Kolleginnen und Kollegen in den Europarat zu entsenden, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses - Drucksache 8/49 Der Antrag lautet: Der Bundestag wolle beschließen: Als Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses werden bestimmt: CDU/CSU Dr. Althammer Vogel ({3}) SPD Becker ({4}) Pensky FDP Ollesch Ich frage, ob weitere Vorschläge gemacht werden. - Das ist nicht der Fall. Es wird nicht beantragt, geheim abzustimmen. Wer dem verlesenen Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich rufe die Punkte 8 bis 11 der heutigen Tagesordnung auf: 8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 141 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 23. Juni 1975 über die Verbände ländlicher Arbeitskräfte und ihre Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - Drucksache 8/10 9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Mai 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß - Drucksache 8/11 10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß - Drucksache 8/12 11. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit ({6}) Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({7}) Rechtsausschuß - Drucksache 8/13 Es handelt sich um von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwürfe. Das Wort wird nicht begehrt. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates bitte ich aus der Tagesordnung zu entnehmen. Ich frage die Mitglieder des Hauses, ob sie mit den vorgesehenen Überweisungen einverstanden sind. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Wir fahren nunmehr in der unterbrochenen Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Aussprache über die Regierungserklärung muß man ganz gewiß keinen Streit vermeiden. Es gibt gewiß Konfliktstoff genug. Aber gerade deshalb, so meine ich, müssen wir nun nicht auch noch dort Streitstoff suchen, wo er eigentlich überhaupt nicht zu finden ist. Tut man das doch, so mauert man sich in völlig unnötiger Weise in Positionen ein, aus denen man dann nur noch schwer wieder hinaus in die Wirklichkeit zurückfindet. Die gewaltsame Suche nach oppositionellen Positionen um jeden Preis führt dann offenbar dazu, daß die, wie ich glaube doch sehr abwegige Meinung ver168 treten werden muß, Europa sei weit hinter die Erwartungen des Jahres 1970 zurückgefallen, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten sei unklar und würde nicht von Belastungen frei bleiben. Das sind wirklichkeitsfremde Behauptungen auf der einen und spekulative Zukunftsbetrachtungen auf der anderen Seite. Die Wahrheit aber sieht ganz anders aus. Die Opposition fordert ein europäisches Parlament, das mit wahrhaft demokratischen Kompetenzen ausgestattet ist und in allen Ländern gleichzeitig und geheim gewählt wird. Die Bundesregierung hat mit ihrer engagierten Europapolitik die Widerstände in den Partnerländern, die dagegen vorhanden waren, Schritt für Schritt abbauen können und damit die Tür zu dem politischen Europa aufgestoßen. ({0}) Was die Opposition an Europapolitik anmahnt, ist also von der Bundesregierung in Wahrheit schon längst erfüllt. Von der Atlantischen Gemeinschaft verlangt die Opposition mehr Ermutigung zum engeren Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten und zur Stärkung des Bündnisses. Das ist fürwahr eine Politik, die die Bundesregierung in den letzten Jahren konsequent verfolgt hat. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben wiederholt vor dem Parlament darüber berichten können und klare Positionen bezogen. Die Opposition hat überhaupt keinen Grund, die Regierung der Untätigkeit auf diesem Gebiet zu zeihen. Auch dieser Teil der Kritik ging also an der Wirklichkeit vorbei. Wenn die Opposition in diesem Zusammenhang allerdings dazu rät, die Regierung müsse nachdrücklicher die politische Bedeutung und die wirtschaftliche Stärke des eigenen Landes ins Spiel bringen, dann melden wir gegen eine solche Politik der Stärke Vorbehalte an. Wir möchten in Europa und in der Welt nicht in jene Ecke geraten, in der man mit dem Finger auf den teutonischen Kraftprotz zeigt. Wir sind uns unserer Stellung, die auf der politischen und wirtschaftlichen Stabilität unseres Landes beruht, durchaus bewußt. Aber wir sollten damit nicht prunken und nicht protzen wollen. Das fordert nur Neider heraus, und darüber hinaus weckt es auch Ansprüche an die Bundesregierung und an unsere Volkswirtschaft, die wir dann doch nicht erfüllen können. Solche unnötigen Enttäuschungen aber sollten wir gemeinsam nicht produzieren. In der Politik gegenüber der Sowjetunion und den Ostblockstaaten wird von der Opposition verlangt, daß wir unsere Unabhängigkeit und politische Handlungsfreiheit bewahren sollen. Ich kann nicht sehen, daß die Bunderegierung auch nur einen Schritt von diesem Wege abgewichen wäre. Die Ostpolitik ist nach Abstimmung und mit Rückendeckung der Partner in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis betrieben worden. Gerade dies hat die Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit in der Vergangenheit gesichert und wird sie auch für die Zukunft bewahren. Wenn die Opposition dabei fordert, daß wir den kommunistischen Partner so sehen sollen, wie er ist, dann ist auch dem voll zuzustimmen. Wir haben die Kommunisten noch nie als fördernde Mitglieder einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung betrachtet, sondern immer als deren erklärte Gegner und Widersacher. Aber wir sind auch bereit, die Kommunisten tatsächlich in der politischen Wirklichkeit zu sehen und als Partner zur Kenntnis zu nehmen. Die Opposition dagegen ist, wie mir scheint, dazu bis heute immer noch nicht bereit, und gerade an dieser Stelle liegt das politische Defizit der Opposition. Was nun die Probleme der Rüstung und der gegenseitigen Abrüstung angeht, so gibt es auch hier zwischen der Haltung der Bundesregierung und der Meinung der Opposition keine Unterschiede. Beklagt wird eine Aufrüstung der Sowjetunion und der Warschauer-Pakt-Staaten, die die Verteidigungsaufgaben kräftig überschreitet. Wir alle sind entschlossen, in angemessener Weise auf diese Bedrohung zu antworten. Die Bundesregierung hat das in den vergangenen Jahren - es darf angemerkt werden: mit Unterstützung der Opposition - bereits getan. Für die Abrüstungsmaßnahmen will die Opposition gewährleistet sehen, daß die Sowjetunion kein Mitspracherecht in den Angelegenheiten der NATO und der Bundeswehr bekommt. Genau dies ist die Position der Bundesregierung. Wenn gleichwohl auch auf diesem Felde der Konflikt gesucht wird, ist und bleibt es ein Scheinkonflikt. Ihre Kritik an der Deutschland- und Ostpolitik begründet die Opposition - hier nun, wie mir scheint, sehr dreist - mit der Unterstellung, die Bundesregierung habe ihre Aufmerksamkeit allzu lange von der eigentlichen Basis unserer Freiheit, nämlich der Europa- und Westpolitik, abgewendet. Aber, meine Damen und Herren, es ist doch einfach absurd, der Bundesregierung ernsthaft ihre aktive Westpolitik bestreiten zu wollen. Im Verein mit den Partnern der Europäischen Gemeinschaft und den Staaten des Atlantischen Bündnisses hat sie die Sicherung unserer Freiheit zum zentralen Inhalt ihrer Politik gemacht. Wenn es gleichwohl in der Europäischen Gemeinschaft und der NATO Probleme gibt, ist dafür ganz gewiß nicht die Bundesregierung verantwortlich. Die Opposition aber muß sich fragen lassen, ob sie weiterhin an dieser Form der Auseinandersetzung festhalten will. Mit Rechthaberei und Besserwisserei wird es kaum gelingen, gerade für diesen Teil der Politik bei unserer Bevölkerung Zustimmung und notwendige Unterstützung zu finden. Im innerdeutschen Verhältnis betont die Opposition die Notwendigkeit der weiteren Absicherung der Positionen Berlins. Genau dies ist der Kern der Zielvorstellungen der Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung und der sie tragenden Koalitionsparteien. Der deutsche Beitrag zur Entspannung ist von der Koalition immer so verstanden worden, daß er der Sicherung Berlins zu dienen hat. Beim Abschluß des Moskauer Vertrages und bei dem in einem Junktim dazu stehenden Viermächteabkommen über Berlin ging es uns vornehmlich auch um die Absicherung dieser gefährdeten Region. Meine Damen und Herren, es ist jetzt vier Jahre her, daß der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geschlossen wurde. Wir schreiben sechs Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages über die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen und sechseinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages. Es könnte nun davon gesprochen werden, daß wir mit dem UNO-Beitritt vor zwei Jahren und der KSZE-Konferenz in Helsinki vor eineinhalb Jahren in die Phase der Konsolidierung dieser Politik eingetreten wären. Aber diese Kennzeichnung wäre in der Tat leider zu freundlich für die harten Interpretationskonflikte, mit denen uns die Ostblockstaaten in der Vergangenheit auf allen Gebieten und auf allen Ebe. nen überzogen haben. Und doch enthält die Schlußakte der Konferenz von Helsinki die für die Sicherung des Friedens in Europa entscheidenden Prinzipien. Die Regierungen der 35 Teilnehmerstaaten haben in politischen Willens- und Absichtserklärungen festgelegt, was für den Rest dieses Jahrhunderts für die Zusammenarbeit zwischen den Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen maßgeblich sein soll. Gleichzeitig wurde von allen Beteiligten anerkannt, daß die Vereinigten Staaten auch künftig in und für Europa handeln dürfen. Die gemeinsame Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland und Berlin als Ganzes hat dadurch eine bedeutsame Ergänzung gefunden. Dies, so will mir scheinen, ist besonders wichtig in einem Augenblick, in dem wir erneut erkennen müssen, daß die sowjetische Regierung offenbar bemüht ist, sich zumindest in Berlin aus dieser Verantwortung herauszustehlen. Die anspruchsvolle Zielsetzung der Schlußakte von Helsinki hat sich in den vergangenen 16 Monaten keineswegs als unerfüllbar erwiesen, und sie ist schon gar nicht als ein bloßer kommunistischer Propagandarummel abzutun, wie die Opposition dies immer noch gern tun möchte. Zugegeben ist allerdings, daß die positiven Ansätze durch ideologischen Meinungsstreit, Rüstungsanstrengungen und durch eine massive Interventionspolitik einerseits sowie durch die Zähflüssigkeit des Normalisierungsprozesses zwischen den beiden deutschen Staaten andererseits negativ überdeckt werden. Verständlich also, daß viele an dem Nutzen der Entspannungspolitik zweifeln. Die alten Vorurteile werden immer wieder aktiviert. Herr Kollege Marx hat in diesem Zusammenhang auf die Menschenrechtsbewegungen hingewiesen. Mit Recht hat er die Not der Menschen in den kommunistischen Staaten, ihre Unterdrückung und Verfolgung angeprangert. Er hat bei dieser Gelegenheit auch auf die große Zahl von Ausreise- und Ausbürgerungsanträgen in der DDR verwiesen und den politischen Mut und das gestärkte Selbstbewußtsein der Menschen in dem kommunistisch beherrschten deutschen Teilstaat herausgestellt - alles mit Recht. Aber das alles ist doch kein Beweis gegen die Politik der Bundesregierung und das gemeinsame Bemühen der freiheitlichen Demokratien, über die Konferenz von Helsinki mehr Bürgerrechte und mehr Freiheiten auch in die kommunistische Welt hineinzutragen. ({1}) Meine Damen und Herren, welch ein Mißverständnis von Politik! ({2}) Die KSZE hat ganz sicher - darüber sollten wir alle Übereinstimmung erzielen können - das Selbstbewußtsein der Menschen auch in den kommunistischen Ländern gestärkt. Gerade dies bereitet den kommunistischen Ländern mehr Schwierigkeiten und schafft ihnen mehr Probleme, als ihnen lieb ist. Der Versuch, die berechtigten Forderungen der Menschen nach Verwirklichung der Prinzipien von Helsinki zu unterdrücken, ist anzuklagen. Aber der Versuch der Opposition, daraus eine verfehlte Politik der Bundesregierung zu machen, ist und bleibt abenteuerlich und absurd. ({3}) Meine Damen und Herren, es war doch das immer noch fortbestehende Problem der Teilung Deutschlands, das uns lange den Weg zu einer aktiven Entspannungspolitik verstellt hat. Erst die sozialliberale Koalition hat 1969 mit dieser Politik ernst gemacht. Der schwierige und mit Risiken behaftete Prozeß der Entspannung hat durch die KSZE neue Impulse erhalten. Diese Impulse werden trotz allen Abgrenzungsspektakels der Kommunisten auf Sicht nicht ohne Auswirkungen auf den Inhalt der Politik und der Beziehungen zu den Staaten der kommunistischen Welt bleiben. Gut entwickelte Wirtschaftsbeziehungen mit einer Verdreifachung des Handels, spürbare Fortschritte bei den Kooperationsvorhaben auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und technischem Gebiet, z. B. bei der Erdgaslieferung, und greifbare Erfolge im humanitären Bereich mit steigenden Aussiedlerzahlen sind im Verhältnis zur Sowjetunion schon jetzt positiv anzumerken. Dem steht der Streit über die Einbeziehung Berlins in zweiseitige Verträge gegenüber. Die der Bundesregierung zugestandene Außenvertretung unterläuft die sowjetische Regierung bislang immer noch durch eine exzessive Ausweitung des Statusvorbehalts. Sie muß einlenken, wenn wiederholte Entspannungsbeteuerungen und -bekenntnisse zur Fortentwicklung der deutschsowjetischen Beziehungen nicht Lügen gestraft werden sollen. Schließlich gelangen die Partner nur so zur strikten Einhaltung und vollen Anwendung, die doch ganz offensichtlich auch Leonid Breschnew so sehr am Herzen liegt. Meine Damen und Herren, in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ist es nach Helsinki nicht gerade zu jenen handfesten Fortschritten gekommen, um die beide Regierungen bemüht sein wollen. Der erwartete Durchbruch blieb aus. Enttäuschungen und bitterböse Ärgernisse überschatten die erfreulichen Resultate der Vertragspolitik. Und dennoch: Die Verbesserung der Zugangswege nach Berlin, die Einrichtung eines neuen Straßenübergangs im Norden der Stadt und die Öffnung des Übergangs Staaken für den Zugverkehr sind Pluspunkte für die Lebensfähigkeit dieser Stadt. Mit dem ersten Kooperationsvertrag hat die Wirtschaft neue Formen der Zusammenarbeit mit der DDR entwickelt. Der gemeinsame Abbau von Braunkohle zeigt ebenfalls, daß mit Konsequenz und gutem Willen sinnvolle Lösungen erreichbar sind. Auch bei der Familienzusammenführung haben höhere Zahlen das erreichte Maß an Verbesserung bekundet. Niemand durfte erwarten und hat wohl auch erwartet, daß sich die politischen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten in absehbarer Zeit grundlegend verbessern würden. Durch die völlig gegensätzliche Position in der Frage der Einheit der Nation ist der harte Konflikt vorgegeben. Während die Bundesregierung an dem Ziel festhält, in Europa auf einen Zustand des Friedens hinzuarbeiten, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, hat sich nach den Erklärungen der Kommunisten in Ost-Berlin das Volk der DDR unwiderruflich für den Sozialismus entschieden. Die sogenannte deutsche Frage hat, so wird in Ost-Berlin gesagt, durch die Entwicklung zweier Staaten ihre endgültige Lösung gefunden. Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister ist dieser anmaßenden Auffassung der Regierung der DDR vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit Entschiedenheit entgegengetreten. Damit ist seitens der Bundesregierung längst das geschehen, was die Opposition auch heute in dieser Debatte wieder von ihr verlangt. Es wäre schön gewesen, wenn der Kollege Marx bei seinem wirkungsvollen Rückgriff auf die Rede des deutschen UNO-Botschafters im Sicherheitsrat auch dieses Faktum nicht verschwiegen hätte. Trotz dieses unauflösbar erscheinenden Widerspruchs gilt es die Politik der Aussöhnung und Normalisierung offensiv weiterzuführen. Die Freien Demokraten werden deshalb nicht nachlassen, um Zustimmung zu einer realistischen Deutschlandpolitik zu werben, selbst dann, wenn berechtigte Empörung wegen kommunistischer Attacken und Aggressionen aufwallt, aufwallen kann, aufwallen muß. Selbst dann werden wir mit Sachlichkeit um eine weitere friedliche Entwicklung ringen. Für die Menschen in unserem geteilten Land ist der Zustand selbst unbefriedigender Beziehungen zur DDR immer noch besser als der mögliche Rückfall in die Zeiten des kalten Krieges. Man hat manchmal allerdings den Eindruck, daß die Verantwortlichen der DDR darauf und daran sind, diesem Rückfall wieder Tür und Tor zu öffnen. Besonders für die Menschen in der DDR steht mit dem Erreichten - in erster Linie mit dem Besuchs- und Reiseverkehr - ein Stück Lebensqualität auf dem Spiel. Wer sich in der Deutschlandpolitik am elementaren Interesse der Menschen in beiden deutschen Staaten orientiert, wird sich daher auch dann nicht beirren lassen, diese Politik konsequent und beharrlich fortzusetzen, wenn die Opposition auf ihrem Gegenkurs verharren sollte. Diese Politik des Ausgleichs ist aber nur dann sinnvoll, wenn auch unsere östlichen Vertragspartner zu einer dauerhaften Zusammenarbeit bereit und fähig sind. Wer aus der Konfrontation in der Zeit des kalten Krieges etwas gelernt hat, muß erkannt haben, daß es einseitige Vorteile auf die Dauer nicht geben kann. Beide Seiten müssen Nutzen aus dem Entspannungsprozeß ziehen können. Die Deklaration der Bukarester Konferenz der Warschauer Paktstaaten zum Viermächteabkommen über Berlin geht in ihrer Interpretation und Tendenz allerdings an diesem Stück Entspannungspolitik, nämlich an dem Inhalt des Berlin-Abkommens vorbei. Demgegenüber ist folgendes festzustellen. Erstens. Das Berlin-Abkommen hat nicht die Grundlage der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte verändert, wie sie nach Kriegsende entstanden sind. ({4}) Zweitens. Die Vertretung der Interessen West-Berlins nach außen wird durch die Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen. Drittens. West-Berlin ist zwar kein konstitutiver Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland und wird auch nicht von ihr regiert. Aber das Abkommen bestätigt ausdrücklich die Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik, die aufrechterhalten und entwickelt werden. An diesen eindeutigen Festlegungen ist nicht zu rütteln. Es ist vielmehr seit der gemeinsamen Erklärung von Brandt und Breschnew vom 21. Mai 1973 verbriefte Übereinstimmung, daß die strikte Einhaltung und volle Anwendung dieses Abkommens eine wesentliche Voraussetzung für eine dauerhafte Entspannung im Zentrum Europas und für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den entsprechenden Staaten, insbesondere zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, ist. Die Bundesregierung hat in vielen Fällen Sinn für Pragmatismus und Flexibilität gezeigt. Aber in essentiellen Fragen des Status von Berlin kann es keine Flexibilität geben. Hier wird die Bundesregierung kein Jota von den vereinbarten Rechtspositionen abweichen. Im übrigen wird sie weiterhin über ideologische Grenzen hinweg die Zusammenarbeit suchen, um ihren Beitrag für eine dauerhafte Sicherung des Friedens in Europa zu leisten. Die Sowjetunion gibt sich einer Täuschung hin, wenn sie an dieser Stelle auf einen Riß im Regierungsbündnis spekuliert, auch wenn unsere Presseorgane mit sogenannten Hintergrundstories dafür immer wieder neue Nahrung liefern. ({5}) Den so beschriebenen nachgiebigen Kanzler und den verstockten oder knallharten Außenminister gibt es allenfalls als Biertischgesprächs-Produkte. Jeder ist auf dem Holzweg, der meint, in Fragen der Außen- und Deutschlandpolitik einen Keil in die Bundesregierung treiben zu können. ({6}) Der Außenminister ist als Hauklotz für derartige Aktionen im übrigen absolut ungeeignet. Es ist gewiß nicht unsere Absicht, das Abkommen auf seine Belastbarkeit zu testen oder gar willkürlich ein Reizklima zu schaffen. Die Bundesregierung wird sich streng im Rahmen des Viermächteabkommens bewegen, dabei jedoch den Spielraum nutzen, den ihr die Westmächte einräumen. Solange die Sowjets dies als Zumutung empfinden, werden wir ihnen dies allerdings weiterhin zumuten müssen. Wir alle tun freilich gut daran, wenn wir hier in diesem Zusammenhang nicht Zweifel an der Haltung unserer Verbündeten, der Westalliierten, nähren. Kritische Äußerungen, wie wir sie aus den Reihen der Opposition gehört haben, in denen von der schlappen Haltung der Verbündeten gesprochen wurde, sind wahrlich nicht angebracht. Die Sicherheit Berlins beruht auf den Garantien der Westmächte. Und die Anwesentheit der Repräsentanten der britischen und der amerikanischen Regierung im vergangenen Jahr, der Besuch des französischen Außenministers in diesen Tagen und der bevorstehende Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten legen beredtes Zeugnis für das Engagement der Alliierten ab. Zweifel sind hier wahrlich nicht angebracht. Es ist an der Zeit, daß die Sowjetunion den Platz Berlin nun allerdings endlich als Ort für wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle und sportliche Kooperation annimmt. Sie sollte an dieser Stelle nicht länger mauern. Auch die DDR hat es trotz ihrer im Comecon gewachsenen Stellung nicht vermocht, ihr Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland zu verbessern. Der große Durchbruch, der nach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit erhofft wurde, ist nicht gelungen. Die deutsch-deutsche Politik bewegt sich nach wie vor in einem Wechselbad. Ganz offensichtlich hat die Führung der DDR in ihrer innenpolitischen Landschaft Schwierigkeiten, die sie dann in der bekannten, bereits geschilderten und mit Recht kritisierten Weise abreagiert. Es ist nicht zu übersehen, daß große Besorgnis über die Kontrollierbarkeit der Meinungsbildung der Bevölkerung in der DDR wie auch in anderen Bereichen des Ostblocks vorherrscht. Hinzu kommt, daß sich die außenpolitische Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion immer wieder neu bestätigt. Für alle SED-Mitglieder ist seit dem 9. Parteitag Treue zur Sowjetunion der Prüfstein; Politbüro-Mitglied Verner hat das so formuliert. Die DDR hat bisher weder die Konferenz von Helsinki mit ihren daraus hergeleiteten Wünschen nach mehr Menschlichkeit noch die Bewegung innerhalb der europäischen kommunistischen Parteien verkraftet. Sie steuert einen merkwürdigen Zickzackkurs. So ist es bisher nicht entschieden, ob sich der mit Honecker identifizierte Kurs durchsetzt, die Vertragspolitik mit der Bundesrepublik Deutschland fortzusetzen, oder ob die Konflikttheoretiker mit der Abgrenzungssucht doch wieder mehr an Boden gewinnen. Den Ausschlag darüber, ob die DDR doch noch einen konsequenten Entspannungskurs nach innen und außen steuern wird, gibt letztlich doch wohl die Sowjetunion. Der Fortsetzung eines konstruktiven Dialogs mit der Sowjetunion und mit der sowjetischen Regierung kommt deshalb ganz naturgemäß ein besonderes Gewicht zu. Dem Besuch des Generalsekretärs der KPdSU in Bonn ist daher eine herausragende Bedeutung zuzuschreiben. Es wäre gut, wenn der ins Stocken geratene deutsch-sowjetische Dialog wieder flottgemacht werden könnte. Das wird nicht um den Preis der politischen Anpassung geschehen, und das ist auch nicht durch einen finanziellen Opfergang zu erreichen. Das läßt sich nur in einem partnerschaftlichen Verhältnis auf der Basis vertraglicher Beziehungen verwirklichen. Dabei muß jegliche Diskriminierung der Vertragspartner und auch der von ihnen vertretenen Teilregionen ausgeschlossen sein. Meine Damen und Herren, die Fraktion der Freien Demokratischen Partei ermuntert die Bundesregierung, ihre Politik der Sicherung des Friedens und der Freiheit und der Bewahrung der sozialen Stabilität in unserem Lande konsequent und energisch fortzusetzen. ({7})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Stauffenberg.

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Friedrich hat vor der Mittagspause seine - wie soll ich sagen - erbaulichen Ausführungen über sein Verständnis von Christentum und Friedenspolitik mit einem Satz beendet, den ich aufgreifen möchte. Er hat nämlich gesagt: „Europa muß sich als Friedensmacht, als Faktor des Gleichgewichts, verstehen." Er fügte dann, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hinzu, Ziel der Entspannungspolitik müsse sein, einen Angriff aus dem Stand unmöglich zu machen. Herr Kollege Friedrich, genau hier ist das Problem des Ansatzes: In diesen letzten sieben Jahren ist das Gleichgewicht in Europa eben nicht stabiler geworden. Ich nehme an, daß nachher in der Aussprache zu verteidigungspolitischen Fragen darüber noch eingehend debattiert werden wird. Die Sowjetunion und ihre Bündnispartner sind heute mehr denn je der Fähigkeit nahe, einen Angriff aus dem Stand heraus vom Zaun zu brechen. Die NATO ist es nicht. ({0}) - Nein, aber wenn vom Gleichgewicht, wenn von Sicherheit und von Frieden die Rede ist und das Gleichgewicht die Voraussetzung für den Frieden ist, muß dies für beide Seiten gelten und nicht nur für die eine Seite, während die andere die Zeit genutzt hat, immer mehr und mehr aufzurüsten. ({1})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Alfons Pawelczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben im Ton des Bedauerns gesagt, die NATO ist nicht fähig, einen Angriff aus dem Stand zu führen. Das hat mich zu dem Zwischenruf gebracht: Soll sie es denn können? Darauf hätte ich gerne eine Antwort.

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Pawelczyk, ich habe die Antwort bereits gegeben: Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, aber wir sollten uns wirklich überlegen, wie die Sicherheit der Freiheit auch im westlichen Teil unseres Kontinents gewährleistet sein kann. Diese Freiheit ist heute nicht sicherer, sondern gefährdeter. Ich sage noch einmal: darüber wird nachher vermutlich in der Aussprache über den verteidigungspolitischen Bereich noch eingehend debattiert werden. Lassen Sie mich zur Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers zurückkommen. In dieser, weiß Gott ja nicht sehr kurzen Erklärung war nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Deutschland-der Außen- und der Sicherheitspolitik gewidmet. Einem guten Teil dessen, was der Herr Bundeskanzler zu diesen Themen gesagt hat, können wir so, wie er es gesagt hat, auch durchaus zustimmen. Das will ich hier gar nicht verschweigen. Offenbleiben freilich zahlreiche Fragen, die nicht oder, wie ich meine, nur unzulänglich behandelt worden sind. So begrüßen wir die Absicht, die Politik der dauerhaften Einordnung unseres Staates in den Kreis der freiheitlichen Demokratien weiterzuführen. Wir begrüßen die Aussage des Herrn Bundeskanzlers über das Atlantische Bündnis. Es ist in der Tat die Grundlage unserer Sicherheit. Wir begrüßen auch seine Aussage zur Bundeswehr, vor allem über die erfolgreiche Erfüllung ihrer friedensbewahrenden Aufgabe seit mehr als 20 Jahren. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß diese Aussage allein nicht ausreichend ist angesichts der immer mehr zunehmenden tödlichen Bedrohung des Westens durch die militärische Aufrüstung der Sowjetunion. Wir begrüßen das, Herr Bundeskanzler, was Sie über die ausgezeichneten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten gesagt haben. Wir würden es auch begrüßen, wenn es stimmen sollte, daß dies ein Vertrauensverhältnis ist, das bisher noch nicht gekannt gewesen ist. Wir würden uns auch freuen, wenn dieses Vertrauen nicht etwa durch eine Guillaume-Affäre oder durch die sich mehrenden Pannen beim Bundesnachrichtendienst gelitten hätte, der ja von den Herren Brandt und Ehmke, wie Sie wissen, sehr wirkungsvoll zu vermehrter Transparenz umstrukturiert worden ist. Wir freuen uns, wenn dieses amerikanische Vertrauen zu uns auch nicht durch die etwas eigenwilligen Vermittlungsdienste des Herrn SPD-Parteivorsitzenden bei den Wiener MBFR-Verhandlungen leidet. Allerdings - ich glaube, das ist unser Recht und unsere Pflicht - sollten wir daran erinnern, daß dieses Vertrauensverhältnis durch Konrad Adenauer begründet worden ist und mancher ideologiebedingten Belastung standgehalten hat, weil es eben so tief in beiden Völkern verankert ist. Konrad Adenauer war es, der nicht nur seine Politik eine Politik des Friedens und der Freiheit hat nennen können, Herr Friedrich, sondern der auch Erfolg gehabt hat mit der Sicherung von Frieden und Freiheit durch seine Politik mit der CDU/CSU. Wenn aber dieses gegenseitige Verständnis zwischen den beiden Ländern heute so groß ist, dann frage ich: Wollen Sie es nicht nutzen, um die atlantische Partnerschaft auszubauen und das Verteidigungsbündnis zu stärken, und zwar in anderer und konstruktiverer Weise als Sie die Vorschläge des jetzt scheidenden amerikanischen Außenministers vor vier Jahren behandelt haben? Ähnliches gilt auch für den großen Aufbruch zur europäischen Einigung mit dem klaren Ziel - ich möchte das wiederholen - eines politisch geeinten Europa, und das gilt auch für die deutsch-französische Freundschaft. Aber für beides hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung nicht mehr als gewissermaßen protokollarische Anmerkungen bereit. Es fehlen die Vorschläge, und es fehlt die Konzeption, wie es da weitergehen soll. Deswegen genügt es nicht, gewissermaßen die Zustimmung zum Tindemans-Plan nachzuholen. Nicht die Zustimmung ist notwendig, sondern die Aufnahme dieser Vorschläge zur Verwirklichung, die wir erwarten, weil es höchste Zeit ist, im politischen Europa voranzukommen. Wenn es nur bei diesen mehr unverbindlichen Lobworten bleibt, muß man sich fragen, ob das nicht letztlich mehr ein Nachruf oder eine Grabrede gewesen ist, als Sie damals den Vorschlägen des belgischen Ministerpräsidenten zugestimmt haben. Wenn ich bei Europa bin, auch noch ein weiteres Wort: Verhandlungen mit weiteren Ländern über den Beitritt zur Gemeinschaft können eben kein Ersatz für qualitative Fortschritte im europäischen Einigungswerk sein, so wie es in den Römischen Verträgen festgehalten ist und wie es die Pflicht deutscher Politik, jeder Bundesregierung und jedes Bundeskanzlers ist, dies durchzuführen. Noch ein Wort zu den europäischen Wahlen, über die Sie gesprochen haben. Müssen wir die Bundesregierung - und da hätten wir gerne Auskunft - so verstehen, daß sie einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der allein auf dem Prinzip der Bundesliste basiert? Wenn dies so wäre, würde die Bundesregierung die Ära der unmittelbaren europäischen Demokratie mit dem anonymsten, mit dem bürgerfernsten Wahlsystem beginnen, und das wäre kein überzeugender Beitrag, um „das politische Europa dem Bewußtsein unseres Volkes näherzubringen", so wie Sie es ausgeführt haben. Meine Damen und Herren von der Koalition, wir sind mit Ihnen durchweg für eine Politik der Entspannung, vorausgesetzt, daß es eine Politik ist, die zur realen Entspannung führt. Wir sind mit Ihnen auch einig in dem Ziel einer guten Nachbarschaft mit dem Osten. Das erfordert aber, daß das Ziel in erster Linie die gute Nachbarschaft mit den Völkern des Ostens sein soll. Das erfordert sicherlich auch korrekte Beziehungen zu den Regierungen des Ostblocks, auch wenn diesen durchweg die demokratische Legitimation fehlt. Die Hauptursache aber, meine Damen und Herren, für die friedensbedrohenGraf Stauffenberg den Spannungen in der Welt und in Europa liegt doch gerade in der Herrschaftsform des Kommunismus selbst. In dieser Herrschaftsform verbindet sich großrussischer Imperialismus mit weltrevolutionärer Ideologie. Ohne den Abbau dieser Art von Herrschaftsform bleiben alle Entspannungsbemühungen leider - ich sage bewußt: leider - Stückwerk, oder sie werden zur lebensgefährlichen Illusion. Herr Bundeskanzler, Entspannung wird lebensgefährlich, wenn sie zum Selbstläufer wird und letztlich nur der Sicherung kommunistischer Gewalt über Menschen dient. Diese kommunistische Gewaltherrschaft im Osten wird an keiner Stelle der Welt von außen bedroht, am wenigsten von der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist nur bedroht vom Freiheitswillen aus dem Ostblock selbst. Der Herr Bundeskanzler hat zu Recht betont, daß das militärische Potential des Warschauer Pakts weit größer ist als sein Verteidigungsbedarf. Die Völker Polens und der Tschechoslowakei machen sich vermutlich ihre eigenen und bitteren Gedanken über das Militärpotential der DDR, die ja niemand bedroht. Daher begrüßen wir es, daß der Herr Bundeskanzler auf der Grundlage der gemeinsam im Bündnis entwickelten Zielsetzungen Schritte angekündigt hat, die zum Abbau der militärischen Konfrontation in Europa führen sollen. Wir wissen um die gegenwärtigen Gefahren, und wir wissen uns darin, Herr Bundeskanzler, mit so hervorragenden amerikanischen Fachleuten - um einmal andere zu nennen, als heute schon genannt worden sind - einig, wie Dean Rusk, Paul Nitze, Eugene Rostow, Botschafter Fowler und ehemaligen Oberbefehlshabern der NATO, deren „Committee on present danger" wir dem besonderen Studium der Bundesregierung empfehlen, auch, Herr Bundeskanzler, dann, wenn es darum geht, die Unterstützung der gemeinsamen westlichen Verhandlungsposition innerhalb Ihrer eigenen Partei oder bei Ihrem Parteivorsitzenden zu finden. Meine Damen und Herren, gerade um des Friedens willen begrüßen wir es, daß die Auseinandersetzung der Ideologien im friedlichen Wettbewerb ausgetragen werden soll. Bei der Belgrader Überprüfungskonferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wird die Bundesregierung dazu Gelegenheit haben. Wir setzen voraus, daß sie dabei eindeutig und unmißverständlich auf der Seite der Menschen stehen wird, denen die fundamentalen Menschenrechte noch immer verweigert werden. Es warten noch immer ungezählte Menschen - das ist heute schon mehrfach gesagt worden - auf die Erfüllung der Erklärung des Korbes III von Helsinki, auf die Erfüllung der Menschenrechtspakte, auf die Erfüllung der UN-Menschenrechtscharta. Wenn Sie so eindeutig Menschlichkeit und das Recht einfordern, Herr Bundeskanzler, dann brauchen Sie auch nicht den Vorwurf des Herrn Brandt zu scheuen, Sie würden etwa „anklagende und unverbindliche Reden zum Fenster hinaus" halten, so wie er es in seiner ersten Intervention vor Weihnachten gesagt hat. „In Europa nach Helsinki sind der Belastbarkeit der Beziehungen Grenzen gesetzt"; das sagte Herr Brandt. Aber das gilt auch etwa für die Ausweisung unliebsamer Journalisten oder für die belagerungsähnliche Situation an der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin. Diese Grenzen der Belastbarkeit müssen Sie, müssen wir alle deutlich markieren; denn es geht hier um die Wahrheit, es geht um die Klarheit, es geht um wirkliche, um reale Entspannung und nicht um Entspannung als einen vagen ideologischen Begriff. Diese Grenzen der Belastbarkeit, Herr Bundeskanzler, lassen sich auch nicht durch die Ankündigung sogenannter neuer Sachbeiträge in Belgrad verwischen. Wir haben Anlaß zu dieser frühzeitigen Warnung, und zwar aus allen Erfahrungen mit der bisherigen Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition. Insbesondere haben wir Anlaß dazu durch die Ausführungen des Herrn Kollegen Brandt zu diesem Thema. Die Ankündigung neuer Verhandlungen und neuer Verträge, die man vielleicht abschließen will, ist kein Alibi für das Ausbleiben realer Ergebnisse aus der bisherigen Politik. Solche Ankündigungen sind auch keine Entschuldigung dafür, daß man um des „Atmosphärischen", wie es immer wieder genannt wird, willen der rauhen Wirklichkeit ausweicht. ({0}) Oder mit anderen Worten - um die Worte des Herrn Bundeskanzlers zu benutzen -: das „Prinzip Hoffnung" allein ist kein Ersatz für tatsächliche Menschlichkeit oder für enttäuschte Hoffnungen auf bestehendes Recht und auch kein Ersatz für reale Sicherheit. Gerade im Zusammenhang mit den außenpolitischen Aktivitäten des SPD-Parteivorsitzenden hätte der Herr Bundeskanzler etwas mehr zum Problem des sogenannten Eurokommunismus sagen müssen. Herr Brandt hat diesen Begriff „Eurokommunismus", ganz harmlos in seiner Art, genannt, ({1}) und er hat ihn mit dem Stimmenzuwachs der französischen Sozialisten in Verbindung gesetzt. Eurokommunismus also als Mehrheitsbeschaffer für sozialdemokratische oder sozialistische Parteien! Das ist doch sehr ernst, was hier angekündigt worden ist. Herr Brandt kann uns sicher auch sagen, ob Herr Mitterand wirklich auf die angebliche Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei Frankreichs vom Kreml baut. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist einmal ausgerechnet worden: Wenn die Kommunistische Partei Frankreichs all ihre Aktivitäten aus Mitgliedsbeiträgen bezahlen würde - so hat es Herr Marchais gesagt -, dann müßte der jährliche Beitrag pro Mitglied um die drei- bis viertausend DM liegen; aber dies glaubt ja wohl kaum einer. Wer könnte denn eigentlich, wenn man schon an die Mehrheitsbeschaffertheorie denkt, vergessen, welch kleine Kader genügen, um eine kommunistische Regierungsbeteiligung in eine kommunistische Alleinherrschaft umzuwandeln! Die Tschechen und die Slowaken können uns das, obwohl es nun bald 30 Jahre her ist, aus sehr lebendiger Erinnerung immer noch sehr deutlich sagen. Ich will ein Wort von Herrn Brandt aufgreifen: Mit „Petitessen" dem Eurokommunismus Pari zu bieten, ist einfach lebensgefährlich. Die bloße Diskussion über die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit westeuropäischer Kommunistischer Parteien von Moskau führt doch in die Irre. Die Grundmaxime des Kommunismus - östlicher oder westlicher Prägung - werden Sie mit Freundlichkeit, mit Entgegenkommen nicht verändern. Diese Grundmaxime bedeutet: Gewalt gegen Demokratie, Freiheit und Menschlickeit. Wo die Kommunisten diese Grundmaxime aufgeben, sind sie eben keine Kommunisten mehr. Aber wir haben bei keiner westeuropäischen Kommunistischen Partei auch nur den Schimmer einer Aussicht, daß sie sich in dem Sinne „freiheitlich" wandeln wird und damit dem Kommunismus abschwört. Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat einen Unterabschnitt seiner Erklärung mit der Überschrift versehen: Lage der Nation. Kollege Werner Marx hat darauf schon hingewiesen. Er hat darauf hingewiesen, daß das nicht nur dürftig war, sondern daß es nicht ein Ersatz für den Bericht zur Lage der Nation im gespalteten Deutschland sein könne, der jährlich, und zwar jeweils im ersten Vierteljahr, vorzulegen ist. Wir erwarten diesen Bericht in hinreichender Ausführlichkeit und Präzision. Herr Bundeskanzler, in den sieben Punkten der Zusammenfassung kommt „Deutschlandpolitik" bei Ihnen überhaupt nicht mehr vor. Oder sollen wir das so verstehen, daß Deutschlandpolitik in der Zwischenzeit zu einem Untertitel von Außenpolitik geworden ist? Diese Regierungserklärung verträgt sich so, wie sie da steht und Sie sie gehalten haben, weder mit dem klaren Auftrag aus der gemeinsamen Resolution vom 17. Mai 1972 noch mit dem Grundgesetz, wie es uns das Bundesverfassungsgericht klar in Erinnerung gerufen hat. Ich finde in dieser Erklärung nichts über das Deutschland jenseits von Oder und Neiße und das Schicksal unserer Mitbürger dort. Dafür spricht Herr Brandt von „Rücksiedlern", meine Damen und Herren. Bei jenen, die aus ihrer Heimat weg müssen, spricht er von Rücksiedlern. Ich finde, das ist eine zynische Formulierung, um Moskau zu gefallen, und sonst überhaupt nichts. ({2}) Was tut die Bundesregierung für die Volksgruppenrechte? Was tut die Regierung für die Anwendung der UN-Menschenrechtspakte in der DDR? Was wird sie tun, um unsere Mitbürger gegen den Terror zu schützen, die im Vertrauen auf die Schlußakte von Helsinki die „Ausreise" oder „Ausbürgerung" aus der DDR beantragt haben oder beantragen wollen? Die Praxis der DDR ist nicht nur, wie Sie, Herr Bundeskanzler, es gesagt haben, an der Grenze durch Deutschland ohne Beispiel in Europa, sie ist vielmehr unmenschlich und grausam in allen Landstrichen, die die SED beherrscht. Oder - diese Frage muß ich stellen - reicht der Blick der Bundesregierung für die Nation nicht mehr über die Zonengrenze hinaus? Enthält die Regierungserklärung alles, was zu Berlin zu sagen ist? ({3}) Ich hoffe, daß auch darüber im einzelnen noch zu sprechen ist. Was heißt denn eigentlich diese schon zur Leerformel werdende Floskel, die immer wiederholt wird, nämlich „strikte Einhaltung und volle Anwendung" des Viermächteabkommens? Den Berlinern ist nicht geholfen, wenn man diese Formel ständig wiederholt, sondern sie wollen wissen, was darin enthalten ist und was die Regierung dafür tun will. ({4}) Wie steht es beispielsweise um die Nationalstiftung und ihren Sitz in Berlin? Auf all diese Fragen und viele mehr erwarten wir Auskunft im Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland. So heißt der Titel: „Lage der Nation im gespaltenen Deutschland", worüber Sie bitte berichten mögen. Noch einen anderen Punkt möchte ich aus diesem Unterkapitel Deutschlandpolitik oder „Lage der Nation" ansprechen. Herr Bundeskanzler, Sie sprechen so sehr neutral von Gegensätzen und Unterschieden zwischen den beiden Staaten und Gesellschaftsordnungen. Kann man so erklären, was in Wirklichkeit der bittere Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und totalitärer Herrschaft ist? Das kann man doch nicht einfach mit dieser sprachlichen Wohlgefälligkeit übergehen. Herr Bundeskanzler, das ist allenfalls die Sprache eines Maklers, der gewissermaßen über den Parteien steht, am Abschluß des Geschäfts, aber nicht an seinem Inhalt interessiert ist. Das ist nicht die Sprache eines Bundeskanzlers, der die Freiheitsinteressen des ganzen deutschen Volks zu wahren hat. ({5}) Wenn man es sich genau anhört und überlegt, so stellt man fest, daß es die Sprache eines Mannes ist, der in Wirklichkeit nichts anderes mehr tut, als sich nicht sehr überzeugend gegen den Alleingeltungsanspruch der SED zur Wehr zu setzen, wenn es da heißt: Die SED möge doch bitte unsere Vorstellungen ebenso ertragen, wie wir ihre Vorstellungen ertragen. Soweit ist es inzwischen mit der Selbstdarstellung der freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland schon gekommen! Was versteht der Bundeskanzler unter der Formel: Zusammenarbeit unter der gegenseitigen Respektierung von Interessen? Da beginnt doch erst die Problematik. Was sind denn die von Ihnen respektierten Interessen der DDR? Sind es die Interessen der Machthaber oder sind es die Interessen der Menschen dort drüben; denn diese beiden sind nicht identisch, sie stehen in einem unauflöslichen Widerspruch zueinander. Hierzu hätten wir gern eine deutlichere Erklärung. Ich möchte noch einen Gedankengang zu dieser Regierungserklärung ausführen. Der Herr BundesGraf Stauffenberg kanzler äußerte sich abfällig über das, was er „lautstarke Sonntagsreden" nannte, und in ähnlichem Sinne - „Reden zum Fenster hinaus" oder ähnlich - äußerte sich Herr Brandt. Dann nahm der Herr Bundeskanzler, nachdem er von Herrn Kohl, von Herrn Strauß wegen seiner unklaren und undeutlichen Sprache angesprochen worden war, vor Weihnachten in einer Intervention das Wort. Wenn es einen roten Faden in dieser Intervention gab, dann war es seine Apologie für die Unklarheit, die Interpretationsfähigkeit und die Unbestimmtheit der Regierungserklärung, also all das, was wir aus der leidvollen Erfahrung mit Herrn Bahr und der Ostpolitik in allen Verhandlungen und Verträgen mit dem Osten kennen: Unklarheit, Interpretationsfähigkeit und Unbestimmtheit. Das versuchte er in seiner Intervention gewissermaßen zur höheren Staatskunst emporzustilisieren. Nur an einer Stelle ist der Herr Bundeskanzler sehr konkret geworden. Für das ferne südliche Afrika verlangte er eine Verfassungsänderung, die baldige Verwirklichung der Herrschaft der Mehrheit und gleichzeitig die Sicherung des Schutzes der Minderheit. Ich wäre damit einverstanden; denn wir haben die Politik der Apartheid nie begrüßt oder uns zu eigen gemacht. Es ist nur die Frage, warum dieses deutliche Wort nur an das südliche Afrika gerichtet war. Oder gilt dieser Satz - sagen Sie es bitte ({6}) in gleicher Weise etwa für Vietnam, für Laos, für Kambodscha, wo nach der sogenannten Befreiung Hunderttausende von Menschen hingemordet worden sind. ({7}) Wenn der Bundeskanzler über Südafrika spricht, müßte er wenigstens auch über das Schicksal der Menschen in Indochina sprechen. ({8}) Wenn wir beim direkt vom Grundgesetz vorgeschriebenen Verantwortungsbereich bleiben, stellt sich die Frage, ob der Satz „Herrschaft der Mehrheit und Schutz der Minderheit" auch für die DDR gilt. Wenn das der Fall ist, so fragt es sich, warum Sie es dann nicht sagen. Aber Sie können es ja noch nachholen. Oder sind solche Forderungen für Gebiete tabu, in denen kommunistische Diktaturen ihre Macht bereits etabliert haben? Diese Frage muß hier wirklich gestellt werden. ({9}) Gehören die Flüchtlinge, Herr Bundeskanzler, die vor den neuen Machthabern in Angola und Mozambique und vor den kubanischen Bajonetten Zuflucht in Südwestafrika oder in, wie Sie vielleicht sagen werden, Namibia suchen, zu einer Mehrheit oder einer Minderheit in dem von Ihnen gebrauchten Sinn? Und was passiert mit den Flüchtlingen, wenn die „Befreiungsbewegungen" im Sinne so vieler „Befreiungen" nun auch Südwestafrika befreien? Werden die dann auch geschützte Minderheit sein oder Teil der herrschenden Mehrheit? ({10}) In diesem Zusammenhang gleich eine Frage an den Herrn Außenminister. Herr Minister Genscher, wann sprechen Sie einmal ein ernstes Wort mit Ihren ausländischen Kollegen, ({11}) wann sprechen Sie ein ernstes Wort ({12}) mit Ihren ausländischen Kollegen über unser Verständnis von Demokratie und Menschenrecht, mit jenen Kollegen, die, man kann nur sagen, in frivolen Resolutionen uns, die Bundesrepublik Deutschland, des Kolonialismus und des Imperialismus und des Rassismus bezichtigen und diese ihre Konferenztätigkeit auch noch immerhin mit den Geldern des deutschen Steuerzahlers finanzieren lassen? ({13}) In den vergangenen Wochen war viel zu lesen über die Wirkungen der Helsinki-Schlußakte auf die Menschen in den Ostblockstaaten und auf unsere Landsleute jenseits des Eisernen Vorhangs. Manche Redner der Koalition haben die Zeichen des neuen Muts und des Selbstbewußtseins im Ostblock als Beweis für den Erfolg der KSZE gewertet. Aber die Menschen drüben haben nur Mut schöpfen und Zuversicht gewinnen können, weil sie von Helsinki und den Erklärungen dort gehört haben, z. B. auch durch den Deutschlandfunk. Sie haben die Erklärungen nicht als „Sonntagsreden" oder als „Reden zum Fenster hinaus" begriffen und schon gar nicht als „bloßen Formelkram". Der Herr Breschnew - trotz aller seiner Macht - fand es angezeigt und nützlich, seinen Genossen Corvallan feierlich zu empfangen. Er demonstrierte die Solidarität der Kommunisten in aller Welt. Im Gegenzug will der Herr Regierungssprecher Bölling einen Bukowski nicht „überbewerten", wie er in, wie ich meine, unerträglich öliger Weise formuliert hat. Vielleicht wird sich der Herr Breschnew demnächst persönlich bei Herrn Bölling bedanken. Wenn der Herr Bundeskanzler Herrn Bukowski und Herrn Maximow und Herrn Solschenizyn nun empfangen würde, könnte er als westlicher Regierungschef ein Zeichen setzen und erkennbare Solidarität mit den Opfern der Unfreiheit zeigen. Oder fürchten Sie etwa, Herr Bundeskanzler, daß dann die Atmosphäre beim bevorstehenden Besuch des Herrn Breschnew gestört würde? Ich sage dies alles, weil Ihnen niemand vorwerfen kann, Herr Bundeskanzler, daß Sie das Wort gering achten; dazu haben Sie in Ihrer Erklärung viel zu viele Worte gemacht. Aber es scheint, daß Sie das klare, das erkennbare, das bestimmte Wort dort fürchten, wo Sie als Vertreter aller Deutschen und der deutschen Freiheit Flagge zeigen müssen. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung 21/2 Stunden lang geredet. Aber da, wo die Menschen in Deutschland auf Ihr Wort warten, da scheinen Sie die Sprache verloren zu haben. ({14})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Helmut Schmidt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002007

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu einigen der Äußerungen, die von seiten der bisherigen drei Oppositionssprecher gemacht worden sind, ein paar Anmerkungen machen. Ich werde mich dabei zunächst den auf Europa bezogenen Ausführungen zuwenden, will aber gleich sagen, daß mir Ausführungen, wie sie zuletzt eben der Abgeordnete Graf Stauffenberg und vorhin der Abgeordnete Marx zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland gemacht haben, willkommenen Anlaß geben, auch die Entwicklung der letzten vier Wochen, die Entwicklung seit dem Dezember zu kommentieren. Ich muß noch einmal zurückkommen auf eine Auseinandersetzung, die der Herr Kollege Genscher mit Herrn Abgeordneten von Weizsäcker schon geführt hat. Ich habe mit Ihrer liebenswürdigen Genehmigung, Her Kollege von Weizsäcker, das vorläufige Protokoll dessen, was Sie gesagt haben, erhalten. Sie haben erklärt: Die Regierungserklärung steht, ich wiederhole es, unter dem Zweifel, ob Sie sich überhaupt noch zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu einer Politischen Union bekennen. Herr Genscher hat Ihnen vorgehalten, daß dieses Bekenntnis, das Sie verlangen, nun allerdings ausdrücklich und an sehr prominenter Stelle in der Regierungserklärung enthalten war. Sie haben fortgefahren: Mit anderen Worten: Wollen Sie ... die Außen- und die Sicherheitspolitik und sodann auch allgemeine Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik zur Sache der Gemeinschaft machen, und zwar um dem wirtschaftlichen Ansatz Europas sowohl zum wirtschaftlichen Erfolg wie auch zur Erreichung des politischen Ziels zu verhelfen? Dies alles, Herr Kollege von Weizsäcker, sind der Kategorie nach rhetorische Fragen; der moralischen Bewertung nach sind es Fragen, für die Sie keine Rechtfertigung haben, ({0}) denn nichts haben Sie zu der Zeit, in der Ihre Partei in Bonn regierte, dazu beigetragen, daß etwa allgemeine Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik zur Sache der Gemeinschaft gemacht würden; nichts haben Sie beigetragen zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik; nichts haben Sie erreicht in bezug auf die Durchführung von Volkswahlen in ganz Europa für ein gemeinsames Europäisches Parlament. Das alles sind doch Sachen, die erst wir gemeinsam zustande gebracht haben! ({1}) Sie, Herr Kollege von Weizsäcker, haben in einem zentralen Punkt der Regierungserklärung, die in diesem Punkte zugegebenerweise nicht von epischer Breite war - das durfte sie auch nicht sein -, ({2}) in unwahrhaftiger und - ich nenne es so - in unmoralischer Weise argumentiert. ({3}) Es gibt für die europäische Entwicklung der letzten Jahre zwei entscheidende Kriterien. ({4}) Das eine ist: Wer bringt wirklich die europäischen Wahlen zustande? Und ich beantworte hier eine Randfrage des Grafen Stauffenberg gleich mit: Allerdings - und so haben wir es doch in der Regierungserklärung gesagt, Graf Stauffenberg - wollen wir eine Bundesliste. - Wer also bringt die europäischen Wahlen zustande? Und das zweite Kriterium ist: Wer hält in dieser Weltwirtschaftskrise seine eigenen Kräfte - nicht nur die materiellen und die finanziellen, auch die politischen, die geistigen, die konzeptionellen Kräfte - bereit und setzt sie zu dem Zwecke gemeinsamen wirtschaftlichen Handelns in Europa ein, damit der wirtschaftliche Kollaps mit unabsehbaren politischen Folgen vermieden werde? Eine Randbemerkung an die Adresse des Herrn Kollegen von Weizsäcker: Die finanziellen Rechnungen, die Sie aufgemacht haben, waren nicht korrekt; ich erspare mir der Zeit wegen eine Auseinandersetzung damit. Auf volkswirtschaftlichem Gebiet, auf statistischem Gebiet hatten Sie sich schon einmal geirrt. ({5}) Ich bin aber gern bereit, Ihnen einen Brief zu schreiben und in eine Auseinandersetzung einzutreten. ({6}) - Meine verehrten Herren Zwischenrufer von der Opposition, wir würden ja die Rede des Herrn Abgeordneten von Weizsäcker, den wir als Menschen und als Kollegen durchaus schätzen, sehr viel ernster nehmen müssen, wenn innerhalb von drei Viertelstunden ein einziger Ratschlag oder Vorschlag von seiner Seite gekommen wäre. ({7}) Herr von Weizsäcker rühmte sich seiner Freundschaft mit dem neuen Präsidenten der Kommission in Brüssel. ({8}) - Ich habe es so verstanden. Ich wollte das gerade begrüßen. Ich wollte gerade begrüßen, daß Sie ein so gutes Verhältnis zu ihm haben; ich habe nämlich auch ein gutes Verhältnis zu ihm, schon seit über 20 Jahren. ({9}) - Es wäre doch nichts Schlimmes, wenn Sie ein gutes Verhältnis zum Präsidenten der Kommission hätten. Herr Kohl, das wäre doch gut. ({10}) Aber dies ist wohl kein Punkt, über den wir uns streiten müßten. Aber Herr von Weizsäcker hat dann hinzugefügt, wir hätten nicht dabei geholfen, daß der neue Herr Präsident adäquate Kollegen in der Kommission vorfinden würde. Sie haben zwar ein freundliches Wort über die beiden deutschen Kommissare gesagt; aber gleichzeitig haben Sie der Regierung vorgeworfen, daß sie nicht noch bessere entsandt hätte. Nun muß ich Ihnen allerdings sagen: Wir haben im Laufe des letzten Jahres ein bißchen Mühe - ein bißchen viel Mühe - aufgewandt, um diesen - um Ihre Terminologie zu wiederholen, die auch meine schon gewesen war - „erstklassigen Politiker" Jenkins dazu zu bewegen, daß er sich für diese europäische Aufgabe zur Verfügung stellte. Wir erwarten uns einiges davon. Nun müssen wir allerdings genauso, wie wir hier im Deutschen Bundestag das Grundgesetz und die Geschäftsordnung zu beachten haben, auch die Spielregeln in der Europäischen Gemeinschaft respektieren. Ressortverteilungen in Brüssel sind Sache des Gremiums dort, nicht unsere Sache. Ihre Bemerkung, wir hätten - wie haben Sie gesagt? - zugelassen, ({11}) daß die beiden deutschen Kommissionsmitglieder in der Presse hier oder dort abgewertet wurden, war keine aufwertende Bemerkung, Herr Kollege. Im übrigen ist es ja so, daß in Brüssel genauso wie in Frankfurt, genauso wie in Bonn, aber anders als in Ost-Berlin die Journalisten Gott sei Dank schreiben dürfen, was sie für richtig halten, auch wenn es falsch ist. Sie dürfen sogar etwas schreiben, von dem sie wissen, daß es nicht richtig ist. Das soll auch so bleiben. ({12}) Im übrigen finde ich, daß der Herr Kollege von Weizsäcker gestern und vorgestern eigentlich Gelegenheit genug gehabt hat, z. B. mit dem ihm parteipolitisch doch durchaus nicht fernstehenden italienischen Ministerpräsidenten Andreotti und seiner Begleitung über die konzeptionellen, aber auch über die finanziellen und monetären Hilfen zu sprechen, die wir weit über die uns vertraglich auferlegten Pflichten hinaus innerhalb der Europäischen Gemeinschaft europäischen Partnern geben - übrigens ohne daß jemals vorher die christlich-demokratische Opposition in diesem Bundestag eine einzige Anregung in dieser Richtung gegeben hätte. Das haben wir von uns aus gemacht. Wir hören dazu kein Lob; das können wir vielleicht auch nicht verlangen. Aber wenn Sie unsere europäische Arbeit so einseitig darstellen, wie Sie es getan haben, Herr von Weizsäcker, wenn Sie gleichzeitig überhören, wenn ein Mann wie Herr Andreotti unsere Kontinuität in diesem Zusammenhang lobt - viele von Ihnen waren dabei, als er es tat; ich will ihn gar nicht vollständig zitieren -, dann müßten Sie sich, finde ich, in Zukunft entscheiden, ob Sie in ein und derselben Rede zugleich als Fachmann, zugleich als Moralist und zugleich als Polemiker auftreten wollen. Sie können das sehr schwer vereinigen. ({13}) Wenn Sie hier einen einzigen fachlich begründeten Vorschlag vorbrächten - dazu ist ja auch morgen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Debatte Gelegenheit; dazu wäre auch heute noch Gelegenheit -, würde ich persönlich den erhobenen moralischen Zeigefinger und auch noch das bißchen Polemik gern in Kauf nehmen. ({14}) Lassen Sie mich eine Bemerkung über Italien anschließen, weil ich mich verpflichtet fühle, dem Parlament einen - wenn auch naturgemäß kurzen - Bericht zu geben über den Gang der Beratungen mit dem italienischen Partner. Wir haben einen breit aufgefächerten Meinungsaustausch über viele gemeinsam interessierende Fragen gehabt, ein bißchen auch über bilaterale Fragen. An diesem Meinungsaustausch waren auch Personen der Opposition durchaus beteiligt. Ich habe das begrüßt. Wir haben über die Problematik des Nord-SüdVerhältnisses genauso wie über die Problematik des Ost-West-Verhältnisses gesprochen. Nur der Vollständigkeit halber, weil Kollegen wie eben z. B. Graf Stauffenberg meinen, es müßte bei jeder Gelegenheit wiederholt werden oder es müßte immer wieder neu gefragt werden, wenn es nicht von uns aus initiativ wiederholt wird, wiederhole ich auch diesmal, Herr Kollege Stauffenberg, daß sich der italienische Ministerpräsident, die italienische Regierung, und die deutsche Bundesregierung auch einig waren, was die Fortsetzung der Entspannungspolitik angeht, was das Aufarbeiten der Schlußakte von Helsinki und die Konferenz von Belgrad angeht, die bevorsteht, und zwar auf der Grundlage der Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts in Europa, zu dem wir unser Bündnis brauchen, auf der Grundlage der Fortsetzung unserer Verteidigungsfähigkeit durch das gemeinsame Bündnis, dem wir angehören wollen. Es wäre sehr schwierig, da hineinzuinterpretieren, daß es zwischen dem christdemokratischen Ministerpräsidenten Italiens und dem sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch178 land Meinungsunterschiede gäbe, Herr Abgeordneter von Weizsäcker. Das wäre sehr schwierig. ({15}) - Es geht darum, daß doch Erklärungen und Handeln zusammengehören. Sie deklamieren immer nur, aber handeln können Sie leider nicht. Das ist Ihr Pech. Das wurmt Sie, das verstehe ich. ({16}) Welch eine billige Ausflucht, zu sagen: mich interessiert nicht, wie die Regierung handelt, mich interessiert nur, was sie geschrieben hat. Welch eine billige Ausflucht! Sie müssen doch beides zusammen nehmen. (Dr. von Weizsäcker ({17}) Das Handeln geschieht auf einem weitgespannten Aktionsfeld. Man kann in Erklärungen und in Reden immer nur einen Teil dessen behandeln. Aber weil Sie in diesem Punkte insistiert haben, antworte ich ja. ({18}) Der italienische Ministerpräsident, seine Begleitung und die deutsche Bundesregierung haben sich natürlich vor allem anderen mit der wirtschaftlichen Lage beschäftigt - nicht nur der beiden Länder, wobei Italien naturgemäß im Vordergrund stand, sondern der Europäischen Gemeinschaft als ganzer und der weltwirtschaftlichen Lage. Ich brauche Ihnen die Unterschiede von Land zu Land und auch zwischen den beiden Ländern, die gestern und vorgestern hier im Gespräch waren, nicht noch in Erinnerung zu rufen; sie sind Ihnen geläufig. Wir haben uns insbesondere darüber unterhalten, was wir tun können, um zu helfen, um den Kredit des Weltwährungsfonds an Italien zustande zu bringen, um anschließend eine monetäre Hilfe der Europäischen Gemeinschaft zustande zu bringen. Ich muß dem Bundestag auch berichten, daß ich von der Entschiedenheit, von der Entschlossenheit und auch von der innenpolitischen Tapferkeit und Sorgfalt beeindruckt gewesen bin, mit der der italienische Ministerpräsident und seine Regierung unter sehr schwierigen wirtschaftlichen, unter sehr widrigen innenpolitischen Umständen ihr Stabilisierungsprogramm verfolgen, das wir nicht nur im italienischen, sondern auch im gesamteuropäischen und damit auch in unserem eigenen wirtschaftlichen Interesse für sehr wünschenswert halten. Es hat eine sehr weitgehende Übereinstimmung gegeben. Wir haben verabredet, daß ähnlich, wie schon bisher vertraglich fundiert zwischen Paris und Bonn, ebenso - zwar nicht vertraglich, aber durch Übereinstimmung fundiert - zwischen London und Bonn, in Zukunft regelmäßig auch die Regierungen in Rom und in Bonn alljährlich einen sorgfältigen, breiten, bilateralen Kontakt pflegen wollen. Ich hoffe, daß die nächste Sitzung des Europäischen Rats aus Anlaß der 20. Wiederkehr des Abschlusses der Römischen Verträge in Rom zustande kommt, wenngleich unser englischer Freund Calaghan gegenwärtig Ratspräsident ist. Nun hat Graf Stauffenberg gesagt, ich bzw. die Bundesregierung hätte in der Regierungserklärung mehr über den Eurokommunismus sagen sollen. Ich weiß nicht recht, ob dies wirklich die Meinung aller Mitglieder des Hauses ist. Man muß in einer Regierungserklärung ja viele Felder abdecken, und es ist fraglich, wieweit man in einer Regierungserklärung auf die Innenpolitik anderer Staaten, auch wenn sie unsere Verbündeten sind und ein großer Teil von deren Innenpolitik zugleich Innenpolitik Europas ist, eingehen soll. Aber eines ist klar, Herr Graf Stauffenberg: Der Herr Kollege Andreotti und ich waren uns auch einig darin, daß wir es nicht für wünschenswert halten, kommunistische Parteien zu Mitgliedern von Regierungen in Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft werden zu lassen. Das wissen Sie im Grunde auch. Als ich einmal im Laufe des Sommers eine Bemerkung darüber gemacht habe, daß sich die Voraussetzungen für die Vergabe von Krediten an unseren Partner ändern könnten, falls sich die Zusammensetzung der Regierung dort ändern würde, da haben aber Ihre Freunde ein großes Geschrei erhoben und behauptet, das sei unzulässige Einmischung. Das war es nicht! ({19}) Der Herr Ministerpräsident Andreotti und ich haben übrigens auch über diese Sache in übereinstimmender Weise miteinander gesprochen. Ich will zugleich auch ein Wort über einige Eindrücke sagen, die ich kurz vorher auf Grund eines allerdings nur kurzen Besuches beim König und beim Ministerpräsidenten in Madrid gewonnen habe, eines Besuches, der mir auch Gelegenheit gegeben hat, mit dem führenden Mann der sozialistischen Partei, mit Herrn Gonzales, zu sprechen. Ich muß sagen - ich denke, daß ich damit etwas ausdrücke, was von allen hier im Hause geteilt wird -, daß ich von den tiefgreifenden Veränderungen der innenpolitischen Situation in Spanien innerhalb des letzten Jahres oder - sagen wir es genauer - innerhalb der letzten sechs Monate sehr beeindruckt gewesen bin. Die unter dem Einfluß der spanischen Regierung zustande gebrachte Selbstauflösung der noch unter Franco gewählten Cortes und das - nach Jahrzehnten geschieht dies zum erstenmal - Freimachen des Weges zu freien Wahlen, die ein Parlament zustande bringen, das gleichzeitig Constituante zu sein haben wird, halte ich in der Tat für eine erstaunliche Leistung. ({20}) Wenige von uns haben dies heute vor einem Jahr erwartet. Es ist klar, daß bis zur Vollendung jenes Prozesses, der in Spanien eine vollständige demokratische Gesellschafts- und Staatsordnung herbeiführen will, noch vieles zu tun bleibt. Wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist, wird dann auch der Weg für eine Mitgliedschaft z. B. in der Europäischen Gemeinschaft offen sein. Ebenso ist deutlich geworden, daß die wirtschaftliche Lage Spaniens sehr schwierig ist, um ein vorsichtiges Wort zu gebrauchen. Ich hatte aber das Gefühl, daß die Bundesregierung im unausgesprochenen Auftrage aller demokratischen Kräfte unseres Landes spricht und handelt - in gleicher Weise gilt dies auch für die Zukunft -, wenn sie zur Unterstützung dieses Demokratisierungsprozesses in Spanien alles, was in ihrer Möglichkeit steht, leistet und beiträgt. ({21}) In der außenpolitischen Debatte des heutigen Tages ist es auch notwendig und wird es sicherlich von Ihnen gewünscht - Herr Marx hat darauf auch schon eine Bemerkung verwendet -, daß ein Wort über die zukünftige Zusammenarbeit mit der neuen amerikanischen Regierung, mit der neuen Administration unter Präsident Carter, über die Zusammenarbeit auch mit seinem Vizepräsidenten Mondale, seinem Außenminister und seiner ganzen Regierung gesagt wird. Wir haben schon vor längerer Zeit eine durchaus vielfältige persönliche Verbindung zur neuen Administration hergestellt. Herr Mondale und Herr Carter und ich kennen uns nicht erst seit dem amerikanischen Wahltage. Wir sind froh darüber, daß Vizepräsident Mondale uns nächste Woche besuchen wird. Wir sehen diesem Besuch mit großer Erwartung entgegen. Wir sehen überhaupt der Zusammenarbeit mit der neuen amerikanischen Regierung mit großer Erwartung und mit großem Vertrauen entgegen. Ich möchte hier sozusagen in Klammern eine Bemerkung über den Präsidenten, der mit dem morgigen Tage in Amerika aus dem Amt scheidet, und seinen Außenminister machen. Wir haben mit Präsident Ford und seiner Regierung eine sehr gute Zusammenarbeit gehabt. Wir haben in Amerika - wie früher, so auch in den letzten Jahren - auf außenpolitischem Feld, aber auch auf ökonomischem Feld einen hervorragenden und zuverlässigen Partner gehabt. Ich bin ganz sicher, daß dies in der Zusammenarbeit mit Präsident Carter genauso bleiben wird. Es steht uns vielleicht nicht zu, eine bewertende Bemerkung über die innenpolitische Leistung des scheidenden Präsidenten zu machen. Eines will ich hier aber doch sagen. Nach „Watergate" hat es Präsident Ford, wie ich meine, in bemerkenswerter Weise fertiggebracht, in kurzer Zeit das Vertrauen seiner Nation in die Präsidentschaft wiederherzustellen. Damit hat er zugleich auch uns, die wir seine Bündnispartner sind, einen großen Dienst erwiesen. ({22}) Ich habe nicht die Absicht, die Briefe zu veröffentlichen, die aus Anlaß des Scheidens des einen und des Amtsantritts des anderen zwischen uns gewechselt worden sind. Aber ich darf Ihnen versichern, daß das, was ich soeben ausführen durfte, von unseren amerikanischen Partnern ganz genauso bewertet wird - für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Es wird in der Zukunft zwischen uns und der amerikanischen Regierung vornehmlich um die Themen der Fortsetzung der Entspannungspolitik gehen: SALT II, an dem wir natürlich ein existenzielles Interesse haben, ebenso MBFR. Sie wissen, daß Generalsekretär Breschnew gestern in einer Rede in Tula Andeutungen gemacht hat, die möglicherweise gedankliche Ansätze zum Ausdruck bringen sollen, die über SALT II hinausreichen. MBFR gehört dazu oder jedenfalls unmittelbar dahinter. Ich will nicht verschweigen, daß wir auf einem Feld, das vor Jahr und Tag durch den Nonproliferationsvertrag und die zugehörigen Abkommen und Abmachungen endgültig geregelt schien, uns auch in Zukunft mit der amerikanischen Regierung eng zusammensetzen müssen. Es sind Probleme aufgetaucht, die man vor zehn Jahren, als der Nonproliferationsvertrag inauguriert worden ist, nicht so hat kommen sehen. Jedenfalls sind für die Amerikaner Probleme aufgetaucht, die wir ernst zu nehmen haben. Auf der anderen Seite gehen wir in diese Gespräche mit einem sehr guten Gewissen, weil wir unsere Ver- pflichtungen aus dem Nonproliferationsvertrag erfüllt haben und weil wir auch unsere inzwischen eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen erfüllen wollen. Das andere große Thema mit dem amerikanischen Präsidenten - vielleicht sollte man morgen in der wirtschaftspolitischen Debatte darauf zurückkommen - ist die Koordination der ökonomischen Politik der großen Industriestaaten der Welt. Von diesen großen Industriestaaten - Amerika, hier in Europa und Japan - wird einiges erwartet - nicht nur in der öffentlichen Meinung der übrigen Staaten, sondern auch von den Regierungen der übrigen Staaten. Nur der Vollständigkeit halber will ich einige Anmerkungen zur KSZE machen, über die der Kollege Marx ausführlich gesprochen hat. Herr Abgeordneter Marx, ich glaube nicht, daß Sie recht hatten, als Sie ausführten, die Bundesregierung habe im Zusammenhang mit Helsinki euphorische Reden geführt. Das hat sie nicht getan. ({23}) - Dann habe ich Sie mißverstanden. Aber auch mein Vorgänger braucht dieses Adjektiv nicht auf sich sitzen zu lassen. Ohne Willy Brandt nämlich - übrigens auch ohne Walter Scheel - wäre es nie zu Helsinki und zu all den Entspannungsschritten gekommen, Herr Abgeordneter Marx. ({24}) Was Sie bei Ihrer Kritik an dieser Entspannungspolitik immer wieder vergessen machen wollen - und da Ihre Reden hier ja öffentlich gehalten werden, muß darauf noch einmal öffentlich geantwortet werden, auch wenn es schon zum dritten oder zum viertenmal geschieht -, was Sie aber nicht vergessen machen können, ist, daß alles, was auf diesem Feld geschehen ist - z. B. das ganze Paket der Absichtserklärung von Helsinki, der sogenannten Schlußakte - gemeinsam herbeigeführt, erarbeitet, ausgehandelt und unterschrieben worden ist mit allen unseren europäischen und nordamerikanischen Partnern. ({25}) Und von denen werden Sie uns durch Ihre Polemik nicht trennen. ({26}) Gemeinsam mit unseren nordamerikanischen und europäischen Partnern bereiten wir auch die Belgrader Konferenz vor, die ins Haus steht. Der Abgeordnete Graf Stauffenberg hat in Aufnahme einiger Bemerkungen des Abgeordneten Marx über den Korb III gesprochen. Ich teile, Herr Abgeordneter, die von Ihnen aus Zeitungen zitierte Meinung, wonach in manchen Staaten manche Äußerungen von Menschen, die anders als ihre Regierungen denken, in der letzten Zeit eine größere Breite und eine größere Öffentlichkeit als früher erfahren haben. Ich teile die Meinung der hier zitierten Zeitungen, daß dies in der Tat eine der von uns aus betrachtet positiven Wirkungen des Korbes III von Helsinki ist. Das ist in der Tat meine Meinung. ({27}) Ganz sicher ist es ja so, daß niemand behaupten kann - übrigens kann das auch nicht der sowjetische Generalsekretär behaupten; er will das aber auch gar nicht behaupten -, daß nun alles, was an Absichten in Helsinki miteinander festgelegt worden ist, schon verwirklicht sei. Ich komme darauf gleich noch einmal zu sprechen. Der Generalsekretär der sowjetischen KP hat gestern die Entschlossenheit der Sowjetunion betont, ihre Entspannungspolitik fortzusetzen. Er hat in einer Rede ausgeführt, Entspannung sei in erster Linie Überwindung des kalten Krieges und Übergang zu normalen stabilen Beziehungen zwischen den Staaten. Sie bedeute Bereitschaft, Streitigkeiten nicht mit Gewalt, nicht mit Drohung und Säbelrasseln zu lösen, sondern mit friedlichen Mitteln am Konferenztisch. Entspannung bedeute ferner ein gewisses Vertrauen und die Fähigkeit, legitime Interessen der jeweils anderen Seite zu berücksichtigen. ({28}) Ich stelle mit einer gewissen Genugtuung fest, daß sich hier bemerkenswerte Parallelen zu der Definition von Entspannung finden, wie die Bundesregierung sie in ihrer Erklärung vom 1. Juli letzten Sommers über unsere Beziehungen zur Sowjetunion gegeben hat. ({29}) Und wenn ich den Zwischenruf richtig verstanden habe, der von den Bänken der CDU/CSU gemacht worden ist, als ob Worte eben doch nur Worte seien und tatsächlich nichts bewirkten, dann muß ich Sie wirklich fragen, was anderes denn Sie mit Ihren alternativen Politiken für wirksamer hielten, als miteinander zu reden und miteinander zu verhandeln, als den Verzicht auf Drohung und auf Gewalt. ({30}) - Ich bin sehr froh, daß Sie in Erinnerung rufen, daß das ein gemeinsam erarbeitetes Konzept ist. Dann sollten Sie es heute, wo Sie in der Opposition sind, Herr Kollege Marx, nicht in den Papierkorb werfen. ({31}) Ich habe der gestrigen Rede des Generalsekretärs Breschnew mit Interesse und Befriedigung auch entnommen, daß er es als eine große und wichtige Aufgabe bezeichnet hat, die Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland und mit anderen europäischen und nichteuropäischen Staaten weiter zu entwickeln. Nach der Debatte von heute vormittag wird es wahrscheinlich auch für die Opposition von Interesse sein, Herr Abgeordneter Marx, daß der Generalsekretär davon gesprochen hat, es sei nötig, alle Bestimmungen der Schlußakte zu erfüllen, ({32}) daß er der Erfüllung aller Bestimmungen große politische Bedeutung beimesse und daß die Verwirklichung der KSZE-Ergebnisse auf einer Reihe von Gebieten erst am Anfang stehe. Ich halte das in der Tat für zutreffend. Helsinki war der Anfang einer neuen Phase in dem, was wir Entspannungspolitik nennen. Niemand hat erwarten können, daß Helsinki mehr hätte sein können als ein Anfang. Wer sich heute enttäuscht gibt, war doch bis zum Tage von Helsinki in Wirklichkeit jemand, der uns dringend abgeraten hat, diesen neuen Anfang zu versuchen. ({33}) Mir scheint - um diesen Punkt abzuschließen an der Rede des sowjetischen Generalsekretärs von gestern die Offenheit bemerkenswert zu sein, mit der dort von der täglichen Sorge gesprochen wurde, die man sich mache, und von den Schwierigkeiten, die es dabei gebe, alle Bestimmungen der Schlußakte zu erfüllen. Herr Breschnew hat dann noch hinzugefügt, es sei ganz natürlich, daß in einigen Richtungen bisher mehr erreicht worden sei, während in anderen „die notwendigen Maßnahmen allmählich ausgeführt oder erst formuliert werden".

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ({0})?

Helmut Schmidt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002007

Bitte sehr.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, ich habe noch im Ohr, wie Sie bei Ihrer Rede in Helsinki erklärt haben, daß die Glaubwürdigkeit eines jeden einzelnen Regierungschefs, der hier unterschrieben habe, von der Verwirklichung dessen abhänge, was in dieser Schlußakte von Helsinki stehe. Werden Sie den Partei- und Regierungschef der Sowjetunion, der dort unterschrieben hat, bei seinem Besuch in der Bundesrepublik daran erinnern, daß ein Großteil seiner Glaubwürdigkeit durch die Weigerung, diese Punkte nun wirklich zu erfüllen, bereits geschwunden ist?

Helmut Schmidt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002007

Zum ersten muß ich Ihnen recht geben: Sie haben, wenn ich es recht beurteilen kann, mich aus dem Gedächtnis völlig korrekt zitiert; und ich bin heute derselben Meinung wie damals. Zum zweiten: Wenn Herr Breschnew nach Bonn kommt, werden wir in der Tat darüber reden. Allerdings würde ich mir den Ausdruck, er weigere sich, etwas zu erfüllen, was er unterschrieben habe, keineswegs - weder in diesem Gespräch noch hier im Deutschen Bundestag - zu eigen machen wollen, Herr Kollege. Eine solche Weigerungserklärung bliebe ja abzuwarten. ({0}) - Die Sowjets haben eine andere Sprache als wir, und Sie haben eine andere Sprache als wir. Und wenn die verantwortliche deutsche Bundesregierung mit Vertragspartnern so reden würde, wie Sie hier reden, wäre Schluß mit der Entspannung und mit dem Frieden in der Welt. ({1}) Ich greife in dem Zusammenhang ein Wort des Abgeordneten von Weizsäcker auf, der gesagt hat und das war sicherlich eine sehr eingängige Formulierung -, es könne keine historischen Kompromisse mit Gegnern der Freiheit geben. Mir ist nicht ganz klar geworden, ob das innenpolitisch, außenpolitisch oder europapolitisch gemeint war. ({2}) Je nachdem, für welches Feld diese Bemerkung gefallen ist, muß man sie etwas differenziert bewerten. Natürlich braucht man, wenn man Frieden halten will, auch bei sich selbst den Willen zum Kompromiß mit Regierungen von Staaten mit völlig anderen Staats- und Gesellschaftsformen und völlig anderer Ideologie oder Philosophie. Wer diesen Kompromißwillen nicht aufbrächte, der würde in der Tat seine - um das Adjektiv noch einmal aufzunehmen - historische Aufgabe verfehlen. ({3}) - Wenn ich es so auffassen darf, bin ich einverstanden. Es wäre aber gut, Sie würden das nächste Mal noch ein bißchen ausführlicher ({4}) - Herr Kollege, ich nehme das gern entgegen. Allerdings möchte ich dann wissen, was an demselben Vormittag die Bemerkung des Herrn Kollegen Marx bedeutet, wenn er warnt vor „Huldigungen gegenüber dem Kommunismus". Wer ist damit gemeint? ({5}) Das ist doch dasselbe, wie wenn ich in einer großen deutschen Tageszeitung von der „Demut vor dem Kommunismus" lese, die „nicht zum Regierungsprogramm werden" dürfe. ({6}) Da hat doch Professor Ehmke völlig recht gehabt: Ihr habt nichts anderes im Kopf als „Freiheit oder Sozialismus". Zu mehr reicht es geistig nicht. ({7}) Aber ich will Ihnen meine eigene Antwort hier nicht verschweigen: Das Verhältnis zu den Kommunisten ist auf den verschiedenen Ebenen - innerhalb des eigenen Staates, innerhalb Europas oder weltweit international - von drei verschiedenen Maximen zu prägen. Erstens. Um der Freiheit willen müssen wir im Innern unseres Staates Gegner der Kommunisten sein. Das bleiben wir; da lassen wir uns von Ihnen gar nichts vorexerzieren. ({8}) Zweitens. Um des Friedens in der Welt willen müssen kommunistische Staaten unsere Vertragspartner sein und werden. ({9}) Drittens. Um der Demokratie und um des Fortschritts auf der Welt wegen müssen wir die Kommunisten als unsere Konkurrenten betrachten, denen gegenüber wir bessere Mittel, bessere Konzepte und bessere geistige und materielle Waffen und Ordnungen haben, um diese Konkurrenz zu bestehen. Ich möchte ein paar Bemerkungen machen, antwortend auf Herrn Marx und Graf Stauffenberg, zur aktuellen Deutschlandpolitik. Den Bericht zur Lage der Nation, Herr Abgeordneter Marx, der Anfang 1977 fällig gewesen wäre und der in den letzten Jahren jeweils im Januar abgegeben worden ist, habe ich mit der Regierungserklärung gegeben, wie Sie wissen. Aber ich habe verstanden, daß Sie noch mehr hören wollen. Natürlich ist die Regierung bereit, alle Auskünfte auf die Fragen zu geben, die ihr gestellt werden, und jede Debatte zu führen. Ich bin gerne bereit, heute etwas näher auf Fragen einzugehen, die Sie inzwischen gestellt haben. Wir haben auch gar keine Einwendungen - wie könnten wir? - gegen die von Ihnen heute angekündigte Große Anfrage. Wir haben den Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland aus praktischen Gründen mit der Regierungserklärung verbunden, weil wir so Gelegenheit hatten, die Deutschlandpolitik in ihrem Gesamtrahmen, in den sie doch gehört - sie ist doch nichts Isoliertes, nichts von der Außenpolitik zu Isolierendes, auch nichts von unserer eigenen Wirtschafts- oder Innenpolitik zu Isolierendes -, darzustellen. Wir haben deutlich zum Ausdruck gebracht - ich wiederhole das -, daß die Bundes182 regierung entschlossen ist, ihre Vertragspolitik fortzusetzen. Ich wiederhole auch, was ich damals schon hervorgehoben habe, daß sich die Bundesregierung dabei der Gegensätze und der Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten und ihrer Gesellschaftsordnungen voll bewußt ist. Gerade deshalb waren - und das sage ich jetzt an die Adresse derjenigen, die uns in Ost-Berlin zuhören oder die dort lesen, was hier gesagt wird - die Ausführungen zur Lage der Nation sowohl realistisch als auch, wie ich denke, ausgewogen, denn die Kontinuität der Vertragspolitik ist nichts so Selbstverständliches angesichts von Belastungen, die eingetreten sind, und von Belastungen die denkbar wären, wenn man sehr schwarzseherisch in die Zukunft schaute. Sie ist nichts so Selbstverständliches, wie offenbar manche, sei es hier bei uns oder sei es in der DDR, zu glauben scheinen. Auf der anderen Seite ist das Bekenntnis zur Fortsetzung der Vertragspolitik keine rhetorische Formel. Ich gehe davon aus, daß die Führung der DDR sich dessen durchaus auch bewußt ist. Gerade deshalb waren mancherlei Äußerungen aus der DDR zum Text unserer Regierungserklärung vom 16. Dezember unangemessen. Wie aus meinen Worten zu entnehmen sein soll, z. B. daß wir die Vertragspolitik „zum Werkzeug revanchistischer Pläne" zu machen beabsichtigen, das bleibt das Geheimnis der offiziösen Polemiker in der Redaktion des „Neuen Deutschland". Aus der Regierungserklärung ist eine Begründung für derartige Behauptungen weiß Gott nicht abzuleiten. Derartige Außerungen aus der DDR zur Politik der Bundesregierung sowie auch die in der Zwischenzeit von seiten der DDR verfügten Maßnahmen sind ja auch gar nicht aus unserer Politik heraus zu erklären, sondern vielmehr nur aus der Situation der DDR und ihrer Führung zu erklären. Immer noch gehen wir davon aus, daß beide Seiten ein Interesse an dem weiteren Ausbau der Beziehungen haben. Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß in der DDR das Gewicht jener zuzunehmen scheint, welche die Interessen ihres Staates von einem isolierten Standpunkt aus beurteilen und dabei außer acht lassen, daß ein gutes Verhältnis zu allen Nachbarstaaten die grundlegende Voraussetzung der Entspannungspolitik in Europa ist, zu der sich doch auch die Führung der DDR bekennt. Nun ein Wort zu uns selbst im Deutschen Bundestag: Ich wäre froh, wenn wir in diesen sehr diffizilen und heiklen Fragen darauf verzichten könnten, hergebrachte Klischees, vorfabrizierte Formeln immer nur zu wiederholen, mit denen wir in Wahrheit unser Verhältnis zur DDR nur verdecken, wobei lediglich der Anschein erweckt wird, als ob wir die Probleme wirklich benennten. Ich würde dafür sein, daß man jedenfalls insoweit aufeinander zugeht, daß man ohne gegenseitige Rechthaberei im Parlament diesen schwierigen Komplex der Probleme gegenüber der DDR miteinander behandelt. In diesem Verständnis möchte ich z. B. die 8 Millionen Einreisen aus Westdeutschland und West-Berlin in die DDR allein im Lauf des letzten Jahres sehen. Das ist nur einer der sehr wichtigen und I beachtlichen Posten in der Bilanz der Bemühungen der beiden Staaten um eine Normalisierung ihres Verhältnisses. Aber dies ist z. B. ein Punkt, an dem man mitsehen muß, daß die DDR, eingebunden in den Warschauer Pakt, ein kommunistischer Staat mit, grob gerechnet, 17 Millionen Einwohnern ist. Wenn dem dann 8 Millionen Einreisen aus dem „Westen", wie man dort zu sagen pflegt, gegenüberstehen, bringt dies natürlich für die dortige Führung, für die kommunistische Regierung jenes Staates einen Komplex von politischen und psychologischen Problemen mit sich, allerdings von Problemen, die sich aus ihrem staatlichen und gesellschaftlichen System ergeben. ({10}) Dieses letztere jedoch sollte, wie ich denke, auch die Opposition bei der öffentlichen Einschätzung der tatsächlichen, der realen Möglichkeiten berücksichtigen. Es ist ja so, daß sich in Westdeutschland manchmal Illusionisten als Realisten ausgeben, die am liebsten das erreichte Maß an Normalisierung - ich sage, an relativer Normalisierung - leugnen möchten oder gar diffamieren und die in Wahrheit realistische Haltung der Bundesregierung und ihrer Vorgängerinnen im Umgang mit der DDR als Leisetreterei oder als Zaghaftigkeit denunzieren. Wer aber gegenüber diesem zügigen, zielstrebigen, im Ton in aller Regel gemessenen, wenn notwendig, auch einmal scharfen, aber eben im Ton in aller Regel der Sache angemessenen Vorgehen, wer gegenüber diesem schrittweisen, zähen Bemühen meint, große Knüppel nicht nur androhen zu sollen - das ist ja schon schlimm genug -, sondern sich vielleicht selber darin täuscht, daß diese auch benutzbar wären, wer sie im Ernst benutzen wollte, der muß wissen, daß er damit anderen Menschen im anderen deutschen Staat Vorwände, für manche vielleicht sogar willkommene Vorwände, liefert, um das wieder rückgängig zu machen, was wir an menschlichen Erleichterungen, an menschlichen Verbindungen in der einen deutschen Nation mühselig genug zustande gebracht haben. ({11}) Zu den jüngsten Maßnahmen der DDR, die den Viermäditestatus von Berlin berühren, haben die dafür zuständigen Drei Mächte nach Konsultation mit der Bundesregierung das Erforderliche getan. Wir halten es für bedeutsam, daß die Drei Mächte erneut klargemacht haben, daß der Viermächtestatus für ganz Berlin, also auch für Ost-Berlin, gilt und daß jeder Versuch, daran einseitig etwas zu ändern, sowohl eine Verletzung der Rechte und Verantwortlichkeiten der Alliierten wie des Viermächteabkommens vom 3. September 1971 darstellen würde. Dies ist unsere gemeinsame Rechtsauffassung. Nun aber noch ein Wort zu den anderen Vorgängen, mit denen uns die DDR in den vergangenen Wochen konfrontierte. Es muß der DDR ungeschminkt und mit aller Deutlichkeit erneut gesagt werden, daß die Ausweisung des Fernsehkorrespondenten Loewe und die Kontrollmaßnahmen gegen die DDR-Besucher der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland entspannungswidrig sind und daß sie unsere Beziehungen zur DDR schwer belasten. Die DDR kannte bei Abschluß des Grundlagenvertrages unsere Auffassung von Journalismus, und sie hat sich in dieser Kenntnis bereit erklärt, die Arbeit von Journalisten aus der Bundesrepublik in der DDR zuzulassen. Diese Arbeit wird sicherlich nicht mit derjenigen von Journalisten in einem demokratisch-parlamentarischen Staat vergleichbar sein. Wir, durch deren Politik die Voraussetzungen für solche Berichte aus dem anderen deutschen Staat überhaupt erst geschaffen wurden, haben uns - wie die Korrespondenten selbst - in unserer Arbeit mit der Kritik der Vertragsgegner an den Beschränkungen auseinanderzusetzen. Für die Befürworter der Vertragspolitik wie für die Gegner gilt also das gleiche. Die angebotenen Lösungen zwischen beiden deutschen Staaten, meine Damen und Herren, können so, wie die Welt ist, niemals voll befriedigen. Aber sie sind gegenwärtig eben doch deutlich besser als der frühere Zustand, z. B. zu Zeiten früherer Bundesregierungen, wo es gar keine westdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin gab. ({12}) Der DDR muß andererseits klar sein, daß zur internationalen Anerkennung, die sie gesucht und gefunden hat, ({13}) auch die Fähigkeit zum Zusammenleben mit kritischen Journalisten gehört. Nun hat sich die DDR zuletzt entschlossen, mit polizeilichen Maßnahmen unmittelbar auf die Arbeitsmöglichkeiten unserer Vertretung bei der DDR einzuwirken. Für die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland muß ich mit großer Deutlichkeit sagen: Sie halten sich in ihrer Arbeit strikt innerhalb der ihnen gezogenen Grenzen. Sie mischen sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR ein. Sie leisten Hilfe und Beistand für Deutsche aus dem Bundesgebiet und aus Berlin-West, wie es ihre Aufgabe und ihr Recht ist. Nun gehört es allerdings zu den Fakten in Deutschland, daß Hilfe und Beistand für Bürger der Bundesrepublik Deutschland oft auch Bewohner der DDR angeht. Unsere Ständige Vertretung hat ihre ganze Arbeit seit zweieinhalb Jahren darauf gerichtet, die Normalisierung, so schwer sie auch herzustellen ist und soviel Zeit wir dafür auch brauchen, zu fördern. Dies gilt auch und gerade für die nüchternen und sachlichen Auskünfte, die Bewohnern der DDR, welche dort vorsprechen, gegeben werden. Es hat in den letzten Tagen verstärkt ZurückWeisungen von Personen mit gültigen Einreisepapieren gegeben. Die Bundesregierung beobachtet diese Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit. Sie wird alles Notwendige tun, damit der Reiseverkehr nicht erschwert wird. Die jüngsten Maßnahmen der DDR wie die gegenüber der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und andere sind Schikanen. Sie sind zugleich Zeichen eines Mangels an Selbstsicherheit der politischen Position der DDR-Führung. Wir dürfen und werden solche Vorgänge nicht einfach herunterschlucken, habe ich gesagt. Wir dürfen und werden uns aber auch durch Scharfmacherei von jenseits oder von diesseits der innerdeutschen Grenze ({14}) in unserer auf Entspannung und Normalisierung gerichteten Politik nicht beirren und von ihr nicht abbringen lassen. ({15}) Denn wenn wir uns davon abbringen ließen, wenn wir uns darin beirren ließen, so würde das in der Konsequenz vielen Menschen schaden, auch sehr vielen Menschen in der DDR, weil es deren Regierung Vorwände für weitere Verhärtungen liefern würde. Die Bundesregierung erwartet, daß sich die Regierung der DDR an ihre eigenen Erklärungen hält, trotz der unterschiedlichen Grundvoraussetzungen einen Ausgleich der Interessen zu versuchen. Ich sagte, unsere Beziehungen zur DDR sind derzeit belastet. Ihre Qualität ist ja nicht allein an den wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den beiden deutschen Staaten, die sich befriedigend entwickeln, zu messen. Diese wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen bedürfen dringend einer Ergänzung im Bereich des Politischen. Wir sind nicht nur bereit, wir sind auch gegen Widerstand entschlossen, die Normalisierungspolitik fortzusetzen. Wir sind mit der Normalisierung vorangekommen. Seit - ich wiederhole das - Bundeskanzler Brandt und der Minister des Auswärtigen, Scheel, in voller Abstimmung mit unseren Alliierten die Entspannungspolitik der Bundesrepublik begonnen haben, ist auf manchen Gebieten mehr erreicht worden - wenn Sie ehrlich sind, würden Sie jetzt wenigstens mit dem Kopf nicken -, als man vorher gehofft hatte, als Sie vorher gehofft hatten, meine Damen und Herren. ({16}) Ebenso ist wahr - auch das soll nicht verschwiegen werden -, daß auf anderen Gebieten unsere Erwartungen bisher nicht erfüllt worden sind. Nun bitte ich aber doch die Opposition, wobei ich versuche, den ruhigen Tonfall beizubehalten ({17}) - es fällt nicht immer leicht, das gebe ich zu -, sich einmal untereinander Rechenschaft darüber zu verschaffen, um dann später das Ergebnis im Deutschen Bundestag vorzutragen, welch andere Politik nach der, die Sie bis 1966 versucht hatten, und derjenigen, die wir bis heute geführt haben, welch andere, dritte Politik Sie eigentlich dem deutschen Volke hüben und drüben in Vorschlag bringen wollen. Das möchten wir gern einmal wissen. ({18}) In Wahrheit haben Sie bisher eine Alternative nicht vorgeschlagen. Sie haben allerdings auch nicht gesagt, man müsse zu der Politik zurückkehren, wie sie bis zur Mitte der sechziger Jahre geführt wor184 den ist. Das haben Sie auch nicht gesagt, das will ich einräumen. Vielleicht liegt es daran, daß Sie im Grunde doch spüren oder manche bei Ihnen im Grunde sogar wissen, daß eine prinzipiell andere Politik gar nicht möglich ist, weder gegenüber dem Osten möglich ist noch im Verein mit unseren westeuropäischen und nordamerikanischen Verbündeten möglich wäre. Der Frieden in Europa verlangt, daß niemand Unsicherheiten verstärkt, daß niemand Entwicklungen, die ihre Zeit brauchen, stört, und daß niemand Feuer schürt. Die Bundesregierung wird mit Geduld, mit Offenheit, frei von Illusion, frei von der Gefahr des Selbstbetruges ihre Entspannungspolitik fortsetzen. Sie möchte aber auch der Opposition anraten, die Gefahr des Selbstbetruges zu vermeiden. Weder Fackelzüge, von denen Herr Genscher wohl schon sprach, noch ultimative Forderungen können zur Normalisierung in Mitteleuropa beitragen. ({19}) Einer Ihrer Sprecher hat eine Bemerkung hinsichtlich Berlins gemacht. Ich darf darauf hinweisen, daß in der Regierungserklärung die Verpflichtung der Bundesregierung bekräftigt worden ist, mit den Drei Mächten zusammen die Lebensfähigkeit Berlins aufrechtzuerhalten und zu stärken. Wir nehmen diese Verpflichtung ernst, und auch unsere Verbündeten nehmen diese Aufgabe ernst. Wenn in der nächsten Woche auf unsere Anregung hin der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika gemeinsam mit Herrn Kollegen Genscher bei seiner ersten Auslandsreise Berlin besuchen wird, so ist dies mehr als ein Routinebesuch, es ist ein wichtiges Zeichen dafür, daß die amerikanische Schutzmacht nach wie vor zu ihrem Engagement für diese Stadt steht. ({20}) Außer dem Besuch des Präsidenten Kennedy haben wir 1961 den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Johnson, 1967 den des Vizepräsidenten Humphrey, 1976 den des Vizepräsidenten Rockefeller in Berlin gehabt, und wir freuen uns, daß die neue amerikanische Regierung gleich zu Beginn ihrer Arbeit diese Tradition sichtbar fortsetzt und auf diese Weise die Kontinuität der amerikanischen Berlinpolitik bekräftigt. Die Bundesregierung ist in der Tat entschlossen, die in der Regierungserklärung aufgezeigten Wege zu einer Lösung der besonderen Probleme Berlins weiterhin zielstrebig anzugehen. Sie weiß, daß es nicht nur darum geht, die Probleme zu lösen, denen sich jede Großstadt in der Bundesrepublik Deutschland mehr oder weniger ausgesetzt sieht. Berlin ist nicht eine Stadt wie jede andere; das ist ein Mißverständnis. Vielmehr gilt es, auch die besondere Lage zu berücksichtigen, in der sich Berlin in der Nahtstelle zwischen zwei verschiedenen Machtgruppen befindet. Aber es ist auch nicht eine Aufgabe, die der Senat oder das Abgeordnetenhaus von Berlin oder der Bundestag oder die Bundesregierung allein bewerkstelligen könnten. Deswegen habe ich mir soviel Sorgen gemacht und Mühe gegeben, ({21}) mit großen Unternehmungen in unserem Lande zu sprechen, um sie auf das aufmerksam zu machen -und ich wiederhole es von dieser Stelle aus -, was sie dazu beitragen können, damit das geschieht, was ich die wirtschaftliche Vitalisierung dieser Stadt nenne. Die Stadt braucht privatwirtschaftliche Investitionen. Große Unternehmen der Bundesrepublik und mittlere und kleine sollten sich engagieren. ({22}) Jeder Unternehmensleitung - sei es ein kleines Unternehmen oder ein mittleres oder ein ganz großes -, die sich einen solchen Entschluß erarbeiten kann, sollten wir dankbar sein. Sie sollte gewiß sein, daß sie damit einen sehr ernst genommenen Beitrag zur Lösung von Problemen leistet, die ich nicht in extenso hier ausbreiten will, die aber diejenigen, die in Berlin arbeiten, die von Berlin aus hierher geschickt sind oder die sich mit Berlin beschäftigen, ja sehr wohl kennen. Zusammenfassend darf ich noch einmal die Frage aufgreifen: Was eigentlich, Herr Abgeordneter Kohl, haben Ihre ersten drei Redner heute an neuer Politik, an anderer Politik geboten? Sie haben viel kritisiert, das ist Ihr Recht und Ihre Pflicht. Sie haben Fragen gestellt, das ist Ihr Recht und Ihre Pflicht. Aber was ist eigentlich der Punkt oder was sind die Punkte, an denen Sie sagen möchten: „Dieses wollen wir - anders als bisher, wir begnügen uns nicht damit, zu sagen, das Bisherige sei alles schlecht oder zu wenig oder zu gering, sondern dies wollen wir, die christlich-demokratische Opposition." Welches sind eigentlich die Punkte, an denen Sie das dem deutschen Volk, das uns zuhört, einmal verständlich machen? ({23}) In einer großen deutschen Tageszeitung, die im allgemeinen eigentlich der Opposition im Bundestag eher wohl will, ({24}) habe ich vor ein paar Tagen gelesen - aus der Feder von Herrn Reißmüller -, daß die Antithese der Opposition doch nicht nur einfach nein lauten könne. Wenn die Opposition der Regierung nichts als ein vielfältiges, nein, vervielfältigtes Nein entgegenzusetzen hätte, dann verweigerte sie den Wählern von vornherein die Chance, zwischen jeweils zwei Antworten zu wählen. Eine solche Opposition, schrieb Herr Reißmüller, verfehlt ihre Aufgabe, verurteilt sich dazu, nur von Fehlern der Regierung und vom eigenen Glück zu leben. ({25}) Auf beides müssen Sie hoffen, das stimmt. Sie müssen auf Glück hoffen, insbesondere nach Kreuth brauchen Sie eine ganze Menge Glück, daß Sie nicht wieder nach Kreuth zurückkehren. ({26}) Und Sie müssen auf Fehler der Regierung oder der Koalition hoffen. Sie wird sicherlich auch Fehler machen. Sie hat auch bisher schon welche gemacht; das kommt vor, ja sicher. ({27}) - Das ist doch typisch, daß das die einzige Stelle ist, an der Sie sich zu Beifall aufraffen können. ({28}) Sie hätten mal lieber zustimmen sollen, als ich den Führer der Opposition bat, die konkrete Alternative seiner Politik dem deutschen Volke vorzutragen. Da hätten Sie Ihre Zustimmung geben sollen. ({29}) Der Oppositionsführer hat, weil er keine Alternative hat, die heutige Debatte mit einem großen Interview in der „Bild" -Zeitung garniert, 19. Januar. Überschrift: „Große Koalition? Kohl: Ja - Sie haben schon vorgefühlt". ({30}) Nun haben wir ja schon erlebt, Herr Kohl, daß Sie sogar Namensaufsätze in der „Bild"-Zeitung, die mit Ihrem Namen gezeichnet waren, später als nicht von Ihnen stammend bezeichnet haben. Aber ich nehme an, dieses Interview ist wirklich echt. ({31}) Da sagen Sie - in Gänsefüßchen steht es hier jedenfalls -: Sie halten zwar nichts von dem Gerede. „In der SPD gibt es aber zwei Gruppen, die von einer Koalition reden: die eine Gruppe, die nur darüber redet, um die FDP zu zähmen, die andere Gruppe, die im Augenblick hier in Bonn an der Macht ist, möchte tatsächlich die Große Koalition auf lange Frist, steht hier sogar -, um die innerparteiliche Lage in der SPD unter Kontrolle zu bringen." ({32}) Ja, mit solchen Sachen kann man es nur machen wie jener Preußenkönig: Man muß es niedriger hängen oder vorlesen, damit jeder diesen Unfug zur Kenntnis nehmen kann, nicht wahr? ({33}) Und dann fragt die „Bild"-Zeitung: „Hat bei Ihnen schon jemand von der SPD vorgefühlt?" Kohl: „Ja, vorgefühlt wird immer wieder von den verschiedensten Seiten." ({34}) Und dann fragt die „Bild"-Zeitung: „Können Sie Namen nennen?" Kohl: „Das können Sie nicht von mir verlangen." ({35}) Ich will Ihnen etwas sagen: Unter anständigen Menschen verlange ich von Ihnen, daß Sie Namen nennen, wenn Sie solche Behauptungen in die Welt setzen! ({36}) Sie brauchen ja, Herr Abgeordneter Kohl, bei Ihrer Antwort nicht gleich so weit zu gehen wie in der Presseerklärung der CDU vom 6. Oktober, wo Sie feststellen ließen, daß Sie niemandem irgendwo hineinkriechen, weder im Norden noch im Süden. So weit brauchen Sie mir gegenüber nicht zu gehen. ({37}) Ich muß aber auch zu den übrigen Spekulanten über Koalitionsmechaniken noch ein Wort sagen. Manche dieser Leute, die da über die sozialliberale Koalition spekulieren, übersehen eines: daß diese sozialliberale Gesetzgebungs- und Regierungskoalition seit 1969 für unser Land viel geleistet hat, daß sie darauf stolz ist und daß das eine ganze Menge an Zusammenhangskraft bedeutet. ({38}) Und dabei ist es in sieben Jahren eigentlich niemals einfach gewesen - auch in den letzten sieben Wochen nicht -, immer gleich diejenigen Lösungen zu finden, die beide Seiten in einer Koalition zufriedenstellten und die doch zugleich einen fühlbaren Fortschritt für alle Bürger bedeuten. Wir haben oft gestritten. Dabei haben dann auch schon einmal die Köpfe geraucht. Es ist auch schon einmal gerauft worden, es ist auch schon einmal ein hartes Wort gefallen. Die fallen ja übrigens innerhalb unserer drei Parteien - oder, Herr Strauß, soll ich besser sagen, innerhalb unserer vier Parteien - durchaus auch; Sie wissen ja ein Lied davon zu singen. ({39}) Wenn innerhalb einer und derselben Partei oder innerhalb einer und derselben Koalition immer nur mit ganz leiser Stimme gesprochen würde, wäre das verdächtig; dann müßte man wirklich Sorgen haben. Solange man sich noch gegenseitig ausspricht, hätte ich diese Sorge nicht. Am meisten haben die Köpfe wohl zwischen dem 3. Oktober und Anfang Dezember geraucht, ({40}) zwischen den beiden, die sich erst geschieden und die dann doch die geschiedene Ehe wieder aufs neue geschlossen haben, nämlich bei CSU und CDU. ({41}) - Ich will das lieber nicht wiederholen, weil ich nicht weiß, ob das einen Ordnungsruf bringt. ({42}) Das, wovon Sie in Ihrem „Bild"-Zeitungs-Interview sprechen, Herr Abgeordneter Kohl, ist doch bloß ein Wunschtraum, Ihr Wunschtraum ({43}) und zugleich der Wunschtraum des Herrn Kremp. ({44}) Herr Strauß und Sie waren sich nicht darüber einig, ob Sie dieselben Wunschträume verfolgen ({45}) oder was man machen muß, damit die Wunschträume wahr werden, nicht? Es war doch einer der - jedenfalls nach außen dargestellten - Hauptpunkte Ihres Streits, wie man diese Wunschträume herbeiführt. ({46}) Ich will sagen, daß natürlich auch in Zukunft über manche Frage der Innen- oder der Außenpolitik oder der Deutschlandpolitik oder der Wirtschafts- oder der Finanz- oder der Steuer- oder der Sozialpolitik zwischen uns wird gesprochen werden müssen. Sie haben doch auch Erfahrungen mit verschiedenen Koalitionen, wir auch mit verschiedenen Koalitionen; auch die FDP hat Erfahrungen mit verschiedenartigen Koalitionen. Natürlich muß in Koalitionen auch noch gerungen werden, nachdem das Ringen in der jeweils eigenen Fraktion und Partei beendet ist. Und wenn dann in der Koalition gerungen worden ist, muß wiederum in der eigenen Fraktion gerungen werden, um festzustellen, ob das, was man miteinander nach Absprache ins Werk setzen will, wirklich verabredet werden kann. Dies ist alles ganz natürlich. Es wird sicherlich nicht dadurch leichter, daß nun vielleicht demnächst in zwei Landtagen Freie Demokraten und Sozialdemokraten auf verschiedenen Seiten, auf den dortigen Regierungs- bzw. Oppositionsbänken, sitzen werden. Es wird sicherlich von den beiden Bonner Koalitionspartnern und ihren jeweiligen Parteifreunden im Lande noch ein zusätzliches Quentchen an Einfühlungsvermögen erwartet werden müssen. Eines ist klar: Keiner der beiden Koalitionspartner ist ein Mehrheitsbeschaffer für den anderen, weder die FDP für die Sozialdemokraten noch die Sozialdemokraten für irgendwelche Lieblingsideen der FDP. Das ist ganz klar. Nur auf solcher Basis der beiderseitigen Kompromißbereitschaft, des beiderseitigen Aufeinanderzugehens hat eine solche Koalition Bestand. Aber das hat bisher ganz gut funktioniert. Ich frage mich angesichts Ihrer Alternativlosigkeit, Herr Kohl: Wer von der FDP oder wer von uns sollte eigentlich mit Ihrer Partei koalieren, zu welchem Zweck eigentlich, mit welchem Ziel eigentlich? ({47}) Vertagen Sie also diese Hoffnungen auf spätere Debatten! Einstweilen haben Sie heute morgen und heute nachmittag Überzeugendes, das uns zu einem solchen Koalitionswechsel bewegen könnte, wahrhaftigen Gottes nicht geboten. ({48})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle haben über die Weihnachtspause durch die Hofberichterstattung des Bundespresseamts über den jeweiligen Seelenzustand des Herrn Bundeskanzlers neueste Nachricht empfangen. Wir alle waren gewappnet, daß wir heute, morgen und übermorgen einiges aus dieser Situation heraus von ihm zu hören bekommen würden. ({0}) Er hat - und darüber kann es doch keinen Zweifel geben, Herr Bundeskanzler - eine so ungewöhnlich schlechte Presse - im weitesten Sinne des Wortes - nach der Regierungserklärung im Dezember bekommen, wie sie noch nie ein Kanzler dieser Bundesrepublik Deutschland erhalten hat. ({1}) Das, meine Damen und Herren, ist natürlich bei diesem Bundeskanzler bereits zuviel; denn das geht in die Nähe der Majestätsbeleidigung. Nicht genug, daß er sich die Mühe macht, mit uns zu diskutieren, jetzt wollen die Kerle auch noch kritisieren. Das ist ganz entschieden viel zuviel. ({2}) Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, das, was wir jetzt eben hier weit über eine Stunde lang - warum wohl vor 17 Uhr? - von Ihnen erlebt haben, das war nicht die Antwort eines Regierungschefs - auf natürlich bohrende, aber zwingende Fragen der Sprecher der Opposition, sondern das war das alte Wahlkampfkompendium, mit dem Sie sich nach dem 3. Oktober mühsam an der Macht gehalten haben. ({3}) Herr Bundeskanzler, ich muß ganz offen sagen: Sie sind heute, so wie Sie da standen und redeten, nicht nur am Ende mit Ihren Nerven, Sie sind auch am Ende mit Ihrem Stil von Politik in diesem Hause. ({4}) Einer Ihrer Freunde hat um die Weihnachtszeit herum - ich meine Herrn Eppler, der bei vielen von Ihnen besonders hoch im Ansehen steht - uns allen und Ihnen den Rat gegeben, Ihre Lernfähigkeit zu erproben. Meine Damen und Herren, nach dieser heutigen Darstellung des Kanzlers glaube ich, daß man jede Hoffnung aufgeben sollte. Da ist nichts mehr dazuzulernen. ({5}) Denn, Herr Bundeskanzler, was soll das, wenn die Kollegen Richard von Weizsäcker, Werner Marx, Graf Stauffenberg Ihnen Fragen stellen und Sie - ich habe ja wie alle die Chance, das noch einmal im Protokoll nachzulesen -, statt auf diese Fragen mit einem einzigen Wort einzugehen, den fragenden Kollegen die Fragen im Munde umdrehen, entstellen und diffamierende Äußerungen dazu machen? ({6}) Was soll das, wenn Sie an Stelle überzeugender Debatte billige Polemik wählen und damit den Verlust an Glaubwürdigkeit, den die Bundesregierung und allen voran Sie in den letzten Wochen erlebt haben, zu retuschieren versuchen? Herr Bundeskanzler, in dieser Rede waren Szenen, die für jeden beinahe physisch deutlich gemacht haben: Da ist nichts mehr mit dem „großen Macher", sondern da ist einer unterwegs, der ums Überleben kämpft. Das ist die wirkliche Lage, vor der Sie heute stehen. ({7})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dem Redner zuzuhören. ({0})

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, diejenigen in der SPD, die sich auf den Weg gemacht haben, um diese Zeit zu wenden, haben vielleicht schon erneut in der Fraktion die roten Rosen zum Abschied bestellt. Ich kann nur sagen, Herr Bundeskanzler, die Art und Weise, wie Sie hier das „Bild"-Zeitungs-Interview gewürdigt haben, spricht Bände. Wenn das kein Thema sein soll, warum haben Sie dieses Thema hier überhaupt angesprochen? Wenn Sie dann mit Stentorstimme sagen: „Ich verlange Namen", wollen Sie dadurch mehr Sicherheit in Ihrer eigenen Partei, die immer weiter auseinanderdriftet, gewinnen? ({0}) Es ist schon so - jeder hier im Saale weiß das -, daß es eben zwei Gruppen innerhalb der SPD gibt; es gibt auch sonst noch viele in der SPD. Herr Bundeskanzler, Sie kennen sie ganz genau; Sie könnten die Namen hier sehr viel besser nennen als ich, wenn Sie die Zivilcourage dazu hätten. ({1}) Meine Damen und Herren, Sie könnten die Namen hier viel besser nennen. Die eine Gruppe ist die, die sich mit dem Ziel aufgemacht hat, jetzt wieder die Koalition zu beruhigen und uns, die Union, dabei zu mißbrauchen. Die andere ist die, die dieser Koalition, aus welchen Gründen auch immer, überdrüssig ist. Nur eines merken Sie sich: Die CDU/CSU ist nicht der Hilfsmotor der Regierung, weder zur Beschaffung von Mehrheiten noch in der Funktion einer Ersatzkoalition. Das sei Ihnen klar und eindeutig ins Stammbuch geschrieben. ({2}) Wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, dann kann ich Sie dazu beglückwünschen. Das, was Sie eben hier gesagt haben, und vor allem, wie Sie es gesagt haben, legt den Schluß nahe, daß hier ein ungewöhnlich unsicher gewordener Mann steht, der ja - meine Damen und Herren, das soll nicht in Vergessenheit geraten - nur dadurch, daß er dem Hause vorenthalten hat, daß der amtierende Arbeitsminister gerade zurückgetreten war, überhaupt die Mehrheit für das Amt des Bundeskanzlers erhalten hat. ({3}) Über die Rolle der Opposition brauchen Sie, Herr Bundeskanzler, sich wirklich keine Gedanken zu machen. ({4}) Wir brauchen dazu weder Ihren Ratschlag noch Ihre onkelhaften Ermahnungen. Wir werden als Alternative zur Politik der Regierung auf jedem Felde, das wir für wesentlich und wichtig halten, aus unserem Grundverständnis der Politik unsere eigenen Vorstellungen deutlich machen. ({5}) Herr Bundeskanzler, wir werden ja morgen noch über dieses Thema reden. Was muten Sie den Bürgern eigentlich alles zu, wenn Sie jetzt nach unseren Alternativen etwa zur Rentenpolitik fragen, da Sie bis zur Stunde die Zeit gebraucht haben, um ein Minimalprogramm aufzuweisen, das dennoch von Fachleuten für gänzlich undurchführbar gehalten wird? ({6})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pawelczyk?

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) - Meine Damen und Herren, wenn Sie heute die Verteilung der Redezeit - auch im Hinblick auf die Fernsehübertragungen - betrachten, wissen Sie ganz genau, warum ich jetzt keine Zwischenfrage zulasse. ({1}) Herr Bundeskanzler, wer - wie Sie - in den entscheidenden Fragen, die viele, viele Millionen Mitbürger bewegen - ich verweise erneut auf die Rentenfrage -, bis zu dieser Stunde nicht in der Lage ist, überzeugende, sachlich fundierte Zahlen zu bieten, wer eine Regierung führt, die sich in den letzten acht Wochen in der Rentenfrage jede Woche korrigiert hat, sollte doch nicht den traurigen Mut aufbringen, anderen für deren Argumentation noch Noten erteilen zu wollen. Sie sind Kanzler der Regierung. Sie bestimmen die Richtlinien der Politik. Sie sind der Mann, der diesem Volke in wesentlichen Fragen deutscher Politik die Wahrheit schuldet. ({2}) Ein Paradebeispiel dafür, wie vorgegangen wird, haben wir gerade eben im Zusammenhang mit der Entspannungs- und der Deutschlandpolitik erlebt. Herr Bundeskanzler, ich kann nur sagen: Das, was Sie im Dezember hier sagten, ist Schall und Rauch - etwa das Angebot, mit der Opposition in wichtigen Fragen der Deutschland- und der Außenpolitik gemeinsame Sache zu machen -, wenn Sie in einer so perfiden Art, wie das eben hier geschehen ist, hergehen und Kommunisten aus der DDR und die Opposition in diesem Hause in einem Satz, in einem Atemzug nennen. ({3}) Wollen Sie sich jetzt etwa hier hinstellen und leugnen, daß die sogenannte neue Ostpolitik auf einem Meer von Illusionen einherschwamm und daß Sie schon bei der Bundestagswahl 1972 den traurigen Versuch gemacht haben, mit der Sehnsucht der Menschen nach Frieden politische Geschäfte in der Bundesrepublik zu machen, so als seien die Sehnsucht und der Wille zum Frieden ein parteiisch Ding? Wir alle wollen Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Deswegen kann das niemals Sache einer Partei sein. ({4}) Zu dem Zwischenruf des Herrn Kollegen Marx, wer es denn gesagt habe, daß jetzt die Illusionen vergangen seien, möchte ich dies sagen. Ihr eigener Staatssekretär, Herr Gaus, hat vor ein paar Tagen gesagt - ich zitiere wörtlich -: Wir alle und gerade auch die Sympathisanten dieser Entspannungspolitik haben uns Illusionen gemacht. Wir alle sind in unseren Berechnungen zu kurzatmig gewesen. In der Tat, Herr Bundeskanzler, kurzatmig waren Sie, sind Sie und, fürchte ich, bleiben Sie. Herr Bundeskanzler, wo sind eigentlich Ihre Initiativen geblieben, um die von Ihnen auch heute hier so gefeierte KSZE-Schlußerklärung in die Wirklichkeit des Lebens der deutschen Nation umzusetzen? Es genügt doch nicht, nur die Verletzungen der Schlußakte festzustellen und dann anschließend den Geist von Helsinki zu beschwören. Es ist Sache der Regierung, in einer Regierungserklärung zu Beginn einer Legislaturperiode zu sagen, was sie zu tun beabsichtigt, um durch eine geistig offensive Politik die Lage in unserem Lande zu verbessern und die Möglichkeiten der Schlußakte auszunutzen. Herr Bundeskanzler, wo ist eigentlich Ihr Konzept, um die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen und neuerdings auch im Sicherheitsrat für die Interessen unseres Landes und Volkes zu nutzen? Appelle, an wen sie sich auch immer richten, sind doch dann nutzlos, wenn wir, die Bundesrepublik, die Regierung dieses Staates, nicht bereit sind, entschlossen zu handeln. Das Ergebnis einer solchen Politik ist doch jetzt unübersehbar. Sie haben - auch heute fiel dieses Wort wieder - Ihre Politik unter das Motto „Normalisierung" gestellt. Das Ergebnis - wer wollte es leugnen? - ist doch aber ein Zustand, der so unnormal ist, wie man ihn sich nur denken kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, von welchem unserer Nachbarstaaten, mit denen wir wirklich normale Beziehungen pflegen, würden wir uns wohl dieses Maß an Arroganz, Beschimpfung und Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, diese Form systematischer Bespitzelung bieten lassen, ohne entschieden und energisch zu protestieren, ohne fühlbare Konsequenzen zu ziehen? ({5}) Aus der durchaus notwendigen Politik der Anerkennung der Realität der DDR ist eine Politik des Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens der Realitäten in der DDR und durch die DDR geworden. ({6}) Es ist doch alles andere als normal, daß sich die Regierung daran gewöhnt hat und uns zunehmend daran gewöhnen will, die tägliche Verletzung der Menschenrechte den DDR-Verantwortlichen als eine Art von Narrenfreiheit zuzubilligen, anstatt von der DDR zu fordern, daß sie mit dem Frieden und der Verständigung endlich Ernst macht und daß sie endlich das Minimum an selbstverständlicher Fairneß unter Partnern aufbringt, das die Voraussetzung wirklicher Normalisierung zwischen zivilisierten Staaten ist. Wir werden uns nicht um des sogenannten lieben Friedens willen diesen neuen Zumutungen der Unfreiheit beugen. ({7}) Wir alle dürfen das nicht als Demokraten in Deutschland. ({8}) Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, und Ihr Auftreten in dieser Debatte laufen zur Zeit darauf hinaus, diesen offenkundigen Skandal, der jetzt alltäglich geworden ist, immer mehr als normal zu betrachten. Sie möchten, daß möglichst wenig darüber geredet wird, möglichst wenig Ärger entsteht und keine schlafenden Hunde geweckt werden. Denn sonst würde sich zeigen, daß keines der gesamtdeutschen Probleme von der Regierung auf diese Art gelöst werden kann, sondern daß alle diese Beschwichtigungsformeln die Tatsachen nur überkleistern und wir am Ende gemeinsam die Zeche zahlen müssen. ({9}) Auf diesem Weg greifen Sie - das haben wir gerade erlebt - wieder in die alte Trickkiste. Da werden die, die diese Politik skeptisch und realistisch betrachten, sofort wieder in die Ecke des Kalten Kriegs abgestellt. Aber wir denken gar nicht daran, in eine - ({10}) - Herr Kollege Wehner, über kalten Krieg kann man mit Ihnen sicher debattieren. ({11}) Dann muß man aber alles bedenken, was Sie zu diesem Thema in den letzten dreißig Jahren gesagt haben. Auch diese Debatte können wir gern führen. ({12}) Wir wollen keinen kalten Krieg. Aber wir werden darauf dringen, daß sich in diesem Land nicht eine Politik des faulen Anpassens einschleichen kann. Sie, Herr Bundeskanzler, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, mit dieser halbherzigen Politik die DDR zu ihrer verschärften Abgrenzungspolitik nach innen wie nach außen - und das heißt auch: gegenüber der Bundesrepublik - ermutigt zu haben. ({13})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke?

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Herr Präsident. Ich will jetzt wirklich die Redezeit nutzen, damit die Union die karge Möglichkeit der Fernsehübertragung wahrnimmt, die beispielsweise der Kollege Ehmke voll wahrgenommen hat. ({0}) Herr Bundeskanzler, ich habe Sie im Dezember auf etwas angesprochen, was unter Ihrer Autorität in der Ihnen direkt unterstellten Behörde geschehen ist. Sie haben es nicht für nötig befunden, mit einem Wort darauf einzugehen. Ich komme noch einmal auf diesen Vorgang zurück. Am Ende des vergangenen Jahres wurde eine Studie des Bundeskanzleramts zur Deutschlandpolitik bekannt. ({1}) Die Verfasser dieser Studie kommen zu der absolut unsinnigen Feststellung, daß Proteste gegen die Mauer und die Unmenschlichkeit die Bevölkerung im anderen Teil Deutschlands eher an die Seite des SED-Regimes bringen als umgekehrt und daß dabei ein neuer Aggressionsaufbau - DDR-Deutsche gegen Bundesdeutsche in der Bundesrepublik - entstehen könnte. In diesem Zusammenhang ist das unselige Wort aus der jüngsten europäischen Geschichte von der Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen verwandt worden. Diese Gedanken sind im Kanzleramt formuliert worden, das Ihnen direkt untersteht. Das macht es zwingend notwendig, daß Sie sich als der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland öffentlich von solchen Erklärungen lossagen. ({2}) Denn der Verlust an Realität und die Unfähigkeit - die aus dieser Studie sprechen -, die Veränderung auch der psychologischen Struktur in der DDR heute zu erkennen, sind für die Zukunft unseres Landes lebensgefährlich. Ich habe wie viele Kollegen in den letzten Jahren drüben im anderen Teil Deutschlands immer wieder Gelegenheit genommen, mit Menschen vor Ort zu reden. Ich habe nicht die Spur eines Ansatzes für eine Erbfeindschaft angetroffen. Ich habe aber immer wieder die Hoffnung gefunden, ja, ich habe sie direkt verspürt, wenn ich angesprochen wurde, daß wir im freien Teil unseres Vaterlandes doch um Himmels willen nicht die Menschenrechte im anderen Teil Deutschlands vergessen mögen. Darum geht es doch auch bei dieser Frage. ({3}) Dann haben Sie eben eine böse Bemerkung aus dem Wahlkampf in veränderter Form wieder aufgewärmt, Herr Bundeskanzler. Sie sprachen von den Scharfmachern. In diesem Zusammenhang redeten Sie von dem Unsinn - ich sage das jetzt mit meinen Worten; Sie haben das etwas anders formuliert - von Sternfahrten an die Mauer. Ich empfinde es als eine natürliche Sache, wenn junge Menschen das Unrecht und das Monstrum der Mauer mitten in Deutschland so empfinden, daß sie dagegen demonstrieren möchten. ({4}) Ich kann nur sagen: Wir haben in den letzten zehn Jahren manches an Protesten, berechtigten und unberechtigten, aus der jungen Generation in diesem Lande erfahren. Wir haben auch manches aus diesen Protesten dazugelernt. Nur, wir sollten doch eigentlich dankbar sein, daß junge Deutsche nicht nur für eigene materielle Forderungen, sondern für die Einheit der deutschen Nation zu demonstrieren bereit sind. ({5}) Herr Bundeskanzler, wenn das für Sie Scharfmacherei ist, kann ich nur meine Eingangsfrage vom Dezember 1976 wiederholen: Wissen Sie eigentlich noch, was die Menschen in diesem Lande denken, dessen Bundeskanzler Sie sind? Das ist die Frage, die man in diesem Zusammenhang stellen muß. ({6}) Meine Damen und Herren von der SPD, nichts kann doch diese Distanz deutlicher machen, als wenn ich die Worte des Kanzlers heute einmal mit den Worten seines Vorgängers konfrontiere - und warum soll ich das nicht tun? -, der immerhin anläßlich einer großen Jugendkundgebung an der Mauer in West-Berlin einmal so formuliert hat: Die Mauer muß weg. Sie bleibt eine ständige Provokation. Hier darf es keine falschen Status-quo-Vorstellungen geben. Ich möchte in diesem Zusammenhang in allem Ernst auf die Kundgebung der 50 000 Jugendlichen hinweisen, die kürzlich in Berlin stattgefunden hat. Die Forderungen dieser 50 000 jungen Menschen kann nur jeder in unserem Lande teilen. Wir werden es auf die Dauer niemandem verbieten können, seinem Empfinden über die Schandmauer stärkeren Ausdruck zu verleihen. Ich habe diesen Worten Willy Brandts überhaupt nichts hinzuzufügen. ({7}) Ich frage mich nur - Herr Bundeskanzler, dazu sind Sie uns eine Antwort schuldig -: Was ist eigentlich zwischen der Zeit, als dieses Zitat gesprochen, gedacht und gefühlt wurde, und heute geschehen, um in einer so abfälligen Form von jungen Leuten zu reden, die für ihre Ideale demonstrieren? Die Politik der DDR muß sich doch in diesem Zusammenhang ermutigt sehen, wenn der dafür zuständige Bundesminister Franke im Dezember 1976 erklärt: Die Bundesregierung werde entgegen den Forderungen der Opposition auch künftig darauf verzichten, die DDR wegen Verletzung der Menschenrechte und Nichteinhaltung entsprechender internationaler Abkommen öffentlich anzuklagen; sie sehe darin keinen Knüppel, der sich schwingen ließe, um die generelle Lösung einzufordern. Was ist das eigentlich für ein trauriger Mut, ({8}) wenn Sie die Menschenrechte - und Sie haben immer unsere Unterstützung bei der Forderung nach Verwirklichung der Menschenrechte - in Afrika, in Asien und in Lateinamerika einklagen, aber inmitten von Deutschland ein amtierender Bundesminister so ungewöhnlich törichte und feige Darlegungen macht? ({9}) Meine Damen und Herren, man kann - und schon gar hier in der Öffentlichkeit vor einem breiten Forum - nur schwer über Ausmaß und Details von Gegenmaßnahmen streiten, aber niemals darüber, daß wir gemeinsam entschlossen sind, jede Verletzung von Menschenrechten in Deutschland und anderswo anzuprangern und zu bekämpfen. Wir wollen und wir dürfen dazu nicht schweigen. Es darf bei uns kein Wohlverhalten gegenüber dem Verletzen von Menschenrecht geben - nur, weil wir es vielleicht für taktisch gut halten. Wenn hier in der Debatte - und Sie haben ja sichtbar darauf reagiert - bestimmte Vorgänge vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges wie die Appeasement-Politik von Chamberlain und anderen angesprochen wurden, dann doch nicht deswegen, um Sie, Herr Bundeskanzler, in diese Rolle zu drängen, sondern um aus der Geschichte die Warnung zu empfangen, die aus diesen Vorgängen resultiert: daß derjenige, der die Menschenrechte mit Füßen treten läßt, der nicht bereit ist, für die Freiheit das Notwendige zu tun, dann auch vom Unrecht und von der Unterdrückung verschlungen werden wird. Das ist doch die Warnung der deutschen Geschichte. ({10}) Da gibt es keine opportunistische Wohlverhaltensklausel. Herr Bundeskanzler, Sie können von uns nicht Zurückhaltung erwarten, wenn wir zur gleichen Zeit erleben müssen, daß Sie selber nicht nur schweigen, sondern - am Beispiel des Kollegen Franke soeben nachgewiesen - auch nicht bereit oder fähig sind zu handeln. Wir, die Union der CDU/CSU, erwarten von Ihnen, daß Sie alle Mittel nutzen, von der KSZE-Schlußakte bis zum Sicherheitsrat, um für die Verbesserung menschlicher Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands zu kämpfen und Verbesserungen durchzusetzen. Sie werden dabei unsere volle Unterstützung haben. Das ist doch keine parteipolitische Frage, das ist eine Frage, die alle Bürger in Deutschland angeht, die die Menschen, die die Familien bewegt - bei den vielfältigen Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands. Wir erwarten von Ihnen, daß die Bundesregierung auch die geistig-ideologische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus jeder Spielart offensiv führt. Es war in der Tat, Herr Bundeskanzler, zum Teil verräterisch, was Sie hier in kurzsichtigen Antworten auf die Fragen des Kollegen Marx gesagt haben. Wenn wir danach fragen, inwieweit es überhaupt möglich ist, mit Kommunisten irgendwo in Europa zusammenzuarbeiten, dann ist das doch nicht ein Thema, das uns in einer Form beschäftigt, wie Sie es dann in Wahlkampfparolen darzustellen versucht haben. Sie haben ja die beste Möglichkeit, durch äußerst entschiedene Ablehnung jeder Form von Eurokommunismus gerade auch das Thema „Freiheit statt Sozialismus" in einer für die deutschen Patrioten befriedigenden Weise zu beantworten. ({11}) Wir erwarten von Ihnen eine Politik, in der Leistung und Gegenleistung wieder in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Und wir fordern Sie auf - ich sage dies auch nach Ihrer Einlassung an diesem Nachmittag -, um des Ganzen unseres Landes willen wieder zu einer gemeinsamen Deutschlandpolitik aller demokratischen Parteien zurückzukehren. Eine gemeinsame Deutschlandpolitik muß nach unserer Überzeugung von folgenden Grundsätzen ausgehen: Erstens. Persönliche Freiheit sowie rechts- und sozialstaatliche Verfassung sind die Lebensgrundlagen für alle Deutschen. Wir im freien Teil unseres Vaterlandes haben die Pflicht, diese Prinzipien zu wahren und weiterzuentwickeln. Auch unsere Nation, die deutsche Nation, erfüllt sich in der Freiheit ihrer Bürger. Zweitens. Jede konstruktive Deutschlandpolitik setzt die Solidarität des freien Deutschlands mit den freien Staaten der Welt und vor allem in Europa voraus. Die moderne Nation kann sich unmöglich in der Isolation entwickeln; sie beruht auf internationaler Zusammenarbeit, sie beruht auf dem Bündnis. Drittens. Eine erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik setzt eine politische Ordnung Europas voraus, in der auch das wiedervereinigte Deutschland seinen natürlichen Platz hat. Da besteht für uns - und Richard von Weizsäcker hat das überzeugend nachgewiesen - zwischen dem Ziel der Einigung Europas und dem Ziel der Einigung unseres VaterDr. Kohl landes ein unauflösbarer Zusammenhang. Wir müssen immer beides im ganzen sehen. ({12}) Die Wiedervereinigung Deutschlands steht im Zeichen einer historischen Notwendigkeit. Nationen bleiben nicht geteilt. Das lehrt die Geschichte. Wenn ein Teil den Anspruch auf die Einheit aufgibt, zieht der andere Teil diesen geschichtlichen Anspruch an sich. Der Anspruch, für die ganze Nation zu sprechen, findet stets - auch das lehrt die Geschichte, und ich sage es noch einmal - eine Stimme. Entscheidend ist also die Frage, wer letzten Endes dazu die Kraft aufbringt, die Kraft der Freiheit oder die Kräfte der Unfreiheit. Ich möchte mir wünschen, für uns in der Fraktion der CDU/CSU und für viele im Lande in allen Parteien, daß es uns gelingt, an diesem Punkte auch wieder ein Stück Gemeinsamkeit zu finden, nicht in der Form, daß man den, der diesen Weg kritisch, wie es seines Amtes ist, begleitet, von vornherein abschiebt und diffamiert, sondern ihn als den selbstverständlichen demokratischen Partner empfindet, weil eben die Regierung von heute Opposition von morgen und Opposition von heute Regierung von morgen ist. ({13})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.

Georg Leber (Minister:in)

Politiker ID: 11001299

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe der Rede des Herrn Oppositionsführers eben aufmerksam zugehört. Ich hatte angenommen, weil er sich auf die Rede des Herrn Bundeskanzlers hin gemeldet hatte, er würde eine Replik, eine Stellungnahme zu dem versuchen, was der Herr Bundeskanzler hier zum Ausdruck gebracht hat. Ich muß sagen, Herr Kollege Kohl, da war nicht eine Idee, die mir aufgefallen wäre und auf die ich hier jetzt eingehen könnte, nicht einmal etwas, worüber wir alle anderer Meinung sind. Dies war vielmehr so allgemein und so freundlich gesagt, daß Sie natürlich von Ihrer Fraktion dafür auch herzlichen Beifall bekommen haben. Insofern ist Ihre Fraktion beispielsweise der Meinen überlegen: Die klatscht auch für so etwas noch. ({0}) Bei mir zu Hause sagt man dazu: Sie haben -auf einem ganzen Korb frisch gelegter Eier getanzt, ohne eines zu berühren. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe mich hier zu Wort gemeldet, ({2}) weil ich zu Fragen der Sicherheitspolitik ein paar Ausführungen machen wollte. Ich möchte gerne dem Hohen Haus zu einem Punkte einen Bericht geben, der seit einigen Monaten in der deutschen Öffentlichkeit beachtliches Aufsehen erregt hat. ({3}) Am 1. November 1976 habe ich dem Herrn Bundespräsidenten die Versetzungen des kommandierenden Generals der Luftflotte, Generalleutnant Krupinski, und seines Stellvertreters, Generalmajor Franke, in den einstweiligen Ruhestand vorgeschlagen und den beiden Generalen die Ausübung ihres Dienstes verboten. Der Bundespräsident hat die Entlassungsurkunden für die beiden Generale am 8. November 1976 ausgefertigt. Sie wurden am 9. November ausgehändigt. Das ist der Sachverhalt. Beide Generale hatten am 26. Oktober 1976 mit Journalisten, die sie selbst ausgewählt und eingeladen hatten, ein Gespräch geführt. Im Verlauf dieses Gespräches sind die Generale nach dem Traditionstreffen des Aufklärungsgeschwaders 51 gefragt worden, an dem auch Herr Rudel teilgenommen hat. ({4}) Auf das Treffen selber brauche ich hier nicht weiter einzugehen. Es ist für das Gesamtbild zwar aufschlußreich, aber in der Zwischenzeit doch so bekanntgeworden, daß ich es hier nicht noch einmal darstellen muß. Es kommt zuerst auf die Äußerungen an, die in dem Gespräch mit den Journalisten gefallen sind. Über die Antwort auf die Fragen der Journalisten gibt es unterschiedliche Darstellungen in der Öffentlichkeit. Auf Grund der angeordneten Untersuchungen, auf Grund der Angaben der beteiligten Journalisten und der Einlassungen der Generale habe ich die Überzeugung gewonnen, daß Generalmajor Franke in dem Gespräch vor Journalisten geäußert hat: „Solange im Bundestag Linksextremisten und Kommunisten sitzen, die früher in Moskau waren, können Sie doch die Teilnahme Rudels nicht tadeln." Auf die Frage eines Journalisten, wen er damit meine, hat Generalmajor Franke erwidert: „Herr Wehner; der ist doch das beste Beispiel, der war doch in Moskau." Wenn man der Erinnerung einiger Teilnehmer folgt, dann kann der erste Satz auch so gelautet haben: „Solange im Bundestag Linksextremisten und ehemalige Kommunisten sitzen, können Sie doch die Teilnahme Rudels nicht tadeln." Selbst wenn man diese in einem Punkt sicher abgeschwächte Bemerkung gelten läßt, wäre auch das in meinen Augen eine schlimme Bemerkung. Auf jeden Fall wird auch in der abgemilderten Version, von der man mindestens ausgehen muß, unterstellt, daß im Bundestag Linksextremisten sitzen. Da in der Unterstellung ein Mitglied des Deutschen Bundestages als Beispiel genannt worden ist, muß es nach der Bemerkung wohl so sein, daß im Deutschen Bundestag mehr Linksextremisten sitzen. Dies ist eine unerhörte, von einem General im Dienst, seit die deutsche Bundeswehr besteht, noch nie so gemachte Bemerkung. Herbert Wehner hat von der ersten Stunde an seinen Beitrag geleistet, unseren demokratischen Staat zu schaffen, ihn mit Leben zu erfül192 len, und er hat ihn bis auf die jetzige Stunde mit ausgestaltet. ({5}) Herr Rudel, mit dem er verglichen wird, hat bis in die jüngste Zeit immer wieder seinen Abscheu gegenüber unserem demokratisch verfaßten Staat zum Ausdruck gebracht.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Berger?

Georg Leber (Minister:in)

Politiker ID: 11001299

Nein. Ich möchte etwas berichten. Die Dame kann nachher fragen oder sich zu Wort melden. Lassen Sie mich bitte den Bericht, der seit drei Monaten, denke ich, auch vom Bundestag erwartet wird, jetzt zu Ende geben, Herr Präsident. ({0}) - Das gehört alles dazu. Das gehört zur Verteidigungspolitik, und Sie wollen doch wohl nicht über Verteidigungspolitik reden, ohne den Verteigungsminister zu einem Vorgang gehört zu haben, den Sie selber in den letzten Monaten so in den Vordergrund gestellt haben, meine Herren. ({1}) Mit diesem Vergleich wird ein Angehöriger des Parlaments auf die Ebene eines Mannes herabgezerrt, der bisher nur herabsetzende und verächtliche Bemerkungen für den demokratischen Staat übrig hatte, dem wir alle dienen. Das ist in der Form schon schwer erträglich. Es ist aber vor allem wahrheitswidrig, zu behaupten, im Bundestag säßen Linksextremisten. Ich halte es für die mir vom Gesetz auferlegte Pflicht, dafür zu sorgen, daß das Ansehen der Bundeswehr nicht beschädigt wird und daß zwischen Parlament und Bundeswehr keine Gräben aufgerissen werden. ({2}) Ich kann daher folgende Auffassung nicht teilen, eine Auffassung, die ich am 30. Oktober 1976 in der „Frankfurter Neuen Presse" gelesen habe. Dort hieß es - ich zitiere, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung -: Darauf hat nach einem Bericht eines bei dem Gespräch anwesenden Journalisten Krupinskis Stellvertreter Franke erklärt, Rudels Anwesenheit könne so lange keinen Anstoß erwecken, wie Extremisten und Kommunisten wie Wehner im Bundestag säßen. Diese letzte Äußerung, die bisher nicht dementiert wurde, bezeichnete der CSU-Abgeordnete Handlos im Pressedienst seiner Landesgruppe als erlaubt, wenn die SPD durch Blindheit auf dem linken Auge und durch das Hantieren mit Vergrößerungsgläsern vor dem rechten Auge sich zu unangemessenen Stellungnahmen hinreißen lasse. Das ist das Zitat der „Frankfurter Neuen Presse". Ich kommentiere das hier nicht. Darüber mag jeder für sich nachdenken. Ich wäre aber sehr besorgt, wenn es Praxis würde, was hier von einem Mitglied des Deutschen Bundestages als für Generale erlaubt erklärt wird. ({3}) Niemand, wer auch immer in meiner Verantwortung ist, darf eine Entwicklung, die zum Konflikt und zum Mißtrauen zwischen Parlament und Armee führen würde, hinnehmen. Auch wenn nur ein Mitglied des Deutschen Bundestages gemeint wäre, ist eine solche im Dienst geäußerte Bemerkung eines Generals eine Verunglimpfung des Bundestages, die von niemandem hingenommen werden darf, der Wert darauf legt, daß der Deutsche Bundestag seine verfassungsmäßigen Aufgaben wahrnehmen kann. ({4}) Wenn man diesen strengen Maßstab, den ich gewiß anlege, nicht anlegte, würde am Ende die Frage zu stellen sein - darüber denken Sie bitte einmal nach -, wieviel Abgeordnete es dann wohl sein müssen, die verletzt werden, und welcher Partei sie wohl angehören müssen, bis sich der Bundestag selber als Institution involviert fühlt. Mit ihrem Verhalten haben die beiden Generale, die Vorgesetzte von 60 000 Soldaten der Luftwaffe waren, das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Parlament in einer Weise belastet, die ich als ihr Vorgesetzter nach den mir auch vom Bundestag übertragenen Pflichten nicht hinnehmen darf. Es geht hier um die Frage des Selbstverständnisses der Bundeswehr und um ihre Integration in den Staat. Was wir bisher erreicht haben, ist die von vielen aus allen Lagern mit viel Erfolg geleistete mehr als 20jährige Arbeit. Diese darf auch durch solche Äußerungen aus der Armee selbst nicht verschüttet und zerbrochen werden. Ich muß hinzufügen, daß durch diesen Vorgang und die Besonderheiten seiner Vorgeschichte auch das Vertrauensverhältnis zwischen den militärischen Vorgesetzten der beiden Generale und mir auf der einen Seite und den beiden Generalen so beschädigt war, daß ihr Verbleiben schon allein deswegen nicht mehr möglich gewesen wäre. Mir ist vielfach vorgehalten worden, die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand sei eine zu harte Reaktion gewesen. Was hätte ich unter Beachtung des Gesetzes anderes tun können? Ich hätte ein Disziplinarverfahren einleiten können. Das hätte zu wochenlangen Verhören und Untersuchungen durch ein Gericht geführt, und mit Sicherheit wäre die Autorität der Generale dabei erheblich angeschlagen worden. Ich will Ihnen meine Auffassung zu diesem Vorgang generell beschreiben. Ich halte nichts davon, daß Generale, die durch ihr Verhalten dazu Anlaß geben, von ihren Vorgesetzten oder von mir vor Gerichte oder Disziplinargerichte gestellt werden müssen. Das schadet dem Ansehen der Bundeswehr nach außen und der Autorität und der Disziplin im Innern. Ich habe deshalb unseren Kommandeuren in aller Offenheit folgendes gesagt: Wer solche Risiken durch sein persönliches Verhalten eingeht, riskiert nicht das Ansehen der Armee und die Disziplin der Bundeswehr im Innern, sondern seinen eigenen Dienst und sein Verbleiben im Amt. Das ist meine Position zu dem Verhalten von Generalen in solchen Fragen. ({5}) Diese Auffassung vertrete ich auch, weil ich möchte, daß unsere Generale in den Augen der ganzen Bevölkerung tadelsfrei dastehen. Deshalb sind die beiden Generale in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Sie selber haben, soweit mir bekannt ist, gegen ihre Versetzung in den einstweiligen Ruhestand bisher auch an keiner Stelle Einspruch erhoben oder Kritik dagegen vorgebracht. Sie wenden sich lediglich dagegen, daß ihnen bis zur Entscheidung des Herrn Bundespräsidenten von mir mit sofortiger Wirkung die weitere Ausübung ihres Dienstes verboten worden ist. Aus diesem Grunde möchte ich auch diesen Teil meiner Entscheidung hier begründen und erläutern. Ich kann nicht wissen, wann der Herr Bundespräsident in einem solchen Fall auf meinen Antrag hin seine Entscheidung trifft. Deshalb stellt sich immer die Frage, was bis zur Entscheidung des Herrn Bundespräsidenten in der Zwischenzeit mit einem solchen Mann geschieht. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Generalen und ihren militärischen Vorgesetzten wie auch zu mir war gestört. Ihre Autorität gegenüber ihren Untergebenen war nach den tagelangen heftigen Vorwürfen und Attacken des größten Teils der deutschen Presse in den Tagen bis zum 1. November angeschlagen. Ihr Verbleiben im Amt bis zur Aushändigung der Urkunden hätte in der Truppe mit Wahrscheinlichkeit zu disziplinarischen Schwierigkeiten und Konflikten führen können. ({6}) Ich hatte zunächst die Absicht, die Herren aus den dargestellten Gründen zu beurlauben oder sie vom Dienst zu suspendieren. In der Frage der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gibt es nach den Vorschriften des Gesetzes, das der Deutsche Bundestag hier zur Regel gemacht hat und an das ich mich zu halten habe, aber nur zwei Möglichkeiten: entweder das Verbleiben im Dienst bis zum Ausscheiden oder das Verbot der Ausübung des Dienstes bis zum Ausscheiden. Das erste konnte ich nicht verantworten, weil ich nicht Disziplinarfälle riskieren wollte. Im Rahmen des Gesetzes hatte ich nur die Möglichkeit des Verbotes der Ausübung des Dienstes. Daran habe ich mich gehalten, und so habe ich auch entschieden. Einer meiner Vorgänger, Herr Kollege von Hassel, hatte es im Jahre 1965 in einer ähnlichen Sache mit einer ähnlichen Entscheidung zu tun. Damals ging es nicht um einen General, sondern um einen Feldwebel. Herr Kollege von Hassel hat damals im Deutschen Bundestag erklärt, daß dem Soldaten, um den es ging, wegen seiner Äußerung verboten wurde, seinen Dienst weiter auszuüben, weil zwingend angenommen werden mußte, daß das Vertrauen der ihm unterstellten Soldaten zu ihm als militärischem Vorgesetzten erschüttert war. Herr von Hassel erklärte damals hier im Deutschen Bundestag wörtlich: Wenn ein Mann eine solche Rede hält, ist es mir völlig gleichgültig, ob er Zugführer oder Schirrmeister oder Funkmeister ist. Damals ging es um einen Feldwebel, jetzt geht es um zwei Generale. Ich füge deshalb dem, was Herr von Hassel damals hier gesagt hat, hinzu: Ob es sich um einen Feldwebel oder ob es sich um Generale handelt, muß gleich sein, wenn der gleiche Tatbestand vorliegt; sonst sähe es in einer Armee schlimm aus. ({7}) Ich füge hinzu: Mit Sicherheit kann man bei Generalen nicht Milde walten lassen, wo man Feldwebel wie in diesem Fall vor Disziplinargerichte stellt. Herr von Hassel sagte das damals als Antwort auf eine Frage der damaligen Opposition. Die damalige Opposition nahm die Antwort und die Entscheidungen des damaligen Verteidigungsministers hin und machte sie nicht zum Gegenstand einer großen parteipolitischen Kontroverse. Ich nehme an, ich habe mir in fast fünf Jahren Dienst als Verteidigungsminister bisher nicht den Ruf erworben, etwas gegen Generale zu haben, sondern wenn ich das lese, was in den Zeitungen steht, so stehe ich eher im Verdacht, eine gegenteilige Einstellung zu haben. Aber wer von wehrpflichtigen jungen Männern Disziplin verlangen muß und wer verlangen muß, daß Soldaten gehorsam sind, der muß auch darauf achten, daß Generale Disziplin halten und daß sie peinlich auf das Ansehen der Armee achten, damit Gehorsam und Disziplin in ihr gewahrt bleiben. Sie haben Vorbilder zu sein! ({8}) Im Gesetz heißt es: Der Soldat hat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger. Es heißt weiter: Seine Rechte werden im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt. Wer Soldat wird, der weiß das und nimmt deshalb besondere Pflichten und auch Beschränkungen auf sich. Darüber wird er belehrt, wenn er eintritt. Das ist übrigens gar nicht einmal eine Besonderheit des Soldatenberufes, bei den Soldaten ist es nur ausdrücklich durch das Gesetz so bestimmt. Rechtsanwälte, Ärzte und andere leben nach ähnlichen Re194 gein. Was für einen Pfarrer oder für einen Bischof gilt, das gilt sogar aus sehr vergleichbaren Gründen auch für militärische Hirten und für militärische Oberhirten. Diese müssen sich daran halten. Das muß sein, und der Gesetzgeber hat bestimmt, daß das so ist, weil der Soldat sich in der Vertrauensfrage in ganz besonderer Weise von anderen Bürgern abhebt. Der Staat gibt seinen Soldaten gefährliche Waffen in die Hand. Deshalb hat er den Soldaten auch Begrenzungen und besondere Pflichten auferlegt. Das ist nötig, damit die Gesellschaft immer das Gefühl haben kann, von den Soldaten mit Waffen immer nur beschützt zu werden, und nicht eines Tages einmal Angst vor ihnen bekommen muß. Wenn Sie in die Welt sehen, sehen Sie Beispiele dafür. Der Bundesminister der Verteidigung ist durch die Verfassung und durch die hier vom Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetze verpflichtet, das Vertrauen zu wahren, das die Streitkräfte brauchen. Deshalb habe ich mich so verhalten. ({9}) Ich habe in dieser Darstellung aus vielen Gründen darauf verzichtet, auf eine ganze Reihe von bösartigen Vorwürfen, von falschen Behauptungen, von politischen Unterstellungen und unbegründeten Schlußfolgerungen einzugehen, denen ich ausgesetzt war. Sie können ganz sicher sein: ich bin kein Neuling in der Behandlung auch schwieriger Fragen. Ich kenne persönlich auch viele bequemere Wege, mit schwierigen Vorgängen solcher Art persönlich fertig zu werden. Das ist eine Seite. Ich habe aber auch in meinem Leben gelernt, daß man in bestimmten Fällen, wenn man Verantwortung trägt, sich nicht scheuen darf, auch unbequeme Wege zu gehen, und bereit sein muß, sogar Schrammen zu riskieren, damit nicht, wie in diesem Falle, am Ende Staat oder Armee von Narben belastet werden. Es gibt Situationen, in denen es gut ist, miteinander zu reden. Damals war es schwierig, miteinander zu reden. Aber dieser Fall war so gelagert, daß ich es für notwendig und gut hielt, ihn auch mit der Opposition zu besprechen. Ich habe deshalb den Versuch gemacht, mit Herrn Kohl ein Gespräch zu vereinbaren, - in den Tagen, als es um die Entscheidung ging. Herr Kohl hat sich auch mir gegenüber sofort bereit erklärt, dieses Gespräch zu führen. Er hatte aber leider vor dem Mittwoch der dann folgenden Woche keine Zeit. Das kann ich verstehen. Herr Kohl ist ein vielbeschäftigter Mann, und damals gab es ja auch bei Ihnen sehr viele Themen, die öffentliches Aufsehen erregt hatten. Aber ich wurde an dem Mittwoch, an dem das Gespräch war, bereits im Krankenhaus an etwas behandelt, was ich auch nicht kalkuliert hatte. Deshalb kam es nicht zu einem Gespräch mit Herrn Dr. Kohl. Mein natürlicher Gesprächspartner wäre Herr Dr. Wörner gewesen. Herr Dr. Wörner hat ja geschrieben, ich möge die ganze Wahrheit sagen, und das will ich dann auch gerne tun, wenigstens einmal andeuten, was es noch gibt. Dieses Gespräch mit Herrn Dr. Wörner über diesen Vorgang war nach meiner Aufassung nicht möglich, und zwar deswegen nicht, weil der Herr Kollege Dr. Wörner in dieser Sache so befangen war, daß ich ihn nicht als einen unbefangenen Gesprächspartner ansehen konnte. ({10}) Ich habe leider - - Nehmen Sie das nicht leicht! Sonst fordern Sie mich auf, Ihnen die Beweise vorzutragen. Es geht hier um ein Mitglied des Hohen Hauses. ({11}) Ich habe schlüssige Beweise dafür, daß das sogenannte Traditionstreffen in Bremgarten mit Herrn Rudel ohne die Aktivität von Herrn Dr. Wörner überhaupt nicht abgehalten worden wäre. ({12}) Wenn dieses Treffen aber nicht zustande gekommen wäre - - Ich beweise es Ihnen gleich, damit Sie ein bißchen Geschmack kriegen, Herr Dr. Wörner. - Damit wäre vermutlich auch der Grund für das Fehlverhalten der beiden Generale gar nicht entstanden, denn daran hatte sich ja der Vorgang entzündet. ({13}) - Natürlich, natürlich. Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie tief das in die Verteidigungspolitik hineinreicht; wenn Sie ein bißchen ernst sein können und ein wenig über das nachdenken, was ich Ihnen jetzt sage, dann werden Sie vielleicht ein Gefühl dafür bekommen, was hinter der Sache noch steckt. ({14}) Da ist im Oktober 1976 ein Treffen gewesen. Das war nicht das erste Mal. Es war schon im Jahr 1975 beabsichtigt, ein solches Treffen zu veranstalten. Herr Rudel sollte dabei aufkreuzen. Die Führung der Luftwaffe hatte davon gehört, und die Führung der Luftwaffe hielt nichts von dem Treffen. Ich hatte davon überhaupt nichts zu Ohren bekommen. ({15}) - Das ist auch unter der Ebene der Staatssekretäre; der wußte auch nichts davon, niemand, es war luftwaffenintern. - Hören Sie sich das gut an! Das ist nichts zum Lachen, sondern etwas sehr Ernstes. Die Führung der Luftwaffe hatte Bedenken wegen dieses Treffens ({16}) - Vielleicht vergeht es Ihnen noch, Herr Dr. Wörner. - Die Führung der Luftwaffe wollte dieses Treffen aus vielerlei Gründen verhindern, ({17}) weil sie öffentliches Aufsehen vermeiden wollte. Sie mußte zum gleichen Zeitpunkt Alarm geben und eine Übung ansetzen, ({18}) wodurch es dann leider nicht mehr möglich war, das Treffen für das Geschwader abzuhalten. So ist die Luftwaffe selbst mit dem Vorgang fertig geworden. Am 26. Januar hat dann Herr Dr. Wörner dem Inspekteur der Luftwaffe einen Brief geschrieben und hat ihn in sehr ungehaltenem Ton auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Herr Dr. Wörner, hier liegt der zweite schwerwiegende Fauxpas. ({19}) Wenn Sie etwas mit der Luftwaffe oder mit einem Geschwader zu tun haben, dann wenden Sie sich bitte gefälligst an mich und nicht an einen General der Luftwaffe! ({20}) Meine Damen und Herren, niemand, der von diesem Hohen Hause den Auftrag bekommt, an der Spitze der Bundeswehr Verantwortung zu tragen, kann ertragen, daß in eine so streng geordnete hierarchische Einrichtung wie eine Armee von der Seite her hineinregiert wird. Dies geht nicht! ({21}) Herr Kollege Wörner, Sie lachen, wenn ich das hier sage. ({22}) Ich nehmen an, Sie werden wissen, was das ist. ({23}) - Ich schaue Sie an, und ich kann Ihnen nur sagen, ({24}) der zweite Punkt - dies ist auch nur eine Andeutung - ({25}) Sie haben, nachdem Sie mit der politischen Führung des Ministeriums ein Gespräch geführt hatten, ({26}) einen dritten Fauxpas begangen, der sich im Umgang mit der Armee nicht gehört, Herr Dr. Wörner. ({27}) Sie haben dem Kommodore in Bremgarten mitgeteilt, daß das Treffen stattfinden solle, statt ein Gespräch zu führen und dann abzuwarten, bis dem Kommodore durch seine Vorgesetzten - seinen Divisionskommandeur und seinen Inspekteur - mitgeteilt wird, ob ihm ein Treffen erlaubt wird oder nicht. - So gibt es eine Fülle von Vorgängen, die sehr beunruhigend sind. ({28}) - Wir müssen darüber nachdenken, wie miteinander verkehrt werden darf. Meine Damen und Herren, es gibt viele Fragen in der Verteidigungspolitik, die zu debattieren sich lohnt und denen das guttun würde. Es wäre auch gut, wenn im neugewählten Bundestag mehr Zeit gefunden würde, das zu tun, auch wenn es kontrovers wäre, statt Kraft und Zeit in öffentlichen Debatten über Personalien zu verbrauchen, wie das die letzten Monate so häufig geschehen ist, über Personalentscheidungen, die nach dem Gesetz Sache des Verteidigungsministers sind, mindestens so lange, wie sich der Minister an die Gesetze hält, die ihm seinen Rahmen abstecken. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen sehr für die Aufmerksamkeit. Ich wollte das dem Deutschen Bundestag, bevor ich wieder über Verteidigungspolitik rede, gerne in der Form eines Berichts mitgeteilt haben. ({29})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, zwei Bemerkungen zur Geschäftsordnung: Wenn ein Mitglied der Bundesregierung gemäß Art. 43 der Verfassung in der Debatte spricht, kann es zu jedem Gegenstand sprechen. In diesem Falle können auch an das Mitglied der Bundesregierung Zwischenfragen gerichtet werden, aber es liegt - wie bei jedem anderen Redner - in dessen Ermessen, ob es eine Zwischenfrage zulassen will oder nicht. Eine weitere Bemerkung zur Geschäftsordnung: Nach § 33 unserer Geschäftsordnung soll nach einer Erklärung der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen. Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Wörner.

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind soeben Zeugen eines in diesem Parlament, glaube ich, einmaligen Vorgangs geworden. Wir diskutieren hier die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt. ({0}) Wir diskutieren hier Schicksalsfragen unseres Volkes, Fragen der Politik der kommenden vier Jahre. Und ich glaube doch, daß gerade auf diesem Gebiet der Verteidigungspolitik nun einiger Grund besteht, über das zu reden, was nicht nur uns hier in diesem Lande berührt. Da gibt es eine strategische Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika, da werden alarmierende Schlagzeilen in Hülle und Fülle geliefert. Bei uns beunruhigt den Bürger die Frage, wie es mit den russischen Rüstungsanstrengungen weitergeht. Und da fühlt der Bundesverteidigungsminister in einer solchen Debatte nichts anderes als die Notwendigkeit, sein etwas zerrüttetes Bild, das in der Öffentlichkeit zu Recht enstanden ist, wieder zurechtzurücken. Ich kann nur sagen: Das war ein untauglicher Versuch, Herr Leber, ({1}) obwohl wir sehr viel Verständnis dafür aufbringen, daß Sie natürlich dieses Bedürfnis gespürt haben, nachdem Sie ja weniger von uns, als von der Öffentlichkeit und Ihrer eigenen Partei übel gerupft wurden, um das einmal klar zu sagen. Nur: Wenn Sie, lieber Herr Leber, schon das Gefühl haben, Sie müßten das in der Debatte des Bundestages korrigieren, ({2}) dann steht dafür die Debatte zur Verfügung, die im Ältestenrat aus Anlaß des Antrags der CDU/CSU vereinbart wurde. ({3}) Diese Debatte sollte und wird in der nächsten Sitzungswoche des Deutschen Bundestages stattfinden. ({4}) Wir von der CDU/CSU bestehen darauf, daß die Debatte über die sogenannte Generalsaffäre dann geführt wird, wenn der Antrag der Opposition auf der Tagesordnung steht. ({5}) Noch heute morgen ist im Ältestenrat des Bundestages auf die Frage der Vertreter der CDU/CSU hin, ob die Regierung die Absicht habe, eine Erklärung zur Generalsaffäre abzugeben, die klare und eindeutige Antwort gegeben worden: Nein, das ist nicht der Fall. ({6}) Dann ist es eine Frage des parlamentarischen Stils und des Anstands und der parlamentarischen Ordnung, daß auch der Bundesverteidigungsminister sich daran hält. ({7})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Timm?

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachdem der Bundesverteidigungsminister es abgelehnt hat, eine Zwischenfrage zuzulassen, ({0}) bekommen Sie von mir sehr gern die Möglichkeit, mich zu fragen. Bitte schön.

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Wörner, würden Sie so gut sein und bei Ihren geschäftsführenden Kollegen nachfragen, was heute im Ältestenrat gewesen ist? Es bezog sich auf eine Regierungserklärung in der nächsten Sitzungswoche. Ich glaube, es ist ganz klar.

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich habe die Information nicht nur von den Herren unserer Fraktion, ({0}) sondern diese Information ist auch vom Vertreter der FDP bestätigt worden. ({1}) Aus diesem Grunde beschränke ich mich, da die eigentliche Debatte zur Sache wie vereinbart in der nächsten Sitzungswoche stattfinden wird, ({2}) auf eine einzige Bemerkung zur Sache. Auch das, was Sie heute geboten haben - darüber werden wir in der nächsten Sitzungswoche reden -, ({3}) kann den Eindruck nicht verwischen und kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß zwei Generale der Bundeswehr gehen mußten, damit Sie Ihren eigenen Kopf retten konnten und weil Sie dem Druck Ihrer Linken stattgegeben haben. ({4})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.

Kurt Spitzmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002202, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! An Stelle des jetzt vorgesehenen Kollegen Möllemann möchte ich vor dem Haus eine Erklärung abgeben. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben die Debatte des heutigen Tages in einer interfraktionellen Besprechung angesprochen. Dabei wurde von den SPD-Vertretern klar ausgeführt, daß Herr Leber heute nachmittag das Wort ergreifen und die Frage der Generale ansprechen werde. ({0}) Heute mittag hat der Ältestenrat zum erstenmal getagt, d. h., er hat sich konstituiert. Dabei ist der Wunsch der CDU vorgetragen worden, die Tagesordnung von Donnerstag, dem 3. Februar, dahin gehend zu verändern, daß wir erst nachmittags mit der Debatte beginnen und die Behandlung des Antrags der CDU „Versetzung der Generale in den Ruhestand" für diesen Nachmittag auf die Tagesordnung setzen. In diesem Zusammenhang ist die Frage aufgetaucht, ob zu dieser Debatte eine Regierungserklärung abgegeben werde. Diese Frage wurde verneint. ({1}) So ist die Geschäftslage. Ich glaube, die Unruhe bei der CDU ist unbegründet. Sie beruht auf gewissen Fehlinformationen, vielleicht auch Fehlinterpretation. Aber genauso, wie ich es geschildert habe, hat es sich abgespielt. Man kann hier niemandem einen Vorwurf machen, allenfalls den Vorwurf, daß sich die CDU nicht bis ins letzte Detail erkundigt hat, wie der tatsächliche Verlauf gewesen ist. ({2})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Hierzu hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Wörner.

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Frage läßt sich sehr einfach beantworten: Es gibt einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, ({0}) das Verhalten von Herrn Leber zu mißbilligen. ({1}) Dieser Antrag ist ordnungsgemäß eingebracht worden. ({2}) Er steht, wie alle in diesem Hause wissen - auch Herr Leber weiß es -, nicht auf der Tagesordnung. ({3}) Seit wann werden Debatten zu Anträgen acht oder vierzehn Tage, bevor der Antrag auf der Tagesordnung steht, geführt? ({4})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Das Wort hat der Abgeordnete Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zur Verteidigungspolitik zurückkommen und die Komplexe hier behandeln, die die Regierungserklärung in diesem Bereich dargelegt hat, und dabei allerdings auch die Gelegenheit wahrnehmen, zu dem hier soeben angesprochenen Fragenkreis einige Worte zu sagen. Ich halte es nicht für so entscheidend, Herr Kollege Dr. Wörner, ob man jetzt oder am 3. Februar die Positionen der Fraktionen hier verdeutlicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie am 3. Februar eine andere Meinung als die heutige vertreten werden. Ich glaube, daß Herr Bundesminister Leber recht hat, wenn er sagt, daß die Positionen der Regierung und der Parteien zu diesem Thema wirklich sehr bald bezogen werden sollten. Die Bundesregierung hat sich in der Regierungserklärung zur Kontinuität der bisherigen Außenpolitik bekannt. Das Atlantische Bündnis bleibt Grundlage unserer Sicherheit. In der Bundeswehr, unserem militärischen Beitrag zum Atlantischen Bündnis, soll die vorbereitete neue Wehrstruktur nunmehr verwirklicht, sollen Bildung und Ausbildung verbessert und die kontinuierliche Erneuerung und Modernisierung der Ausrüstung fortgesetzt werden. Im Interesse von Frieden und Sicherheit in der Welt soll unsere realistische Entspannungspolitik fortgesetzt werden. Die Bundesregierung will auf der Grundlage der gemeinsam im Bündnis entwickelten Zielsetzungen an konstruktiven und weiterführenden Schritten zum Abbau der militärischen Konfrontation in Europa aktiv mitwirken, insbesondere im Rahmen der Wiener Verhandlungen über beiderseitige, ausgewogene Verminderung der Streitkräfte. Weiterhin will sich die Bundesregierung für verstärkte Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrollen im weltweiten Rahmen einsetzen, besonders auf der für 1978 vorgesehenen Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen. Diese außen- und sicherheitspolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung für die 8. Legislaturperiode werden von den Freien Demokraten voll und uneingeschränkt mitgetragen und unterstützt. Wir hofften eigentlich - anscheinend vergeblich -, sie würden auch die Zustimmung der Opposition finden können, denn für diese Außen- und Sicherheitspolitik gab und gibt es keine vernünftige und realistische Alternative. Auch der Oppositionsführer, Dr. Kohl, der hier vom Bundeskanzler aufgefordert worden war, etwaige Alternativvorstellungen zu nennen, hat sich diesem Wunsch versagt. Wir können also weiterhin von dieser Position ausgehen. Dabei wäre es sehr gut, wenn die Bundesregierung diese Politik mit der breiten Zustimmung in diesem Hause in Zukunft noch erfolgreicher zum Wohle unseres Landes führen könnte. Die Aussagen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind in der Regierungserklärung vom Volumen her nicht besonders umfassend. Der Grund liegt einmal darin, daß wir im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik - bisher jedenfalls - einen breiten Konsens aller Fraktionen in diesem Parlament hatten. Wie anders wäre es dann zu verstehen, daß Sie, meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition, bisher regelmäßig dem Verteidigungshaushalt zugestimmt haben? Daraus darf man doch wohl entnehmen, daß Sie auch der durch ihn finanzierten Politik zustimmen. Zum anderen läßt die Formulierung der Regierungserklärung für diesen Bereich - und auch dies finde ich durchaus positiv - Spielraum für weitere Initiativen des Parlaments, die vor allen Dingen auf den Innenbereich, auf die Bundeswehr zielen. Nach Auffassung meiner Fraktion kommt es in der neuen Legislaturperiode entscheidend darauf an, im Rahmen des Atlantischen Bündnisses und gemeinsam mit unseren Bündnispartnern sowohl in der Entspannungspolitik als auch bei der militärischen Absicherung dieser Politik durch konstruktive eigene deutsche Beiträge zu gewährleisten, daß unsere legitimen Sicherheitsinteressen ebenso wie die der Bündnispartner auch künftig erfüllt werden. Das Atlantische Bündnis hat im Nordatlantikvertrag eine dauerhafte, feste und bewährte völkerrechtliche Grundlage. Dieser Vertrag ist und bleibt unverändert der Rahmen, das statische Element. Die Organisation und die strategische Konzeption der NATO sind aber, wie der noch wenige Tage amtierende amerikanische Außenminister Kissinger zutreffend festgestellt hat, stets einer dynamischen Entwicklung unterworfen. So muß nach Auffassung meiner Fraktion die geistige und materielle Ausfüllung der unverändert gültigen militärischen NATO-Strategie der flexiblen Reaktion ständig kritisch überprüft und, wenn erforderlich, konsequent den Entwicklungen auf politischem, wirtschaftlichem und technischem Gebiet angepaßt werden. Hierzu zwingt vor allem auch der von der Bundesregierung in der Regierungserklärung in Übereinstimmung mit anderen Bündnisstaaten festgestellte stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Pakts, dessen militärisches Potential größer ist, als es objektiv für reine Verteidigungszwecke notwendig wäre. Ich halte es für erwägenswert, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik tätige Politiker, durch weisungsunabhängige Fachleute aus verschiedenen mit dieser Materie befaßten Ministerien sowie durch Wissenschaftler und andere sachkundige Experten Analysen der sicherheitspolitischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten unseres Staates im Rahmen des NATO-Bündnisses anstellen und Optionen und Entscheidungshilfen entwickeln zu lassen, dies nicht als einmalige Handlung, sondern in institutionalisierter Form. Im Gegensatz vor allem zu den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Schweden gibt es in unserem Lande bisher keine kontinuierliche öffentliche Diskussion über Probleme der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dadurch wirken von der gemeinsamen Bündnispolitik oft völlig abweichende Einzelmeinungen - von den Medien dann auch manchmal sensationell aufgemacht - auf die Allgemeinheit nicht selten schockierend. ({0}) Dies kann die Verteidigungsbereitschaft und damit die Verteidigungsfähigkeit schwächen. Es ist deshalb auch verständlich, daß in unserer jungen Generation eine gefestigte Überzeugung und Einsicht in die Notwendigkeit und die erforderlichen persönlichen und materiellen Opfer für unsere äußere Sicherheit nicht immer vorhanden ist, und dies, obwohl gerade auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik diese Bundesregierung und auch ihre Vorgängerinnen seit Jahren sehr aktive Information, vor allem durch die periodisch erscheinenden Weißbücher zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes, betrieben. Die Zustimmung der Bürger in der Bundesrepublik zu unserer Bundeswehr ist zwar außerordentlich groß. Rund 75 % halten die Bundeswehr für notwendig und wichtig. Wehrpflichtige, die durch ihre Dienstleistung in den Streitkräften ihren persönlichen Beitrag für unsere Sicherheit zu leisten haben, äußern jedoch oft Zweifel, ob das von ihnen geforderte persönliche Opfer im Interesse unseres Landes wirklich wichtig, notwendig oder in dieser Form erforderlich ist. Sozialwissenschaftliche Umfragen, auch die des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, kommen zu dem Ergebnis, daß die Ablehnung der Wehrpflicht in industriell entwickelten und demokratisch verfaßten Ländern zunehmen wird. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Einstellung der intellektuellen Jugend gegenüber Streitkräften und Wehrpflicht; denn aus diesem Personenkreis müssen die Streitkräfte ihren Führungsnachwuchs gewinnen, und dieser Personenkreis wird später wichtige Positionen in Staat und Gesellschaft besetzen. Die große Mehrheit unserer Wehrpflichtigen erfüllt nach wie vor die auf Grund der Wehrpflicht an sie gestellten Anforderungen. Die Meinung der Abiturienten und Studenten über Bedeutung und Notwendigkeit der Bundeswehr und von Verteidigungsanstrengungen ist aber nach den soziologischen Untersuchungen deutlich negativer als in der Gesamtbevölkerung oder bei ihren Alterskameraden, die nach Haupt- und Berufsschulausbildung bereits im Erwerbsleben stehen. Abiturienten und Studenten stellen z. B. jährlich über die Hälfte der Kriegsdienstverweigerer. Nach den wissenschaftlich gesicherten Erfahrungen entwickelt und stärkt der Dienst in der Bundeswehr bei den Wehrpflichtigen das demokratische Bewußtsein. Sinn und Zweck der Wehrpflicht werden vielen Soldaten jedoch auch durch den militärischen Dienst in der Bundeswehr oft nicht ausreichend bewußt. Hieraus sind Konsequenzen in der Bundeswehr zu ziehen; denn nach unserer Auffassung ist und bleibt die Wehrpflicht auf absehbare Zukunft eine unverzichtbare Grundlage unserer militärischen Verteidigung. Wir sind auch der Meinung, daß die allgemeine Wehrpflicht durch staatliche Maßnahmen gesichert werden muß. Die Wehr- oder Dienstgerechtigkeit ist bislang nicht hinreichend gesichert. Um möglichst viele junge Bürger zu einem Dienst für die Gemeinschaft heranziehen zu können, sollten die Möglichkeiten verschieden langer Grundwehrdienstzeiten auf Grund der unterschiedlichen Aufgaben in den Streitkräften noch einmal gründlich und ohne Voreingenommenheit untersucht werden. Es sollten außerdem auf dem Gebiet der Zivilverteidigung wegen des tatsächlich bestehenden Bedarfs weitere Plätze für Dienstpflichtige geschaffen werden. Darüber hinaus wollen wir uns dafür einsetzen, daß die Möglichkeiten für freiwillige Gemeinschaftsdienste ausgeweitet werden. Wer freiwillig Dienst leistet, sollte nach unserer Auffassung im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Art und Ort seiner Dienstleistung selbst bestimmen können. Wir Liberalen möchten die Bürger zum freiwilligen EngageMöllemann ment für die Gemeinschaft ermutigen und andererseits auch über die Zumutbarkeit staatlicher Ansprüche aufklären. Wir wollen dafür Sorge tragen, daß die Bereitschaft vieler Bürger zum freiwilligen Dienst an der Gemeinschaft in Organisationen und Einrichtungen aufgefangen wird, in denen außer dem Wehrdienst weitere soziale Dienste sinnvoll geleistet werden können. Diese Einrichtungen sollen auch den Frauen offenstehen. Dienstleistungen für die Gemeinschaft dürfen dem einzelnen keine unerträglichen Nachteile bringen. Wer unter Zurückstellung persönlicher Interessen der Allgemeinheit dient, hat unseres Erachtens Anspruch auf die besondere Fürsorge des Staates und auf die Anerkennung durch seine Mitbürger. Staat und Gesellschaft müssen nach liberaler Auffassung dafür Sorge tragen, Benachteiligungen soweit wie möglich auszugleichen und damit positive Anreize für den Dienst für die Allgemeinheit zu schaffen. Ich darf kurz zu einem Thema etwas sagen, das in den letzten Tagen ebenfalls die Presse beschäftigt hat, nämlich zur Frage der Wehrdienstverweigerung und der gesetzlichen Regelung dieses Problemfelds. Wir setzen uns dafür ein, daß wir die Regelungen, die der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode gefunden hat, um die Gewissensprüfung für solche jungen Menschen abzuschaffen, die sich auf Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes berufen, im materiellen Gehalt unverändert in diesem Parlament einbringen. Wir beharren darauf, die Gewissensprüfung abzuschaffen. ({1}) Wenn ich vorhin gesagt habe, daß eine Reihe von jungen Menschen, eine, wie wir meinen, unerfreulich große Zahl von jungen Bürgern, den Sinn des Wehrdienstes bezweifelt, dann ist das sicherlich nicht nur ein Problem, das in der Bundeswehr angesiedelt ist. Die Ursache hierfür ist auch in unserem Bildungssystem zu sehen. Wir wollen deswegen mit den Möglichkeiten, die uns im Bund oder in den Ländern gegeben sind, darauf hinwirken, daß in den Curricula der entsprechenden Fächer von Schulen und Hochschulen sicherheits- und verteidigungspolitische Probleme ebenso wie die verfassungsmäßigen Grundlagen von Wehrdienst und Zivildienst sowie die Friedens- und Konfliktforschung angemessener als heute behandelt werden. Die Arbeit der Jugendoffiziere der Bundeswehr muß sich in diese aufklärenden und informierenden Bestrebungen einordnen. Die politische Bildung, die Innere Führung, in der Truppe muß qualifizierter werden. Sie weist entgegen der im letzten Jahresbericht des Wehrbeauftragten zum Ausdruck gekommenen Auffassung in Theorie und Praxis noch erhebliche Mißstände auf. Menschenführung und Fürsorge leiden unseres Erachtens unter einem immer stärker um sich greifenden Spezialisten- und Funktionärstum. Wir meinen, daß der Führungsstil durch mehr Delegation Entscheidungsfreude, Verantwortungsbereitschaft und geistige Mobilität wecken und erhöhen soll. Jede Möglichkeit der Mitgestaltung der Soldaten aller Dienstgrade sollte im Rahmen der funktionalen Möglichkeiten genutzt werden, die die Bundeswehr bietet. Auch die Rechte der Vertrauensleute können meines Erachtens noch ausgeweitet werden; auch das wird diesen Bundestag sicherlich noch beschäftigen. Es sollten partnerschaftliche Unterrichtsmethoden eingeführt und die in der Zentralen Dienstvorschrift geforderten zeitgemäßen Lernziele und Lerninhalte konsequent verwirklicht werden. Hierzu muß aber wohl die Schule für Innere Führung personell und organisatorisch stärker als bisher auch vom Ministerium selbst unterstützt werden. Der Besuch von Lehrgängen für Innere Führung und politische Bildung sollte unseres Erachtens für Einheitsführer und Kommandeure obligatorisch werden. In diesem Zusammenhang begrüße ich es ausdrücklich, daß der neue Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wust, sein besonderes Interesse auf die Aktualisierung und Belebung der Inneren Führung richten will. Hierbei hat er unsere volle Unterstützung. In der Entspannungspolitik darf nach Auffassung meiner Fraktion der sehr schleppende Fortgang der MBFR-Verhandlungen in Wien den Westen nicht entmutigen. Die restriktive Einstellung der Staaten des Warschauer Paktes, die bisher nicht bereit sind, ihr erhebliches konventionelles Übergewicht bei den Landstreitkräften im Reduzierungsraum angemessen zu vermindern, hat bisher auch erste bescheidene Ergebnisse bei den Verhandlungen verhindert. Es muß aber auch die Frage erlaubt sein - und sie darf nicht gleich zu irgendwelchen Unterstellungen führen -, ob die NATO im Rahmen ihrer eindeutigen und richtigen Zielsetzung, ein militärisches Gleichgewicht in Mitteleuropa auf einem tieferen Rüstungsstand in Ost und West zu garantieren, bereits wirklich alle denkbaren und für beide Seiten annehmbaren Möglichkeiten voll ausgeschöpft hat. Damit es ganz klar ist: Die beiden Hauptprämissen heißen für uns weiterhin: erstens Verringerung von Truppen und Rüstungen in Richtung auf echte Parität, zweitens Festschreibung globaler, nicht aber nationaler Reduzierungspakete. Nach unserer Auffassung sollten also die Bemühungen in Wien, zu ersten rüstungsbegrenzenden Vereinbarungen zu kommen, durch das Bündnis intensiviert werden, ohne sich allerdings politisch unter Erfolgszwang setzen zu lassen. Wir glauben, daß jetzt auch der Zeitpunkt da ist, Zwischenbilanz zu ziehen - nicht etwa um andere anzuklagen, sondern um, wenn möglich auf bisher Erreichtem aufbauend, neue Schritte zu tun. Die gewaltige Aufrüstung des Warschauer Paktes in einer Zeit der Entspannungspolitik hat trotz des in Helsinki Erreichten und der Verhandlungen in Wien vor allem dazu geführt, daß der Abbau des Mißtrauens zwischen den beiden Blöcken zumindest ins Stocken geraten ist. Dieser Prozeß darf sich aber nicht in sein Gegenteil verkehren. Das wäre zu unser aller Schaden. Es belastet jetzt schon ein wenig die MBFR-Verhandlungen und stellt auch die KSZE-Ergebnisse in der Öffentlichkeit in Frage. Darüber hinaus bergen die genannten Rüstungsanstrengungen des Warschauer Paktes die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs in sich - dies vor allem dann, wenn konkrete Ergebnisse bei den Ver200 handlungen zur Rüstungsbegrenzung und zum Truppenabbau nicht erkennbar werden. Hier bieten sich aber nach unserer Auffassung Ansätze aktiver Politik, die wir weiter betreiben wollen. Es müssen vor allem Schritte getan werden, um die forcierenden Kräfte eines Rüstungswettlaufs möglichst rasch zu begrenzen und das Mißtrauen zwischen Ost und West spürbar abzubauen. Gerade auf dem Sektor gegenseitigen Vertrauens tut der Osten in den letzten Wochen und Tagen Schritte, die dem soeben Gesagten und der KSZE-Schlußakte zuwiderlaufen. Dies kann aber kein Anlaß zur Entmutigung sein, sondern wir müssen noch mehr Anstrengungen unternehmen, um dem rasch entgegenzuwirken. Gelingt dies nicht, gefährden wir Erreichtes und Erstrebtes. Wir propagieren hier also nicht Schwäche, sondern ausschließlich Vernunft. Auch nach unserer Auffassung ist ein Erfolg der Verhandlungen in Wien nicht dadurch zu erreichen, daß die westliche Seite freiwillige Vorleistungen erbringt. Alle Erfahrungen haben gezeigt, daß die Erwartung entsprechender Reaktionen trügerisch und damit letztlich auch für die Sicherheit gefährlich wäre. Wir Freien Demokraten gehen davon aus, daß die Verhandlungen in Wien noch mehrere Jahre fortgesetzt werden müssen, um die heutige gewaltige militärische Konfrontation in Mitteleuropa wirklich abzubauen und damit die latente Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung auf diesem Gebiet zu bannen. Hierzu ist es erforderlich, auch auf vielen anderen Gebieten zunächst das immer noch bestehende Mißtrauen zwischen den Völkern zu beseitigen. Arbeiten wir gemeinsam daran, daß wir in den kommenden Jahren hierin einen Schritt weiterkommen! Abschließend, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, darf ich zum hier angesprochenen Thema der Entlassung der Generale Krupinski und Franke einige Feststellungen treffen. Unsere Fraktion hat die Entscheidung des Bundesministers für Verteidigung, Generalleutnant Krupinski und Generalmajor Franke nach Prüfung des Vorganges unverzüglich zu beurlauben und ihre Versetzung in den einstweiligen Ruhestand anzuordnen, gebilligt. Es scheint mir erforderlich, eine Bemerkung zu dem Vorwurf zu machen, der Verteidigungsminister habe diese Entscheidung angeblich übereilt, ja hektisch getroffen. Meines Wissens gehört es - jedenfalls habe ich dies in meiner Wehrdienstzeit in der Bundeswehr gelernt - zu den Grundprinzipien militärischen Handelns, daß eine erforderliche militärische Entscheidung nach Beurteilung der Lage entschlossen und zügig zu treffen ist. Es kommt, so wird gelehrt, für einen militärischen Führer nicht in erster Linie darauf an, ob aus späterer Sicht von richtigen Entscheidungen die richtigste getroffen ist; bei einer Gefahrenlage sei es immer besser, zu entscheiden, als untätig zu bleiben oder die Entscheidung zaghaft zu verzögern. Ich meine, gerade militärische Vorgesetzte müssen dem Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt in diesem Staate dieses für sich selbst in Anspruch genommene Recht ebenso zubilligen. Durch das Verhalten der beiden Generale ist eine Gefährdung für die Bundeswehr und für unseren Staat vor allem auch hinsichtlich seines Ansehens im Ausland entstanden, die es unverzüglich zu beseitigen galt. Wenn ich hier das Ausland und unser Ansehen im Ausland angesprochen habe, Herr Kollege Wörner, muß ich auch auf Sie eingehen. Ich frage mich, ob Sie eigentlich bedacht haben können, wie die Reaktion bei unseren dänischen und niederländischen NATO-Partnern gewesen sein müßte, wenn Sie als der designierte Verteidigungsminister an dem Traditionstreffen mit Herrn Rudel teilgenommen hätten und dieses Ihr Teilnehmen in der Öffentlichkeit dargestellt worden wäre. Sie kennen die Sensitivitäten bei unseren Nachbarn, die ja auch nicht unbegründet sind, und haben diese, so meine ich, sträflich außer acht gelassen. Der Vorfall hat meines Erachtens aber über den aktuellen Anlaß hinaus die Frage des Traditionsverständnisses in der Bundeswehr überhaupt aufgeworfen, auch die Frage der politischen Bildung, wozu ich gerade einige Bemerkungen gemacht habe. Bundeswehr und Tradition, das ist ein Thema, das immer wieder diskutiert und mit kritischen Äußerungen bedacht wird. Der frühere Bundesverteidigungsminister von Hassel hat 1975 hierüber einen 30 Punkte umfassenden Erlaß herausgegeben. Dieser Erlaß ist meines Erachtens heute überholt. Er sollte unter Mitwirkung des zuständigen Verteidigungsausschusses neu gefaßt werden. Die Bundeswehr besteht bereits erheblich länger als die frühere Deutsche Wehrmacht und die Reichswehr der Weimarer Republik. Selbstverständlich gelten in ihr unbestritten dieselben soldatischen Tugenden wie in früheren deutschen, aber auch anderen Armeen dieser Welt, also Pflichterfüllung bis zum Einsatz des Lebens, Mut und Tapferkeit, Kameradschaft und Hilfsbereitschaft. Die Bundeswehr ist aber die erste deutsche Streitmacht, die mit ihrer Wehrverfassung in unserer demokratischen Grundordnung voll integriert ist. Dies ist allerdings kein selbstverständlicher dauerhafter Zustand. Wir sollen und müssen darauf ständig achten. Die Bundeswehr ist die erste deutsche Streitmacht, deren klarer Verfassungsauftrag eindeutig ausschließlich auf die Verteidigung beschränkt ist. Nach unserer Auffassung ergibt sich hieraus, daß diese Bundeswehr in vielen Bereichen eine eigene Tradition entwickeln muß. Sie kann dies auch deshalb, weil sie sich selbst 20 Jahre hindurch bewährt hat. Sie hat im Rahmen des Atlantischen Bündnisses einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung unserer Freiheit und Sicherheit erbracht, und zwar durch selbstlose Pflichterfüllung vieler Hunderttausender wehrpflichtiger Bürger unseres Staates wie durch die gleiche Leistung von vielen Zeit- und Berufssoldaten. Ich habe meine Wehrpflicht ebenfalls in dieser Bundeswehr abgeleistet, und zwar nicht in Form von Flugsportveranstaltungen. Wir, die wir wie ich in dieser Bundeswehr unsere Wehrpflicht erfüllt haben, waren nicht in erster Linie für die Erfüllung unseres Auftrages auf die Vorbilder aus früheren Streitkräften und ihre militärischen Erfolge im Kriege angewiesen. Es waren nicht diese Erfolge, die uns nachahmenswert erschienen. Das schließt nicht aus, daß vorbildliche - und das gehört dann zusammen - menschliche und soldatische Leistungen in früheren Zeiten nicht anerkannt worden wären. Es ist aber notwendig, wie ein ehemaliger Generalinspekteur, General a. D. de Maizière, zutreffend festgestellt hat, daß mit der Übernahme von Traditionen die Verantwortung des Wertens und Deutens verbunden ist. Hier, Herr Kollege Wörner, lag nach meiner Auffassung Ihr zweiter Irrtum in Ihrer Beurteilung des Herrn Rudel: Ich finde es nicht zulässig, daß Sie hier strikt trennen und sagen, soldatisch gefällt er mir, wenn er mir auch menschlich nicht paßt. Ein solcher Mensch kann dann kein Vorbild für einen Soldaten in einer demokratischen Armee sein. ({2}) - Ich habe Sie angesprochen, Herr Kollege Dr. Wörner, und Ihre Äußerung, die Sie der Presse gegenüber getan haben. Ich zitiere Sie dann eben. Sie haben gesagt: Ich kenne die politischen Auffassungen des Herrn Rudel nicht, aber selbst wenn ich sie mißbilligen würde, würde ich dennoch in Herrn Rudel den tapferen Soldaten achten. Ich meine, daß diese strikte Trennung, die Sie in Ihrer Beurteilung vorgenommen haben, so nicht zulässig ist. ({3}) - Sie haben sich so geäußert, wie ich es gerade gesagt habe. ({4}) - Natürlich! Wenn Sie es so positiv darstellen, kann nichts anderes damit gemeint gewesen sein. ({5}) - Das kann ich mir vorstellen. Dann müßten Sie ja liberal werden. Das traue ich Ihnen beim besten Willen nicht zu. ({6}) Ich sage Ihnen: selbst Ihr Parteifreund von Hassel hat in dem angesprochenen Erlaß die klare Zusammengehörigkeit von menschlichem und militärischem Vorbild betont, und dies sollten Sie übernehmen. Wir haben dafür Sorge zu tragen, daß unsere Bundeswehr falsche oder nicht mehr zeitgemäße Traditionen als Ballast abwirft, um sich auf neue Aufgaben in unserer Zeit auszurichten. Nach Auffassung der Liberalen müssen sich die Streitkräfte als Spiegelbild der Nation gegenüber den geistigen Strömungen dieser Zeit aufschließen. In der Geschichte unserer Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr gibt es hervorragende Ereignisse und beispielhafte Persönlichkeiten in allen politischen Lagern, an die richtig verstandene Traditionen anknüpfen können und sollen. Ich möchte Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen gerade von der Opposition, sehr herzlich einladen, in der nächsten Zeit im zuständigen Ausschuß hierüber einen sachlichen Disput zu führen. ({7})

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000321

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, habe ich dem Hause eine traurige Mitteilung zu machen. ({0}) Heute nachmittag ist infolge eines Verkehrsunfalls das frühere Mitglied dieses Hauses Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm tödlich verunglückt. Er hat dem Deutschen Bundestag 16 Jahre angehört, davon fünf Jahre als Vorsitzender einer Fraktion. Ich bin sicher, daß alle, die ihn gekannt haben, die Erinnerung an diesen hervorragenden Mann hochhalten werden. Ich bitte Sie, mich zu ermächtigen, der Witwe und den Kindern das Beileid des Deutschen Bundestages auszusprechen. Sie haben sich im Gedenken an Knut von Kühlmann-Stumm erhoben. Ich danke Ihnen dafür. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Mertes ({1}).

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Laufe dieser Debatte ist mehrfach ein Thema angesprochen worden, auf das auch ich noch einmal eingehen möchte, nämlich die Haltung, die von der CDU/CSU als Opposition vor und nach Abschluß der KSZE eingenommen wurde. Ich wende mich hier vor allen Dingen an Sie, Herr Bundesminister des Auswärtigen, und an Sie, Herr Bundeskanzler. Worum ging es im Sommer 1975? Wir haben angesichts des Textes der Schlußakte von Helsinki gesagt: Wir teilen die Interpretationen der Bundesregierung zu diesem Text; aber wir haben die Sorge, ja, wir haben die Gewißheit, daß die Mitunterzeichner des Ostens diesen Text in einer Weise auslegen, die in einem völligen Gegensatz zu unseren Interessen stehen wird. Das heißt, wir hatten die Sorge, daß mit diesem Text in Zukunft nicht ein Mehr an echter Entspannung geschaffen wird; wir hatten die Sorge, daß neue Spannungsursachen und neue Spannungen geschaffen werden. Wir haben durch alle unsere berufenen Vertreter nach der Unterzeichnung erklärt, daß dieser Text gilt. Herr Bundesminister des Auswärtigen, ich würde es für eine gute Sache zum Wohl unseres Landes halten, wenn Sie Ihren Partnern im Warschauer Pakt, die diese Schlußakte mit unterzeichnet haben, heute sagen würden: Unsere Opposition hatte damals wegen Ihrer Interpretation und wegen Ihrer Verwendung dieses Textes schwere Bedenken und große Sorgen. Sie in Moskau, in OstBerlin, in Warschau haben jetzt die Chance, nach202 Dr. Mertes ({0}) zuweisen, daß die Bedenken und Sorgen der Opposition zu Unrecht bestanden. - Aber wir, die Union, stellen fest, daß genau das, weswegen wir damals nein gesagt haben, inzwischen eingetreten ist. ({1}) Nun gilt dieser Text; und zwar gilt er auf derjenigen Basis, die uns in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und hier im Plenum von der Bundesregierung verbindlich vorgetragen worden ist. Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: es gilt dieser Text, und es gilt unsere gemeinsame Interpretation dieses Textes. Es gibt aber genügend Indizien dafür - ähnlich wie beim Moskauer Vertrag und beim innerdeutschen Grundvertrag -, daß es in unserem Hause, insbesondere in den Reihen der SPD, Kräfte gibt, die jetzt sagen: Wir können doch nicht nur unsere Interpretation gelten lassen. Das heißt, es entsteht die Gefahr, daß sich auch im Westen eine Interpretation breitmacht, die der des Ostens entgegenkommt. Herr Bundesaußenminister, ich bitte doch, noch einmal folgendes zu überlegen. Wenn hier Texte dieser Bedeutung beraten werden, wenn hier Verträge zur Ratifikation vorliegen, dann ist es immer die Pflicht der Opposition, die Schwäche solcher Texte darzulegen. Das hat die sozialdemokratische Fraktion gegenüber unseren Westverträgen gemacht; sie hat es als ihre Pflicht empfunden, kritisch darüber zu wachen, daß deutsche Interessen gewahrt wurden. Als diese Verträge dann gültig waren, hat sie sie mit uns eingehalten. Daher zweifeln wir nicht, daß der sozialdemokratische Bundesminister der Verteidigung treu zu unserem NATO-Bündnis und zu den westlichen Verträgen steht. Genau dies ist doch mit der Schlußakte von Helsinki und mit den Ostverträgen geschehen. Wir haben wegen der zu erwartenden Spannungen unsere Bedenken gegen diese Texte mit allem Ernst vorgetragen. Jetzt stellen wir fest, daß diese unsere Sorgen bestätigt sind. Es ist verständlich, daß eine politische Gruppierung darauf hinweist, daß sie mit ihren Bedenken recht behalten hat. Aber entscheidend für die deutsche Außenpolitik, Herr Bundesaußenminister, ist doch, daß wir heute alle in diesem Hause - Herr Kollege Werner Marx hat es mehrfach unterstrichen - zu diesen Texten stehen, und zwar auf der Basis der Interpretationen, die die Bundesregierung diesem Hause - ich wiederhole es - als verbindlich geltend vorgelegt hat. Ein zweiter Punkt. Wir hatten den Eindruck, daß jezt die Stunde ist, über wesentliche Fragen der Verteidigung und der Sicherheit zu sprechen. Durch die Intervention des Bundesministers der Verteidigung zur sogenannten Generalsaffäre kommt es nicht dazu. Wir werden einen parlamentarischen Anlaß finden, diese notwendige Debatte nachzuholen. ({2}) Herr Bundesminister Leber, ich hätte es begrüßt, wenn Sie bei dieser Gelegenheit hier ganz kurz eine Sache klargestellt hätten; nämlich, wenn Sie hier gesagt hätten: Ich habe den Auftrag meines Fraktionsvorsitzenden, dem Deutschen Bundestag mitzuteilen, daß auch die SPD-Fraktion uneingeschränkt zu der Position des Verteidigungs- und des Außenministers bei den Truppenreduzierungsverhandlungen in Wien steht. Ich muß dieses Thema hier aufgreifen, weil Mißverständnisse entstanden sind. Wenn es einen Bereich gab, meine sehr verehrten Damen und Herren, in dem es in diesem Hause bis vor kurzem gottlob Konsens gab, dann waren es die Truppenreduzierungsverhandlungen in Wien. Auch wenn die Öffentlichkeit durch die Kompliziertheit der Materie oft abgeschreckt ist, sich mit der Sache zu befassen, müssen wir in diesem Hohen Hause doch wissen, daß in Wien außerordentlich folgenschwere Dinge verhandelt werden. Die CDU/ CSU steht in dieser Frage zu dem, was uns der Außenminister und der Verteidigungsminister in der notwendigen Klarheit 41s Bündnisposition vorgetragen haben. Ich habe den Auftrag, hier zu erklären: Erstens. Die CDU/CSU steht unverändert zur Position des Bündnisses. Zweitens. Die Opposition fordert, daß wir in dieser Frage - durch wen auch immer - nicht in Lagen hineinmanövriert werden, in denen die Klarheit und Geschlossenheit der Position des Deutschen Bundestages in Gefahr geraten. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, daß wir, nachdem wir durch Erklärungen der Kollegen Willy Brandt sehr schrill aufgeschreckt worden waren, in einer ebenso schrillen Form reagieren und sagen mußten: Hier werden - der objektiven Wirkung nach - die Positionen des Westens in Wien geschwächt, hier kommt ein einflußreicher Mann objektiv den Positionen des Ostens entgegen. Im übrigen hat der sozialdemokratische Kollege Conrad Ahlers selber das Wort „Entgegenkommen" gebraucht, indem er im „Vorwärts" vom 18. November 1976 schrieb: In Anbetracht der Tatsache, daß die gewaltige Massierung von Streitkräften im Reduzierungsraum eine permanente Kriegsgefahr darstellt, so daß schon eine leichte Verminderung dieser Kräfte eine dauerhafte Entspannung begünstigen würde, wäre zu überlegen, ob der Westen nicht durch ein Entgegenkommen gegenüber den sowjetischen Vorstellungen einer prozentualen Reduzierung ein kalkuliertes Risiko für den Frieden eingehen sollte. Damit wir uns hier nicht mißverstehen, möchte ist feststellen: Selbstverständlich muß über die sowjetischen Positionen als solche diskutiert werden können; aber in dieser schwierigen und schwerwiegenden Materie, in der im Bündnis eine so klare und so befriedigende Position gemeinsam erarbeitet wurde, geht es nicht an, daß der Vorsitzende der stärksten Fraktion dieses Hauses, Willy Brandt, der frühere Bundeskanzler, öffentlich eine Position bezieht, die die entscheidenden Punkte, die der Westen dort vertritt, nicht einmal erwähnt, geschweige denn eindeutig und aktiv vertritt. ({3}) Dr. Mertes ({4}) Wenn Herr Kollege Brandt am 5. November 1976 in Amsterdam erklärt: Es braucht nicht unrealistisch zu sein, in den nächsten Jahren zwei prinzipiell wichtige Schritte zu vereinbaren und durchzuführen, nämlich eine erste Reduktion amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des geographischen Rahmens, der in Wien abgesteckt wurde, und danach eine erste Begrenzung nationaler Streitkräfte in demselben Rahmen.. . so verwundert, ja befremdet es uns, daß hier der ehemalige deutsche Bundeskanzler, der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale und der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von Parität und von gemeinschaftlichen Höchststärken überhaupt nicht redet; ja, denn seine Wortwahl muß in Moskau politisch doch im Sinne der Äußerungen des Kollegen Ahlers verstanden werden, nämlich daß wir uns von deutscher Seite durchaus überlegen, ob nicht der sowjetischen Position entgegengekommen werden kann. Welche Positionen stehen in Wien einander gegenüber? Wir wollen hier nicht zu sehr in Einzelheiten gehen. Aber dies muß gleich gesagt werden: es stehen Positionen einander gegenüber, die unseres Erachtens keine Zwischenposition kennen. Insofern bedauere ich auch, daß es eine dem entgegengesetzte Äußerung des Bundeskanzlers in der Debatte vom 17. Dezember des vergangenen Jahres gibt. Die Position des Westens, ganz kurz gefaßt, lautet: In dem Reduzierungsraum - es geht nur um den Reduzierungsraum, zu dem die sehr nahe gelegene Sowjetunion gar nicht gehört - besteht zur Zeit eine Disparität des Kerns der militärischen Macht, nämlich der konventionellen Truppenstärken und Panzer. Ich will dieses Verhältnis jetzt nicht in Zahlen darlegen. Jedenfalls gibt es eine Disparität an Truppen und insbesondere auch an Panzern. Der Westen sagt: Nachdem die Sowjetunion im strategischen, im nuklearen Bereich mit Erfolg die Parität mit den Vereinigten Staaten von Amerika gefordert hat, erwarten wir nicht zuviel von der Sowjetunion, wenn sie in diesem Reduzierungsraum auch ihrerseits das Prinzip der . konventionellen Parität akzeptiert. Sie hat die Chance, dieses Prinzip zu akzeptieren, indem sie sich vor Beginn von Reduzierungen zu einem paritätischen Reduzierungsergebnis verpflichtet. Nun ist die Sowjetunion eine Macht, die sehr gern prinzipielle Positionen bezieht. Ich erinnere mich an eine Diskussion, über die der jetzige Bundeskanzler in der Zeitung „Die Zeit" nach seinem Aufenthalt in Moskau im Sommer 1969 berichtete, in der ihm der damalige Minister Polyansky dem Sinne nach sagte: Verstehen Sie bitte, Herr Abgeordneter Schmidt, daß es für die Sowjetunion in prinzipiellen Fragen kein Entgegenkommen geben kann. Damals hat der Abgeordnete Helmut Schmidt zu Recht gesagt: Und ich bitte Sie um Verständnis, daß das gleiche auch für uns gilt. Es galt damals im übrigen insbesondere für die Deutschlandfrage. Lange haben sich unvereinbar die Forderung der Sowjetunion, daß es zwei deutsche Staaten, daß es zwei Deutschland gibt, und die These, daß es nur ein Deutschland gibt, gegenübergestanden. Kurz gefaßt war das letzte die These und die Politik der Nichtanerkennung. Ich erinnere daran, wie der verehrte Kollege Kiesinger als Bundeskanzler einmal in diesem Hause gesagt hat, es gebe in diesem Lande eine Anerkennungspartei, und wie er angegriffen worden ist, wie er so etwas unterstellen konnte. Was geschah im Herbst 1969 unter der verantwortlichen Leitung der Regierung Willy Brandts? Da wurde in der Tat zwischen der Ein-DeutschlandPosition und der Zwei-Deutschland-Position im Sinne der sowjetischen Forderung nachgegeben. Man muß das doch „nachgeben" nennen. Ich will die Motive für dieses Nachgeben jetzt gar nicht diskutieren. Aber nachdem die Ein-Deutschland-Position von der Sowjetunion zurückgewiesen worden war und sie immer wieder erklärte: „Demgegenüber gibt es nur die Zwei-Deutschland-Position", war keine Zwischenposition möglich. In der Tat ist, ich wiederhole es, die sowjetische Zwei-Deutschland-Forderung erfüllt worden. Ähnlich ist es jetzt wieder in Wien. Gegen die Forderung des Westens, es müsse in diesem Reduzierungsraum konventionelle Parität hergestellt werden, nur sie schaffe stabilere Verhältnisse in Mitteleuropa, steht die sowjetische Haltung: Nein, es gibt nur die These der Superiorität, der historisch gewachsenen Überlegenheit; es kommt nicht in Frage, daß das östliche Streitkräfteniveau schrittweise so gesenkt wird, daß eine paritätische Position mit dem westlichen Niveau herauskommt, sondern es soll so reduziert werden, daß zunächst einmal in paritätischen Schritten der Großmächte und dann auch der nationalen Streitkräfte reduziert wird, aber immer auf der Basis der Disparität, d. h. der Überlegenheit der Staaten des Warschauer Paktes. Nach den Regeln der politischen Logik sehe ich keine Zwischenstufe zwischen Superiorität - zwischen Überlegenheit - und Parität. Deshalb verstehe ich nicht, daß der Bundeskanzler am 17. Dezember in diesem Hause entgegen dem, was uns der Außenminister und der Verteidigungsminister in den Ausschüssen und hier gesagt haben, folgendes erklärte - ich zitiere den Bundeskanzler -: Es ist - um das wenigstens anzudeuten - auf manchen solchen Feldern so, daß viele Verhandlungen mit Ausgangspositionen anfangen und daß man sich im Laufe der Zeit aufeinander zubewegt und daß es dazwischen auch Zwischenpositionen gibt. Ich halte es für verhandlungstaktisch und sicherheitspolitisch außerordentlich gefährlich, daß der deutsche Bundeskanzler - ich kann mir nicht vorstellen, daß er das mit den westlichen Verbündeten abgesprochen hat - hier sagt: es gibt zwischen der Superioritätsforderung der Sowjetunion, der Überlegenheitsposition der Sowjetunion, und der westlichen, Paritätsforderung eine Zwischenposition. Der zweite Punkt, in dem - gemäß den Äußerungen der Bundesregierung selbst - eine Verein204 Dr. Mertes ({5}) barung nach unserer Auffassung nicht abzusehen ist, ist die Frage, wie denn nun die vereinbarten Höchststärken des Ostens und des Westens bestimmt werden sollen: auf nationaler Basis oder auf kollektiver Basis der Bündnisse? Die Position des Westens ist hier klar: es soll eine gemeinschaftliche, eine kollektive Höchststärke jeweils des Ostens und des Westens sein. Der Grund dafür ist offenkundig: wenn die einzelnen Staaten sich zu nationalen Höchststärken ihrer nationalen Streitkräfte verpflichten müßten, dann bekämen wir in der Tat, wie der Kollege Rainer Barzel hier zuletzt gesagt hat, einen Vertrag über die Bundeswehr. Gottlob ist in dieser Frage von der Regierung selbst eine klare Sprache gesprochen worden. Aber diese Sprache spricht die Sozialdemokratische Partei leider nicht mehr. Verehrter Herr Kollege Pawelczyk, auch Sie sprechen diese klare Sprache nicht mehr. Vor allem aber gilt das für die von uns getadelten Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt. Sie selbst geben zu, Herr Kollege von Dohnanyi, daß sie interpretationsbedürftig sind. Zu den merkwürdigsten Dingen, die ich in diesen Tagen gelesen habe, gehört Ihre Behauptung, Herr von Dohnanyi, wir würden uns von der westlichen Position in Wien distanzieren. Das war schon regelrechte Rabulistik, was Sie da niedergeschrieben haben! ({6}) Wenn Sie, Herr von Dohnanyi, mir beweisen können - ich will es ernsthaft, aber auch mit Humor sagen - wenn Sie mir irgendeine MBFR-Position nennen können, in der sich die CDU/CSU-Fraktion von der des Außenministers und des Verteidigungsministers, d. h. des Bündnisses, unterscheidet, dann lade ich das ganze Hohe Haus zu einer Weinprobe in meinen Wahlkreis ein, durch den auch ein Abschnitt der Mosel fließt. Herr Kollege von Dohnanyi, was Sie da gesagt haben, ist schlechterdings Unsinn. ({7}) Herr von Dohnanyi, man kann Ihr merkwürdiges Papier auch so verstehen: Es soll noch einmal kräftig und laut auf der Opposition herumgehackt werden, um hinter dem Rauchvorhang dieser Kritik dem Kollegen Willy Brandt und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner die Chance zu geben, zweifelsfrei klarzumachen, daß sie mißverstanden wurden und daß sie zur Position des Bündnisses in Wort und Tat stehen. Wenn der SPD-Fraktionsvorsitzende und der frühere Bundeskanzler Brandt hier vor den Deutschen Bundestag treten und erklären, daß sie die Paritätsforderungen und die gemeinschaftlichen Höchststärkenforderungen des Westens teilen, dann ist unser Streit ausgestanden. Ich wollte mit meinen Interventionen nur dazu beitragen, daß die klare gemeinsame Position, die Bundesregierung und Bundestag hierzu bisher bezogen haben, auch in Zukunft wieder eingenommen wird. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das, was in der jetzigen Verhandlungslage vom Kollegen Brandt gesagt worden ist, als Signal an Moskau verstanden werden mußte, das den westlichen Interessen objektiv zuwiderläuft. Im übrigen ist es erfreulich, daß der Bundesminister des Auswärtigen auf einen dritten Punkt hingewiesen hat, den ich der Vollständigkeit halber auch noch erwähnen möchte: es darf keine Sonderabsprachen über europäische Waffen und Geräte geben. Wir müssen nämlich, so sagte der Bundesminister des Auswärtigen zu Recht, den Weg auch für eine Annäherung unserer Verteidigungspolitik unter den europäischen Partnern innerhalb der NATO freihalten. Lassen Sie mich hier eine Sache ansprechen, auf die der Bundeskanzler nur in Anspielungen eingeht. Es ist die Position Frankreichs. Frankreich - dessen ablehnende Haltung zu diesen Verhandlungen wir nicht teilen - hat eine berechtigte Sorge: daß über MBFR, über künftige Truppenreduzierungsvereinbarungen ein Mitspracherecht der Sowjetunion in verteidigungspolitischen Fragen des Bündnisses und Europas eingeführt werden könnte. Es ist gerade auch den Beiträgen deutscher Vertreter innerhalb der Bündnisgremien zu verdanken, daß mittels gemeinschaftlicher Höchststärken gerade dieser Gefahr entgegengewirkt wird. Die „Prawda" spricht am 15. Oktober 1976 von Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Wehner, die Bundesrepublik Deutschland müsse selbst eine Initiative in der Rüstungsbegrenzung zeigen und dürfe nicht nur auf die Entscheidungen der Großmächte warten. ({8}) Wie kommt das Organ der KPdSU eigentlich zu dieser - früher nicht dementierten - Meldung? Auch hier kann ich nur sagen: Wie erfreulich ist es für die Opposition, daß die Regierung mit ihr eindeutig sagt: keine nationalen Alleingänge; Anregungen in diesem Bereich müssen mit der gebotenen Diskretion immer zunächst einmal innerhalb unseres Bündnisses vertreten und diskutiert werden. Wenn hier so wichtige sozialdemokratische Persönlichkeiten des Deutschen Bundestages, die ja schon früher auf dem Umweg über Vorsignale Prozesse großen Entgegenkommens eingeleitet haben, dies nun wieder tun, so würden wir als Opposition unsere Pflicht nicht erfüllen, wenn wir nicht mit der nötigen Deutlichkeit und auch mit der nötigen Schrillheit auf die Gefahren hinwiesen, die aus dieser sogenannten militärischen Entspannung kommen. Übrigens, die These, militärische Entspannung müsse der politischen folgen, wird vom Westen nicht vertreten. Leider hat auch hier der Kollege Wehner, als er im vergangenen Jahr in Warschau war, die Diktion der anderen Seite übernommen. Wir haben dies bedauert, wir haben dies kritisiert. Ich kann nur warnen vor jenem Aberglauben Willy Brandts, daß man, wenn man auf das Vokabular der anderen Seite eingeht, sich damit nicht auch den inhaltlichen Positionen der anderen Seite nähere. ({9}) Wir müssen ein berechenbarer Staat sein, und ich kann an die Adresse des Kollegen Brandt nur sagen, Dr. Mertes ({10}) Zweideutigkeit weckt Zweifel, Zweideutigkeit schafft Zwist. ({11}) Lassen Sie doch bitte diese schwammige, diese ververschieden interpretierbare Sprache, und sprechen Sie das, was uns in den Jahren der Außenpolitik unter Adenauer und seinen Nachfolgern großgemacht hat, nämlich eine berechenbare und klare Sprache bei allen Aussagen ({12}) zu den großen Sicherheits- und außenpolitischen Fragen. ({13}) Auch die Sowjetunion hat ein Recht darauf, einen klar sprechenden Partner in Bonn zu haben, nicht einen Partner, der mit ihr Vereinbarungen schließt und hinterher sagt: Das habe ich aber nicht so gemeint. Eindeutige Vertragstreue auch gegenüber östlichen Staaten, aber auch eindeutige Vertragsinhalte! ({14}) Lassen Sie mich zum Schluß noch auf etwas hinweisen, was meines Erachtens immer wieder zu einem großen Mißverständnis führt. In der sowjetischen Politik gibt es auch ein starkes russisches Element. Der Bundeskanzler hat sich neulich auf die Rußlandpolitik Bismarcks bezogen. Ich darf Sie daran erinnern: In einer Sitzung des Deutsches Reichstages vom 6. Februar 1888 kam die Frage auf, warum wohl das russische Imperium weit über die Verteidigungsnotwendigkeiten hinaus so stark aufrüste, und zwar vor allen Dingen in seinen westlichen Machtbereichen. Bismarck antwortete auf diese besorgte Frage folgendes. Er sagte: Ich kann über die Motive dieser russischen Aufstellungen keine authentische Erklärung geben. Aber ich kann mir doch als jemand, der mit der auswärtigen und auch mit der russischen Politik seit einem Menschenalter vertraut ist, meine eigenen Gedanken darüber machen. Die führen mich dahin, daß ich annehme, daß das russische Kabinett - heute würde man sagen: das Politbüro die Überzeugung hat, daß in der nächsten europäischen Krisis, die eintreten könnte, das Gewicht der russischen Stimme in dem diplomatischen Areopag von Europa um so schwerer wiegen wird, je stärker Rußland an der europäischen Grenze ist, je weiter westlich die russischen Armeen stehen. Rußland ist als Verbündeter und als Gegner um so schneller bei der Hand, je näher es seinen westlichen Grenzen steht mit seinen Haupttruppen oder doch wenigstens mit einer starken Armee. ({15}) Meine Damen und Herren, welche Kontinuität in der Militärgeschichte einer großen Macht! ({16}) Für dieses Reich war, für dieses Imperium ist militärische Macht nicht nur Verteidigungsmacht, sie ist auch Disziplinierungsmacht gegenüber den Regionen ihrer Herrschaft, in denen die Völker sie innerlich nicht akzeptieren. Insbesondere ist sie diplomatische Pressionsmacht. Druck, Drohung und Erpressung - auch das ist eine Funktion der östlichen Streitkräfte, wahrscheinlich sogar die wesentliche. Wir sagen mit Ihnen allen: Wir rechnen nicht damit, daß die Sowjetunion einen Angriff auf uns führen wird, aber wir rechnen damit, daß sie durch die Entfaltung, durch die Demonstration ihrer Macht und demnächst, so befürchten es einige, durch die Demonstration ihrer Fähigkeit zum ersten nuklearen Schlag mittelbare und unmittelbare Pression ausüben will. Sie will uns einen Frieden erhalten, der allzu sehr nur ein Nichtkrieg wäre. Aber sie will doch im Sinne ihrer eigenen Zielvorstellungen mittels militärischer Macht den Gegner, das Gegenüber, zermürben, wenn dessen Interessen den eigenen zuwiderlaufen. Infolgedessen hat die sowjetische Seite auch niemals, Herr Bundeskanzler, Ihr Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte akzeptiert. Der Begriff des Gleichgewichts der Kräfte wird von der sowjetischen Militärphilosophie entschieden zurückgewiesen, ({17}) weil es nämlich dem tieferen historischen Prinzip widerspricht, das das Gesetz der sowjetischen Politik ist: dem des historischen Endsiegers. Sowjetische Politik ist auch russische Politik in dem Sinne, wie Bismarck es beschrieben hat. Aber dieser Politik steht jetzt auch ein ideologisches Instrument zur Verfügung, das der gesamten Außenpolitik der Sowjetunion die Perspektive historischer Siegeszuversicht gibt, ja auferlegt. In diesem Sinne genügt es nicht, daß der Westen als Gemeinschaft gegenüber dem sowjetisch geführten Bündnis verteidigungsfähig ist. Zum Gleichgewicht der Kräfte muß es auch ein Gleichgewicht der politischen Überzeugung, der historischen Überzeugung geben, daß in dem Raum, in dem wir leben, in diesem deutschen Raum und in Europa, auf die Dauer Menschenrecht und Freiheit als das große Gesetz europäischer Geschichte wiederum den Sieg davonträgt - einen unblutigen Sieg selbstverständlich, einen geistigen Sieg, wie es ihn in der Geschichte Europas immer gegeben hat. Weil die Sowjetunion des Wiedervereinigungswillens des deutschen Volkes letzten Endes doch gewiß ist, weil Russen sich über die Empfindungen der Polen zu ihrem östlichen Nachbarn keine Illusionen machen, weil die Sowjetunion auch weiß, wie problematisch ihre Präsenz in der Tschechoslowakei ist, vor allem aber, weil sie Zweifel an der inneren Stabilität der DDR hat, ist sie aus ihrer Interessenlage heraus bestrebt, in wachsendem Maße Elemente der Kontrolle über die Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen, d. h. über einen Teil Deutschlands, der durch seine schiere Existenz nach sowjetischer Auffassung gefährlich ist, weil er nämlich durch den Wiedervereinigungs- und Freiheitswillen des deutschen Volkes in den sowjetischen Machtbereich hineinstrahlt. Ich kann diese Gedanken in diesem Augenblick nicht weiterführen, möchte aber nur sagen, wie Dr. Mertes ({18}) aktuell sie sind, indem ich einen Aufsatz zitiere, von dem der Kollege Mattick meinte, es sei eine häßliche Stimme der DDR, die gar nicht zur Entspannung passe, von der einem sowjetische Gesprächspartner aber durchaus sagen, daß sie die Auffassung auch der Sowjetunion wiedergibt. Lassen Sie mich dies zum Abschluß sagen. Der Armeegeneral Heinz Hof f mann, Verteidigungsminister der DDR, hat in der Grundsatzzeitschrift der SED „Einheit" im Jahre 1976 folgendes ausgeführt: Wir teilen die Auffassung nicht, die selbst fortschrittliche Menschen in der Friedensbewegung vertreten, im Atomzeitalter sei ein gerechter Krieg nicht mehr möglich, der Raketen-Kernwaffen-Krieg sei keine Fortsetzung der Politik der kämpfenden Klasse mehr, sondern nur noch atomares Inferno, Weltuntergang. Etwas weiter sagt General Hoffmann - ich bitte Sie hier um besondere Aufmerksamkeit, weil dies die historisch-politische Lesart des Ostens über das ist, was sich mit Entspannungspolitik vollzogen hat - das folgende: Nicht ein gewisses „Minimum an militärischem Defensivpotential" unserer Koalition, auch kein sogenanntes „Gleichgewicht des Schreckens" haben einen Zustand in den internationalen Beziehungen herbeigeführt, den die Menschheit erleichtert als Wende vom kalten Krieg zur Entspannung empfindet. Die im zähen Kräfteringen der Nachkriegsjahre hart erkämpfte militärische Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten über die imperialistischen Hauptmächte war es, die den Frieden sicherer, die die antiimperialistischen Kräfte - ich nehme an, er denkt an Angola und ähnliche Regionen selbstbewußter gemacht und den weltrevolutionären Prozeß vorangebracht hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in bezug auf die Truppenverhandlungen in Wien steht die CDU/CSU auf dem Standpunkt, daß keine Mühe gescheut werden darf, in geduldigen Verhandlungen auch auf dem empfindlichen Gebiet der Rüstungskontrolle unter Umständen gemeinsame Interessen zu finden und entsprechende Vereinbarungen mit der anderen Seite zu erreichen. Während der Zeit der Großen Koalition ist das Signal von Reykjavik gegeben worden. Wir haben unsere Sorgen nie verhehlt, aber unseren Sorgen ist bisher Rechnung getragen worden. Die CDU/CSU-Fraktion bejaht den Gedanken von arms control, d. h. von Rüstungskontrolle, von Rüstungssteuerung, wobei wir der Auffassung sind, daß in dieser Frage die Interessen aller sehr rational geprüft werden müssen. Vor allem aber dürfen wir auf diesem Gebiet nun nicht wiederum in die Zweideutigkeit verfallen, in die uns Willy Brandt hineingeführt hat - zum Schaden unserer Interessen. Wir müssen in den militärischen Fragen von höchster Klarheit, Disziplin und Rationalität sein. Und ich möchte hier nur noch einmal unterstreichen, was die Bundesminister des Auswärtigen und der Verteidigung gesagt haben: Keine Alleingänge. Wir haben hier sehr viel Zeit. Geduld ist immer noch die beste Tugend guter Diplomatie. Wir wünschen und hoffen, daß die Bundesregierung und das Bündnis die jetzigen Positionen in der Erkenntnis der politischen Philosophie der sowjetischen Militärpolitik weiter vertreten. Wir glauben, daß dann der Konsens in dieser Frage wiederhergestellt werden kann. Aber dieses Konsens muß eindeutig sein. Deshalb muß von autoritativer Stelle der sozialdemokratischen Fraktion in einer absolut eindeutigen Form gesagt werden, daß auch die SPD-Fraktion, was das Tempo angeht, was die Taktik angeht, was die Sachfragen angeht, die Auffassungen des westlichen Bündnisses inhaltlich teilt und öffentlich unterstützt. Weil hier so sehr viel auf dem Spiele steht, müssen wir auch der Bevölkerung gegenüber noch viel stärker klarmachen, daß hier der Friedenswille mit äußerster gedanklicher und auch, Herr Kollege Brandt, verbaler Disziplin gepaart sein muß. ({19}) Die Überlegung ;,Wir engagieren uns, und dann werden wir einen weiteren Entspannungsprozeß einleiten" ist, wenn irgendwo, dann hier falsch. Bei dieser Gelegenheit sollte all denjenigen in der Bundesregierung und auch im Bündnis sowie unserer Verhandlungsdelegation in Wien und den dortigen verbündeten Delegationen, die wir ja mit unserem Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle im März 1976 besucht haben, Dank gesagt werden für die Klarheit und Beharrlichkeit ihres Dienstes. Die westliche Haltung in Wien ist keine Expertenposition, sondern eine politische Position, Herr Bundeskanzler, die Sie und die Regierung unseren Experten, unseren Beamten und Offizieren doch kraft Ihrer politischen Weisung aufgetragen haben. Die Frage, ob Parität oder Superiorität, ist keine Expertenfrage, sondern eine grundlegende politische Frage. In Zukunft dürfen nicht wieder jene Zweifel entstehen, die durch die Erklärungen einiger sozialdemokratischer Politiker in den letzten Monaten leider hervorgerufen wurden. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Pawelczyk.

Alfons Pawelczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mertes, ich denke, wir werden Ihren Wein trinken; ob nun gerade in Ihrem Wahlkreis, das werden wir sehen. Weil der Schuldige Ihr Kollege Wörner ist - er ist noch hier -, sollte er, wie ich meine, ihn aus seinem Rudel-Fonds bezahlen. Wir trinken ihn aber gern mit Ihnen zusammen. Ich werde an einer anderen Stelle den Beweis liefern. ) Zunächst möchte ich eine Bemerkung zur KSZE machen, weil Sie selber mit diesem Thema begonnen haben. ({0}) Ich persönlich finde es nicht in Ordnung, daß es sich einige in der nationalen und internationalen Diskussion angewöhnt haben, die KSZE zum Prügelknaben für alle außenpolitischen Schwierigkeiten zu machen. ({1}) Wenn auch Sie sich auf diesen Weg begeben, haben Sie die Funktion von KSZE nicht verstanden. ({2}) - Nun lassen Sie mich dies doch vortragen. Ich habe Ihnen auch zugehört. Bei der KSZE wurde der Versuch unternommen, zwischen allen 33 europäischen Staaten - Albanien war nicht beteiligt - unter Einbeziehung der Vereinigten Staaten und Kanadas einen Grundkonsens über alle politischen Perspektiven zu finden, einen Grundkonsens zwischen so verschiedenen Staaten wie den Warschauer-Pakt-Staaten, den NATO-Staaten, den neutralen und unabhängigen Staaten. ({3}) - Dann hätten Sie aber nicht so reden dürfen. Jedem Staat würde ein Vetorecht zugebilligt. Sie wissen genausogut wie ich, daß es viele politische Dissense - selbst im eigenen Bündnis - gibt. ({4}) Wenn ,man gleichwohl eine Vereinbarung aller 35 Staaten zustande bringt, so kann diese nur eine sehr allgemeine Grundlage sein, die der atmosphärischen Verbesserung des europäischen Umfeldes dienen soll. Die KSZE hat damit eine ganz bestimmte Funktion, nämlich die der atmosphärischen Aufbesserung zu dem Zwecke, konkrete Abkommen - z. B. MBFR - zu erleichtern. Sie wissen genausogut wie ich, daß nur ein Teil der europäischen Staaten MBFR-Staaten sind und daß sich die Ergebnisse von MBFR, die wir alle erhoffen, gleichwohl auf alle europäischen Staaten auswirken werden. Deswegen bedarf es eines Grundkonsenses auch mit diesen. Wir sind auf deren Mitarbeit auch in diesen Fragen angewiesen. Dies ist eine entscheidende Funktion von KSZE. Die Zeit, die mir heute zur Verfügung steht, erlaubt es nicht, jetzt noch einmal die positiven Ergebnisse der KSZE darzustellen. Im übrigen ist es auch gar nicht nötig, das zu tun. Herr Kollege Hoppe und ich haben im Frühjahr des vorigen Jahres eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. In der Antwort können Sie seitenweise nachlesen, welch günstige Entwicklung sich in vieler Hinsicht vollzogen hat, auch im Bereich der vertrauensbildenden Maßnahmen und im Bereich des Korbs III, also im Bereich der humanitären Maßnahmen. Da die Opposition heute - wie immer - den ganzen Tag damit verbracht hat, ausschließlich die Probleme darzustellen, bei denen es noch Schwierigkeiten gibt, werde ich heute die Gelegenheit nehmen, vor allem die Dinge aufzuzeigen, die sich günstig entwickelt haben. Eine letzte Bemerkung zu KSZE. Ich möchte Ihnen folgende Überlegung mit auf den Weg geben. In welcher außenpolitischen Lage wäre die Bundesrepublik wohl, wenn sie, Ihrem Rate folgend, als einziger Staat Europas die Schlußakte nicht unterzeichnet hätte? ({5}) Die schlechteste aller Positionen für die Bundesrepublik in ihrer schwierigen Mittellage und bei ungelösten politischen Problemen ist die der Isolierung. Die Deutschen haben mit außenpolitischer Isolierung weiß Gott mehr als einmal ihre Erfahrungen gemacht. Deswegen kann man sich vieles vorstellen, nur nicht diesen Zustand der Isolierung. Wir können uns diesen Zustand angesichts der Politik, die wir betreiben, jedenfalls nicht vorstellen. ({6}) Wir werden alle Kraft einsetzen, damit eine derartige Entwicklung nicht eintreten kann. Ich möchte jetzt zum Thema MBFR überleiten und mich auch auf Ausführungen zu diesem Thema beschränken, weil ich Wert darauf lege, daß die Position meiner Fraktion hier zur Darstellung kommt. Nur eines möchte ich Ihnen von vornherein sagen - das gilt für heute und für alle anderen Auseinandersetzungen -: Niemand in der SPD-Fraktion wird jemals daran denken, immer dann, wenn die Opposition es wünscht, über jeden Stock, den Sie uns hinhalten, zu springen. Wir beweisen durch unsere konkrete Politik unsere Bündnissolidarität. Wir stellten den Außenminister seit 1966; wir stellen den Bundeskanzler seit 1969. Unsere Bündnissolidarität wird seit zehn Jahren täglich bewiesen. Herr Kollege Mertes, ich muß Sie jetzt doch in einer sehr ernsten Frage ansprechen. Ich hatte mir eigentlich gedacht, daß Sie während Ihres Beitrags die Gelegenheit nehmen, sich zu entschuldigen, ja, sich zu entschuldigen! Da gucken Sie mich ganz erstaunt an. Ich werde Ihnen sagen, warum. ({7}) Sie haben mit unlauteren Mitteln - den Beweis liefere ich Ihnen gleich -, gegen Willy Brandt sowie gegen mich und andere Behauptungen in die Diskussion gebracht, die jeder Grundlage entbehren. Ich hoffe, das ist nicht wider besseres Wissen geschehen. Aber ich habe so ein bißchen meine Zweifel. Denn der Stil der außenpolitischen Auseinandersetzung seit 1969 sieht doch bei der Opposition so aus: Es wird ein Buhmann aufgebaut, ein Zitat verfälscht und darauf die politische Argumentation aufgebaut. So auch hier. Ich bringe jetzt ein Beispiel. Kollege B r an d t hat am 9. Dezember in dem Interview mit dem „General-Anzeiger" unter anderem gesagt - ich zitiere ein paar Worte daraus -: „mit einer ersten, wenn auch nur symbolischen Verringerung". Und was macht der Herr Kollege Mertes daraus? Er fügt ein Wort hinzu und spricht von „paritätischen symbolischen Schritten". Dieses Wort „paritätisch" ist bei Herrn Brandt nicht zu finden. ({8}) Die Hinzufügung dieses einen Wortes „paritätisch" erlaubt es Ihnen, alle Positionen der Übereinstimmung, die in der NATO auch mit uns bestehen, in Zweifel zu ziehen. Ich halte das nicht für in Ordnung. Wenn man sich diese Freiheit nimmt, kann man natürlich von Alleingängen bei MBFR sprechen, von der Aufgabe des Ziels der ungefähren Parität, von der Aufgabe des Ziels der kollektiven Höchststärken usw. Dann haben Sie sich den Reißverschluß eingenäht, mit dem Sie beliebig spielen können. Herr Kollege Mertes, ich finde das nicht in Ordnung. Sie haben dieses Wort „paritätisch" in der Bundestagsdebatte vom 16. Dezember hinzugefügt. Vielleicht können Sie das aufklären und in Ordnung bringen. Sie wissen doch, daß der Warschauer Pakt am 15. Oktober 1974 symbolische Reduzierungen um 20 000 Mann - paritätisch - vorgeschlagen hat und daß wir das abgelehnt haben. Das wissen Sie doch. Wir arbeiten intensiv in ständigen vertraulichen Sitzungen im Unterausschuß „Abrüstung" zusammen, dessen Vorsitzender ich bin. Sie wissen wohl auch genauso gut wie ich, daß es innerhalb des Bündnisses Diskussionen darüber gibt, ob man sich mit der Frage der symbolischen - nicht: der paritätischen symbolischen - Reduzierung beschäftigen soll, wenn ein erster größerer Schritt nicht möglich ist. Wir führen also eine Diskussion auf der Basis des Grundkonsenses in der NATO. ({9}) Soviel zu diesem einen Punkt. Ich finde, Sie sollten diese wirklich gefährliche und schlimme Verfälschung des Brandt-Zitats zurücknehmen. ({10}) - Ach wissen Sie, wir haben heute eine Vorstellung Ihres Fraktionsvorsitzenden Kohl erlebt - und da sprechen Sie in Richtung auf Willy Brandt von wolkigen Reden. Das kann ich nach der Rede von Herrn Kohl überhaupt nicht verstehen; wirklich nicht! ({11}) Sie haben Schiffbruch erlitten mit der Polemik gegen die Ostpolitik, gegen den Vertrag zum Beitritt der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen, gegen den Nichtverbreitungsvertrag und auch gegen die KSZE. Unterlassen Sie dieses Spiel bei MBFR! Bei MBFR steht viel auf dem Spiel. ({12}) - Da steht wirklich etwas auf dem Spiel. Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, daß Sie das besser unterlassen sollten. Meine Damen und Herren, ich habe natürlich auch mit Befriedigung gehört, daß Sie die NATO-Solidarität sehr hoch einschätzen. Ich wäre froh, wenn es nun auch geschieht - ({13}) - Nein, nein, jetzt hören Sie genau zu. Jetzt müssen Sie Ihre Runde bezahlen, Ihren Hektoliter Wein, den Sie vorhin angekündigt haben. ({14}) Der verteidigungspolitische Sprecher Ihrer Fraktion, der Kollege Wörner, hat am 14. Dezember 1975 die Option 3 - ich brauche sie hier unter uns nicht zu erläutern - als einen „Ausverkauf in Schwäche" bezeichnet. Ist das ein Beharren auf der NATO-Position oder ein Verlassen? ({15}) „Ausverkauf in Schwäche" sei die Position der NATO. Nun würde ich mit Ihnen übereinstimmen, wenn Sie sagten: Der Kollege Wörner hat davon nicht soviel Ahnung. Er hat nämlich in demselben Zitat auch gesagt, über nichts hätten sich die Minister so schnell geeinigt wie über dieses wesentliche Zugeständnis. Er wußte offenbar nicht, daß in der NATO jahrelang über diese Option 3 debattiert wurde, bevor sie in völliger Übereinstimmung aller in Wien auf den Verhandlungstisch kam. ({16})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes ({0})?

Alfons Pawelczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, einen kleinen Augenblick noch. Diese Option ist die gemeinsam getragene Option aller NATO-Partner. Alle haben übereinstimmend festgestellt, sie beschädige nicht unsere Sicherheit.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Bitte, Herr Kollege Dr. Mertes.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pawelczyk, ist Ihnen aus den gemeinsamen Sitzungen des Verteidigungsausschusses, des Auswärtigen Ausschusses und unseres Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle eine fraktionsoffizielle Äußerung bekannt, die das Angebot der NATO vom Dezember 1975 kritisiert?

Alfons Pawelczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie mir hier sagen, daß Herr Kollege Wörner für Ihre Fraktion insoweit nicht als Beweis herangezogen werden kann, weil er nicht sachkundig ist, obwohl er Ihr verteidigungspolitischer Sprecher ist und. Ihr Verteidigungsminister sein sollte, dann würde ich sagen, daß ich den Beweis nicht habe liefern können, weil eine inkomPawelczyk petente Person Ihrer Fraktion die NATO-Position verlassen hat. ({0}) - So haben Sie mich doch gefragt. Meine Antwort war prima, finde ich. Nun wollen wir darüber sprechen, worum es bei MBFR tatsächlich geht. Seit über drei Jahren finden die Gespräche in Wien über gegenseitige ausgewogene Truppenreduzierung statt, ohne daß es bisher zu Abmachungen oder konkreten Verhandlungen gekommen ist. Dreierlei möchte ich hier dennoch feststellen: Beide Seiten haben ein deutliches Interesse an der Fortsetzung der Gespräche bekundet. Beide Seiten sehen die Probleme der Gespräche und die Grenzen der Verhandlungsmöglichkeiten für den jeweils anderen heute deutlicher als 1973. Beide Seiten haben sich ein Stück aufeinander zubewegt. Ich hatte Ihnen angekündigt, daß ich die positive Entwicklung darstellen will. Für den weiteren Verhandlungsablauf in Wien erscheint es nach meiner Auffassung jetzt nicht dienlich, neue, mit technischen Details befrachtete Vorschläge einzubringen. Solche weiteren Vorschläge würden die Verhandlungen im technischen Dickicht landen lassen. Wir sollten vielmehr darüber nachdenken, ob nicht die Möglichkeit besteht, auf der Basis der Entwicklung der beiden Positionen ein erstes Abkommen zu erreichen. Nun will ich Ihnen auch sagen, worin nach meiner Meinung ein beiderseitiges Entgegenkommen zu sehen ist: Ausgehend von den Grundpositionen des Warschauer Paktes kann man feststellen, daß er sich im Laufe der Zeit westlichen Vorschlägen gegenüber durchaus aufgeschlossen und beweglich gezeigt hat. Auch die NATO hat in einigen Fragen Verständnis für den Warschauer Pakt aufgebracht. Der Reduktionsvorschlag des Ostens vom 19. Februar 1976 signalisiert ein Einschwenken auf das Zweiphasenkonzept der NATO. Dieses Entgegenkommen besteht erstens in einer phasenverschobenen Reduktion und zweitens in einer für die amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte vorweggenommenen. Die NATO ihrerseits hat ihr Phasenkonzept relativiert, indem sie erstens den Abstand von der Phase 1 zur Phase 2 auf einen zeitlichen Abstand von etwa 18 Monaten limitiert hat und zweitens der anderen Seite avisiert hat, daß sich alle direkten Teilnehmer an der zweiten Phase beteiligen werden. Das ist eine Entwicklung beider Positionen. In diesen Bereich gehören u. a. die von Willy Brandt und mir gemachten Vorschläge. Gestatten Sie mir, bevor ich hier andere Beweise und Beispiele nenne und weiteres Entgegenkommen beider Seiten aufzeige, dazu einige Bemerkungen zu machen. Die von uns vorgeschlagene symbolische Reduzierung amerikanischer und sowjetischer Truppen in einer ersten Phase ist mit dem NATO-Vorschlag natürlich vereinbar. Ich rede nicht von paritätischer Reduzierung. Die als zweiter Schritt vorgeschlagene bescheidene Begrenzung nationaler Streitkräfte - ich nehme die Vokabel hier auf - ist nicht zu verwechseln, Herr Kollege Mertes, mit der Festschreibung nationaler Höchststärken, wie Sie behaupten. Die Beteiligung aller Staaten ist die Beteiligung der nationalen Staaten mit ihren nationalen Streitkräften, was überhaupt nicht mit der Festschreibung nationaler Höchststärken verwechselt werden darf.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Eine Zwischenfrage, bitte.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pawelczyk, ich möchte Ihnen unter Zitierung meiner eigenen Verlautbarung im Pressedienst der CDU/ CSU eine Frage stellen. Ich hatte ausgeführt: Indem er ({0}) noch etwas umschrieben, aber für den Kenner deutlich genug sowjetische Positionen öffentlich fördert ({1}), weckt er in Moskau die Hoffnung, daß die östliche Position sich in Wien zu guter Letzt durchsetzt. Ist dies wirklich nicht die Darstellung einer noch nicht klar erkennbaren Tendenz, zumal Brandt schon nach der Konferenz von Oreanda von 1971 Wert darauf gelegt hat, festzustellen, daß von nun an auch unser Staat in einen eigenen Dialog mit der Sowjetunion eintreten könne? Haben Sie Verständnis dafür, daß ich mir angesichts dieser Vorgänge gar nicht vorstellen konnte, daß Willy Brandt mit nichtparitätischen Einleitungsschritten beginnen will.

Alfons Pawelczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn er das gewollt hätte, hätte er es doch auch formuliert.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir kennen doch die Sprache von Willy Brandt!) - Aber ich bitte Sie! Wir führen jetzt eine sehr spezielle Diskussion; das werden Sie zugeben. Wir wissen, daß der Begriff der paritätischen Reduktion ja nicht ein Nebenpunkt, sondern ein ganz entscheidender Punkt ist. ({0}) Wenn er das Wort „paritätisch" eben nicht gebraucht hat, dann aus guten Gründen nicht. Ich habe Herrn Brandt zitiert. Soll ich ihn nun noch einmal zitieren? Ich bitte Sie, nehmen Sie dies vom Tisch. Es ist so weder gesagt noch gedacht. Es gibt inzwischen etliche Erklärungen dazu. ({1}) - Der Mann hat klar gesprochen. ({2}) Er hat das Wort „paritätisch" nicht gebraucht. Sie hätten es gern für Ihre Polemik; es tut mir leid, wir können es Ihnen nicht bieten. ({3}) - Nein, ich bitte Sie, in Zukunft diese Vergleiche sein zu lassen. Denn die Einbeziehung nationaler Streitkräfte, also die Allbeteiligungsklausel, von der NATO ja sogar am 24. September 1974 erklärt, bedeutet: wir sind bereit, in der Phase 2 alle Staaten zu beteiligen. Damit sind alle nationalen Streitkräfte beteiligt. Ich habe gesagt, wir weichen in keiner Grundposition von der NATO-Position ab, d. h. also, auch in der Frage der Parität nicht. ({4}) Ich werde über die Frage der Parität und der Datendiskussion noch einige Bemerkungen machen. Die Union hat in unzulässiger und unfähiger Weise den Vorschlag für eine Reduktion nationaler Streitkräfte gleichgesetzt mit einer Zustimmung zu einer in Wien vertraglich zu fixierenden Höchststärke für die Bundeswehr. Meine Damen und Herren, das ist ein schlimmer Ausrutscher, den wir hier in aller Form zurückweisen müssen. Herr Kollege Kohl, diese Verfälschungen passen auch nicht zu Ihren permanenten Aufforderungen zu Fairneß im Umgang, wenn mein Parteivorsitzender zitiert wird unter Hinzufügung von Begriffen, ({5}) die er nicht benutzt hat, von denen derjenige, der zitiert hat, aber weiß, daß sie ausgesprochen gefährlich sind. ({6}) - Ich habe das vorhin schon ein paarmal gesagt, Sie waren nur anderweitig beschäftigt. ({7}) - Sie bitten dauernd in der öffentlichen Auseinandersetzung um Fairneß. Ich habe Sie gerade aufgefordert, das erst einmal für Ihre eigene Fraktion klarzustellen, damit nicht Persönlichkeiten anderer Parteien diffamiert werden. ({8}) Die Reduzierungsquoten, die zu einer zwischen NATO und Warschauer Pakt zu vereinbarenden kollektiven Höchststärke führen müssen, müssen bündnisintern - hören Sie zu, Herr Kollege Mertes - aufgeteilt werden. ({9}) Ich persönlich würde es für richtig halten, daß wir diese bündnisintern vereinbarten Quoten ({10}) der jeweils anderen Seite informell mitteilen. ({11}) - Gut, das geht Ihnen zu weit. Ich habe gesagt, ich bin bereit, darüber nachzudenken. Sie können sagen: „Das geht mir zu weit." ({12}) Nur weiß ich, daß die nationalen Reduzierungsquoten natürlich nicht geheimgehalten werden können. Der Anteil für die Bundeswehr, für die holländischen Streitkräfte, für wen auch immer, ist eine Verringerung, die im Haushaltsplan ihren Niederschlag findet. Ich habe vorher, als Sie anderweitig beschäftigt waren, gesagt: auf der Basis der kollektiven Höchststärke. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß das die Ingangsetzung der beiden Phasen erleichtern könnte, weil damit wirklich Sicherheit darüber besteht, daß sich alle Staaten an der Phase II beteiligen. ({13}) - Wissen Sie, was ganz gefährlich ist? Das konstante Beharren auf Positionen, die verhandelbar sind. Wir wollen verhandeln, wir wollen nicht in Stagnation verharren. Wir wollen uns Zug um Zug auf der Basis der Einhaltung unserer Grundpositionen natürlich in Verhandlungen aufeinander zubewegen. ({14}) Wie kommen wir wohl anders zu Verhandlungsergebnissen? Durch ein solches Vorgehen darf der westeuropäische Einigungsprozeß nicht verbaut werden, allgemein nicht und schon gar nicht sicherheitspolitisch. Ich komme zu einem zweiten Punkt. Mit der Bekanntgabe der Zahl seiner im Raum der Reduzierung stehenden Truppen hat der Osten am 10. Juni 1976 eine Tür für eine konkrete Datendiskussion geöffnet ({15}) und gleichzeitig ein politisches Signal gesetzt. Er ist damit vom Westen mehrfach vorgetragenen Forderungen entgegengekommen. Ich habe in einem Interview vor anderthalb Jahren öffentlich erklärt, ich hätte den Eindruck, sie würden einen Datendiskussion mitmachen. Das wurde damals als zu optimistisch hingestellt. Nach der Weihnachtspause wird jetzt über Daten diskutiert. Die genannten Personalstärken stützen zwar die öffentliche Argumentation der anderen Seite, der zufolge bereits ungefähr ein Gleichstand gegeben ist, weichen jedoch um mehr als 150 000 von den Zahlen ab, von denen wir glauben, daß sie stimmen. Das muß jetzt in der DatendisPawelczyk kussion geklärt werden. Darum gibt es ja eine Datendiskussion. ({16}) Die Datendiskussion hat zwei Aspekte. Sie soll erstens feststellen, ob der Umfang der Zahlen stimmt, und sie soll zweitens Definitionen bringen. Die politische Bedeutung dieses Vorschlags liegt für mich darin, daß der Osten zum erstenmal Angaben über die eigene Stärke gemacht hat und zweitens auch bereit ist, über sie zu diskutieren. Das hat er nämlich nie vorher getan. Das ist für mich ein Stück Bewegung, mit dem man sich auseinandersetzen muß. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, ob es nicht ein politisches Signal des Ostens ist, wenn er für die Datendiskussion Zahlen nennt, die sich annähernd paritätisch zu unseren eigenen Zahlen im Reduzierungsraum verhalten. Damit ist zumindest die Frage gestellt, ob er unsere Forderung nach annäherndem Gleichstand nicht politisch durch dieses Signal akzeptiert hat. Das ist eine Frage, die wir ausloten müssen. Wir wollen ja sprechen und verhandeln. Ich wollte darauf hinweisen, wo Bewegung für Gespräche und für das Ausloten ist. Mit starrem Beharren auf dem einen oder anderen Punkt kommen wir hier nicht weiter. ({17}) Eine als einmaliges zusätzliches Angebot gedachte Anreicherung des NATO-Vorschlages in der Option III unter Einschluß von nuklearen Waffensystemen und anderen Waffensystemen der Vereinigten Staaten hat auch die Position der NATO in dieser Frage differenziert. Ein weiterer, am 16. Dezember 1975 durch die NATO eingeführter Gedanke ist die Überlegung, den common ceiling nicht auf 700 000, sondern auf 900 000 heraufzusetzen, also die Datendiskussion dadurch zu erleichtern, daß man die Heeres- und Luftwaffentruppen zusammen bewertet und diskutiert. Das ist ein Entgegenkommen der NATO. Jeder, der es mit der Entspannungspolitik wirklich ernst meint, muß einsehen, daß die Datendiskussion und die Frage der Definition des Begriffs der Parität noch viel Zeit in Anspruch nehmen werden. Die Frage der Parität ist nicht nur durch das Abzählen von Soldaten und Waffen zu erledigen. Das wollen wir selber auch nicht. Die Frage der Parität hat z. B. auch geographische Aspekte zu berücksichtigen. Ich will das hier jetzt nicht weiter ausführen, sondern nur auf die Schwierigkeiten hinweisen. Deshalb sollte die Frage aufgeworfen werden, ob Ost und West nicht gut beraten wären, wenn sie sich sehr bald auf einen ersten kleinen Reduzierungsschritt verständigen könnten, falls das unseren Grundsatz des common-ceiling-Konzepts unberührt läßt. Angesichts der zu beobachtenden Rüstungsanstrengungen und der Verschärfung der internationalen Diskussion wäre es ein Zeichen von Verantwortungsbewußtsein, wenn ernsthaft ein Abkommen angestrebt würde, welches die weitere Aufrüstung für Mitteleuropa, also für den Reduzierungsraum, unterbinden würde; denn das ist doch eines der Ziele, die wir auch mit MBFR verfolgen. Wir kritisieren deutlich die erkennbare Fortsetzung der sowjetischen Rüstung. Sie zwingt uns auch im NATO-Bereich dazu, unsere militärischen Positionen zu verbessern. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob wir nicht einen Weg finden können, der zunächst einmal diesen Prozeß des Weiterrüstens auf beiden Seiten im Raum Mitteleuropa anhalten kann. Um ein solches erstes Abkommen zu erreichen, ist es schon viel, wenn ein kleiner Schritt in diese Richtung getan wird. Wir sollten jetzt im Einklang mit den Bündnispartnern nach Wegen für einen ersten Schritt suchen. Es dürfte meines Erachtens keinen besseren Weg geben, um erstens die beiderseitigen Rüstungsanstrengungen für Mitteleuropa zu dämpfen, zweitens zum erstenmal im Ost-West-Dialog konkret ein Abkommen über Truppenreduktion zu regeln und drittens damit für beide Seiten eine neue, hoffentlich geringere Truppenhöchststärke für Mitteleuropa vertraglich festzulegen. Wir haben immer unter Beweis gestellt, daß wir die sicherheitspolitische Seite unserer Außenpolitik sehr ernst nehmen. Alle von der Opposition seit sieben Jahren geäußerten Sorgen sind gegenstandslos. Wir haben uns in diesen Anstrengungen von niemandem übertreffen lassen. Wir haben aber im Gegenzug auch die große Verpflichtung, uns in den entspannungspolitischen Bemühungen von niemandem übertreffen zu lassen. Wir sind schließlich das Land, das geographisch am meisten in der Gefahrenzone liegt. Es muß uns für unsere politische Verantwortung und für das Entwickeln von Initiativen wirklich zu denken geben, daß an keinem anderen Ort der Welt auf so engem geographischem Raum wie auf dem deutschen Boden, auf dem Boden der Bundesrepublik und der DDR, weit mehr Waffen und Soldaten stehen als irgendwo sonst auf der Welt. Das ist ein Element der Konfliktträchtigkeit. Wir sind diejenigen, die durch eigene Überlegungen auf der Basis des NATO-Grundkonsenses durch Anregungen versuchen müssen, von diesem Spannungspotential herunterzukommen. Wir können in dieser Diskussion nicht die Passiven sein. In Wien beginnt jetzt die Datendiskussion. Dabei versuchen beiden Seiten, einheitliche Kriterien für die Datenerhebung zu bekommen. Das Ergebnis der Datendiskussion ist abzuwarten. Zu der bevorstehenden Diskussion möchte ich drei Feststellungen treffen. 1. Wir, die NATO-Staaten, haben die Datendiskussion hartnäckig gefordert. Wir haben auf ihr geradezu bestanden. Das bedeutet doch auch, daß die vom Westen angenommene Truppenstärke des Warschauer Paktes im Reduzierungsraum zumindest theoretisch unter dem Vorbehalt des Ergebnisses der Datendiskussion steht. Wir, Herr Mertes, haben uns darüber am Rande der Sitzung unterhalten, und Sie haben mir insoweit zugestimmt. ({18}) - Ja, dann muß auch so offen geredet werden. - Asymmetrische Reduktion ist nur dort durchführbar, wo Asymmetrien bestehen, d. h., auch die NATO-Position steht in dieser Frage natürlich unter diesem Vorbehalt. 2. Der Osten hat sich zum erstenmal bereit gefunden, seine Truppenstärken anzugeben, und sich bereit erklärt, über diese Zahlen zu diskutieren. Noch vor wenigen Jahren haben wir das alle für unmöglich gehalten. 3. Die verantwortlichen Regierungen müssen dafür Sorge tragen, daß sich die Verhandler in Wien bei der Datendiskussion nicht im Dickicht verheddern. Wir, die NATO, haben schon im Dezember 1967 festgestellt, daß die Gesamtsicherheit für das Bündnis auf der militärischen Verteidigungsfähigkeit und der Entspannungspolitik beruht. Beides sind zwei Seiten einer Medaille, die wir gleich ernst nehmen. Militärische Sicherheit ohne Entspannungspolitik würde zu einem die ökonomischen Kräfte übersteigenden Rüstungswettlauf führen. Entspannungspolitik ohne militärischen Rückhalt im Bündnis wäre ein unverantwortliches Abenteuer. Zum gegenwärtigen Stand der Entspannungspolitik ist festzustellen, daß eine begrenzte Reduktion von Streitkräften beider Seiten kein Sicherheitsrisiko schafft, jedoch ein wesentliches Element im Entspannungsprozeß bedeuten würde. Insgesamt möchte ich hier für meine Fraktion feststellen: Den Sozialdemokraten geht es natürlich nicht um Vorleistungen. Uns geht es darum, die bisherigen Gespräche in Wien in ernsthafte Verhandlungen überzuleiten. Wer das will, muß die Grundpositionen beider Seiten, die vor drei Jahren abgegeben wurden und die sich auf beiden Seiten ein Stück aufeinander zubewegt haben, genau analysieren und sich die Frage stellen, ob Substanz für ein erstes Abkommen vorhanden ist. Wir halten diese ernsthafte Prüfung für dringend angebracht. ({19})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debattenbeiträge am heutigen Nachmittag seitens der Opposition zur Entspannungspolitik waren durchaus differenziert. Ich möchte nicht verhehlen, daß einige Zwischentöne, insbesondere aus dem Beitrag von Herrn Mertes, mich ermutigen, nicht Ratschläge zu geben, aber in eine Zeit zurückzublicken, in der die Freien Demokraten, auch in der Oppostion stehend, durchaus eine konstruktive Oppositionspolitik gemacht haben. ({0}) Sie, Herr Kollege Mertes, hatten hier den Versuch gemacht, das Nein der CDU/CSU zur KSZE in Helsinki zu interpretieren. ({1}) - Ja, natürlich. Ich mache nun gerade diese kleine Rückschau und beziehe mich auf Ihren heutigen Debattenbeitrag. Sie haben versucht, diese Ihre Haltung zu interpretieren. Allerdings muß ich Ihnen sagen: Die konkreten Vorstellungen, die konkreten Vorschläge der Opposition fehlten, ({2}) und, wie gesagt - das wurde hier schon erwähnt -, die Isolierung der CDU/CSU wurde in Helsinki vor aller Welt deutlich, wie ich meine.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte!

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Jung, würden Sie sich vom Bundesminister des Auswärtigen, der auch Ihr Parteifreund ist, bestätigen lassen, daß wir durch unsere Große Anfrage zur KSZE sowie durch unsere Anfragen und Anregungen im Auswärtigen Ausschuß zur Wahrung der deutschen Interessen, insbesondere zur richtigen Interpretation der Schlußakte ganz erheblich beigetragen haben?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Mertes, ich brauche mir das von meinem Parteifreund Genscher gar nicht bestätigen zu lassen. Ich weiß das sehr wohl, und ich habe auch deutlich gemacht, daß die Töne hierzu in der Opposition unterschiedlich sind. Ich habe wohlgemerkt Ihren Debattenbeitrag als Ansatzpunkt genommen, weil ich meine, daß wir die Gemeinsamkeiten, die hier immer wieder betont wurden, gerade in dieser so schwierigen Frage der Entspannungspolitik noch einmal unterstreichen müssen. Herr Kollege Mertes, unsere Erfahrung aus der Zeit der Opposition in den fünfziger und sechziger Jahren ist - ich darf Sie daran erinnern -, daß wir Freien Demokraten, zum großen Teil damals in der Opposition stehend, für diese Entspannungspolitik schon in der damaligen Zeit die Grundlage geschaffen haben und einen wesentlichen Anteil daran haben. Ich darf nur an Pfleiderer erinnern, ich darf an die Zeit von 1966 bis 1969 erinnern, in der ich auch selbst aktiv in dieser Frage mitgearbeitet habe. Es ist doch unbestritten: Zur Zeit können wir uns zur Entspannungspolitik keine vertretbare Alternative vorstellen. Dieses Bekenntnis zur Entspannungspolitik wird von uns auch keineswegs mit einer unangemessenen Entspannungseuphorie verwechselt, wie es heute hier einmal gesagt wurde, die möglicherweise im Geiste schon alle „Fakten" als „Tauben" sieht. Entspannungspolitik ist ein dynamischer Prozeß, der eine geduldige Arbeit an der Politik des Ausgleichs und der Verständigung auf der Grundlage des westlichen Bündnisses und der Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft erfordert. Nur langfristig - es wurde hier auch von meinen Kollegen schon darauf hingewiesen, daß wir mit vielen Jahren rechnen - bedeutet sie letzten Endes den Abbau der militärischen Konfrontation, wobei das sicherheitspolitische Gleichgewicht ständig gewährleistet sein muß. KSZE, SALT I und SALT II sowie MBFR sind deshalb für uns die wichtigsten Stationen auf diesem Weg. Die KSZE wird in diesem Jahr in Belgrad in ihre zweite Phase eintreten. Zugegeben: Der Korb III ist noch immer nicht ausreichend gefüllt; es kann aber nicht übersehen werden, daß allein die bescheidenen Zugeständnisse des Ostens auf den Gebieten der menschlichen Kontakte und des Informationsaustausches unseren Verhandlungspartnern Schwierigkeiten bereitet haben, die sie nur mit Mühe bewältigen. Dazu zähle ich das Verhalten der sogenannten Dissidenten in der Sowjetunion und vieler Intellektueller in Polen und in der Tschechoslowakei. Das sind doch Ereignisse in den Nachbarstaaten, die wir nicht übersehen dürfen. Herr Kollege Dr. Marx - wenn ich Ihre kleine Unterhaltung mit Herrn Kollegen Dregger mal einfach stören darf -, Sie haben in diesem Zusammenhang hier eine Interpretation gegeben, die ich als Mitglied eines Gremiums der von Ihnen angesprochenen Rundfunkanstalt nicht so stehenlassen darf. Sie sprachen davon, daß die Informationen nach Osteuropa bei der Deutschen Welle gestrichen worden sind. ({0}) - Gestrichen worden sind! Sie haben, Herr Kollege Dr. Marx, die besondere Verpflichtung, den Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses gegenüber, aber auch der deutschen Öffentlichkeit gegenüber, wenn Sie hier an diesem Pult Derartiges sagen, gleichzeitig hinzuzufügen, daß diese nicht ersatzlos gestrichen sind, sondern daß es sich um eine organisatorische Maßnahme zwischen zwei Rundfunkanstalten des Bundes, nämlich der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks, handelt. Die haben das nicht von sich aus getan. Da müssen Sie mal Ihre Fraktionskollegen fragen, die beispielsweise im Haushaltsausschuß sind. ({1}) Ihr Kollege Leicht, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, gibt Ihnen sicher die Information, daß die Forderung erhoben wurde, sich überschneidende Redaktionen zusammenzufassen, d. h. Einsparungen vorzunehmen. Herr Kollege Marx, um der Wahrheit doch die Ehre zu geben, hätten Sie hier sagen müssen, daß der Deutschlandfunk diese Aufgabe dann übernommen hat und die betreffende Redaktion in den Deutschlandfunk überführt wurde. Die eine Anstalt - Sie sprachen vom Kurzwellenbereich -übernimmt das Programm der anderen auch in der Ausstrahlung, so daß qualitativ und quantitativ keine Einschränkungen vorgenommen werden. Herr Kollege Marx -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Einen Augenblick, Herr Kollege Marx -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, ich frage Sie, ob Sie die Frage gestatten. Wollen Sie die Frage für später aufheben, oder wollen Sie sie gestatten?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gut, ich komme dann nachher darauf zurück.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Jung, es ist auch nur Ihre Formulierung, man müsse der Wahrheit die Ehre geben, haben Sie, glaube ich, gesagt, die mich jetzt zu der Frage veranlaßt. Ich kenne natürlich die Vorgänge - Deutsche Welle und Deutschlandfunk gehen Sie bitte davon aus. Aber ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie eigentlich präzise alles das, was ich heute morgen gesagt habe, absichtsvoll falsch darstellen. Ich erinnere daran, daß ich gesagt habe, daß aus der Ostabteilung der Deutschen Welle, Ende dieses Monats gestrichen mit entsprechenden personellen Konsequenzen, dies gemacht werden soll. Stimmt das, oder stimmt das nicht?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Marx, natürlich stimmt das, ({0}) aber ich habe hier deutlich gemacht, daß Sie nur von der Deutschen Welle gesprochen und den Eindruck erweckt haben - und dies verurteile ich -, als ob hier nur ersatzlos gestrichen wird und auf der anderen Seite nicht in gleichem Maße sowohl qualitativ wie quantitativ die Sendungen in dieses Gebiet weiterlaufen, um die Bundesrepublik Deutschland und ihre Probleme dort darzustellen. ({1}) - Ich begreife sehr wohl. Ich weiß, das ist Ihre politische Taktik! Deshalb, Herr Kollege Marx, möchte ich jetzt auch ein bißchen polemisch sagen: Sie sollten hier als „Marx-Christ" die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen und nicht wie ein „Marxist" mit Halbwahrheiten operieren.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haase?

Lothar Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Jung, stimmen Sie mit mir darin überein, daß Gebiete im Osten, die von der Kurzwelle der Deutschen Welle erreicht werden, von der Lang- und der Mittelwelle des Deutschlandfunks gar nicht erreicht werden können, ({0}) so daß selbst die qualitative beste Sendung des Deutschlandfunks, die Sendungen der Deutschen Welle ersetzen soll, gar nicht in jene Gebiete aus214 Haase ({1}) gestrahlt werden kann, die nur durch Kurzwelle erreicht werden können? ({2})

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Herr Kollege, das weiß ich natürlich genau. Nur gibt es auch hier wiederum bei Ihnen eine Halbinformation. Ich habe ja eben versucht, deutlich zu machen, daß weder qualitativ noch quantitativ eine Veränderung eintritt, weil nämlich die Programme, die über den Deutschlandfunk nur in zwei Wellenbereichen gesendet werd en, ({0}) von der Deutschen Welle übernommen und eben auch im Kurzwellenbereich ausgestrahlt werden, womit genau der ganze Bereich erreicht wird, den Sie eben angesprochen haben. ({1}) Dies ist ganze Wahrheit, Herr Kollege Marx! ({2}) Ich bitte Sie, sich noch einmal zu informieren, um nicht, wie gesagt, durch halbe Informationen hier Mißverständnisse aufkommen zu lassen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Marx? - Bitte!

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich möchte bitte nur eines sagen: Halten Sie bitte Sprachen, die auf dem Balkan gesprochen werden -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, Sie müssen eine Frage stellen!

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich möchte den verehrten Herrn Kollegen Jung fragen, ob er bereit ist, Balkan-Sprachen - um sie nicht im einzelnen zu qualifizieren -, die von der Deutschen Welle nach einem, wie Sie sagen, gewissen Sprachenschema zum Deutschlandfunk übergehen, und die Sprachen Russisch und Polnisch auseinanderzuhalten, die auch künftig bei der Deutschen Welle bleiben sollen, aber in anderem Zusammenhang und unter wesentlicher Veränderung der bisherigen personellen Verantwortung. Ist das so oder nicht?

Kurt Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001038, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Marx, dies ist nicht so, wie Sie es jetzt gesagt haben. Es ist hier zwar eine Veränderung eingetreten, aber diese Ausstrahlung in russischer Sprache, von der Sie gesprochen haben, wird ja weiterhin betrieben! Wir können hier, obwohl Sie das angedeutet haben, natürlich nicht eine interne Debatte über Personen führen. Sie wissen genau, daß eine Zusammenfassung in diesen beiden Bereichen erfolgt ist und daß qualitativ wie quantitativ keine Veränderung eintreten soll und eintreten wird. Meine Damen und Herren, ich wollte diese Zwischenbemerkung machen, weil ich den Eindruck hatte, Herr Kollege Marx, daß dies einer Richtigstellung bedarf. Ich möchte nun zum Problem der Entspannungspolitik in bezug auf die MBFR-Frage zurückkommen und zugestehen, daß es natürlich unbefriedigend ist, die Fortschritte in Wien einmal Revue passieren zu lassen, weil die Sowjets zunächst nicht auf die westlichen Angebote eingehen wollten und wir nun natürlich auch die Vorschläge über die Stärkeangaben sorgfältig zu prüfen haben. Sicher hat es auch Nachteile, wenn die Personalstärken als Maßstäbe für die Truppenstärken zugrunde gelegt werden, aber eine bessere Vergleichsmöglichkeit hat sich bisher nicht finden lassen. Wichtig ist aus unserer Sicht, daß diese Vergleiche nur von Bündnis zu Bündnis getroffen werden, d. h., daß kollektive Bindungen eingegangen werden können, aber nicht Bindungen, die isoliert auf die einzelnen Armeen im Bündnis - d. h. auch auf die eigene - angewendet werden. Ich möchte deutlich machen, daß einer künftigen Europäischen Union nicht schon jetzt Beschränkungen durch zahlenmäßige Bindungen auferlegt werden dürfen. Wir erwarten deshalb nicht allein die Intensivierung der Verhandlungen in Wien; wir sind auch bereit, hier Vorschläge für das gemeinsame Vorgehen vorzulegen. Und ich betone noch einmal: Gerade die Ausführungen des Kollegen Mertes ermutigen mich zu der Hoffnung, daß in diesen Fragen doch eine breite Gemeinsamkeit in diesem Hause gefunden werden kann und die Opposition ihre hier bekundete Bereitschaft zur Mitarbeit in dieser so bedeutenden Frage nicht nur verbal, sondern auch in der Praxis beweist. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Lorenz.

Dr. h. c. Peter Lorenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001374, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier für meine Fraktion, aber auch als Berliner zu Berlin. Diese Aufgabe erfordert Offenheit und Behutsamkeit zugleich. Einerseits wissen wir, daß Berlin von großen und ernsten Sorgen belastet ist. Andererseits wissen wir aber auch, daß unsere gemeinsame Pflicht es gebietet, nicht zuletzt von diesem Haus Ermutigung und Zuversicht für Berlins künftigen Weg in der Geschichte unseres Vaterlandes zu geben. ({0}) Es erschiene mir unerlaubt und gefährlich, eine solche Ermutigung durch Schönfärberei und Zweckoptimismus herstellen zu wollen. Eine Gefahr wird auch nicht geringer, sondern größer, wenn man den Blick von ihr abwendet oder über sie schweigt. ({1}) Vorweg: Ich habe nicht die Absicht, hier auszutragen, was wir Berliner zwischen dem Senat, der Koalition und der Opposition in Berlin auszutragen haben, sondern ich möchte mich zunächst auf die Feststellung beschränken, daß Berlin innenpolitisch an derselben Krankheit leidet wie Bonn, nämlich daran, daß man nach den Neuwahlen glaubte, gegen den Willen des großen Teils der Bevölkerung an einer Regierung der Verlierer festhalten zu können, ({2}) und die Union als stärkste politische Kraft von der Regierungsverantwortung ausschloß. ({3}) Was ich zu der Situation Berlins hier zu sagen beabsichtige, ist bestimmt von dem unbeirrten Willen der Union, Berlin für die große nationale Aufgabe zu erhalten, Zentrum Deutschlands und der Deutschen zu bleiben und wieder mehr als jetzt Mittelpunkt deutscher Zukunftshoffnungen zu werden. ({4}) Wenn ich Besorgniserregendes über die Entwicklung Berlins vorzutragen habe, dann geschieht das in der Zuversicht, daß die Freiheit dieser Stadt, ihre Kraft und ihre unvergleichliche nationale und internationale Bedeutung erhalten bleiben können, wo sie jetzt noch bestehen, und daß sie wiederhergestellt werden können, wo sie beschädigt wurden. Beste und erste Voraussetzung dafür ist der ungebrochene Lebens- und Selbstbehauptungswille der Berliner. Wir fragen uns, was gefragt werden muß: In welchem Umfange waren der deutsch-sowjetische Vertrag, der Grundlagenvertrag und das Viermächteabkommen über Berlin in dem nahezu halben Jahrzehnt ihrer Wirksamkeit aus unserer Sicht erfolgreich? Für die Beantwortung bietet sich zunächst ein Kriterium an: Was nämlich hat die Bundesregierung sich und uns von dieser Vertragspolitik für Berlin versprochen, und was mußte sie für Berlin mit dieser Vertragspolitik erreichen? - Zuerst menschliche und praktische Erleichterungen für die Berliner. Es besteht kein Zweifel, meine Damen und Herren, daß es auf den Zufahrtswegen von und nach der Stadt besser geworden ist, daß die Bürger der beiden Teile der Stadt wieder miteinander telefonieren können, daß die West-Berliner wieder ihre Mitbürger in Ost-Berlin und ihre Landsleute in der DDR besuchen können. Das sind unbestreitbare Vorteile. Aber wir fragen uns auch: Was hat denn diese Politik für das freie Berlin insgesamt gebracht? Das ist hier heute in der Debatte gar nicht richtig ausgesprochen worden. Denn wir müssen feststellen, daß der Osten bisher ungeniert und hartnäckig sein Ziel weiterverfolgt hat, das freie Berlin zu isolieren, es zu einer selbständigen politischen Einheit zu machen und zu einem weiteren Sonderteil Deutschlands abzuspalten. ({5}) Den Berlinern wurde versprochen, die Sowjetunion werde künftig die zwischen dem Bund und Berlin gebliebenen Bindungen nicht mehr in Frage stellen und eine Entwicklung der Stadt in diesem Sinne und im Rahmen der Entspannung nicht weiterhin stören und zerstören wollen. Ihnen wurde auch versprochen, das freie Berlin werde nunmehr nicht nur im Westen, sondern in Zukunft auch im Osten voll und ungehindert von der Bundesrepublik Deutschland vertreten werden. Das wäre auch das mindeste gewesen, meine Damen und Herren, was eine deutsche Ostpolitik nach den gewichtigen politischen Vorleistungen an die Sowjetunion hätte erreichen müssen. ({6}) Aber leider hat sie es nicht erreicht. Ich rufe heute noch einmal die Formeln in Erinnerung, mit denen diese Ostpolitik von der Regierung und den sie tragenden Parteien begleitet wurde: Ein geregeltes Nebeneinander und ein geregeltes Miteinander wurden uns zugesagt. Berlin sollte aufhören, Zankapfel zwischen Ost und West zu sein. Proteste Moskaus und Ost-Berlins oder sogar Schlimmeres sollte es gar nicht mehr geben. Die Bindungen sollten verstärkt werden. Berlin sollte aufhören, ein Krisenherd zu sein. Wirtschaftlich, so sagte man uns, würde die Stadt durch eine solche Entwicklung prosperieren. Was wir in den vergangenen fünf Jahren in Berlin und mit Berlin erlebten, hat diese Prognosen nicht erfüllt, meine Damen und Herren, im Gegenteil! Die Zahl der östlichen Proteste und Maßnahmen gegen fast jede Lebensregung Berlins und vor allem gegen nahezu alle Aktivitäten des Bundes zugunsten Berlins ist mittlerweile dreistellig geworden. Auch der Luftverkehr von und nach Berlin wird zunehmend von allen Ostblockstaaten diskriminiert. Ich warne davor, dieses Verhalten des Ostens herunterzuspielen, für unwichtig oder für unwirksam zu halten. Steter Tropfen kann auch hier den Stein höhlen. Die Proteste gegen alle personellen und institutionellen, gegen die zeitweiligen und die dauernden Bundespräsenzen in Berlin sind doch nicht nur Indizien, sondern sie sind Beweise für die Fortsetzung einer kommunistischen Politik, die - Verträge hin, Verträge her - Berlin weiter zu strangulieren sucht. Und das hat zu einem für die Stadt bedenklichen Stimmungsabfall geführt, der sich mehr oder minder lähmend auf Investitionen und Aktivitäten auswirkt. ({7}) Neben anderen negativen Erscheinungen und Enttäuschungen über unerfüllte Hoffnungen hat dieses schwer faßbare, aber höchst wirksame Ungewißheitsgefühl, meine Damen und Herren, das bisher nicht ausgeräumt worden ist, in Berlin erheblichen Flurschaden angerichtet. Es bedarf deshalb jetzt besonderer Anstrengungen aller Beteiligten dieses Hauses, aber vor allem der Bundesregierung, diesen Schaden wieder zu beheben. Berlin ist zwar zum Testfall der Entspannung erklärt worden. Aber allmählich greift immer mehr eine Stimmung um sich, die, auf eine kurze Formel gebracht, sagt: Wehe uns, wenn wir diesen Test durchführen und unsere Rechte wirklich wahrnehmen! ({8}) Und das darf doch so nicht weitergehen, meine Damen und Herren! ({9}) Ich kann es den Koalitionsparteien nicht ersparen, hier ein besonders aktuelles Beispiel für die gefährliche Wirksamkeit der östlichen Politik der Einschüchterung und der Drohung zu erwähnen, nämlich das bisher unerfüllte Versprechen, eine Deutsche Nationalstiftung mit dem Sitz in Berlin zu gründen. Seit mehr als vier Jahren wird dieses Projekt gedreht und gewendet, mit Worten zugedeckt und in Unaufrichtigkeit erstickt, meine Damen und Herren. ({10}) In seiner Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler dazu Ausführungen gemacht, aus denen die deutsche Öffentlichkeit fast einhellig den Schluß gezogen hat, daß es nunmehr mit einem Berlin-Sitz dieser Deutschen Nationalstiftung endgültig vorbei sei. Wir müssen befürchten, daß hier die Angst vor den Reaktionen des Ostens größer ist als die Entschlossenheit dieser Bundesregierung, die Möglichkeiten des Viermächteabkommens voll auszuschöpfen. ({11}) Eine solche Haltung - oder lassen Sie mich lieber sagen: ein solcher Haltungsschaden - ist geeignet, den Feinden Berlins Gefährliches zu signalisieren, daß nämlich Drohungen und Restriktionen gegen Berlin erfolgreich sein könnten, wenn sie nur nachhaltig genug sind. Je deutlicher der Osten diesen Eindruck gewinnt, um so mehr wird er natürlich seine Pressionen gegen Berlin und sein Bemühen um Aushöhlung des Viermächteabkommens fortsetzen. Es geht uns in Berlin nicht, wie der Herr Bundeskanzler einmal gesagt hat, um einige Messingschilder mehr, sondern es geht uns darum, daß die deutsche Bundesregierung z. B. in der Frage der Nationalstiftung - aber nicht nur in dieser Frage - Haltung bewahrt, daß sie ihre und unsere Rechte in Berlin unbeirrt wahrnimmt, und wenn es sein muß und nicht verhindert werden kann auch einmal im Konfliktfall. ({12}) Es ist so weit gekommen, daß uns die östlichen Regierungen belehren wollen, was als Provokation gelten soll und was nicht. Das darf doch nicht so bleiben. Die Lebenskraft Berlins durch die Einrichtung friedlicher überregionaler, nationaler und internationaler Institutionen zu stärken wäre dringend notwendig, geht aber nicht, weil die sowjetische Politik das nicht will. Dies wäre keine Provokation, sondern vertragskonform. Das hätte der Herr Abgeordnete Bahr Herrn Leonid Breschnew sagen sollen, ehe er ihm Verläßlichkeit bescheinigte. ({13}) Wir erwarten von der Bundesregierung - und dies erwartet, wie ich überzeugt bin, mit uns die große Mehrheit der Berliner -, daß dem Generalsekretär der KPdSU, falls er zu seinem Besuch nach Bonn kommt, unmißverständlich und nachdrücklich bewußt gemacht wird, daß das sowjetische Verhalten gegenüber dem freien Berlin und die sowjetische Praxis bei der Verwirklichung des Viermächteabkommens ganz wesentlichen Einfluß auf die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland haben. Die Formel, die heute hier wieder genannt worden ist, daß das Abkommen strikt eingehalten und voll angewendet werden muß, genügt doch offensichtlich nicht mehr; denn sie hat den Osten, Herr Kollege Hoppe, in der Vergangenheit nicht daran gehindert, mit seiner Politik der Isolierung Berlins fortzufahren, die Stadt zu schwächen und ihre Bevölkerung zu entmutigen. ({14}) Deshalb muß das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik mehr, als es in der Vergangenheit der Fall war, von der Politik bestimmt sein, die unter dem Motto steht: Es gibt keine Entspannung und keine Verständigung an Berlin und den Berlinern vorbei. ({15}) Wenn wir diese Politik erfolgreich durchsetzen wollen, bedarf es gut koordinierter, entschlossener Anstrengungen der Alliierten, der Bundesregierung, der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Verbände und des Senats von Berlin. Die alliierten Schutzmächte tragen die Verantwortung für die Sicherheit Berlins. Wir danken ihnen dafür. Die Sicherheit ist aber nur ein wichtiger Faktor bei der künftigen Entwicklung der Stadt. Wenn wir nicht wollen, daß es zu guter Letzt um die Sicherung eines absterbenden Gemeinwesens geht, gehört die Stärkung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sowie der gesamten Lebensfähigkeit der Stadt in dem Rahmen, den uns das Viermächteabkommen läßt, ebenso dazu. Wer sich für die Lebensfähigkeit zuständig fühlt, darf nicht zaghaft sein, sondern muß aus den Verträgen und aus der Situation das herausholen, was darin ist und was die internationale Lage hergibt. ({16}) Meine Damen und Herren, natürlich können wir dabei auf die Mitwirkung der Alliierten nicht verzichten, und wir wollen es auch gar nicht. Der Antrieb für eine solche Politik der Existenzsicherung des freien Berlin muß doch aber immer durch uns, durch die Deutschen gegeben werden. ({17}) Keine noch so befreundete ausländische Macht wird in ihrer Politik deutscher sein als die Deutschen. Deshalb geht das, was wir hier machen bzw. nicht machen, von uns aus. ({18}) Aktive Berlin-Politik muß auch koordinierte Berlin-Politik sein. Wenn überhaupt irgendwo, dann ist hier ein Höchstmaß an Zusammenwirken zwischen allen demokratischen Kräften gefordert. Maßnahmen, die Berlin stützen und fördern, sollten nach Möglichkeit Ergebnisse einer mittel- und langfristigen Planung aller Beteiligten sein. Hier genügen keine Berlin-Beauftragten von Unternehmungen, so wichtig diese sein mögen, und auch nicht die Zuordnung des Berlin-Bevollmächtigten der Bundesregierung als Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium. ({19}) Meine Damen und Herren, wir möchten der Bundesregierung nahelegen, einen Vorschlag, den die Berliner Union seit Jahren gemacht hat, aufzugreifen und eine besondere Planungs- und Koordinierungsstelle beim Bundeskanzleramt unter Einbeziehung der Wirtschaft für alle Berlin betreffenden Fragen einzurichten. Dieser Vorschlag wird, inzwischen übrigens auch von der Berliner Industrie- und Handelskammer, lebhaft unterstützt. ({20}) Eine aus einer solchen Zusammenarbeit hervorgehenden Berlin-Politik hätte große Aufgaben. Lassen Sie mich einige nennen. Die Bevölkerungszahl der Stadt ist rapide zurückgegangen, vor allem der Anteil der in der Produktion Tätigen. Alarmierend ist die wirtschaftliche Entwicklung Berlins. Der Verlust von industriellen Arbeitsplätzen hat sich in den vergangenen sechs Jahren auf 23 % beziffert. ({21}) Das, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, sind doch die Jahre des von Ihnen verheißenen Aufstiegs und der Krisenbewältigung gewesen. ({22}) Natürlich haben die weltweite Rezession und der technische Fortschritt an diesem Verlust von Arbeitsplätzen mitgewirkt. Aber diese Ursachen erklären doch nicht, warum in Berlin proportional doppelt so viele industrielle Arbeitsplätze verlorengingen wie in Westdeutschland. ({23}) - Nach Erklärungen müssen wir auch dafür suchen, Herr Kollege Schulze, warum im vergangenen Jahr die Investitionen in Westdeutschland um 7 % gestiegen, in Berlin dagegen um 11 0/o gesunken sind. ({24}) Da kommt man doch mit Hinweisen auf die internationalen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Rationalisierung nicht aus. Nein, Berlins wirtschaftliche Gesundheit ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer auch eine Frage des Vertrauens in die Zukunft der Stadt gewesen. Frühere Bundesregierungen waren sich stets bewußt, daß Berlin ein psychologisch sensibler Ort ist, der Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl verlangt. Investitionsentscheidungen und Beweggründe für Fort- und Zuzüge werden hier im besonderen Maß von der Politik beeinflußt. Die Hoffnungen, die geweckt wurden, und die anschließenden Enttäuschungen, die die politische Praxis auslöste, waren für die Entwicklung Berlins eben nicht förderlich. Lassen Sie mich hier doch noch ein Wort zur Berliner Landespolitik einfügen, weil sonst ein wesentlicher Aspekt der Lage der Stadt nicht erklärt werden könnte. Berlin leidet ganz wesentlich auch an der Trübung seines Erscheinungsbildes durch das Treiben von Chaoten und Verfassungsfeinden, durch die kommunistische Umfunktionierung wichtiger Bereiche der Berliner Universitäten und Hochschulen und durch die Verflizung und Handlungsschwäche der Verwaltung. Das muß anders werden, wenn Berlin eine Zukunft behalten soll. ({25}) Ich bin mir mit dem Herrn Bundeskanzler in dem Appell an die deutsche Wirtschaft einig. Die Repräsentanten unserer freien Wirtschaft möchte ich daran erinnern, daß sich überhaupt nichts an der Logik geändert hat, die vielen allerdings einst gegenwärtiger war als heute, daß nämlich die Freiheit der Bundesrepublik - die politische, die geistige und auch die wirtschaftliche Freiheit - nur so lange von Bestand sein wird, wie das freie Berlin sich behauptet. Die meisten von uns haben recht gut verstanden, daß wir die Wirtschaft unserer Verbündeten in Italien und England stützen müssen, wenn wir die Freiheit und das Wohlergehen des vereinten Europas nicht aufs Spiel setzen wollen. Aber die Notwendigkeit der Vitalisierung Berlins hat in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Bedeutung und einen unvergleichlichen Rang. Denn mit ihr steht und fällt mehr als das eigene Schicksal der Stadt. Insofern ist Berlin tatsächlich eine Stadt wie keine andere. Ich möchte der Wirtschaft hier sagen: Wer in Berlin investiert, investiert auch in seine eigene Zukunft und in die Zukunft seiner Kinder. ({26}) Aber hier bedarf es immer erst der politischen Investitionen des Bundes. Als Ihre Ost- und Deutschlandpsolitik, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, von schweren Rückschlägen erschüttert wurde, haben Sie uns in Anspielung auf unsere vergeblichen Warnungen immer gesagt - und Sie sagen es auch heute noch; der Herr Kollege Friderichs und der Herr Bundeskanzler z. B. haben es getan -, es gebe zu dieser Politik keine Alternative. Nun, wenn das auf Berlin bezogen so wäre, dann fiele das auf Sie zurück. Denn dann hätten Sie einen Zustand herbeigeführt, der nicht nur unbefriedigend, sondern besorgniserregend ist, und dann könnte man eine solche als Irrweg erkannte Bahn gar nicht mehr verlassen. Nein, die Alternativen liegen ganz sicher nicht in dem, was Sie polemisch eine Rückkehr zum kalten Krieg zu nennen und uns zu unterstellen pflegen. Die Unterstellung ist übrigens schon deshalb falsch, weil der kalte Krieg so lange nicht endgültig abgeschlossen sein wird, wie die östliche Seite ihn in der gewandelten Form des kühlen Konflikts stetig fortführt. ({27}) Der Herr Bundeskanzler hat eine Reihe von Beispielen genannt: die Ausweisung Loewes und die Vopo-Kontrollen der Ständigen Vertretung, die Antwort auf seine Regierungserklärung oder das Schießen an den innerdeutschen Grenzen, das mit dem Begriff „kalter Krieg" sogar nur verharmlosend bezeichnet wäre. ({28}) Nein, die Alternativen liegen zunächst im politisch-geistigen Bereich. Die Alternative zur Selbstverleugnung ist eben Selbstbewußtsein, ({29}) und die Alternative zum zaghaften Schweigen ist eben das Aussprechen der Wahrheit. ({30}) Es darf doch nicht sein, daß wir um so leiser treten, je lauter da drüben marschiert wird. ({31}) Wir wollen nicht, daß die Verträge, die wir nicht ausgehandelt haben, aufgekündigt oder gebrochen werden. Wir suchen auch nicht die Konfrontation mit den Staaten des Ostens. Wir wünschen keine vermeidbaren Konflikte. ({32}) Aber wir sind nicht bereit, Konflikten und Konfrontationen auf Kosten der deutschen Menschen, auf Kosten unserer demokratischen Überzeugung und auf Kosten Berlins auszuweichen. Das ist unsere Politik. ({33}) Unsere Deutschland- und Berlin-Politik wird auf folgenden Grundsätzen beruhen. Erstens. Die Vereinbarungen, die wir mit der anderen Seite getroffen haben, müssen eingehalten werden; allerdings nicht nur von uns, sondern auch von der DDR. Es muß jeder Versuch unternommen werden, trotz der Abgrenzungspolitik der Regierenden in der DDR für die Menschen im geteilten Deutschland das bestmögliche herauszuholen. Wir werden uns nicht vertragswidrige Interpretationen der anderen Seite und nicht eine Praxis aufzwingen lassen, die einseitig die Interessen der DDR durchsetzen will. Zweitens. Wir werden mit aller Energie die Verwirklichung der international verbindlichen Menschenrechte auf deutschem Boden betreiben und uns davon durch nichts abbringen lassen. ({34}) Drittens. Wir sind zu einer vernünftigen Zusammenarbeit mit der anderen Seite bereit. Eine solche Zusammenarbeit ist aber nur möglich, wenn sie auf Leistung und angemessener Gegenleistung beruht. Viertens. Wir werden unüberhörbar für die ganze Welt an der Zusammengehörigkeit aller Deutschen und an der Forderung festhalten, daß auch und erst recht im Jahre 32 nach Kriegsende dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht freigegeben werden muß. ({35}) Fünftens. Die Existenz des freien Berlin ist das sichtbare Zeichen für den fortdauernden deutschen Anspruch auf nationale Einheit und Freiheit. Deshalb muß die Zukunft des freien Berlin gesichert werden. Das setzt voraus, daß nicht nur die Berliner an ihre nationale Aufgabe glauben, sondern daß alle Deutschen, die in Freiheit leben, die Sicherung Berlins als ihre nationale Aufgabe ansehen. Das werden wir mit aller Kraft bewirken. ({36})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Mattick. ({0})

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Das war eine Präsidentenrede, ({0}) wie wir sie hier lange nicht gehört haben. Ich gratuliere zunächst einmal. Ich glaube nur, daß uns das nicht viel nützt; denn ich habe nichts Neues gehört. Ich habe während der Rede nur über folgendes nachgedacht. Ich darf einmal die Herren Kollegen aus Berlin, die schon länger im Deutschen Bundestag sind, daran erinnern: Da gab es einmal das Umweltschutzamtgespräch. Da wurden die Kollegen aus Berlin von einem der Botschafter der westlichen Schutzalliierten zu einem sehr guten Abendbrotessen eingeladen. ({1}) Danach wurden wir in eine Ecke gebeten, in der dann ein ernstes Gespräch geführt wurde. Da hat uns dieser Herr gesagt - ich will den Namen jetzt nicht nennen; die Kollegen, die dabei waren, können Ihnen den Namen nennen -: Nehmen Sie eines zur Kenntnis: noch einmal so ein Vorgang, wie um das Umweltbundesamt und Sie können nicht mehr mit unserer Hilfe rechnen. - Daran sollte Herr Lorenz denken, wenn er mit Forderungen auftritt, die ja nicht neu sind, die aber eines deutlich machen: ({2}) daß man die Berlin-Politik nicht mit Schlagworten in Ordnung bringen und in Ordnung halten kann, sondern daß das der sensibelste Punkt ist. Und wer glaubt, er kann hier auf die Art und Weise, wie sich der Präsident hier geäußert hat - was er in Berlin auch sagen könnte -, Erfolge erzielen, Durchbrüche erreichen, dem muß ich sagen: Dieses ist nun 30 Jahre lang ausprobiert, und es ist deutlich geworden, daß es so nicht geht.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rudolf Luster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001397, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mattick, meinen Sie ernsthaft, daß dieser alliierte Offizier, dessen Namen Sie uns nicht genannt haben, Sie zum Zwecke einer Äußerung, die er Ihnen gegenüber gemacht hat, auf die Seite genommen hat, damit Sie uns das heute hier mitteilen?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das hat er nicht mir, sondern uns allen gesagt. Mir liegt auch nicht daran, da einzusteigen. Mir liegt nur daran, Ihnen deutlich zu machen - die Kollegen wissen das -, daß wir in den Fragen Berlins nur in Gemeinsamkeit mit den westlichen Alliierten handeln können. Das ist der Kernpunkt der ganzen Berlin-Politik, mit dem wir leben müssen - mit Recht! Es sind unsere Schutzorgane, und diese Schutzorgane haben Vereinbarungen getroffen; diese Vereinbarungen sind auch für uns gültig, daran werden wir uns halten, wird sich auch der Präsident halten müssen. Er wird sich meiner Ansicht nach seine Rede unter diesem Gesichtspunkt noch einmal überlegen, besonders den letzten Teil. Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen machen. Der Präsident hat gesagt: es gibt unbestreitbar Vorteile - ich darf dies hier wiederholen -, und er hat einen ganzen Katalog dessen aufgeführt, was seit der Berlin-Vereinbarung und seit der KSZE in Berlin und für Berlin besser geworden ist. Dieser Katalog ist für die Berliner existent und für das Leben der Berliner in der Stadt von entscheidender Bedeutung. Berlin ist nämlich mit dieser Vereinbarung frei geworden. Der Durchgangsverkehr von Westdeutschland nach Berlin ist frei geworden. Diese Freiheit bedeutet, daß der Berliner die Stadt, wann immer er es will, verlassen kann, daß er wiederkommen kann, keine Schwierigkeiten mehr hat. ({0}) Es ist hinzugekommen, daß der Durchgang zwischen Berlin ({1}) und Berlin ({2}) und der DDR in dem Sinne frei geworden ist, daß die Besucherzahlen, wie Sie wissen, auf Millionenhöhe gestiegen sind. Was haben wir erreicht? Wir haben erreicht, daß zwischen Berlin ({3}) und Berlin ({4}) und der DDR ein Menschenstrom hin und her geht, der die Brücke zwischen beiden Teilen Deutschlands überhaupt erst hergestellt hat. Ich wiederhole, was hier vorhin schon einmal gesagt worden ist: Von der Blockade im Jahre 1948 bis zum Bau der Mauer im Jahre 1961 haben die damaligen Bundesregierungen nichts getan, was uns aus der Klammer gelöst hätte. Erst die Regierungen, über die Sie jetzt sprechen, haben die Tore geöffnet, die Wege geebnet und dafür gesorgt, daß Berlin eine offene Stadt geworden ist. Ihren Appell, verehrter Herr Lorenz, hätten Sie 1961 über Ihre damalige Bundesregierung an die Berliner Unternehmungen richten müssen, die nach dem Bau der Mauer mit ihren Gehirntrusten abgewandert sind, „verlängerte Werkbänke" in Berlin zurückgelassen haben und bis heute es dabei gelassen haben. ({5}) Dies ist nach dem Bau der Mauer geschehen. Und wenn sich vorhin Herr Mertes hier hingestellt und immer wieder von den klaren Worten und Formulierungen des Herrn Dr. Adenauer gesprochen hat, so kann ich nur fragen: Wo ist denn die Wiedervereinigung geblieben, die in dem Deutschlandvertrag verankert ist?

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Ich möchte meine Redezeit kurz fassen. Meine Damen und Herren, was hier über Berlin gesagt worden ist, möchte ich in folgendem korrigieren: Daß Berlin eine gewisse Abwanderung zu verzeichnen hat, ist entscheidend dadurch bestimmt, ({1}) daß gewisse Industrien in Berlin keine Arbeitsplätze mehr anbieten können. Das ist auch im Zusammenhang mit der damaligen Abwanderung zu sehen und auch in dem Zusammenhang, daß es für manche Unternehmungen und Unternehmer zu unbequem ist und war, nach Berlin zurückzukommen oder sich in Berlin anzusiedeln. Die Appelle nützen doch nichts, wenn es uns nicht gelingt, gerade Ihre Freunde, Ihre Sympathisanten ({2}) zu veranlassen, wieder in Berlin zu investieren. Ich möchte dazu eines sagen: Wir haben in Berlin noch eine stattliche Zahl von Gastarbeitern, die wir dringend brauchen. Wir haben in Berlin während der Rezession die geringste Arbeitslosenquote gehabt. Alles, was wir in Berlin aufrechterhalten und entwickelt haben, zeugt davon, daß diese Stadt lebt. Und nun zu dem, verehrter Herr Lorenz, was Sie hier über den Prozeß gesagt haben: Auch Sie wissen ganz genau, daß Sie eine gewisse Zahl von Abwanderungen nicht verhindern können. Eine gewisse Zahl von Zuwanderungen ist vorhanden. Daß die Stadt mit ihrem Überhang an alten Menschen zunächst einmal noch an Einwohnerzahl verlieren muß, ist ein logischer Vorgang, den Sie erklären müssen, wenn Sie hier mit der Zahl umgehen. ({3}) Dieser logische Vorgang führt dazu, daß die Bevölkerungszahl wahrscheinlich noch etwas sinken wird. Dann gelingt es uns vielleicht, in Gemeinschaft - -wenn wir das wollen - dafür zu sorgen, daß wieder neue Zuwanderer kommen, wenn sich die Menschen in dieser Stadt weiterhin so wohlfühlen, wie sie es heute können. Aber ich muß Ihnen sagen: Ihre Rede hier war Bangemachen. ({4}) Bangemachen ist natürlich keine Werbung für diese Stadt, sondern Bangemachen bedeutet: Sie haben keine Hoffnung mehr. Wenn der Präsident des Abgeordnetenhauses sich hier hinstellt und so redet, als wenn er keine Hoffnung mehr hat, dann, muß ich Ihnen sagen, ist das keine gute Sache für Berlin. ({5}) Aber es ist doch logisch: Wenn man die Bundesregierung angreifen will, muß man das so sagen. Sie hätten es auch ganz anders sagen können. Sie hätten hier werbend für Berlin auftreten können, Herr Präsident. Das haben wir eigentlich von Ihnen erwartet. Sie haben auch so sauber eingeleitet, Sie wollten nicht ... usw., dann haben Sie gemerkt: Sie wollen doch. Dann haben Sie noch den Schlenker gefunden, alles mies zu machen. Damit werden wir wahrscheinlich sehr viel erreichen! ({6}) Vitalisierung der Stadt sei das Ziel, sagen Sie, Herr Präsident. Dazu haben Sie keinen Vorschlag gemacht. Das, was in dieser Stadt passiert ist und am Laufen ist, seitdem sich der Bundeskanzler aktiv eingeschaltet hat, das sollte uns Hoffnung machen. Wir und Sie sollten dabei mithelfen, daß sich der Prozeß beschleunigt, mehr Arbeitsmöglichkeiten, neue Unternehmungen nach Berlin zu bringen. Nun lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Grundfrage „Berlin und die Entspannung" machen: Ich möchte wiederholen, was ich damals bei der Beratung des Grundvertrages gesagt habe. ({7}) - Sie waren, glaube ich, noch gar nicht hier oder waren nicht dabei. Übrigens, Ihre Einschätzung ist für mich nicht maßgebend, Herr Wohlrabe. ({8}) Was immer an Entspannung möglich ist und was immer uns gelingt, an Veränderungen in dem Prozeß zu erreichen, Berlin bleibt Streitfall, bleibt darum Streitfall, weil es mit seiner geographisch-politischen Position für die DDR immer unerträglich sein wird. Das wissen auch Sie. Daher werden wir um jeden Schritt ringen müssen, und darum wird der Prozeß der Beruhigung um Berlin völlig von dem Prozeß der Beruhigung zwischen Ost und West überhaupt abhängig sein. Wer das nicht begreift, meine Damen und Herren, der begreift die Geographie und die Politik nicht, mit der wir es in Berlin zu tun haben. Daher glaube ich, Herr Lorenz, sollten wir uns überlegen, ob wir solche Reden halten, wie Sie hier eine gehalten haben, oder ob wir nicht der Berliner Bevölkerung immer wieder sagen müßten: Die Betonung unseres Zusammenhalts, der Schutz der Westmächte, die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, das Ausnutzen schrittweiser Möglichkeiten der Veränderung, das Hinnehmen von Rückschlägen in dem Wissen, daß man dennoch wieder einen Schritt nach vorn gehen muß, um das Ziel zu erreichen. Das macht die Politik aus, die einen Zweck hat für Berlin, die uns etwas bringt für Berlin. Wir haben die Aufgabe, auch außerhalb der Bundesrepublik um Berlin zu werben, und zwar nicht nur bei den Westalliierten, sondern auch in den Ländern des Ostblocks, die die Position von Honecker auf Grund der jetzigen Entwicklung aus der KSZE auch nicht so gern sehen, und wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß wir sehr viele Sympathien in der Welt haben.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herr Wohlrabe hat so viele Zwischenrufe gemacht, die auch nicht alle sehr fair waren, daß er sich damit begnügen soll. Ich glaube, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben die gemeinsame Aufgabe, alle Wege zu suchen, die Berlin aktivieren. Wir haben die gemeinsame Aufgabe, dort, wo die Schwierigkeiten zwischen uns und denen, die uns schützen, sichtbar werden, eine Politik zu entwickeln, die uns zusammenführt. Wenn wir das nicht schaffen, dann wird Berlin mehr, als es notwendig ist, ein Krisenherd bleiben. Unsere Aufgabe ist es, den Krisenherd soweit wie möglich zu normalisieren, und zwar im Zusammenhang mit der Schlußakte, im Zusammenhang mit dem Grundvertrag und mit einer Berlin-Politik, die uns helfen kann, Berlin zu einer nationalen und internationalen Quelle für Menschen zu machen, die uns helfen wollen und die sich in Deutschland umsehen wollen, und auch für die deutsche Frage im allgemeinen, von der ich Ihnen sage, daß wir davon ausgehen müssen, noch lange unter den Bedingungen zu leben, unter denen wir in Berlin heute leben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch ein paar ganz kurze Bemerkungen zu der Auseinandersetzung machen, die Herr Marx hier mit uns geführt hat. Herr Dr. Marx, Sie gehen von einer falschen Voraussetzung aus. Es gibt eine Erklärung der beiden Anstalten, die Sie einmal in Ihren Akten schriftlich vorliegen hatten. Sie besagt, daß sich die Deutsche Welle und der Deutschlandfunk die Sendungen aufgeteilt haben. Die doppelten Sendungen von beiden Sendern waren in einer Sprache und gingen in eine Richtung. Nur diese Einsparung ist vorgenommen worden. Alle Sendungen sind in ihrer Art, in ihrer Zeitausstrahlung und ihrer Richtungsausstrahlung geblieben. ({0}) Herr Wohlrabe, jetzt wollen wir hier doch einmal ein offenes Wort reden. Was heißt inhaltlich? Ein Mann, demgegenüber Sie aus besonderen Gründen besondere Sympathien haben, ist nicht mehr da, wo er war. Das kommt in allen Anstalten vor und hat mit der Verlagerung oder mit einer Auflösung der Ostsendungen gar nichts zu tun. ({1}) Im übrigen ist nichts verändert worden. Sie setzen hier falsche Behauptungen in die Welt. ({2}) - Doch, das tun Sie. Die letzte Bemerkung, die ich noch machen möchte, meine Damen und Herren, ist folgende. ({3}) - Darüber können wir reden, wenn wir hier die nächste Debatte haben. Heute ist ein Artikel von Herrn Schuster in der „Süddeutschen Zeitung" erschienen. ({4}) Er schreibt: In dieser Lage wäre es verhängnisvoll, wenn die Debatte um die richtige politische Strategie der Bundesrepublik in der Schlagzeilenmanier fortgeführt würde, wie man es im Wahlkampf gewohnt ist. Es ist wenig phantasievoll, nach jedem neuen Verstoß gegen Geist und Buchstaben der Verträge immer nur nach mehr Härte und Sanktionen zu rufen, darüber aber die Fortsetzung einer alles in allem erfolgreichen Ostpolitik aus dem Auge zu verlieren. In der Phase nach den Verträgen und nach Helsinki geht es darum, neue Perspektiven für eine kontinuierliche, nicht nur reagierende Deutschlandpolitik zu gewinnen. Das Gegenteil ist heute von der Opposition geschehen. Insofern haben Sie uns hier wenig bei dem geholfen, was wir zu tun haben. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Czaja.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis jetzt haben die Sprecher der Koalition ebenso wie das Sammelheft der Regierungserklärung zu den Opfern von Krieg und Vertreibung außer weniger Sätze zu den Aussiedlern und einem Satz von Herrn Brandt geschwiegen. Selbst der frühere Bundeskanzler Brandt brachte bei solchen Gelegenheiten einige verbale Lobsprüche und Appelle für diese Menschen an. Meine Damen und Herren, es geht nicht so sehr um das verletzende Schweigen, und es geht - bis zur Herstellung der Stabilität - auch nicht vorrangig um große finanzielle Leistungen. Es geht vielmehr, Herr Bundeskanzler, um das Fehlen eines ehrlichen, überzeugenden und substantiellen Bekenntnisses des Bundeskanzlers zum sachkundigen Beitrag der Ost-, Südost- und der Sudetendeutschen zur Politik unseres freien Staates. Darum geht es vorrangig. ({0}) - Und, Herr Kollege, es geht um die Beachtung des Beitrags dieser Menschen zu dem Anliegen unseres Volkes und zu den Anliegen insbesondere der Vertreibungsopfer. Es geht um ihren Beitrag und ihr Wollen in den Nöten des Freien Europa und auch in den Nöten unserer unterdrückten Nachbarn. Weder die öffentlichen Anerkennungen noch die Bemühungen des Bundesinnenministers - diese seien anerkannt - um die sachliche Mitarbeit der Vertriebenenverbände, noch die positive Aufnahme ihrer Forderung für diese Legislaturperiode durch den Chef des Bundeskanzleramts, Herrn Schüler, können dies ersetzen. All dies hat seinen Niederschlag in der Regierungserklärung nicht gefunden. Das bedauern wir. Der Bundeskanzler scheint ganz einfach keine Antenne für diese Anliegen zu haben. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn man berechtigte deutsche und berechtigte menschliche Interessen vertritt, dann kann man den einen Satz der Regierungserklärung nicht unwidersprochen stehen lassen, der da heißt, wir seien bereits auf „einem breiten Weg zur normalen Nachbarschaft mit dem Osten". In einem anderen Teil dieser knappen Bemerkungen zur Lage der Nation widerlegt übrigens die gleiche Regierungserklärung selber diesen Satz. Sie stellt fest, daß der Osten weiterhin auf lange Sicht die Ablösung unserer freiheitlichen Ordnung und ihre politische Niederlage will. Dann folgen einige, wenn auch spärliche Bemerkungen zur Zerstörung unserer deutschen Nation. Meine Damen und Herren, das sind keine Zeichen für einen breiten Weg zu einer normalen Nachbarschaft, sondern Zeichen der Gefahr. ({2}) Wir vermissen in der Regierungserklärung vor allem das eindeutige Bekenntnis zum Offenhalten der ganzen deutschen Frage und zur Wahrung der Menschenrechte auch der Deutschen gegenüber fremder Willkür. Wir vermissen konkrete Folgerungen aus einem solchen Bekenntnis. Diese Regierungserklärung ist deshalb kein Beitrag zur Festigung des Willens von Nation und Staat zum Offenhalten der ganzen deutschen Frage. Bei der Vertretung berechtigter deutscher Interessen, insbesondere von Interessen der Ostdeutschen, zeigt die sogenannte neue Ostpolitik eine gefährliche Doppelzüngigkeit. Die Bundesregierung suchte beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nachzuweisen, man habe in nichtöffentlichen diplomatischen Verhandlungen und in den Vertragsbestimmungen zu verankern versucht, daß die ganze deutsche Frage offen ist. Dort erklärte die Bundesregierung - und wir halten das für richtig und halten sie daran fest -: Der Deutschlandvertrag gilt in seinem vollen Wortlaut. Das Potsdamer Protokoll ist als ein Vorgang zwischen Dritten für die Deutschen nicht verbindlich. Der Friedensvertrag für Deutschland steht aus. Das ganze Deutschland besteht fort, ohne vorerst zu politischem Handeln neu organisiert zu sein. Zur DDR kann es nur innerdeutsche Beziehungen geben. Sie erklärte: Über Ostdeutschland ist weder die Souveränität Polens noch die der Sowjetunion durch die Bundesrepublik Deutschland anerkannt worden, sondern es wurde nur ein konkretisierter Gewaltverzicht gegenüber Ostblockforderungen auf deutsches Gebiet abgemacht. Das ist verfassungs- und völkerrechtskonform, und daran halten wir die Bundesregierung fest. Aber im politischen Alltag tut die gleiche Regierung nach innen und außen so gut wie nichts, um die Rechtspositionen des ganzen Deutschlands zu festigen, um die Rechte aller Bürger der einen deutschen Staatsangehörigkeit nicht nur im Geltungsbereich des Grundgesetzes, sondern nach Völker- und Verfassungsrecht überall dort, wo sie hineinwirken kann, zu festigen, und sie tut viel zu wenig, um jeden Schaden von ganz Deutschland zu wenden, um das Bewußtsein der Verpflichtung für ganz Deutschland wachzuerhalten und auch den Weg für einen gerechten und tragbaren Ausgleich zugunsten ganz Deutschlands und seiner Nachbarn offenzuhalten. ({3}) Sie tut nicht nur nichts zur Festigung dieser Position, sondern sie tut auch wiederholt das Gegenteil. Im politischen Alltag tut man oft so, als gebe es kein Deutschland mehr, als sei die Spaltung Deutschlands in mehrere Teile und die Souveränitätsübertragung über Ostdeutschland an fremde Mächte anerkannt worden, während man das in Karlsruhe seitens der Bundesregierung vehement bestritten hat. ({4}) In der Amtssprache, in den amtlichen Landkarten, in den Begriffsbezeichnungen, in den Antworten der Bundesregierung während der Fragestunden, vor allem in Reaktionen auf politische Schritte dritter Länder, in der Nichtanfechtung der Aufzwingung der fremden polnischen Staatsangehörigkeit für Deutsche, in den Massenmedien wird eben dieses Gegenteil in der Praxis getan. Wenn Proteste der Vertreter polnischer Kommunisten, die ihren Arbeitern ein gerechtes Gerichtsverfahren versagen, hier gegen die Entscheidung freier oberster deutscher Gerichte eingehen, wie des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts, zur Rechtslage Deutschlands - das sind Entscheidungen, die im Einklang mit Verfassungs- und Völkerrecht stehen -, dann weist unsere Bundesregierung dies nicht als Einmischung zurück, sondern versucht, das durch Antworten im Parlament zu beschwichtigen, die von der Auslegung der Ostverträge als lediglich konkretisiertem Gewaltverzicht ungerechtfertigterweise abzurücken versuchen. ({5}) Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" rügte unlängst die unzureichende Respektierung der nach dem Grundgesetz für alle Staatsorgane verbindlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in umfassender Weise. ({6}) Ich meine, dieser Vorwurf gilt vor allem auch für die Vertretung der Folgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1973 und 1975 zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen nach innen und außen. ({7}) Den Kindern der Aussiedler will man die polnischen Ortsbezeichnungen für ihre deutschen Geburtsorte durch manche Schulatlanten aufzwingen. Ein später Erlaß des Bundesinnenministeriums räumt keineswegs die Zweifel bezüglich der Geburtsortsbezeichnungen in den Personenstandsurkunden aus. Jene Deutschen in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, deren deutsche Staatsangehörigkeit das Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt hat, bezeichnen selbst offizielle Erklärungen - leider auch Erklärungen von Abgeordneten - nicht nur beleidigend, sondern auch im Widerspruch zum Grundgesetz als deutschstämmige Polen, als Polendeutsche, als Polen deutscher Abstammung. Man erklärt, sie kämen größtenteils nicht, wie das Bundesverfassungsgericht es gesagt hat, aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße oder aus Ostdeutschland, sondern sie kämen aus „Polen". Dagegen verwahren wir uns ausdrücklich. ({8}) Man beschönigt oder verschweigt, wie in mehreren Interviews von Vertretern der Koalitionsparteien geschehen, warum diese Kinder so wenig Deutsch können: weil es in der Schule, in der Kirche, in der Öffentlichkeit und bis hinein ins Elternhaus ihnen strengstens verboten war, sich der Muttersprache zu bedienen. Das muß man auch hier einmal offen aussprechen. ({9}) Ein erschütterndes Bild bieten die Antworten des Ministeriums für innerdeutsche Fragen aus den letzten Jahren im Bundestag zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen, insbesondere Ostdeutschlands. Der neu vereidigte Minister für innerdeutsche Fragen müßte ganz anders als in der Vergangenheit bestrebt sein, Schaden von ganz Deutschland - auch von Ostdeutschland - zu wenden. ({10}) Der Bundesverkehrsminister läßt sogar im Bundestag erklären, die Deutsche Bundesbahn - ich betone: die Deutsche Bundesbahn - brauche in ihrem Werbematerial Deutschland nicht zu kennen und in ihren Karten nicht einzuzeichnen. ({11}) Dem setzen wir entgegen, daß alle Behörden auch in ihrer informatorischen Tätigkeit an die Gesetze und das Grundgesetz in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Auch die amtlichen Informationen müssen die Rechte ganz Deutschlands im Innern aufrechterhalten und nach außen beharrlich vertreten. ({12}) Noch eines! Oberste Verfassungsorgane fördern bei uns Schulbuchempfehlungen, die die jahrhundertelange deutsche Leistung in Ostdeutschland und Mitteleuropa entweder verschweigen oder verfälschen, die eine leninistisch-marxistische Entstellung der polnischen und der deutschen Geschichte enthalten, die die Verletzung der Menschenrechte durch die Massenvertreibung verschleiern oder rechtfertigen und die vor allem auch die Rechtslage Deutschlands und der Deutschen verfassungs- und völkerrechtswidrig den Schülern einprägen möchten. Die Bundesregierung will sogar durch Abkommen auf die Berücksichtigung dieser Entstellungen hinwirken. Zu Recht haben die zuständigen Länder verlangt, hierzu Polen zu notifizieren, sie seien an diese Empfehlungen nicht gebunden. ({13}) Lassen Sie mich weniges zum Schicksal der Aussiedler sagen. Die Schutzpflicht gegenüber einer Million Deutschen in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße erkennt die Bundesregierung nunmehr an. Nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat sie auch jetzt mehr für die Intervention zugunsten der Aussiedlungswilligen getan. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diplomatischen Vertretungen und des Auswärtigen Amts, die sich darum große Mühe geben, gilt ausdrücklich unser Dank. ({14}) Aber die Bundesregierung hat noch nicht berichten können, daß sie ihre öffentliche Zusage, die muttersprachlichen und die Gruppenrechte der Deutschen durchzusetzen, wirklich vorwärtsgebracht hat. Entweder waren diese Absichtserklärungen, die zu muttersprachlichen Rechten auch bei den letzten Abkommen abgegeben worden sind, inhaltslos, oder man hat abermals vor dem kommunistischen Nationalismus in punkto Volksgruppenrechte kapituliert. Obwohl den Deutschen ein Teil der Menschenrechte versagt wird, werden aber laufend die deutschen Finanzbürgschaften für Warenkredite erheblich erhöht. Das ist für die Durchsetzung der Menschenrechte nicht gerade hilfreich. ({15}) Polen erfüllt vorerst die durch den Bundesrat mühsam verbesserten und vorher schlecht ausgehandelten Ausreisekontingente rein zahlenmäßig, solange deutscherseits gezahlt wird. Aber Zehntausende abgelehnte deutsche Familien, darunter auch sehr viele Härtefälle, warten in täglicher Ungewißheit seit einem Jahrzehnt und länger auf die Ausreise, während wir verhältnismäßig rasch zahlen. Auch die Politiker müssen an die Nervenanspannung dieser Menschen denken. Hier kann man nicht sagen, wie ein namhafter Abgeordneter dieses Hauses es tat, daß nun „ein ausgezeichnetes Klima mit Polen" entstanden sei. Wenn diese Menschen das hören oder lesen, empfinden sie das wie einen Faustschlag in ihr Gesicht und in ihre Menschenrechte. ({16}) 15, 20 und mehr Ablehnungen der Anträge durch polnische Behörden sind weiterhin keine Seltenheit. Auch Herr Ehmke hat das inzwischen in seinem Wahlkreis gemerkt - vielleicht erst nach dessen Verlust. In diesen Fragen wird doch Helsinki nicht ernst genommen und nicht verwirklicht, meine Damen und Herren. Das muß hier festgestellt werden! ({17}) Niemand weiß, was nach der letzten deutschen Finanzrate im Mai 1978 geschieht, wieviel neu gefordert wird und was mit den 150 000 Deutschen geschieht, die seit mehr als zehn Jahren ausreisen wollen und durch die Protokollnotiz nicht erfaßt sind. Bis heute hat die Bundesregierung leider auch die Aufzwingung der fremden Staatsangehörigkeit für die eine Million Deutschen durch die Verwaltungsmacht nicht angefochten und der Behauptung von der doppelten Staatsangehörigkeit dieser Menschen nicht widersprochen. ({18}) Meine Damen und Herren, es rächt sich, daß 1970 weder objektive Merkmale für deutsche Ausreisebewerber noch eine gemischte Kommission für Beschwerdefälle vereinbart wurden. Selbst das Zentralorgan der SPD, der „Vorwärts", hat den für deutsche Staatsangehörige katastrophalen Verhandlungsablauf im November 1970 eingehend dargelegt - leider erst Ende 1975. An diesen üblen Praktiken nehmen sich Rumänien und die Tschechoslowakei leider ein Beispiel. Rumänien verweigert trotz der UN-Menschenrechtspakte und der Schlußakte von Helsinki zahlreichen Ehegatten das Zusammenleben in der Bundesrepublik Deutschland und verweigert vielen eigenen Bürgern deutscher Nationalität, die die rechtswidrig betriebene Assimilation ablehnen, die Ausreise in die Bundesrepublik. ({19}) Tausende Ausreisebewerber werden aus ihrer Arbeit entlassen und hungern ohne Arbeitslosenunterstützung. ({20}) Die Sowjetunion läßt zwar mehr Deutsche heraus, aber Millionen deutsche Volksangehörige müssen fern von ihren angestammten heimatlichen Wohnsitzen in Rußland in der Verbannung und Zerstreuung im asiatischen Teil der Sowjetunion leben. Das alles, meine Damen und Herren, sind keine breiten Wege einer guten Nachbarschaft, ({21}) denn die Regierungserklärung hat recht, wenn sie betont: Nachbarschaft bedeutet ungehinderte Begegnung und freies Zusammenleben. Und das ist hier nicht der Fall. ({22}) Neben diesen brennendsten Anliegen muß ich kritisch vermerken, daß auch bei der Entfaltung des Kulturguts der Vertriebenen durch manche innerstaatlichen Förderungsstellen ein Eingehen auf die Verzichtspropaganda besonders bevorzugt und versucht wird, die Vertriebenenverbände aus der Förderung der kulturellen Arbeit zurückzudrängen. ({23}) Ähnliche Tendenzen drohen bei der Nationalstiftung. Die Altersversorgung der Vertriebenen bedarf - wie nach Wiedergewinnung der Stabilität auch die Hauptentschädigung - dringend einer Verbesserung. Anzuerkennen sind - das möchte ich nicht verschweigen - die Bemühungen um die Eingliederungsprogramme. Das Bundesinnenministerium hat in seiner Verwaltungstätigkeit die Maßnahmen für die Eingliederung der Aussiedler verbessert, und auch hier gilt unser Dank den engagierten Mitarbeitern der zuständigen Abteilung für ihre Arbeit. ({24}) Doch harren die angesprochenen grundsätzlichen Fragen noch der Regelung. Bis zur Herstellung der Stabilität kann die Bundesregierung wenig zur weiteren Beseitigung der materiellen Folgen der Vertreibung vorschlagen, die sich bis in die Startchancen der jungen Generation und ihre Berufslaufbahnen auswirken. Um so mehr aber müßte die Bundesregierung gemäß ihrer grundgesetzlichen Pflicht, privates Eigentum gegen fremde Willkür zu schützen, und auch angesichts der neuen deutschen Finanzleistungen an den Osten die Freigabe des in der Heimat völkerrechtswidrig entzogenen Privatvermögens von den Vertreiberstaaten mit den völkerrechtlich gebotenen Mitteln einfordern. ({25}) Wahrscheinlich wird dies durch umfängliche Klageverfahren durchgesetzt werden müssen. Die Vertröstung auf einen Friedensvertrag kommt dem faktischen Versagen der Schutzpflicht für das private Eigentum gleich. Polen enteignet faktisch noch heute die ausreisenden deutschen Aussiedler, und die Bundesregierung schweigt dazu. ({26}) Man soll uns, meine Damen und Herren, nicht entgegenhalten, den Ostblock dürfe man mit Klagen nicht belästigen. Wer nicht die Interessen seines eigenen Volkes wirklich vertritt, wird im Osten nicht ernst genommen. ({27}) Gegen jede Grund- und Menschenrechtsverletzung sind Einzeldemarchen in den betreffenden Hauptstädten auf hoher Stufe und von hohem Rang und gemeinsame Demarchen der NATO-Staaten und der Staaten der Europäischen Gemeinschaft, eventuell auch der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, notwendig. Werden wesentliche Verletzungen überhaupt nicht beseitigt, dann erhebt sich die Frage der nach dem allgemeinen Völkerrecht zulässigen Schadenersatzansprüche und des zulässigen völkerrechtsgemäßen Handelns gegen völkerrechtswidrige Willkür. Hierbei kommt ebenso nüchterner politischer Überlegung wie vor allem dem gesamten wirtschaftlichen Bereich größte Bedeutung zu. Meine Damen und Herren, wenn man verneint, daß es Alternativen zur realen Entspannung gibt, muß man gleichzeitig hinzufügen, daß Alternativen zur illusionären Entspannung aber äußerst notwendig sind. ({28}) Verbal fordert diese Alternativen zur illusionären Entspannung der Bundesaußenminister übrigens seit 1974 auch. Bei all dem übersehen wir nicht das Grauen, das Deutsche auch im Osten verursacht haben. Dieses kann aber nicht ununterbrochen zur Rechtfertigung aktuellen fremden Unrechts gegen Deutsche und zum Verschweigen des Unrechts an Deutschen angeführt werden. ({29}) Fehler der Gemeinschaft sind nur durch konstruktive und freiheitsbewußte Meisterung der Gegenwart und der Zukunft zu heilen. ({30}) Über technische Fragen muß auch mit den Diktatoren verhandelt werden. Aber wir sind nicht dazu da, vorrangig der Planungswirtschaft und der Militärmaschinerie des Ostblocks zu helfen. Wir müssen auch die Not der dort lebenden Menschen nennen, jener Polen und Deutschen, die in Schlangen vor den Läden im polnischen Machtbereich stehen, und jener Arbeiter und Intellektuellen, die sich gegen den Terror einiger Polizeigruppen in Polen wehren. Den unzureichend Versorgten sollte man von Mensch zu Mensch Hilfe angedeihen lassen. Das wäre ein wirkliches Stück Versöhnung zwischen den Völkern und nicht nur zwischen den Machthabern. ({31}) Wir müssen innerlich miterleben und kritisieren, was den Gefangenen in den Arbeitslagern und in den Irrenhäusern auch im Osten widerfährt. Wir müssen aus der Veröffentlichung der „Charta 77" - ich bedauere, daß Herr Ehmke nicht da ist - lernen, was alles für die Menschenrechte getan werden müßte. Wer dies neben dem Grauen in anderen Teilen der Welt nicht vergißt, wer sich um diese Menschen kümmert, die in Not und Leid und Verfolgung sind, tut wirklich Dauerhaftes zur Verständigung und zum Zusammenleben der Völker, insbesondere mit unseren östlichen Nachbarn. ({32}) Auch können die Vorarbeiten im Westen für eine freie politische und föderale Vereinigung, die die Rechte der Völker und Volksgruppen wahrt, eine stete Hoffnung auch für die Völker im Osten sein. Meine Damen und Herren, Menschenrechte werden in aller Welt verletzt. In der Bundesrepublik Deutschland, so meinen wir, sind die Menschenrechte rechtlich für Nichtdeutsche und Deutsche in breiter Weise gesichert, auch wenn einzelne die Sicherungen oft ungenügend zu handhaben verstehen. Dort aber, wo es keine unabhängige Kontrolle der Normen und der Polizeimaßnahmen, wo es ungestrafte Willkür und Grausamkeit, bei unseren unmittelbaren Nachbarn, gegen Deutsche und Nichtdeutsche gibt, dürfen wir im freien Teil Europas nicht schweigen. Nach den internationalen Verpflichtungen der Menschenrechtspakte sind das nicht nur innerstaatliche Fragen. Wenn die Meinung widerlegt werden soll, die Sie uns immer vorwerfen, daß Helsinki nur eine Täuschung war, die in Belgrad fortgesetzt wird, muß in Belgrad eine systematische Dokumentation des Unredits an Deutschen und Nichtdeutschen, die sich an uns wandten, von der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit ihren westlichen Verbündeten auf den Tisch der Konferenz und der Zusammenkunft gelegt werden. ({33}) Darum sollte die Bundesregierung bemüht sein, nicht, das betone ich, als politisches Diskriminierungsmittel gegen andere Staaten, sondern als Hilfe zur Verteidigung der Menschenrechte. Wir dürfen uns durch vorausgehende Gegenbeschuldigungen von den notwendigen Feststellungen über den Bruch der Menschenrechte nicht abhalten lassen. Angstliches Schweigen führt nach den bisherigen Erfahrungen zu immer neuen, schweren Verletzungen der Menschenrechte und zu einer stärkeren Bedrohung der Freiheit. Helsinki ist nicht nur, wie Herr Pawelczyk meinte, zur Atmosphäre dagewesen, sondern da sind - in den Dokumenten steht es, und die Bundesregierung hat es immer wieder betont - feierliche moralischpolitische Verpflichtungen zur Verwirklichung auch der Menschenrechte eingegangen worden. Und hier muß ich Kollegen korrigieren, die behaupteten, die amerikanische Sonderkommission habe in voller Hoffnung geschwelgt. Der wirkliche Satz, den der Kommissionsvorsitzende mitgeteilt hat und von dem die Hälfte weggelassen wurde, Herr Kollege, lautet in diesem Dokument - ich habe es hier - so: Die Kommissionsmitglieder stimmten überein, daß die Versprechungen von Helsinki bis jetzt generell nicht erfüllt seien. Aber sie geben für die Zukunft nicht die Hoffnung auf. Und sein Stellvertreter fügte hinzu: Wir lassen uns in Belgrad nicht wieder in eine Gaukelei einer Schaubühne hineinziehen. Meine Damen und Herren, die Solidarität unserer Fraktion gilt vor allem auch den Aussiedlern, die jetzt vielleicht zum ersten Mal ohne Angst vor der Geheimpolizei einer deutschen Parlamentsdebatte lauschen können. Anders als ein Kollege, der jetzt in Warschau war, meinen wir, daß diese Aussiedler auch ein Bild von der Wirklichkeit in Ostdeutschland und in Polen bei uns mitprägen können. Auch für diese sachliche Dokumentation, die ich für Helsinki nannte, stehen die konstruktive, aber feste Haltung der Vertriebenen und ihr sachkundiger Beitrag zur Verfügung. Sie erbitten aber auch für ihre Anliegen die Solidarität unseres Volkes. Unsere Fraktion will sich dieses Beitrags bedienen. Das soeben genannte Angebot gilt aber für das Wohl des Ganzen und für alle, die diesen Beitrag, wenn auch kritisch, überdenken wollen. ({34})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Als letzter Redner des heutigen Tages hat der Herr Abgeordnete Dr. Kreutzmann das Wort.

Dr. Heinz Kreutzmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man hier soeben die Ausführungen des Kollegen Czaja gehört hat, so könnte man meinen, daß in der Bundesrepublik die Heimatvertriebenen in die Rolle der Parias gedrängt worden seien. Er hat in seinen Ausführungen kein Wort davon erwähnt, was in den vergangenen Jahren im Rahmen der Lastenausgleichsgesetzgebung für Millionen Menschen in diesem Lande geleistet worden ist, welch ein großartiges Werk diese Bundesrepublik mit der Eingliederung der Heimatvertriebenen vollbracht hat, das in seiner Art wohl einzigartig in der ganzen Welt sein dürfte. ({0}) Ich glaube, daß man kein zweites Beispiel dieser Art aufweisen kann. Er hat auch nicht erwähnt, daß diese Gesetzgebung in den letzten Jahren noch laufend verbessert worden ist. Ich denke hier nur an die Stichtagsverbesserungen, an die Dynamisierung der Kriegsschadensrente und ähnliches. Ich glaube, daß kein Heimatvertriebener in der Bundesrepublik das Gefühl hat, daß er ein Außenseiter ist, daß er in diesem Lande als Fremdling behandelt wird oder daß er außerhalb der Gesellschaft steht. ({1}) Ich meine auch, daß wir uns mit den Maßnahmen, die wir in den vergangenen Jahren in unserem Lande für die Aussiedler getroffen haben, durchaus sehen lassen können. Ich weiß, wie man sich in vielen Städten und Gemeinden bemüht hat, den Aussiedlern auf dem schnellsten Wege Wohnungen zu verschaffen, obwohl sie kaum erst in die Bundesrepublik gekommen waren. Ich weiß, mit wieviel Hilfsbereitschaft, mit wieviel Opferbereitschaft der Mitbürger diese Aussiedler aufgenommen worden sind, wie man sich bemüht hat, ihnen Arbeitsplätze, Kleidung usw. zu verschaffen. Ich glaube, daß sich die Bundesrepublik unter dieser Bundesregierung mit diesen Leistungen durchaus sehen lassen kann. Daß es teilweise unschöne Ereignisse am Rande gibt, trifft zu. Aber die wird es immer geben, wenn Aussiedler aus Polen nicht mehr voll die Muttersprache sprechen. Daß diese Aussiedler und ihre Kinder in den Gemeinden manchmal gehänselt, manchmal falsch angeredet werden, dürfte aber wohl kaum Vorwürfe gegen die Bundesregierung rechtfertigen, wie wir sie soeben erlebt haben. Herr Dr. Czaja, Sie haben kritisiert, daß die Schulbuchempfehlungen in der Bundesrepublik nicht ihren Wünschen und Vorstellungen entsprechen. Ich möchte Ihnen den Rat geben, sich einmal an die Landesregierungen zu wenden, die Ihnen nahestehen. ({2}) Als dieses Thema im Ministerium behandelt wurde, haben beispielsweise die Landesregierung von Baden-Württemberg und die Landesregierung von Rheinland-Pfalz erklärt, daß sie keine gemeinsamen Grenzen mit diesen Gebieten hätten und deshalb auch nicht an den Auseinandersetzungen interessiert seien. Sie sollten auch einmal an die Abschaffung des Staatsbeauftragten in Baden-Württemberg denken.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Heinz Kreutzmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr!

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kreutzmann, ist Ihnen bekannt, daß die Landesregierung von Baden-Württemberg ihre Zustimmung zu dem Kulturabkommen, das diesen Art. 4 enthält, noch nicht gegeben hat und daß die Landesregierung des Freistaates Bayern festgestellt hat, daß der Teil dieses Artikels, der sich mit Deutschland befaßt, verfassungswidrig ist; ist Ihnen bekannt, daß alle Länder beschlossen haben, der Bundesregierung mitzuteilen, daß sie Polen notifizieren solle, die Länder fühlten sich an diese Empfehlungen nicht gebunden?

Dr. Heinz Kreutzmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Czaja, das ändert aber nichts daran, daß gerade in dieser Frage, die Sie hier angeschnitten haben, die Haltung Ihrer Landesregierung eine andere gewesen ist. Herr Czaja hat weiter darauf hingewiesen, daß diese Bundesregierung nicht in der Lage sei, Volksgruppenrechte und Gruppenrechte für Minderheiten durchzusetzen. Herr Czaja, Sie wissen doch selber sehr genau, daß wir nicht in der Lage sind, in die Gesetzgebung anderer Länder einzugreifen und ihnen Vorschriften zu machen, wie sich das Leben in ihren Staaten gestalten soll. Sie wissen auch, daß diese Frage in den einzelnen Ländern vielfach noch mit einem Ballast von Ressentiments belastet ist und wie schwierig es ist, gerade in solchen Fragen zu einer Verständigung oder einer Annäherung der Standpunkte zu kommen. Sie werden auf der anderen Seite aber auch wissen, daß es Länder - ich nenne als Beispiel Rumänien - gibt, in denen man dem deutschen Kulturleben noch einen ziemlich breiten Raum gewährt. Herr Czaja hat immerhin zugegeben, daß sich die Situation, was die Aussiedlungen aus Polen angeht, in den vergangenen Wochen und Monaten erheblich verbessert habe. Herr Czaja, wir sind in der Tat, was die monatlichen Aussiedlungsquoten anbelangt, sogar über die vorgesehenen Normen hinausgekommen. Sie werden nicht bestreiten können, daß das mit Polen geschlossene Abkommen über Familienzusammenführung konsequent erfüllt worden ist. Wir wissen auf der anderen Seite, daß es da und dort noch lokale Schwierigkeiten gibt. Sie werden aber nicht bestreiten können, Herr Czaja, daß der Wille der polnischen Regierung, dieses Abkommen zu erfüllen, vorhanden ist.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka?

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kreutzmann, wie erklären Sie es sich aber, daß die polnische Regierung Aussiedlungswillige plötzlich nicht mehr aus der polnischen Staatsangehörigkeit entläßt, also erneut Schwierigkeiten macht?

Dr. Heinz Kreutzmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Hupka, Sie wissen, daß es jeweils auf den einzelnen Fall ankommt und daß die Verhältnisse in den einzelnen Fällen sehr unterschiedlich gelagert sind. Ich möchte Sie hier nur - Sie kennen die Einzelheiten wahrscheinlich sogar besser als ich - auf einige Beispiele hinweisen. Sie wissen, daß beispielsweise Polen, die im Ruhrgebiet geboren worden sind, nach dem Kriege freiwillig nach Polen umgesiedelt sind, dann auf einmal ihre deutsche Geburtsstadt wiederentdeckt und versucht haben, in die Bundesrepublik auszusiedeln. Aus all diesen Momenten ergeben sich Schwierigkeiten und Unterschiede, die man aber nicht generalisieren kann. Herr Czaja hat in seinen Ausführungen hier weiterhin gesagt, das Abkommen von Helsinki werde nicht ernst genommen. Herr Czaja, der Abschluß des Abkommens von Helsinki liege erst gut anderthalb Jahre zurück. Sie können doch nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß wir uns erst mitten im Prozeß der Verwirklichung des Abkommens befinden und das das Abkommen noch nicht überall bis zur letzten Konsequenz erfüllt sein kann. Sie kommen auch nicht an der Tatsache vorbei, daß dieses Abkommen von Helsinki vielfach Türen und Tore nach Osteuropa hin geöffnet hat und daß Gesprächsmöglichkeiten und Verständigungsmöglichkeiten, die vor diesem Abkommen nicht geboten waren, heute mehr denn je geboten werden. ({0}) Sie wissen auch, daß Tausende, Hunderttausende, Millionen von Menschen drüben auf Grund dieses Abkommens neue Hoffnungen geschöpft haben ({1}) und daß sie in ihrem Auftreten gegenüber den Behörden selbstbewußter, tapferer und eindringlicher geworden sind. Wenn Sie einmal Briefe aus der DDR lesen, können Sie einen großen Unterschied in der Vertretung der Bürgerrechte gegenüber den Behörden in der Zeit nach Helsinki gegenüber der vorherigen Zeit feststellen. ({2}) Herr Czaja hat weiterhin auf die Erhaltung des Kulturguts der Vertriebenen hingewiesen. Herr Czaja, ich glaube, sagen zu können, diese Bundesregierung hat ganz entscheidend dazu beigetragen, daß dieses Kulturgut der Vertriebenen in den vergangenen Jahren erhalten worden ist. Ich glaube, daß ohne die ständigen Hilfen der Bundesregierung und auch von sozialdemokratischen Landesregierungen wahrscheinlich große Teile dieses Kulturguts nicht hätten erhalten werden können. ({3}) Ich darf meine Ausführungen zum Schluß zusammenfassen. Ich glaube, die Heimatvertriebenen hier in diesem Lande haben das Gefühl, daß sie als wertvolle, gleichberechtigte Bürger voll anerkannt sind; der größte Teil von ihnen ist auch wirtschaftlich, menschlich, politisch, also in jeder Hinsicht voll integriert. Niemand hat Grund, Klagen zu erheben, die an der Wirklichkeit vorbeigehen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Damit ist dieser Bereich abgeschlossen. Morgen beginnen wir mit den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Finanzen. Der Herr Abgeordnete Katzer wird die Diskussion morgen eröffnen. Ich berufe die nächste Sitzung auf Donnerstag, den 20. Januar, Beginn 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.