Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 10. November 1977 im Nachgang zu seinem Schreiben vom 17. Oktober 1977 die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Graduiertenförderungsgesetzes ({0}) übersandt. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1171 verteilt.
Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 8. November 1977 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Laufs, Dr. Schulte ({1}), Dr. Eyrich, Schwarz, Milz, Biehle, Biechele, Dr. Langguth, Dr. Miltner, Susset, Volmer, Spranger, Broll, Gerster ({2}), Dr. Kunz ({3}), Krey, Dr. Jentsch ({4}), Dr. Jaeger, Regenspurger, Hartmann, Neuhaus, Dr. George, Hanz, Schröder ({5}) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Kosten des nachträglichen Schallschutzes an Straßen ({6}) - Drucksache 8/1044 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1168 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 8. November 1977 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Engelsberger, Dr. Jobst, Tillmann, Dr. Dollinger, Frau Benedix, Weber ({7}), Dr. George, Kittelmann, Biehle, Frau Pack, Frau Hoffmann ({8}), Daweke, Pohlmann, Biechele, Luster, Frau Will-Feld, Eymer ({9}), Neuhaus, Dr. Sprung, Wissmann, Burger, Dr. Laufs und der Fraktion der CDU/CSU betr. Fremdenverkehrspolitik - Drucksache 8/1068 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/1169 verteilt.
Überweisungen von EG-Vorlagen
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung ({10}) des Rates zur Festlegung von Maßnahmen zur Erhaltung und Bewirtschaftung der Fischbestände durch Aufstellung von Fangquoten für das Jahr 1978 ({11})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Mitteilung über eine „bessere Koordinierung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik" ({12})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft ({13}), Finanzausschuß, Haushaltsausschuß mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({14}) des Rates zur Festlegung technischer Maßnahmen zur Erhaltung der Fischbestände ({15})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Vorschlag einer Haushaltsordnung betreffend EAGFL, Abteilung Garantie, für die Zeiträume 1967/68 bis 1970 ({16})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({17}) des Rates
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien hinsichtlich der Einfuhr von Tomatenkonzentraten mit Ursprung in Algerien in die Gemeinschaft
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei hinsichtlich
der Einfuhr von Tomatenkonzentraten mit Ursprung in der Türkei in die Gemeinschaft ({18})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft ({19}), Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({20}) des Rates betreffend das Fangverbot für Stintdorsch ({21})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({22}) des Rates
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Staat Israel hinsichtlich der Einfuhr haltbar gemachter Fruchtsalate mit Ursprung in Israel in die Gemeinschaft
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien hinsichtlich der Einfuhr haltbar gemachter Fruchtsalate mit Ursprung in Algerien in die Gemeinschaft
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko hinsichtlich der Einfuhr haltbar gemachter Fruchtsalate mit Ursprung in Marokko in die Gemeinschaft
über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen Republik hinsichtlich der Einfuhr haltbar gemachter Fruchtsalate mit Ursprung in Tunesien in die Gemeinschaft ({23})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft ({24}), Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({25}) des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte handgearbeitete Waren ({26})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates über bestimmte Sofortmaßnahmen zur Anpassung der Kapazitäten in der Fischwirtschaft ({27})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung der Gemeinschaftszollkontingente für bestimmte Gewebe und bestimmten Samt und Plüsch, auf Handwebstühlen hergestellt, der Tarifnummer ex 50.09, ex 50.10, ex 55.07, ex 55.09 und ex 58.04 des Gemeinsamen Zolltarifs ({28})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Warmwasserzähler ({29})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({30}) des Rates über besondere Maßnahmen für die Einfuhr gewisser Schraubenmuttern aus Stahl mit Ursprung in Taiwan ({31})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({32}) des Rates über die zolltarifliche Behandlung bestimmter Erzeugnisse, die zur Verwendung beim Bau, bei der Instandhaltung oder der Instandsetzung von Luftfahrzeugen bestimmt sind ({33})
Vizepräsident Frau Renger
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({34}) des Rates zur Erhöhung des für die Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 30. Juni 1978 mit Verordnung ({35}) Nr. 1331/77 eröffneten Gemeinschaftszollkontingents für Rinder bestimmter Höhenrassen ({36})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({37}) des Rates zur Festsetzung der Qualitätsanforderungen an zur Brotherstellung bestimmten Weichweizen ({38})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({39}) des Rates zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines präferentiellen Gemeinschaftsplafonds für bestimmte in der Türkei raffinierte Erdölerzeugnisse und zur Einrichtung einer gemeinschaftlichen Überwachung der Einfuhren dieser Erzeugnisse ({40})
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({41}) des Rates zur Festlegung bestimmter Maßnahmen zur Überwachung der Tätigkeit von Fischereifahrzeugen der Gemeinschaft ({42})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Anpassung der in Artikel 13 Absatz 1 und 9 des Anhangs VII des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften vorgesehenen Sätze der Tagegelder für Dienstreisen ({43})
überwiesen an den Innenausschuß mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({44}) des Rates über die Abschöpfungen, die bei Einfuhren von bestimmten ausgewachsenen Rindern und deren Fleisch aus Jugoslawien anzuwenden sind ({45})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({46}) des Rates über die Gewährung einer Verbraucherbeihilfe für Butter in Italien ({47})
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um rechtzeitige Vorlage des Berichts vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Meine Damen und Herren, der Herr Bundestagspräsident hat gemäß § 129 der Geschäftsordnung den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung gebeten, eine Auslegung des § 105 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorzunehmen und dem Plenum zur Beschlußfassung vorzulegen. Der Ältestenrat hat eine entsprechende Ergänzung- der Tagesordnung und die sofortige Beratung darüber vorgeschlagen. Ist das Haus mit dieser Ergänzung der Tagesordnung einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch; somit rufe ich auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung ({48}) zur Auslegung der Geschäftsordnung
hier: § 105 GO-BT ({49})
- Drucksache 8/1159 -Berichterstatter: Abgeordneter Dürr
Abgeordneter Dr. Miltner
Gemäß § 34 der Geschäftsordnung treten wir in eine Debatte zur Geschäftsordnung über die Beschlußempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ein. Damit keine Mißverständnisse entstehen, darf ich dem Hohen Hause den Wortlaut des § 34 unserer Geschäftsordnung vorlesen:
Zur Geschäftsordnung wird das Wort nur nach
freiem Ermessen des Präsidenten erteilt. Die
Bemerkungen dürfen sich nur auf den zur Verhandlung stehenden oder unmittelbar vorher verhandelten Gegenstand oder den Geschäftsplan des Hauses beziehen. Sie dürfen die Dauer von fünf Minuten nicht überschreiten.
Das Wort als Berichterstatter hat der Herr Abgeordnete Dürr.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Präsident des Deutschen Bundestages hatte mit Schreiben vom 31. Oktober 1977 den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung um Interpretation des § 105 unserer Geschäftsordnung gebeten. § 105 lautet:
Große Anfragen an die Bundesregierung sind dem Präsidenten schriftlich einzureichen. Sie müssen kurz und bestimmt gefaßt und von soviel Mitgliedern des Bundestages unterzeichnet sein, wie einer Fraktionsstärke entspricht; sie sind schriftlich zu begründen.
Gefragt war, ob bei Großen Anfragen nicht nur diese, sondern auch die Begründung kurz und bestimmt sein müßten oder ob für die schriftliche Begründung keinerlei Einschränkung gelte. Der Ausschuß vertrat mit Mehrheit die Ansicht, auch die Begründung müsse kurz gefaßt sein. Er stellte dem Präsidenten anheim, den Anlaßfall gemäß § 128 der Geschäftsordnung selbst zu entscheiden oder nach § 129 vorzugehen. Der Präsident hat sich zur Entscheidung außerstande gesehen und gebeten, nach § 129 zu verfahren.
§ 129 unserer Geschäftsordnung lautet:
Eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Auslegung einer Vorschrift dieser Geschäftsordnung kann nur der Bundestag nach Prüfung durch den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beschließen.
Der Ausschuß schlägt demgemäß dem Plenum vor, § 105 dahin auszulegen, daß auch die Begründung von Großen Anfragen kurz gefaßt sein muß. Die Ausschußmehrheit - die von der Ausschußminderheit vorgetragenen Argumente wird Herr Kollege Dr. Miltner erläutern - ließ sich dabei von folgenden Erwägungen leiten.
Bis zum Jahre 1968 wurden Große Anfragen im Plenum folgendermaßen behandelt. Zunächst begründete einer der Fragesteller die Große Anfrage, dann trug die- Bundesregierung die - vorher nicht bekannte - Antwort vor, erst danach begann die Aussprache.
In der ursprünglichen Fassung hatte der letzte Halbsatz des § 105 gelautet:
eine kurzgefaßte schriftliche Begründung - der Großen Anfrage nämlich ist zulässig.
1968 wurde die Pflicht statuiert, Große Anfragen schriftlich zu begründen; dafür fiel die Begründungsrede im Plenum weg. Die Bundesregierung beantwortet Große Anfragen jetzt schriftlich, so daß im
Plenum sofort mit der politischen Debatte begonnen werden kann. Die Pflicht zur schriftlichen Begründung Großer Anfragen ist also nach der Entstehungsgeschichte ganz eindeutig Ersatz für die weggefallene Begründungsrede im Plenum.
Das wurde auch als selbstverständliche Regel so verstanden, so daß der Umfang der Begründungen nie größer war, als eine Begründungsrede gedruckt im Bundestagsprotokoll gewesen wäre. Der Wissenschaftliche Dienst unseres Hauses hat festgestellt, daß der durchschnittliche Umfang der Großen Anfragen, d. h. Fragen und Begründungen, in der 7. Wahlperiode viereinhalb Seiten, in der 8. Wahlperiode sechs Seiten betragen hat. Die umfangreichste Große Anfrage in dieser Zeit steht in der Drucksache 7/2354 mit insgesamt 9½ Seiten, davon 61/2 Seiten Begründung. Es ist aus der Entstehungsgeschichte nicht der geringste Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß den Anfragenden die Möglichkeit offengehalten werden sollte, Großen Anfragen umfangreiche Begründungen etwa in Form einer Dokumentation beizufügen.
Einen solchen über lange Jahre geübten Parlamentsbrauch, über den es nie den geringsten Streit gegeben hat, beizubehalten ist nach Ansicht der Ausschußmehrheit ein Gebot parlamentarischer Klugheit, nicht ein Zeichen für geringere Liberalität. Im Gegenteil, eine andere Interpretation wäre für den Bundestag gefährlich und würde den Präsidenten notwendigerweise in schwierige Lagen bringen. Er hätte keine Kriterien, um gegebenenfalls eine Drucklegung zu verweigern. Beispiele, welche Druckwerke dann 26 Abgeordnete einer Großen Anfrage als Begründung beifügen könnten, mag sich jedes Mitglied des Hohen Hauses selber bilden.
Es ist äußerst selten, daß der Bundestag Vorschriften der Geschäftsordnung nach § 129 selber auslegt. Wir sollten das tun, wie § 129 das von uns verlangt, nämlich in einer grundsätzlichen, über den Einzelfall hinausgehenden Auslegung. Wir sollten das tun, gestützt auf die Erfahrungen aus der Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft unseres Parlaments.
Namens des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung bitte ich Sie, seiner Beschlußempfehlung zu folgen.
({0})
Das Wort hat als zweiter Berichterstatter der Abgeordnete Dr. Miltner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir, die Opposition, vertreten demgegenüber die Auffassung: § 105 der Geschäftsordnung enthält wohlweislich keine Begrenzung der Begründung einer Großen Anfrage. Das ergibt sich zunächst einmal ganz klar aus dem Text des § 105, wo in Zusammenhang mit der Begründung das Wort „kurz" ausdrücklich fehlt. Aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift müssen wir den gegenteiligen Schluß ziehen, wie es die Koalition tut, nämlich den, daß man bei der Neufassung des § 105 der Geschäftsordnung das Wort „kurz" absichtlich
weggelassen und demgemäß eine kurze Begründung nicht mehr verlangt hat. Damit wollte man auch die Zeit für die Aussprache im Plenum gewinnen.
Daß man ausdrücklich auf eine kurze Begründung bei einer Großen Anfrage verzichtet hat, ergibt sich auch aus dem Vergleich mit anderen Vorschriften. Sowohl bei selbständigen Anträgen als auch bei Kleinen Anfragen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß eine kurze Begründung geboten ist.
Aber selbst wenn das Wort „kurz" in § 105 enthalten wäre, bliebe doch die Frage, ob im Einzelfall eine Materie eine kurze Begründung verträgt oder ob eine längere Begründung zum Verständnis unerläßlich ist. Diese Entscheidung kann im konkreten Fall immer nur anhand des Sachzusammenhangs getroffen werden. Ein anderer Maßstab ist dafür eigentlich nicht gegeben.
Im übrigen erhob sich im Geschäftsordnungsausschuß auch die Frage, ob das Parlament im Verhältnis zur Regierung bei der Flut der Drucksachen nicht schlechtergestellt ist. Der Ausschuß stand in der Tat vor der Frage, ob nicht der Informationsflut seitens der Regierung die Möglichkeit entgegengesetzt werden müßte, die Offentlichkeit durch das Parlament stärker zu informieren. Wenn die Opposition dann darauf verwiesen wurde, diese Information durch das Parlament, also durch die Gesamtheit des Parlaments, könne nicht - wie in diesem Falle - über die Begründung einer Großen Anfrage erfolgen, sondern über einen anderen Weg, so. muß immerhin doch festgestellt werden, daß die Geschäftsordnung für das Parlament keinen solchen Weg eröffnet. Der Geschäftsordnungsausschuß wird sicher Gelegenheit nehmen, diese Frage bei der Neufassung der Geschäftsordnung aufzugreifen. Dabei muß er berücksichtigen, daß zur Zeit alle Vorlagen der Bundesregierung gedruckt und verteilt werden müssen.
Insgesamt steht die CDU/CSU auf dem Standpunkt, daß sich aus dem Text, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, aus ihrer Entstehungsgeschichte und aus dem Vergleich mit anderen Bestimmungen der Geschäftsordnung eine Begrenzung des Umfangs der Begründung nicht ableiten läßt.
Wir waren auch der Auffassung, daß die Öffentlichkeit diesen Streit nicht verstehen wird. Sie wird nicht verstehen, warum gerade bei dieser Materie und der Bedeutung dieser Materie eine Drucksache nicht Eingang in das Parlament finden soll, wo doch tagtäglich viel unbedeutendere Materien im Parlament gedruckt und verteilt werden.
({0})
Wenn es je einen Gegenstand gegeben hat, an dem die Regierungskoalition ihre falsche Interpretation des § 105 nicht hätte demonstrieren sollen, dann ist es dieser.
({1})
Daher, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, die Beschlußempfehlung abzulehnen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unter dem Aufruf der Diskussion um die Auslegung des § 105 der Geschäftsordnung führen wir hier eine, so empfinde ich es jedenfalls, einigermaßen gespenstische Diskussion.
({0})
Da wird unter strenger Einhaltung der Geschäftsordnung des Hauses der letzte Halbsatz des § 105 „. . . sind schriftlich zu begründen" mit aller Akribie ausgelegt. Hinter dieser Debatte verbirgt sich der Sachverhalt, ob der frei gewählte Deutsche Bundestag, die einzige frei gewählte Institution der Deutschen, über das Thema Menschenrechte in Deutschland eine Dokumentation vorlegt oder nicht.
({1})
Da wird aufgerechnet, ob das sechs, elf, 23 oder 98 Seiten sein dürfen. Meine Damen und Herren, wenn dies nicht gespenstisch ist, dann weiß ich nicht, was gespenstisch ist!
({2})
Am 28. Oktober 1969 verlas von dieser Stelle der damalige Bundeskanzler Willy Brandt eine Regierungserklärung, in der ein paar bemerkenswerte Sätze stehen, die ich hier zitieren darf:
Wir wollen mehr Demokratie wagen.
({3})
Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun.
({4})
Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
({5})
Meine Damen und Herren, so sprach hier Willy Brandt.
({6})
Heute,
({7})
nach acht Jahren, wollen Sie hier Zensur und obrigkeitsstaatliches Denken einführen.
({8})
Das ist das parlamentarische und demokratische Verständnis einer Mehrheit, die hauchdünn ist und über Minderheiten spricht.
Meine Damen und Herren, ich stehe hier
({9})
und spreche - ({10})
- Herr Kollege Wehner, was Sie jetzt an Schaustellung aufführen oder nicht aufführen, ist Ihre Sache. Nur sollten Sie, der Sie in den letzten Wochen so oft von der „Solidarität der Demokraten" gesprochen haben, sich und Ihre Freunde beschämt fragen, was das für ein Schauspiel ist, das Sie hier heute bieten.
({11})
Wenn 254 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion,
({12})
die 18,6 Millionen Wähler in der Bundesrepublik Deutschland vertreten, hier in einer Großen Anfrage die Aufnahme einer Anlage über die Menschenrechte in Deutschland und in Europa beantragen, dann gehört es zum Selbstverständnis eines frei gewählten Parlaments, daß man dies gewährt und nicht Zensur ausübt.
({13})
Das Beschämende vor allem ist: Ein solcher Vorgang wäre in keinem frei gewählten Parlament der Welt möglich.
({14})
Die Vorstellung, daß im englischen Parlament, im amerikanischen Senat oder Kongreß, in der französischen oder italienischen Kammer eine Mehrheit der Minderheit untersagen würde, eine Dokumentation als Drucksache einzubringen, ist gänzlich unverständlich.
({15})
Herr Abgeordneter, ich muß Sie an die Redezeit erinnern.
Meine Damen und Herren, dies alles ist ein Ausdruck der politischen Kultur, der politischen Auseinandersetzung und des Stils,
({0})
den Sie in den Jahren Ihrer Herrschaft in dieses Haus hineingetragen haben.
({1})
Sie werden entscheiden, wie Sie es nach Ihrer Fraktionsräson für richtiger halten.
({2})
Aber eines sei noch gesagt: Auch in dieser Entscheidung schwingt ja nichts anderes als Angst mit,
({3})
nicht Angst wegen einer Dokumentation der CDU/ CSU-Fraktion, sondern die Furcht - darum geht es in Wirklichkeit -, nach einem Beschluß der Vernunft und der Fairneß in Zukunft ertragen zu müssen, daß Gruppen Ihrer eigenen Partei auf Grund eines solchen Beschlusses heute ebenfalls solche Dokumentationen vorlegen könnten.
({4})
Weil dies so ist, wird hier ein Stück Selbstverständnis eines frei gewählten Parlaments mit Mehrheit untergepflügt.
Meine Damen und Herren, dies ist keine Sternstunde.
({5})
- Dies ist eine Stunde, in der Sie, Herr Wehner, aus Gründen des Machterhalts einmal mehr dokumentieren, daß Ihnen an Gemeinsamkeit und an Fairneß überhaupt nichts liegt.
({6})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Porzner.
Frau Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich weise die Kritik des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, der Präsident des Bundestages habe so gehandelt, daß das Parlament am Schluß eine Zensur über die Minderheit des Bundestages ausübe, zurück.
({0})
Der Präsident des Bundestages, dessen Zuständigkeit für die Zulassung z. B. von Großen Anfragen von niemandem bestritten wurde und wird, hat keine Entscheidung getroffen. Er hat den Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages angerufen und um eine Auslegung des § 105 der Geschäftsordnung des Bundestages gebeten. Der Ausschuß hat mit Mehrheit beschlossen, daß auch Begründungen zu Großen Anfragen kurz sein müssen.
Auch nach Kenntnis der Interpretation des Geschäftsordnungsausschusses hat der Präsident keine Entscheidung getroffen. Er hat vielmehr den Ausschuß gebeten, für das Plenum, für den Deutschen Bundestag, eine Beschlußempfehlung vorzulegen. Er hat zugleich die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen gebeten, ihn zu unterstützen, daß diese Entscheidung heute noch fallen kann. Das Zensur zu nennen ist stilwidrig im Parlament
({1})
und schadet dem ganzen Bundestag, Herr Kohl.
({2})
Ich stelle also zum Geschäftsordnungsverfahren fest: Erstens. Der Präsident hat von seinem Entscheidungsrecht keinen Gebrauch gemacht. Zweitens. Der Präsident hat korrekt gehandelt,
({3})
indem er den Geschäftsordnungsausschuß um eine Beschlußvorlage gebeten hat.
Die SPD-Fraktion stimmt dieser Empfehlung des Ausschusses zu. Wenn es nämlich möglich würde, zur Begründung Großer Anfragen Dokumentationen, Broschüren von Parteien, von Verbänden, ja, womöglich Texte ganzer Bücher dem Bundestag unter dem Deckmantel von Drucksachen vorzulegen, dann wird das Instrument der Großen Anfrage zerstört, weil es mißbraucht wird, und dann wird die Möglichkeit des
Bundestags, Aussprachen zu führen, dadurch geschmälert.
({4})
Wenn politische Parteien Dokumente veröffentlichen wollen, dann können und sollen sie das selbst in eigener Verantwortung tun.
({5})
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Bundesregierung vor dem Verfassungsgericht verklagt,
({6})
daß sie Schriften und Broschüren als Materialien der Regierung verteile und damit Parteipropaganda betreibe.
({7})
Jetzt versucht die CDU/CSU-Fraktion, unter dem Mantel einer Drucksache des Bundestags eine Parteidokumentation zu veröffentlichen.
({8})
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird deswegen nicht das Verfassungsgericht anrufen.
({9})
Wir beantragen namentliche Abstimmung und Annahme des Vorschlages des Geschäftsordnungsausschusses.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Ollesch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erregung der Opposition bei einer Auseinandersetzung über die Auslegung der Geschäftsordnung wird nur verständlich, wenn man ihr die Absicht unterstellt, nicht eine Geschäftsordnungsdebatte zu führen, sondern ein Thema auf die politische Schiene zu bringen, auf die es heute in dieser Auseinandersetzung nicht zu bringen ist. Bei dieser Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses geht es nicht um Beschneidung von Minderheitenrecht
({0}) oder Behinderung von parlamentarischer Arbeit
({1}) oder Verhinderung von Informationen,
({2})
sondern schlicht und einfach um die Ordnung, die wir uns in Gestalt der Geschäftsordnung zur Durchführung der parlamentarischen Arbeit gegeben haben.
({3})
Ihr Beitrag, Herr Kollege Dr. Kohl, war kein Beitrag zur Geschäftsordnung, sondern ein politischer Beitrag, den Sie dann halten sollten, wenn das Thema „Menschenrechte" in Gestalt Ihrer Großen Anfrage hier zur Debatte steht.
({4})
Heute war der falsche Zeitpunkt, Herr Kollege Dr. Kohl. Gegen diesen Versuch, Geschäftsordnungsdebatten in politische Debatten umzumünzen, müssen wir uns nachhaltig wehren.
({5})
Der Ausschuß für Geschäftsordnung hat auf Wunsch des Präsidenten eine Auslegung des § 105, und zwar vornehmlich des letzten Halbsatzes, vorgenommen. Es wurde versucht, dabei die Gedankengänge heranzuziehen, die bei der Novellierung der Geschäftsordnung die damals Handelnden gehabt haben könnten.
Wir ergehen uns gar nicht in Spekulationen. Denn zweifellos ist die Begründung einer Großen Anfrage ein untrennbarer Teil der Großen Anfrage. Das wird auch aus der Großen Anfrage betreffend „Alkohol-und Drogenmißbrauch und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen", die von der Opposition eingebracht wurde und heute behandelt wird, schon äußerlich ersichtlich. Diese Große Anfrage beginnt mit der Begründung - wobei das Wort „Begründung" gar nicht gedruckt erscheint - und leitet von der Begründung in die einzelnen Fragen über.
In § 105 heißt es schlicht und einfach: „Große Anfragen an die Bundesregierung sind dem Präsidenten schriftlich einzureichen." Das haben Sie getan. „Sie müssen kurz und bestimmt gefaßt ... sein . . ." Damit bin ich eigentlich schon am Ende.
({6})
- Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht: Das gilt naturgemäß auch für die Begründung. Auch sie muß natürlich kurz und bestimmt gefaßt sein, weil sie ein Teil der Großen Anfrage ist.
({7})
- Herr Professor Mikat, Sie können den Kopf schütteln; aber damit überzeugen Sie keinen.
({8})
Denn aus diesem Satz geht ganz klar hervor, daß damit auch die Begründung gemeint ist, weil sie nicht ein besonderer Teil, sondern schlicht und einfach ein Teil der Großen Anfrage ist.
({9})
Weil das so ist und weil die Einhaltung der Geschäftsordnung für den ungestörten Ablauf unserer Arbeit so wichtig ist, ist die Einhaltung der Geschäftsordnung keine Frage minderen Ranges. Denn sonst würden wir sehr bald bei unserer Arbeit an lauter Ecken und Kanten stoßen und nicht mehr in der Lage sein, unseren Auftrag, den wir von den Wählern bekommen haben, durchzuführen.
Aus diesen Gründen sagen die Freien Demokraten zu der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Geschäftsordnung ja.
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Carstens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bedanken für die vielen Ratschläge, die ich in dieser Frage bekommen habe, für die Meinungen, die mir gegenüber vorgetragen worden sind, und auch dafür, daß die Fraktionen des Deutschen Bundestages es auf meine Bitte ermöglicht haben, daß die Entscheidung über diese Zweifelsfrage der Auslegung des § 105 heute getroffen werden kann. Die Auslegung des § 105, meine Damen und Herren, ist zweifelhaft. Darauf sollten wir uns verständigen. Wer die heutige Debatte angehört hat, muß eigentlich zu dem Ergebnis kommen, daß es so ist.
Der Wortlaut spricht nach meiner Auffassung gegen die Annahme, daß die Begründungen kurz sein müssen.
({0})
Denn an einer anderen Stelle der Geschäftsordnung heißt es bezüglich der Anträge ausdrücklich, daß sie kurz begründet werden müssen. Ich würde sagen, dies ist ein Indiz dafür, daß das an dieser Stelle nicht gelten soll. Die Praxis allerdings - das ist völlig richtig vorgetragen worden - ging bisher dahin, daß die Begründungen im wesentlichen kurz, jedenfalls keineswegs von übermäßiger Länge waren. Was die Vorgeschichte anlangt, so ist sie meiner Meinung nach ambivalent. Man kann aus der Vorgeschichte sicherlich einiges zugunsten der Auffassung entnehmen, die Begründung müsse kurz sein. Aber man kann aus ihr auch den gegenteiligen Schluß ziehen.
Wir haben es hier also mit einer echten Zweifelsfrage über die Auslegung der Geschäftsordnung zu tun. Wie sollten wir uns verhalten, wenn wir es mit Zweifelsfragen dieser Art zu tun haben? Das ist die Frage, zu der ich hier einige Worte sagen möchte.
Ich möchte den Standpunkt vertreten, daß wir uns in einem solchen Fall nicht nur an die eine Vorschrift klammern sollten, um die es hier konkret geht, sondern daß wir die Diskussion in den größeren Rahmen des Selbstverständnisses des Parlaments stellen sollten.
({1})
Aus diesem Gesichtspunkt möchte ich den allgemeinen Gedanken ableiten, daß das Parlament sich selCarstens ({2})
ber, seinen Fraktionen und seinen Mitgliedern ein größtmögliches Maß an Handlungsfreiheit einräumen sollte.
({3})
Dies jedenfalls entspricht den Grundsätzen, nach denen ich das Amt des Präsidenten bisher geführt habe. Ich möchte an diesen Grundsätzen festhalten, weil sie nach meiner Meinung einen Kern des parlamentarischen Gedankens überhaupt betreffen.
Nun wird gesagt, wenn man die Geschäftsordnung in diesem Fall so anwende, könne das zu Mißbräuchen führen. Das ist zuzugeben. Aber, meine Damen und Herren,' die Anwendung und Ausübung jedes Rechts können zu Mißbräuchen führen. Man sollte sich bei der Auslegung einer Vorschrift nicht von dem Gedanken leiten lassen, aus ihr könnten, wenn man sie so oder so interpretiere, Mißbräuche erwachsen, sondern man sollte die Auslegung auf das Selbstverständnis des Parlaments zurückführen.
Hier würde ich nun in der Tat den Vorschlag machen und dafür plädieren wollen, daß wir auf die Geschäftsordnung die Auslegungsgrundsätze anwenden, die im angelsächsischen Recht als „liberal construction" bezeichnet werden, als „liberale Interpretation"
({4})
in dem Sinne, daß wir möglichst wenig restriktiv über die Beschränkungen hinaus interpretieren, die die Geschäftsordnung enthält und die natürlich von uns allen respektiert werden müssen.
Das, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollte insbesondere für § 105 der Geschäftsordnung gelten, denn diese Bestimmung betrifft das Verhältnis von Regierung und Parlament. Große Anfragen richten sich an die Regierung. Wenn schon Interpretation im Sinne eines größtmöglichen Maßes an Handlungsfreiheit eine Grundregel für die Auslegung der Geschäftsordnung sein sollte, dann gilt das nach meiner Meinung ganz besonders, wenn es sich um das Verhältnis von Parlament und Regierung handelt; denn auf der anderen Seite, auf der Seite der Regierung, sind die Möglichkeiten der Selbstdarstellung natürlich unendlich viel größer, als sie das Parlament selbst im besten Falle hat.
({5})
Meine Damen und Herren, ich sage das ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall, um den es geht. Ich sage das auch ohne Bezugnahme auf die derzeitige Konstellation von Koalition und Opposition.
({6})
Ich sage es als eine Grundauffassung für das parlamentarische System überhaupt: daß sich das Parlament in seinem Verhältnis zur Regierung nicht selber Beschränkungen auferlegen sollte, die nicht klar und eindeutig aus der Geschäftsordnung hervorgehen.
Dies sind meine Überlegungen. Wenn ich allein zu entscheiden gehabt hätte, hätte ich die Große Anfrage zugelassen.
({7})
Ich bin von den Fraktionen der Koalition darauf hingewiesen worden, daß dagegen Bedenken bestehen. Ich habe daher den Weg gewählt, den die Geschäftsordnung für diesen Fall vorsieht. Ich bitte das Haus zu entscheiden.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmude.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die in dieser Form - einschließlich einer Dokumentation als Begründung - vorgelegte Große Anfrage der CDU/CSU wird mit Recht von der Mehrheit des Hauses als unzulässig zurückgewiesen.
({0})
Sie hat nach Inhalt und Umfang eigentlich auch gar nicht den Zweck, dieses Parlament oder die Bundesregierung zu informieren. Es geht den An- tragstellern offenbar darum, ein Parteidokument mit amtlichem Anschein zu versehen, um es in der internationalen Politik zu verwenden.
({1})
Dazu ist das Instrument der Großen Anfrage nicht da. Würden wir diesem Versuch stattgeben, dann wäre damit nicht nur die Gefahr späterer Mißbräuche verbunden, die Grenze wäre bereits überschritten. Der Mißbrauch würde stattfinden.
Wenn ich sage, der Zweck sei gar nicht auf die Information von Bundestag und Bundesregierung gerichtet, kann ich Ihnen das kurz mit der Vorgeschichte dieser Dokumentation belegen, die uns heute hier angedient wird.
Sie werden sich erinnern, daß Sie Anfang März versucht haben, eine solche Dokumentation durch die Bundesregierung anfertigen, unter Einbeziehung der westlichen Verbündeten bearbeiten und dann schließlich in Belgrad bei der KSZE-Nachfolgekonferenz einführen zu lassen. Wir haben auf die schweren Bedenken gegen ein solches Vorgehen hingewiesen und am 21. Juni hier diesen Versuch zurückgewiesen.
Schon vorher hatten Sie uns angekündigt, Sie würden dann eben die Dokumentation selbst fertigen und über befreundete Regierungen oder Parteien in Belgrad vorlegen lassen, so Herr Kollege Kohl im April dieses Jahres. Dann setzte offenbar ein Lernprozeß ein, bei dem Sie erkennen mußten, daß Sie nicht nur im Juli 1975, als Sie hier in einer Sondersitzung des Bundestages nein zu der Unterschrift unter das Schlußdokument sagten, international isoliert waren, sondern es auch jetzt sind; denn wir erlebten, daß man uns Mitte Juli genau das vorhersagte, was jetzt geschieht. In einer Pressemeldung hieß es:
Es finden sich offenbar nicht befreundete Regierungen, die bereit sind, eine solche Dokumentation vorzulegen.
({2})
- Ich komme im nächsten Satz genau auf den Punkt.
Man werde deshalb hier eine Große Anfrage einbringen.
({3})
Herr Kollege, ich muß Sie ermahnen, daß wir hier zur Geschäftsordnung sprechen und nicht zur Sache.
({0})
Frau Präsidentin, ich bitte, auch noch den nächsten Satz in Ihre Bewertung einzubeziehen.
Ich zitiere: Man werde die Dokumentation hier als Große Anfrage einbringen. Interessierte Regierungen anderer Staaten könnten dann nachlesen, was im deutschen Parlament über Menschenrechtsverletzungen aktenkundig sei.
({0})
- Sie geben mir also recht, daß das der eigentliche Zweck Ihres Vorhabens hier heute ist.
({1})
Sie werden Wege finden - und Sie haben bereits Wege gefunden, wie Sie gestern mitgeteilt haben -, um zu Ihrem Ziel zu gelangen.
({2})
Die Große Anfrage hier in diesem Parlament ist dazu kein geeignetes Instrument.
Herr Kollege Kohl, wenn etwas gespenstisch ist, dann ist das in dieser Vorgeschichte Ihrer Großen Anfrage Ihr Slalom um unbewältigte Sachprobleme, der Sie letztlich nicht nur mit der politischen Vernunft, sondern auch mit der Geschäftsordnung des Bundestages in Konflikt gebracht hat.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, wir sollten uns zu dem Thema äußern, das Beschlußvorlage ist. Die öffentliche Präsentation einer Dokumentation, einer wissenschaftlichen Arbeit oder von Tagungsergebnissen ist eine Sache, die parlamentarische Behandlung solcher Dinge ist eine andere Sache. Es sind zwei voneinander klar zu trennende Vorgänge. Es geht hier um die Tatsache, daß auf Veranlassung des Bundestagspräsidenten eine grundsätzliche Auslegung der Geschäftsordnung, die über den Einzelfall hinausgeht, stattzufinden hat. Für uns Freie Demokraten war es immer eine klare Angelegenheit, daß Große Anfragen laut Geschäftsordnung des Bundestages kurz und bestimmt gefaßt sein müssen. Die historische Entwicklung dieses Paragraphen ist hier schon angesprochen worden. Wir sind der Meinung, daß die Praxis, die bisher angewandt wurde, auch der Maßstab für heute und die Zukunft bleiben soll. Es wäre in unseren Augen ein Unding und ein Schaden für das Parlament, wenn in Zukunft gewaltige Schriftwerke zur Bundestagsdrucksache erhoben würden, indem man sie schlicht einer Großen Anfrage als Begründung beifügt.
({0})
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie ansprechen, Herr Kollege Dr. Kohl; ich möchte einer möglichen Legendenbildung vorbeugen. Hier geht es nämlich nicht um die vorgesehene Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zu den Menschenrechten - das ist der Einzelfall, der vom Präsidium hätte entschieden werden können -, sondern es geht um die grundsätzliche Entscheidung, und hier werden geschäftsordnungsmäßig garantierte Minderheitsrechte in keiner Weise geschmälert noch werden Zensuren erteilt, sondern es wird die Geschäftsordnung, wie sie war und wie auch der Präsident das hier vorgelegt hat und wie sie auch eingehalten worden ist, festgeschrieben, so daß es auch in der Zukunft so wie bisher gehandhabt werden soll.
({1})
Zu der Frage einer liberalen Interpretation sind wir mit Ihnen, Herr Präsident, völlig einer Meinung.
({2})
Alle wichtigen Gedanken zu einer Großen Anfrage können in kurzer Form in der Begründung angesprochen und können soweit, wie gewünscht, hier in der Debatte ausgeführt werden.
({3})
Aussprachen über Große Anfagen ziehen sich über Stunden, über ganze Tage hin. Ich meine, daß für meine Begründung der liberalen Interpretation eine Entscheidung dieses Bundestages spricht. Wir hatten zur Debattenabkürzung hier schon einmal die Möglichkeit, Reden zu Protokoll zu geben. Dies war, wenn Sie so wollen, ein Minderheitenrecht, sogar für einen Einzelnen. Dies hat der Deutsche Bundestag abgeschafft. Dies geschah, weil er will, daß wichtige Argumente nicht schriftlich zu Protokoll gegeben und damit zu Bundestagsdrucksachen werden, sondern daß wichtige Beiträge hier in Form des gesprochenen Wortes vorgetragen werden.
({4})
Es geht hierbei ganz und gar nicht um das Vorhaben der CDU/CSU;
({5})
denn die Große Anfrage der CDU/CSU wird durch diesen Beschluß, den wir fassen wollen, nicht verhindert, sie wird nicht verzögert. Die CDU/CSU kann die Große Anfrage einbringen, und die Debatte wird möglich sein. Es geht lediglich darum, die Übung einer ausufernden Literaturbeigabe nicht einreißen
zu lassen; sonst entstünde für zukünftige Zeiten ein Drucklegungszwang, der bei entsprechender Ausnutzung im Stile des jetzigen CDU/CSU-Versuchs nur noch in Zentnern und Tonnen bedruckten Papiers zu bemessen wäre.
({6})
Die Freien Demokraten sind auch aus diesem Grunde für die Beschlußvorlage, wie sie uns der Geschäftsordnungsausschuß vorgelegt hat. Aus grundsätzlichen Erwägungen sind wir der Meinung, daß die Flut bedruckten Papiers, über das dann hinterher nicht einmal groß debattiert wird, nicht zunehmen sollte, sondern daß das gesprochene Wort Inhalt der parlamentarischen Auseinandersetzung zu sein hat.
({7})
Vizepräsident. Frau Renger: Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/1159. Die Beschlußempfehlung lautet:
Der Bundestag wolle beschließen,
§ 105 GO-BT - Große Anfragen - wird gemäß § 129 GO-BT dahin gehend ausgelegt, daß auch die Begründung der Großen Anfragen kurzgefaßt sein muß.
Es ist namentliche Abstimmung beantragt. Der Antrag ist ausreichend unterstützt. Bitte beginnen Sie mit der Abstimmung.
Ich schließe die Abstimmung. ({8})
Meine Damen und Herren, ich möchte das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben. Mit Ja haben 241 Abgeordnete, mit Nein 195 Abgeordnete gestimmt, insgesamt also 436 Abgeordnete.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 436; davon ja: 240
nein: 195
ungültig: 1
Ja
SPD
Ahlers
Dr. Ahrens Amling Arendt Augstein Baack
Bahr
Dr. Bardens
Batz
Becker ({0}) Biermann
Bindig Blank
Dr. Böhme ({1}) Brandt
Brandt ({2}) Brück
Buchstaller
Büchler ({3}) Bühling
Dr. von Bülow
Buschfort
Dr. Bußmann
Collet
Conradi
Coppik
Dr. Corterier
Curdt
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Dr. Diederich ({4})
Dr. von Dohnanyi
Dr. Dübber Dürr
Egert
Dr. Ehmke
Dr. Ehrenberg
Eickmeyer
Frau Eilers ({5}) Dr. Emmerlich
Dr. Enders Engholm Frau Erler Esters
Ewen
Fiebig
Dr. Fischer Flämig
Frau Dr. Focke
Franke ({6}) Friedrich ({7}) Gansel
Gerstl ({8})
Gertzen
Dr. Geßner Glombig Gobrecht Grobecker Grunenberg Gscheidle Dr. Haack Haar
Haehser
Hansen
Frau Dr. Hartenstein Hauck
Dr. Hauff Henke
Höhmann
Hoffmann ({9}) Hofmann ({10})
Dr. Holtz Horn
Frau Huber Huonker Ibrügger
Immer ({11}) Jahn ({12})
Dr. Jens ({13}) Junghans Jungmann Junker
Kaffka
Kirschner
Klein ({14})
Koblitz
Konrad
Kratz
Kretkowski
Dr. Kreutzmann Krockert Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lattmann
Dr. Lauritzen
Leber
Lenders
Frau Dr. Lepsius
Liedtke
Dr. Linde Löffler
Lutz
Mahne
Marquardt Manning Marschall
Frau Dr. Martiny-Glotz Matthöfer
Dr. Meinecke ({15}) Meinike ({16}) Meininghaus
Menzel
Möhring
Müller ({17}) Müller ({18})
Dr. Müller-Emmert Müntefering
Nagel
Neumann Dr. Nöbel Offergeld Oostergetelo
Paterna
Pawelczyk Peiter
Dr. Penner Pensky
Peter
Polkehn Porzner Rapp ({19})
Rappe ({20}) Ravens
Frau Renger Reuschenbach
Rohde
Roth
Saxowski
Schäfer ({21})
Dr. Schäfer ({22}) Scheffler
Scheu
Schirmer Schlaga Frau Schlei
Schluckebier
Dr. Schmidt ({23}) Schmidt ({24}) Schmidt ({25}) Schmidt ({26}) Dr. Schmitt-Vockenhausen Dr. Schmude
Dr. Schöfberger
Schulte ({27})
Schulze ({28})
Dr. Schwencke ({29}) Dr. Schwenk ({30}) Seefeld
Sieler
Frau Simonis Simpfendörfer
Dr. Sperling
Dr. Spöri
Stahl ({31})
Dr. Staudt Dr. Steger
Frau Steinhauer Stockleben Stöckl
Sybertz
Thüsing
Frau Dr. Timm
Tönjes Topmann Frau Traupe
Ueberhorst Urbaniak
Dr. Vogel ({32}) Vogelsang
Voigt ({33}) Waltemathe
Walther
Dr. Weber ({34})
Präsident Carstens
Wehner
Weißkirchen ({35}) Wendt
Dr. Wernitz
Westphal
Wiefel Wilhelm
Wimmer ({36}) Wischnewski
Dr. de With
Wittmann ({37}) Wolfram ({38}) Wrede
Wüster Wuttke Wuwer Zander Zebisch Zeitler
FDP
Angermeyer
Cronenberg
Eimer ({39})
Ertl
Gärtner Gallus Gattermann
Grüner
Dr. Haussmann
Hölscher Hoppe Jung
Kleinert
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Ludewig
Dr. Dr. h. c. Maihofer
Frau Matthäus-Maier Mischnick
Möllemann
Ollesch Paintner
Peters ({40}) Schäfer ({41})
Schmidt ({42})
von Schoeler
Frau Schuchardt Spitzmüller
Dr. Vohrer
Dr. Wendig
Wolfgramm ({43}) Wurbs
Zywietz
Nein
CDU/CSU
Dr. van Aerssen
Dr. Althammer
Bayha
Dr. Becher ({44}) Dr. Becker ({45}) Frau Benedix
Benz
Frau Berger ({46}) Berger ({47})
Berger ({48}) Biechele
Dr. Biedenkopf
Biehle
Dr. von Bismarck
Dr. Blüm Dr. Bötsch Braun
Breidbach Broll
Bühler ({49})
Carstens ({50}) Carstens ({51})
Dr. Czaja Damm
Daweke
Dreyer
Engelsberger
Erhard ({52}) Ernesti
Ey
Dr. Eyrich Frau Fischer
Francke ({53}) Franke
Dr. Friedmann
Dr. Früh
Frau Geier Geisenhofer
Dr. von Geldern
Dr. George Gerlach ({54}) Gerstein
Gerster ({55}) Gierenstein Glos
Dr. Gradl Dr. Gruhl Haase ({56})
Dr. Häfele Dr. Hammans
Hanz
Hartmann Hasinger von Hassel Hauser ({57}) Heimrich
Dr. Hennig
von der Heydt Freiherr
von Massenbach Höffkes
Höpfinger
Dr. Hoffacker
Frau Hoffmann ({58})
Dr. Hornhues
Horstmeier Dr. Hubrig Frau Hürland
Dr. Hüsch Dr. Hupka Dr. Jaeger Jäger ({59})
Dr. Jahn ({60})
Dr. Jenninger
Dr. Jentsch ({61}) Dr. Jobst
Frau Karwatzki
Katzer
Kiechle
Kittelmann
Dr. Klein ({62}) Klein ({63})
Dr. Köhler ({64}) Köster
Kolb
Krampe
Dr. Kraske Kraus
Krey
Frau Krone-Appuhn
Kunz ({65}) Dr. Kunz ({66}) Lagershausen
Landré
Dr. Langguth
Dr. Langner
Dr. Laufs Lemmrich
Dr. Lenz ({67}) Lenzer
Link
Lintner Löher
Dr. Luda Luster
Dr. Mende
Dr. Mertes ({68}) Metz
Dr. Meyer zu Bentrup
Dr. Mikat
Milz
Dr. Möller
Müller ({69})
Müller ({70}) Niegel
Nordlohne
Petersen Dr. Pfennig
Picard Pieroth Frau Pieser
Pohlmann
Prangenberg
Rawe
Reddemann
Regenspurger
Dr. Reimers
Frau Dr. Riede ({71}) Dr. Riesenhuber
Dr. Ritz Röhner Dr. Rose Rühe
Sauer ({72})
Sauter ({73})
Dr. Schäuble
Schedl
Frau Schleicher
Schmidt ({74}) Schmitz ({75}) Schmöle
Dr. Schneider
Dr. Schröder ({76})
Schröder ({77})
Dr. Schulte ({78})
Schwarz
Seiters
Sick
Dr. Freiherr Spies von Büllesheim
Spilker
Spranger Dr. Sprung Stahlberg Dr. Stark ({79})
Graf Stauffenberg
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Straßmeir Stutzer
Susset
de Terra
Tillmann
Frau Tübler Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel ({80})
Vogt ({81}) Volmer
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Dr. von Wartenberg Weber ({82}) Weiskirch ({83})
Dr. von Weizsäcker Werner
Frau Dr. Wex
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wimmer ({84})
Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissebach Wissmann
Dr. Wittmann ({85}) Dr. Wörner
Baron von Wrangel Würzbach
Dr. Wulff Dr. Zeitel Ziegler
Dr. Zimmermann
Zink
Damit ist der Antrag des Geschäftsordnungsausschusses angenommen.
Wir fahren in der Abwicklung unserer Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 21 a auf:
Große Anfrage der Abgeordneten KrollSchlüter, Burger, Frau Schleicher, Braun, Frau Geier, Dr. Reimers, Köster, Dr. Hammans, Dr. Rose, Frau Karwatzki, Dr. George, Hasinger, Geisenhofer, Höpfinger und der Fraktion der CDU/CSU
Alkohol- und Drogenmißbrauch und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen
- Drucksachen 8/751, 8/922 Im Ältestenrat sind maximal vier Stunden Redezeit vereinbart worden. Nach der Begründung werden wir in die Aussprache eintreten. Für diese AusPräsident Carstens
sprache wurde festgelegt, daß fünf Mitglieder jeder Fraktion einen Debattenbeitrag von jeweils 10 Minuten leisten. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das beschlossen.
Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht und daraufhin veröffentlicht wurde, erreichte uns eine Fülle von Zuschriften. Betroffene, verzweifelte Eltern machten uns auf Einzelfälle aufmerksam, sie forderten uns auf, zu handeln. Manchmal hatte ich den Eindruck: ihre Erwartungen können wir nicht erfüllen. Doch wir können mehr tun, als bisher geschehen ist; deswegen unsere Initiative.
In ihrer Antwort verweist die Bundesregierung auf die Schlußnotiz des gemeinsamen Aktionsprogramms von Bund und Ländern zur Eindämmung und Verhütung des Alkoholmißbrauchs, wo es heißt - ich zitiere -:
Dieses Programm bedarf zu seiner Verwirklichung der Mitarbeit aller, die als Abgeordnete im Bundestag, in den Landtagen sowie den öffentlichen und regionalen politischen Gremien über Möglichkeiten verfügen, ihnen zum Erfolg zu verhelfen.
Auch hier haben Sie eine Begründung für unsere Anfrage.
Doch die Reaktionen der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien waren sehr merkwürdig. Sie ließen erkennen, daß weder die Bundesregierung noch die Fraktionen von SPD und FDP die Bedeutung dieses Themas erkannt haben.
In jüngster Zeit ist eine Ausweitung des Jugendalkoholismus zu beobachten. Daraus müssen wir ableiten, daß eine durchgreifende und dauerhafte Lösung des Suchtproblems nicht erkannt, geschweige denn erreicht worden ist.
({0})
Alkohol bleibt ein gesundheitspolitisches und sozialmedizinisches Problem aller Alters- und Personengruppen. Wohlgemerkt, es geht hier um das Übermaß des Alkoholkonsums. Es geht nicht um Alkohol schlechthin. Meine Damen und Herren, ich möchte es Ihnen selbstverständlich nicht vorhalten, wenn Alkohol in Maßen genossen wird, zumal ich Bürgermeister einer Bierstadt bin und meine Aussagen dann schon von daher fragwürdig wären.
({1})
Es war vor allem die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die diesen Themenkomplex - heute wie in der Vergangenheit - zur Sprache brachte. Unmittelbar nachdem die heute zur Debatte stehende Große Anfrage eingebracht wurde, war vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit keine Reaktion zu hören. Lediglich der Obmann für innere Sicherheit der SPD-Fraktion, der Kollege Pensky, brachte gegenüber der Presse zum Ausdruck - ich zitiere -:
Ich bedaure, daß die CDU/CSU auch in diesem Bereich konsequent den Weg geht, Versäumnisse der Länder zu kaschieren und dafür den Bund anzugreifen.
({2})
Meine Damen und Herren, diese Äußerung macht zweierlei deutlich. Erstens. Es gibt auch nach Meinung der SPD - und wohl auch der Bundesregierung - eindeutig Versäumnisse in diesem Bereich. Zweitens. Wir haben, wie immer wieder, hier die Versuchung der Regierungskoalition, die Probleme, die auch durch Hilfe des Bundes zu lösen sind, auf die Länder abzuschieben. Es ist erschreckend, wie sehr man sich hier aus der Verantwortung zu stehlen versucht.
Denn immerhin sind 1,5 Millionen Bürger unseres Landes, darunter 150 000 Jugendliche, alkoholgefährdet. Es gibt 40 000 Drogenkonsumenten und etwa 60 000 Drogenfrührentner. Der Maßstab, den die Bundesregierung zur Bewertung der Alkoholgefährdung anlegt, liegt an und für sich über dem, den Experten als Gefährdungsmaßstab anlegen. Wie uns namhafte Experten versichert haben, ist bei der von der Bundesregierung zugrunde gelegten Menge bereits eine konkrete Gesundheitsschädigung eingetreten.
Eine genaue, abgesicherte Einschätzung des Rauschmittel- und Drogenkonsums, also der Drogensucht, sowie der damit verbundenen Kriminalität ist angesichts der Dunkelziffern und schwankenden Daten sicher äußerst schwierig. Es liegt aber völlig neben der Sache, wenn die Bundesregierung den Vorwurf erhebt, bei der Darstellung des Suchtproblems würde übertrieben. Es wird nicht übertrieben, sondern wir machen nur auf bedauerliche Tatsachen aufmerksam. Denn, Frau Minister, es kann ja wohl nicht übertrieben sein, wenn wir darauf hinweisen, daß 335 000 junge Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren akut alkoholismusgefährdet sind. Ist es übertrieben, wenn wir der Antwort der Bundesregierung entnehmen können, daß mit einer Vorverlegung des Trinkbeginns bei jungen Menschen auf etwa 17 Jahre und einer Steigerung der Trinkintensität befürchtet werden muß, daß die alkoholbedingten Folgeschäden nicht nur früher, sondern insgesamt auch häufiger eintreten? Wir sehen uns einem Trend gegenüber, der nicht lediglich eine Modeerscheinung ist und nicht Ausdruck eines Statussymbols, sondern hier stellen wir seit 10 Jahren vielmehr eine konstante Entwicklung fest.
Diese Entwicklung spiegelt die gegenwärtigen Belastungen der jungen Menschen in Schule und Beruf, aber auch durch die Arbeitslosigkeit, die gesellschaftspolitische Verunsicherung und die Hilflosigkeit gegenüber dem Bürokratismus unseres Staatswesens wider. Wen wundert es in unserer gegenwärtigen arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Situation, wenn Unsicherheit, Zukunftsangst, Resignation, Hoffnungslosigkeit und fehlende Perspektive einer zukunftsorientierten Jugendpolitik diesem Trend entgegenkommen?
Wir stellen ja nicht den ernsthaften Willen der Bundesregierung in Frage, zur Lösung des Problems beizutragen. Aber wir kritisieren mit Nachdruck, Frau Minister, daß Sie von Anfang an und auch in Ihren jüngsten Verlautbarungen wieder dieses Thema verharmlosen.
({3})
Die Ursache des Problems ist vielfach die Realitätsflucht junger Menschen, die sie in die Abhängigkeit von Alkohol und Drogen, aber auch zum Selbstmord treibt. Diese Realitätsflucht ist in erster Linie durch eine mangelnde Orientierung des jungen Menschen zu begreifen. Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu glauben, Kinder und Jugendliche wären mit dem zufrieden, was wir Wohlstand nennen. Sie sehen sich einem Staat gegenüber, der mehr und mehr bürokratisiert und dadurch anonymer wird. Dieser Staat lähmt die Eigenverantwortlichkeit und die Eigeninitiative der jungen Menschen. Er verführt zur Passivität. Er bringt die Jugendlichen um ihre Erfolgserlebnisse. Alkohol und Drogensucht sind Folgen eines Gesellschaftsdenkens, das sich in anonymen Sozialstaatsmodellen verhärtet hat und nicht mehr an eigenes Handeln, eigene Aktivitäten und Mitarbeit im Sinne mitbürgerlicher Solidarität appelliert.
Wenn Sie sagen, das sei übertrieben, möchte ich darauf aufmerksam machen: dies ist im Tenor das gleiche, was der Bundeskanzler - leider mit jahrelanger Verspätung - auf dem Städte- und Gemeindetag gesagt hat. Das ist ja eben das Dilemma: Wir handeln und Sie reden, aber Sie reden erst mit zeitlicher Verzögerung.
({4})
Diese Rede des Bundeskanzlers war eine einzige Anklage seiner selbst, war die Auflistung der Versäumnisse dieser Bundesregierung in den vergangenen Jahren. Er hat aufgezeigt, wo auch die Probleme für das hier anstehende Thema liegen, nämlich in der Perfektionierung, in der zunehmenden Zentralisierung, in der zunehmenden Anonymisierung und in der zunehmenden Bürokratisierung dieses Staatswesens. Kaum eine Gruppe in unserem Staate leidet so sehr darunter wie junge Menschen. Denn wo sollen sie in diesem perfektionierten, bürokratisierten Staat ihre Zukunftschancen erkennen können, die von der Zustimmung oder Nichtzustimmung des einzelnen Bürokraten infolge übertrieben perfektionistischer Gesetze abhängen?
({5})
Wir kennen das Wort „Jugend erinnert sich vornehmlich an die Zukunft". Hier liegt das Problem. Welche Chancen und welche Wertvorstellungen kann Jugend verwirklichen? Nach der Wertung des Grundgesetzes ist der Schutz der Jugend von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen. Beide Gemeinschaftsgüter sind gegenwärtig akut gefährdet. Deswegen unsere Initiativen. Seit Jahren fordern wir eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes. Seit Jahren wird dies versprochen. Die Bundesregierung ergreift einfach nicht die dazu notwendige Initiative. Seit Jahren fordern
wir, daß der Kreis der Antragsberechtigten bei der Bundesprüfstelle erweitert wird. Wir hoffen, daß Sie bald auch hier eine Entscheidung treffen.
Wir müssen überlegen, ob nicht für Drogenhändler die Strafandrohungen verschärft werden sollen. Denn die Rauschgiftdelikte sind in den vergangenen Jahren - leider - erheblich angestiegen: von 1972 bis 1976 um 39 %. Die Bundesregierung stellt - in Verkennung der wirklichen Tatsachen - fest, daß bei den jugendlichen Konsumenten ein leichter Rückgang zu verzeichnen sei. Dem widersprechen nicht nur die Drogenberatungsstellen, die wissenschaftlichen Experten, sondern auch die Fachleute in den Rauschgiftdezernaten. Denn wenn auch in der offiziellen Statistik ein Rückgang zu verzeichnen ist, so liegt dies im wesentlichen daran, daß sich die Jugendlichen immer mehr aus einem professionellen Händlerkreis versorgen und sich mit dem Bedarf an Drogen vorrangig im Ausland eindecken.
Ich will einmal einige Zahlen nennen: 1972 wurden 3,7 Kilogramm Heroin, 1976 167,1 Kilogramm sichergestellt. Oder: 1972 starben in unserem Lande 104 Menschen an Rauschgift; 1976 337 Personen. Da kann man nicht von einem Rückgang sprechen - wie auch immer begründet -, sondern hier gibt es leider einen Anstieg, der verstärkte Maßnahmen nicht nur des Staates - aber auch des Staates -, sondern auch der freien Träger fordert. Noch wichtiger ist eben, daß man dies erkennt. Wir hoffen, daß die Bundesregierung durch diese Debatte diese Kenntnis von der Wirklichkeit bekommt. Es ist dem Professor Keup aus Berlin zuzustimmen, der im Jahrbuch 1978 schreibt:
Aus den hier dargestellten Zahlen geht eindeutig hervor, daß der Mißbrauch mit chemischen Stoffen in nahezu allen Einzelgruppen weiter ansteigt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß unser Abwehrsystem nicht ausreichend funktioniert, daß wir Drogenabhängige nicht ausreichend zu Therapien motivieren können und daß die Therapieeinrichtungen quantitativ und qualitativ nicht ausreichen. Wir sind offenbar auch weit davon entfernt, den Markt für irgendeine Substanz auszutrocknen.
Das ist die Analyse eines Kenners. Wir sollten sie beherzigen.
Die Frage nach der grundsätzlichen Problembewältigung kann nicht beantwortet werden, ohne zunächst zu versuchen, die Ursachen des Problems aufzuzeigen. Der motivbestimmende Hintergrund ist weitgehend bekannt: Broken home, Erziehungsfehler, mangelnde Partnerschaft in der Familie, Streß in der Schule; das sind einige Ursachen. Die Wert- und Bindungslosigkeit ist sicherlich die tiefste Ursache für steigenden Alkholismus und zunehmende Kriminalität. Angesichts dieser Daten, Fakten und Zusammenhänge ist uns jedoch unverständlich, daß das seit Jahren von der Regierung angekündigte psychosoziale Langzeitprogramm immer noch nicht abgeschlossen ist. Es ist nicht abgeschlossen in der Praxis - das schon gar nicht -, es ist noch nicht einmal konzeptionell abgeschlossen. Was nützen da die besten Modelle und das Großmodell, wenn wir
einerseits Alkohol- und Drogenkranke heilen, andererseits aber diese jungen Menschen immer wieder der Wirklichkeit überlassen und nicht sichergestellt ist, daß sie den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Problemen gewachsen sind? Dies bedeutet, daß wir der Nachsorge eine große, große Aufmerksamkeit schenken müssen.
Meine Damen und Herren, wir sind uns einig darüber, daß die Förderungsmaßnahmen der Bundesregierung teilweise positiv zu bewerten sind. Doch sie müssen in ihrer Förderungspraxis konkreter, im Ansatz weniger theoretisch werden, als das in vergangenen Jahren vielleicht gezwungenermaßen notwendig war. Es müßten jetzt so viel Erkenntnisse vorliegen, daß man verstärkt zum praktischen Handeln schreiten könnte. Und: Sie müssen Ihren eigenen Worten Taten folgen lassen. Sie können nicht immer sagen: Jawohl, das machen wir, aber z. B. dann, wenn meine Fraktion im Haushaltsausschuß den Antrag stellt, für die Hauptstelle für Suchtgefahren in Hamm die doppelten Gelder zur Verfügung zu stellen, und dafür auch noch einen Dekkungsvorschlag bringt, unbegründet nein sagen.
({6})
- Ohne Begründung! Sie brauchen nur Ihre Antwort zu nehmen. Umfangreich genug ist sie, daß Sie zumindest eine Begründung hätten geben können. Sie haben der Erhöhung nicht nur nicht zugestimmt, sondern Sie haben die Mittel real sogar gekürzt.
({7})
Es ist wie so oft: Den Worten folgen keine Taten, es sei denn Taten des Widerspruchs.
Sie müssen die teilweise bewährten Modelle durch konkrete Maßnahmen ergänzen. Sie müssen bedenken, daß es bei der Wahl der Suchtmittel heute einen Trend zur Mehrfachabhängigkeit, zu der Kombination Alkohol/Medikamente, gibt. Ich will einmal einige Zahlen nennen. 3 % aller Betroffenen sind abhängig von der Hauptsubstanz illegale Drogen, 14 % von Medikamenten und 80 % von der Hauptsubstanz Alkohol. Die Frage, die auch von der Opposition - nicht nur von mir, sondern auch von meinen Kollegen, die nachfolgend sprechen werden - zu beantworten ist, lautet: Was ist zu tun?
Immer mehr Jugendliche - um eine positive Entwicklung zu erwähnen - versuchen, aus eigener Kraft den Teufelskreis der Abhängigkeit zu durchbrechen. Es sind - dies sollte einmal deutlich gesagt werden - immerhin 30 % der Abhängigen, die sich aus eigenem Antrieb beraten und behandeln lassen, und zwar vor allem auch in ambulanten Einrichtungen. Nur 28 % aller Suchtkranken benötigen eine stationäre Therapie. Etwa die Hälfte der Kranken braucht eine längerfristige Therapie. Übrigens, wenn gesagt wird, 80 % oder 60 % der Behandelten würden wieder rückfällig, so gehört es zu einem realistischen Bild, davon auszugehen, daß mehr als 50 % der einmal Behandelten zunächst wieder rückfällig werden. Das ist weiter nicht tragisch, wenn man dies bedenkt und die Behandlungsmethoden entsprechend darauf einrichtet.
Über zwei Drittel aller Suchtkranken könnten ausschließlich ambulant behandelt werden, wenn die notwendigen Einrichtungen vorhanden wären. Es fehlen aber mehr als 600 Fachambulanzen, um neu Hinzukommende einigermaßen zu behandeln. Jede Klinikbehandlung führt nur dann zu einem dauerhaften Erfolg, wenn eine ausreichende ambulante Weiterbehandlung gesichert ist, die auch in Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeorganisationen der Suchtkranken durchgeführt wird.
Ich möchte für meine Fraktion diesen Selbsthilfeorganisationen, die vorbildlich, in breiter Anlage, mit vielen ehrenamtlichen Helfern, seit Jahren, hervorragende Dienste geleistet haben, ausdrücklich für ihre Tätigkeit danken und sie ermuntern, auf diesem Wege fortzufahren.
({8})
Denn wenn wir es mit diesem Thema ernst meinen, wenn unsere konkreten Vorschläge befolgt werden, dann haben wir Grund zur Hoffnung.
Eine weitere Lücke in der Versorgung Suchtkranker zeigt sich in der klinischen Versorgung. Es gibt zu wenig qualifizierte Kliniken. Seit 1974 sind lediglich sechs Fachkliniken für Suchtkranke eingerichtet worden.
Ein ganz großes Problem ist die Tatsache, daß die Frage der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Kranken- und Rentenversicherungsträgern bei Suchterkrankungen noch nicht gelöst ist. Die Schlußfolgerung daraus lautet: wir müßten mit den Rentenversicherungsträgern eine Regelung hinsichtlich der Übernahme treffen. Das kostet Geld. Das sollen jetzt ausgerechnet wieder diejenigen aufbringen, die ohnehin in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Im Grunde ist es gleichgültig; aber es muß eine einvernehmliche gesetzliche Regelung getroffen werden. Einer zahlt es ja auch jetzt schon. Nur, die Unsicherheit und der damit verbundene bürokratische Aufwand sind unnötig. Deswegen unsere Forderung nach einer klaren Regelung. Vielleicht wird die Notwendigkeit durch folgenden Hinweis in Verbindung mit folgenden Zahlen deutlich.
Der Deutsche Caritasverband - auch andere, die Innere Mission usw. - brachte im Jahre 1976 etwa 14 Millionen DM für die Arbeit von 100 ambulanten Einrichtungen auf. Der Anteil der Bundesmittel hierfür lag bei 1 bis 2 %. Die Zuschüsse der Länder und Kommunen betrugen etwa 45 %. Über die Hälfte der Kosten, also etwa 7 Millionen DM, brachte die Caritas aus eigenen Mitteln auf, aus ihren Steuer- und Spendenmitteln.
({9})
- Sehr verdienstvoll, Herr Hasinger, und wir müssen damit die Feststellung verbinden, daß es wohl bei aller Kraft, die diese Verbände haben, so nicht weitergehen kann. Wenn es hier nicht eine signalwirkende Unterstützung auch aus diesem Hohen Hause und von der Regierungsbank her gibt, könnte sich leicht eine gewisse Enttäuschung einstellen.
Einzelmaßnahmen wären zu nennen. Ich nenne zuerst die Stärkung der freien Träger. Wir müssen überlegen, ob nicht ein Gesundheitspaß mit einer
Spalte für frühere Suchtkranke eingeführt werden sollte. Verunglückt einer, die Spalte ist nicht da, und er war suchtkrank, erreicht man, wenn er eine Morphiumspritze bekommt, wie dies geschehen kann, genau das Gegenteil dessen, was erreicht werden soll. Wir sollten an die Eltern von Suchtabhängigen denken, die oftmals ebenso seelisch und körperlich gebrochen sind wie ihre drogenabhängigen Kinder. Wir sollten Wert legen auf eine wichtige umfassende Information der Allgemeinheit, besonders der betroffenen Eltern und Jugendlichen. Wir sehen die Verantwortung des Sports, und wir weisen hin auf die große Verantwortung der Schule. Dies alles steht auch unter dem Stichwort der Prävention, unter dem Stichwort frühzeitig informieren, frühzeitig erziehen, frühzeitig darauf hinwirken, Leitbilder aufbauen, Gemeinschaftsgefüge stärken.
({10})
Hier liegen ganz, ganz wichtige Aufgaben der Gesellschaft und des Staates.
Wenn ich von Aufklärung und Information spreche, dann muß ich auch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sprechen und muß darauf hinweisen, daß uns offen gesagt wird, ihre Arbeit werde aus viel zu großer Distanz vorgenommen, sie sei viel zuwenig konkret, viel zuwenig auf die eigenen Bedürfnisse abgestellt. Ich müßte hinweisen auf die Tatsache, daß in den Gefängnissen der Stadt Frankfurt 50 % Drogenabhängige sitzen. Wie zu anderen Fragen so werden auch zu diesen meine Kollegen noch das Wort ergreifen.
Ich will aber noch einmal fragen, wie dieses Phänomen der Abhängigkeit von Alkohol und Droge zu erklären ist. Sicherlich nicht mit einer Ursache. Sicherlich wirken hier viele Faktoren mit: Wohlstandsdenken, materielle Hindernisse, beengte Wohnverhältnisse, Probleme mit Schule und Beruf, Egoismus, Vergnügungssucht, fehlende Erfolgserlebnisse, mangelnde menschliche Kontakte durch zuviel Konzentration, Ballung, Zentralismus, das Fehlen von Wertvorstellungen, Orientierungsschwierigkeiten. Probleme in Familie und Nachbarschaft führen zu Konflikten, führen zu Angst. Die Folge von Angst ist Aggressivität oder Resignation, Droge, Alkoholismus.
Christa Mewes sagt:
Schulen sind zu einem Spektakulum des Desasters geworden. 20 0/0 ohne Hauptschulabschluß.
Die Ehen halten nicht mehr. Liberale Demokratie
- wenn ich das mit ihren Worten auch an die Regierung sagen darf heißt heute offenbar, daß für das Leben der Menschen, für die Möglichkeit einer Zukunft zentrale Institutionen nicht mehr verantwortlich zeichnen. Jeder muß sehen, wie er über die Runden kommt.
Eine sehr treffende Aussage. Hier haben wir eine Gruppe, der wir zu helfen haben. Hier setzt unsere eigentliche Aufgabe ein, die Aufgabe unseres Handelns, nämlich die Stärkung der Familie, des sozialen Nahraums, die Förderung auch durch Forderung an junge Menschen, die Abkehr vom materiellen Denken hin zur mitmenschlichen Solidarität. Hier wird ein großer Bogen unserer Aufgabe sichtbar, und was ich hier vermisse, ist die Sehschärfe dieser Bundesregierung. Mit Einzelmaßnahmen, Einzelmodellen, Einzelforschungsaufträgen und Einzelstrafvollzugsmaßnahmen ist es nicht getan. Es fehlt eine Gesamtperspektive der Probleme, die alle miteinander verbunden sind und letztlich durch eine Lösung des Grundproblems zu einem positiven Ergebnis geführt werden. Von Hermann Hesse stammt das Zitat:
Wir dürfen nicht hinten beginnen bei den Regierungsformen und politischen Methoden, sondern wir müssen vorne anfangen beim Bau der Persönlichkeit.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister Huber! Wenn wir uns diese Weisheit nicht zu Herzen nehmen und heute nicht bereit sind, endlich Konsequenzen zu ziehen, so können wir morgen unseren Staat begraben. Das wollen wir aber nicht. Wir wollen ihn weiterführen. Wir wollen ihn weiterbauen, weiterbauen in eine freiheitliche Zukunft besonders für die junge Generation in unserem Land.
({12})
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die sozialliberale Bundesregierung verfolgt seit 1970, also praktisch seit Amtsübernahme, den Drogen-, Rauschmittel- und Alkoholmißbrauch mit großem Ernst. Wir haben die Bedeutung des Themas schon damals erkannt. Das können Sie daraus ersehen, daß das Aktionsprogramm der Bundesregierung schon seit 1970 läuft. Vorher gab es auf diesem Feld gar nichts, obwohl die Alkoholkonsummenge schon seit spätestens 1965 kritisch war, das jedenfalls nach der Auffassung anderer Länder, in denen damals schon Programme gemacht wurden.
({0})
- Das werde ich darstellen. Sie brauchen uns also nicht darüber zu belehren, als ob wir keine Erkenntnisse hätten und diese erst in dieser Debatte gewönnen.
({1})
Außerdem erinnere ich in diesem Zusammenhang daran, sehr verehrte Frau Kollegin, daß beide Fraktionen der sozialliberalen Koalition schon 1975 eine einschlägige Anfrage eingebracht haben. Das Thema ist damals hier ausführlich diskutiert worden. Es bedurfte nicht erst Ihrer Anfrage.
({2})
- Ich leugne meine Pflicht nicht. Ich hörte nur eben Herrn Kroll-Schlüter sagen, erst diese Anfrage vermittle uns die Erkenntnisse.
({3})
- Das ist doch dasselbe. Sie vermuteten, daß es nötig sei.
Aber wie immer dem auch sei: Wir haben uns bemüht, die Große Anfrage der Opposition zu diesem Themenbereich umfassend und korrekt zu beantworten.
In der Drucksache 8/751 sind 30 Fragen enthalten. Ich möchte sie zunächst auf fünf Kernfragen zusammenfassen:
1. Wie steht es um die Alkohol- und Drogengefährdung, insbesondere die der jungen Menschen?
2. Welche Maßnahmen wurden mit welchem Erfolg ergriffen in bezug auf Heilung, Prophylaxe und Forschung?
3. Welche ergänzenden Maßnahmen sind notwendig?
4. Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen Suchtgefahr und Kriminalität, insbesondere der Kinderkriminalität erkennen?
5. Was kann man dagegen tun?
Eine korrekte Antwort auf alle diese Fragen ist nicht möglich, ohne zunächst etwas über die Begriffsbestimmung zu sagen. Zur Zeit herrscht über die Alkoholgefährdung eine große Begriffsverwirrung. Erhöhter Alkoholkonsum wird vielfach mit Alkoholismus gleichgesetzt, Alkoholgefährdung durch Überkonsum mit Behandlungsbedürftigkeit.
Eine Situationsanalyse als Grundlage für erfolgversprechende Maßnahmen muß jedoch von klaren Begriffsbestimmungen ausgehen, nicht von uneinheitlichen Definitionen, Annahmen, Hochrechnungen und Schätzungen. Die Bundesregierung stellt daher, wie aus dem Text der Antwort deutlich ersichtlich, heraus, daß sie von einer Gefährdungsgrenze von 100 Gramm Alkohol pro Tag ausgeht. Bei einem darüber hinausgehenden Alkoholkonsum sind Gesundheitsschäden zu erwarten. Die Bundesregierung folgt damit Untersuchungen aus der Fachwelt, z. B. dem Lehrbuch der Pharmakologie von Kuschinsky und Lüllmann ({4}), das den kritischen Grenzwert mit 160 Gramm bei individuellen Schwankungsbreiten von ± 33 % ansetzt.
Die Bundesregierung widerspricht sich deshalb nicht - wie Frau Abgeordnete Neumeister behauptet hat -, wenn sie früher wie heute die Verträglichkeitsgrenze bei 80 Gramm zieht. Sie macht mit der Grenze von 100 Gramm vielmehr deutlich, daß zwischen Verträglichkeit und Gefährdung nur eine geringe Spanne liegt, und befindet sich mit dieser Grenze im übrigen im Einklang mit der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren und mit der Caritas. Der Begriff „Alkoholismus" wird im Sinne von Abhängigkeit und Krankheit gebraucht, wie er auch im BSHG-Urteil von 1968 definiert worden ist.
Alkoholgefährdung vollzieht sich auf dem Hintergrund und im Zusammenhang mit den allgemeinen Verbrauchsgewohnheiten. Der Alkoholverbrauch ist in den letzten Jahren ungefähr gleichgeblieben. Er ist 1976, wie die Statistiken zeigen, leicht gesunken, und wird, wenn man den Mitteilungen der Alkoholindustrie Glauben schenken kann, auch in diesem Jahr niedriger liegen, also weiter gesunken sein.
({5})
- Ich hatte gesagt, daß sich das auf diesem Hintergrund vollzieht. Sie werden gleich merken, wie ich den Zusammenhang sehe.
Wenn die Opposition in ihrer Anfrage auf den Verbrauch von 1950, also den gleich nach dem Kriege, abhebt, so muß man bedenken, daß dieser damals mit 4 1 knapp war. Er steigerte sich dann aber in kräftigen Raten auf 10 1 im Jahr 1965. Dieser Wert galt, wie gesagt, in den USA schon damals als kritisch und war Ausgangspunkt für Programme. Danach steigerte sich der Verbrauch nur noch gering und blieb in den letzten Jahren ziemlich gleich.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung trinkt regelmäßig Alkohol. Aber es zeigt sich beim Vergleich von 1976 mit 1973 ein Rückgang des täglichen ProKopf-Konsums, und wir verzeichnen mehr Abstinenzler und weniger Gefährdete.
Es wird allgemein mehr getrunken, insbesondere auch unter den Jüngeren und unter den Frauen. Es handelt sich hier aber um Wohlstandskonsum der Feierabendtrinker, die sich zu über der Hälfte auf den sogenannten Zwang zum geselligen Trinken berufen und überwiegend in der sozialen Mittelschicht angesiedelt sind.
({6})
Eine geringere, wenn auch keineswegs völlig außer acht zu lassende Rolle spielen das Problemtrinken oder erbliche Belastungen.
Auf diesem Hintergrund ist nun die Hauptfrage nach der Alkoholgefährdung zu beantworten.
Eine Repräsentativerhebung zeigt, daß 2,2 % der Gesamtbevölkerung oder 4 % der über 14jährigen alkoholgefährdet sind, d. h., sie konsumieren täglich die Risikomenge von 100 g oder mehr. Die Zahl ist hoch. Aber sie beschreibt keine aussichtslose Situation. Denn nach Untergruppen aufgegliedert zeigt sich, daß die Gefährdeten nur zu einem ganz kleinen Teil aus Trinkerfamilien oder milieugeschädigten Verhältnissen kommen.
Etwa 40 % der Gefährdeten greifen zum Alkohol auf Grund bestimmter psychischer Störungen und Belastungen, weil sie glauben, ihre Probleme mit Alkohol lösen zu können. Diese Gruppe bedarf der intensiven psychosozialen Betreuung.
Die Hauptgruppe bilden aber diejenigen, die Alkohol als zum heutigen Lebensstil gehörend ansehen, ihn unkontrolliert, häufig und im Übermaß konsumieren. Bei den hier auftretenden Folgekrankheiten haben wir es mit Auswirkungen gesundheit4322
lichen Fehlverhaltens zu tun, die als vermeidbar angesehen werden müssen und die durch intensive Aüklärung zu vermeiden man sich bemühen muß.
({7})
- Dazu spreche ich gleich noch gesondert. Jetzt spreche ich vom Alkoholismus. Sie brauchen nicht dazwischenzurufen.
({8})
- Natürlich dürfen Sie das. Bloß habe ich gesagt: Ich komme darauf.
({9})
Die ausgewiesene Zahl der Alkoholgefährdeten umfaßt auch die Alkoholkranken. Sie darf aber nicht mit dieser gleichgesetzt werden. Denn die Risikomenge muß schon eine erhebliche Zeitlang getrunken werden, ehe es zu Folgeschäden kommt. Auf Grund verschiedener Angaben kann der Schluß gezogen werden, Herr Franke, daß etwa 10 % der Alkoholgefährdeten behandlungsbedürftig sind.
({10})
- Heute ist zwar ein besonderes Datum, trotzdem dachte ich, Herr Kroll-Schlüter, daß Sie dieser Frage großen Ernst beimessen.
({11})
- Das wissen Sie schon.
({12})
Die Zahl der wirklich Behandlungsbedürftigen beträgt also - das möchte ich hier deutlich sagen -0,2 % der Bevölkerung.
Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang zu sagen, daß vermehrte Einweisungen von Alkoholkranken in psychiatrische Krankenhäuser nichts über die Zahl der tatsächlich behandlungsbedürftigen Alkoholkranken aussagen. Einer hessischen Pressemitteilung zufolge wurde 1976 dort von 12 715 Neuzugängen in psychiatrischen Krankenhäusern ausgegangen. Inzwischen zeigen unsere Statistiken, daß es sich nur um 3 136 Personen gehandelt hat; das sind gut 24 % aller Behandlungsfälle. Rechnet man das auf das Bundesgebiet hoch, so wären 1976 maximal 35 000 Alkoholkranke in psychiatrischen Krankenhäusern gewesen. Setzen Sie das einmal in Beziehung zu Ihrer Zahl von 1,5 Millionen.
Die hessischen Ergebnisse zeigen, daß die Zahlen von 1976 mit denen von 1974 übereinstimmen, daß es also keine explosionsartige Ausweitung gegeben hat. Sie decken sich mit der Haupterhebung zur Psychiatrie-Enquete, wo zum Stichtag 30. Mai 1973 rund 17 000 Alkoholiker in psychiatrischer Behandlung waren. Demgegenüber liegen die von der Bundesregierung angegebenen Zahlen über den auf dieser Basis errechneten. Von Verniedlichung, wie Frau
Neumeister meint, kann also gar keine Rede sein. Wir dürfen eher den berechtigten Schluß ziehen, daß es in den letzten Jahren, insbesondere seit der letzten Großen Anfrage der Koalitionsfraktionen von vor zwei Jahren zwar partielle Veränderungen, aber keine wesentlichen neuen Erkenntnisse gegeben hat.
Nicht jeder, der zum Glase greift, ist ein Konflikttrinker. Die meisten passen sich dem inzwischen entstandenen Wohlstandskonsum an, ohne Realitätsflucht, allerdings auch ohne viel Rücksicht auf mögliche Leberschäden, die in Ländern mit hohem ProKopf-Verbrauch deutlich häufiger sind als in anderen. Der internationale Vergleich zeigt aber auch, daß man in bezug auf den Alkoholismus keine voreiligen Schlüsse ziehen darf. So, wie die Leberschädigungen bei hohem Pro-Kopf-Verbrauch häufiger sind, so ist es mit dem Alkoholismus eher umgekehrt. Südliche Länder z. B. weisen einen viel höheren Konsum, aber eine geringere Alkoholismusrate auf. Nordische Länder dagegen haben deutlich niedrigere Durchschnittswerte, aber anscheinend ein vergleichsweise größeres Alkoholismusproblem. Regionale Unterschiede auf Grund Trinksitten gibt es offensichtlich auch in der Bundesrepublik. Deshalb muß unser gesundheitspolitisches Ziel nicht Abstinenz, aber im Rahmen der Verträglichkeitsgrenzen liegendes kontrolliertes Trinken sein.
Ein in der Tat nicht zu unterschätzendes Problem, das die Bundesregierung sehr ernst nimmt, ergibt sich allerdings bei jüngeren Menschen - und offensichtlich auch bei jüngeren Frauen ({13})
aus der zunehmenden Gefährdung durch den immer frühereren Trinkbeginn.
Ich möchte Ihnen aber widersprechen, Herr Kroll-Schlüter. Es handelt sich nicht um einen gestiegenen Jugendalkoholismus, sondern es handelt sich um eine gestiegene Gefährdung. Während unter den Alkoholkonsumenten im allgemeinen 7 % der Männer und 1 % der Frauen behandlungsbedürftig - also gefährdet sind -, sind 4 % der alkoholkonsumierenden jungen Leute unter 30 Jahre gefährdet. Die Vorverlagerung des Trinkbeginns um zwei Jahre auf 16 Jahre etwa ist gefährlich, da früher Trinkbeginn häufig zu Mißbrauch führt. Eltern, von denen ein großer Teil - wie uns Umfragen leider zeigen - gegen gelegentlichen Alkoholgenuß ihrer Sprößlinge nichts einzuwenden haben, können nicht genug vor einem Problem gewarnt werden, das vielleicht unmerklich aufkommt, aber viel Elend, manchmal Frühinvalidität und schlimmeres zur Folge haben kann. Die Bundesregierung appelliert deshalb an alle Eltern, Erzieher, Gastwirte, Einzelhändler, Kindern und Jugendlichen keinen Alkohol zu geben. Mit Gastwirten und Einzelhändlern läuft seit Oktober dieses Jahres eine Aktion, die Ausschank und Verkauf von Alkohol an Jugendliche eindämmen soll.
Die Bundesregierung nimmt auch das Problem der Mißbildungen von Kindern durch Alkoholmißbrauch keineswegs leicht, wenngleich es jährlich nicht 5 000 Kinder - wie in der Anfrage behauptet -, sondern
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode -.
auf Grund einer Expertise, die sich mein Ministerium hat machen lassen, etwa 1 000 Kinder sind.
({14})
- Das ist richtig, Frau Kollegin. Das unterstreiche ich.
Auf Grund eigener Berechnungen haben wir aber diese Zahl in der Antwort mit maximal 2 000 sogar weitergesteckt. Man sollte jedoch in diesem Punkt, auch was die Zahlen betrifft, ehrlich bleiben. Auch ich finde die Zahlen schon schlimm genug.
Gerade die die Jüngeren betreffenden Zusammenhänge werden zur Zeit in einer Erhebung untersucht, deren Ergebnisse wir Anfang 1978 erwarten, also in wenigen Wochen. So wird die Situation im Rahmen des seit 1970 laufenden Aktionsprogramms der Bundesregierung und des gemeinsamen Aktionsprogramms des Bundes und der Länder seit 1975 verfolgt und analysiert, um zielgenaue Maßnahmen entwickeln zu können.
Was den Drogenbereich angeht, so hat die Opposition in der Anfrage die von ihr schon 1973 genannten Zahlen so wiederholt, wie sie sich im Protokoll der. Sitzung vom 8. Juni 1973 finden. Für die hier genannte Zahl von 60 000 Drogenfrührentnern gibt es keinen Beleg. Junge Drogenabhängige haben außerdem in aller Regel noch gar keinen Rentenanspruch. 1973 wurde auch behauptet, 30 bis 40 °/o aller jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren hätten Drogenerfahrung. Erwiesenermaßen waren es damals 19 °/o. Die neuesten Untersuchungen zeigen einen Rückgang auf 15 %. Es stimmt also nicht, daß steigender Alkoholkonsum mit einem Anstieg des Drogenmißbrauchs einhergeht. Auch die wiederum angeführte Zahl von 40 000 Konsumenten harter Drogen wurde schon 1973 benutzt.
Ich sage das ohne jeden Triumph; denn die Stagnation der Zahlen bedeutet nur einen Teilerfolg. Es gibt immer noch einen großen, einen viel zu großen Zustrom zu illegalen Drogen, besonders zu Heroin. Immerhin besteht der Eindruck, daß die Maßnahmen zu greifen beginnen, wie sich im Beratungs- und Behandlungsbereich zeigt.
Durch die ständig verbesserten Programme haben behandlungsmotivierte Abhängige unmittelbar nach der Behandlung Erfolgschancen von über 50 %, wenn die Therapie konsequent und in den dafür eingerichteten Behandlungsketten durchgeführt wird. Früher wurde eine Chance von 2 % angenommen. In dem Großmodell hat sich weiterhin gezeigt, daß sogar drei Monate nach Beendigung der Behandlung immerhin noch 25 % aller Behandelten drogenfrei waren. Ein Erfolg von Aufklärung und Beratung ist auch darin zu sehen, daß von den 40 000 jungen Drogenabhängigen inzwischen 25 000 namentlich bekannt sind, wodurch mehr Hilfe möglich ist.
In der Begründung der Großen Anfrage der CDU/ CSU wird behauptet, daß der Anteil Jugendlicher und Heranwachsender an den Rauschgiftdelikten ständig gestiegen sei. Das ist falsch. Er war im Gegenteil rückläufig und ist jetzt von 60 % auf 45 % abgesunken. Auch die sogenannte Kriminalitätsbelastungsziffer - Täter auf 100 000 der Altersgruppe - ist rückläufig. Das sollte man nicht verschweigen.
({15})
- Nein, das ist nicht falsch. Ergänzend möchte ich Ihnen sagen, daß Sie die Kriminalitätsstatistik auch im Lichte der enorm hohen und gestiegenen Aufklärungsquote sehen müssen, was die Zahlen relativiert.
({16})
- Ich glaube, daß ich bei meiner Aussage bleiben muß.
Die Ursachen der Rauschgiftdelikte sind übrigens nicht monokausal, Herr Kollege.
({17})
Ich sage das nicht, um die Situation zu beschönigen, denn die Drogengefährdung ist weiterhin ernst. Es gibt jährlich einige hundert Drogentote. Bis zur Anfrage hatten Sie die Zahlen gar nicht richtig recherchiert. Inzwischen haben Sie die Zahlen wohl auch erfahren. Da sich die Szene stark in die Privatsphäre verlagert hat, ist es sehr schwer, den Zu- gang zu den Gefährdeten zu finden.
Die Bundesregierung läßt nichts unversucht und spricht z. B. die Heroinkonsumenten und deren Kontaktpersonen besonders an, weil bei einer herzustellenden Einzeldosierung von 0,05 Gramm und weniger Überdosierungen kaum steuerbar und auch wegen schwankender Verträglichkeit Todesfälle sehr schwer vermeidbar sind. Beratungs- und Behandlungsangebote haben bisher auch eine relativ hohe Selbstmordrate nicht verhindern können. Deshalb gilt es, Therapieprogramme mit noch besseren Erfolgschancen für diejenigen zu entwickeln, die aus dem Teufelskreis ausbrechen wollen und dazu Hilfe brauchen.
Nach Abschluß des jetzt laufenden Großmodells zur Beratung und Behandlung drogengefährdeter und abhängiger junger Menschen, deren Einrichtungen von den Ländern dort weitergeführt werden, wo sie sich bewährt haben und wo ein Bedarf besteht, wird dies durch ein psychosoziales Anschlußprogramm spezifisch ergänzt, das besonders darauf ausgerichtet ist, nicht zu warten, bis der Klient voller Verzweiflung selber kommt, sondern ihn durch Außenkontakte der verschiedensten Art mit Hilfe der sogenannten Fährtensucher selbst aufzuspüren. Wir haben in der Antwort ausführlich dargelegt, was im einzelnen getan wird.
Bedauerlicherweise stellt die Opposition in dem Bemühen, der Regierung Untätigkeit anzukreiden, hier Forderungen auf, die man fast alle in unseren Programmen nicht nur nachlesen, sondern auch schon in der Praxis beobachten kann.
({18})
- Ich habe genau zugehört. Erstens hat es mir niemand aufgeschrieben, sondern ich habe mich selbst sachkundig gemacht, und zweitens habe ich das genau gehört.
Sie haben kritisiert, daß wir immer noch Modelleinrichtungen - Herr Kroll-Schlüter, ich komme auf Ihren Text noch -, sogenannte Großmodelle, finanziert haben, anstatt den Schwerpunkt, wie Sie gesagt haben, auf eine konkrete finanzielle Unterstützung der Erziehungs-, Kontakt- und Beratungsstellen der behördlichen, aber besonders auch der freien Träger zu legen.
Der Bund hat aber seine Möglichkeiten, z. B. was mein Haus heute hier betrifft, extensiv ausgelegt. Wenn vorgeschlagen wird, nicht weiter Modelle zu fördern, sondern den Schwerpunkt auf die konkrete finanzielle Unterstützung solcher Erziehungs-, Kontakt- und Beratungsstellen der behördlichen wie der freien Träger zu legen, muß ich Sie auf die Bestimmungen des Grundgesetzes verweisen. Lesen Sie das Grundgesetz.
Sie haben übrigens gesagt, die Bundesregierung tue nichts oder jedenfalls wenig, aber Sie handelten. Aber wo, bitte, haben Sie gehandelt?
({19})
Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit hat seine Möglichkeiten, wie gesagt, extensiv ausgeschöpft, z. B. in diesen 60 örtlichen Einrichtungen, die zum Großmodell gehören. Jetzt im Anschlußprogramm, das fünf Jahre läuft, werden 40 Einrichtungen in der Endstufe gefördert; pro Land etwa ein bis drei Stellen. Sie werden ausschließlich sowohl behördliche als auch freie Träger haben. Damit ist eine Kapazität gesichert, die mit dem Großmodell geschaffen worden war. Zum anderen wird jetzt eine spezifische neue Kapazität hinzugefügt, um der Situation noch gezielter zu begegnen.
Die Bundesregierung hat außerdem eine Reihe von Forschungsaufträgen an fünf Fachkliniken vergeben. Ein Übergangsheim, das der Rückgliederung und besonders der Nachsorge dienen soll, ist seit diesem Jahr im Bau. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - sie ist klein, aber sie arbeitet mit der Praxis, Herr Kroll-Schlüter - hat einen Hauptschwerpunkt ihrer Arbeit - schon länger, aber auch in diesem Jahr wieder neu - auf die Bekämpfung der Suchtgefahren gelegt, um insbesondere die jungen Leute vor dem Alkohol- und Drogenmißbrauch zu warnen und sie davon abzuhalten.
({20})
Wir halten eine Sensibilisierung durchaus für möglich. Gesundheitsbewußtsein senkt den Anteil der Gefährdeten. Daß Aufklärung wirklich helfen kann, können wir in einem Teilbereich sehen, z. B. bei der Bundeswehr, wo nach einer Kampagne die Disziplinarverfahren auf Grund von Trunksuchtsvergehen stark rückläufig geworden sind.
Wenn Sie hier die Förderung der Hauptstelle gegen Suchtgefahren ansprechen, so will ich Ihnen sagen, daß aus dem Haushaltsausschuß verlautete, daß für Projekte dieser Hauptstelle deutlich eine steigende Förderung zugesagt wurde.
Die Lösung der mit dem Mißbrauch von Drogen, Arzneimitteln und alkoholischen Getränken verbundenen Probleme muß natürlich im Gesamtkontext von Gesundheits-, Jugend- und Familienpolitik, im weiteren Rahmen also der Gesellschaftspolitik, gesehen werden. Um die Ursachen zu verändern, bedarf es langfristiger Programme. Darauf ist in der Antwort hingewiesen worden.
Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Hilfsangeboten im Rahmen des Jugendhilfegesetzes zu, dessen Entwurf wir soeben an die Ressorts, die Länder und die Verbände zur Stellungnahme übersandt haben. Um junge Menschen und deren Eltern in Konfliktsituationen zu beraten und helfen zu können, ja um solche Konflikte möglichst nicht entstehen zu lassen, sieht dieser Entwurf einen verstärkten Ausbau der ambulanten sozialen Dienste vor. Bei Gefährdung oder Störung der Entwicklung, bei Erziehungsschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten sollen Kinder und Jugendliche sowie deren Erziehungsberechtigte künftig Anspruch auf fachliche Beratung und Behandlung erhalten. Zur Prävention psychosozialer Störungen, auf denen das Mißbrauchsverhalten ja letztlich beruht, ist auch eine Intensivierung der Angebote der Jugendarbeit und der Familienbildung besonders wichtig.
Ich bin überzeugt, daß es uns auf diese Weise gelingt, den Gefahren des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs besser und wirksamer zu begegnen. Ich möchte Sie daher hier und heute schon um Ihre Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung des Jugendhilferechts bitten.
({21})
Die Bundesregierung kann den Kampf gegen die Suchtgefahren nicht allein führen. Dies wird auch von der Opposition wohl nicht erwartet, da die Appelle auf Beteiligung der Verbände unüberhörbar sind. Aber die Bundesregierung beteiligt ja, Herr Kroll-Schlüter, die Verbände. Sie hält allerdings nichts von massivem Vorgehen, sondern sie hält viel von gezielter sachgerechter Bekämpfung der Suchtgefahren. Die Opposition versteht hierunter aber offensichtlich, wie Ihre Entschließung heute wieder zeigt, unter diesem massiven Vorgehen Maßnahmen, die ohnehin schon im Gange sind und die zum Teil gar nicht in die Zuständigkeit des Bundes fallen.
({22})
Die Bundesregierung ist weit davon entfernt, die hier diskutierten Probleme zu bagatellisieren. Es gibt das alles: die Leere, den Wohlstandsüberdruß, persönliche Schicksalsschläge, allgemeine Schwierigkeiten. Es gibt auch Flucht in den Alkohol und/ oder in die Drogen. Auch unsere Gesellschaft ist kein Hort selbstverständlicher Harmonie. Man darf aber weder eine falsche Entschuldigung noch einen falschen Schuldigen suchen.
({23})
Was der familienpolitische Sprecher der Opposition - das haben Sie heute auch wiederholt, Herr Kroll-Schlüter - sich nicht scheut zu unterstellen, nämlich daß es eine Kette gebe von der angeblich schlechten Politik dieser Regierung und den dadurch verursachten Problemen zu Realitätsflucht, Alkohol und Drogenmißbrauch bis hin zum Selbstmord junger Menschen - das funktioniert nicht.
({24})
Das ist nichts anderes als eine infame Unterstellung. Wie wäre es sonst zu erklären, daß das ein internationales Problem ist und überall auftritt, auch da, wo konservative Regierungen herrschen?
({25})
- Solche Länder, Herr Kroll-Schlüter, die sicher nicht an den uns unterstellten anonymen Sozialstaatsmodellen leiden, sondern manchmal sogar an größeren Problemen als die Bundesrepublik Deutschland.
({26})
Die wenigsten Trinker, die wenigsten Gefährdeten verzeichnet bei uns die Unterschicht; das sind die Leute mit den kleinen Einkommen. Es gibt also keinen Elendsalkoholismus in der Bundesrepublik.
({27})
Die Suchtgefahren sind da, sie sind ernst; aber sie sind in den letzten Jahren nicht gewachsen. Problemtrinken, soweit es das gibt, Realitätsflucht in die Drogen haben ganz andere Ursachen. Man kann ihnen, so hoffen wir, zwar ohne Patentrezepte, aber mit staatlichen Mitteln und viel individueller Mühe allmählich beikommen, aber ganz sicherlich nicht mit einer konservativen Politik.
({28})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Geier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister, es soll doch wohl keine Rüge gewesen sein, als Sie eben meinten, die Opposition hätte ihre Anfrage gar nicht erst einbringen sollen. Ich nehme an, diese Bemerkung entsprang einem persönlichen Beleidigtsein, daß wir es nämlich gewagt haben, ein Problem anzusprechen, das Sie eben doch noch nicht gelöst bzw. richtig in den Griff bekommen haben.
({0})
Was wir an Ihrer Beantwortung unserer Fragen besonders vermissen, ist die Grundsatzaussage, daß die Familie der wichtigste Faktor vor allen Dingen zur Vorbeugung bei Schwierigkeiten Jugendlicher ist, aber auch zur Stabilisierung der Persönlichkeit
der Jugendlichen. Eine gute Jugendpolitik ist doch nur möglich, wenn ihr eine familienfördernde Politik vorausgegangen ist.
({1})
Diese Feststellung fehlt bei Ihnen eben bis heute.
Frau Minister, es genügt uns nicht, daß Sie draußen in der Öffentlichkeit in Ihren Reden feststellen, „ohne Familie gehe nichts", wenn nicht gleichzeitig in Ihrem Hause, und zwar bei allen Gelegenheiten, spürbar der Beweis angetreten wird. In Ihrer Antwort erscheint z. B. Familie recht spät. Sie sprechen von der Familie zum erstenmal im Zusammenhang mit der Familientherapie. Da meinen Sie, daß die Familie mithelfen müsse, wenn ein Jugendlicher bereits süchtig sei. Wir sind der Meinung, die Familie wird viel, viel früher gebraucht und muß deshalb auch entsprechend gefördert werden.
({2})
Auf Seite 26 Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage erwähnen Sie die Familie dann noch einmal im Zusammenhang mit den „Elternbriefen" als Erziehungsleitfaden und im Zusammenhang mit den Elternbildungsangeboten. Ganz gewiß sind das sehr wichtige und notwendige Maßnahmen, aber damit darf ein Familienministerium die Aufgabe der Familienpolitik doch nicht als erledigt betrachten. Uns genügt das auf jeden Fall nicht.
Wir fordern, daß die Familie - mehr als bisher - wieder zum Mittelpunkt aller Lebensfunktionen, vor allem im Hinblick auf unsere Kinder und Jugendlichen, gemacht wird. Davon hängt doch weitgehend ab, ob Heranwachsende die Institution Familie als die wichtigste Lebensgemeinschaft betrachten und als Ort von Erziehung und Bildung anerkennen oder nicht. Wenn die Familie aber mit regierungsamtlicher Genehmigung als „Ort der Fremdbestimmung" - wie im Familienbericht ausgeführt - bezeichnet wird, so werden wir labile Jugendliche - und das sind die Suchtgefährdeten - ganz bestimmt nicht dazu bewegen können, den Halt in der Familie zu suchen.
Wir reden über Drogen und Alkoholismus und sagen, das sei eine Krankheit. Gerade deshalb müssen wir doch die Symptome erkennen, bevor wir die Therapien ansetzen.
({3})
- Ja, wir müssen Ursachenforschung betreiben. Aber das mögen wieder einige Leute aus der linken Szenerie nicht,
({4})
nämlich diejenigen, die in ihrer eigenen ideologischen Verblendung bereits begonnen haben, die Jugendlichen aus den Familien herauszuholen oder durch ihre Konfliktstrategie zumindest eine große Entfremdung zwischen Eltern und Jugend hervorzurufen.
({5})
Um überhaupt die Ursache der Gefährdung der Jugend zu finden, muß man eine Einteilung in drei Felder vornehmen: die Familie, die Gesellschaft und die Regierung.
Zuerst das Elternhaus: In vielen Familien ist es zu einer Entleerung der emotionalen Beziehungen gekommen. Vom rationalen Zeitgeist sind Gefühl, Gemüt, Zärtlichkeit, Zeit für das Kind und Spiel zurückgedrängt worden. Die Umwelteinflüsse, aber auch das fehlende Einfühlungsvermögen vieler Eltern haben bewirkt, daß heute nahezu 30 % der Jugendlichen verhaltensgestört sind.
({6})
Viele Kinder werden schon recht früh einsam und verunsichert, und das ist ein Auslösungsfaktor für ihr späteres Suchtverhalten:
({7})
weil z. B. vielleicht die Mutter in den ersten Lebensjahren dem Kind nicht als die Bezugsperson zur Verfügung stand. Das sagt die Union schon immer, aber jetzt sagen das auch sehr laut und deutlich namhafte Erziehungswissenschaftler und Ärzte. Sie weisen immer häufiger auf die negativen Auswirkungen der frühkindlichen Mutterentbehrung hin und rufen den Staat heute auf, nicht tatenlos zuzusehen, wie Muttersein und Mutterpflicht immer mehr falsch verstanden werden.
Wenn dann eine ideologisch gelenkte Emanzipation der Frau hinzukommt, die in eine Rollenverwirrung hineinführt, indem die Frau von der Rolle als „Heimchen am Herd" in eine neue Rolle, nämlich die der „Karrierefrau", hineingedrängt werden soll, dann werden wiederum die spezifischen Aufgaben der Mutter in der Erziehung des Kindes, hauptsächlich beim Kleinkind, unerfüllt bleiben. In dieser Rollenkonfusion wachsen unsere Kinder doch heute heran.
Bemerkenswert ist, meine Damen und Herren, daß nicht nur irgendwelche wildgewordenen Feministinnen unter Emanzipationsschwierigkeiten leiden. Im Familienbericht der Bundesregierung wird die Mutterrolle geradezu herabwürdigend behandelt. Sie führe zu Konflikten, schreiben Sie dort. Die Mutter, die ihre ganze Kraft ausschließlich der Familie widmet, wird dort negativ als nicht emanzipiert dargestellt; sei wird pauschal verdächtigt, ihre eigene Unterdrückung in eine totalitäre Erziehungspraxis umzusetzen.
({8})
Deshalb fordern Sie dann die Kontrollierbarkeit der elterlichen Erziehung.
({9})
- Ich rede zum Thema. Die Kinder, die ein solches Mutterbild vermittelt bekommen, werden sich nämlich niemals an den Werten der Familie orientieren, sondern später in die Gruppe der Jugendlichen geraten, die entweder in der Kriminalität oder in der
Drogen- und Alkoholsucht enden. Das hat sehr viel mit dem Thema zu tun.
({10})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fiebig?
Ich möchte Fragen erst am Schluß beantworten; ich habe nur 10 Minuten Zeit.
Frau Minister, Sie als Verantwortliche für Familie und Jugend sind hier aufgerufen, grundlegende Korrekturen vorzunehmen. Sie sind aufgerufen, dafür zu sorgen, daß in Zukunft die Diskriminierung von Familie und Mutter aufhört. Ihre Vorgängerin ist auf dem Glatteis der Fachideologie ausgerutscht. Sie aber haben die Chance, uns heute und hier zu sagen, wie Sie die Maßstäbe für den Stellenwert der Familie neu setzen wollen.
({0})
Wen wundert es denn, wenn wir unsere heutige Schulpolitik betrachten,
({1})
- wenn wir unsere Schulpolitik wie in Hessen betrachten; dann haben wir gerade genug an sozialistischem Beispiel wen wundert es denn bei diesem offiziell geduldeten falschen Elternbild, das dort vermittelt wird, daß sich die Jugendlichen von der Familie abwenden und in Drogen, Alkohol und Kriminalität enden?
Sagen Sie, Frau Minister, jetzt nicht, Schulpolitik sei Ländersache.
({2})
Der Bundesminister für Jugend und Familie gibt die Richtschnur der Familienpolitik,
({3})
und wir können es nicht dulden, daß er abseits steht, wenn aus unseren Schulen durch Konfliktpädagogik laufend Konfliktstoff in die Familien hineingetragen wird.
({4})
- Das hat sehr wohl etwas mit Familienpolitik zu tun! Das ist es ja gerade, was Sie nicht wahrhaben wollen. - Deshalb haben wir ja diese Anfrage gestellt. Es ist bedauerlich, daß Sie immer noch nicht kapiert haben, wo die eigentlichen Ursachen liegen.
({5})
Sie liegen nämlich in der Ideologie und der Verunsicherung, die Sie verbreiten, auch wenn sich die Frau Minister noch so sehr dagegen wehrt.
({6})
Unsere heutigen Jugendlichen haben eben keine Wertvorstellungen von Familie, keine Wertvorstellungen von verantwortlicher Gemeinschaft mehr.
({7})
- Ich darf hier korrigieren: Ich meine die Jugendlichen, die bereits suchtgefährdet sind. Von denen reden wir doch! Und ist Ihnen die Zahl 40 000 zu gering? Das ist doch eine enorm große Zahl! Wir müssen doch dafür sorgen, daß diese Zahl überhaupt verschwindet oder mindestens sehr weit heruntergedrückt wird.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, merken wir uns doch eines für die Zukunft: Wenn wir so fortfahren, die Familie, den Staat und unser System immer nur negativ darzustellen,
({9})
werden immer mehr Jugendliche alles hassen lernen, und dann werden sie eben diese Wege gehen, von denen wir hier heute sagen, wir müßten ihnen entgegenwirken. Frau Minister, niemand hat behauptet, diese Bundesregierung unternehme nichts gegen diese Problematik und gegen diese Suchtgefahr. Aber wir haben das Gefühl, daß das, was unternommen wird, eben nicht ausreicht, und deshalb wollen wir mit Ihnen zusammen darüber diskutieren. Wir hoffen, daß bei Ihnen nach dem guten alten Sprichwort „Einsicht ist immer der beste Weg zur Besserung" diese Einsicht bald gegeben ist.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der letzten Rede, die wir gehört haben, habe ich so etwas den Eindruck, als werde sich die großangekündigte jugendpolitische Offensive der Union festrennen und als würden Sie Gefahr laufen, daß Sie - wie es ja im Sport häufig ist, wenn man offensiv wird - durch Konterschläge eine ganze Zahl von Toren
({0})
in Kauf nehmen müssen, weil Sie vergessen haben, Ihr eigenes Tor zu bewachen.
Ich freue mich darüber, daß die Große Anfrage der Union Gelegenheit gibt, in diesem Hause erneut ein ernstes Thema der Jugend-, Familien- und Gesundheitspolitik zu diskutieren, daß wir Überlegungen über soziale Ursachen von Verhaltensänderungen anstellen und daß wir versuchen, die Mittel und Möglichkeiten des Staates, wachsende Probleme in
den Griff zu bekommen, zu untersuchen. Auch wenn Ihre Zahlen, Herr Kollege Kroll-Schlüter, von der Frau Minister schon eindeutig zurechtgerückt worden sind, ist das, womit wir es hier zu tun haben, sicherlich ein Problem.
({1})
Daß unsere Diskussion ausgerechnet am 11. 11. 1977 - das ist ja auch noch, wie man es so nennt, eine Schnapszahl, und ich werde hier sogar um 11.11 Uhr reden - stattfindet, also zum Auftakt des Karnevals, reizt zum Philosophieren
({2})
- zum Philosophieren darüber, Frau Kollegin Wex, ob denn wirklich nur die vom Kollegen Kroll-Schlüter angeführten anonymen Sozialstaatsmodelle Ursache von Alkohol- und Drogensucht sind oder ob nicht auch sehr viel vordergründiger das Vorbild der Erwachsenenwelt eine problematische Rolle spielen könnte.
({3})
Dies ist ja manchmal auch ein Vorbild, das den Konsum von Alkohol z. B. nicht nur toleriert, sondern sogar fördert, natürlich nicht nur beim rheinischen Karneval, sicherlich auch in Ihrer heimatlichen Bierstadt, sicherlich auch bei der Münchner Wies'n, wo ja der Erfolg des großen Vergnügens daran gemessen wird, wieviel Hektoliter Bier getrunken worden sind.
({4})
Ich will darauf nur hinweisen, damit hier keiner auf die Idee kommt, hier im Saal die angebliche Suchtgefährdung durch den Sozialismus zu beklagen und dann zu Hause am Wochenende im Wahlkreis mit seinen Freunden mal so richtig ein Faß aufzumachen.
({5})
- Sie kennen doch die Untersuchungen, Herr Kollege Dr. Hammans, wie stark der Elterneinfluß beim Drogen- und Alkoholmißbrauch, insbesondere beim Alkoholmißbrauch, auf die Kinder und Jugendlichen ist. Auch darum geht es hier, wenn wir nicht große Heuchelei treiben wollen.
({6})
Die Debatte gibt der Bundesregierung aber auch die Gelegenheit,. vor der Offentlichkeit ihre umfangreichen Bemühungen darzustellen, im Rahmen der von der Verfassung eng gesetzten Grenzen einen Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten. Ich kann für meine Fraktion erklären, daß uns die Leistungsbilanz der Bundesregierung überzeugt. Sie hat auf dem Feld des Alkohol- und Drogenmißbrauchs das Notwendige getan, soweit es in ihrer Zuständigkeit liegt.
Was mich an den von der Union vorgetragenen Argumenten verwundert, ist der Glaube an die Be4328
herrschbarkeit aller gesellschaftlichen Probleme durch den Staat.
({7})
- Lassen Sie mich das doch einmal erläutern! Gerade Unionspolitiker wehren sich doch immer dagegen, dem Staat weitere Eingriffsmöglichkeiten in gesellschaftliche Prozesse zu geben. Das gilt ja für die Wirtschaftspolitik oder auch für das elterliche Sorgerecht, mit dem wir uns hier noch zu beschäftigen haben werden. Aber die Stoßrichtung der Rede des Kollegen Kroll-Schlüter richtet sich ja auch und gerade wieder gegen den angeblich anonymen Sozialstaat, der angeblich die Eigenverantwortung und Eigeninitiative lähme. Herr Kollege Kroll-Schlüter, wenn das richtig ist
({8})
- ich habe es als Ihr Argument hier zitiert - dann kann es doch nicht gleichzeitig richtig sein, von der Bundesregierung noch mehr sozialstaatliche Eingriffe zu fordern.
({9})
- Das haben Sie doch hier getan. Sie haben doch gesagt: Was die Regierung macht, ist nicht genug; wir fordern noch mehr.
({10})
Dann erwarten wir aber deutliche Bekenntnisse sowohl beim elterlichen Sorgerecht als auch bei der bevorstehenden Diskussion über ein neues Jugendhilfegesetz.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Kroll-Schlüter, wir haben eine begrenzte Redezeit.
({0})
- Gut, eine ganz kurze Frage.
Herr Kuhlwein, können wir uns darauf verständigen, daß, wenn wir z. B. eine Verstärkung der Hauptstelle für Suchtgefahren fordern, dies keine Stärkung des Staates ist, sondern eine Stärkung des freien Trägers, auf den der Staat angewiesen ist?
({0})
Ich komme auf die freien Träger und ihre Bedeutung durchaus noch zu sprechen. Damit ist aber die Frage „anonymer Sozialstaat oder nicht?" aus dieser Diskussion noch nicht heraus.
({0})
Die Instrumente des Staates sind begrenzt. Sie lasten es doch dem Staat an, wenn Wohlfahrtsverbände nicht funktionieren. Das tun Sie doch.
({1})
Die Instrumente des Staates sind begrenzt, Herr Kollege Kroll-Schlüter. Ich bitte Sie, einmal nachzulesen, was die Landesregierung in Schleswig-Holstein im Juli dieses Jahres im Landtag in Kiel in einer ähnlichen Debatte zum Thema der Bewältigungsmöglichkeiten der Probleme durch den Staat gesagt hat. Dort hieß es - ich darf zitieren -:
Wir sollten allerdings in dieser Debatte ehrlich zur Kenntnis nehmen, daß die Möglichkeiten des Staates zur Bekämpfung des Alkoholismus und der Drogenabhängigkeit verhältnismäßig gering sind. Wir dürfen unsere Möglichkeiten auf diesem Gebiet nicht überschätzen. Dies zeigt ein Blick in viele andere Länder, die sich wie die Bundesrepublik sehr intensiv mit diesen Fragen beschäftigt haben.
Das stammt von der CDU-Landesregierung Schleswig-Holstein und wurde im Kieler Landtag so gesagt. Das kann ich Ihnen zeigen, wenn Sie es nachlesen wollen.
Wir könnten darüber reden, ob und wo wir zweckmäßigerweise die Möglichkeiten des Staates ausweiten. Wir wollen z. B. - das gilt für meine Fraktion - ein neues Jugendhilferecht. Aber wir können auch im Rahmen der geltenden Gesetze einiges mehr tun. Dann wäre allerdings mehr eine Aufforderung an Länder und Gemeinden zu richten, auch ihren Teil dazu beizutragen, um z. B. erkennbare soziale Ursachen des Drogen- und Alkoholmißbrauchs und der Kriminalität abzubauen, soweit das durch staatliche Eingriffe überhaupt möglich ist, die Gesetze voll auszuschöpfen und die erforderlichen Einrichtungen für Prävention, Beratung und Therapie - natürlich gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden - zu schaffen.
Wir sollten uns aber vor der schrecklichen Vereinfachung hüten - bei Frau Kollegin Geier habe ich das vorhin durchgehört -, als wären diese oder jene Partei und ihr Programm oder diese oder jene Politik an der ernsten Entwicklung im Zusammenhang mit Drogen und Alkohol schuld. Wenn ich mir es so einfach machte, meine Damen und Herren von der Rechten, würde ich sagen: Der Kapitalismus ist an allem schuld.
({2})
- Von der Bewußtseinslage und von Ihren Verhaltensweisen her sind Sie halt rechts.
({3})
Ich würde der Opposition vorhalten, daß es im traditionell CDU-regierten Süden der Bundesrepublik, in Bayern und Baden-Württemberg, prozentual mehr Alkoholgefährdete gibt
({4})
als im „roten" Hessen mit seinen „schrecklichen" Rahmenrichtlinien, wo angeblich die Konfliktstrategien daran schuld sind, daß die Leute so oft zum Becher greifen.
({5})
Ich würde die Opposition dann fragen, ob der Grund dafür, daß in den Ländern im Süden der Bundesrepublik soviel getrunken wird, die Verzweiflung darüber ist, daß die Menschen dort die jeweilige Landesregierung nur noch im Rausch ertragen können.
({6})
Oder ich würde fragen, ob die Leute, die zu Franz Josef Strauß ins Bierzelt kommen,
({7}) die Mühseligen und Beladenen sind,
({8}) die sich dort erquicken lassen wollen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich müßte Ihnen vorhalten, daß eine Untersuchung im CDU-regierten Schleswig-Holstein über den Alkoholismus Jugendlicher ergeben hat - Auftragggeber: Sozialministerium; Sie kennen die Studie wahrscheinlich -, daß etwa die Hälfte der befragten Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren im Schulunterricht dort noch nie etwas über Alkohol gehört hatte und daß dort die Beteiligung von Lehrkräften an den Lehrgängen über das Thema „Rauschmittelmißbrauch" nach Angaben der „Aktion Jugendschutz" stetig zurückgegangen ist, weil die Bereitschaft fehlt, den Lehrern hierfür Dienstbefreiung zu gewähren. Das wären dann, Herr Kollege Kroll-Schlüter, die Fragen, die ich angesichts dessen stellen würde, was Sie hier reden und was Sie dort tun, wo Sie die politische Verantwortung tragen.
({10})
Aber ich bin sicher, daß es solche Probleme auch in anderen Bundesländern gibt. Gerade deshalb warne ich davor, aus dem Glashaus heraus mit Steinen zu werfen. Es könnte nämlich passieren, daß wir uns dabei alle gemeinsam an den Scherben in den Finger schneiden.
({11})
Das gilt auch für die konsequente Anwendung bestehender Gesetze. Unter Ziffer 1 Ihres Resolutionsentwurfes fordern Sie eine Verschärfung des Jugendschutzgesetzes. Was nutzt jedoch ein verschärftes Gesetz, wenn nach der schleswig-holsteinischen Untersuchung ein Drittel der Alkoholkonsumenten unter 16 Jahren selbst Alkohol kauft und dabei kaum auf Schwierigkeiten stößt? Wenn die Gesetze in allen Ländern durchgesetzt würden, wären wir schon ein ganz schönes Stück weiter. Die Bundesregierung hat mit ihrer Appellkampagne bei Lebensmitteleinzelhändlern, bei Gastwirten und mit ihrer Rechtshilfebroschüre ihren Beitrag geleistet.
Nun wird ja in diese Debatte - die Frau Kollegin Geier hat das zum zentralen Thema gemacht - der ganze weite Bereich der Familienpolitik eingebracht. Lassen wir den ideologischen Qualm, den sie hier verbreitet hat, einmal beiseite. Es bleibt: Die Union stellt die Behauptung auf, die Bundesregierung betreibe geistig und materiell eine familienfeindliche Politik. Was die materielle Seite angeht, so verweise ich wegen der Kürze der Zeit nur auf die Kindergelderhöhungen. Aber in der geistigen Auseinandersetzung erwarte ich von der Union etwas mehr Geist. Ich erwarte auch die Lektüre einschlägiger Papiere, nicht irgendwelcher Papiere, die irgendwann einmal erdacht worden sind. Im familienpolitischen Leitantrag des SPD-Parteivorstandes, der nächste Woche in Hamburg verhandelt werden soll, heißt es ausdrücklich:
Die SPD bejaht die Ehe und die Familie und sieht in ihnen erstrebenswerte Formen des Zusammenlebens.
({12})
Wir teilen allerdings nicht Ihre Auffassung, Frau Kollegin Wex, daß die Familie immer aus sich heraus heil und intakt ist.
({13})
Gerade aus vielen Drogen- und Alkoholuntersuchungen wissen wir, daß auch die scheinbar intakte Familie auf diesem Feld zusätzlicher Hilfen bedarf und daß manchmal auch das Vorbild der Eltern nicht gerade geeignet ist, den Mißbrauch von Rauschmitteln zu verhindern.
({14})
Das gilt interessanterweise vor allem für Familien aus der Ober- und Mittelschicht. Ich hoffe, daß das nicht die Werte sind, von denen die Frau Kollegin Geier vorhin gesprochen hat. Das hat ja dann offenbar etwas mit dem sozialen Rang zu tun, den viele an ihrem Alkoholkonsum nachweisen zu können glauben.
Was die Berufstätigkeit der Frauen und den Zusammenhang mit dem Alkoholproblem bei den Kindern angeht, so gibt es auf jeden Fall keine schlüssigen Beweise.
({15})
Es gibt auch keine Beweise für das Gegenteil. Aber immerhin haben eine INFRATEST-Untersuchung bei 2 700 Befragten in Bayern und eine Jugendamtsuntersuchung in Hamburg ergeben, daß die Berufstätigkeit der Mütter für den Alkoholkonsum der Kinder keine entscheidende Rolle spielt. Auch das sollte man einmal zur Kenntnis nehmen und in die weiteren Überlegungen mit einfließen lassen.
({16})
Meine Damen und Herren, ich teile die Auffassung der Bundesregierung, die in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage von SPD und FDP vom Juni 1975 zum Ausdruck kommt, wonach das Grundproblem langfristig nur zu lösen sei, wenn es gelinge, die negativen Auswirkungen des sozialen Wandels abzufangen, die letztlich alle mit einer sozialen Versteppung und emotionalen Verarmung verbunden seien. Nur, mit einer Neuauflage überlieferten Familienideologie, wie wir das soeben gehört haben, wird man diesem Problem nicht gerecht;
({17})
denn eine solche Neuauflage würde nur den Blick auf die Strukturveränderungen verstellen, die heute für die Familie zusätzliche Konflikte bedeuten: Streß im Beruf und in der Schule - den gibt es ja wohl auch in unionsregierten Ländern -, unwirtliche Städte, Landflucht aus den Dörfern, ständige Medienberieselung von Jugendlichen und Kindern, um nur einige der Faktoren zu nennen, die neue Probleme für die Familien stellen.
({18})
Ich stimme dem Kollegen Kroll-Schlüter zu, wenn er es für einen gefährlichen Irrtum hält, zu glauben, Kinder und Jugendliche seien mit dem zufrieden, was wir Wohlstand nennen. Ich finde es sogar gut, daß die Kinder und die Jugendlichen damit nicht zufrieden sind. Aber ich glaube, daß die Union bei einer eingehenden Analyse dann auch sagen müßte, daß sie an einer gesellschaftlichen Entwicklung nicht ganz unschuldig ist, die materiellen Wohlstand zum obersten Ziel menschlichen Strebens erhoben hat
({19})
und die dafür erforderliche Durchsetzungsfähigkeit mit den Ellenbogen zur Tugend erklärt hat.
({20})
Ich erinnere mich noch an viele Debatten im Schleswig-Holsteinischen Landtag, wo der SPD Leistungsfeindlichkeit unterstellt wurde,
({21})
weil wir die Frage gestellt haben, ob der Leistungsdruck in den Schulen nicht unerträglich geworden sei.
({22})
Wir Sozialdemokraten freuen uns über einen neuen Bundesgenossen, Herr Kollege Kroll-Schlüter, wenn es darum geht, die Gesellschaft mehr durch eigenes Handeln, eigene Aktivität und Mitarbeit im Sinne mitbürgerlicher Solidarität zu entwickeln. Das könnte aus dem Orientierungsrahmen 85 abgeschrieben worden sein.
({23})
Sie werden uns dann sicherlich bei künftigen Mitbestimmungsdiskussionen sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch der Schulen und Hochschulen tatkräftig unterstützen, und Sie werden dann sicherlich auch bei Ihren Freunden in den Kommunen dafür sorgen, daß sie den Jugendlichen Mitbestimmungsrechte bei der Verwaltung von Jugendzentren einräumen, damit sie etwas Sinnvolles zu tun kriegen.
({24})
Meine Damen und Herren, unser grundgesetzlich garantierter Sozialstaat ist dann kein anonymes Sozialstaatsmodell, wenn wir den Menschen mehr Möglichkeiten einräumen, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu verwalten und in den gemeinsamen Angelegenheiten mitzubestimmen. Der Parteivorsitzende der SPD hat 1969 der sozialliberalen Koalition mit auf den Weg gegeben, wir sollten mehr Demokratie wagen.
({25})
Wir haben das auf vielen Feldern in gesellschaftliche Wirklichkeit umgesetzt.
({26})
- Wir freuen uns ja, wenn die Union' jetzt dabei mitmachen will.
({27})
Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen.
Erstens. Auch die SPD sieht in der Zunahme des Alkohol- und Drogenkonsums bei Jugendlichen eine ernste Gefahr.
Zweitens. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig. Deshalb sind auch differenzierte Maßnahmen nötig.
Drittens. Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Zuständigkeiten das nach den bisherigen Erkenntnissen Richtige im erforderlichen Umfang getan. Was die Union in ihrem Antrag fordert, ist zum Teil bereits gemacht worden, zum Teil bereits eingeleitet.
({28})
- Meine Kollegen werden Ihnen das noch sagen.
({29})
Viertens. Es kommt jetzt darauf an, daß die zentral angelaufenen Maßnahmen in praktisches Handeln vor Ort umgesetzt werden. Dazu brauchen wir die Mitarbeit von Ländern, Gemeinden, freien Trägern und allen Bürgern, die auf junge Menschen Einfluß haben.
Fünftens. Die SPD-Fraktion setzt sich dafür ein, daß .das von der Bundesregierung angekündigte neue Jugendhilfegesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Sie erhofft sich davon eine nachhaltige Wirkung auch im Bereich des Alkohol- und Drogenmißbrauchs und der Jugendkriminalität. Wir hoffen, daß die Opposition auf ihre Finanzminister in den Ländern Einfluß nehmen wird, um dieses Gesetz auch im Bundesrat durchsetzen zu können.
({30})
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß die CDU/CSU-Opposition dem Deutschen Bundestag mit ihrer Großen Anfrage Gelegenheit gegeben hat, einen Komplex von zentraler Wichtigkeit zu debattieren: die Gefährdung unserer jungen Generation durch Alkohol, Drogen und Kriminalität. Dank gebührt aber selbstverständlich auch der Bundesregierung, die sich die Beantwortung der 30 Fragen nicht leichtgemacht hat. Ihre Antwort ist zu einer wertvollen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation geworden. Der Dringlichkeit des Themas kann sich, glaube ich, niemand verschließen.
Der Deutsche Bundestag hat wahrlich Grund genug, sich mit den Problemen der jungen Generation zu beschäftigen. Es könnte sich nämlich herausstellen, daß die Probleme der Jugend ein Spiegelbild der Versäumnisse der älteren Generation sind.
({0})
Wenn man über das Thema „Alkoholismus" spricht, so gerät man in die Gefahr des Moralisierens oder in den Verdacht, Antialkoholiker zu sein. Mir geht es hier aber nicht darum, den Alkohol zu verteufeln. Wir haben die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Opposition zum Alkohol- und Drogenmißbrauch und zur Kriminalität von Kindern und Jugendlichen vor uns liegen und müssen betroffen feststellen, daß der Alkoholgenuß zunimmt, daß Jugendliche immer früher zum Alkohol greifen, daß Probleme auf uns zukommen, die dringend gelöst werden müssen. Wir wissen, daß sich die Bundesregierung, kirchliche, öffentliche und private Institutionen darum bemühen, durch Aufklärung den Alkoholkonsum insbesondere von Kindern und Jugendlichen wieder zurückzudrängen. Wir wissen aber auch, meine Damen und Herren, daß diese Bemühungen bisher nicht sonderlich erfolgreich waren. Wir wissen, daß die Erkenntnis zunimmt, daß Alkohol, in größeren Mengen regelmäßig genossen, schädlich ist. Wir wissen aber auch, daß man sich trotzdem nicht danach richtet.
Woher kommt es, daß unsere Aktionen nicht den gewünschten Erfolg haben? In der Antwort der Bundesregierung sind die Ursachen beschrieben und in drei Gruppen eingeteilt. Die größte dieser Gruppen mit mehr als der Hälfte der Fälle betrifft diejenigen, die glauben, Trinken gehöre zum Lebensstil. Dieser soziale Zwang zum Trinken bleibt natürlich Kindern und Jugendlichen nicht verborgen. Ich frage mich, wie alle Aufklärungen wirken sollen, wenn die Welt der Erwachsenen ein schlechtes Vorbild gibt.
Wenn wir vor uns selbst ehrlich sind, müssen wir feststellen, daß im Privatleben, im Beruf, in der Werbung Alkohol meist nur positiv dargestellt wird. Wenn wir Besuch bekommen - privat, in der Firma, zu Besprechungen - wird Alkohol angeboten, und Ablehnen gehört in dieser Gesellschaft nicht zur Norm.
Wenn wir Werbung für alkoholische Getränke im Fernsehen anschauen, dann werden uns junge
Menschen in fröhlicher Stimmen oder ältere Menschen in besinnlicher Stimmung in gepflegter Wohn-und Lebenskultur gezeigt. Kurz, das Image des Alkohols in der Werbung, aber auch in der Öffentlichkeit ist nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Der soziale Rang ist am Etikett des Kognaks abzulesen.
Nun verlangen wir selbstverständlich kein Werbeverbot für Alkoholika. Wenn es aber Werbung für Alkohol gibt, dann sollte man, so glaube ich, überlegen, ob nicht - ähnlich wie beim Tabak - die Bundesregierung in einer Antiwerbung die Kehrseiten des Alkoholgenusses aufzeigen sollte. Dieses Auseinanderklaffen von Vorbild und Aufklärung macht die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs so schwer. Wir predigen Wasser und trinken selbst Wein. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum wir eine so hohe Rückfallquote haben.
Meine Damen und Herren, in einem liberalen Staat kann die Bundesregierung nicht Sitten und Moral der Bürger steuern. Ihre Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen, sind gering. Maßnahmen sind auch wirkungslos, wenn die Bestrebungen vom Bürger nicht weitgehend unterstützt werden. Wir sind deshalb der Meinung, daß auf diesem Gebiet vor allem die Bemühungen der 'freien Träger vor Ort unterstützt werden müssen.
Was ich in der Antwort der Bundesregierung - danach hat die Opposition auch nicht gefragt - vermisse, sind Angaben über die Kosten, die der deutschen Volkswirtschaft durch Alkoholismus bzw. durch Alkoholkranke entstehen. Angaben über diese Kosten habe ich bisher nirgends auftreiben können. Sie sind meines Wissens auch nirgends erfaßt worden. Ich meine aber, es wäre zweckmäßig, wenn wir wüßten, welche Kostenbelastung durch Alkoholismus für unsere Volkswirtschaft entsteht, wenn wir diese Kosten in Relation zur Menge des verbrauchten Alkohols setzen könnten, wenn wir sie in Relation zu den Steuermitteln setzen könnten, die der Staat durch Alkoholsteuern einnimmt.
Wie interessant solche Zahlenvergleiche sein können, kann ich Ihnen hier nur am Beispiel des Tabakkonsums zeigen. Die Opposition hat in der letzten Legislaturperiode eine Anfrage betreffend die Auswirkungen des Zigarettenrauchens gestellt. In der Antwort der Bundesregierung ist der volkswirtschaftliche Schaden aufgeführt. Setzt man diese Beträge ins Verhältnis zur Zahl der gerauchten Zigaretten, dann muß man feststellen, daß pro Zigarette ein volkswirtschaftlicher Schaden von ungefähr 14½ Pfennig entsteht, während die Steuereinnahmen des Staates auf der anderen Seite nur 6½ Pfennig pro Zigarette betragen. Um die Mehrbelastungen auszugleichen, die nur den Krankenkassen durch Rauchen entstehen, müßte pro Zigarette ein Versicherungsbeitrag von 2,2 Pfennigen erhoben werden.
Ich kann mir vorstellen, daß es für uns sehr wichtig ist, ähnliche Zahlen über den Bereich des Alkoholismus zu bekommen. Ich gebe dies als Anregung an die Bundesregierung weiter.
Eimer ({1})
Es gibt weitere Punkte, die hier anzusprechen sind. Ich denke z. B. an Leute - sehr oft sind es Jugendliche -, die am Wochenende in ein Tanzlokal gehen und keinen Alkohol trinken wollen, weil sie Kraftfahrer sind, dann aber teilweise erhebliche Mühe haben, alkoholfreie Getränke zu erhalten. Sie können sich selbst einmal die Mühe machen und einige Lokale testen; Sie werden erstaunt sein, in wie vielen Lokalen ein Alkoholzwang herrscht. Ich rege an, Plaketten an Lokale zu verteilen, die nicht nur eine gepflegte Weinkarte, sondern auch eine gute Auswahl alkoholfreier Getränke aufweisen. Auch eine Plakette für autofahrerfreundliche Lokale kann als geeignete Maßnahme zum Kampf gegen den Alkoholismus ein wenig beitragen.
Wir müssen feststellen, daß es in unserer Gesellschaft viele Gelegenheiten gibt, bei denen wir durch gesellschaftlichen Zwang zum Alkohol verführt werden oder andere unter den Zwang setzen, Alkohol zu konsumieren, einen Zwang, dem man sich oft nur entziehen kann, indem man gegen gesellschaftliche Normen verstößt.
Wir müssen weiter feststellen, daß alle Bemühungen, den Alkoholkonsum Jugendlicher einzudämmen, erfolglos sein müssen, wenn wir uns nicht an der eigenen Nase zupfen und wenn die Gesellschaft nicht ein besseres Vorbild gibt.
({2})
Lassen Sie mich ein paar dieser Situationen ins Gedächtnis rufen, in denen es einfach Sitte ist, Alkohol zu trinken. Das ist z. B. bei privaten Besuchen, beruflichen Gesprächen, in Studentenverbindungen, bei der Bundeswehr üblich.
Dieses Thema eignet sich, Frau Geier, nicht für parteipolitische und ideologische Auseinandersetzungen.
({3})
Wir können nur dann etwas erreichen, wenn wir gemeinsam versuchen, die Diskrepanz zwischen dem Wissen über den Schaden durch Alkohol und unserem eigenen Verhalten zu beseitigen, und wenn Bundesregierung und Parlament ebenso wie Bund, Länder und Gemeinden all jene Institutionen vor Ort unterstützen, die sich dem Kampf gegen den Alkoholmißbrauch verschrieben haben.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geisenhofer.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion Stellung nehmen, und zwar zu jenen Bereichen, die sich auf die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern beziehen.
Sicher besteht in diesem Hohen Haus Übereinstimmung darüber, daß die Bekämpfung von Rauschgift sowie des Alkohol- und Drogenmißbrauchs nur im engsten Zusammenwirken zwischen
dem Bund und den Ländern betrieben werden kann. Daß in dieser Zusammenarbeit noch Lücken bestehen, beweist die Antwort der Bundesregierung auf die Frage der CDU/CSU-Frakion: „Wie viele Arbeitsunfälle sind unmittelbare Folgen des Alkoholkonsums?" Hier muß die Bundesregierung passen.
({0})
Sie antwortet: „Zahlen über Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit Alkoholkonsum liegen der Bundesregierung leider nicht vor." Ich meine, es müßte möglich sein, mit Hilfe einer verbesserten Unfallstatistik diese Lücke zu schließen. Es steht ja fest, daß bei der Hälfte der zirka 14 000 Verkehrstoten in der Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahr und bei vielen Tausenden Verkehrsunfällen Alkohol im Spiel gewesen ist. Es ist zu vermuten, daß auch im Arbeitsleben eine Unzahl von Unfällen auf Alkohol, vor allem auf die harten Sachen, zurückzuführen ist.
Die Bundesregierung kann auf diese Frage keine Antwort geben. Wer keine Antwort geben kann, kann auch nicht Abhilfe schaffen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir fragen: Muß es im Gegensatz zum Verkehrsbereich bei dieser Dunkelziffer bleiben?
Die Frage 16 unserer Großen Anfrage:
Wie viele Drogenkranke werden zur Zeit durch den Strafvollzug erfaßf, und wie viele davon werden körperlich und psychisch behandelt?
kann die Bundesregierung ebenfalls nicht beantworten, weil, wie sie selbst erwähnt, der Strafvollzug Angelegenheit der Bundesländer sei und die diesbezüglichen Zahlen aus den einzelnen Bundesländern nicht zur Verfügung stünden. Wir meinen, der Bundesregierung müßte es doch möglich sein, sich im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit den Ländern einen bundesweiten Überblick zu verschaffen. Das hat, meine Damen und Herren, nichts zu tun mit mehr Staat, sondern mit der besseren Auswertung der bei den Ländern, also beim Staat, gesammelten Daten.
({2})
Die Rauschgifttodesfälle haben in den letzten Jahren ständig zugenommen. Ihre Zahl betrug im Jahre 1976 in der Bundesrepublik Deutschland 335, in Bayern allein 50. In Bayern ist heuer der 38. Rauschgifttote, ein Student, in München gefunden worden. Der 19jährige lag nach Angaben der Polizei in einem Außenbezirk der Landeshauptstadt in einem abgestellten Kraftwagen. Die Polizei fand neben ihm eine gebrauchte Einwegspritze, die er vermutlich benutzt hatte. Der 37. Rauschgifttodesfall war in den letzten Wochen in Augsburg zu verzeichnen.
Vor wenigen Jahren war ein Rauschgifttoter in der Presse noch Schlagzeilen wert. Der 37. und der 38. Todesfall in Augsburg und München sind in Bayern in der Presse kaum noch erwähnt worden. Man scheint sich damit abgefunden zu haben, daß das Rauschgift halt seine Opfer fordert. Man hat
sich daran gewöhnt und geht einfach zur Tagesordnung über.
Meine Damen und Herren, gerade das müssen wir verhindern. Wir müssen verhindern, daß diese lebens- und existenzgefährendende Entwicklung ignoriert wird und sich weiter ausdehnt.
({3})
Die steigende Zahl der Frühinvaliden belastet immer mehr die Sozialversicherung und vor allem die Sozialhilfeträger. Die Verantwortlichen, Bund, Länder und Gemeinden, die Schulen, die freien Träger, sie alle und wir alle müssen das täglich mahnende Gewissen gegen diese große Gefahr sein. Verstärkte Aufklärung in allen Bereichen tut dringend not. Niemand, vor allem kein Jugendlicher, soll sagen können, er habe über die Auswirkungen von Drogen-, Rauschgift-, Alkohol- und Medikamentenmißbrauch vorher niemals etwas erfahren oder Bescheid gewußt.
Bemerkenswert ist auch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Frage 1 über den Alkoholverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland. Hier muß die Bundesregierung zugeben, daß der Alkoholverbrauch in den letzten Jahren in Deutschland erheblich angestiegen sei. Den höchsten Anteil an den Gefährdeten habe Bayern mit 8 °/o, so meint die Bundesregierung, den niedrigsten Anteil Nordrhein-Westfalen mit 2 %. Die Regierung schwächt dann in der Beantwortung das negative Urteil gegenüber den Bayern etwas ab mit dem Hinweis darauf, daß die Werte für Bayern überhöht angesetzt seien; denn der Alkoholgehalt des bayerischen Bieres betrage nicht 5, sondern nur 3 %. Diese Korrektur, die die Bundesregierung hier anbringt, erfordert eine weitere Korrektur durch mich. Es ist richtig, daß der Bierkonsum in Bayern am höchsten ist. Das rührt einfach daher, daß dort mehr Menschen als in anderen Bundesländern Bier trinken. Fast alle Bayern trinken Bier, zu den Mahlzeiten. Bier ist in Bayern kein Genußmittel, sondern ein Nahrungsmittel.
({4})
Herr Kollege Kuhlwein, Sie sprachen - ich möchte fast sagen: neiderfüllt - von den überfüllten Bierzelten mit Franz Josef Strauß, dem Sie nichts entgegensetzen können. Aber, meine Damen und Herren, wir haben in München nicht nur überfüllte Bierzelte und Säle, wenn Franz Josef Strauß spricht, sondern wir haben auch ein überfülltes Oktoberfest. Auf diesem Fest werden einige Millionen Liter Bier umgesetzt. Dieses Bier trinken nicht die Münchener und die Bayern allein, sondern zum Oktoberfest kommen sehr viele Gäste aus dem Norden. Das Biertrinken haben wir alle gemeinsam, im Süden und im Norden, die Schwarzen und die Roten.
({5})
Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns von Bund, Ländern und Gemeinden im Bereich der Drogen- und Rauschgiftbekämpfung ergibt sich daraus, daß diese Probleme an Ländergrenzen nicht haltmachen. Hervorzuheben und anzuerkennen sind die gemeinsamen Aktivitäten von Bund und Ländern bei der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Gerissenheit und Habgier internationaler Heroinhändler, die mit allen erdenklichen Mitteln in den lukrativen westeuropäischen Mark drängen, wurden durch verschärftes Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaften in letzter Zeit sehr stark bekämpft. Die großen Beschlagnahmeerfolge der letzten Zeit sprechen eine deutliche Sprache. Wir sagen Dank und Anerkennung.
({6})
Nach unserer Auffassung müssen in folgenden Bereichen die Maßnahmen des Bundes noch verbessert werden:
Erstens. Was im Bereich der Ursachenforschung fehlt, was dringend notwendig und möglich wäre, aber bisher von der Bundesregierung nicht durchgeführt wurde, ist eine bundesweite Repräsentativbefragung auf wissenschaftlicher Grundlage, die zu möglichst genauer Kenntnis über Ursachen und Umfang des Drogenproblems in der Bundesrepublik Deutschland führen könnte - Befragungen, wie sie das Land Bayern zweimal bei seinen jugendlichen Bewohnern bereits vorgenommen hat. Die von der Bundesregierung vorgenommenen Befragungen dieser Art fußen auf einer viel zu kleinen Basis und konzentrieren sich allzusehr auf Details.
Zweitens. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse müßte dann bundeseinheitlich eine Grundnetzinformation zur Aufklärung über Suchtgefahren erstellt werden, die länderspezifisch auszufüllen wäre. Das Material der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird diesen Erfordernissen immer noch nicht gerecht.
Beide Forderungen könnten Bestandteil des Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs sein, das - wie Bayern ständig fordert - fortgeschrieben und in bezug auf die Bekämpfung harter Drogen auf den neuesten Stand gebracht werden müßte. Im Bereich der Bundesgesetzgebung sind Verbesserungen dringend notwendig. So muß dringend das Betäubungsmittelgesetz an die neuere Entwicklung angepaßt werden.
Erforderlich ist die Erhöhung des Strafrahmens für professionelle Rauschgifthändler. Die Gerichte stoßen in ihren Urteilen zunehmend an die Grenze des derzeitigen Höchststrafmaßes von zehn Jahren. Die wirklich großen Fische sind der Justiz immer noch nicht ins Netz gegangen.
Meine Damen und Herren, erforderlich ist ferner eine präzisere Regelung des Rehabilitationsangleichungsgesetzes hinsichtlich der Abgrenzung der Kostenanteile möglicher Kostenträger.
Ich habe in der mir zur Verfügung stehenden Zeit versucht, einige Schwerpunkte anzusprechen.
({7})
Ich glaube, wir sind alle einig, daß sich wirksame Erfolge auf diesem Gebiet nur erzielen lassen werden, wenn Bund, Länder und Gemeinden und auch die freien Träger zusammenwirken und wenn den
freien Trägern auch die Mittel zur Erfüllung ihrer schwierigen Aufgabe gewährt werden.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Marschall.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Opfer des Alkohol-und Drogenmißbrauchs im Lande steht es dem Parlament nicht an, sich rechthaberisch mit einer Aufzählung von Leistungen vergangener Jahre zu begnügen oder auch mit Horrorzahlen den Blick auf die tatsächlich anstehenden Probleme zu verdecken. Das unbeschreibliche Leid derjenigen, die in den Teufelskreis der Sucht geraten sind, und die Not derjenigen, die oft hilflos vor dem Elend ihrer Partner oder Kinder stehen, sollte uns allen den Weg zur Sachlichkeit weisen.
Die der heutigen Debatte zugrunde gelegten Zahlen über den Drogenmißbrauch von Kindern und Jugendlichen zeigen, daß unsere Gesellschaft vor sich schnell ändernde Herausforderungen gestellt ist. Weit mehr als 300 000 alkoholgefährdete junge Menschen, 40 000 junge Leute weiterhin in Abhängigkeit von illegalen Drogen, das sind bedrückende Zahlen. Dies gilt besonders für neue Erscheinungsformen der Abhängigkeit von illegalen Drogen und Medikamenten, für die erkennbar stärkere Gefährdung zunehmend jüngerer Leute durch Alkohol, durch Mehrfachabhängigkeiten und für neue Entwicklungen in der Kinder- und Jugendkriminalität. Hinter den Zahlenkolonnen der Statistik stehen Hunderttausende von Einzelschicksalen, für die wir alle Verantwortung tragen.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß aus einigen Beiträgen der Opposition die Erwartung spricht der Bund müsse nur verstärkt Mittel einsetzen, so wäre man in der Bekämpfung der Drogenabhängigkeit den entscheidenden Schritt weiter. Wie sonst könnte etwa Frau Kollegin Geier dem Bundesgesundheitsminister vorwerfen, daß das Problem noch nicht gelöst oder im Griff sei. Dazu muß aber wohl festgestellt werden, daß wir es mit Menschen, einer Vielzahl von Persönlichkeiten mit all ihren Eigenarten zu tun haben, die nicht wie Automaten auf Einwurf eines Geldstücks reagieren, wenn man neue Gesetze, Beratungsmodelle oder Broschüren vorweist.
({0})
Die bisherige Entwicklung zeigt, wo Erfolge festzustellen sind, daß der einzelne Abhängige oder Gefährdete so, wie er in der Vielfalt der Gesellschaft lebt, auch von der Vielfalt der Gesellschaft angesprochen werden muß, sei es mit den Möglichkeiten des Bundes, der Länder, der Gemeinden, durch die Arbeit von Verbänden, Gruppen und einzelnen Personen.
Besonderen Rang hat in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft der Familie und der Selbsthilfeorganisation. Bei dieser Gelegenheit soll auch ein Wort der Hochachtung und des Dankes an die vielen gerichtet werden, die aus Mitmenschlichkeit ihren Dienst am Nächsten tun
({1})
und den Süchtigen und den Gefährdeten in schweren Zeiten beistehen. Gemessen daran, daß das Grundgesetz die Organisation und Durchführung des öffentlichen Gesundheitswesens nicht dem Bund, sondern den Ländern zuweist - ich bitte den Kollegen Kroll-Schlüter, dies bei der Formulierung seiner Kritik etwas verstärkt zu beachten -, oder auch gemessen am Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1967, das den Bund auf die Förderung von Aufgaben eindeutig überregionalen Charakters verweist, ist die vorliegende Stellungnahme der Bundesregierung in Drucksache 8/922 ein eindrucksvoller Nachweis, einmal großer Aufmerksamkeit, die auf den Drogenmißbrauch gerichtet ist, zum anderen der Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit den Ländern. Eine Zusammenfassung der Daten aus den Ländern im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen - hiermit möchte ich auf den Beitrag des Herrn Kollegen Geisenhofer eingehen - halte ich, soweit dies verfügbar gemacht werden kann, für sinnvoll.
Die Vielzahl und Ausgewogenheit der durchgeführten und eingeleiteten Maßnahmen, die in der Antwort erkennbar wird, ist überzeugend. Als Beispiel mag das Aktionsprogramm zur Verhütung und Eindämmung des Alkoholismus mit der angestrebten Umsetzung auf breitester Basis gelten, dessen erste Bilanz in nächster Zeit vorliegen wird. Ich möchte dem Kollegen Geisenhofer sagen, daß wir neue Fragestellungen erst nach der Vorlage dieser ersten Ergebnisse in Angriff nehmen sollten. Das psychosoziale Langzeitprogramm, das die Problembereiche schon zum frühestmöglichen Zeitpunkt erkennen helfen und ambulante Therapiemethoden für abhängige und gefährdete junge Menschen einschließlich der Nachsorge fördern soll, ist eine notwendige und zukunftsweisende Weiterentwicklung. Die vor wenigen Tagen auf der Münchener Fachtagung über experimentelle Therapien des Alkoholismus vorgetragenen Erfahrungen sprechen eindeutig für die Richtigkeit des eingeschlagenen Wegs. Die kritische Frage des Kollegen Kroll-Schlüter, warum das Langzeitprogramm nicht abgeschlossen sei, hat auf dieser Tagung bereits eine Antwort gefunden. Wenn tragfähige und zugleich wirksame Therapieformen als Antwort auf die neuen Entwicklungen erarbeitet sind, kann von einem sinnvollen zusätzlichen Aufbau der notwendigen Therapiestrukturen gesprochen werden.
Dieses Langzeitprogramm führt auch zu der Frage: Warum geraten so viele junge Menschen in Abhängigkeit von Drogen? Ich bin einig mit den Vertretern der Opposition, wenn sie auf eine Vielzahl von Faktoren verweisen. Ich möchte nur zu einem Aspekt etwas sagen. Viele Gründe, warum junge Leute in ihrem Selbstbewußtsein verunsichert werden und deshalb zur Droge oder auch zur Rokkergruppe oder zur Jugendsekte fliehen, stehen wohl in einem Zusammenhang mit der Enttäuschung darüber, daß die Umwelt feierlich deklarierMarschall
te Grundsätze und Versprechungen nicht wahrzumachen bereit oder in der Lage ist; sei es im Elternhaus, wo der junge Mensch nicht selten zu wenig persönliche Zuwendung erfährt, sei es in der Schule, wo er oft härtesten Erwartungsdruck auszuhalten hat, sei es im Berufsleben, wo ihm in vielen Fällen eine sinnvolle Ausbildung oder Arbeit verwehrt ist; sei es bei der Verkaufswerbung, die ihm oft Glück vorgaukelt und faden Geschmack liefert.
({2})
Ändert sich daran nichts, werden die Maßnahmen gegen die Drogenabhängigkeit auf Dauer ein Kurieren an Symptomen sein. Unsere Gesellschaft muß den Kindern und Jugendlichen mehr Chancen zur Selbstverwirklichung bieten, Chancen für ein Aufwachsen in einer Umgebung, die weniger an Konsum- und Prestigedenken, weniger an Leistungszwang, dafür mehr an sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit orientiert ist.
({3})
Dies um so mehr, als bestehende gesellschaftliche Verhältnisse Kinder und Jugendliche in wichtigen Bereichen - z. B. bei den Wohnverhältnissen, beim Verkehr und der Stadtplanung - immer noch benachteiligen; eine Bevölkerungsgruppe, die ihre Bedürfnisse weder selbst noch durch eine starke Lobby in den Parlamenten artikulieren kann.
({4})
Für die Politik des Bundes' und der Länder muß die Lösung der aktuellen bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Aufgaben im Sinne der Jugendlichen im Vordergrund stehen. Von ebenfalls hohem Rang muß aber auch eine Weichenstellung im Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern und- Jugendlichen sein. Die notwendige Partnerschaft setzt Abbau von Gewalt und Unterdrückung in allen Erziehungsbereichen wie das Bemühen uni gegenseitiges Verständnis voraus.
({5})
Ich möchte meine Vorrednerin von der Unionspartei bitten, zu überlegen, ob sie mit ihrer Äußerung, unsere heutigen Jugendlichen hätten keine Wertvorstellungen mehr - auch wenn sie das auf Nachfrage auf- Drogenabhängige eingeschränkt hat -, dazu einen guten Beitrag geleistet hat.
({6})
Im Sinne dieses gegenseitigen Verständnisses muß sich aber der Bundestag mit jugend- und familienpolitischer Gesetzgebung, etwa mit dem Gesetz der elterlichen Sorge, befassen. Die sozialdemokratische Fraktion unterstreicht besonders die Bedeutung der Reform des Jugendhilferechts. Durch ein neues Jugendhilferecht soll in Ablösung des über 50 Jahre alten Jugendwohlfahrtsgesetzes erreicht werden, daß jeder junge Mensch sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Achtung der Menschenwürde verwirklichen kann und die soziale Benachteiligung vermindert wird bzw. die Erziehungs-, Bildungs- und Freizeitangebote zur Entwicklung der sozialen Anlagen und Fähigkeiten verbessert werden. Dabei soll die Erziehungskraft der Familie vor allem durch Verbesserung der Eltembildungs- und Familienberatungskapazität gestärkt werden.
Ohne den Ausbau der sozialen Sicherheit im Lande, ohne das breite Spektrum jugend- und familienpolitischer Maßnahmen des Gesetzgebers, ohne verstärkte Information, ohne kritischeres Bewußtsein in unserer Gesellschaft wird eine .entscheidende Besserung auf dem Gebiete des Drogen- und Alkoholmißbrauchs nicht möglich sein. Ich möchte deshalb abschließend die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Verbände und Organisationen auffordern, verstärkt an dieser Arbeit mitzuwirken. Wir brauchen den guten Willen und die Tat jeder Gruppe und des einzelnen Bürgers. Wenn die heutige Debatte dazu einen Beitrag geleistet hat, war sie ein Erfolg.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zunächst darf ich mich beim Herrn Kollegen Geisenhofer recht herzlich für das Lob bedanken, das er der bayerischen Untersuchung gezollt hat. Ich darf mich dem Lob anschließen und sagen: Wie gut war es doch, daß die Bundesregierung durch die Bereitstellung der Mittel dafür gesorgt hat, daß diese bayerische Untersuchung erfolgen konnte. So ist der Sachzusammenhang.
({0})
Am vergangenen Dienstag berichtete die in Düsseldorf erscheinende „Rheinische Post" über die neue Rauschgiftstatistik von Interpol unter der Schlagzeile „Heroinwelle stieg lawinenartig an". Liest man dann den im einzelnen sehr informativen und übrigens auch zutreffenden Artikel, so findet man den in der Balkenüberschrift liegenden Warnruf nicht oder doch kaum bestätigt. "Für ein Publikationsorgan ist es ganz selbstverständlich, daß die Überschrift reißerisch sein muß, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Nur sollten wir beim Umgang mit statistischen Daten, wie er auch hier wieder einmal gehandhabt wird, ein bißchen vorsichtig sein, insbesondere dann, wenn wir als Parlamentarier über statistische Zahlen sprechen. Mir scheint, auch die Opposition ist nicht frei von der Versuchung, Fakten des Alkohol- und Drogenmißbrauchs unkritisch überzubewerten, d. h. in Überschriftart zu sehen und daraus voreilige und daher gelegentlich auch falsche Schlüsse zu ziehen.
({1})
- Um Gottes Willen, kein Mensch wird verharmlosen. Das werden Sie bei meiner Rede auch feststellen. Nur darf ich Ihnen - ich werde darauf nachher sowieso noch zurückkommen - schon jetzt eines sagen: Wenn hier gewisse positive Ergebnisse,
Erfolge festzustellen sind, daß nämlich der Trend nach oben gestoppt wurde, daß die Zahl der jugendlichen Einsteiger geringer geworden ist, dann müssen wir denen, die vor Ort die schwere Arbeit tun, _doch auch ein bißchen Mut machen und dürfen ihre Erfolge nicht abwerten, sondern müssen in der Offentlichkeit auch einmal auf diese Erfolge hinweisen.
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Ich glaube, dazu bietet die Debatte eine gute Möglichkeit.
Lassen Sie mich an dem genannten Artikel der „Rheinischen Post" einiges belegen. Es wird dort berichtet, 1976 sei in der Bundesrepublik mehr als fünfmal so viel Herion als im Vorjahr sichergestellt worden; wegen Heroinbesitze seien allein an unseren Grenzen ungefähr doppelt so viele Personen festgenommen worden wie 1975: 1200 Personen jetzt, 645 Personen im Vorjahr. Vor allem aus diesen Fakten wird von der Zeitung ein lawinenartiges Ansteigen der Heroinwelle in der Bundesrepublik gefolgert.
Ich will die Situation keineswegs - am wenigsten angesichts der Gefährdung durch die sogenannten harten Drogen wie Heroin - verharmlosen. Nur müssen wir, gerade weil die Situation so ernst ist, die ermittelten Fakten realistisch einschätzen; so realistisch wie nur möglich. Wenn unsere Polizei nun die Beschlagnahme von mehr Heroin und die Festnahme von mehr Heroinschmugglern meldet, so liegt doch zunächst einmal der Schluß nahe, daß die Arbeit der Polizei verbes. seit werden konnte.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hammans?
Bitte schön.
Herr Kollege Spitzmüller, selbstverständlich hat die Polizei - Gott sei Dank -- mehr Erfolge zu verzeichnen, aber sind Sie bereit, mir zuzugeben, daß die Liberalisierung der Drogenszene in den Niederlanden zu einer Zunahme des Konsums im deutschniederländischen Grenzbereich beigetragen hat und daß die Erfolge mit dieser Tatsache zusammenhängen?
Herr Kollege, da ich nicht wie Sie im niederländischen Grenzgebiet wohne, kann ich das nicht bestätigen. Ich kann nur bestätigen, daß mir solche Berichte, wie sie in Ihrer Frage anklingen, auch vorliegen. Nur muß ich eben feststellen, daß die Arbeit unserer Polizei erfolgreich war und daß die Zusammenarbeit der deutschen Polizei mit der niederländischen Polizei wesentlich besser klappt, als das vor der Liberalisierung der Fall war.
({0}) Diese erfolgreiche Arbeit der Polizei wollen wir doch nicht unterbewerten, sondern wir sollten sie in dieser Debatte herausstellen.
In der Drogenszene bleibt noch vieles bedenklich genug. Immerhin gibt es - so die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage - rund 25 000 Personen, die unserer Polizei als Rauschgifthändler oder -schmuggler, in aller Regel zugleich aber auch als Rauschgiftkonsumenten bekannt sind. Nach meinen Informationen beträgt der Anteil der 18- bis 25jährigen an diesem Personenkreis, dem harten Kern der Drogenszene, etwas über 70 %. Dies ist ein bedenklicher Prozentsatz. Interessant hieran ist aber nun, daß sich der Altersdurchschnitt dieses harten Kerns großenteils junger Drogengefährdeter und -abhängiger nach oben verschiebt, d. h., Drogeninfizierte kommen nur in seltenen Fällen von ihrer Abhängigkeit los. Andererseits wächst gottlob offenbar nicht eine entsprechende Zahl jüngerer Leute in die Abhängigkeit von harten Drogen hinein. Hier deutet sich zumindest ein Hoffnungsschimmer am Horizont an.
Große Aufmerksamkeit sollten wir aber der hochkriminellen Aktivität der Importeure harter Drogen widmen. Während die Importe über die Niederlande mit Erfolg bekämpft werden konnten, macht sich seit Ende des Jahres 1976 eine verstärkte Tätigkeit türkischer Heroin-Importeure bemerkbar, die insbesondere in West-Berlin, aber auch von Ost-Berlin her auftreten. Die Massierung von türkischen Gastarbeitern in West-Berlin - Bezirk Kreuzberg - hat zu einem gefährlichen Nährboden für eine solche Drogenkriminalität geführt. Über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld kommen offenbar zahlreiche mit Rauschgiftschmuggel befaßte Personen aus dem Mittleren und Vorderen Orient nach Ost-Berlin und von dort nach West-Berlin. Es ist ein bedenkliches Zeichen, wenn sich auf dem sonst so perfekt bewachten Boden Ost-Berlins, nämlich auf dem Bahnhof Friedrichstraße, ein illegaler Rauschgiftmarkt entwickeln konnte. Die zuständigen Behörden der Bundesrepublik haben nicht von ungefähr schon wiederholt bei den Behörden der DDR auf diese Mißstände hingewiesen. Die Bundesregierung sollte ihre Kontakte über das mit der DDR geschlossene Gesundheitsabkommen energisch nutzen, die hier offenbar werdenden Infektionsquellen schleunigst zu verstopfen. .
({1})
Dies wollte ich in diese Debatte eingeführt haben, weil es zur Drogenszene gehört.
Lassen Sie mich auf die besonders ernste Frage des Drogenmißbrauchs Jugendlicher eingehen. Einige Punkte der Großen Anfrage zielen ja hierauf ab. Besonders aufschlußreich finde ich die Antwort auf die Frage nach der Einstellung zum Drogenkonsum in der Bevölkerung. Nach einer Trendanalyse im Auftrag des Gesundheitsministeriums ist die Zahl derer, die auf die Frage, ob auf einer Party schon einmal Haschisch oder ähnliche Drogen angeboten worden seien, mit Ja antworten, rückläufig. Frau
Minister Huber hat schon darauf hingewiesen. Weitere ähnliche Angaben über diese Rückentwicklung finden Sie in dieser und in anderen Antworten der Großen Anfrage. So gelingt es offenbar auf Grund des Modellprogramms der Bundesregierung zur Drogenbekämpfung, nach ambulanten und stationären Behandlungen doch immerhin etwa 55 % der Behandelten für die ersten drei Monate drogenfrei zu halten, bei der ursprünglich angenommenen außerordentlich hohen Rückfallsquote also doch ein Fortschritt, ein kleiner Erfolg, den wir vermerken müssen, der aber natürlich nicht ausreicht.
Das in den Antworten ausgebreitete Material über Umfragen, Modellaktionen, Behandlungs- und Beratungseinheiten sowie Forschungsarbeiten läßt meines Erachtens den vorsichtigen Schluß zu, daß die Gefahren des Drogenkonsums zwar bei weitem nicht gebannt sind, jedoch in der Gesellschaft offenbar Gegengifte gegen die erste große Infizierung durch die Drogenwelle in der Bundesrepublik entwickelt worden sind. So scheint der verführerische Reiz von „weichen" Drogen wie Haschisch und Marihuana und der harten Drogen wie Heroin, Kokain und LSD bei der jungen Generation nachgelassen zu haben. Die im Konsum solcher Drogen liegende Gefährdung, ja, das durch sie ausgelöste Elend, die erschreckende Zahl der dadurch verursachten Todesfälle üben offenbar doch eine abschreckende Wirkung aus.
Von daher bin ich der Meinung, Herr Kollege Geisenhofer, daß es gut ist, wenn die Zeitungen darüber berichten. Wir als Abgeordnete können und sollten vor Ort im Gespräch mit den örtlichen Redaktionen darauf hinwirken, daß über solche Dinge nicht zur Tagesordnung übergegangen, sondern darüber berichtet wird,
({2})
damit der gesellschaftliche Verruf des Konsums von Drogen in der Gesellschaft weiter wächst. Er ist gewachsen.
Meine Damen und Herren, leider verhält es sich bei dem übermäßigen Konsum von Alkohol noch nicht so. Der übermäßige Konsum von Alkohol ist noch nicht in einen allgemeinen gesellschaftlichen Verruf gekommen. Deshalb müssen wir dem auch noch große Aufmerksamkeit zuwenden.
Wenn ich hier versucht habe, in der Entwicklung des Drogenkonsums einige positive Aspekte aufzuzeigen, so darf ich nicht falsch verstanden werden. Die Gefahren sind nicht gebannt. Nur war es auch einmal notwendig, Erfolge jahrelanger Bemühungen um Drogenbekämpfung und Ansätze zu einer Überwindung der größer werdenden Gefahren zu registrieren.
Wir müssen in unseren Bemühungen beharrlich fortfahren. Die Erfahrungen mit der Gefährdung durch Drogen, mit den Schwierigkeiten der Behandlung Drogenabhängiger sowie mit der Bekämpfung des Drogenhandels sind bei den Fachleuten gewachsen. Gewachsen ist aber vor allem auch das Gefährdungsbewußtsein in der Öffentlichkeit. Hoffen wir daher, daß die Zeit für uns, für unsere Jugend und gegen die Macht der Drogen arbeitet!
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Braun.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU zum Alkohol- und Drogenmißbrauch sowie zur Kriminalität von Kindern und Jugendlichen nimmt das Thema „Alkoholismus" - speziell der Jugendalkoholismus - einen breiten Raum ein. Das ist in Anbetracht der erschreckenden Entwicklung in diesem Bereich auch notwendig.
Nicht gut und nicht hilfreich waren in diesem Zusammenhang allerdings die Erklärungen und Erläuterungen von Frau Minister Huber, mit denen sie die Antwort auf unsere Große Anfrage der Öffentlichkeit vorstellte.
({0})
Hier wurde der Versuch unternommen, ein Problem, welches uns alle bedrücken muß, herunterzuspielen, so daß die Tageszeitung „Die Welt" am 26. September dieses Jahres berichten konnte „Alkoholskala: Deutsche liegen hinten".
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich nur auf eine Aussage der Psychiatrie-Enquete hinweisen, die feststellte, daß die Zuwachsrate des Verbrauchs von reinem Alkohol in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit elf anderen Ländern am stärksten ausgeprägt ist.
In diesem Bericht, der in diesem Hohen Hause bisher leider zu wenig Beachtung gefunden hat, wird weiter festgestellt, daß die Zahl der Aufnahmen in medizinische Institutionen wegen schwerer Folgen des Alkoholismus zugenommen hat. Im Bundesdurchschnitt machen sie etwa 30 % sämtlicher Aufnahmen in den großen psychiatrischen Krankenhäusern aus. Dabei wissen wir alle durch so manchen tragischen Fall, der uns im Wahlkreis vorgetragen wird, daß eine solche Aufnahme nicht mit dem Beginn einer eingehenden Behandlung identisch ist. Während auf der einen Seite von einem Bettenüberhang im Krankenhausbereich gesprochen wird, möchte ich mit Nachdruck daran erinnern, daß auf der anderen Seite die Kapazitäten in der Psychiatrie nicht ausreichen, um den Alkoholkranken wirklich zu behandeln.
({2})
Die Kapazitäten dieser Häuser reichen meistens nur aus, um eine Entgiftungsbehandlung durchzuführen, so daß bereits nach zwei bis drei Wochen die Entlassung erfolgen muß - eine Entlassung wegen Bettenmangels -, und leider ist dann in vielen Fällen nach einer gewissen Zeit die Wiederholung dieses Vorganges festzustellen.
Sie, Frau Minister, werden nun antworten, das alles sei Sache der Länder. Hier geht es aber nicht
um Kompetenzen, sondern um Menschen, insbesondere junge Menschen, denen geholfen werden muß.
({3})
- Es gibt doch, Herr Kuhlwein, die schöne Einrichtung der Gesundheitsministerkonferenz. Dort muß man gemeinsam nach Lösungen suchen.
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Meine Damen und Herren, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist sicher eine ernste Angelegenheit. Das Problem des Jugendalkoholismus ist nicht weniger ernst.
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Nur wird dieses Problem von der Öffentlichkeit und in der Öffentlichkeit nicht so ernst genommen, und es ist erst recht nicht schick, darüber zu sprechen, vor allen Dingen nicht heute am 11. im 11. 1,5 Millionen alkoholgefährdete Bundesbürger, hierunter 270 000 im Alter von 14 bis 29 Jahren, das sind Zahlen, die nicht nur sozialpolitische Fragen, die beantwortet werden müssen, sondern auch große volkswirtschaftliche Probleme aufwerfen. Welch enorme Kosten entstehen der Solidargemeinschaft allein für die notwendige Behandlung - und das ist dann nicht mit drei Wochen Behandlungsdauer getan -, und wie groß sind die Kosten durch den Arbeitsausfall, die entstehen!
Wenn ich mich auch vorhin selber des Begriffes „alkoholgefährdet" bedient habe, so möchte ich doch vor dem Trugschluß warnen, als seien Alkoholgefährdete keine Behandlungsbedürftigen. Daher ist es meines Erachtens auch wiederum eine Verniedlichung, Frau Minister, wenn Sie davon sprachen, daß es sich lediglich um 10 % behandlungsbedürftige Trinker handele.
Was ist zu tun, meine Damen und Herren? Das Jugendschutzgesetz muß novelliert werden. Gleichzeitig muß aber auch mit den kommunalen Spitzenverbänden darüber gesprochen werden, wie der Jugendschutz in den Gemeinden wirksam durchgeführt werden kann und durchgeführt wird.
({6})
Zweitens. Das Verbot des Verkaufs von Alkohol an Minderjährige muß besser und verstärkt überwacht werden. Die Gemeinden müssen aber auch angehalten werden, die Öffnungszeiten der Gaststätten, die sich in unmittelbarer Nähe von Schulen befinden und die sich in den letzten Jahren zunehmend zu Schülerpausenkneipen entwickelt haben, zu überprüfen.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß Alkoholgenuß und Auto- oder Mopedfahren nicht miteinander zu vereinbaren sind. Wir bejahen und kennen alle den Slogan „Wer trinkt, fährt nicht - wer fährt, trinkt nicht". Aber durch die gesetzlich festgelegte 0,8-Promille-Grenze bringen wir immer wieder viele, insbesondere Jugendliche, in die Versuchung, vor der Fahrt mit ihrem Fahrzeug zu probieren, beim wievielten Glas wohl die 0,8-PromilleGrenze beginnt. Wir sollten den Mut haben, darüber zu diskutieren - insbesondere bei der Beratung
im Ausschuß -, wie wir durch eine gesetzliche Regelung diesem Slogan wirklich Geltung verschaffen. Das heißt: wer sich hinter das Steuer oder den Lenker klemmen will, hat auf Alkohol zu verzichten.
({7})
Der Bildung von Freundeskreisen von Alkoholkranken und Suchtgefährdeten kommt eine besondere Bedeutung zu, da hier eine sehr segensreiche Tätigkeit ausgeübt wird. Die dort vorgenommene Beratung und Arbeit verdienen unser aller Dank. Unser Dank gilt aber auch insbesondere der Hauptstelle gegen die Suchtgefahren und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege. Wir sollten aber auch sehen, daß es mit dem Dank alleine nicht getan ist. Beratung und Betreuung kosten Geld. Wir sollten dabei sehen, daß Beratung und Betreuung billiger als Behandlung sind. Aber das sind in unserer wohlgeordneten Gesellschaft zwei verschiedene Etats, die nichts voneinander wissen dürfen. Trotzdem müssen wir erkennen: die Arbeit der freien Träger ist gefährdet, die freien Träger benötigen für ihre Arbeit mehr Geld. Woher dieses Mehr an Geld nehmen? Der Staat langt bei der Alkoholsteuer kräftig zu. Ein kleines Sümmchen aus diesen enormen Einnahmen, die in den letzten Jahren ständig gestiegen sind, muß denen zur Verfügung gestellt werden, die vor Ort in aufopferungsvoller Kleinarbeit bemüht sind, das durch den Alkohol hervorgerufene Elend zu lindern.
({8})
Hier geht es nicht schlechthin um Geld. Hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit unseres Staates.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Amling.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Große Anfrage der CDU/CSU-Opposition betreffend Alkohol- und Drogenmißbrauch und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen liest und die vielen öffentlichen Erklärungen der Opposition zu diesen Problemen in der letzten Zeit hörte, der mußte den Eindruck bekommen, als sei seit kurzem die ganze Bevölkerung in unserem Lande verlottert, als wären wir langsam alle zu Alkoholikern, als wären wir alle langsam süchtig geworden.
({0})
Die Opposition will uns glauben machen, daß dies nicht immer so gewesen sei, besonders nicht bei der Jugend. Die Opposition will uns glauben machen, dies sei früher anders gewesen, wir hätten früher die Äpfel von den Bäumen gepflückt und würden heute nur noch nach dem Apfelschnaps gieren.
({1})
Meine Damen und Herren von der Opposition, so einfach liegen die Probleme nicht.
({2})
So billig können Sie sich auch nicht aus der Verantwortung stehlen, vor allem wenn man behauptet,
man habe so viele Jahre hier in diesem Lande verantwortungsbewußt Politik gemacht.
Als ich in diesem Sommer von dieser Großen Anfrage der CDU/CSU-Opposition zum Alkohol- und Drogenmißbrauch zum erstenmal hörte, war ich sehr gespannt. Ich habe mich gefragt: Will sich die Opposition hier einmal wirklich um die Probleme der jungen Menschen in unserem Lande kümmern, oder beschwört sie nur wieder einmal den Sittenverfall - in diesem Fall den der jungen Generation - herauf? Deshalb habe ich mir die Begründung zu Ihren Fragen, meine Damen und Herren von der Opposition, auch sehr aufmerksam durchgelesen. Dabei habe ich mit großem Bedauern feststellen müssen: Die Opposition - und hier vornehmlich Herr Kroll-Schlüter - hat nur die Sommerpause nutzen wollen, um Schlagzeilen zu produzieren.
({3})
Mit dieser Anfrage wurde lediglich hinlänglich Bekanntes wiederholt. Die Opposition beschreibt nur längst bekannte Tatbestände, und - das kommt noch hinzu - die Behauptungen stützen sich auf Zahlenangaben der Regierung oder auf Untersuchungen, die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit mitfinanziert oder erarbeitet worden sind. Aber, so meine ich: Warum soll die Opposition nicht das wiederholen, was andere schon längst festgestellt haben? Nur, so meine ich: Wenn Sie sich schon zu einer Großen Anfrage entschließen, meine Damen und Herren, dann sollten Sie nicht nur an der Oberfläche bleiben. Sie könnten ruhig etwas qualifizierter, ruhig etwas fundierter fragen.
({4})
Eine Frage, die sich alle, die sich ernsthaft mit dem Problem befaßt haben, gestellt haben, fehlt bei der Opposition. Die wichtigste Frage zum Problem des Alkohol- und Drogenmißbrauchs bei Kindern und Jugendlichen wird von der Opposition nicht gestellt, nämlich die Frage nach den Ursachen. Warum wohl hat die Opposition die Frage nach den Ursachen nicht gestellt? Warum will sie von der Bundesregierung dazu überhaupt keine fundierte Antwort hören?
({5})
Warum will sie nur eine Bestandsaufnahme? Ich möchte es Ihnen sagen, meine Damen und Herren: weil sie dann nämlich leichter spekulieren und bequemer abstruse Behauptungen, wie es heute vormittag hier schon geschehen ist, in die Welt setzen kann.
({6})
Davon konnten wir in den letzten Wochen und Monaten gerade von Ihnen zur Genüge lesen und hören.
({7})
So ein Unsinn wie das, was in den zahlreichen Interviews des Herrn Kollegen Kroll-Schlüter nachzulesen ist und was man von ihm hörte,
({8})
ist mir in dieser Frage anderwärts noch nie vorgekommen.
({9})
Dem, der allen Ernstes behauptet, Alkoholmißbrauch bei Jugendlichen sei in der mangelnden Orientierung junger Menschen begründet, der der Bevölkerung weismachen will, unser Staat sei anonym und bürokratisiert und treibe deshalb die Kinder zur Schnapsflasche,
({10})
der Alkohol als Folge des Sozialstaates darstellt, geht es, meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, wirklich nicht um die Probleme von_ Kindern und Jugendlichen, auch nicht um die Probleme des Alkohol- und Drogenmißbrauchs. Das ist die bei Ihnen übliche Art der Schwarzmalerei. Ihnen geht es nur um eine Verzerrung des tatsächlichen Zustandes, um eine Dramatisierung, um ein Aufbauschen der wirklichen Situation.
({11})
- Danke schön, Herr Kollege Wehner, das wollte ich noch bringen. - Wer nämlich so redet wie Sie, Herr Kollege Kroll-Schlüter, kann dann auch die Parolen des letzten Wahlkampfes wieder hervorholen. Aber es ist einfach zu billig, die Alternative in den Raum zu stellen: Freiheit oder Alkohol.
({12})
Die Bundesregierung hat mit der umfangreichen Antwort auf die Anfrage eine sorgfältige Analyse vorgelegt. Aus dieser Antwort ergibt sich, daß das Alkoholismusproblem anders gelagert ist als die Drogenwelle, die uns alle noch vor einigen Monaten und Jahren besorgt gemacht hat.
({13})
Der Anteil der Alkoholgefährdeten nimmt zu. 4 % der Bevölkerung über 14 Jahre sind als gefährdet anzusehen. Der Mißbrauch alkoholischer Getränke ist also ernst zu nehmen.
({14})
Aber das Problem ist nicht der Elendsalkoholismus, wie Sie vielfach behaupten,
({15}) sondern der Wohlstandsalkoholismus.
({16})
Wissenschaftler haben festgestellt, daß es heute leider eine breitere Trinkerbasis gibt. Das bedeutet,
daß heute mehr Menschen häufiger und mengenmäßig mehr trinken. Trotzdem sollte man aus der steigenden Alkoholmenge nicht schließen, daß mehr Menschen Mißbrauch mit Alkohol treiben.
Leider läßt sich auch eine Vorverlagerung des Trinkbeginns bei Kindern und Jugendlichen um etwa zwei Jahre feststellen. Dennoch sei noch einmal gesagt, was heute schon vorgetragen worden ist: Den höchsten Anteil an Gefährdeten stellt die sogenannte soziale Mittelschicht, gefolgt von den oberen sozialen Schichten. In den unteren sozialen Schichten sind viel weniger Alkoholgefährdete zu finden.
Hauptursache für Alkoholismus ist der gefällige Zwang des Trinkens, wobei vor allen Dingen die Älteren den Jugendlichen ein schlechtes Beispiel geben. Ich meine, daß ein Zusammenhang zwischen Alkoholmißbrauch und der Zunahme des Drogenkonsums bei jungen Menschen nicht festzustellen ist, wie vorhin auch von der Frau Ministerin vorgetragen wurde. Insgesamt hat sich die Alkoholsituation stabilisiert. Es ist also Gott sei Dank kein weiteres Ansteigen zu verzeichnen, so daß man im Vergleich mit anderen europäischen Ländern vielleicht sogar von einem leichten Erfolg sprechen kann.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber auch noch etwas zu der Form sagen, wie die Opposition das Alkoholproblem bisher behandelt hat. Ich möchte das am Beispiel der Werbung für Alkohol aufzeigen. Herr Kollege Kroll-Schlüter hat in diesem Sommer auf einer Pressekonferenz die Große Anfrage der Opposition erläutert. Dabei sagte er zu den anwesenden Journalisten auch, daß die Verhaltensregeln des Deutschen Werberates zur Werbung für alkoholische Getränke geprüft werden sollten. Warum wird hier so formuliert? Warum sagt man: Man sollte die Werbung überprüfen? Ich will es Ihnen sagen. In der Öffentlichkeit soll auch hier der Eindruck entstehen, die CDU/CSU, der Tugendwächter Nummer eins in diesem Lande, bewahre die Jugend vor falschen Leitbildern, die durch die falsche Werbung entstehen könnten. Aber es soll nur der Eindruck entstehen. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, klar und deutlich fragen, ob Sie an eine Einschränkung der Werbung für Alkohol denken, ja oder nein.
({17})
Doppelzüngige Argumentationen von Ihnen kennen wir zur Genüge. Sie sagen in der Öffentlichkeit etwas anderes als hier im Hause, als in den Ausschüssen, als hinter verschlossenen Türen. Das ist nicht seriös, das ist Heuchelei.
({18})
Ich meine, man sollte auch den Werberat klar und deutlich auf seine Verantwortung aufmerksam machen, damit zukünftig der Schutz Jugendlicher vor Werbeansprachen deutlich verstärkt wird. Erstens. Die Beschränkung der Werbung mit Vorbildern muß ausgeweitet werden. Zweitens. Man darf sich nicht
nur auf ein Verbot der Werbung mit Leistungssportlern beschränken. Drittens darf der Genuß von Alkohol in der Werbung nicht als Voraussetzung für gesellschaftlichen Erfolg dargestellt werden. Viertens sollte der Deutsche Werberat endlich etwas gegen die Werbung unternehmen, die versucht, die Wirkung des Alkohols zu verharmlosen.
({19})
Ich kann natürlich verstehen, daß Sie Bedenken haben, wenn es darum geht, gerade die Werbung für Alkohol einzuschränken, wenn ich mir in Ihrem Kreis so einige Leute anschaue. Wir Sozialdemokraten haben von Herrn Eckes keine Wahlspenden und Wahlhilfen bekommen,
({20})
und ich meine, der Brauereibesitzer Zwicknagel wird über seinen Schwiegersohn Franz Josef Strauß auch zu verhindern versuchen, daß wir auf diesem Gebiete Erfolge haben.
({21})
Herr Kollege, bitte, kommen Sie zum Ende Ihrer Rede.
Ich komme zum Ende und fasse zusammen, daß wir von der sozialdemokratischen Fraktion sehr wohl die Bemühungen der Bundesregierung und hier der Gesundheitsministerin beobachten. Wir haben sehr wohl gesehen, daß man dort die Probleme erkannt hat. Wir werden der Regierung selbstverständlich bei ihrem Bemühen helfen, diese Probleme zu beseitigen.
({0})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Wort an den Herrn Kollegen Amling. Sie haben unterstellt, wir hätten mit diesem ernsten Thema die Sommerpausen ausfüllen wollen. Ich muß sagen, was Sie hier heute beigetragen haben, langt nicht einmal, um in der Sauregurkenzeit einen Zeitungsartikel darüber zu schreiben.
({0})
Eher sollte man eine Büttenrede daraus machen.
Zur Sache. Die Antwort der Bundesregierung auf die Frage nach Entwicklung und Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität füllt zwar viele Seiten, sie ist mit umfangreichem statistischen Material gespickt, jedoch dient dieses und seine kümmerliche Kommentierung mehr zur Verschleierung als zur Erhellung der wahren Situation. Von Frau Minister Huber haben wir heute so gut wie nichts gehört. Wahrscheinlich fühlt sie sich ressortmäßig nicht zu ständig.
({1})
Es ist bemerkenswert, wie die Bundesregierung vorgeht. Kriminalstatistiken seien überhaupt nicht sehr aussagekräftig, wird zunächst wortreich erläutert und begründet. Dann aber bedient sich die Bundesregierung selbst zurechtfrisierter und schwer nachprüfbarer Statistiken, um damit folgendes zu beweisen: Die Zunahme der Kinder- und Jugendkriminalität war zwar in den Jahren 1963 bis 1972 erschreckend, aber unter der heutigen Regierung bessert sich die Lage zusehends, ja, „sie hat sich seit 1972 sogar tendenziell umgekehrt". So sagt die Bundesregierung. Bei Kindern und Jugendlichen habe sich die Zahl der Tatverdächtigen deutlich vermindert, bei Heranwachsenden sei sie gleichgeblieben. Wo es tatsächlich Steigerungsraten gebe, etwa bei schweren Diebstahlsdelikten von Kindern und Jugendlichen, da müsse man die überproportionale Zunahme von Tatverdächtigen dieser Altersgruppe gerechterweise in Bezug setzen zur Gesamtwohnbevölkerung, und dann sei das eben auch nicht mehr so schlimm. Zwar werden Ausnahmen negativer Entwicklung im Bereich der Gewaltkriminalität eingeräumt, aber ansonsten stellt die Bundesregierung beruhigend fest, daß kriminelle Aktivitäten junger Menschen zu einem großen Teil nur entwicklungsbedingt seien und damit vorübergehender Natur.
Bezüglich der Ursachen sagt sie folgendes: Diese seien nicht monokausal erklärbar, aber im wesentlichen kämen sie doch aus der Familie, die ja neuerdings immer der Buhmann ist, wobei natürlich Überforderung in der Schule und Versagenserlebnisse auch noch eine Rolle spielten, wie die an materiellen Statussymbolen orientierte Erwachsenenwelt. Mit solcher Argumentation wird die tatsächliche Situation verschleiert und verharmlost.
Was ist entgegenzuhalten? Erstens. Das zur Beweisführung vorgelegte statistische Material ist bei genauer Prüfung höchst undurchsichtig und gegenüber den offiziellen Kriminalstatistiken bewußt verfremdet. Kolonnenweise sind offensichtlich die Zahlen aus den Jahren 1975 und 1976 miteinander vertauscht.
({2})
Das nennt Frau Huber hier korrekte Beantwortung, wie wir eben hörten. Man muß annehmen, das Ding hat Methode, denn wenn man die Zahlen miteinander vertauscht, kommt man zu der „Tendenzumkehr", von der die Rede ist.
({3})
Zweitens. Trotz dieses Zahlendilemmas ist eines nicht zu leugnen, daß nämlich die verbrecherische Energie von Kindern und Jugendlichen zugenommen hat, und zwar vor allem bei den Gewaltdelikten. Die Bundesregierung verschweigt die steigende Brutalität der Tatbegehung ebenso wie die wachsende Tendenz zur Bandenbildung bei Kindern und Jugendlichen und die Ansätze zum organisierten Verbrechertum.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, bitte nicht, ich habe nur zehn Minuten.
Sie verweist auf Mehrfachzählungen von Tatverdächtigen. Diesen Mehrfachzählungen entsprechen eben auch mehrere Delikte derselben Person oft in kurzen Zeitabständen. Das bedeutet: Trotz enormer polizeilicher Intervention sind Tatverdächtige oft nicht festzusetzen und straffällige Kinder und Jugendliche nicht so unterzubringen, daß sie nicht aufs neue straffällig werden. Ich hätte gern gehört, was man dagegen tun will.
Drittens. Die Tatsache, daß es heute eine besondere Spielart krimineller Aggression gibt, die man als Krawallkriminalität bezeichnet, wird von der Bundesregierung überhaupt nicht erwähnt. Dieser neuen kriminellen Spielart, die sich als reine Angriffs- und Schädigungskriminalität ohne bestimmte Zielrichtung darstellt, und ihren Ursachen wäre aber unbedingt Aufmerksamkeit zu widmen gewesen. Wenn im Hinblick sowohl auf die Stärkung der Erziehungskraft der Familie wie auf erzieherische Einwirkungen in Schulen und auf wahrheitsgemäße Information der Öffentlichkeit über dieses Problem nicht bald präventive Maßnahmen ergriffen werden, werden wir in einigen Jahren feststellen müssen, daß sich aus diesen Gruppierungen der kriminelle Nachwuchs von morgen und möglicherweise Hilfstruppen für die terroristische Szene rekrutieren.
Viertens. Kein Wort wird verloren über die auffällig steigende Beteiligung von Mädchen an gravierenden Deliktsarten. Ich nenne nur vorsätzliche Tötung, Sexualdelikte, Roheitsdelikte, Straftaten gegen die persönliche Freiheit, Raub, räuberische Erpressung und räuberische Angriffe auf Kraftfahrer. Wäre nicht auch dazu ein Wort vonnöten gewesen?
Immerhin fällt auf, daß junge Mädchen und Frauen zunehmend eine erhebliche Rolle bei terroristischen Gewalttaten spielen. Wo liegen nach Meinung der Bundesregierung die Gründe für eine solche offenkundige Mentalitätsveränderung beim weiblichen Geschlecht?
Von der Gesamtzahl weiblicher Tatverdächtiger bei Gewaltdelikten gehören 46 bis 50 % der Altersgruppe der weiblichen Kinder bis zu den jugendlichen Heranwachsenden an. Bei schwerem Diebstahl und bei Diebstahl von Schußwaffen sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende mit fast 60% beteiligt; darunter sind erstaunlich viele weibliche Kinder und jugendliche Mädchen. Diesselbe Altersgruppe begeht 90 % der Moped- und Kraftfahrzeugdiebstähle. Auch hier ist das weibliche Geschlecht auffallend aktiv geworden.
({0})
Auch bei den Rauschgiftdelikten sind die weiblichen Tatverdächtigen nicht mehr unterrepräsentiert: Es sind immerhin 18,6 % weibliche Täter. Überhaupt muß festgestellt werden, daß Minderjährige und junge Erwachsene unter 25 Jahren vier Fünftel aller einschlägigen Delikte begehen.
Wenn es stimmt, was wissenschaftlich bewiesen sein soll, daß 80 % aller Gewohnheits- und Gewaltverbrecher bereits in früher Kindheit kriminell will.4342
den, sollte man die vorliegenden Daten der Bundeskriminalstatistik wesentlich sorgfältiger analysieren und wesentlich ernster nehmen, statt sie, wie es die Bundesregierung versucht, zu verharmlosen und zu bagatellisieren.
({1})
Wegen der Kürze der Zeit möchte ich mich nun noch der Antwort auf die Frage zuwenden, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Ich kann nur einige nennen.
Erstens. Die geistigen Ursachen der sozialen Desorientierung und Fehlentwicklung vieler Kinder und Jugendlicher sind sorgfältig zu untersuchen.
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- Sie kommen eben nicht nur aus familiären Erziehungsfehlern, Herr Kollege Immer - das glauben sicher ja auch Sie -, sondern Ideologien, verworrene Freiheitsvorstellungen und permissive Tendenzen, die in Schulen, in Jugendgruppen und im gesellschaftlichen Bereich gepredigt und gelebt werden, machen es den Familien sehr schwer, erfolgreich dagegen anzusteuern.
({3})
- Herr Immer, darüber unterhalten wir uns vielleicht hinterher; jetzt habe ich nämlich sehr wenig Zeit.
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Zweitens. Im Bereich der Polizei - ich weiß, das ist Ländersache; aber die Bundesregierung müßte es wenigstens dringend empfehlen - müssen Jugendfachdienststellen mit speziell vor- und ausgebildeten Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten eingerichtet werden, die, wie es früher die weibliche Kriminalpolizei intensiv tat, mit Jugendbehörden zusammenarbeiten - nicht nur bei repressiven Maßnahmen, sondern vor allem präventiv bei ersten Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Der Aufgabenkatalog könnte sein: Streifentätigkeit, Fahndung nach vermißten Kindern und Jugendlichen, Jugendschutz, ständiger Erfahrungs- und Informationsaustausch mit Jugendbehörden, Schulen und karitativen Verbänden, Beobachtungen der Erscheinungsformen und Ursachen der Jugendkriminalität und -verwahrlosung, ständige Analyse der Kriminalentwicklung. Das wäre ein Beitrag, der in viele Erscheinungen, die ich genannt habe, Licht bringen würde.
Drittens. Neben Erziehungshilfen müssen vor allem die Resozialisierungsmaßnahmen verstärkt werden; denn gerade bei jugendlichen Ersttätern ist die Chance der Nacherziehung relativ am größten.
Zusammenfassend möchte ich folgendes sagen. Das Thema der Kinder- und Jugendkriminalität darf mit dieser oberflächlichen und beschönigenden Antwort der Bundesregierung nicht wieder bis zu einer neuen
parlamentarischen Initiative der Opposition zu den Akten gelegt werden.
({5})
Bund und Länder dürfen nicht länger reagieren, sie müssen agieren. Aktivierung von Jugendschutz und Jugendhilfe ist längst überfällig ebenso wie Reformen im Jugendstrafvollzug, angefangen vom Wochenendkarzer bis zur Langzeitstrafe.
(Beifall bei der CDU/CSU]
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Baum.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur einige kurze Bemerkungen zu dem, was meine Vorrednerin gesagt hat. Es ist natürlich keineswegs so, Frau Kollegin, daß wir Ihnen irgendetwas vorenthalten oder etwas verfälscht hätten. Wir haben Ihre Fragen vollständig beantwortet, allerdings nur Ihre Fragen. Die Fragen, die Sie im Bereich der Mädchenkriminalität, also der weiblichen Kriminalität, hier aufgeworfen haben, haben Sie uns nicht gestellt. Also beschweren Sie sich nicht, daß wir Ihnen keine Auskunft auf Fragen geben, die Sie selber nicht gestellt haben!
({0})
Es ist in der Tat richtig, Frau Kollegin, daß in der Drucksache ein Druckfehler passiert ist. Zwei Tabellen sind miteinander vertauscht worden.
({1})
Statt 1975 ist 1976 gedruckt worden und umgekehrt. Aber das ist ein Fehler, den man ohne weiteres aufklären kann. Dahinter steht doch nicht der böse Wille zur Verfälschung oder eine Verharmlosungsabsicht der Bundesregierung.
({2})
- Wenn Sie es nicht gewußt haben, sage ich es Ihnen hier. Ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Aber daraus können Sie auch uns keinen Vorwurf machen.
({3})
Wir haben hier schon gehört, daß sich die früher zunehmende Entwicklung im Bereich der Kinder-und Jugendkriminalität seit 1972 nicht mehr fortgesetzt hat, daß sie sich in der Tendenz sogar umgekehrt hat, daß nämlich der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtkriminalität abgenommen und der Anteil der Erwachsenen zugenommen hat. Ich vermag das nicht so negativ zu deuten wie Sie, Frau Kollegin. Ich wäre höchst besorgt, wenn es umgekehrt gewesen wäre. Ich möchte hier auch einen gewissen Erfolg der Tätigkeit von Bund und Ländern bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität sehen.
Ich möchte nichts verharmlosen. In der Antwort ist nichts verharmlost. Sie haben darauf hingewieParl. Staatssekretär Baum
sen, Frau Kollegin, daß wir keineswegs über besorgniserregende Erscheinungen auf dem Feld der Gewaltkriminalität hinweggegangen sind. Das haben wir offen auf den Tisch gelegt. In einigen Großstädten der Bundesrepublik gibt es - darauf möchte ich hinweisen - Jugendbeamte der Polizei, die bereits außerordentlich erfreulich gewirkt haben.
Noch ein letztes Wort zur Entwicklung der Rauschgiftkriminalität. Es ist in der Tat so, daß die Entwicklung der Rauschgiftkriminalität insgesamt im Jahr 1976 aus polizeilicher Sicht besorgniserregend verlaufen ist; das ist bekannt. Die Zahl der festgestellten Rauschgiftdelikte ist erheblich gestiegen, insbesondere im Bereich des Rauschgifthandels und des Rauschgiftschmuggels. Dabei stellt das Heroin ein besonderes Problem dar. Im vergangenen Jahr sind 337 vorwiegend junge Menschen infolge der Einnahme von Rauschgiften, insbesondere Heroin, zu Tode gekommen. Das zeigt in der Tat den Ernst der Situation. Kein Mensch wird über sie leichtfertig hinweggehen können.
Aber ich muß noch einmal auf folgendes hinweisen. Was Herr Kollege Spitzmüller vorhin schon gesagt hat, ist richtig. Ein erfreulicher Aspekt ist, daß seit einigen Jahren ein Rückgang des Anteils von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden an der Gesamtzahl von Rauschgifttätern festgestellt worden ist. Ihr Anteil an der Gesamtäterzahl liegt nunmehr unter dem von 1969. Auch das muß hervorgehoben werden, wenn man über diese Seite der Kriminalität redet.
Der Polizei sind gegenwärtig insgesamt rund 25 000 Konsumenten harter Drogen bekannt.
Ich möchte auch auf die erheblichen Erfolge bei der Rauschgiftfahndung verweisen. Am 30. Oktober wurden in Mainz 2,3 t Haschisch gefunden, und es gab andere Erfolge.
Frau Kollegin, ich habe mich nur gemeldet, um den Eindruck zu zerstreuen, als wolle die Bundesregierung etwas nicht offen auf den Tisch legen. Wir haben keinen Anlaß, irgend etwas zu verschweigen. Wir wollen aber auch das Positive nicht verschwiegen wissen.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst ein Wort zu meiner Vorrednerin sagen, die meinte, hier einen Zahlenverdreher hochspielen zu müssen. Hätte sie den Text der Antworten der Bundesregierung auf die Fragen der Opposition gelesen, wäre ihr ohne weiteres aufgefallen, daß das ein einfacher Verdreher ist und daß keine Absicht dahintersteckte.
Meine Damen und Herren, ich muß allerdings, wenn hier gesagt wird, daß die Zahlen höchst undurchsichtig seien, und beinahe der Vorwurf erhoben wird, es würde mit den Zahlen manipuliert,
({0})
auch darauf hinweisen, daß eine Zahl von der Opposition verständlicherweise nicht erwähnt worden ist. Von 1967 bis 1976 - zehn Jahre Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung - stieg der Verbrauch an reinem Weingeist um 26 %. In dem Jahrzehnt davor, von 1957 bis 1966 - da haben ja wohl Christdemokraten die Regierungsverantwortung getragen - gab es einen Anstieg um sage und schreibe 62 %.
({1})
Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang zu fragen, welche Ideologie, welche verfehlte Familienpolitik, denn dieser Entwicklung zugrunde gelegen hat.
Meine Damen und Herren, wenn hier die Frage angesprochen wird, was Sie getan hätten, um die Sommerpause auszufüllen, dann muß ich sagen: Sie haben die Sommerpause ausgefüllt, aber mit falschen Zahlen.
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„Von 1975 auf 1976 weist die Kriminalstatistik eine Zunahme von 17,8 °/o in der Rauschgiftkriminalität bei Kindern und Jugendlichen aus." Das haben Sie, Herr Kollege Kroll-Schlüter, am 14. Juli im Pressedienst Ihrer Fraktion geschrieben. Ich habe das hier. Dann muß man einmal in die Statistik des Bundeskriminalamtes hineinschauen. Da heißt es, daß erstmals rund 4 000 beim Zoll angefallene Delikte in die Statistik hineingenommen wurden und daß sich eine echte Steigerung nicht von 17,8 °/o, sondern. von 4,4 % ergeben hat.
Aber es kommt noch schlimmer, Herr Kollege. Sie schreiben, diese Steigerung von 17,8 % sei bei den Jugendlichen aufgetreten. Bei den Jugendlichen haben wir einen Rückgang von 5,7 % zu verzeichnen.
({3})
Ich muß also eindeutig sagen: Sie haben in der Sommerpause versucht, Politik zu machen, und dabei dann noch die Zahlen der Bundesregierung und des Bundeskriminalamtes in schamloser Weise verdreht.
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Ich muß ganz ehrlich sagen: Ich halte das für dreist. Was hier von der CDU/CSU geleistet worden ist, das ist Venebelung. Ich meine, ein großer Teil der Vorwürfe gegen die Bundesregierung, die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs seien nicht effektiv, fallen in sich zusammen.
Ich will nicht verharmlosen. Doch der stetige Rückgang des Anteils Jugendlicher an Rauschgiftdelikten, der sich auch 1976 fortgesetzt hat, beweist, daß die intensiven, auf vielen Ebenen ansetzenden Maßnahmen der Bundesregierung auch Erfolge gezeitigt haben. Mein Kollege Spitzmüller ist auf die Situation in der Rauschgiftszene eingegangen.
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Ich möchte nur eines hinzufügen: Unter Fachleuten ist unumstritten, daß sich der Gesamtumfang des
Drogenmarktes in den vergangenen sieben, acht Jahren kaum ausgeweitet hat.
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Fachleute wissen, daß bei einer Zunahme des Mißbrauchs von Heroin, bei einer Stagnation des Mißbrauchs anderer Rauschmittel und bei einem Rückgang des Mißbrauchs von Haschisch vermehrte Fahndungserfolge der Polizei, für die ich an dieser Stelle auch einmal danken möchte,
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den Eindruck in der Offentlichkeit erwecken, den Sie hier versuchen zu verstärken.
Bei der Jugendkriminalität insgesamt gibt es von 1975 auf 1976 ansteigende Zahlen, und zwar eine Zunahme der tatverdächtigten Kinder und Jugendlichen von über 10 %. Das ist auf den ersten Blick besorgniserregend. Auf den zweiten Blick - das möchte ich betonen - erweist es sich jedoch als unverantwortlich und der Sache wenig dienlich, hier zu dramatisieren, wie es in Teilen der öffentlichen Meinung geschehen ist; denn es ist nicht auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich, daß diese gestiegenen Zahlen auch Ausfluß verbesserter polizeilicher Arbeitstechniken sind, verstärkter polizeilicher Tätigkeit insgesamt. Täter im kindlichen und jugendlichen Alter - darüber sind wir uns sicherlich einig, Frau Kollegin - werden übrigens häufiger als ältere gefaßt, weil es ihnen Gott sei Dank an krimineller Erfahrung mangelt.
Sie hätten bei Ihren Ausführungen zur Gesamtkriminalität aber auch sagen sollen, daß mehr als 70 % aller Straftaten von Kindern und Jugendlichen Diebstähle sind. Obwohl diese Zahlen leicht rückläufig sind, ist hier die Bereitschaft zur Anzeige, insbesondere bei Ladendiebstählen, gestiegen. Dabei sind weit mehr als die Hälfte aller Ladendiebstähle Bagatellfälle, bei denen die entwendeten Gegenstände unter 25 DM wert waren. Beim Diebstahl, so heißt es in der Statistik, ohne erschwerende Umstände in oder aus. Warenhäusern, Verkaufsräumen und Selbstbedienungsläden waren vor der Tat nur drei von zehn Tätern kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten. Ich möchte hierzu sagen - das wissen wir eigentlich alle -, daß fast alle Kinder einmal versuchen zu erproben, wo ihre Rechte aufhören und wo die Rechte anderer beginnen. Früher haben sie in Nachbars Garten Äpfel gestohlen; heute gibt es den Garten nicht mehr, und heute findet das im Selbstbedienungsladen statt. Warum muß dort in Form von Süßigkeitsfallen in Augen- und Griffhöhe der Kinder beinahe dazu verleitet werden?
({8})
Früher war eine belehrende Ermahnung die Folge, heute ist eine Anzeige die Folge.
Man kann die Zahlen von 1975 zu 1976 im übrigen nicht isoliert sehen. In den Jahren 1963 bis 1972 ist die Jugendkriminalität zwar angestiegen, danach wurde sie jedoch rückläufig, obwohl der Bevölkerungsanteil Jugendlicher weiter angestiegen ist. Dabei hat sich dann auch der Anteil Jugendlicher an den Tatverdächtigen seit 1972 verringert; das ergibt
die Häufigkeitsziffer. In diesen Zusammenhang ist diese Steigerung zu stellen.
Natürlich werden wir - da gebe ich Ihnen völlig recht - die teilweise erheblichen Steigerungen im Bereich der Gewaltkriminalität sehr sorgfältig beobachten müssen; aber wir dürfen auch nicht verkennen - das hat die Bundesregierung sehr ausführlich dargelegt -, welche Unsicherheitsfaktoren die Statistiken beinhalten; denn es werden dort nur die aufgeklärten Taten und nicht die Gesamtanzahl der Taten festgehalten.
Ich begrüße im übrigen die differenzierte Antwort der Bundesregierung zu den Ursachen der Kinder-und Jugendkriminalität. Ich muß hier auch einiges wiederholen, weil ich es für immens wichtig halte. Es ist interessant, daß das Fehlen eines Elternteils weniger schädlich als disharmonische oder unglückliche Verhältnisse in der Familie zu sein scheint. Mangelnde emotionale Bindung, insbesondere im frühen Kindesalter, negative Erfahrungen mit und in Familien, Nachbarschaft, Schule und in der weiteren Umgebung begünstigen das Entstehen von Kriminalität bei Jugendlichen und bei Kindern.
Die CDU-Forderung, mit jungen Menschen mehr nach dem Grundprinzip „Fördern durch Fordern" zu verfahren, wird durch die Bundesregierung in überzeugender Weise widerlegt. Eine Überforderung durch die Schule - ich darf das Stichwort Leistungsdruck hier einfügen -, insbesondere die falsche Reaktion auf Versagenserlebnisse bei gleichen Anforderungen und unterschiedliche Lernfähigkeit wirken kriminalitätsfördernd. Die Änderung der Lebensverhältnisse, also die Abnahme menschlicher Kontakte durch Verstädterung und häufigen Wohnortwechsel konnten wir alle nicht verhindern; es gibt hier keine Patentrezepte. Allgemeinverbindliche Wertvorstellungen sind in unserer pluralistischen Gesellschaft schwieriger zu gestalten. Das führt natürlich zu Unsicherheit und zu Orientierungsschwierigkeiten. Doch mir ist das noch lieber als von oben angeordnete, für alle verbindliche Wertvorstellungen.
({9})
In dieser Situation wird die Gesellschaft stärker gefordert, und wir sind wohl alle bereit, darauf zu reagieren. Es mutet im übrigen eigenartig an, daß bei der CDU der Staat, also diese sozialliberale Regierung, und nicht das schlechte Beispiel der Erwachsenenwelt mit materiellen Statussymbolen und der ständige Anreiz der Werbung zu Begehrlichkeit führen. Die von mir aufgezählten ungünstigen Faktoren in gebündelter Form oder für sich allein führen bevorzugt zu Kriminalität von Jugendlichen und von Kindern.
Der Konflikt mit dem Gesetz erfolgt um so leichter, wenn zusätzlich Alkohol hinzukommt. Ein Großteil aller Gewaltverbrechen, deren Zunahme wir beklagen, wird unter Alkoholeinfluß ausgeführt. Insbesondere haben die Trinkgewohnheiten der Eltern, das elterliche Vorbild, einen negativen Einfluß auf den Alkoholkonsum junger Menschen. Der Zusammenhang von Kriminalität und Alkoholismus ist hinreichend gesichert. Der Alkoholkonsum, wenn auch verlangsamt, steigt, mit seiner enthemmenden WirHeyenn
kung und damit die Schwelle zur Kriminalität herabsetzend, weiter.
Ich möchte allerdings auch die Frage in den Raum stellen, welches Ausmaß die Kinder- und Jugendkriminalität inzwischen angenommen hätte, wäre es nicht gelungen, in Teilbereichen erhebliche Erfolge zu erzielen.
Jugendkriminalität ist nicht vorrangig ein rechtspolitisches Problem. Es kommt vielmehr darauf an, den Nährboden für den Alkohol- und Drogenmißbrauch und für die Kriminalität von Kindern zu beseitigen. Die Regierung hat hier mehr als Ansätze geleistet.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Es ist viel getan worden von dieser Bundesregierung, und es wird hart gearbeitet von dieser Bundesregierung, weil noch viel zu tun ist. Polemik hilft weder der Bundesregierung noch den jungen Menschen. Übertreibungen vernebeln den wahren Sachverhalt. Unsere Jugend, meine Damen und Herren, ist besser als ihr Ruf.
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wollte der Rechtspolitiker zu den Fragen der Jugendkriminalität nur als Strafrechtler sprechen, so wäre dies eine fatale Sache; denn der Strafrechtler wird von Amts wegen ja erst zuständig, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, d. h., wenn der Jugendliche zum Delinquenten geworden ist.
So beschäftigt sich der Strafrechtler immer mit Vergangenem, das er zu beurteilen hat, das er zu sanktionieren hat. Die Zukunft gestaltet er immer nur insoweit, als er seine Maßnahmen so zu treffen versuchen kann, daß sie einer Rückfalltat entgegenwirken.
Man wird in diesem Zusammenhang das Wort Gustav Radbruchs verstehen müssen: „Das ferne Endziel ist nicht ein besserer Strafvollzug, sondern etwas, das besser ist als Strafvollzug."
Damit sind wir bei der Frage nach den Ursachen von Kinder- und Jugendkriminalität angelangt. Wer hier nicht nur auf der falschen Schiene seiner Hobbies fahren will, wird sich dieser Frage einmal ernsthaft zuwenden müssen. Dann muß allerdings das Streben, mehr zu wissen und mehr zu erfahren, im Vordergrund stehen und nicht das immer wieder deutlich werdende Bestreben, in dieser oder jener Einzelfrage der Bundesregierung am Zeug flicken zu wollen.
Es gibt ja nicht nur eine Ursache. Sie haben ganz sicher mit Ihrer Großen Anfrage etwas Wichtiges angeschnitten, das aber gleichzeitig nur einen Teilbereich herausnimmt. Kriminalität hat nicht eine Ursache und hat auch nicht - dies wäre vordergründig - Drogen und Alkohol zu einer Hauptvoraussetzung. Ich möchte vielmehr sagen -wobei die Verzahnung dieser Dinge bekannt ist -:
Kriminalität, Drogenmißbrauch, Alkoholmißbrauch sind drei nebeneinanderstehende Ursachen, die ihren Grund in einer Entwicklung haben, die allerdings tiefer liegt.
Dabei werden wir am sozialen Wandel unserer Gesellschaft nicht vorbeigehen können, der gekennzeichnet ist durch eine sprunghafte technisch-ökonomische Entwicklung, der gekennzeichnet ist durch Freizeit, die zum Problem geworden ist, durch die zunehmende Verstädterung und die unter diesen Bedingungen völlig geänderten Lebensverhältnisse.
Die ungefestigte, noch allen Eindrücken und Einflüssen offene Persönlichkeit eines Kindes oder eines Jugendlichen wird stärker als der Erwachsene von außen her geprägt. Wer mir entgegenhalten wollte, daß wir Verstädterung und vieles, was ich genannt habe, natürlich schon länger kennen, dem muß ich sagen, daß erstmals zu Beginn der 60er Jahre die aufgezeigte Entwicklung auf junge Menschen traf, die die teilweise gegenläufigen Anstöße der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht mehr bewußt erlebt haben.
Der technische Wandel wird etwa - ich kann das nur punktuell aufzeigen - deutlich an der Bedeutung des Fahrzeugs in unserer Gesellschaft, vom Fahrrad über das Moped und Motorrad bis hin zum Pkw. Dementsprechend hat sich auch die Kriminalität orientiert. Wir haben 1975 fast eine Million Fahrzeugdelikte zählen können, und dabei sind die zahlreichen Verkehrsdelikte noch gar nicht inbegriffen. Diese fast eine Million Delikte sind nahezu ein Drittel aller überhaupt bekanntgewordenen Straftaten.
Wir haben das Freizeitproblem, das sich früher nicht gestellt hat, weil in der agrarischen Gesellschaft, aber auch in der städtischen Industriegesellschaft Jugendliche, ja bereits Kinder sehr frühzeitig genötigt waren mitzuverdienen. Freizeit - das war kein Problem, sondern für die meisten jungen Leute ein Wunschtraum.
Wir haben heute die verlängerten Ausbildungszeiten. Früher ging die Kindheit ohne ausgeprägtes Jugendalter in die Zeit des Erwachsenseins über. Das ist heute völlig anders. Die. verlängerten Ausbildungszeiten tragen dazu bei, daß viele junge Menschen in unserem Lande nahezu künstlich realitätsfern gehalten werden. Von daher tauchen kriminalitätsbezogen auch besondere Probleme auf.
Die Zusammenballung, die Verstädterung - das ist das Zusammenleben vieler Menschen in Großstädten, aber es ist auch das Übergreifen städtischer Lebensformen auf das Land -, diese soziale Übervölkerung, die wir bei uns zu verzeichnen haben, erzeugt Streß, sie bewirkt Aggressivität, die sich gerade auch beim jungen Menschen niederschlägt; nach innen in Neurosen und Depressionen, nach außen in Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Gewalttätigkeiten aller Art, wie wir sie kennen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden flüchtiger, die Anonymität bewirkt Gleichgültigkeit zwischen den Menschen. Vor allem fehlt die soziale Kontrolle, die früher immer wirksamer war als die vorbeugende Arbeit der Polizei, nämlich die
informelle soziale Kontrolle durch die Familie, durch die Nachbarn, durch das überschaubare soziale Umfeld.
Dabei sind wir auf die Gastarbeiterkinder noch gar nicht eingegangen. Was uns hier an künftiger Jugendkriminalität ins Haus steht, davor kann einem schaudern. Ein Blick in die USA zeigt, was aus einer mangelhaft eingegliederten zweiten Generation von Einwanderern werden kann.
Am Beispiel des Ladendiebstahls ließe sich deutlich machen, wie sich der soziale Wandel auswirkt. 1963: 40 000 Fälle, 1975: das Sechsfache mit 240 000 Fällen. Interessant ist dabei, daß fast die Hälfte der ermittelten männlichen Täter bei diesem Delikt im Jahre 1975 unter 21 Jahren alt war. Wenn man jetzt die Frage nach dem Warum stellt, so ist es - moralisch gesehen - nicht nur die materielle Begehrlichkeit. Nein, es ist mehr: die neuen Vertriebsformen in großen Warenhäusern, Selbstbedienungsläden, auch Münzautomaten. Wer im Tante-Emma-Laden eine alte Frau bestiehlt, dem stehen moralische Hemmnisse entgegen, nämlich einen Menschen zu schädigen, den er vielleicht selbst kennt, der vielleicht mit seiner Familie bekannt ist. All das fällt bei den nur in Ballungsräumen möglichen neuen Vertriebsformen weg.
Ich muß zum Schluß kommen. Wir werden an dieser Analyse nicht vorbeigehen können. Wir werden die Erscheinungen sicherlich nicht hinnehmen wie Pest und Cholera zu einer Zeit, als man deren Erreger noch nicht kannte. Wir werden uns bemühen müssen. Durch die Analyse ist meines Erachtens - jedenfalls im Ansatz - eine wenn auch schwierige Therapie vorgegeben, der Anonymität, den kriminalitätsfördernden Bedingungen unserer sozialen Umwelt Individualität entgegenzusetzen, Erziehung im Sinne individueller Zuwendung. Das wird dann letztlich auch auf den Staat zutreffen, der sich nicht nur als die Summe aller Ansprüche seiner Bürger an ihn verstehen darf, sondern als ein Gebilde, das vor allem auch die Verantwortlichkeit aller gegenüber dem Staat umfaßt. Dies wird uns für die Zukunft vieles abnötigen. Dies ist eine schwere Aufgabe; wir werden sie nur bewältigen können, wenn wir nicht vordergründig auf der Oberfläche herumplätschern,
({0})
sondern erkennen, was uns an Belastungen bei der Bewältigung dieses Problems vorgegeben ist.
({1})
Das Wort hat Frau Bundesminister Huber.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Ich möchte nur einige wenige Bemerkungen zu einigen Punkten machen, die in der heutigen Debatte aufgekommen sind. Zunächst möchte ich mich bei Herrn Geisenhofer für den Appell an die Länder recht herzlich bedanken, daß wir mehr Unterlagen und Zahlen bekommen. Dasselbe gilt auch für den Herrn Kollegen Braun. Wir haben vorgestern auf der Gesundheitsministerkonferenz in Berlin in dem Bericht der Bundesregierung über diese Große Anfrage berichtet und die Probleme dargestellt. Auch uns liegt daran, mit den Ländern gut zusammenzuarbeiten.
Nun möchte ich noch etwas auf den Alkoholverbrauch eingehen. Herr Geisenhofer, aber auch Frau Geier und Herr Braun haben in ihren Ausführungen erklärt, der Alkoholverbrauch sei in den letzten Jahren gestiegen. Ich möchte noch einmal deutlich sagen, daß er laut Statistik seit dem Jahre 1975 rückläufig ist. Der tägliche Konsum geht nach einer Untersuchung des Allensbacher Instituts im Vergleich des Jahres 1973 zu 1976 bei Bier von 29 auf 20 %, bei Wein von 6 auf 3 % und bei Spirituosen von 5 auf 3 % zurück. Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik in der Mitte, aber ich wiederhole: über den Alkoholismus sagt das überhaupt nichts aus. Ich stelle nochmals fest, daß die größten Steigerungsraten sowohl in bezug auf den Alkoholkonsum als auch in bezug auf den Alkoholismus im Mehrjahresvergleich bis zum Jahre 1965 zu verzeichnen gewesen sind. Mit welcher Ideologie bitte wollen Sie das nun begründen? Sie sehen, wohin man mit einer solchen Argumentation kommt.
Frau Geier beklagte die Verwirrung und Diskriminierung, die durch unsere Emanzipationsbestrebungen unter dem Schlagwort „vom Heimchen am Herd zur Karrierefrau" stattfänden. Dies ist ja eine kolossale Verwirrung hinsichtlich des Begriffs Emanzipation und der gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten.
({0})
Die Bundesregierung plädiert weder für das „Heimchen am Herd" noch für das Modell Karrierefrau. Emanzipation ist nicht identisch mit Berufstätigkeit. Aber wir wollen die für die nicht einfache Lebensbewältigung durch Bildung und Ausbildung genügend ausgerüstete und für Gesellschaftsprobleme aufgeschlossene Frau. Wer anders soll denn wohl die nächste Generation, die Kinder, für diese komplexe Welt erziehen? - Das gilt auch für die Väter, nicht nur für die Mütter.
({1})
Die These, der steigende Jugendalkoholismus sei auf Emanzipationsbestrebungen zurückzuführen, ist doch lächerlich. Emanzipation hilft doch gerade, Probleme zu lösen. Das gilt auch für die Familie. Wir schätzen die Familie in ihrem Stellenwert sehr hoch ein. Wir halten sie F r die allerwichtigste Gruppe in unserer Gesellschaft und beurteilen sie, wie wir mehrfach bekundet haben, in keiner Weise negativ. Die heute debattierte Problemstellung richtet sich sehr ernst auch an die Familie. Ich habe dargelegt, wieviel sich hier in der Privatsphäre vollzieht.
Materielle Hilfe richtet hier sehr wenig aus. Es geht nicht um die sozial schwache Familie, eben nicht um Elendskonsum; deshalb unser Modell der Stärkung der Erziehungskraft der Familie und unsere Aufklärungsbemühungen. Weder die Familie noch der Staat sind negativ zu apostrophieren. Wir
bemühen uns um Hilfen für die Familie. Ebenso bemühen wir uns um diesen unseren freiheitlichen, sozialen Rechtsstaat, für den wir alle Anstrengungen unternehmen und den wir in schweren Zeiten mit allen Mitteln verteidigen.
({2})
Zuletzt will ich eine Bemerkung zu der Forderung machen, ich sollte bitte die Richtlinien für die Schulpolitik setzen. Dies kann, finde ich, doch nur in einer für einen Bundestagsabgeordneten allerdings erstaunlichen Unkenntnis unserer Verfassung begründet sein.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Schluß der Debatte darf ich mit einer gewissen Befriedigung meiner Auffassung Ausdruck geben, daß der Versuch, mit der Form dieser Debatte, die wir heute gewählt haben, durch eine größere Zahl von Kurzbeiträgen die Beratung anzuregen und lebendig zu gestalten, gelungen ist.
({0})
- Vor leider leerem Hause, Herr Wehner, haben wir das vorexerziert, und ich hoffe, daß dieses Beispiel für die künftigen Debatten nutzbar gemacht wird.
({1})
Denn zu viele allzu lange Reden sind der Lebendigkeit einer Auseinandersetzung hinderlich. Insoweit war das ein Erfolg.
({2})
Meine, Damen und Herren, ich möchte kurz zusammenfassen - auch mir bleiben ja jetzt nur zehn Minuten -:
({3})
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU ist zwar ausführlich, läßt aber allzu viele Fragen offen. Sie weicht ungelösten Problemen aus, und sie kann deshalb in dieser Form nicht befriedigen;
({4}) viele Materialien, aber leider wenige Impulse.
({5})
Frau Minister, Sie sprachen von „nur 0,2 %" Behandlungsbedürftigen. Abgesehen von der großen Dunkelziffer in diesem Bereich müssen wir dazu natürlich sagen, daß hinter diesen 0,2 % viele, viele Einzelschicksale stecken und daß wir enorme Summen für die Rehabilitation in jedem Einzelfall ausgeben müssen.
Überhaupt zu diesem Streit um Zahlen: Medien, Ärzte, die Hauptstelle und alle freien Träger schildern die Drogenszene übereinstimmend sehr viel
kritischer, als Sie, Frau Minister, die Dinge heute dargestellt haben.
Herr Kuhlwein, es ist nicht so, daß wir an die Machbarkeit aller Dinge - und womöglich noch durch den Staat - glaubten. Wir sind nicht staatsgläubig. Was wir hier und heute fordern, ist eben Hilfe zur Selbsthilfe,
({6})
ist eben, daß jene Kräfte draußen gestärkt werden, die vor Ort die Einzelarbeit leisten. Und in Ihrem Ministerium sitzt ein Herr Kosmale, der mit der Unterstützung der freien Träger nicht so einverstanden ist, der einmal gesagt hat, die privaten Träger seien zwar weiterhin in der Sozialarbeit präsent, seien aber - so wörtlich - nur noch gesellschaftspolitische Verspätungserscheinungen. Kosmales Prognose heißt eindeutig: Im Wettlauf der Qualität gewinnt der Staat.
({7})
Wir sind nicht dieser Auffassung. Gerade in diesem Bereich kann der Staat eben nicht alles leisten
({8})
und müssen eben die freien Kräfte ihren Auftrag erfüllen.
Herr Kuhlwein, was verstehen Sie denn unter „Familienideologie"? Erziehung ist Vorbild und Liebe; das ist und bleibt eine Realität. Wer hier von Ideologie spricht, stellt die Dinge auf den Kopf.
({9})
Herr Amling, es ist parlamentarisch ungewöhnlich: Sie haben in Ihrer Rede Namen von Personen genannt, die Spenden geben. Diese Männer können sich hier nicht wehren.
({10})
- Aber wir haben Gelegenheit, mit Kosmale zu diskutieren. Er ist ein leitender Beamter des Ministeriums, und er ist Manns genug.
({11})
Er hat mich auch mehrfach in der Presse angegriffen.
({12})
- Ich sehe, daß Sie Zwischenfragen stellen wollen, möchte darauf aber nicht eingehen, um die Zeit nicht zu überschreiten.
({13})
- Nicht aus der Zeit des Ministeriums, aber er ist in diesem Ministerium, und er hat dies gesagt.
({14})
Meine Damen und Herren, unser Entschließungsantrag nennt Maßnahmen, die erforderlich und möglich sind, um die Rauschgiftsucht besser zu bekämp4348
fen. Im Laufe der letzten Jahre hat das Drogenproblem in Deutschland eine Differenzierung erfahren. Ein deutlicher Trend zu harten Drogen ist feststellbar. Die Jugendlichen sind risikofreudiger geworden. Sie werden schneller aggressiv und sind oft auch rehabilitationsunwillig. Beobachtet wird auch eine soziale Umschichtung der Drogenszene. Arbeitslosigkeit, Engpässe bei der Studienzulassung und wirtschaftliche Rezession haben die pessimistische Grundhaltung vieler Jüngeren verstärkt. Sie führte auch zu einer wachsenden Suchtbereitschaft. Die zunehmende Rehabilitationsunwilligkeit behindert leider auch die Heilung. Denn es kann vor allen Dingen in diesem Bereich nur dem geholfen werden, der sich helfen lassen will.
Auch über die Frage nach den tieferen Ursachen der Drogenausbreitung hätte man heute vielleicht etwas breiter reden müssen. Herr Engelhardt, Sie haben dankenswerterweise dieses Problem sehr gründlich angesprochen. Hier gibt es leider Gottes auf zu viele Fragen noch keine Antwort. Die Suchtkrankheiten stellen nicht nur Ärzte, sondern vor allen Dingen auch die Eltern vor große Probleme. „Was haben wir bloß falsch gemacht?" fragte die Mutter eines Freiburger Mädchens, deren Kind in die Drogenszene stolperte, unlängst in der „Badischen Zeitung". Hilflosigkeit, Ohnmacht bei den Eltern gegenüber der Drogenabhängigkeit der eigenen Kinder - das ist kein Einzelfall. Wie aber kann man den Eltern helfen? Was ihnen raten, wenn Jugendliche Hilfe nicht annehmen und die Eltern erkennen müssen, daß es in einem freiheitlichen Staat fast unmöglich ist, jemanden davon abzuhalten, sich freiwillig zu ruinieren.
Das Institut für Gesundheitserziehung in Stuttgart berichtet von einer Zunahme gesundheitlicher und seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Dies ist eine neue Untersuchung. Drogenkonsum, so sagt dieses Institut, sei ein Signal für eine allgemeine Überstimulierung. Eine Überprüfung der Lebensinhalte, so wird gefordert, in Erziehung, Familie, Kindergarten und Schule sei dringend. Im Dritten Jugendbericht lesen wir, daß 49 % der Kinder verhaltensgestört seien. Die Zahl der Kinder, so heißt es dort, die wegen Schulschwierigkeiten dem Psychologen vorgestellt werden - dies schreibt der Heidelberger Psychologe Müller-Küppers - habe stark zugenommen. 1969 war es jedes zwölfte, 1966 jedes achte, 1975 jedes dritte Kind. Verhaltensstörungen bedeuten aber immer Aggressionen oder Entmutigungen oder beides.
Deshalb ist es wichtig, Eltern und Schule in den Stand zu setzen, die Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu befriedigen, damit sie zur Entfaltung ihrer Person fähig werden, auch dazu, sich selbst zu behaupten, und daß sie fähig werden, Spannungen, Belastungen und Streß zu ertragen. Eine Erziehung, die jeden Zwang verteufelt, keine Sorgen annehmen will und den Menschen am liebsten stets das machen läßt, was er will, fördert die Bereitschaft, sich mit chemischen Mitteln ein vermeintliches Glück zu beschaffen. Diese Mittel aber sind keine Problemlöser. Die Menschen werden von den Drogen betrogen.
Was können wir tun? Wir können wenigstens bekannte Mängel beseitigen. Einige Beispiele! Ein leitender Arzt eines Landeskrankenhauses sagte mir, es müßten mehr offene Heilstätten zur Verfügung gestellt werden, damit die langen Wartezeiten der Behandlungswilligen wegfielen. Er fordert, daß die Kostenfrage für Heilverfahren in spätestens vier Wochen geklärt werden, statt wie bisher in vier bis sechs Monaten. So könne man erreichen, daß ein Behandlungswilliger nach kurzer Entgiftung in einem Krankenhaus in eine offene Heilstätte verlegt werde. Der Wegfall der langen Wartezeiten wäre kostensparend. Denn viele Kranke warten heute monatelang daheim auf Heimbestellung. Sie beziehen Krankengeld. Sie trinken weiter und ruinieren ihre Gesundheit vollends.
Rentenversicherungsträger gewähren stationäre Heilbehandlung für Suchtkranke nur unter bestimmten Voraussetzungen. Da bei diesen Krankheitsformen die Beurteilung der Erfolgsprognosen besonders schwierig ist, haben die Rentenversicherungsträger ein Auswahlverfahren für Drogensüchtige erarbeitet. Die Folge: Streit der Kostenträger, lange Wartezeiten.
Oft bleibt der Kranke auch ohne Nachsorge. Für den Alkoholkranken heißt Heilung totale Abstinenz. Der heilungswillige Suchtkranke aber wird oft durch ein Gläschen unter Kollegen in Rückfallgefahr gebracht.
Mängel gibt es auch in der ambulanten Behandlung. Eine Nervenärztin, die ambulante Langzeitbehandlungen durchführt, weist darauf hin, daß sie die Patienten geistig und körperlich aufbauen müsse. Diese Behandlung dauere lange und sei teuer. Es gebe ständig Schwierigkeiten mit den Krankenkassen.
Professor Keup, ein erfahrener Arzt, fordert vor allem eine Verbesserung der Früherkennung und Frühbehandlung. Er verschweigt nicht manche ungelösten Fragen hinsichtlich der ambulanten . sowie der Art und des Ausmaßes der stationären Behandlungen. Meine Damen und Herren, wir fordern eine bessere Unterstützung der freien Aktivitäten, auch der neu sich bildenden Vereinigungen von Eltern.
Ich komme zum Schluß.
({15})
- Sie bringen mich mit Ihren Zwischenrufen nicht durcheinander. ({16})
Auch wir kennen keine Patenlösungen, aber wir haben in unserem Entschließungsantrag eine Reihe von Forderungen aufgestellt, und wir haben Mängel aufgezeigt. Zu deren Beseitigung, meine Damen und Herren, sind wir alle aufgerufen.
Ich beantrage Überweisung dieses Entschließungsantrages an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit - federführend - und an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - mitberatend -.
({17})
Wir kommen nun zur letzten Wortmeldung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schwenk ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion schließt sich dem Antrag auf Überweisung dieses Entschließungsantrags an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit - federführend - und an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - mitberatend - an. Allerdings sind wir der Auffassung: So erheblich Neues bringt dieser Antrag nicht. Denn vieles von dem, was Sie dort aufgeführt haben, ist bereits Inhalt des gemeinsamen Programms von Bund und Ländern. Das bedeutet zwar nicht, daß das in Ihrem Ausschuß nicht alles noch einmal beraten werden kann, aber es sollte doch nicht der Eindruck entstehen, als ob sich die Bundesregierung nicht schon längst Gedanken darüber gemacht hätte und erst von Ihnen auf die Sprünge gebracht werden müßte. So ist es ja nun weiß Gott nicht.
({0})
Weiter darf ich hier noch sagen: Das Bundesministerium ist von Ihnen, Herr Burger, gerügt worden, es tue nichts für die freien Träger. Offensichtlich gibt es einige Kollegen, die den Bundeshaushaltsplan nicht kennen, weil er so umfangreich ist. Ab und zu sollte man da doch einmal hineinsehen. Dann würde man feststellen, daß ein wesentlicher Teil der Mittel dieses Ministeriums dafür zur Verfügung gestellt wird, gerade die freien Träger zu unterstützen und in die Lage zu versetzen, ihre Arbeit zu leisten. Es ist also nicht richtig, wenn behauptet wird, es würde in diesem Bereich nichts getan.
({1})
Es soll hinsichtlich der Frage des Alkoholismus und der Kriminalität von Jugendlichen nichts beschönigt, nichts verschwiegen werden. Ich bin dem Kollegen Engelhard sehr dankbar dafür, daß er auf die schwierige Lage der Gastarbeiterkinder hingewiesen hat, die nun in ein Alter hineinwachsen, in dem sie auch ihre Lebensrechte haben wollen, die nicht verweigert werden können. Auch das wird dieses Haus noch beschäftigen müssen. Aber man wird in bezug auf die Jugend allgemein nicht sagen können, daß sie keine Aussichten, daß sie keine Orientierungspunkte, daß sie keine Hoffnungen habe und daß letztlich der Staat, wie Herr KrollSchlüter gesagt hat - das, was er gesagt hat, steht ja noch im Raum -, diese Jugend der Eigenverantwortlichkeit beraube, ihr gewissermaßen überhaupt nichts übriglasse. Das sind doch Märchen.
Es hat in der Bundesrepublik noch zu keiner Zeit so viel Geld für Maßnahmen zur Förderung der Jugend gegeben, ob Sie nun die Jugendpflege, den Sport, die Bildung und anderes betrachten. Ich darf nur auf die sich jährlich steigernden Zahlen im Bundeshaushalt hinweisen. Gerade der Sport z. B. hat hier eine wichtige Aufgabe, Jugendlichen ein Betätigungsfeld zu zeigen, auf dem sie sich üben, ihre Kräfte erproben und auch einmal austoben können.
Im Mannschaftssport ist es ja so: Wenn da einmal einer tüchtig eineinhalb Stunden Fußball gespielt hat, dann hat er seine Erlebnisse gehabt. Dann braucht er nicht zur Flasche zu greifen. Daß er hinterher einmal ein Bier trinkt, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, ist eine ganz andere Frage.
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- Zur Empfehlung weitergegeben. - Jugendreisen, Ferienmaßnahmen und immer weiter steigende Freizeitbeschäftigungsmöglichkeiten sind gegeben. Wer mit offenen Augen durch unsere Welt geht, kann das sehen. Die Gründe für Jugendalkoholismus liegen auf anderen Gebieten.
Ich habe kürzlich etwas in einer Zeitung gelesen. Ihr Vorsitzender ist gerade nicht anwesend; er war vorhin kurz im Raum. Er schreibt ja in dieser Zeitung auch Kolumnen. In dieser Zeitung stand auf der Seite für die Jugend:
Taschengeld kurbelt die Wirtschaft an. Teens und Twens haben jährlich über 30 Milliarden zur Verfügung. Es wird ausgegeben für Schallplatten, Reisen, Freizeitartikel, Lesestoff, Tabakwaren, und schließlich werden ausgegeben für Alkohol fast 440 Millionen DM.
Dann kam noch ein Nachsatz:
Wer finanziell nicht mithalten kann, ist schnell im Aus. Bald wird die Freizeit zur Langeweile, und dann greift man zur Flasche.
Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur dieses Haus. In meiner Heimatgemeinde hat kürzlich eine Podiumsdiskussion stattgefunden. Daran haben ein Familienrichter, ein höherer Offizier der Bundeswehr und ein Pastor teilgenommen. Sie haben vor allem darauf hingewiesen, daß stärker bei der Erziehung, bei der Familie anzusetzen sei. Der Familienrichter hat gesagt: Wenn Ehepartner nur ihre Steuerklassen und ihren gemeinsamen Verdienst zusammenwerfen, reicht das nicht aus. Er hat hinzugefügt, in der Familie müsse Liebe vorgelebt werden. Der Bundeswehroffizier hat erklärt: Wir müssen in der Familie wieder erziehen. Das war ein deutlicher Aufruf an die Familien, sich ihrer Aufgabe stärker bewußt zu werden, als es leider manchmal der Fall gewesen ist. Dabei können wir den Familien helfen. Über den Teil der Großen Anfrage, in dem von Elternbriefen, von Modellversuchen die Rede ist, Eltern zum Teil zusammen mit Kindern in eine neue Erziehungswelt hineinzuführen, ist hier überhaupt nicht gesprochen worden, vielleicht deshalb, weil das auf den letzten Seiten der Antwort steht. Ich halte das für sehr wichtig. Ich habe in Programmen von Volkshochschulen gesehen, daß dies jetzt sehr breit angeboten wird. Ich hoffe, daß es auch angenommen wird; denn wir wollen verstärktes Engagement bei unseren Bürgern sehen. Es wäre gut, wenn diese Dinge breit aufgegriffen würden.
Wenn in der Familie wieder gesprochen wird, wenn wieder mit den Kindern gesprochen wird und die Kinder frühzeitig in den Dialog mit den Eltern
Dr. Schwenk ({3})
einbezogen werden, dann wird die Lage erheblich besser werden, als sie zur Zeit ist.
Wir haben, nicht nur um gestörte Familienverhältnisse zu verbessern, das Adoptionsrecht verbessert. Kinder können jetzt frühzeitiger auch von jüngeren Leuten adoptiert werden. Früher schon ist beim Nichtehelichenrecht die Halbfamilie besser weggekommen. Der Makel, ein nichteheliches Kind zu sein, spielt in dieser Gesellschaft nicht mehr die Rolle wie früher. Wir wissen, daß früher mancher daran zerbrochen ist. Wir wollen mit der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge die Eltern dazu anhalten, das Gespräch, das Entscheidungsgespräch mit den Kindern zu suchen. Kinder sollen im Falle des Auseinanderbrechens der Familie nicht mehr gegen ihren Willen zu dem Elternteil, den sie nicht bevorzugen, gebracht werden. Wir wollen vor allem dadurch, daß das Verschuldensprinzip entfallen soll, auch verhindern, daß Pflegekinder aus der Pflegestelle gerissen werden, wenn Eltern, die lange von ihnen nichts haben wissen wollen, auf einmal ihre Liebe entdecken. Denn auch das sind Problemkinder, die der Alkohol- und Drogensucht stark ausgesetzt sind.
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Es ist geradezu ein Bonbon, daß in einem früheren Text einmal das Wort „Fremdbestimmung" gestanden hat. Dieser Bonbon wird immer wieder hervorgeholt, obwohl der Bundesjustizminister mehrfach laut und deutlich gesagt hat: Das ist irgendwie hineingekommen; es wird nicht von uns getragen. Manche glauben darauf nicht verzichten zu können. Es gilt für uns nicht mehr. Die Entwicklung ist weitergegangen. Für uns gilt die Vorlage, die wir in dieses Haus eingebracht haben. Ich wünsche mir, wenn wir zu den weiteren Beratungen kommen, daß auch Sie das einmal anders sehen, nämlich von der Seite des gefährdeten Kindes aus, nicht von der Familie her, die intakt ist; denn gegen die intakte Familie wendet sich keiner. Die Konflikte, die in der Familie zu bewältigen sind, kommen von außerhalb. Denken Sie nur an die Werbung, wieviel Schwierigkeiten Eltern mit ihren Kindern haben, zu vernünftiger Geldeinteilung zu kommen, wenn der 'Konkurrenzkampf einsetzt, wer denn mehr zur Verfügung hat. Konflikte sind überall, auch in der Familie, vorhanden, auch in der gesunden Familie. Die gesunde Familie zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Konflikt bewältigt. Herr Hasinger, auch das ist ein Thema für diese Debatte, die Konfliktbewältigungsfähigkeit.
Die Zeit läuft schnell, daher nur noch einige Stichworte: Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat einen Forschungsauftrag vergeben, im Rahmen dessen jetzt Ergebnisse über den Schulstreß vorliegen. Wir müssen in die Forschung eintreten:
Kommt der Schulstreß nur aus der Schule, ist er nicht gesamtgesellschaftlich begründet? Müssen wir in unseren Schulen die Inhalte überprüfen? Welche Hilfen können wir geben, daß das besser bewältigt wird?
Die Bundesregierung hat viel getan, um Ausbildungsnot, Arbeitsplatznot zu bewältigen, damit auch der Letzte eingegliedert werden kann. Fortschritte sind erzielt worden. Ich kann das jetzt nicht im einzelnen aufzählen. Ich bin all denen dankbar, die in diesem Jahre dazu beigetragen haben, daß zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt worden sind, damit wir unsere Jugendlichen unterbringen können. Das bedeutet die Eingliederung, das bedeutet, allen auch ein berufliches Ziel zu geben.
Liberalität in diesem Staat bedeutet, mit der Freiheit etwas anzufangen. Es wird viel geboten. Die Bürger sollen zugreifen. Ich denke auch daran, daß viel getan worden ist, die Städte in ihrem Erscheinungsbild zu verbessern. Stadtsanierung ist nicht ein Wort geblieben, sondern zur Tat geworden. Die Lebensumwelt ist verbessert worden. Bei vielen Städten lohnt es sich jetzt, sie zu bewohnen. Auch dies ist eine Hilfe für Jugendliche, daß sie nicht in einer trostlosen Umwelt aufwachsen.
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Dort bleibt noch viel zu tun. Aufgaben müssen auch in der Zukunft für alle bleiben. Die Richtung haben wir gewiesen. Geben Sie also bitte nicht die Schuld einer angeblich nicht arbeitenden Bundesregierung, sondern sehen Sie, was getan worden ist, und helfen
Sie mit, ein positives Engagement für diesen Staat sicherzustellen!
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir haben noch den Entschließungsantrag des Abgeordneten Kroll-Schlüter und Fraktion der CDU/ CSU auf Drucksache 8/1144 zu überweisen. Vorgeschlagen ist die Überweisung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit - federführend - sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Ist das Hohe Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein für Mittwoch, den 23. November 1977, 13 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.