Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
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Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen den Tod unseres Kollegen Heinrich Reichold bekanntzugeben. Wir sind bestürzt über die Plötzlichkeit, mit der er aus unserer Mitte gerissen worden ist. Heinrich Reichold starb am 2. Oktober 1979. Er hat vor knapp einem Jahr die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Er wurde am 18. Juli 1930 in Mudau/Baden geboren. Nach dem Schulbesuch arbeitete er in der Bundeswehrverwaltung, der er bis zu seinem Eintritt in den Deutschen Bundestag angehörte.
Heinrich Reichold fühlte sich seit frühester Jugend der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft eng verbunden. In der christlichen Gewerkschaftsbewegung, im Deutschen Familienrat und im Stadtrat seiner Heimatgemeinde Roding in der Oberpfalz arbeitete er mit höchstem persönlichem Einsatz, getragen von christlichem Verantwortungsbewußtsein.
Während der kurzen Spanne seiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag engagierte sich Heinrich Reichold vor allem auf dem Gebiete der Familienpolitik. Er hat sich den brennenden Fragen und Problemen der Familie und der Jugend mit großer innerer Anteilnahme und starkem Verantwortungsbewußtsein verpflichtet gefühlt. Sein abgewogenes Urteil und seine Sachkenntnis fanden den Respekt aller in diesem Hause.
In seiner politischen Arbeit verstand sich Heinrich Reichold immer als Anwalt seiner Mitmenschen. Diesem Grundsatz ist er bis zuletzt treu gebelieben. Er hat sich unter Hintanstellung persönlicher Belange und seiner Gesundheit für seine Mitmenschen eingesetzt aus christlich verstandener Nächstenliebe.
Ich habe am Grabe unseres Kollegen in Roding einen Kranz niedergelegt und seiner Frau und seinen zwölf Kindern unsere Anteilnahme ausgesprochen.
Ich spreche der CDU/CSU-Fraktion meine aufrichtige Anteilnahme aus. Der Deutsche Bundestag
wird Heinrich Reichold ein ehrendes Gedenken bewahren.
Als Nachfolgerin für unseren verstorbenen Kollegen Reichold hat am 4. Oktober 1979 die Abgeordnete Frau Männle die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße sie herzlich in unserer Mitte und wünsche ihr eine gute und erfolgreiche Arbeit.
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Am 7. Oktober hat die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Annemarie Renger, ihren 60. Geburtstag gefeiert. Auch an dieser Stelle, Frau Kollegin Renger, nochmals unsere herzlichsten Glückwünsche.
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Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1979 ({3})
- Drucksachen 8/3099, 8/3240 Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
- Drucksache 8/3241 - Berichterstatter:
Abgeordnete Metz, Dr. Bußmann, Gärtner, Dr. Riedl ({5}), Grobecker, Glos, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Dr. Rose, Esters, Frau Traupe, Dr. Dübber, Augstein, Löffler, Hoppe, Schmitz ({6}), Simpfendörfer
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Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache und die Einzelberatung. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
13906 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Die Verabschiedung des zweiten Nachtrages zum Haushaltsgesetz 1979, nur wenige Wochen nach der Einbringung im Bundestag, ist ein weiterer Beweis dafür, daß sich das Institut des Nachtragshaushaltes bewährt hat und daß es geeignet ist, auch bei Mehrausgaben, die unabweisbar und unvorhersehbar waren, eine schnelle und zügige Beratung und dabei auch gleichzeitig die Kontrolle durch das Parlament sicherzustellen.
Die beiden Nachträge des Jahres 1979 wie aber auch der Nachtrag zum Haushalt 1978 haben zugleich den Beweis erbracht, daß das Parlament und seine Ausschüsse in der Lage sind, auch innerhalb kürzester Zeit Regierungsvorlagen zu prüfen und Alternativen zu erarbeiten und durchzusetzen.
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Es muß daher für die Zukunft erwartet werden, daß keine Regierung, welcher politischen Färbung auch immer, unter dem Vorwand einer unabweisbaren Notwendigkeit versucht, am Parlament vobei Beträge in Milliardenhöhe auszugeben. Wenn ich davon spreche, weiß ich und erinnere daran, daß es Bundeskanzler Schmidt in seiner damaligen Eigenschaft als Finanzminister war, der Milliardenbeträge am Bundestag vorbei in einer Nacht-und-NebelAktion unter die Leute gebracht hat.
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Es war das Bundesverfassungsgericht, welches auf Grund der Anrufung durch die Opposition der Regierung und dem Bundesfinanzminister bescheinigen mußte, das eine solche Handlungsweise ein eklatanter Verstoß gegen die Verfassung und vor allem eine Verletzung eines ureigensten Rechtes dieses Bundestages ist.
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- Insofern ist es eigentlich, wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, meine Damen und Herren, ein parlamentarisches Trauerspiel, daß wir uns nicht einmal in einer solchen Sache einig sind, nämlich einig in der Abwehr des Versuches der Regierung, am Haushaltsrecht des Bundestages vorbei Ausgaben durchzusetzen.
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- Das war eine Nacht-und-Nebel-Aktion! Man kann es aber auch als eine Weihnachtsgabe besonderer Art ansprechen, jawohl.
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- Herr Wehner, regen Sie sich nicht auf. Meine Damen und Herren, die Beschleunigung des Verfahrens bei der Verabschiedung der Nachtragshaushalte hat sich bewährt. Sie zieht ganz enge Grenzen für das Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers und der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, der zweite Nachtrag trägt, wie seine Vorgänger aus dem Jahre 1978 und der erste Nachtrag des Jahres 1979, die Handschrift des Parlamentes und des Haushaltsausschusses. Im vergangenen Jahre bereits wollte der Bundesfinanzminister den Nachtrag zum Haushalt zu zwei Dritteln durch höhere Verschuldung finanzieren. Erst der Haushaltsausschuß und das Parlament haben dies verhindert; sie haben zusätzliche Einsparungen beschlossen und dadurch eine weitere Erhöhung der Nettokreditaufnahme verhindert. Der Haushaltsausschuß und das Parlament haben dafür gesorgt, daß bei den Beratungen des Haushaltsplanes 1979 die Nettokreditaufnahme wesentlich gesenkt werden konnte. Weitergehende Vorschläge der CDU/CSU wurden leider von der Koalition abgelehnt, sonst wäre wahrscheinlich die Signalwirkung noch größer gewesen, zumindest so deutlich, daß der Bundesfinanzminister hätte merken können und merken müssen, daß ein immer größer werdender Teil, der nachdenkliche Teil dieses Hauses, der unverantwortbaren Schuldensteigerung einen Riegel vorschieben will.
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Unsere wiederholten Forderungen bei den Haushaltsberatungen 1979 und auch beim Nachtrag, Ausgaben zu kürzen, verehrte Frau Kollegin Steinhauer, gerade bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht weil wir der Bundesanstalt für Arbeit etwa nicht zukommen lassen wollen, was ihr zusteht, sondern weil schon zu einem früheren Zeitpunkt des Jahres 1979 erkennbar wurde, daß die Bundesanstalt dieser Zuschüsse nicht bedarf -, haben un-verständlicherweise ganz erheblichen Widerstand beim Arbeitsminister, beim Finanzminister, aber zum Teil leider auch bei den Koalitionsparteien SPD und FDP gefunden. Auch das muß man hier festhalten. Diese schrittweise Kürzung dieser Zuschüsse in den Haushaltsberatungen des zweiten Nachtrags zeigen deutlich, daß das Parlament hier eigentlich selbstbewußter sein und über Parteigrenzen hinweg für Haushaltsklarheit und -wahrheit sorgen sollte.
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Selbst den zweiten Nachtragshaushalt wollten der Bundesfinanzminister und die Bundesregierung zunächst durch Neuverschuldung finanzieren.
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- Lesen Sie einmal die Verlautbarung vom 5. Juli nach.
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Ich erinnere daran, daß der Vorsitzende des Haushaltsausschusses noch am 30. August eine Anfrage an die Regierung gerichtet hatte und die Antwort erhielt,
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daß man über die Mehreinnahmen aus den Steuern und über mögliche weitere Einsparungen noch nicht abschließend befunden habe. Ich kann Ihnen also nachweisen, daß der Bundesfinanzminister den zweiten Nachtrag noch am 5. Juli durch zusätzliche Kreditaufnahmen finanzieren wollte.
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Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13907
Das können Sie, lieber Herr Kollege Löffler, nicht bestreiten. Das ist um so unverständlicher, als die Beratungen über den Haushaltsplan 1979 deutlich gemacht haben, daß quer durch alle Fraktionen eine immer größere Besorgnis über die wachsende Verschuldung des Bundes geäußert wurde.
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Herr Kollege Löffler, ein Weiteres. Es ist doch auch die öffentliche Meinung gewesen, die auf die Haltung des Bundesfinanzministers den Einfluß gehabt hat, daß er zunächst vorgesehene zusätzliche Kreditaufnahmen zur Finanzierung des Nachtragshaushalts nicht vorgenommen, sondern zusätzliche Einsparungen durchgeführt hat, die wir - ich erinnere noch einmal daran, auch wenn Sie es nicht hören wollen - bereits im März und im Juni dieses Jahres dem Haushaltsausschuß vorgeschlagen hatten, gegen die Sie aber gestimmt hatten.
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Da ich nicht davon ausgehen kann, daß die Regierung andere Informationen als die Opposition hat, muß ich folgern, daß ursprünglich die Absicht bestand, andere Ausgaben zusätzlich zu finanzieren oder vielleicht Wahlgeschenke zu machen. Ich sage noch einmal: Es war ein heilsamer Einfluß, nicht zuletzt durch die öffentliche Meinung und das ständige Bohren der CDU/CSU-Opposition verursacht, der dazu geführt hat, daß heute ein Nachtrag verabschiedet werden kann, der durch Einsparungen finanziert wird und wo die Steuermehreinnahmen zur Senkung der Kreditaufnahme benutzt werden.
Ein letztes zu diesem Bereich. Wir haben uns im Haushaltsausschuß über das Wesen der globalen Minderausgabe unterhalten. Auch hier wollte der Bundesfinanzminister zunächst durch den Vorschlag einer Senkung der globalen Minderausgabe den vom Parlament vorgelegten Einsparungsauftrag um 500 Millionen DM kürzen. Die Regierung hat die Auffassung vertreten: Die globale Minderausgabe ist keine Einsparungsauflage. Wir vertreten - genau wie übrigens auch Piedus in seinem Kommentar - die Meinung, daß das ein ganz eindeutiger Einsparungsauftrag an die Regierung ist und daß daran überhaupt nicht zu deuteln ist. Lieber Herr Kollege Löffler, darüber muß noch einmal gesprochen werden.
Ich stelle fest: Der Bundesfinanzminister hat entgegen seinen verbalen Beteuerungen, Schuldenabbau und Konsolidierung hätten Vorrang, nur zögernd und nur unter Druck von außen - vom Parlament und von der öffentlichen Meinung - Einsparungen vorgenommen, die zu einer Senkung der Nettokreditaufnahme führen.
Mir ist unverständlich, daß der Kollege Westphal immer von einem Matthöfer-Haushalt spricht. Das ist vielleicht ein Markenzeichen. Aber ein Gütezeichen - das zeigen die bisherigen Beratungen - ist das weiß Gott nicht.
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Die Handschrift des Parlaments hätte bei dem Zweiten Nachtragshaushalt noch deutlicher ausfallen können, wenn unsere Anträge, unsere zusätzlichen Anträge, unsere zusätzlichen Alternativen, unsere zusätzlichen Einsparungsvorschläge angenommen worden wären. Nach der Debatte vom 12. bis 14. September, nämlich der Haushaltsdebatte, ist es unverständlich, daß solche Kürzungsvorschläge der Opposition keine Beachtung und keine Zustimmung finden. Wenn die Zeitbombe der überbordenden Verschuldung tickt, so ein Redner der FDP, dann muß man- Koalitionsraison hin, Koalitionsraison her - nicht nur den Mund spitzen, sondern man muß pfeifen.
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Meine Damen und Herren, noch heute haben Sie hier im Bundestag die Möglichkeit, drei Anträgen der CDU/CSU, die eine weitere Einsparung im Haushalt in einer Größenordnung von 768 500 000 DM beinhalten, zuzustimmen. Damit wird eine weitere mögliche Senkung der Nettokreditaufnahme herbeigeführt. Ich darf die drei Vorschläge der CDU/CSU kurz begründen.
Wir schlagen Ihnen vor, die für die VEBA vorgesehenen 320 Millionen DM zur Ausnutzung der Bezugsrechte bei der im Oktober vorgesehenen Kapitalaufstockung zu streichen. Wir sind der Auffassung, daß der Bund bei einer Neuverschuldung von 28 Milliarden DM im Jahre 1979 hier nicht zusätzliche finanzielle Engagements vornehmen sollte. Das Bezugsrecht und seine Ausübung bedeuten kein Geschäft, wenn man hierfür Kredite aufnehmen muß. Der Anteil des Bundes am Aktienvermögen würde, wenn der Bund auf seine Bezugsrechte verzichtet, von 43,75 % auf 36 % absinken. Dadurch würde der Einfluß des Bundes nur unbedeutend gemindert. Denn in der Hauptversammlung wird er auch mit 36 % Anteil seinen Einfluß geltend machen können. In dem Moment, in dem er fiskalische Überlegungen in den Vordergrund stellt, denen die anderen Anteilseigner nicht folgen können, braucht man sich natürlich nicht zu wundern, wenn sich der Bund dann nicht durchsetzen kann. Die Interessen des Unternehmens sind vorrangig. Beachtet der Bund dies, dann wird er mit seinen Vorschlägen auch in der Hauptversammlung die Mehrheit finden. Bisher ist ja auch über Kampfabstimmungen in den Hauptversammlungen überhaupt nichts bekannt geworden. Von daher ist also nicht zu erwarten, daß Befürchtungen, wie der Finanzminister sie vorgebracht hat, Wirklichkeit werden.
Meine Damen und Herren, es gibt für uns noch einen anderen Grund, die VEBA-Kapitalaufstokkung abzulehen. In dem Bericht des Bundeskartellamts für das Jahr 1978 ist nach einer Untersuchung über die Zusammenschlußaktivitäten der einzelnen Unternehmen seit Einführung der Fusionskontrolle festgestellt worden, daß die VEBA mit 116 Zusammenschlüssen an der Spitze aller Unternehmen steht. Wir sind nicht bereit, mit einem Zuschuß für die Aufstockung des Kapitals Maßnah13908 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
men zu finanzieren, die wir als nicht wettbewerbsfördernd ansehen
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und die, da wir keinen Einfluß auf die unternehmerischen Absichten der VEBA haben, der Kontrolle des Parlaments entzogen sind.
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Weiter, meine Damen und Herren, schlagen wir vor, auch die restlichen 200 Millionen DM, die noch als Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit vorgesehen sind, zu streichen. Auch hier ist ganz eindeutig, daß dieser Zuschuß nicht mehr benötigt wird. Wir können also aus Gründen der Haushaltswahrheit und -klarheit fordern, daß auch diese 200 Millionen DM nunmehr gestrichen werden. Geben Sie sich einen Ruck - genauso wie bei den Beratungen im Ausschuß - und vollziehen Sie auch hier das nach, was Ihnen die Opposition von Anfang an vorgeschlagen und abgefordert hat!
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Diese 200 Millionen DM können Sie streichen und damit gleichzeitig die Nettokreditaufnahme weiterhin senken.
Und ein letztes: Wir schlagen Ihnen vor, auch die 248 500 000 DM, die für die Rohölbevorratung noch im Einzelplan 09 stehen, zu streichen.
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- Sie rufen hier zu Recht „Hört! Hört!" , Herr Wolfram. Ich stimme sogar mit Ihnen überein. Denn wir haben uns bisher ganz eindeutig dagegen gewehrt, daß diese so wichtige Ausgabe gestrichen wird. Wir haben von der Regierung gefordert, daß sie, gerade im Hinblick auf die Schwierigkeiten auf dem Ölmarkt diese Ansätze ausnutzt und zusätzliche Vorräte anschafft. Wenn die Regierung uns aber im Haushaltsausschuß wörtlich erklärt, daß diese Mittel im Jahre 1979 nicht abfließen werden, ist es für uns eine Pflicht zu sagen: Dann müssen wir die Ansätze streichen. Das entspricht der Haushaltswahrheit und -klarheit.
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Wenn sich ein Vertreter der Regierung heute hier hinstellt und im Bundestag verbindlich erklärt: Wir sind in der Lage, diese 248 Millionen DM noch im Jahre 1979 auszugeben, wir sehen es jetzt als vorrangig an, im Hinblick auf die Kostenentwicklung auf dem Ölmarkt noch in diesem Jahr zusätzliche Vorräte anzuschaffen, dann komme ich noch einmal auf das Rednerpult und ziehe diesen Antrag zurück. Solange die Regierung aber auf dem Standpunkt steht, sie könne dieses Geld nicht ausgeben, ist es Pflicht des Parlamentes, diese Ansätze auch zu streichen.
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Zusammengefaßt, unser Antrag Drucksache 8/ 3253 ist ein zusätzlicher Streichungsvorschlag mit einem Volumen von mehr als 700 Millionen DM, mit dem wir die Nettokreditaufnahme senken können und ein weiteres deutliches Zeichen für das Bemühen des Bundestages, der immer mehr zunehmenden Verschuldung entgegenzuhandeln, setzen würden. Wir alle wissen, welches Problem die Verschuldung mit sich bringt, welche Folgen die Schuldenwirtschaft hat. Im Jahre 1983 werden die Zinsen schon höher sein als die neu aufzunehmenden Kredite des Bundes. Wer das im Privatleben macht, der muß zum Konkursrichter gehen; das wissen wir alle.
Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, die globale Minderausgabe voll zu erwirtschaften. Dies ist ein Einsparungsauftrag des Parlamentes. Sie können diese Mittel auch einsparen und brauchen nicht nur darauf zu warten, daß einige Summen durch den Rost fallen, wie Sie, Herr Löffler, es einmal sagten. Vielmehr kann man z. B. durch die Streckung der Baumaßnahmen, die ja im Hinblick auf die überhitzte Baukonjunktur notwendig ist, durchaus zusätzliche Mittel erwirtschaften, um diesen Einsparungsauftrag des Parlamentes zu erfüllen.
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Schließlich - auch hier schließen wir uns der Begründung und der Verlautbarung des Bundesrates an - erwarten wir, daß die Bundesregierung alle zusätzlichen Steuereinnahmen, die im Jahre 1979 noch anfallen, voll und ganz für die weitere Senkung der Verschuldung benutzt und damit eindeutig einen weiteren Beitrag zur Verminderung der Nettokreditaufnahme leistet.
Meine Damen und Herren, Sie haben heute hier im Plenum des Bundestages die Möglichkeit, die Zustimmung der Opposition zum Zweiten Nachtragshaushalt dadurch zu erlangen, daß Sie unseren Anträgen zustimmen. Sollten Sie unseren Anträgen, die wohlbegründet sind und wohlüberlegt sind, nicht zustimmen, können wir dem Zweiten Nachtrag zum Haushaltsplan 1979 nicht zustimmen.
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Herr Abgeordneter Prinz Botho zu Sayn-Wittgenstein, ich habe noch keine Anträge vorliegen.
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- Sie sind unterwegs.
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Ich habe Ihnen bereits das Wort erteilt, Herr Kollege Löffler. Bis Sie das Wort ergreifen, ist die Ruhe im Saal wiederhergestellt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zweite NachtragshausDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13909
halt ist ein Dokument der Sparsamkeit, weil die Bundesregierung und der Haushaltsausschuß sowie dieses Parlament es so wollen, nicht, weil die CDU/ CSU-Fraktion gebohrt hat. Ich habe nämlich von Ihrem Bohren nichts gespürt. Vielleicht haben Sie mit dem Finger gebohrt. Wie das heißt, wenn man mit dem Finger in einem ganz bestimmten Organ bohrt, brauche ich hier in diesem Hause nicht darzulegen. Bohren Sie nicht so viel, sondern sorgen Sie lieber dafür, daß die Anträge, über die Sie hier sprechen, ordnungsgemäß auf dem Tisch liegen.
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In drei Punkten möchte ich den Willen zur Sparsamkeit, wie er in diesem Nachtragshaushalt zum Ausdruck kommt, darlegen und begründen.
Erstens. Die geschätzten Steuermehreinnahmen von ca. 2,3 Milliarden DM werden nicht für neue Aufgaben verwandt, sondern dienen dazu, die Nettokreditaufnahme zu senken.
Zweitens. Die im Nachtragshaushalt vorgesehenen Mehrausgaben in Höhe von 1,4 Milliarden DM werden durch Einsparungen an anderen Stellen des Haushaltes gedeckt.
Drittens. Darüber hinaus hat der Haushaltsausschuß Ermächtigungen. in Höhe von 570 Millionen DM zurückgenommen, da diese Mittel mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr nicht mehr abfließen werden. Dieser Betrag dient ebenfalls zur Verminderung der Nettokreditaufnahme.
Die neue Nettokreditaufnahme liegt jetzt bei 28 370 000 000 DM. Faktisch dürfte sie noch niedriger sein, da wir auf diese Nettokreditaufnahme nicht ausgeschöpfte Kreditermächtigungen aus den Vorjahren in Höhe von 4 Milliarden DM angerechnet haben. Das ist - insgesamt gesehen - ein günstiges Ergebnis.
Dieses günstige Ergebnis konnte aber nur deshalb erzielt werden, weil die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Monaten positiv verlaufen ist. Ohne die Arbeit der Mitglieder des Haushaltsausschusses geringschätzen zu wollen, muß einmal unterstrichen werden: Das Verdienst an der maßvollen Zurückführung der Schuldenaufnahme liegt in erster Linie in der lückenlosen Finanzpolitik der letzten Jahre begründet. Diese Finanzpolitik ist darauf ausgerichtet, unserer Wirtschaft zum Wachstum zu verhelfen. Mit welchen einzelnen Maßnahmen dieses Ziel verfolgt wurde, braucht hier nicht noch einmal erläutert zu werden. Das haben wir in vielen Haushaltsberatungen und in zahlreichen Wirtschaftsdiskussionen hier in diesem Saal dargelegt.
Wer den letzten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank zur Hand nimmt, kann sich dort anhand von nüchternen Zahlen und Fakten von dem Erfolg dieser in sich logisch geschlossenen Finanzpolitik überzeugen. Die Zahlen, die dort wiedergegeben sind, sind um so gewichtiger, als sie von einer neutralen, zu strenger Sachlichkeit verpflichteten Einrichtung stammen. Wären wir in den vergangenen Jahren den haushaltspolitischen Vorstellungen der Opposition gefolgt,
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sähe unsere konjunkturelle Landschaft, lieber Herr Kollege Carstens, mit Sicherheit anders aus - nämlich schlechter,
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sehr geehrter Herr Stavenhagen. Auf eine Beschreibung der gegenwärtigen konjunkturellen Situation kann hier verzichtet werden; das kann nachgelesen werden, z. B. im Bundesbank-Bericht, der mit dem Satz beginnt - ich zitiere -:
Der konjunkturelle Aufschwung in der Bundesrepublik hat sich in den letzten Monaten mit ungeschwächter Dynamik fortgesetzt, obgleich die drastischen Verteuerungen im Energie- und Rohstoffbereich die Wirtschaft der Bundesrepublik und auch die der wichtigen Partnerländer belasten.
Die Lage ist also alles in allem positiv zu beurteilen. Wenn man die Bundesregierung ansonsten für alles verantwortlich macht, auch für Dinge, für die sie die Verantwortung eigentlich nicht zu tragen hat, dann muß man fairerweise anerkennen, daß sie auch für diese positive Entwicklung verantwortlich ist, und ihr die Anerkennung dafür aussprechen.
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Die positive Entwicklung führt zu höheren Steuereinnahmen. Herr zu Sayn-Wittgenstein ist heute auf dieses Thema nicht eingegangen. Dieses Thema haben wir ja hier schon häufig genug abgehandelt. Es liegt natürlich in der Logik einer antizyklischen Finanzpolitik, daß der Staat in Zeiten des wirtschaftlichen Niederganges oder der wirtschaftlichen Stagnation helfend eingreifen kann, auch wenn er sich dabei verschulden muß. Werden die Zeiten wieder besser, zieht sich der Staat aus seiner konjunkturellen Verantwortung im gebotenen Maße zurück
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und benutzt die Steuermehreinnahmen zur Absenkung seiner Schuldenaufnahme, wie der Zweite Nachtragshaushalt beweist. Lieber Herr Kollege Stavenhagen, gucken Sie doch bitte einmal in die Unterlagen hinein. Das ist ein zusammenhängender ökonomischer Vorgang, der nicht willkürlich auseinandergerissen und einzeln betrachtet werden kann, wie es die Opposition mit ihren ständigen Hinweisen auf die erhöhten Steuern tut, die unsere Bürger angeblich zahlen müssen. Schließlich kann man den Staat nicht als Oberbuchhalter ansehen, der die großen volkswirtschaftlichen Konten führt. Die Verpflichtung des Staates für die Wohlfahrt seiner Bürger bringt es vielmehr mit sich, daß er als eine gestaltende Kraft diese volkswirtschaftlichen Konten positiv beeinflussen muß.
13910 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dazu braucht er einen finanzpolitischen Spielraum, den die Opposition ihm am liebsten nehmen möchte.
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Das ist nicht unsere Auffassung vom Staat. Ich wäre sehr interessiert, zu erfahren - ich werde es nur leider nicht mehr erleben -, ob das auch dann noch Ihre Auffassung wäre, wenn Sie die Regierung stellten, oder ob Sie sich dann nicht mehr zu unserer Haltung bekennen würden.
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- Wie gesagt, lieber Herr Stavenhagen, ich bin zwar noch nicht allzu alt, aber ich erlebe es nicht mehr.
Ein bißchen ist das hier eine Geisterdebatte. Ich muß mich jetzt zu Anträgen äußern, die gar nicht vorliegen. Aber ich will es dennoch tun, denn Herr von Sayn-Wittgenstein hat sich alle Mühe gegeben, die Anträge zu begründen. Also soll er auch eine Antwort darauf bekommen.
Was die Rohölreserve anbelangt, so wissen wir, daß der . diesbezügliche Titel außerordentlich schwer richtig zu schätzen ist. Wir haben schon bei der Beratung des Haushaltsplanes um diesen Titel besonders intensiv gerungen. Wir haben 310 Millionen DM von diesem Titel heruntergenommen und einen Restbetrag von etwas über 200 Millionen DM stehenlassen. Wir haben geglaubt, daß kein Geld abfließen wird. Es ist jetzt doch etwas abgeflossen. An diesen Titel kann man nicht herangehen. Die Opposition hat sich ja im Haushaltsausschuß gegen eine Kürzung dieses Ansatzes gewandt, offensichtlich in Verkennung der Tatsachen. Jetzt wollen Sie den Titel gänzlich streichen. Das ist eine schnelle Drehung. Schnelle Drehungen sind beim Walzertanzen sehr beliebt, aber in der Haushaltspolitik völlig ungeeignet.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Löffler, wären Sie bereit, mir zuzugeben, daß, wenn die Regierung im Haushaltsausschuß erklärt, das Geld könne in diesem Jahr nicht fließen, dies ein neuer Grund für die Opposition ist, ihre Haltung zu überdenken, und daß wir durchaus auf das hören, was die Regierung uns sagt?
Sehr geehrter Herr zu Sayn-Wittgenstein, die Opposition kann alles zum Anlaß nehmen, ihre Haltung zu überdenken. Wenn Sie Ihre Haltung überdenken, kann das immer nur positiv sein, denn Ihre Haltung ist so, daß sie des Nachdenkens ständig würdig ist.
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Herr zu Sayn-Wittgenstein hat dann vorgeschlagen, wir sollten die Kapitalerhöhung in Höhe von 320 Millionen DM bei der VEBA ebenfalls streichen. Die VEBA ist die größte deutsche Mineralölgruppe. Sie hält unter anderem 54 % der Anteile an der Deminex, einer Firma, die weltweit nach neuen Erdölfeldern forscht. Ein solches Vorhaben ist natürlich risikoreich. Ich glaube nicht, daß sich der Staat bei diesem risikoreichen Geschäft zurückziehen sollte, denn das müßte auch eine Signalwirkung auf private Anleger haben.
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Man sollte sich einmal überlegen, wie sich unser Verhalten, wenn wir von unseren Bezugsrechten bei der Kapitalerhöhung der VEBA nicht Gebrauch machten, auf die Kurse der VEBA auswirken müßte und wie dann letztlich die Kapitalausstattung dieses für die gesamte Volkswirtschaft wichtigen Unternehmens dastünde. Das hat gar nicht allzuviel mit der Mehrheit zu tun, obwohl wir faktisch die Mehrheit bei dieser Firma behalten wollen. Wir befinden uns hier, nebenbei gesagt, in Übereinstimmung mit Herrn Dr. Dollinger, der als Bundesschatzminister 1965, als eine Teilprivatisierung dieser Firma vorgenommen wurde, davon ausging, daß der Mehrheitseinfluß des Bundes gewahrt bleibe. Ich glaube, das war auch nicht der richtige Vorschlag.
Über den Zuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit lieber Herr zu Sayn-Wittgenstein, haben wir so viel gesprochen, daß ich es mir erspare, hier darauf noch einmal einzugehen. Dort stehen noch 200 Millionen DM im Ansatz. Ein bißchen Sicherheit, ein bißchen Reserve muß natürlich im Haushalt bleiben; darauf komme ich aber noch zurück.
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- Das werde ich jetzt gleich darlegen. Für den Bundesfinanzminister ist sie nicht. Der Bundesfinanzminister hat nichts davon. Vielmehr muß Sicherheit für die Menschen vorhanden sein, für die wir hier Verantwortung tragen.
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Reden Sie doch nicht so, als hätte der Bundesfinanzminister etwas davon, wenn im Haushalt irgendein Titel mit Geld ausgestattet ist.
Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Mai 1977 ist nun - darauf hat Herr SaynWittgenstein auch hingewiesen - die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung in der Haushaltspolitik zweifelsohne gestärkt worden.
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Dadurch, daß die Regierung nur noch in genau festgelegten Grenzen überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben von sich aus tätigen darf, ist sie verpflichtet, durch Nachtragshaushalte neue Ausgabenermächtigungen vom Parlament einzuholen. Damit hat das Parlament die Möglichkeit erhalten, die Haushaltsentwicklung zu verfolgen und
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13911
aus dieser Entwicklung entsprechende Konsequenzen für den Nachtragshaushalt zu ziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese stärkere Einwirkungsmöglichkeit auf der einen Seite bedingt jedoch auf der anderen Seite eine größere Verantwortlichkeit des Parlaments. Ein gesundes Mißtrauen des Parlaments gegenüber der Regierung ist eine Haltung, die für die Demokratie geradezu wesentlich ist. Sie darf allerdings nicht so weit getrieben werden, daß der Regierung haushaltspolitisch so enge Fesseln angelegt werden, daß sie bewegungsunfähig wird; das wäre nämlich zum Schaden des gesamten Volkes.
Nachtragshaushalte dürfen nicht dazu führen, daß wir permanente Haushaltsberatungen betreiben, die mehr verwirren als klären, und sie dürfen auch nicht dazu führen, daß wir die Regierung durch neue Beschlüsse daran hindern, die Politik durchzuführen, für die sie am Anfang des Haushaltsjahres von uns die haushaltsrechtliche Ermächtigung bekommen hatte. Das wäre dann nämlich eine Politik, die auf dem Prinzip beruhte, mit der einen Hand zu geben und mit der anderen wieder zurückzunehmen. Das ist keine klare Linie. Der Haushaltsausschuß ist - das möchte ich hier betonen - dieser Versuchung bei der Beratung des Zweiten Nachtragshaushalts nicht erlegen, aber er war manchmal nahe daran, insbesondere was die verschiedenen Anträge angeht, die die Opposition im Haushaltsausschuß stellen wollte oder stellte.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Wort zur globalen Minderausgabe, für die ich, wie jedermann in diesem Hause weiß, nicht allzuviel übrig habe. Um die Neufestsetzung der globalen Minderausgabe ist besonders intensiv gerungen worden. Wenn ich „besonders intensiv" sage, bedeutet das nicht, daß besonders sachkundig gerungen worden wäre. Denn da gab es zunächst die Zahl von 3 Milliarden DM, dann waren es 2 750 000 000 DM, dann 2,5 Milliarden DM,' und dann haben wir uns, glaube ich, auf 2 300 000 000 DM geeinigt. Das alles waren keine Ergebnisse tiefgründiger Rechenoperationen, sondern Vorgänge, wie sie sich bei einer Rinderversteigerung abspielen, wo etwas über den Daumen gepeilt wird.
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- Ja, sehr geehrter Herr Kollege Wehner, so ist die Welt, so ist sie auch bei den Haushaltspolitikern, die ja für sich immer in Anspruch nehmen, daß sie diejenigen sind, die alles besonders genau betrachten und die die Politik mit Hilfe ihrer Zahlenmanipulationen sehr gut im Griff haben.
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Dieses Verfahren der Opposition bei der Festsetzung der globalen Minderausgabe erinnerte mich immer an den absurden Satz: abgeschnitten, abgeschnitten und immer noch zu kurz. Die globale Minderausgabe eignet sich nach meinem Verständnis nicht als Instrument für die Haushaltspolitik.
Sie haben hier ein Wort erwähnt, das ich im Haushaltsausschuß verwandt habe, und ich wiederhole es: Die globale Minderausgabe ist lediglich ein Auffangtitel in buchungstechnischer Hinsicht. Die Haushaltswahrheit und die Haushaltsklarheit müßten ja darunter leiden, wenn man mit der globalen Minderausgabe wesentliche Teile der Politik zurücknehmen wollte, die man vorher mit Zahlen in mehreren Tausend Titeln des Haushaltsplanes festgelegt hatte. Das ist eine unaufrichtige Politik. Denken Sie bitte darüber nach, und lassen Sie uns zu der gemeinsamen Auffassung kommen, daß die globale Minderausgabe das ist, was im Haushaltsvollzug anfällt, ohne daß die Regierung besondere Anstrengungen unternehmen muß, um die globale Minderausgabe erwirtschaften zu müssen.
Als Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion möchte ich dieses Rednerpult nicht verlassen, ohne ein Wort zur Nettokreditaufnahme gesagt zu haben. Wir haben hier in diesem Hause häufig dargelegt, daß eine hohe Nettokreditaufnahme in einer schlechten Konjunkturlage ökonomisch geboten ist. Ich muß aber genauso deutlich sagen, daß wir uns davor hüten müssen, uns an eine hohe Nettokreditaufnahme zu gewöhnen. Eine hohe Nettokreditaufnahme ist für einen_ längeren Zeitraum keine normale Möglichkeit der Finanzierung des Haushalts.
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Denn die Zinsen wachsen natürlich an. Herr von Sayn-Wittgenstein hat diese Zahlen bereits genannt, und ich möchte an seine Zahlen einige Betrachtungen anknüpfen. So werden im Jahre 1981 - ich wiederhole diese Zahl - nach der mittelfristigen Finanzplanung 16,9 Milliarden DM an Zinsen zu zahlen sein. Die Zinszahlungen stellen natürlich eine Umverteilung von den unteren Einkommensschichten zu den höheren dar. Das ist also eine ungerechte Umverteilung. Es liegt in der Natur der Sache, daß nur diejenigen Geld ausleihen können, die Geld übrig haben, und das sind in der Regel die Wohlhabenderen und nicht diejenigen, die ihren Verdienst voll in den Konsum fließen lassen müssen. Bei der gegenwärtigen Schuldenstruktur des Bundes bedeutet das, daß etwa 80 % unserer Zinszahlungen den Großbanken, Versicherungen und anderen Geldanlegern zugute kommen, während nur ein verhältnismäßig kleiner Teil dem normal verdienenden Bürger zuzurechnen sein wird. Aus diesem Grunde muß mit diesem Finanzierungsinstrument in Zeiten der wirtschaftlichen Erholung sehr behutsam und vorsichtig umgegangen werden. Das haben wir im Zweiten. Nachtragshaushalt gehabt, und deshalb werden wir Sozialdemokraten diesem Dokument der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung aus vollster Überzeugung zustimmen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Gärtner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die philosophische Betrachtung über die globale Minderausgabe über den einzelnen
13912 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Daumen eines einzelnen Haushaltsobmannes wird uns wohl noch einmal beschäftigen müssen; denn so, wie es hier soeben dargestellt worden ist, ist das Verfahren nicht ausreichend gewürdigt.
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Der zweite Nachtragshaushalt 1979 ist zwar sparsam, d. h., er ist Ausdruck der sparsamen Haushaltsführung, aber von einer Radikalkur in Sachen Sparsamkeit kann man natürlich noch nicht reden.
({1})
- Prinz Botho, wenn Ihre Anträge vorlägen und ich sie lesen könnte, wäre ich natürlich glücklich. Aber dieses Thema sollten wir beenden. Sie rühren gelegentlich an alte Wunden, wenn es um die Frage geht, wann, um welche Jahreszeit und mit welchen Beträgen etwas geschehen ist. So können Sie mit Sicherheit sagen, daß Sie das, was heute passiert ist, an der Geschäftsordnung des Bundestages vorbei, noch eine Zeitlang beschäftigen wird. So etwas geschieht manchmal mit gutem Recht.
Der Kollege Löffler hat die Nachtragshaushalte soeben als die Versuchung des Parlaments bezeichnet, sozusagen mehr zu tun, als ihm obliegt, indem bestimmte zusätzliche Maßnahmen mit abgewickelt werden, die selbst die Regierung nicht gesehen hat. Der Nachtragshaushalt ist aber auch die Chance der Aktualisierung, was nicht schädlich ist, und er bietet für die Regierung auch die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung und Akzentuierung, und diese Bezeichnung hat dieser Haushalt meines Erachtens auch verdient.
Hinsichtlich der Konsolidierung und der Verschuldungspolitik, die der Kollege Prinz Botho hier wiederum vorgetragen hat, kann ich nur sagen: Natürlich bestimmen wir das Konsolidierungstempo selbst. Aber wir sollten auch ehrlich bleiben. Wer hier sagt, im Jahre 1979 müssen alle Steuermehreinnahmen dazu verwendet werden, die Verschuldung des Bundes herunterzufahren, der muß sich natürlich fragen lassen, warum das nur im Jahre 1979 geschehen soll und nicht auch im Jahre 1980.
({2})
Wer die Regierung mit ihrer Politik sozusagen der Wahlgeschenke verdächtigt, kann meines Erachtens von der Sache nur wenig verstehen. Steuersenkungen wären natürlich probate Wahlgeschenke, die man im kommenden Jahr wunderbar verkaufen könnte. Aber wenn diese Regierung auf Steuersenkungen verzichtet, hat sie auch ihren guten Grund. Ihre Politik wird im übrigen beim Wähler dazu führen, daß wir mit einer Mehrheit nach Hause kommen. Für uns wird es - das ist jedenfalls mein Eindruck - relativ sicher sein, daß Sie uns in der nächsten Wahlperiode hier im Bundestag wieder erleben und daß sich insgesamt die Verhältnisse genauso darstellen wie heute. Das haben wir, glaube ich, auch verdient.
Wenn man die Frage der Verschuldungspolitik wirklich ernsthaft diskutiert, muß man sich auch die Frage stellen, wer in den letzten sieben Jahren etwas anderes hätte tun können als das, was diese Regierung getan hat.
({3})
- Na, Vorsicht! Die Kollegen sind da unterschiedlich einzuordnen. Was die einzelnen Kollegen in den letzten sieben Jahren da so alles vorgeschlagen haben, würde relativ schwierig zu realisieren sein, wenn man dabei noch Haushaltskonsolidierung betreiben will.
Wir müssen uns das Problem eindringlich vor Augen führen: Die Politik der Verschuldung des Bundes hat mit dazu beigetragen - das kann man nicht wegdiskutieren -, daß dieses Land die niedrigsten Arbeitslosenquoten und die geringsten Inflationsraten hat. Daß das Klima in diesem Lande in Ordnung ist und daß wir einen inneren und äußeren Frieden haben, ist mit Ausdruck dieser Politik, die wir gemeinsam - zum Teil auch mit Ihnen - getragen haben.
({4})
Man sollte sich aus dieser Verantwortung auch nicht in der Form herausstehlen, daß man sagt: Wir sind die eigentlichen Sparsamkeitswächter der Nation. Das sind Sie in all Ihren einzelnen Teilen genausowenig wie wir. Das ist gar keine Frage. Was wir in den letzten sieben Jahren als Ausfluß der Rohölpreisexplosion im Jahre 1973 getan haben, ist in diesem Lande auf fruchtbaren Boden gefallen; sonst könnten Sie nämlich nicht mit den Steuermehreinnahmen der kommenden Jahre versuchen, Leute zu beglücken.
({5})
Man muß sich diesem Thema auch deshalb ernsthafter widmen, weil der Bürger in diesem Lande einen Anspruch darauf hat, sehr ernst genommen zu werden, und weil das, was man sagt, immer nach dem alten Grundsatz gehen muß: Sag, was wahr ist. Fest steht, daß das, was in unserem Lande erreicht worden ist, nicht erreicht worden wäre, - ({6})
- Kollege Kohl, ich verstehe, daß Sie davon nicht viel verstehen. - Es ist festzustellen, daß dieses Land im Vergleich zu allen anderen Industrienationen relativ gut dasteht. Darauf kann man doch gemeinsam stolz sein. Warum kann man nicht auch einmal auf das stolz sein, was man gemeinsam erreicht hat? Warum denn nicht? Die anderen Länder sagen uns das, und jeder Bürger, der ins Ausland fährt, erlebt dies täglich neu. Warum wollen Sie denn aus diesem gemeinsamen Erlebnis so freiwillig aussteigen?
({7})
Wenn man sich die Schwerpunkte des Nachtragshaushalts noch einmal vor Augen führt, dann sind die Kürzungsanträge, die die Opposition gestellt hat, in manchen Bereichen nachdenkenswert.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13913
Was die Rohölbevorratung angeht, so hat der Kollege Löffler bereits darauf hingewiesen, daß es schon etwas merkwürdig ist, innerhalb von wenigen Tagen plötzlich in eine andere Richtung geführt zu werden. War es doch die Opposition gewesen, die die Regierung bei den Haushaltsberatungen noch mehr verteidigt hat, als das sonst üblicherweise die Koalition tun soll oder muß; und heute stellt sie sich nach einer einzigen Auskunft der Regierung auf die andere Seite und sagt: April! April! Das muß alles weg. Gingen wir davon aus, daß der Betrag am Jahresende für den vorgesehenen Zweck wahrscheinlich nicht ausgegeben werden kann, dann würde ich sagen, daß das heute keiner von uns unterschreiben könnte, weder das eine noch das andere. Aber belassen wir doch die Möglichkeit, dieses Geld unter Umständen auch nicht auszugeben! Die Etatisierung eines Titels bedeutet ja nicht die manische Verpflichtung für die Regierung, das Geld bis zum letzten Pfennig auszugeben. Ich gehe davon aus, daß die Regierung mit jedem Titel das tut, was in der Zweckbestimmung steht. Im übrigen sollten wir uns im kommenden Jahr noch einmal die Frage mit allem Ernst stellen, ob die erhöhten Ansätze im Haushalt 1980 ausreichen oder ob sie nicht vielleicht zu hoch sind.
Was die Kapitalerhöhung bei der VEBA angeht, muß ich sagen, hat das, was der Kollege Prinz Botho gesagt hat, einiges für sich; es hat natürlich auch einiges gegen sich, weil die Frage auch sein muß: Wie hoch muß der Anteil sein, um etwas zu bewirken? Wir haben in anderem Zusammenhang einmal die Frage gestellt, ob bei der Lufthansa 74 % oder 51 % ausreichend sein würden. Wenn der Grundsatz gilt: Mehrheit ist Mehrheit, dann gilt dies auch bei 51 %. Die Frage, ob 44 % oder 36 % Anteile in der Hauptversammlung benötigt werden, ist für mich nicht so entscheidend. Die Frage ist nämlich auch, ob wir Unternehmen, an denen wir erstens beteiligt sind und von denen wir zweitens annehmen, daß sie in manchen Feldern auch unsere Politik unterstützen,
({8})
in dem notwendigen Ausmaße kapitalisieren. - In der Energiesicherung darf ein Unternehmen nicht unterstützen? Das würde ich am besten wieder aus dem Protokoll streichen lassen! Es ist ja wohl ein Aberwitz, zu behaupten, daß sich ein Unternehmen, das zu diesem Zwecke gegründet worden ist, in diesem Bereich nicht betätigen darf. Das, was ich meine, ist folgendes: Wenn ein Unternehmen jetzt kapitalisiert ist, wie ich finde, vielleicht ein bißchen zuviel - vielleicht! -, dann ist es mit Sicherheit so kapitalisiert, daß es alles das, was es unternehmenspolitisch will, auch selbst finanzieren kann. Das heißt, der Zugang zu weiteren staatlichen Förderungsinstrumentarien muß dort etwas zugemacht werden, wenn man die Kapitalerhöhung in diesem Umfange beschließt.
({9})
Wir werden uns bei der Beratung des Haushalts 1980 in diesem Jahre Wiedertreffen. Wir werden
dann wieder unsere gegenseitigen Aufrechnungen vornehmen. Ich hoffe, daß wir dennoch in der Lage sein werden, uns gegenseitig zu attestieren, daß sowohl der erste Nachtragshaushalt als auch der zweite Nachtragshaushalt die Handschrift des Parlaments tragen. Sie haben das gesagt, Prinz Botho. Ich füge hinzu: Einfach weil man die Arbeitsleistung, die man in so etwas investiert hat, gelegentlich auch einmal sehen will, ist es dieser Haushalt wert, daß man ihm zustimmt. Wir jedenfalls werden dies tun. Ich hoffe, daß Sie sich in manchen Teilen, auch in diesem Falle, nachdenklich und vielleicht auch lernfähig zeigen.
({10})
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein hat micht mehrfach angesprochen. Ich möchte darauf gern antworten.
Zunächst einmal muß ich die Behaupfung zurückweisen, unsere Schuldenaufnahme sei unverantwortlich gewesen. Ich verweise auf das Ergebnis. Wir hatten in der vergangenen Woche in Belgrad Gelegenheit, unsere eigenen Statistiken mit den Statistiken der anderen 137 Mitgliedsländer, darunter aller großen Industrieländer, zu vergleichen. Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen, daß die günstige Kombination der wirtschaftlichen Indikatoren der Bundesrepublik in dieser Weise in keinem anderen Mitgliedsland des Weltwährungsfonds anzutreffen ist, gleich ob Sie nun die Annäherung an die Vollbeschäftigung nehmen, die wir glücklicherweise haben - da sind wir mit an der Spitze der großen Industrieländer -, ob Sie die Preisstabilität nehmen, die im internationalen Vergleich vorbildlich ist, insbesondere wenn man bedenkt, daß wir 95 % unseres Ois einführen müssen, von den Ölpreissteigerungen also in einem Grad abhängig sind, wie dies kaum woanders der Fall ist, oder ob Sie die Produktivitätssteigerungen in unserem Lande nehmen, die auf eine leistungs- und wettbewerbsfähige Wirtschaft hinweisen und die gleichfalls - hier allerdings gleichziehend mit Japan - vorbildlich in der ganzen Welt sind. Dieses gilt in gleicher Weise für die Einkommenssteigerungen, die sich daraus ergeben, die Möglichkeiten, die soziale Sicherheit zu verbessern, den sozialen Frieden in unserem Lande zu stärken, auf den schon der Abgeordnete Gärtner hingewiesen hat, und es gilt schließlich, Herr Abgeordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, auch für die Verschuldung, die im internationalen Vergleich geradezu niedrig ist.
Wir haben dieses Ergebnis auf solide Art und Weise erzielt. Denn wir haben nicht, wie etwa Großbritannien, Jahre mit 24 % Preissteigerung gehabt. Was das für das Verhältnis von Nettoverschuldung zum Bruttosozialprodukt bedeutet, kann sich jeder leicht ausrechnen, wenn er es über einige Jahre hinweg verfolgt. Wir sind solide Leute. Wir haben
13914 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
bei niedrigen Preissteigerungen und niedrigen Nettokreditaufnahmen im internationalen Vergleich einen Schuldenstand erreicht, der sich international gesehen im unteren Mittelfeld bewegt.
Weil wir Vollbeschäftigung und Preisstabilität und Produktionssteigerungen und Einkommenssteigerungen haben, deshalb ist z. B. bei der Bundesanstalt für Arbeit die Notwendigkeit, mehr Geld auszugeben, zurückgegangen, deshalb haben wir die Steuermehreinnahmen im Vergleich zu den Schätzungen vom Januar oder auch zu denen vom Mai, deshalb sind wir in der Lage gewesen, die Nettokreditaufnahme zurückzuführen, und das ist der Grund dafür, daß wir den Nachtragshaushalt ohne Plafonderhöhung und ohne Erhöhung der Nettokreditaufnahme vorlegen konnten. Dies wollte ich noch einmal ausdrücklich festhalten.
Wir haben auch nicht beabsichtigt, irgendwelche Wahlgeschenke zu machen. Ich glaube, die CDU/ CSU-Fraktion ist schlecht beraten, das Thema Wahlgeschenke hier aufzunehmen. Das letzte Mal, als Sie Gelegenheit hatten, Wahlgeschenke zu machen - im Jahre 1965 -, haben Sie das getan, und anschließend haben Sie im Frühjahr 1966 durch das Haushaltssicherungsgesetz dem Wähler alles wieder abgenommen, was Sie ihm zuvor gegeben haben.
({0})
Ich denke nur an Ihre vorliegenden Anträge, verehrter Herr Abgeordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein. Nehmen Sie nur einmal das Erziehungsgeld! Der Antrag Ihrer Fraktion, der Milliarden kosten würde, liegt doch vor! Oder nehmen Sie das von Ihnen unterstützte Verhalten der Länderfinanzminister bei den Kinderbetreuungkosten, die zusätzliche Kosten in Höhe von Hunderten von Millionen DM verursachen würden.
({1})
Wenn Sie hier Ihre alte Methode verfolgen, jedem, der das gerade hören will, zu versprechen, was er gern haben möchte,
({2})
und gleichzeitig zu behaupten, Sie würden die Ausgaben senken und Sie würden auch noch die Nettokreditaufnahme senken, dann kann ich Ihnen nur sagen - - Ich würde nicht auf diesen Antrag verweisen. Wie ich höre, wird er ausgewechselt, weil er Druckfehler enthält.
({3})
- Zuerst legen Sie ihn spät vor, und dann ist er
auch noch nicht richtig. Ich wäre ja nicht von
selbst darauf zu sprechen gekommen, wenn Sie ihn
nicht noch stolz hochgehoben hätten. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich darauf hinweise.
Oder nehmen Sie die vom Abgeordneten Gärtner erwähnte Steuersenkung im nächsten Jahr! Bis heute hat noch niemand von Ihnen gesagt, wie er sie finanzieren will. Sagen Sie doch einmal: Wo wollen Sie weniger ausgeben im nächsten Jahr? Ich bin für Vorschläge wirklich dankbar. Wir werden für das Jahr 1981 dort, wo wir Steuersenkungen ankündigen, eine entsprechende Ausgabensenkung gegenüber der Planung vorzunehmen haben. Das werden wir auch auf ganz solide Weise tun. Wir werden auch vorher sagen, wo das geschehen muß, damit die Leute wissen, woran sie sind, wenn sie uns wählen.
({4})
Ich wehre mich aber dagegen, daß Sie hier Steuersenkungen ankündigen, ohne dem deutschen Volk zu sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen, wie Sie das alles finanzieren wollen.
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Zur globalen Minderausgabe darf ich folgendes sagen: Die globale Minderausgabe wird zu Beginn des Jahres beschlossen, und ich halte das auch für einen nützlichen Zwang. Sie wissen, daß der Bundesfinanzminister selber solche globalen Minderausgaben vorschlägt, um gegenüber seinen Ressortkollegen ein Instrument des Drucks in der Hand zu haben. Es geht aber doch wohl nicht an, im Laufe des Jahres - schon bei der Beratung des Hauhalts und jetzt wieder bei diesem Nachtragshaushalt - überall da, wo sich Minderausgaben zeigen, Streichungen vorzunehmen und am Ende des Jahres gleichwohl zu verlangen, daß der Bundesfinanzminister globale Minderausgaben in Milliardenhöhe erbringt. Wir haben jetzt Mitte Oktober, und wenn Sie überall bei den Minderabflüssen, die sich ja jetzt schon abzeichnen und über die wir Ihnen berichten, streichen, dann kann man doch am Ende des Jahres nicht mehr in gleicher Höhe eine globale Minderausgabe verlangen - es sei denn, man sagt, wo gestrichen werden soll.
({6})
Zur VEBA-Kapitalerhöhung: Ich bin für diese Kapitalerhöhung im Sinne der Politik - wenn ich das richtig gelesen habe - aller Bundesregierungen, die der Meinung waren, daß die VEBA bei allen Schwierigkeiten des Aktienrechts ein Instrument der Energiepolitik der Bundesregierung zu sein hat.
({7})
Damit sie als Instrument eingesetzt werden kann, muß der Bund selbstverständlich auch den Mehrheitseinfluß in dieser Gesellschaft behalten.
({8})
Herr Abgeordneter, wir können uns im Sinne unserer Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk, das von uns eine Energiepolitik in seinem Interesse verlangt, nicht auf Experimente einlassen und wie Sie sagen: 36 % sind vielleicht auch die MehrDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13915
heit, weil nicht immer alle Mitglieder der Hauptversammlung anwesend sind. Das ist doch wohl keine Art und Weise, Politik zu machen. Wir müssen sicher kalkulieren können, weil wir auch auf dem Gebiet der Energie die Zukunft des deutschen Volkes sicherstellen wollen.
({9})
Hier haben Sie übrigens ein Beispiel für die Fragwürdigkeit Ihres Schuldenbegriffs. Wir nehmen in der Tat Kredite auf, im Moment übrigens für einen Zinssatz zwischen 7,5 % und 8 % für Geld über viele Jahre. Wir nehmen nicht alles, was uns angeboten wird. Wir haben Zwanzigjahresgeld abgelehnt. Sie kennen unseren Deckungsgrad bei der Kreditaufnahme. Wir sind eine gute Adresse; jeder will uns Geld leihen. Wir haben jetzt einen Zinssatz für sehr langfristiges Geld, zu dem Sie manchmal nicht einmal Tagesgeld bekommen. Ich will nicht mehr Kredite auf den Kapitalmärkten aufnehmen. In dieser konjunkturellen Situation müssen sich Bund und Länder, muß sich allgemein die öffentliche Hand allmählich von den Kapitalmärkten zurückziehen.
Wir nehmen auch Kredite auf, um sie in profitablen Gesellschaften zu investieren. Es gibt, Herr Abgeordneter, kein Bundesunternehmen im Zuständigkeitsbereich des Bundesfinanzministers, das in diesem ersten halben Jahr keine Gewinne erzielt hätte. Das sind gut geführte, leistungsfähige Unternehmen, die zudem noch öffentliche Aufgaben erfüllen, indem sie der Strukturpolitik, der Energiesicherung oder sonstigen Zielen dienen.
({10})
Da ist das Geld im Interesse des deutschen Volkes gut angelegt. Sie würden auch nicht einen Privatunternehmer, der Geld auf den Märkten aufnimmt, um es in seinem profitablen Unternehmen anzulegen, als „Schuldenmacher" bezeichnen. Was Sie machen, ist eine systematische Irreführung des deutschen Volkes.
({11})
Sie sollten im Interesse der Klarheit und Wahrheit Wahlkämpfe auch als Teil eines Aufklärungsprozesses und nicht als Teil eines Vernebelungsprozesses betrachten. Insofern sollten Sie Ihre Haltung überdenken.
({12})
Sie haben von der Streckung der Baumaßnahmen gesprochen. Lieber Herr Abgeordneter, Sie wissen genau, daß ich im Oktober vergangenen Jahres an die Bundes- und Länderbehörden einen Brief mit der dringenden Bitte geschrieben habe, die Baumaßnahmen zu strecken. Sie wissen, daß im März dieses Jahres die öffentlichen Hände im Finanzplanungsrat einen entsprechenden Beschluß gefaßt und mit Dringlichkeit nach außen gegeben haben. Ihnen ist bekannt, daß wir von seiten des Bundesfinanzministeriums seit einem Jahr mit Erfolg darauf hinwirken, 'daß die Baumaßnahmen im Bundesbereich gestreckt werden.
Nun sagen Sie im Oktober dieses Jahres, ich solle, um in diesem Jahr ein bißchen einzusparen, die Baumaßnahmen strecken. Sie müssen ein bißchen früher wach werden und mir früher Bescheid sagen; dann ist das nützlich. Ich bitte ja um Vorschläge und um Ratschläge. Nur: Mir das zu sagen, was ich machen soll, nachdem in diesem Jahr schon alles gelaufen ist, bringt wenig.
'Sie haben, glaube ich, im großen und ganzen nicht viel vortragen können, was uns davon abhalten sollte, diesen Haushalt zu verabschieden. Das sage ich auch in meiner Eigenschaft als Abgeordneter. Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Mitgliedern des Haushaltsausschusses und bei dem Vorsitzenden dieses Ausschusses für die zügige und sachverständige Beratung. Ich bitte das Haus, dem Antrag des Haushaltsausschusses zuzustimmen.
({13})
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Schlußabstimmung über den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1979 ({0}). Zunächst bitte ich Sie, in der Drucksache 8/3253 eine kleine Korrektur vorzunehmen. Auf Seite 2 muß es unter V a) statt „In Artikel 1 Nr. 1" heißen: „In Artikel 1 Nr. 01". Unter b) muß es heißen: „In Artikel 1 Nr. 1".
Im Einvernehmen mit den Antragstellern darf ich vorschlagen, daß, wir über den Änderungsantrag Drucksache 8/3253 insgesamt abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ausschußvorlage. Ich rufe auf die Artikel 1 bis 4, Einleitung und Überschrift sowie die Nachträge zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1979, Einzelpläne 04, 05, 06, 08, 09, 10, 11, 15, 23, 25, 30, 32 und 60. Die Abstimmung hierüber soll mit der Schlußabstimmung verbunden werden.
Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Danke. Die Gegenprobe! - Danke. Das erste war die Mehrheit. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 1979 ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und FDP
Anrufung des Vermittlungsausschusses zum
Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 8/3245 13916 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Präsident Stücklen
Wird dazu das Wort gewünscht? - Das Wort hat der Herr Abgeordnete Westphal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen von SPD und FDP legen Ihnen einen Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses vor, mit dem wir erreichen wollen, daß endlich das vom Deutschen Bundestag bereits am 3. Juli 1979 verabschiedete Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuerrechtes auf der Grundlage der 6. Harmonisierungsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaften abschließend behandelt wird.
Es geht dabei, wie inzwischen in diesem Hause jedermann und darüber hinaus in einer breiten Öffentlichkeit, die weit über unsere Grenzen hinaus nach West und nach Ost reicht, bekannt ist, um die Formulierung des sogenannten Inlandbegriffs. Durch diesen Inlandbegriff soll das Erhebungsgebiet für die Umsatzsteuer abgegrenzt werden.
Die Bundesregierung hatte dem Deutschen Bundestag bei dieser auf Grund der europäischen Steuerharmonisierungsbemühungen erstmalig nach vielen Jahren erforderlich gewordenen Gesamtneugestaltung des Umsatzsteuerrechts für die Abgrenzung des Erhebungsgebietes eine Definition vorgeschlagen, die, wie das eigentlich selbstverständlich sein müßte, auf inzwischen abgeschlossene und gültig gewordene internationale Verträge der Bundesrepublik Deutschland Rücksicht nimmt und keine Zweifel daran läßt, daß wir uns vertragstreu verhalten.
Zweimal, meine Damen und Herren, hat inzwischen der Vermittlungsausschuß die vom Bundestag auf der Grundlage des Regierungsentwurfes beschlossene Fassung des Inlandbegriffs bestätigt und damit seinerseits die Notwendigkeit bejaht, daß Klarheit und Verständlichkeit darüber herrschen muß, wo ein im Jahre 1979 beschlossenes Gesetz gilt und wo nicht. Zweimal aber, meine Damen und Herren, hat die Mehrheit des Bundesrates, gebildet aus den CDU/CSU-geführten Ländern - mit Ausnahme des Saarlandes -, dagegen votiert, weil sie sieben Jahre nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages und neun Jahre nach dem Warschauer Vertrag mit Polen immer noch und für die Zukunft den Geltungsbereich eines Bundesgesetzes auf das Reichsgebiet von 1937 erstrecken will.
An falscher Stelle und ohne Rücksicht auf die außenpolitische Brisanz dieser Frage sucht die Opposition über den Weg der Bundesratsmehrheit bei einem Steuergesetz einen Grundsatzstreit mit uns und mit der Bundesregierung über eine entscheidende außenpolitische Frage, obwohl es auch ihr - das nehme ich zugunsten der Opposition an - nicht darum geht, die bundesrepublikanische Umsatzsteuer in Breslau oder in Dresden erheben zu wollen.
({0})
Wenn der Deutsche Bundestag dies hinnähme, würde er sich nicht nur von dem von ihm selbst beschlossenen Gesetz entfernen, sondern er würde
zugleich mitschuldig werden an einer Gefährdung unserer weltweit anerkannten Friedens- und Entspannungspolitik. Das gilt im übrigen für West und Ost. Denn niemand draußen - das zeigt die inzwischen geführte öffentliche Diskussion in all den Ländern um uns herum - hätte Verständnis dafür, wenn in einem deutschen Steuergesetz die Grenzen des Reichsgebiets vom 31. Dezember 1937 expressis verbis aufgenommen würden, obwohl sich unser Land in internationalen Verträgen ausdrücklich verpflichtet hat, seine Hoheitsrechte nur auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auszuüben.
Darüber hinaus würden bei Aufrechterhaltung der rückwärts gerichteten Position der Bundesratsmehrheit der Hohen Kommission der Europäischen Gemeinschaft Gründe frei Haus geliefert, um ihre beim Europäischen Gerichtshof eingereichte Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen, die uns vorwirft, europäische Verpflichtungen nicht einzuhalten.
Es kommt hinzu, daß unsere Wirtschaft im Wissen um die Notwendigkeit der europäischen Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts sich auf dessen Inkrafttreten vorbereiten will, dies aber nicht kann, weil das Gesetzgebungsverfahren durch den für Steuergesetze mitverantwortlichen und mit zuständigen . Bundesrat nicht nur über Monate gebremst und verzögert worden ist, sondern auch blockiert zu werden droht.
Die Opposition und die Offentlichkeit sollten zusätzlich wissen - dies ist vielleicht gerade im Zusammenhang mit der soeben abgeschlossenen Dehatte über den Nachtragshaushalt ganz interessant-, daß dann, wenn dieses Umsatzsteuergesetz 1980 nicht am 1. Januar 1980 in Kraft tritt, in dem von uns zur Zeit beratenen Haushalt für das Jahr 1980 nicht weniger als 1,7 Milliarden DM an Einnahmen fehlen würden, die durch Ausgabenkürzungen nicht hereingeholt werden können. Das würde also eine höhere Nettoneuverschuldung des Bundes um diesen Betrag bewirken. Die Opposition würde damit nicht nur unser Konzept der Herabsetzung der Neuverschuldung bremsen, sondern auch ihre eigenen Ankündigungen in diesem Bereich konterkarieren.
Ich höre schon den Vorwurf, der frühere Inlandbegriff im Umsatzsteuergesetz sei von der Bundesregierung bei der Novellierung des Umsatzsteuerrechts in den Jahren nach dem Inkrafttreten des Grundlagenvertrags und des Warschauer Vertrags nicht zur Änderung vorgeschlagen worden. Dem kann nüchtern entgegengehalten werden, daß wir in den vergangenen Jahren nicht vor dieser Frage gestanden haben, weil es lediglich um gezielte Teiländerungen des Umsatzsteuergesetzes gegangen ist. Jetzt aber steht erstmals eine Neugestaltung des gesamten Gesetzes an, und sie muß selbstverständlich auch die hier anstehende Problematik einer zeitgerechten Lösung zuführen.
In der Sache geht es bei der Formulierung des Inlandbegriffs darum, eine Definition zu finden, in der das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik für uns nicht zum Ausland erklärt wird. Vor dieser Aufgabe hat der Bundesgesetzgeber schon
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13917
des öfteren gestanden. Er hat zum Beispiel im deutschen Weingesetz eine Formulierung gewählt, die fast wortidentisch mit dem ist, was der Deutsche Bundestag im Umsatzsteuergesetz 1980 am 3. Juli 1979 beschlossen hat. Gerade deshalb erscheint vielen und auch mir der Streit so unverständlich, den die Bundesratsmehrheit eingeleitet hat.
Die im Bundesrat vorgetragene Argumentation, es müsse das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag vom 31. März 1973 beachtet werden, bringt mich nur zu der Feststellung, daß dem nichts im Wege steht. Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts stand am Ende eines Prozesses, in dem die Bayerische Staatsregierung die Bundesregierung verklagt und ihr vorgeworfen hatte, mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages das Grundgesetz nicht eingehalten zu haben. Die Bayerische Staatsregierung hat diesen Prozeß verloren; der Grundlagenvertrag wurde als verfassungsgemäß festgestellt. Wir sind verpflichtet, uns an das zu halten, was wir in internationalen Verträgen und im Grundlagenvertrag vereinbart und ratifiziert haben.
({1})
Spätestens hier, meine Damen und Herren, muß darauf hingewiesen werden, daß der von einigen Herren - und von einem ganz bestimmten Herrn ganz besonders oft - im Munde geführte lateinische Satz „Pacta sunt servanda" eben keine Leerformel für Sonntagsreden sein darf,
({2})
sondern in diesem konkreten Fall für uns alle zur Anwendung kommen muß. Wir jedenfalls stehen dazu und fordern hier die Mehrheit des Bundesrates - im Interesse der Sache und im Interesse unserer Glaubwürdigkeit in der Welt draußen auf, ihre unhaltbare Position aufzugeben.
Man kann sich durchaus vorstellen, daß es andere Formulierungen - nicht andere Inhalte, andere Formulierungen! - des Inlandbegriffs im Umsatzsteuergesetz gibt als die, die wir durch unseren Beschluß vom 3. Juli 1979 gewählt haben. Was nicht vorstellbar ist, ist die Annahme einer Formulierung im Umsatzsteuergesetz, mit der die Grenzen vom 31. Dezember 1937 für die Zukunft festgeschrieben werden.
({3})
Der einzige Weg, meine Damen und Herren, dies zu bewirken, ist die erneute Anrufung des Vermittlungsausschusses, diesmal durch uns, durch den Deutschen Bundestag. Wenn die Opposition mit uns will, daß das neue Umsatzsteuerrecht, eingeordnet in die europäische Harmonisierung, am 1. Januar 1980 in Kraft treten soll und daß sich die Wirtschaft auf diesen Vorgang vorbereiten kann, dann müßte sie unserem Antrag zustimmen und darüber hinaus mithelfen, die Mehrheit des Bundesrates von ihrer unvertretbaren Position herunterzuholen.
({4})
Ich bitte namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion um Annahme dieses Antrags.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen auf der Drucksache 8/3245, auf Einberufung des Vermittlungsausschusses erkläre ich namens der CDU/CSU-Fraktion:
Wir erleben heute einen Vorgang, der in dieser Wahlperiode einmalig ist.
({0})
Unter Ausschöpfung der letzten verfassungsrechtlichen Möglichkeiten wird zu einem Gesetz, dem Umsatzsteuergesetz 1979, das dritte Mal das Vermittlungsverfahren eingeleitet. Der Vorgang ist nicht nur einmalig, er war auch, überflüssig.
({1})
Ausschließlich die Bundesregierung und - an ihrer Spitze - der Bundeskanzler tragen die politische Verantwortung dafür, daß die Neuordnung des Umsatzsteuerrechts bisher gescheitert ist und die Bundesrepublik Deutschland inzwischen wegen Vertragsbruchs vor dem Europäischen Gerichtshof steht.
({2})
Die sachliche Auseinandersetzung um steuerrechtliche Detailregelungen, auch um die Definition des Inlandbegriffs, wäre längst beendet, wenn die Koalition nicht einen deutschland- und ostpolitischen Grundsatzstreit vom Zaun gebrochen und über zwei Vermittlungsverfahren hinweg sorgsam gepflegt hätte.
({3})
Daß mit der Verzögerung des Gesetzgebungsverfahrens Steuerverwaltung und Wirtschaft vor schwere Probleme gestellt werden
({4})
- ich komme auf Sie noch zurück, Herr Kollege Wehner -, haben die Bundesregierung und - an ihrer Spitze - der Bundeskanzler bewußt in Kauf genommen. Sie haben ebenfalls bewußt in Kauf genommen, daß unter Verletzung des Grundsatzes „Pacta sunt servanda" europäische Vertragspflichten nicht eingehalten werden können.
({5})
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben das Umsatzsteuergesetz zum Vehikel für den Versuch gemacht, die Ostverträge und den Grundlagenvertrag ein Stück - ich formuliere das ganz vorsichtig - aus der Nähe des Grundgesetzes zu rücken.
({6})
13918 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Vogel ({7})
Sie haben diesen Versuch mit der Behauptung verbunden, die Verträge erforderten eine Änderung des bisherigen Rechtszustandes. Das geschah zunächst so anbei, wohl in der Hoffnung lautloser Behandlung im Gesetzgebungsverfahren.
Wenn man die Begründung der Bundesregierung im ursprünglichen Gesetzentwurf und noch in der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates liest, so gewinnt man keineswegs den Eindruck, die Bundesregierung halte eine Neufassung der Gebietsdefinition aus Rechtsgründen für geboten. Erst als der Bundesrat aus rechtlichen und verfassungspolitischen Erwägungen darauf beharrte, es bei der geltenden Fassung des Umsatzsteuergesetzes zu belassen, wurde der Offentlichkeit, man muß schon sagen, eingehämmert, die Verweigerung der qualitativen Änderung der bisherigen Rechtsposition sei Vertragsbruch. Der Bundeskanzler verstieg sich sogar zu der absurden Behauptung, die Behörden der Bundesrepublik könnten sonst das Recht beanspruchen, in Dresden oder Breslau Umsatzsteuer zu erheben.
({8})
- Ich kann mich allerdings nicht erinnern, Herr Kollege Westphal, daß der Herr Bundeskanzler, als er noch als Finanzminister mit der derzeit gültigen Begriffsbestimmung leben mußte, Steuereinzieher nach Dresden oder Breslau geschickt hat.
({9})
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Lautstärke in dem Maße zugenommen hat, in dem sich die Koalition bei ihrem Versuch ertappt sah, die Ostverträge
({10})
und den Grundlagenvertrag stillschweigend über den eigentlichen Inhalt auszudehnen.
({11})
In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen recht interessanten Vorgang lenken. Am Tag des zweiten Vermittlungsverfahrens veröffentlichte der Tagesdienst der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Ausgabe 860, Ausführungen des Bundeskanzlers vor seiner Fraktion. Da war, die Rede von „schlüsselhafter Bedeutung des Streites", von „Unglaubwürdigkeit", von „Glaubwürdigkeit als Vertragspartner", von „unsinnigen Fiktionen" und dergleichen. Wohlgemerkt, dieses Crescendo erhob sich pünktlich am Tag des Vermittlungsverfahrens, eines Vermittlungsverfahrens übrigens - und dies muß festgehalten werden - ({12})
dieses muß festgehalten werden, weil die Bundesregierung ja den Vermittlungsausschuß angerufen hatte, eines Vermittlungsverfahrens, bei dem die Bundesregierung ansonsten selbst sprachlos blieb.
({13}) Demagogie und Provokation ersetzen aber keine Vorschläge zur Sache.
({14})
Es drängt sich die Vermutung auf, daß der Bundeskanzler, aus welchen Gründen auch immer, die Einigungsbemühungen unterlaufen wollte.
({15})
Auch für die Bundesregierung sollte gelten, was für die CDU und CSU selbstverständlich ist: Pacta sunt servanda, Verträge sind zu halten.
({16})
Und dieses gilt im Verhältnis zu den Europäischen Gemeinschaften ebenso wie im Verhältnis zur Sowjetunion, zur Volksrepublik Polen und zur DDR. Das leichtfertige Gerede vom Vertragsbruch ist nicht nur demagogisch, es ist auch sachlich unrichtig.
({17})
Dazu zwei Feststellungen.
Erstens: Die Ostverträge sind Modus-vivendiVerträge. Sie haben mithin keinen Endgültigkeitscharakter. Gerade in diesem Punkt haben wir Abgeordnete der Opposition seinerzeit im Rechtsausschuß hartnäckig bei den Vertretern der Bundesregierung insistiert.
({18})
- Mein lieber Herr Kollege Wehner - ({19})
- Verehrter Herr Kollege Wehner, Ihr Zwischenruf erinnert mich an etwas, was unsere Wahlkämpfer bei ihren Hausbesuchen im Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen erlebt haben.
({20})
- Moment. Sie sagen: „Vorsicht". „Wenn Franz Josef Strauß Bundeskanzler wird, dann gibt es Krieg." Dies ist unterschwellige Propaganda, Herr Kollege Wehner, seien Sie nicht so leichtfertig mit Zwischenrufen, die eine solche Assoziation herstellen. Dies ist meine ganz herzliche Bitte an Sie.
({21})
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich noch sehr genau, weil ich seinerzeit einer der Berichterstatter im Rechtsausschuß für die Ostverträge war - und ich habe mich noch einmal durch
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13919
Vogel ({22})
Einblick in die Protokolle vergewissert -: Die Verträge als solche ändern nichts am bestehenden Rechtszustand.
({23})
- Wir sind bei einer Erklärung, Herr Kollege Westphal. Ich weiß nicht, ob der Herr Präsident -
Nein, Herr Abgeordneter Westphal, bei Erklärungen des Vermittlungsausschusses gibt es keine Zwischenfragen.
Ich hätte bei Ihnen auch gerne Zwischenfragen gestellt.
({0})
Ich wiederhole: Die Verträge als solche ändern nichts am bestehenden Rechtszustand. Sie zwingen bei bestehenden gesetzlichen Regelungen nicht zu innerstaatlichen Änderungen. Insbesondere Artikel 1 des Warschauer Vertrages läßt Deutschland als Ganzes, den gesamtdeutschen Souverän, oder wie man es bezeichnen mag, unberührt. Der Warschauer Vertrag ist - ebenso wie die anderen Ostverträge - ein sogenannter politischer Vertrag, wie es Leitsatz 1 aus dem Ostvertragsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts besagt.
({1})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so furchtbar aufregen, Herr Kollege Wehner.
({2})
- Ich habe Ihnen versprochen, daß ich auf Sie noch speziell zurückkommen werde.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, diese Erklärung doch mit der Ruhe hinzunehmen, mit der wir sonst auch so kritische Erklärungen hingenommen haben.
Ich gebe mir auch Mühe, das, was ich vorzutragen habe, auch mit der nötigen Ruhe vorzutragen.
({0})
Ich sage noch einmal: Der Warschauer Vertrag ist - ebenso wie die anderen Ostverträge - ein sogenannter politischer Vertrag.
({1})
- Im Bereich des Irrationalen kann man schlecht argumentieren.
Leitsatz 1 aus dem Ostvertragsbeschluß vom 7. Juli 1975 stellt ausdrücklich fest - ich zitiere wörtlich -:
Die Verträge von Moskau und Warschau ({2}) haben hochpolitischen Charakter; sie regeln die allgemeinen politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion und zu Polen.
Damit begründen diese Verträge - jedenfalls ohne ausdrückliche Vereinbarung - keine konkreten rechtlichen Handlungs- und Verhaltenspflichten der Bundesrepublik Deutschland.
Zweitens. Der Grundlagenvertrag mit der DDR, insbesondere die Art. 1 und 6, ändert nichts daran, daß die Bundesrepublik Deutschland „als Staat identisch ist mit dem Staat ,Deutsches Reich - in bezug auf seine Ausdehnung allerdings teilidentisch", so wörtlich das Bundesverfassungsgericht in den alle Verfassungsorgane bindenden Gründen seines Urteils vom 31. Juli 1973.
Will die Bundesregierung nichts mehr davon wissen, daß sie genau dies durch Staatssekretär Dr. Morgenstern seinerzeit im Rechtsausschuß hat vortragen lassen? Ich zitiere wörtlich - so damals Staatssekretär Morgenstern -:
Die erste Frage war, ob die Bundesregierung an der Auffassung festhält, daß die Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich identisch ist. Da kann ich Ihnen eine klare, präzise, positive Antwort geben.
Ende des Zitats des Staatssekretärs Morgenstern.
Die Unberührtheitsklausel in Art. 9 - ebenso wie übrigens die in Art. IV des Warschauer Vertrages - läßt den Rechtsbegriff „Deutschland in den Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937" unberührt. Auf Grund des Grundlagenvertrages können Rechtsänderungen nicht verlangt werden. Das haben die Vertreter der Bundesregierung bei den Beratungen des Grundlagenvertrages im Rechtsausschuß wiederholt versichert. So nochmals Staatssekretär Dr. Morgenstern:
Ich möchte sagen, daß Art. 6 nichts dafür hergibt,
- wörtliches Zitat daß die Bundesrepublik verpflichtet ist, irgendein geltendes deutsches Recht zu ändern.
Zitatende. Später noch einmal bekräftigend - wieder wörtliches Zitat -:
13920 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Vogel ({3})
Aus dem Art. 6 ergibt sich ja nur die Frage, ob die Bundesrepublik verpflichtet ist, gesetzliche Vorschriften zu ändern, ob sie sich der DDR gegenüber verpflichtet hat, das zu tun. Das habe ich vorhin verneint. Ich kann natürlich von mir aus jetzt nicht sagen, ob irgendwelche Ressorts solche Änderungen vorzuschlagen beabsichtigen.
Dann kommt im Protokoll ein Gedankenstrich:
- Mir wird soeben von dem Kommissionsmitglied Dr. Mahnke geflüstert, daß die Regierung so etwas nicht plane.
Ende des Zitats aus dem Protokoll des Rechtsausschusses.
Mehr noch! Ministerialdirektor Weichert, der der Verhandlungskommission angehört hatte, berichtete im Rechtsausschuß - das ist für unser Thema hochinteressant -, daß die DDR bei den Verhandlungen wiederholt die Terminologie angesprochen habe „und daß sie während der Verhandlungen im einzelnen dann, z. B." - das ist jetzt auch wieder wörtlich aus dem Protokoll zitiert - „wenn wieder neue Einkommensteuerrichtlinien herausgegeben worden sind, den Inlandsbegriff angesprochen" habe. Ministerialdirektor Weichert stellte aber unmißverständlich klar:
Es ist nicht zugesagt worden, daß wir in irgendeiner Form Gesetze ändern werden.
Punkt, Abführungsstriche.
({4})
Angesichts der juristisch eindeutigen Vertragslage täte die Bundesregierung gut daran, den Grundsatz „Pacta sunt servanda" ernst zu nehmen, auch - hören Sie bitte zu - wenn es um die Wahrung eigener Rechtspositionen geht.
({5})
Offensichtlich war sie noch im Jahre 1976 dazu bereit, also zu einer Zeit, als derselbe Helmut Schmidt, der jetzt von „Vertragsbruch" spricht, schon Bundeskanzler war. Wie anders soll sonst das Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der Finanzen und heutigen Ministers Rainer Offergeld vom 8. April 1976 an den Vorsitzenden des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen verstanden werden, in dem es heißt:
Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Sie sind füreinander nicht Ausland. Daran hat sich durch den Grundvertrag nichts geändert.
Bis hierher hat der Herr Kollege Posser im Bundesrat schon einmal zitiert. Aber das Maßgebende kommt erst jetzt, und das hat er weggelassen:
Das besondere Verhältnis zeigt sich u. a. in der Regelung der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen. Auf der Grundlage des Berliner Abkommens von 1951 und des Protokolls über
den innerdeutschen Handel im Anhang zum EWG-Vertrag wird der Waren- und Leistungsaustausch zwischen beiden Staaten als Binnenhandel abgewickelt. Die Entwicklung des innerdeutschen Handels auf der Basis der bestehenden Abkommen ist im Zusatzprotokoll zu Artikel 7 des Grundvertrages ausdrücklich vorgesehen.
({6})
Den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten hat der Gesetzgeber im Umsatzsteuerrecht
({7})
durch den die DDR einschließenden Inlandsbegriff Rechnung getragen. Dieser Inlandsbegriff hat den Vorzug, daß einerseits für Warenbezüge aus der DDR keine Einfuhrumsatzsteuer erhoben wird und daß andererseits der innerdeutsche Handel durch eine Steuererlaßregelung gesteuert werden kann.
({8})
Ich frage: Hat sich seitdem etwas geändert? Ich antworte: Nein, nichts hat sich seitdem geändert.
({9})
Im übrigen möchte ich noch darauf hinweisen, daß vor wenigen Tagen der Europäische Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren festgestellt hat, daß innerdeutsche Handelsgeschäfte im Sinne des Protokolls über den innerdeutschen Handel nicht als Ausfuhr gelten und daß die DDR im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht den Charakter eines Drittlandes hat.
({10})
Wenn Sie die DDR zu einem Tertium machen, geben Sie ihr natürlich den Charakter eines Drittlandes, einen Charakter, der bisher in der ganzen Staatsrechts- und Völkerrechtswissenschaft ein Unikum ist. Ich appelliere an die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien: Beenden Sie endlich diese überflüssige Kontroverse.
Herr Kollege Wehner, ich hatte Ihnen versprochen, daß ich auf Sie noch einmal zurückkomme.
({11})
Mir liegt der Tagesdienst der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Ausgabe 950, vom 26. September 1979 vor. Dort findet sich unter der Überschrift „Betr.: Glaubwürdigkeit der Opposition" ein in der „Neuen Westfälischen" veröffentlichter Beitrag des Herrn Kollegen Wehner, in dem es am Schluß heißt - und da wird ja deutlich, worum es hier geht -:
Der Mannschaftsführer der Union, der bayerische Ministerpräsident Strauß, muß ... Farbe
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13921
Vogel ({12})
bekennen: Entweder Vertragstreue mit allen Konsequenzen oder Zwielicht für die Glaubwürdigkeit bundesdeutscher Außenpolitik.
({13})
Herr Kollege Wehner, ich habe mir die Mühe gemacht, eine Ihrer bedeutenden Reden hier im Bundestag aus dem Jahre 1960, die Sie anläßlich des Geburtstagsempfangs für die verehrte Frau Kollegin Renger zitiert haben, noch einmal sorgfältig durchzulesen. Da habe ich gefunden, daß Sie gesagt haben:
Der Herr Bundesminister Strauß z. B. hat gefragt, ob denn die SPD die Verträge der Bundesrepublik nur dem Buchstaben nach oder dem Sinne nach halten wolle.
Sie haben dann noch eine nette Geschichte von Herrn Höcherl eingeflochten, die ich jetzt weglassen will. Danach fragen Sie:
Warum aber uns Fragen in dieser Weise stellen? Damit im Ausland Zweifel an der Vertragszuverlässigkeit der Deutschen oder wenigstens eines großen Teiles der Deutschen erweckt oder gar genährt werden? Ist das richtig, ist das klug?
Jetzt frage ich Sie, Herr Kollege Wehner,
({14})
wenn Sie in dieser Sache Fragen an den Kanzlerkandidaten der Union stellen:
({15})
Ist das richtig? Ist das klug?
({16})
- Herr Kollege Wehner,
({17})
führen Sie - ({18})
Meine Damen und Herren, führen Sie mit uns den Streit auf die sachliche Ebene eines Steuergesetzes zurück! Das Vermittlungsverfahren bietet dafür die geeignete Plattform. Angesichts unserer europarechtlichen Gebundenheit ist es die. Pflicht der Bundesregierung und ist es vor allem die Pflicht des Bundeskanzlers, besonders sorgfältig abzuwägen, ob Sie es verantworten können, das Gesetz entgegen eindeutigen Rechtsverpflichtungen gegenüber der Europäischen Gemeinschaft endgültig scheitern zu lassen.
({19})
- Herr Kollege Jahn, ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen und kann mich an keinen Vorschlag aus den Reihen der Koalition, die ihre Vertragspflichten erfüllen will, erinnern, der uns geholfen hätte, aus dieser Kontroverse herauszukommen.
Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über den Antrag von SPD und FDP der Stimme enthalten, weil die Zielsetzung des Anrufungsbegehrens nicht erkennbar ist.
({20})
Ich muß sagen, daß das nach Ihren Zwischenrufen noch weniger erkennbar ist.
Die Beratungen im Vermittlungsausschuß werden zeigen, ob sich die Bundesregierung und die Koalition nunmehr in der Lage sehen, vertragsrechtlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und unsere verfassungspolitischen Überzeugungen zu respektieren oder ob wiederum nur eine substanz- und, sprachlose Anrufung des Vermittlungsausschusses gewollt ist. Schlagen Sie eine tragfähige Brücke, und wir sind bereit, sie zu betreten!
({21})
Herr Abgeordneter Westphal, Sie haben völlig recht. Dieses und auch Ihre Ausführungen waren keine Erklärung.
({0})
- Herr Abgeordneter Wehner, es wird niemanden in diesem Hause geben, der für sich den Anspruch erheben kann, unfehlbar zu sein.
({1})
Auch die Erhöhung auf diesen Sitz begründet diesen Anspruch nicht. Deshalb ist der Einwand des Kollegen Westphal völlig richtig, daß es sich hier nicht um eine Erklärung gehandelt hat, die nicht durch eine Zwischenfrage unterbrochen werden durfte, sondern um eine politische Stellungnahme der Fraktionen zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und der FDP. Insoweit bin ich gern bereit anzuerkennen, daß die Zwischenfrage, die Sie stellen wollten, zu Recht hätte gestellt werden können, wenn der am Podium Stehende seine Zustimmung gegeben hätte. Ich glaube, damit ist der Friede im Haus wiederhergestellt.
({2}) Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie jedermann weiß, muß die Bundesre13922 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
gierung die Anpassung ihres Umsatzsteuerrechts an die EG-Richtlinien bis zum 1. Januar 1980 sicherstellen. Dazu ist ein neues - das betone ich für alle, auch für die Opposition - Steuergesetz erforderlich, und eben das wird von der Mehrheit der CDU/CSU-regierten Länder im Bundesrat bis heute blockiert.
Zum Streitpunkt ist dabei die Neuformulierung des Inlandsbegriffs geworden: Verehrter Herr Kollege Vogel, mir scheint es offenkundig zu sein, wer hier wo vehikelt. Wenn das „Reich in seinen Grenzen von 1937" jetzt durch eine Formulierung ersetzt werden soll, die den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen angepaßt ist, dann dürfte dies den gesetzgebenden Organen der Bundesrepublik Deutschland eigentlich keine Probleme bereiten.
Den Streit, den wir hier ausfechten, versteht im Ausland bestimmt niemand, und selbst bei der eigenen Bevölkerung können sich dafür nur sehr wenige erwärmen. Es geht nämlich überhaupt nicht um einen Prinzipienstreit; denn wider jede Vernunft wird hier ein Schaukampf aufgeführt, als ginge es um die Frage, wer denn nun der bessere Deutsche sei. Dabei will niemand, auch die Opposition nicht, Hoheitsgewalt über die DDR und die früheren deutschen Ostgebiete beanspruchen und ausüben. Aber im Ergebnis stellt sich die Opposition mit ihrer Haltung gegen die Europäische Gemeinschaft. Dort sind bereits Irritationen über die Verzögerung des Verfahrens für ein europäisches Gesetz erkennbar geworden. Und die Opposition handelt dabei nun wahrlich auch nicht als Sachwalter der deutschen Interessen.
Zur Sachproblematik selbst hat der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Peter Hermes, in einer gutachterlichen Äußerung folgendes formuliert: Wenn die Bundesrepublik Deutschland in einem im Jahre 1979 neu erlassenen Umsatzsteuergesetz den alten auf das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 abstellenden Inlandsbegriff erneut verwenden würde, so würde sie „gegen von ihr übernommene zwischenstaatliche rechtliche Verpflichtungen verstoßen und sich außerdem in einen Widerspruch zu . zahlreichen von der Bundesregierung insbesondere gegenüber der polnischen und der DDR-Regierung abgegebene Versicherungen setzen".
({0})
Meine Damen und Herren, auch für die Opposition ist die Persönlichkeit des Gutachters nach fachlicher Qualifikation, Besonnenheit und parteipolitischer Präferenz sicherlich unumstritten.
({1})
Sie sollte deshalb auf das Wort eines erfahrenen und geschätzten Mannes hören.
({2})
Es sollten endlich keine Schlachten mehr mit falschen Waffen und auf falschen Kriegsschauplätzen
geschlagen werden. Es bleibt zu hoffen, daß sich
im neuen Vermittlungsverfahren endlich die Einsicht durchsetzt, daß es mit Rücksicht auf unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft an der Zeit ist, das Schattenboxen mit dem Osten bei einem Seitenblick auf den Wähler einzustellen.
({3})
Meine Damen und Herren, meiner Ansicht nach ist dieser Streit so unnötig wie ein Kropf; er ist höchst überflüssig. Beseitigen wir diesen Streit durch das neue Vermittlungsverfahren!
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Anrufung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 8/3245 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke! Die Gegenprobe! - Danke! Stimmenthaltungen? - Bei zahlreichen Enthaltungen ist der Antrag angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Mai 1979 und dem Beschluß vom 24. Mai 1979 über den Beitritt der Republik Griechenland zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
- Drucksache 8/3231 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Auswärtiger Ausschuß ({0})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Einbringung gewünscht? Das Wort hat der Herr Staatsminister von Dohnanyi.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Vogel bei dem eben abgeschlossenen Tagesordnungspunkt meinte, der Bundesregierung vorwerfen zu können, sie hielte sich nicht an die Vereinbarungen im Rahmen der Römischen Verträge, möchte ich doch mit einem Satz darauf zurückkommen.
({0})
Herr Kollege Vogel, es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß die Bundesregierung diese Vereinbarungen einhält. Es besteht auch kein Zweifel daran, daß der Verlauf der Diskussion zu diesem letzten Tagesordnungspunkt für uns Probleme aufwirft. Der Appell, der hier an uns alle gerichtet wurde, nämlich diesen Punkt von seiten der Opposition noch einmal zu überdenken, kann aus den Erfahrungen in den Verhandlungen der BundesreDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13923
gierung in der Europäischen Gemeinschaft nur unterstrichen werden.
({1})
Herr Staatsminister, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Punkt 5 der Tagesordnung aufgerufen habe. Selbstverständlich hat die Bundesregierung - das ist Ihnen sicherlich auch bekannt - jederzeit das Recht, zur laufenden Debatte das Wort zu beanspruchen. Im Augenblick würde ich aber ,sehr darum bitten, daß wir uns auf den Punkt 5 konzentrieren.
({0})
Herr Präsident, das ist selbstverständlich. Man kann auf der anderen Seite aber nicht unbefangen zu einem wichtigen europäischen Thema sprechen, wenn der vergangene Punkt ein so wesentliches europäisches Thema so streitig behandelt hat.
({0})
Herr Präsident, es ist ein beachtlicher Erfolg der Europäischen Gemeinschaft, aber auch dieser Bundesregierung, daß der Deutsche Bundestag heute die erste Beratung des Gesetzes über den Beitritt der Republik Griechenland zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vornehmen kann.
Die Lage der Gemeinschaft heute unterscheidet sich damit markant von derjenigen, die die sozialliberale Koalition vor zehn Jahren vorfand. Damals stand die Entwicklung im Schatten einer ebenso zähen wie erfolglosen Debatte über den Beitritt Großbritanniens und anderer nordeuropäischer Nationen. Die damalige Sechsergemeinschaft zeigte sich in vielen wichtigen Fragen -handlungsunfähig, weil mindestens ein Partner eine Fortentwicklung der Gemeinschaft vor ihrer Erweiterung als präjudizierend und als den Beitritt Großbritanniens erschwerend betrachtete, während mindestens ein anderer Partner die Auffassung vertrat, die Sechsergemenischaft müsse zunächst ihre eigenen inneren Probleme bewältigen und die Integration vertiefen, bevor sie eine Erweiterung in Angriff nehmen könne.
Wir sollten uns deswegen heute daran erinnern, daß dieses Dilemma erst auf der Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 in einem Durchbruch gelöst werden konnte. Ohne diesen Durchbruch, an dem die Regierung Brandt/Scheel entscheidend mitgewirkt hat, könnten wir wahrscheinlich heute auch den Beitritt Griechenlands noch nicht beraten.
Das vergangene Jahrzehnt europäischer Politik weist eine Vielzahl bedeutsamer Fortschritte auf. Die Konstituierung des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments liegt nur wenige Monate zurück. Neben der Erweiterung der Gemeinschaft im Norden, dem inneren Ausbau, also der Vertiefung der Neunergemeinschaft, zum Beispiel durch den Beginn einer gemeinsamen Strukturpolitik, jetzt auch durch den Beginn einer gemeinsamen Energiepolitik, war die Vereinbarung über das europäische Währungssystem sicherlich einer der bedeutsamsten Fortschritte. Eine zunehmende erfolgreiche außenpolitische Zusammenarbeit deutet auf die Fortschritte der allgemeinen politischen Integration. Das Gewicht der Europäischen Gemeinschaft als Wirtschaftsfaktor im Welthandel ist in diesem Jahrzehnt gewachsen, auch unser Gewicht in der Entwicklungspolitik; und der politische Einfluß der Gemeinschaft hat unzweifelhaft zugenommen.
Diese unbestreitbaren Tatsachen sollten uns jedoch nicht die Probleme übersehen lassen, vor denen die Gemeinschaft heute steht. Die regionalen Strukturunterschiede wurden in den kritischen Wirtschaftsjahren offenkundiger. Von einer wirklichen Konvergenz der Wirtschaftspolitiken kann immer noch keine Rede sein. Der Subventionswettbewerb der Mitgliedstaaten untereinander, ja gegeneinander, nimmt besorgniserregend zu. Zu einem Teil haben wir auch die Erweiterung im Norden Europas und die damit zusammenhängenden Probleme -sicherlich noch nicht voll bewältigt.
So steht die Europäische Gemeinschaft gerade in diesem Herbst erneut vor der Frage, die von einzelnen Mitgliedstaaten aufgeworfen wird, ob und inwieweit die Gemeinschaftspolitiken, wie zum Beispiel die Agrarpolitik und die regionale Strukturpolitik, untereinander ausgewogen sind und inwieweit sie den einzelnen Mitgliedstaaten in einer gerechten und den Interessen der ganzen Gemeinschaft entsprechenden Verteilung zugute kommen. Der Europäische Rat in Dublin muß hier eine überzeugende Antwort finden, ohne ein gefährliches Prinzip des, wie man so sagt, „just retour", also einer oberflächlichen Gemeinschaftsrendite, zu akzeptieren; denn ähnliche Fragen werden auch durch die neue - die südliche - Beitrittsrunde aufgeworfen werden.
Die Bundesregierung übersieht also nicht die strukturellen Schwierigkeiten dieser vor uns liegenden südlichen Beitrittsrunde. Dennoch: So konsequent und notwendig, wie die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft im Norden war, so notwendig und konsequent ist jetzt die südliche Erweiterung der Gemeinschaft. Sie soll mit dem vereinbarten Beitritt der Republik Griechenland zum 1. Januar 1981 beginnen.
Die Republik Griechenland war seit 1962 mit der Europäischen Gemeinschaft verbunden. Ihr Beitritt wäre vermutlich früher erfolgt, wenn nicht die Blockierung der demokratischen Strukturen durch das Regime der Obristen eine unvermeidliche Pause in dieser Entwicklung erzwungen hätte. Dasselbe gilt übrigens auch für Portugal und Spanien, für die der Weg in die Demokratie auch den Weg in die Europäische Gemeinschaft öffnete.
Die Gemeinschaft hat eben für die ,sie umgebenden Nachbarstaaten offenkundig an Gewicht ge13924 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
wonnen, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch: Die Demokratie erweist sich hierbei als große Anziehungskraft.
Die vor uns liegende Erweiterung der Gemeinschaft bietet große Chancen für die beitretenden Länder ebenso wie für die heutigen Mitglieder der Gemeinschaft. Der Beitritt Griechenlands verstärkt die Position der Gemeinschaft im Mittelmeerraum, er öffnet einen Markt von über 10 Millionen Menschen für Industrie und Gewerbe in der Gemeinschaft. Wichtiger aber als dies: Die Gemeinschaft mit ihren 260 Millionen Einwohnern wird nun ein offener Markt für unsere fleißigen und einfallsreichen griechischen Nachbarn.
Ich sagte schon: Die Bundesregierung sieht die Chancen und die positiven Aspekte der neuen Beitrittrunde der Mittelmeerstaaten; aber sie unterstreicht auch die Probleme, die mit dieser Beitrittsrunde verbunden sein werden. Die Gemeinschaft, deren neun Mitgliedstaaten schon heute oft Schwierigkeiten haben, ihren Entscheidungsprozeß rationell und effektiv zu gestalten, wird auf eine Straffung und Stärkung' der Entscheidungsfähigkeit bei nunmehr bald zehn und zukünftig wohl zwölf Mitgliedstaaten noch mehr Wert legen müssen. Die Bundesregierung erwartet deswegen mit Interesse die Vorschläge der sogenannten drei Weisen, die in diesen Tagen unterbreitet werden sollen. Sie wird diese Vorschläge gemeinsam mit den Vorschlägen zur Organisation der Kommission, die vor einigen Tagen vorgelegt wurden, zu bewerten haben.
Meine Damen und Herren, auch die wirtschaftlichen Probleme dürfen nicht unterschätzt werden. So haben z. B. unsere italienischen, aber auch unsere französischen Freunde auf die Tatsache hingewiesen, daß durch die Erweiterung neue Konkurrenz insbesondere für ihre Agrarprodukte in der Gemeinschaft entstehen wird. Um so mehr weiß es die Bundesregierung zu würdigen, daß diese Mitgliedstaaten, die heute schon Anrainer am Mittelmeer sind, die südliche Beitrittsrunde so konstruktiv und positiv mit eingeleitet und mit vorangebracht haben. Ihre Interessen werden wir in den weiteren Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren.
In diesem Zusammenhang muß allerdings die Feststellung getroffen werden, daß durch die Erweiterung der Gemeinschaft nach Süden auch in der Agrarpolitik neue Akzente gesetzt werden müssen. Wir müssen uns dem rechtzeitig stellen. Dies gilt insbesondere für die Überschußprodukte.
({1})
Schließlich stellen sich im Zusammenhang mit dem Beitritt Griechenlands - und später Portugals und Spaniens, wie wir hoffen - auch für diejenigen Staaten Fragen, die nicht Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, aber auch Anrainer des Mittelmeeres sind. Ich meine insbesondere die Türkei, aber auch Jugoslawien und nicht zuletzt Israel und die arabischen Staaten an der nordafrikanischen Küste. Die Gemeinschaft muß die Erweiterung auch für diese Länder zu einer Chance werden lassen. Das
Mittelmeer als Ganzes ist eine Region besonderer politischer Verantwortung für Europa. Es darf insbesondere keine zusätzlichen Behinderungen im Zugang zum europäischen Markt geben. Daß gerade dies eine schwierige Aufgabe sein wird, ist angesichts der Erfahrung, die die Gemeinschaft in einigen anderen Bereichen bereits gemacht hat, offenkundig. Um so mehr Aufmerksamkeit wird die Bundesregierung dieser Aufgabe zu widmen ha- ben. Die Verhandlungen mit Griechenland konnten im wesentlichen in der Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft, also in der zweiten Hälfte 1978, abgeschlossen werden. Die Bundesregierung möchte an dieser Stelle deswegen noch einmal der griechischen Regierung für die konstruktive Zusammenarbeit danken, die wir während der oft schwierigen Verhandlungen von griechischer Seite erfahren haben.
({2})
Die Bundesregierung hat dem Parlament auf Wunsch der griechischen Regierung den Entwurf des Vertragsgesetzes beschleunigt zugeleitet. Der Bundesrat hat keine Einwände erhoben. Ich möchte für die Bundesregierung dem Bundesrat für die zügige und positive Stellungnahme ausdrücklich danken.
Die Bundesregierung bittet nun alle beteiligten Ausschüsse des Deutschen Bundestages, möglichst zügig zu beraten. Sie bietet selbstverständlich ihre Zusammenarbeit für alle Einzelfragen an.
Meine Damen und Herren, wir sehen dem 1. Januar 1981, dem geplanten Datum für den Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft, mit Freude entgegen.
({3})
Danke, Herr Staatsminister. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Narjes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt erneut den Abschluß der Verhandlungen über den Beitritt der Republik Griechenland zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Mit dem vorliegenden Vertragswerk sind wir dem großen Ziel der Einheit des freien und demokratischen Europas um einen bedeutsamen Schritt nähergekommen. Der Abschluß des griechischen Beitrittsvertrages und der Beginn der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft legen Zeugnis ab von der über alle Rückschläge hinweg lebensfähigen Idee der Einigung Europas. Sie erweist sich erneut als die konstruktivste politische Idee unseres Jahrhunderts. Ihr Anspruch als Modell regionaler Friedenspolitik wird dadurch abermals untermauert. Der Beitritt betrifft nicht nur die drei Integrationsverträge, sondern auch das politische Konsultationssystem der Europäischen Gemeinschaften, der EPZ. Er bringt dadurch die untrennbare VerDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13925
knüpfung aller wirtschaftlichen und politischen Lebensinteressen der europäischen Staaten zum Ausdruck.
Die Süderweiterung gibt Europa die Chance, sein Ziel als Region der Demokratie, des wirtschaftlichen Wohlstands, der sozialen Solidarität und Stabilität und der weltwirtschaftlichen Verantwortung erfolgreich auszubauen und zu entwickeln zu einer tiefen und unauflösbar im Bewußsein der Völker verankerten Schicksals- und Friedensgemeinschaft der Freien und Gleichen. „Schicksalsgemeinschaft" bedeutet den Vorrang der europäischen Verpflichtungen bei der Bestimmung aller politischen Interessen der Mitgliedstaaten einschließlich der Verteidigungspolitik und der Außenbeziehungen. „Friedensgemeinschaft" verlangt den unwiderruflichen und über alle anderen Verpflichtungen hinausgehenden Verzicht auf die Anwendung von Gewalt oder auch nur die Drohung mit Gewalt bei der Lösung von Konflikten mit anderen Mitgliedstaaten oder Assoziierten der Europäischen Gemeinschaft.
Unsere Genugtuung über das Zustandekommen dieses Vertrags ist besonders groß, weil der ihm vorhergehende Assoziierungsvertrag für nahezu sieben Jahre einer leidvollen Prüfung des griechischen Volkes unterbrochen war. Wir sehen es als einen Teil unserer Verpflichtung zur europäischen Solidarität an, durch einen erfolgreichen Beitritt die demokratische Entwicklung in Griechenland zu festigen und unauflösbar zu verankern.
Diese erfreuliche Entwicklung der griechischen Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft ist in erster Linie das persönliche Verdienst der Weitsicht und Beharrlichkeit eines großen griechischen Staatsmannes, des Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis, des Ministerpräsidenten Griechenlands 1961/62 und heute wieder. Ich erinnere mich - wenn dieses persönliche Wort erlaubt ist - noch gerne an seinen Besuch in Brüssel, als er vor 20 Jahren Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den griechischen Assoziationsantrag überreichte und diesen damals eindrucksvoll und ausschließlich politisch begründete. Wir haben deshalb seine Auszeichnung mit dem Karlspreis der Stadt Aachen im vergangenen Jahr besonders begrüßt.
Die Beitrittsverhandlungen mit Griechenland wurden 1975 in einer Phase der Europäischen Gemeinschaft begonnen, die durch eine deutliche Schwäche gekennzeichnet war; eine Schwäche, die durch die Rezession und die im Tindemans-Bericht damals beschriebene Unsicherheit über die politische Orientierung des europäischen Einigungswerkes verursacht war. Die innergemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse der Jahre 1975 bis 1977 zwischen dem in den europäischen Verträgen nicht vorgesehenen Europäischen Rat, dem Ministerrat und der Europäischen Kommission über den Beitritt Griechenlands wiesen damals deutliche Mängel auf, an die wir uns erinnern müssen, wenn wir über die durch die Erweiterung ausgelösten institutionellen Probleme zu befinden haben.
Auch für das Ratifizierungsverfahren des vorliegenden Beitrittsvertrages gibt es, Herr Staatsminister von Dohnanyi, ein offenes Problem, das einer konstruktiven und demokratischen Lösung zugeführt werden sollte; wir meinen die förmliche Beteiligung des vor vier Monaten direkt gewählten Europäischen Parlaments an der Ratifizierung des griechischen Beitrittsvertrages, so wie es die Fraktion der Europäischen Volkspartei auf eine Initiative unseres Berliner Kollegen Gero Pfennig geforder hat. Wir hoffen auf die Zustimmung der Bundesregierung.
In seiner Substanz ist der Beitrittsvertrag notwendigerweise ein Kompromiß im doppelten Sinne: einmal zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und ihren verfassungsmäßigen Organen und zum anderen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der griechischen Regierung. Kompromisse bedeuten Konzessionen von allen Seiten und schließen es aus, Maximalforderungen durchzusetzen oder sie als alleinigen Maßstab der Bewertung heranzuziehen. Wir begrüßen es, daß Griechenland von Anfang an als Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft beitritt, und wir meinen, daß die Prüfung dieses Vertrages in den Ausschüssen des Bundestages ergeben wird, daß es sich, alles in allem, um einen hinreichend ausgewogenen und deshalb zustimmungsfähigen Kompromiß handelt.
Dies gilt auch für die Dauer und die Ausgestaltung der fünfjährigen Übergangsperiode. Welcher Art die spezifischen Probleme hier sind, hat der Bundesrat bereits in seiner einstimmig angenommenen Entschließung zum Beitrittsvertrag umrissen: Sie liegen im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Agrarpolitik, der Finanzleistungen und der institutionellen Ordnung der erweiterten Gemeinschaft.
Die Diskussion über die Sachprobleme sollte in den Ausschüssen - darin stimmen wir mit der Bundesregierung überein - zügig, aber auch gründlich erfolgen, weil den Regelungen des griechischen Beitrittsvertrages in mancher Hinsicht eine präjudizierende Wirkung für die laufenden oder anstehenden Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal und auch für später denkbare Verhandlungen mit der Türkei zukommt.
({0})
Der Bundestag kann sich dabei auf das reiche Anschauungsmaterial stützen, das die Anhörungsverfahren der zuständigen Ausschüsse über die Probleme der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft im Mai 1978 vermittelt hat.
Eine Prüfung verdient dieser Vertrag im übrigen auch wegen seiner Rückwirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft mit Drittländern, insbesondere mit den Anrainern am Südufer des Mittelmeeres.
Mit dem Abschluß dieses Vertrags hat sich die Gemeinschaft politisch zum wirtschaftlichen und sozialen Erfolg der Integration Griechenlands verpflichtet, so wie sie später auch für den ökonomischen und sozialen Erfolg der Erweiterung der Ge13926 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
meinschaft um Spanien und Portugal und vielleicht auch einmal um die Türkei einzustehen hat. Sie hat damit eine Herausforderung auf sich genommen, für die es kaum ein Beispiel in der Wirtschaftsgeschichte gibt. Sie kann dieser Herausforderung nur erfolgreich begegnen, wenn sie sich der konstruktiven und tatkräftigen Mitwirkung der Erweiterungspartner sicher ist. Eigene Leistungen, ob es sich um einen verstärkten Kapitaltransfer oder um die schnelle Öffnung der europäischen Märkte etwa für griechische Produkte handelt, werden allein nicht genügen, um dieses Ziel zu erreichen. Es gilt, zusammen mit den neuen Mitgliedern dynamische Wachstums- und Entwicklungsprozesse einzuleiten und auch durchzuhalten, es gilt, Barrieren umsichtig aus dem Weg zu räumen und keine neuen zu errichten. Es gilt aber auch - das hat das Anhörungsverfahren deutlich gemacht - aus den zum Teil nur begrenzten Erfolgen früheren Bemühens der Sechser-Gemeinschaft um die Lösung von Entwicklungsaufgaben in Süd- und Inselitalien Lehren zu ziehen. Dazu gehören viel Augenmaß, Zähigkeit und die Erkenntnis, daß die Verflechtungsprozesse keine Einbahnstraßen bleiben dürfen.
Kurzum: Ohne einen funktionsfähigen Binnenmarkt kann der volle ökonomische Nutzen des Beitritts nicht erzielt und die Herausforderung nicht bestanden werden. Ich nehme dazu an, daß die heiklen Probleme der Freizügigkeit der griechischen Arbeitnehmer und des Risikos einer für gewisse Agrarprodukte noch steigende Überproduktion uns in den Ausschüssen und vielleicht auch noch einmal in der Abschlußberatung dieses Hohen Hauses beschäftigen werden.
Für die politische Bewertung der Erweiterung bleibt es die wichtigste Frage, zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Handlungsfähigkeit der Institutionen der Gemeinschaft durch die Erweiterung beeinträchtigt werden kann und mit welchen Methoden und Änderungen der gegenwärtigen Praxis der europäischen Institutionen sie den möglichen Risiken und Beschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit begegnen kann. Sie wird sich dabei an den Grundsätzen zu orientieren haben, die in der Präambel zu den Römischen Verträgen mit einem hohen Grad an Selbstverpflichtung vereinbart worden sind.
Die Erweiterung der Gemeinschaft darf nicht zu Lasten ihrer Vertiefung gehen. Sie sollte eher als ein Hebel, eine Chance und eine Möglichkeit begriffen werden, Hindernisse ihrer Veränderung, Entwicklung und Vertiefung beiseite zu räumen. Also Vertiefung durch Erweiterung - und nicht Erweiterung anstelle von Vertiefung - sollte unsere Losung sein. Wir können ihr dann gerecht werden, wenn wir uns der ernsten Mahnung bewußt sind, die die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Laufe der Verhandlungen mehrmals mit beachtenswerten Gründen vorgebracht hat.
In diesem Geist wird sich die Fraktion der CDU/ CSU dafür einsetzen, daß der Vertrag über den
Beitritt Griechenlands im Deutschen Bundestag rechtzeitig ratifiziert werden kann.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt ({0}).
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den Tischen des Bundestages liegt heute ein mehr als 60 Seiten umfassendes Vertragswerk über den Beitritt Griechenlands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. In diesem Vertragswerk sind umfangreiche und ins einzelne gehende Bestimmungen enthalten, z. B. über die gemeinsame Marktorganisation für Obst und Gemüse, Hopfen, Eier, Erbsen, Puffbohnen, Ackerbohnen und Seidenraupen.
Dieses Vertragswerk ist Ausdruck eines komplizierten Verhandlungsprozesses und Interessenausgleichs zwischen Griechenland und der EG der Neun. Diese Paragraphen wären aber nicht denkbar ohne politische Zielsetzung und ohne einen politischen Willen: Diese Paragraphen sind Ausdruck unserer politischen Ideen und unseres Interesses an Fortschritten im westeuropäischen Einigungsprozeß.
So sehr wir darauf achten müssen, daß diese europäische Idee, dieses europäische Interesse sich weiterhin in Paragraphen und Vertragswerken - z. B. mit Portugal und Spanien - konkretisiert, so sehr müssen wir als Politiker auch darauf achten, daß der westeuropäische Einigungsprozeß nicht in Paragraphen und Marktordnungen erstarrt, weil er dann seines politischen Impulses und seines Charakters als politischer Bewegung beraubt würde. Ich erinnere daran, daß Jean Monnet seine Bewegung „Europäische Bewegung" genannt hat. Wir sollten dies auch als Auftrag für die Art und Weise verstehen, wie wir unsere Diskussionen über das Beitrittsersuchen Griechenlands und den ausgehandelten Kompromiß hier führen.
Unsere Unterstützung des Beitritts Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft ist Ausdruck unserer politischen Zielsetzung: Wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft für alle europäischen Demokratien, die Mitglied werden wollen, offen ist und offenbleibt. Das heißt: Wir hoffen auch auf einen baldigen erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal. Wir denken darüber hinaus aber auch nach wie vor an andere europäische Staaten. Wir hoffen, daß insbesondere in Skandinavien das letzte Wort über die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft noch nicht gesprochen ist.
Aus dem Griechischen stammt unser Wort für „Demokratie". In der kritischen Auseinandersetzung mit den Demokratien des griechischen Altertums und in der krititschen Auseinandersetzung mit den Staatstheorien, z. B. Platons, haben sich die modernen Demokratietheorien in Europa entwikkelt. Die griechische Kultur und Griechenland selDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13927
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ber sind untrennbarer Bestandteil unserer eigenen Geschichte und Kultur. Die griechische Demokratie heißen wir als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft innerhalb der Neun und durch die Neun herzlich willkommen.
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Wir heißen die griechische Demokratie nach 1974 genauso herzlich willkommen, wie wir die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 zurückgewiesen haben. Ich möchte hier jetzt nicht auf manches zwiedeutige, manchmal auch sehr eindeutige Verhalten mancher Unionspolitiker in der Zeit von 1967 bis 1974 anspielen.
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Dazu wird an anderem Ort Gelegenheit sein. Ich freue mich aber über das eindeutige Ja zum Beitritt des demokratischen Griechenlands jetzt. Es war richtig, das Assoziierungsabkommen der Europäischen Gemeinschaft von 1961 mit Griechenland für die Dauer der Militärdiktatur einzufrieren. Heute zeigt sich: Unsere Solidarität mit dem demokratischen Widerstand und der demokratischen Emigration zur Zeit der Militärdikdatur verbindet uns mit dem heutigen Griechenland.
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Mit dem Beitritt Griechenlands und später Portugals und Spaniens werden die wirtschaftlichen Unterschiede und - wenn man realistisch ist, muß man das hier auch sagen - Spannungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zunehmen. Die Zahl der strukturschwachen Regionen und wirtschaftlichen Krisengebiete, auch die Zahl der Arbeitssuchenden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wird wachsen. Sowohl der Vertreter der Regierung, Herr Staatsminister von Dohnanyi, als auch Herr Narjes haben darauf zu Recht hingewiesen. Es wäre unredlich, wenn wir diese Probleme, die auf die Neun und auch auf Griechenland, Spanien und Portugal selber zukommen werden, leugnen würden. Es wäre unverantwortlich, wenn wir diese Länder hinsichtlich dieser Probleme, die nicht nur die Anpassung an die Bedingungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sondern die wirtschaftliche Struktur in diesen Ländern betreffen, sich selber überlassen würden, ohne daß wir über Problemlösungen und Hilfsmöglichkeiten nachdenken würden.
Dies ist der Kerngedanke des von uns Sozialdemokraten entwickelten Solidaritätsprogramms mit Südeuropa. Wie immer man dieses Problem beurteilen oder nennen mag: Die Verantwortung und die Aufgabe der Solidarität der hochentwickelten Industriestaaten Zentral- und Nordeuropas mit den wirtschaftlichen Problemregionen Südeuropas bleiben bestehen. Das Beispiel der Türkei zeigt, daß wir uns aus allgemeinpolitischen und insbesondere sicherheitspolitischen Gründen um diese Verantwortung nicht drücken können und nicht drücken wollen. Unsere Hilfsaktion für die Türkei zeigt auch, daß wir mit dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft gleichzeitig die Beziehungen zur Türkei beibehalten, festigen und fortentwickeln
wollen. Wir wollen alles, was die Frontstellung zwischen Griechenland und der Türkei begünstigt, abbauen und den Brückenschlag ermöglichen helfen. Aus meiner eigenen engeren Heimat in Schleswig-Holstein weiß ich, daß dort in den 20er Jahren ein Buch auf dänisch erschien mit dem Titel: „Front eller Bro", „Front oder Brücke". Damals war das eine Alternative, heute ist der Brückenschlag garantiert. Für uns ist es eine Aufgabe, das gleiche für das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei zu erreichen und durch die Mitgliedschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auch zu begünstigen.
Griechenland bringt nicht nur sich selber ein, es bringt auch seine Beziehungen zu seinen Nachbarn in die Europäische Gemeinschaft mit ein. Das gilt insbesondere für seine nachbarschaftlichen Beziehungen zur arabischen Welt. Das gilt auch für seine nicht immer konfliktfreien, aber trotzdem nach- barlichen Beziehungen zur islamischen Welt.
Ich darf darauf hinweisen, daß mit der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch Portugal und Spanien auch ganz neue Bezüge zu anderen Regionen der Welt auf uns zukommen, insbesondere z. B. zu Süd- und Mittelamerika, aber auch zu einigen Regionen Afrikas.
Aber Griechenland hat noch mehr einzubringen. In der bisherigen Diskussion ist unbeachtet geblieben, daß das griechisch-orthodoxe Griechenland besondere kulturelle und religiöse Beziehungen nach Osteuropa hin entwickelte. Zwar hat es immer Spannungen zwischen den Griechisch-Orthodoxen und z. B. den Russisch-Orthodoxen gegeben. Trotzdem ist die gemeinsame Verankerung und die Orientierung auf die orthodoxe Tradition noch ein bindendes Element. Ich glaube, daß wir mit dem Beitritt Griechenlands auch diese Klammer nicht nur zur arabischen und islamischen Welt als Brükkenschlag begrüßen und nutzen sollten, sondern daß wir uns auch dieses Brückenschlages und dieser Möglichkeit des Brückenschlages hin zu den kulturellen Wurzeln Osteuropas bewußt sein sollten..
Der Beitritt Griechenlands ist für uns auch eine wichtige Aufgabe und eine wichtige Zielsetzung in bezug auf die Stabilität und die Sicherheit in der gesamten Region. Es ist zu Recht gesagt worden, daß die Europäische Gemeinschaft für uns die Zielsetzung hat, auch als Friedensmacht zu wirken. Dies ist die Aufgabe, die durch diesen Beitritt erleichtert wird. Dies ist aber auch die Aufgabe, der wir uns insbesondere in dieser Region und im Verhältnis zu den Südanrainern des Mittelmeers stellen müssen.
Wir nehmen Griechenland als Demokratie auf. Wir erhoffen uns durch den Beitritt Griechenlands Impulse für die Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft. Deshalb ist in den letzten Monaten auch im Europäischen Parlament - ich möchte diese Idee ausdrücklich aufgreifen - mehrfach die Frage gestellt worden, ob man jetzt nicht auch die Gelegenheit nutzen sollte, so etwas wie eine Charta der Bürgerrechte für die Europäisch Gemeinschaft zu formulieren. Ich glaube, daß dieser Ge13928 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
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danke richtig ist und daß man weiter an ihm arbeiten sollte. Richtig ist auch der Gedanke, daß man weiter daran arbeiten sollte, dem Europäischen Parlament mehr Rechte zu geben oder es, soweit es möglich ist - an uns Deutschen wird das ja bestimmt nicht scheitern -, an diesem Prozeß der Ratifizierung zu beteiligen.
Wir müssen durch die Art der Behandlung des; Beitrittsgesuchs oder des fertigen Vertragswerke$ jetzt mit Griechenland - das gilt nachher auch für die anderen Staaten, für Portugal und für Spanien - sehr darauf achten, daß diejenigen, die in ihren Ländern für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, nicht enttäuscht werden. Viel Hoffnung ist mit diesen Beitrittsanträgen verbunden. Durch die manchmal bürokratische Behandlung von einzelnen Problembereichen könnte es geschehen, daß diese Hoffnung in Enttäuschung umschlägt. Wir müssen sehr darauf achten, daß diese politische Basis des Beitrittswunsches nicht weggezogen oder verkleinert wird. Das ist unsere große Aufgabe.
Gleichzeitig möchte ich an diejenigen appellieren, die bisher in Griechenland dem Beitritt kritisch gegenüberstehen - und diese Kritik zum Teil auch mit ernsthaften Sorgen und von uns auch ernst zu nehmenden Sorgen begründen -, daß sie jetzt, nachdem die Entscheidung für den Beitritt Griechenlands gefallen ist und bald auch rechtlich endgültig vollzogen sein wird, die Mitgliedschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft als Chance nutzen sollten, ihre Kritik in einem konstruktiven Sinne einzubringen, daß sie mithelfen, die Europäische Gemeinschaft noch demokratischer und sozialer zu gestalten.
Die europäische Gemeinschaft hat durch den Vertragsabschluß mit Griechenland ihre Handlungsfähigkeit bewiesen, so wie sie jenseits allen Gemunkels und Krisengeredes mit der Direktwahl zum Europäischen Parlament, mit dem Europäischen Währungssystem, auch mit dem neuen Lomé-Abkommen und der europäischen politischen Zusammenarbeit ihre Handlungsfähigkeit bewiesen hat.
Ich glaube, daß wir am 1. Januar 1981 nicht nur ein Land mehr als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft haben werden, sondern daß die Europäische Gemeinschaft in ihrer weiteren Entwicklung aus der Mitgliedschaft jetzt Griechenlands, dann Spaniens und Portugals Gewinn und Nutzen ziehen wird.
Ich möchte noch einmal sagen: Herzlich willkommen für das demokratische Griechenland, herzlich willkommen auch später für Spanien und Portugal.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bangemann.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicher richtig, daß der Beitritt Griechenlands zu den Europäischen Gemeinschaften Anlaß gibt, eine ganze Reihe von Zukunftsbetrachtungen anzustellen, was in den nächsten Jahren geschehen wird, denn dies ist der Beginn der zweiten Beitrittsrunde. Wir werden uns an Hand der Erfahrungen, die wir mit dem Beitritt Griechenlands machen, auch auf den Beitritt weiterer Länder einzurichten haben. Nur, meine Fraktion möchte zunächst einmal ganz klar und ohne Blick auf diese anderen Perspektiven festhalten, daß wir den Beitritt dieses neuen Mitgliedslandes ohne jeden Vorbehalt begrüßen und daß wir deswegen auch zunächst einmal ohne Blick auf weitere Perspektiven sagen: Es ist gut, daß Griechenland der Europäischen Gemeinschaft angehören wird; es ist gut für diese Gemeinschaft; es ist auch gut, wie wir hoffen, für Griechenland selbst, für die Gemeinschaft in jedem Fall schon deswegen, weil wir ja zwei unterschiedliche Europas haben.
Wir haben das politische Europa, das sich in der Europäischen Gemeinschaft zunehmend auf sich selbst besinnt, zusammenarbeitet, dabei aber auch nach außen hin schärfere Konturen annimmt, und wir haben ein Europa, das ja weit über dieses' politische Gebilde hinausreicht, ein Europa der Tradition, ein Europa gemeinsamer kultureller Inhalte, ein Europa, das zum Teil leider auch heute nicht denselben politischen Idealen leben kann. Deswegen empfinden wir es als eine neue Dimension der Europäischen Gemeinschaft, daß Griechenland - das Land, in dem die politische Tradition der Demokratie ihren Beginn gefunden hat - nun Mitglied dieser Gemeinschaft wird. Wir werden dadurch vielleicht ein wenig von dem selbst wiederfinden können, was wir immer vermissen, wenn wir die Gemeinschaft betrachten, nämlich ein politisches Identitätsgefühl, das dieser Gemeinschaft vielleicht tatsächlich verlorengegangen ist, weil sie sich zu sehr mit einzelnen Sachproblemen befaßt hat.
Ich glaube, daß die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft der Demokratien auch eine Stärkung der Demokratie in Griechenland selbst bedeuten kann. Wir wissen alle, daß das natürlich nicht allein von uns abhängen kann, auch nicht von diesem Beitritt. Ich darf hier noch einmal - wie auch die Kollegen - die Bewunderung der liberalen Fraktion für diejenigen Politiker aussprechen, die in Griechenland dazu beigetragen haben, daß die Mutter der Demokratie wieder diese Staatsform praktizieren kann. Es war nicht einfach. Vieles an Hilfe, was damals von den griechischen Demokraten erwartet worden ist, ist auch geleistet worden. Man muß aber gestehen, daß einiges an Hilfe, was hätte geleistet werden können, von den damals schon existierenden klassischen Demokratien in Europa nicht geleistet worden ist. Manche griechischen Demokraten waren ziemlich allein beim Kampf um die Wiedererringung der Demokratie in ihrem Lande.
Aber wir wollen nicht einen Blick zurück, auch nicht einen Blick zurück im Zorn tun, sondern uns nun einmal mit den Zukunftsaspekten beschäftigen, die dieser Beitritt auch für uns bedeutet. Es ist
ohne jeden Zweifel wichtig, daß man ihn in den größeren Zusammenhang des außenpolitischen Wirkens der Gemeinschaft stellt. Die Gemeinschaft grenzt heute schon durch zwei Mitgliedsländer an den Mittelmeerraum. Sie wird durch Griechenland ein drittes Mitglied haben, das im Mittelmeerraum lebt, und sie wird durch den Beitritt von Spanien und Portugal vollends zu einem nördlichen Anrainerstaat des Mittelmeeres, wenn ich einmal einige wenige Staaten ausnehme, die jetzt hier keine Rolle spielen. Das heißt, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das Mittelmeer, die Probleme des Mittelmeerraumes, die Entwicklungschancen, die dort liegen, für die Europäische Gemeinschaft in Zukunft eine größere Bedeutung haben werden. Diese Europäische Gemeinschaft muß sich stärker politisch engagieren. Sie muß das auch dann tun, wenn sie glaubt, daß sie damit vielleicht neue Probleme auf sich zieht, denn wir können die Probleme dieses Raumes nicht auf sich beruhen lassen oder sie anderen größeren Mächten aufbürden. Wir müssen hier selber zur Lösung dieser Probleme beitragen.
Das bedeutet, daß wir uns sowohl mit dem Problem Nahost, mit dem Konflikt in Nahost als auch mit einem vernünftigen Verhältnis zu den südlichen Anrainern des Mittelmeerraumes befassen müssen. Beides geht ineinander über. Die Europäische Gemeinschaft wird mit der Unterstützung Griechenlands vielleicht dafür sorgen können, daß wir zu einem Element des Friedens und der Zusammenarbeit in diesem Raum werden.
Daß wir beim Vollzug des Abkommens eine Reihe von praktischen Schwierigkeiten haben werden, möchte auch meine Fraktion deutlich sagen. Denn es wäre verhängnisvoll, wenn wir sozusagen bei der Feier, die wir heute veranstalten, vergaßen, welche Probleme in den künftigen Alltagswochen auf uns beide zukommen, auf uns wie auf Griechenland. Deswegen ist es wichtig, uns darüber Rechenschaft zu geben, daß nicht nur finanzielle Vorteile, nicht nur die Erweiterung eines Marktes beschlossen werden, sondern auch eine ganze Reihe von Fragen für beide Teile auftauchen werden. Ich nehme einmal den Bereich der Landwirtschaft heraus. Wir können mit einiger Befriedigung zur Kenntnis nehmen, daß Herr Staatsminister von Dohnanyi erklärt hat, daß die Bundesregierung sehr wohl diese Probleme sieht und daß sie neue Anstrengungen unternehmen will, um besonders die Überschußproduktionen zu beseitigen. Ich möchte für meine Fraktion sagen: So wichtig die Agrarpolitik in ihren Grundsätzen ist und obwohl sie heute, allgemein gesehen, fast schon zu einem Faktor der Preisstabilisierung geworden ist - wenn Sie sich die inflationäre Entwicklung der letzten Monate ansehen, werden Sie feststellen, daß wir in der Landwirtschaft überhaupt keine wesentlichen Preissteigerungen zu verzeichnen hatten -, darf gleichwohl nicht allein der Preis der Güter, die gekauft werden, in Rechnung gestellt werden, sondern man muß auch die Kosten der Überschußproduktion mit in Rechnung stellen. Ich bin sehr gespannt darauf, was die Bundesregierung hierzu vorschlagen wird. Wir sollten sie dabei unterstützen, dieses Problem in Angriff zu nehmen.
Im Zusammenhang mit dem Beitritt Griechenlands darf ich auch einen anderen Effekt erwähnen, den Herrn von Dohnanyi nicht ausdrücklich erwähnt hat. Er ist für mich aber fast noch wichtiger, wenn man den Beitritt Griechenlands und die Chancen, die das Land erhalten soll, beurteilen will. Der gesamte Geldtransfer, der über die Agrarfonds - besonders über den Garantiefonds - abgewickelt wird, macht ein Vielfaches der Summe aus, die wir über den Regional- oder den Sozialfonds für die Weiterentwicklung unterentwickelter Gebiete ausgeben. Das heißt, wenn man sich heute darüber beklagt, daß die Einkommens- und Wohlstandsdisparitäten in der Europäischen Gemeinschaft größer geworden sind einfach ausgedrückt: die armen Regionen werden ärmer, die reichen Regionen werden reicher -, so liegt das zum Teil auch daran, daß der Transfer, den wir über den Haushalt vornehmen, um die Ärmeren zu unterstützen und die Reicheren zur Solidarität zu bringen, nicht funktioniert, weil der Strom des Geldes aus dem Sozial- und Regionalfonds konterkariert wird durch den Strom des Geldes, der über die Garantiefonds in die reicheren Regionen fließt. Der Herr Staatsminister zuckt nicht einmal mit der Augenbraue, weil er weiß, daß das das eigentliche Problem der Europäischen Gemeinschaft ist. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich nicht nur mit der Überschußproduktion zu beschäftigen, sondern auch mit der Frage, was man tun kann, um über die sonstigen Finanzmechanismen eine wirkliche Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft herzustellen.
Dann war noch die Rede davon, daß wir uns auch mit der Frage der Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschäftigen werden. Das ist mehr ein Problem für uns. Wir sollten das gar nicht verheimlichen. Selbstverständlich gibt es auch für uns Probleme. Meine Fraktion unterstützt voll und ganz die Lösung, die in dem Vertrag gefunden worden ist: an dem Grundsatz der Freizügigkeit festzuhalten und gleichzeitig durch Übergangsregelungen eine Lösung praktikabel zu machen, die unnötige Spannungen vermeidet. Ich glaube, daß das die richtige Lösung ist. Denn wenn man eine solche Freizügigkeit dem Grundsatz nach ausgeschlossen hätte, hätte das erhebliche Folgen gehabt. Bekanntlich gab es dazu Vorschläge in der deutschen Debatte. Ich will das jetzt gar nicht wieder aufgreifen, weil es möglicherweise mißverstanden werden könnte. Aber es gab wichtige politische Persönlichkeiten bei uns, die diesen Grundsatz der Freizügigkeit für den Beitritt Griechenlands und der anderen Beitrittskandidaten ausgeschlossen wissen wollten. Das geht nicht. Wir können nicht ein ungleiches Recht für die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft schaffen. Ich halte es aber für ganz wichtig
- meine Fraktion möchte das unterstreichen -, daß wir in der Übergangsregelung versuchen, diese Fragen - und zwar im Interesse der Arbeitnehmer
- besser in den Griff zu bekommen, als das in der Vergangenheit vielleicht der Fall war.
Wir stehen weiter vor einer Frage, die hier auch schon mehrfach angeklungen ist, nämlich vor der Frage der institutionellen Entwicklung der Gemein13930 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
schalt. Ich glaube, daß man den Beitritt Griechenlands zum Anlaß nehmen sollte, diese institutionelle Entwicklung voranzubringen. In der Tat werden ja der Bericht und die Stellungnahme der Kommission sowie die Haltung des Rates hier in den nächsten Monaten eine große Rolle spielen. Ich möchte diesem Bericht nicht das Schicksal des TindemansBerichts wünschen. Dann nämlich, wenn der Ministerrat seine Tätigkeit bei der Weiterentwicklung der Institutionen der Gemeinschaft darauf beschränkt, von Zeit zu Zeit weise Männer einzusetzen und deren Rat anzuhören, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, werden beide, sowohl der Minsterrat als auch die weisen Männer, Schaden nehmen, weil dann Weisheit in Zukunft als folgenlos gilt, und das liegt sicherlich nicht im Interesse des Ansehens von Weisheit und von weisen Männern. Weisheit muß Folgen haben, auch in der Politik, Herr Staatsminister. Ich bitte darum, daß die Bundesregierung im Ministerrat daraus Konsequenzen zieht und nun wirklich einmal etwas tut, damit die institutionelle Entwicklung besser als in der Vergangenheit verläuft.
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu dem Vorschlag der Fraktion der Europäischen Volkspartei, der hier von dem Kollegen Narjes eingeführt worden ist, machen. Wenn man das rechtlich tun wollte, würde man sicher feststellen, daß es nicht geht. Dann, wenn Sie einen Blick in den Vertragstext werfen, werden Sie feststellen, daß die vertragschließenden Parteien die Mitgliedsländer auf der einen Seite und Griechenland auf der anderen Seite sind, daß also die Europäische Gemeinschaft als Rechtssubjekt von den Folgen dieses Vertrages betroffen wird, aber im Vertragstext nicht als vertragschließende Partei angesehen wird.
In Zukunft aber - und in Zukunft werden solche Fragen anders gelöst werden müssen - bedarf es natürlich auch einer Teilnahme des Europäischen Parlaments am Ratifikationsprozeß, und dies allein schon deswegen, weil die Haushaltsauswirkungen eines solchen Vertrages durch das Europäische Parlament genehmigt werden müssen. Das heißt, ich möchte den Zustand vermeiden, daß man das Parlament an der Ratifikation nicht beteiligt, wohl aber nachher das Parlament zwingt, haushaltsrechtliche Konsequenzen daraus zu ziehen, oder aber vielleicht sogar die Situation herbeiführt, daß dieses Parlament diese haushaltsrechtlichen Konsequenzen ablehnt, was meiner Meinung nach noch viel schlimmer wäre. Hier müssen wir also für die Zukunft eine Lösung ausarbeiten, und wir werden sie auch finden.
Lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen, die sich auf die Schlußbemerkung in der von der Bundesregierung gegebenen Begründung zum Vertragsgesetz bezieht. Es heißt dort - wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, darf ich zitieren -:
Dem Bund entstehen unmittelbar keine Kosten. Mittelbar wird der Bundeshaushalt durch erhöhte Abführung von Mehrwertsteuereinnahmen an den Gemeinschaftshaushalt im Rahmen der Regelung über die eigenen Einnahmen der
Gemeinschaft betroffen. Der deutsche Anteil an der Mehrwertsteuer, die nach dem Beschluß des Rates vom 21. April 1970 über die eigenen Einnahmen der Gemeinschaft an die Gemeinschaft abzuführen ist, beträgt z. Z. rund 32 Prozent.
Dann wird gesagt, das würde mittelbar eine neue deutsche Belastung von rund 320 Millionen DM bedeuten.
Diese Begründung ist nicht direkt falsch, aber sie ist - wenn ich die Worte „mittelbar" und „unmittelbar" hier einmal sinngemäß aufgreifen darf - indirekt falsch. Damit habe ich übrigens, Frau Präsidentin, einen Anknüpfungspunkt an die vorige Debatte, der es mir erlaubt, dazu einige Bemerkungen zu machen, ohne daß das geschäftsordnungswidrig wäre. Richtig ist ja gar nicht mehr, daß wir über den Mehrwertsteueranteil unmittelbar eine Belastung herstellen könnten, sondern richtig ist allenfalls, daß dieser Mehrwertsteueranteil steigt, wenn die Ausgaben der Gemeinschaft steigen, und daß sich dadurch eine Mehrbelastung ergibt. Es gibt aber keine unmittelbare Verbindung zwischen den Mehrkosten und unserem Anteil. Ich möchte das hier einmal deutlich sagen, damit dieses Argument aus den Debatten in diesem Hause verschwindet. Ich kann mich an eine Debatte in einer Nachtstunde erinnern, in der ich einmal versucht habe, die Problematik des europäischen Haushalts und der gemeinschaftlichen Finanzinstrumente unseren eigenen Haushaltsexperten nahezubringen, wobei ich sehr viel gelernt habe. Ob unsere eigenen Haushaltsexperten sehr viel gelernt haben, werden wir in den nächsten Monaten sehen.
Meine Fraktion, die liberale Fraktion dieses Hauses, unterstützt rückhaltlos den Beitritt Griechenlands in die Gemeinschaft. Dieser Beitritt entspricht auch einer alten liberalen Forderung. Wir haben uns immer dafür eingesetzt. Wir begrüßen das neue Mitglied in der Gemeinschaft, weil wir glauben, daß wir dadurch selber sehr viel an politischer Substanz, an politischer Identität zu gewinnen haben, und wir hoffen, daß unsere griechischen Freunde nicht enttäuscht sein werden, wenn sie Mitglied dieser Gemeinschaft sind.
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Viezpräsident Frau Renger: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates liegen Ihnen schriftlich vor. Erheben sich dagegen Widersprüche? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der SachverständigenKommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland ({1})
- Drucksache 8/2565 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
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Vizepräsident Frau Renger
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Picard..
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor neuneinhalb Jahren, im April 1970, hat der Deutsche Bundestag auf Grund eines Antrages meiner Fraktion zum erstenmal über die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland debattiert. Auf Grund dieses Antrages gab es dann zwei Anhörungen im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit. Eine davon fand in einem Landeskrankenhaus statt, wo wir uns sehr beeindruckt mit dem Problem direkt konfrontiert sahen. Dies hat dann zu einer einstimmigen Beschlußempfehlung des Hohen Hauses an die 'Regierung geführt, eine eingehende Untersuchung über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland anstellen zu lassen. Diese sogenannte Psychiatrie-Enquete wurde der Regierung vor fast genau vier Jahren zugeleitet, die dann ihrerseits dreieinhalb Jahre brauchte, um dem Parlament eine Stellungnahme zu überreichen, auf Grund deren wir heute endlich sowohl über die Enquete als auch die Stellungnahme debattieren können.
Natürlich ist es unmöglich, auf die Vielzahl der einzelnen Punkte, insbesondere auf die Empfehlungen, einzugehen. Ich muß mich nicht nur aus Zeitgründen auf einige wenige Bemerkungen beschränken, von denen ich meine, daß sie die wesentlichen Punkte berühren. Wir haben bisher das Thema der psychiatrischen Versorgung und alles, was damit zusammenhängt, in diesem Hause, in seinen Ausschüssen und auch in der Offentlichkeit als Mitglieder des Hohen Hauses im wesentlichen ohne kontroverse Diskussionen, ohne Spannungen und Auseinandersetzungen behandelt. Ich denke, daß wir dabei auch bleiben werden. Dennoch muß ich einige Kritik aussprechen. Ich denke, daß meine Fraktion recht hat, wenn sie bedauert, daß die Bundesregierung dieses so dringende gesundheits-und allgemeinpolitische Problem so zögerlich behandelt hat. Daraus kann man nicht schließen, daß das Interesse der Bundesregierung übermäßig groß ist. Es ist der Verdacht entstanden und geäußert worden, daß sich die Bundesregierung in die Reihe derer einreihe, die die Psychiatrie nach wie vor als ein Randproblem behandeln und es gar zu verdrängen suchen.
Im Zusammenhang mit der Arbeit der Sachverständigenkommission, mit der Psychiatrie-Enquete selbst, ihrer Veröffentlichung und einer Reihe von Tagungen, Berichten in Presse, Rundfunk und Fernsehen, für die man dankbar sein muß, auch wenn sie manchmal sehr kritisch und schockierend gewesen sind, ist das Problembewußtsein der Öffentlichkeit bei Politikern, Trägern und Verbänden erstaunlich gewachsen. Das ist gut so; denn wir müssen uns verdeutlichen, um welche Gruppe von Menschen es sich handelt. Es ist keineswegs, wie häufig angenommen wird, eine kleine Minderheit, sondern eine relativ große Gruppe von Menschen, die als Stiefkinder unserer Gesellschaft häufig in noch viel zu großen Krankenhäusern, weit entfernt von Familien und Freunden, mangelhaft versorgt,
gegenüber körperlich Kranken stark benachteiligt, unter immer noch menschenunwürdigen Umständen - das ist ein Zitat aus der Stellungnahme der Psychiatriereferenten der Bundesländer - und von der Umwelt diskriminiert leben müssen. Dieses sind sehr klare, nüchterne und einfache Feststellungen im Blick auf einen für unseren Staat äußerst betrüblichen Tatbestand, wobei wir davon überzeugt sind, daß unser Staat ein sozialer Rechtsstaat ist. Die Wahrscheinlichkeit, an seelischen Störungen zu erkranken, ist weitaus größer, als allgemein 'angenommen wird. Die Sachverständigenkommission hat u. a. festgestellt, daß 9 % der Bevölkerung wegen psychisch bedingter oder seelisch mitbedingter Störungen einen praktischen Arzt aufsuchen. Diese Gruppe umfaßt somit fast 6 Millionen Menschen jährlich.
Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß der Hausarzt, der Allgemeinpraktiker traditoneller Art, viel stärker als bisher in das Gesamtsystem der Versorgung integriert werden muß. Bei einem internationalen Vergleich schneiden wir als Bundesrepublik, die wir sonst mit Recht stolz darauf sind, im sozialen Bereich eine führende Position einzunehmen, schlecht ab. Wir liegen - verglichen mit einigen Nachbarländern - um 10 bis 15 Jahre in der Entwicklung der deutschen psychiatrischen Versorgung zurück. Das hat vielerlei Gründe, auf die ich nicht eingehen will. Aber es darf uns nicht daran hindern, eine etwas schnellere Gangart einzuschlagen.
Immer noch muß man zu Recht - wie kürzlich im Deutschen Fernsehen geschehen - die Psychiatrie als sozialen Notstand Nummer eins bezeichnen. In Fragen der psychiatrischen Versorgung ist die Bundesrepublik so etwas wie ein Entwicklungsland.
Die am 31. August 1971 konstituierte Sachverständigenkommission hat schon im Oktober 1973 einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem auf die brutale Realität in der stationären Versorgung psychisch Kranker und Behinderter hingewiesen wird. Es wurden Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse gefordert, und im Anschluß an den damaligen Zwischenbericht wurden auch überall Sofortprogramme aufgestellt, die in einigen Bereichen - besonders in dem der stationären Versorgung - sichtbare Veränderungen bewirkt haben. Dennoch können wir uns damit nicht zufriedengeben, meine Damen und Herren, daß sich in unseren großen psychiatrischen Einrichtungen die äußeren Verhältnisse gebessert haben. Inzwischen schreiben wir das Jahr 1979. Die eingetretene Verzögerung bei der Behandlung der Enquete führte dazu, daß sich Enttäuschung und Resignation breitgemacht haben bei den Betroffenen, bei deren Angehörigen und bei dem Personenkreis, der im Bereich der psychiatrischen Versorgung eine nicht leichte verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen hat. Die an die Stellungnahme der Bundesregierung zum Psychiatrie-Bericht geknüpften hohen Erwartungen sind enttäuscht worden. Das liegt auch an dieser Stellungnahme und nicht nur an einer gewissen Zwangssituation. Unter Hinweis auf mangelnde Kompetenz in einem weit überzogenen
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Maße läßt die Stellungnahme der Bundesregierung einen hinreichenden Mut zu einer klaren zukunftweisenden gesundheitspolitischen Aussage vermissen. Vergeblich sucht man nach eindeutigen Schwerpunkten und Akzenten und nach einer konkreten Bekundung des Willens, die notwendige Reform der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in entscheidenden Punkten voranzutreiben. Vielmehr erfahren die Empfehlungen der Sachverständigenkommission eine durchgehende Relativierung, wenn das Augenmerk beständig auf mangelnde Ressourcen, auf langfristige komplikationsreiche Realisierung, auf Überprüfung der Empfehlungen, Berücksichtigung regionaler Strukturen usw. gelenkt wird.
Folgt man der Stellungnahme der Bundesregierung, so stellt man fest, daß ihr eindeutiger und klarer politischer Wille, was jetzt zu geschehen hat, geschehen könnte, weitgehend unkenntlich bleibt. Die Stellungnahme der. Bundesregierung - so scheint es nach einer eingehenden Lektüre tatsächlich zu sein - ist eher ein Kommentar zu der Stellungnahme der elf Bundesländer.
Lassen Sie mich hierzu eine Bemerkung machen. Natürlich wissen wir, daß der Bund im Bereich der Psychiatrie oder, allgemeiner gesagt, im Bereich des Gesundheitswesens keine Alleinzuständigkeit, sondern nur eine sehr reduzierte Zuständigkeit hat. Das darf uns aber nicht daran hindern, ein allgemein drängendes und bedrückendes Problem in diesem Hohen Hause zu erörtern und die Bundesregierung zu veranlassen, dazu eindeutig ihre Meinung zu sagen.
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Welche geringe gesundheitspolitische Bedeutung und welch geringen gesundheitspolitischen Stellenwert muß wohl die Ministerin der Versorgung psychisch Kranker zumessen, wenn es bei der Kabinettsberatung schließlich zu einer Aktion des Bundesfinanzministers kommen mußte, um einen finanziellen Beitrag der Bundesregierung von einiger Bedeutung für die Reform auf die Beine zu stellen? Mit welchem Kleinmut muß eine Ressortministerin in diese Kabinettssitzung gegangen sein - ohne sich vorher entsprechende Vorstellungen gebildet zu haben und diese begründen zu können?
Zwar ist es zu begrüßen - und wir tun das -, daß sich die Bundesregierung die vier Prinzipien der Sachverständigenkommission zur Reform der psychiatrischen Versorgung zu eigen macht, die überall in der Welt als verbindlich anerkannt sind, nämlich die gemeindenahe Versorgung, die Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken, eine bedarfsgerechte und umfassende Versorgung und die Koordination aller Versorgungsgebiete. Dennoch sind die Ausführungen der Bundesregierung zu den einzelnen Punkten dürftig. Besonders unbefriedigend erweist sich die Stellungnahme hinsichtlich der Verwirklichung einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung; denn bedenkenlos wird die Auffassung der Psychiatriereferenten der Bundesländer übernommen, die psychiatrischen Krankenhäuser müßten Kernstück der Versorgung bleiben. Ich verweise auf die Seiten 7 und 15 der
Stellungnahme, wo diese Prioritätensetzung der Psychiatriereferenten der Bundesländer vermerkt ist.
Niemand hat je bestritten oder bestreitet es heute, daß die stationäre Versorgung psychisch Kranker auch zukünftig auf bestehende psychiatrische Krankenhäuser angewiesen ist. Jedoch zeigt sich in der Stellungnahme der Bundesregierung - und nicht nur darin, sondern auch in der öffentlichen Diskussion - eine Tendenz zur reformwidrigen Festschreibung des Status quo. Es wird nicht zur Kenntnis genommen, daß eine Entwicklung zu fördern ist, welche dem angemessen dimensionierten psychiatrischen Krankenhaus, d. h. nicht einer übergroßen Einrichtung, den ihm zukommenden Platz zuweist, nämlich ein Glied in dem vielfältigen System von Versorgungsangeboten zu sein, das definierte Aufgaben zu erfüllen hat.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung hierbei, so scheint mir, einen gesundheitspolitisch wichtigen Faktor außer acht gelassen. In der von ihr veranlaßten Planungsstudie zur Psychiatrie-Enquete wird nachgewiesen, daß die stationäre Versorgung mit weitem Abstand die teuerste Versorgung ist. Das heißt mit anderen Worten: Auch wenn wir wirtschaftlich denken - wir sind ja wohl dabei, im Gesundheitswesen wirtschaftlich zu denken -, muß man einen stärkeren Akzent auf die gemeindenahe Versorgung legen. Eine Gegenüberstellung des Versorgungsaufwandes für Wohnheimpatienten einerseits und Krankenhauspatienten andererseits zeigt deutlich, daß die Betreuung von Wohnheimpatienten bei einer sogar besseren personellen Ausstattung, als wir sie normalerweise in der Pflegeabteilung eines Krankenhauses haben, nicht nur humaner, sondern auch finanziell wirtschaftlicher ist. So ist eine Reduzierung der Kosten, die in diesem Bereich von großer Bedeutung ist, um bis zu 50 % erreichbar.
Eine entscheidende Rolle 'bei der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung spielt der Ausbau der ambulanten Dienste. Dort fehlen in hohem Maße niedergelassene ärztliche und nichtärztliche Psychotherapeuten. Wir müssen uns in absehbarer Zeit dennoch, auch wenn das schwierig ist, mit der Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes beschäftigen. Es fehlen Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern, es fehlen niedergelassene Psychagogen, psychosoziale Versorgungseinrichtungen, ambulante Dienste im Krankenhaus.
Ich sage das deshalb, weil die Mehrzahl aller psychisch Kranken, etwa 600 000 im Jahr, wie ich vorhin schon ausführte, ambulant versorgt wird und nur etwa ein Drittel, nämlich 200 000, in unserem jetzigen Versorgungssystem stationär versorgt werden muß. Bei einer Veränderung läßt sich diese Zahl der stationären Aufnahmen reduzieren und zumindest die Verweildauer für eine Vielzahl von ihnen noch verkürzen. Deshalb bedeutet die Fortsetzung der bisherigen Politik mit dem Hauptakzent auf dem psychiatrischen Krankenhaus eine nicht zu verantwortende und allen Erkenntnissen widersprechende Zementierung des stationären Bereichs. ({1})
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Wir sollten uns nicht scheuen, hier die Akzente anders zu setzen, und zwar merklich anders, als sie in der Stellungnahme der Bundesregierung gesetzt werden. Nicht umsonst hat der Enquete-Bericht in seinem Prioritätenkatalog nach dem Auf- und Ausbau der komplementären und ambulanten Dienste den Aufbau psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern gefordert. Eine gemeindenahe Psychiatrie ist ohne psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern nicht möglich. Eine Reintegration der Psychiatrie in die Allgemeinmedizin, ein Abbau von Vorurteilen, eine Eingliederung des psychisch Kranken in die Allgemeinmedizin und eine Gleichstellung des psychisch Kranken mit dem somatisch Kranken werden ohne Allgemeinkrankenhäuser mit Fachabteilungen nicht möglich sein.
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Seit der Veröffentlichung des Zwischenberichts 1973 ist entgegen vielen Vermutungen im Bereich der psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern kaum etwas geschehen. Eine noch gegenwärtig laufende, nicht abgeschlossene Untersuchung macht aber deutlich, daß die Zahl der inzwischen entstandenen Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern viel zu niedrig ist, als daß man von einer Tendenzwende sprechen könnte; in der Zwischenzeit ist fast die gleiche Zahl an neuen Krankenhäusern entstanden. Auch die Planung für die Zukunft weist die gleiche Tendenz aus. Das ist eine gefährliche Entwicklung! Es geht aus dieser Untersuchung ganz eindeutig hervor, daß die deutsche psychiatrische Versorgung nicht nur am psychiatrischen Krankenhaus als einem Glied der Versorgungskette festhält - was notwendig ist -, sondern daß dessen Prädominanz auch für die Zukunft erhalten bleiben soll. Dies wäre ein gefährlicher, ein falscher Weg!
Meine Fraktion wäre der Bundesregierung außerordentlich dankbar, wenn sie die gemeindenahe Versorgung und damit die verstärkte Einrichtung von Fachabteilungen zum Ziele ihrer Bemühungen auch bei der beabsichtigten Modellfinanzierung machte.
({3})
Wir halten die Einführung des § 368 n Abs. 6 in die Reichsversicherungsordnung für einen großen Fortschritt; doch erfordern die bei der Umsetzung in die Praxis - nämlich bei der Ermöglichung von ambulanter Betreuung durch psychiatrische Krankenhäuser - auftretenden Finanzierungsschwierigkeiten ein weiteres energisches Bemühen und eine entsprechende Verbesserung des Leistungsrechts. Ich bin mir klar darüber, daß das eine sehr schwierige Aufgabe ist; aber wir sind auf dem richtigen Wege gewesen, als wir diesen Paragraphen entsprechend geändert haben.
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Ich will. es mir ersparen, über die komplementären Dienste im einzelnen zu sprechen. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß die komplementären Dienste, d. h., all die vielfältigen Einrichtungen der Vor- und Nachsorge und die Übergangseinrichtungen unerläßlich sind. Dazu wird mein Kollege Burger eingehend Stellung nehmen.
Seit den 70er Jahren haben sich die Landeskrankenhäuser zunehmend zu klinischen Behandlungszentren gewandelt. Man spricht von einer Klinifizierung der Psychiatrie. Dieser Prozeß ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dennoch haben wir erfahren müssen, daß Tausende nicht mehr krankenhauspflegebedürftiger Patienten in Heime verlegt worden sind, die ihrerseits leider oft für die Betreuung dieser Personen weder vom Raumangebot noch von der Personalausstattung noch von der geographischen Lage her geeignet sind. Von einer gezielten und ausreichenden Therapie kann ebenfalls weithin keine Rede sein.
So ist eine zwar zu begrüßende Entwicklung innerhalb der Reform der Psychiatrie auf Kosten und zu Lasten der Langzeitkranken und -behinderten eingeleitet worden. Auch der Bundesregierung ist bekannt, daß die Situation auf dem Heimsektor besorgniserregend und eine Herausforderung für die Psychiatrie ist. Bei einer Verlegung aus dem Landeskrankenhaus und anderen stationären Einrichtungen in Heime konnten oft die medizinischen und sozialen Bedürfnisse der Bewohner nicht hinreichend berücksichtigt werden. Das ist eine eklatante Benachteiligung der Gruppe der psychisch und sozial Schwerbehinderten. Letzten Endes bedeutet das eine Herausnahme einer großen Gruppe aus der Verantwortung der Psychiatrie. Wir dürfen das nicht zulassen!
Als unbefriedigend und wenig überzeugend ist die Auskunft der Bundesregierung anzusehen, wenn sie zwar die Reform des Vormundschaftsund Pflegschaftsrechts für erforderlich hält, dabei aber nicht erkennen läßt, auf welche Weise bis jetzt auch nur Vorarbeiten eingeleitet worden sind. Es scheint, als ob es hier bei einer verbalen positiven Äußerung geblieben ist - ohne den Willen, auch wirklich tätig zu werden.
Ein sehr trauriges Schauspiel bietet die seit Jahren immer wieder angekündigte und dann doch verschobene Beseitigung des sogenannten Halbierungserlasses; nicht deshalb, weil dieser sogenannte Halbierungserlaß aus dem Jahre 1942, aus der Nazizeit stammend und vom Geiste der damaligen Behandlung psychisch Kranker geprägt, heute noch angewandt würde. Aber da dieser Erlaß nicht mehr angewandt wird, könnte er längst beseitigt sein. Warum wird er nicht beseitigt? - Weil es bis jetzt keine adäquate, ihn auffangende Kostenregelung gibt, so daß es dann doch wohl bei demselben Zustand bleibt, den wir haben, nämlich daß der psychisch Kranke im Grunde einer Regelung unterworfen ist, wonach die Hälfte der durch ihn entstehenden Kosten der Sozialhilfe aufgebürdet wird. Wenn man einen solchen Erlaß wieder in Kraft setzte, könnten die Kosten für die Behandlung und Betreuung psychisch Kranker letzten Endes von dem zu Behandelnden selbst getragen werden. Daß dieser Erlaß noch nicht aufgehoben ist, erweckt den Verdacht, daß man aus finanziellen Gründen eine Gleichstellung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken vermeidet. Wir er13934 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
warten dringend, daß dieser Erlaß ersatzlos gestrichen wird, weil er ein Hinderungsgrund für die Gleichstellung der psychisch Kranken mit den somatisch Kranken ist.
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Seit den ersten Anfragen im Deutschen Bundestag Ende der 60er Jahre sind zehn Jahre vergangen, seit der Vorlage des Zwischenberichts sechs Jahre, seit der Vorlage des Endberichts vier Jahre. Was hat die Bundesregierung in der Zwischenzeit getan, um für die dringend notwendige Reform der Versorgung psychisch Kranker gerüstet zu sein? Welche Vorstellungen hat sie auf der Basis des Sachverständigenberichts entwickelt, welche Konzeptionen? Welche Fachleute hat sie für die Durchführung, wenn es eine solche Konzeption geben sollte, ins Auge gefaßt? Dabei spreche ich nicht von den seit 1976 laufenden zehn kleineren Modellversuchen, die, was Planung und Koordination angeht, mehr schlecht als recht laufen. Ich spreche von den Millionenbeträgen, die für die nächsten Jahre vorgesehen sind. Darüber gibt es, glaube ich, in diesem Hause keinen Streit. Wir werden den vorgesehenen Beträgen zustimmen; wir begrüßen es.
Nur: Es ist bis heute nicht zu erkennen, daß seit der Übergabe des Sachverständigenberichts 1975 eine Konzeption erarbeitet wurde, um jetzt eine sinnvolle Planung vorlegen zu können. Dies ist betrüblich. Wir werden bei den Haushaltsberatungen darauf noch zu sprechen kommen, daß nach jahrelangem Vorliegen der Empfehlungen, die von einer breiten Zustimmung im Kreise der Betroffenen getragen sind, im zuständigen Ministerium nicht frühzeitig für das vorgesorgt wurde, was man tun könnte, wenn man entsprechende Mittel hätte. Nun kann es passieren, daß wir die Mittel haben, aber nicht in der Lage sind, sie gezielt auszugeben. Es wäre falsch, große Beträge in die Reform der Psychiatrie zu investieren, ohne die damit verbundenen Gefahren zu vermeiden.
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Wir haben in den Vereinigten Staaten ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man über mehrere Jahre hinweg sehr großzügig finanziert, diese Finanzierung dann aber nicht fortgesetzt werden kann. Dann treten eine Krise und ein Rückschlag ein, die uns um mehr Jahre zurückwerfen, als vorher zu befürchten war.
Ich hoffe deshalb, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung sehr rasch eine solche Konzeption entwickelt, die realisierbar ist. Wir haben es nämlich mit hohen Beträgen zu tun, und es wäre nicht zu verantworten, diese Beträge auszugeben, ohne der Gefahr hinreichend vorgebeugt zu haben, daß damit Fehlentwicklungen finanziert werden.
Ich komme in diesem Zusammenhang auf eine weitere Empfehlung der Sachverständigenkommission, die nicht die Gegenliebe der Bundesregierung gefunden hat, jedenfalls nicht die Unterstützung der Bundesregierung. Die Sachverständigenkommission schlägt vor, eine Institution auf der Ebene der Bundesländer zu gründen, um die Entwicklung in der Versorgung der psychisch Kranken verfolgen zu können. Wir haben seit 1973 schon nicht mehr die Möglichkeit, die seither laufende Entwicklung zu überblicken. Das bringt die Gefahr mit sich, daß wir zu Fehlschlüssen kommen. Die Sachverständigenkommission hat damals gemeint, daß die Reformvorhaben so angelegt sein müßten, daß sich aus der konkreten Versorgungssituation heraus eine empirische Überprüfung vornehmen ließe. Jeder Schritt bedarf der sorgfältigen Vorbereitung und Kontrolle, Mängel oder Fehlentwicklungen bedürfen einer raschen Korrektur; dazu diese Institution auf Bundesebene zwischen Bund und Ländern. Über die Notwendigkeit dieser Institution sind sich interessanterweise alle Fachleute einig, alle Verbände und alle Betroffenen; lediglich ist dies natürlich ein Punkt, der zwischen Bund und Ländern nur im Einvernehmen zu regeln ist. Ich denke, daß man dazu keinen Staatsvertrag braucht, sondern daß man da fortfahren kann, wo die Arbeit in der Sachverständigenkommission geendet hat, nämlich in einer vertrauensvollen und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Auch die Erarbeitung der Psychiatrie-Enquete war ja nur deshalb möglich, weil sich Bund und Länder dieses Problems gemeinsam angenommen haben.
Meine Fraktion fordert die Regierung dringend auf, folgende drei Bereiche in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter vorrangig im Benehmen mit den Ländern durch Modelle zu fördern und zu erproben: Erstens. Den ambulanten Sektor, der die Mehrzahl aller psychisch Kranken versorgt und dessen Ausbau im Vergleich zur Krankenhausversorgung in der Zwischenzeit nicht den Erfordernissen angepaßt werden konnte.
Zweitens. Weiterhin muß vorrangig der komplementäre Bereich gefördert werden; denn diese Versorgungsform hat Schlüsselbedeutung für die Neuordnung der psychiatrischen Versorgung. Sie entlastet den stationären Bereich und gewährleistet zusammen mit ihm eine bedarfsgerechte Versorgung und ist wesentlich wirtschaftlicher und humaner als der reine Krankenhausaufenthalt.
Als drittes komme ich auf die genannte Institution auf Bundesebene zurück, weil wir mit dieser Institution eine ständige enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gewährleistet sehen und eine kontrollierende und wissenschaftliche Begleitung der Modelle als möglich und als notwendig erachten.
Wir möchten an dieser Stelle der Sachverständigenkommission, über deren Bericht wir, obwohl er seit vier Jahren vorliegt, noch nicht sprechen konnten, für das große Maß an Verantwortungsbereitschaft und Sachkenntnis herzlich danken.
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Wir möchten auch für die Mitarbeit der Länder danken, die sich bewährt hat. Auch wenn wir nur eine geringe Zuständigkeit haben, sollten wir uns auch in Zukunft mit diesem Thema beschäftigen. Übrigens hat auch das Parlament im Rahmen der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft eine solche Zusammenarbeit mit den Ländern schon bisher mit Erfolg praktiziert.
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Wir hätten uns in der Stellungnahme der Bundesregierung mehr Klarheit und Mut gewünscht. Ich hoffe, daß die Unterstützung des ganzen Hauses der Bundesregierung diesen Mut und diese Klarheit noch verschaffen wird.
Meine Fraktion ist auch weiterhin bereit, meine Damen und Herren - damit greife ich auf, was ich eingangs gesagt habe -, und hält es für notwendig und für erfolgreich, sich diesem Thema in vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen den drei Fraktionen eingehend zu widmen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 7. Legislaturperiode hatte ich den Vorzug, Berichterstatter für die Psychiatrie-Enquete zu sein. Dieses Thema hat mich seit dem nicht mehr losgelassen. Die fachliche Zuständigkeit ist da geblieben, wo ich früher tätig war. Aber auch die Probleme in der Psychiatrie sind an vielen Punkten die gleichen, die uns damals beschäftigt haben.
Ich würde mir wünschen, daß sich die Betroffenheit, die ein sorgfältiges Studium der PsychiatrieEnquete, die die Sachverständigenkommission entworfen hat, aus diesem Raum über die veröffentlichte Meinung bis zu einer kontinuierlichen Berichterstattung über den psychiatrischen Alltag überträgt; nicht über die Sensationen, die Tagesaufmacher, wenn da einmal etwas schiefgeht oder wenn dort vielleicht auch einmal etwas Neues passiert. Ich glaube, daß dieser Punkt eine kontinuierliche Aufmerksamkeit verdienen würde.
Das Thema, das heute den Deutschen Bundestag beschäftigt, gehört sicherlich nicht zu denjenigen, die auf der Sonnenseite unserer gesellschaftspolitischen Wirklichkeit angesiedelt sind. Die Psychiatrie und die Behandlung und Betreuung unserer psychisch kranken Mitbürger - auf dieses Substantiv lege ich dabei besonderen Wert - führt ein Schattendasein in unserer Wohlstandsgesellschaft. Der Anspruch der Deutschen, ein Kulturstaat, eine Kulturnation zu sein, wird auf diesem Feld nicht eingelöst. Es reicht nicht aus, verpflichtende Namen zu Trägern von Instituten zu machen, die das Kulturbild von den Deutschen im Ausland prägen sollen, wenn man im sozialkulturellen Bereich auf dem Feld der Psychiatrie einen erheblichen Nachholbedarf - um das so vornehm zu sagen - hat.
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema verlangt Ernst, Aufrichtigkeit und Einsicht, und sie muß uns an manchem Punkt zur Selbstkritik fähig und bereit finden. Dabei ist politische Polemik fehl am Platz.
Gestatten Sie mir eine Fußnote, Herr Kollege Picard. Sie haben hier den Bund beleuchtet. Man könnte - ich will es mir versagen - die gleiche Rechnung hinsichtlich der Situation der Länder aufmachen. Wenn wir uns die Gewichtung der Aufgaben angucken, sage auch ich: Egal, ob sie
blaugelbrot oder blaugelbschwarz, gestreift oder nur rot sind, sie sind da alle nicht viel besser. Der Bundestag sollte die Chance dieser Debatte nutzen, den Schub, der von seiner Anregungskompetenz ausgehen kann, nicht zu verschütten. Denn die gemeinsame Verantwortung der Politiker aller Fraktionen und auf allen politischen Ebenen im Bund und in den Ländern und in den Gemeinden ist groß.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Mit dieser feierlichen Proklamation beginnt unser Grundgesetz. Wir alle sind uns darin einig, daß dieser Satz die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens schlechthin ist.
Wenn wir uns in diesem Ziel einig sind und wenn wir alle diese Verpflichtungen ernst nehmen, müssen wir uns vor Augen führen, daß wir dieser Verpflichtung gegenüber unseren psychisch kranken Mitbürgern bisher nur sehr bedingt nachgekommen sind.
Die von diesem Haus eingesetzte Sachverständigenkommission zur Begutachtung der Lage der psychisch Kranken in der Bundesrepublik hat eine Menge Tatsachen zutage gefördert, die dies belegen. Dieser Vorwurf trifft uns alle, weil das Kernproblem der Psychiatrie ausschließlich von uns allen gemeinsam unabhängig von unserer jeweiligen Aufgabenstellung in Regierung und Opposition gelöst werden kann. Das Kernproblem, das die Voraussetzung für die Verbesserung des Loses der psychisch Kranken schlechthin bildet, liegt in der Einstellung der Bevölkerung zum psychisch Kranken. Zentrale Aufgabe ist es, diese Einstellung zu verändern. Es ist nur zu sehr einsichtig, daß diese Aufgabe weder die Regierung noch die Opposition allein bewältigen kann. Hier stehen wir gemeinsam in der Pflicht.
Sicher ist in den letzten Jahren - nicht zuletzt dank der Psychiatrie-Enquete - einiges verändert und verbessert worden. Anlaß zu selbstzufriedenem Schulterklopfen besteht dennoch nicht. Die Grundeinstellung unserer Bevölkerung zum psychisch Kranken hat sich nicht wesentlich verändert. Sie ist weiterhin durch Verdrängen, Verwahren, Verweigern gekennzeichnet. Auch mit noch so viel Geld werden wir nichts bewegen, wenn wir nicht die Gemüter der Bürger bewegen. Es ist einer ernsthaften Analyse wert, zu untersuchen, .warum sich die Haltung der Deutschen gegenüber psychisch Kranken grundlegend von der anderer Völkern unterscheidet.
Sicher gibt es auch dort hin und wieder Vorurteile gegenüber psychisch Kranken. Dies rührt zu einem großen Teil daher, daß psychische Erkrankungen dem einzelnen Bürger schwerer erklärt und erläutert werden können, daß sie für ihn schwerer begreifbar sind und seit jeher mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben sind. Wer sich mit einem Schizophrenen ganz fehlerfrei und logisch unterhält und eine Stunde später erleben muß, wie eben dieser Gesprächspartner völlig unkoordinierte, wirre und fehlerhafte Dinge tut, muß der nicht
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annehmen, sein Gesprächspartner sei gar nicht krank, sondern wirklich „verrückt"?
Jeder krankhafte Prozeß - sei es eine Blinddarmentzündung, ein Herzanfall oder eine Psychose - bedeutet eine Abweichung von der Norm, der Gesundheit, ist also anomal. Warum aber empfinden wir nur beim psychisch Kranken, er sei nicht normal?
Es gibt Vorurteile gegen psychisch Kranke. Es gibt sie in England wie in Spanien, in Frankreich wie in Polen. Aber warum hat man es dort geschafft, die Vorurteile durch Information und Aufklärung abzubauen? Warum ist das in der Bundesrepublik noch nicht gelungen?
Ich glaube, der entscheidende Unterschied liegt in der Behandlung der psychisch Kranken während der Zeit des Nationalsozialismus. Die unvorstellbare Pervertierung der Werte, und die verbrecherische Klassifizierung von Menschen in solche mit lebenswertem Leben und solche mit lebensunwertem Leben wirken unheilvoll bis in die heutige Zeit nach. In einer Zeit, in der in anderen Ländern die Psychiatrie humanisiert wurde und entscheidende Fortschritte erfahren hat, wurde sie in Deutschland enthumanisiert. Am Ende stand die Verneinung des menschlichen Lebens als unantastbarer Wert an sich. Hadamar ist insoweit die unvermeidliche Konsequenz einer schrecklichen Entwicklung gewesen.
Die Klassifizierung kranker Menschen in Normale und Nichtnormale, das Schüren vorhandener Vorurteile gegen die Nichtnormalen, ihre Zuordnung zu den Lebensunwerten und am Ende der Mord - dies ist der entscheidende Unterschied für die Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland und in anderen Ländern. Dieser Unterschied wirkt verheerend bis in die heutige Zeit, und das, obwohl die Hälfte unserer Bürgerinnen und Bürger die Greuel der NS-Zeit auf Grund ihres Lebensalters nur noch aus Büchern und Erzählungen kennen können. Hinsichtlich der Einstellung der Gesellschaft zum psychisch Kranken stehen wir dort, wo wir - gemeinsam mit anderen Ländern - zu Beginn der 30er Jahre, vor der NS-Zeit, schon einmal gestanden haben.
Angesichts dieser schweren Hypotheken der Vergangenheit, die schrittweise abzutragen in der Bundesrepublik versucht worden ist, ist es bedauerlich, daß im Bereich der Psychiatrie größere Fortschritte noch nicht gelungen sind. Der Abbau der Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber unserem psychisch kranken Mitbürger kann nur gelingen, wenn, ausgehend vom politischen Raum - und das ist mehr als dieser kleine, aber illustre Kreis von Zuhörern -, eine breite informierende und aufklärende öffentliche Diskussion in Gang gesetzt wird. Dies ist - ich betone es noch einmal - eine Voraussetzung dafür, daß die für die Verbesserung der Lage der psychisch Kranken erforderlichen Mittel wirklich mit Erfolg eingesetzt werden können.
Die Interessen der einzelnen Gruppen unserer Gesellschaft sind wohlorganisiert. Eine Vielzahl
von Interessenvertretern setzen sich jeweils für Rechte und Vorurteile ihrer Gruppen ein. Wo, frage ich, sind die Interessenvertreter der psychisch Kranken? Sicherlich, es gibt eine Vielzahl von Ärzten, Sozialarbeitern. und Krankenpflegekräften, die für die Interessen der ihnen anvertrauten Patienten streiten. Ihnen gebührt dafür unser Dank.
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Trotzdem müssen wir erkennen, daß diese Bürger allein zu schwach sind, die Mauern gesellschaftlicher Vorurteile einzureißen. Ohne unsere Hilfe, ohne die Hilfe der Politiker kann der entscheidende Stoß, der diese Mauer zum Einsturz bringt, nicht gelingen.
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Dabei ist nicht der große, alles überragende Wurf, die Lösung aus einem Guß gefragt, sondern gefragt sind zähe und harte Überzeugungsarbeit. Hier gilt einmal mehr die Erkenntnis des verstorbenen, unvergessenen Bundespräsidenten Gustav Heinemann:
Wir müssen uns bemühen um denjenigen kleinen Schritt, der zugleich ein strategischer Schritt ist, weil er die Tür für die weiteren kleinen Schritte zur wirksamen Umgestaltung öffnet.
Deshalb brauchen die psychisch Kranken die Abgeordneten als ihre Interessenvertreter, auch - lassen Sie mich das so provokativ sagen - wenn viele von ihnen keine Stimme haben, um es uns bei Wahlen zu danken. Unsere Verpflichtung auf das Gemeinwohl unseres Volkes ist zugleich unsere besondere Verpflichtung, Interessenvertreter für die Benachteiligten zu sein.
Ich habe dies deshalb so umfangreich ausgeführt, weil ich meine, daß die Diskussion der wichtigen Einzelheiten der Psychiatrie-Enquete uns in die Irre führen würde und wir uns dabei selbst verlieren würden, wenn wir nicht zugleich die Voraussetzungen angeben würden, die für einen Erfolg unserer Bemühungen erforderlich sind, bevor wir über Details reden können und Detailprobleme lösen können.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, den Sachverständigen der Enquete seitens meiner Fraktion nachhaltigen Dank für ihre umfangreiche Arbeit auszusprechen.
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Diese Arbeit ist - im Sinne des Wortes - bisher beispiellos und für die Zukunft beispielhaft. Mit Fleiß und großer Sorgfalt sind hier Fakten zusammengetragen und Lösungsvorschläge aufgezeichnet worden.
Noch während die Kommission an der Arbeit war, konnte einer ihrer Vorschläge verwirklicht werden. Durch eine Änderung der Reichsversicherungsordnung konnte erreicht werden, daß psychiatrische Kiniken Patienten auch ambulant behandeln dürfen. Dies war sicherlich nur eine kleinere Verbesserung in Richtung auf die Beseitigung dessen, was man in der Kürzel-Sprache unserer Zeit
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,,Drehtür-Psychiatrie" nennt. Leider - ich sage dies ohne Polemik - hat diese Maßnahme damals nicht die Zustimmung des ganzen Hauses gefunden. Ich hoffe sehr, daß die weiteren notwendigen gesetzgeberischen Schritte zur Verbesserung der Psychiatrie in Zukunft in breiter Übereinstimmung in diesem Hause getan werden können.
Die Ziele der SPD-Bundestagsfraktion im Bereich der Versorgung der psychisch Kranken sind in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission festgeschrieben, de jure und vor allem de facto die Gleichstellung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken, dem Rechte nach und in der Praxis Gleichstellung, Aufbau einer orts- und patientennahen Therapie und Versorgungskette und Erprobung der vorliegenden Vorschläge in Modellversuchen, Verwirklichung des Grundsatzes, daß die ambulante Therapie gegenüber der stationären Therapie den Vorrang hat. Dies ist ein Stück weit auch eine Antwort auf die Fragen, die der Kollege Picard zu Recht über die weitere Entwicklung gestellt hat, wobei der Institutionenegoismus mit dem, was sozusagen Schubkraft aus den Vorstellungen der Enquete ist, die andere Bremse ist, die wir auch sehen müssen. Viele haben sich hinter den renovierten Fassaden häuslich eingerichtet. Auch die gilt es zu schubsen; ich würde das dick unterstreichen. Dazu gehört logisch der Abbau der psychiatrischen Großkrankenhäuser, die Einrichtung ortsnaher psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern. Meine Kollegen werden zu den einzelnen Punkten noch detaillierter Stellung nehmen. Lassen Sie mich trotzdem bereits jetzt auf einige wenige Punkte eingehen.
Zur Frage der Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken möchte ich für meine Fraktion folgendes feststellen. Der Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsinnenministers aus dem Jahre 1942, der nach einem Urteil des Bundessozialgerichtes als Rechtsverordnung weitergilt und der unter dem Kurztitel „Halbierungserlaß" die Übernahme der Kosten für stationäre psychiatrische Behandlung regelt, muß aufgehoben werden. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dafür Sorge tragen, daß dieser diskriminierende Erlaß noch in dieser Legislaturperiode aufgehoben wird.
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Meine Fraktion wird sich dafür einsetzen, daß diese Aufhebung durch eine gesetzliche Regelung abgesichert wird, die verhindert, daß Rechtsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Sozialhilfeträger über die Frage Krankheitsfall/Pflegefall auf dem Rücken des Kranken ausgetragen werden. Eine solche Begleitregelung wird deshalb eine Übergangsregelung für psychisch Kranke sein, da die Klärung der Frage der Kostenträgerschaft bei Pflegebedürftigkeit ohnehin ansteht. Die Klärung dieser Frage wird die Abgrenzung der Krankheitsvon den Pflegefällen - und damit auch die Kostenübernahme - für körperlich und seelisch Kranke einheitlich regeln.
Die Bemühungen, den Halbierungserlaß aufzuheben, werden zur Zeit von einer seltsamen, zwar noch leisen, aber dennoch bereits hörbaren Musik begleitet. Bekanntlich wird in vielen Fällen der Halbierungserlaß derzeit von Kostenteilungsabkommen zwischen Krankenkassen und Trägern der Sozialhilfe überlagert. Diese Kostenteilungsabkommen gehen dem Halbierungserlaß vor. Es ist nun zu vernehmen, daß einige Beteiligte die Aufhebung des Halbierungserlasses dazu mißbrauchen wollen, auch die Kostenteilungsabkommen zu kündigen. Auf diesem Wege soll erreicht werden, die eigene Beteiligung an den finanziellen Lasten der psychiatrischen Versorgung zu mindern, mit unterschiedlichen Erwartungen. Ich möchte an die Adresse einiger Finanzbürokraten klar und deutlich sagen, sosehr solch ein Verfahren ihrem Interesse dienen mag, so unanständig wäre dies auch.
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Hier würde auf dem Rücken der ohnehin unterprivilegierten psychisch Kranken versucht, politische Machtfragen mit finanziellen Auswirkungen in die eine oder andere Richtung zu beantworten. Wir wollen hier ganz ausdrücklich Neugierige warnen. Die SPD-Bundestagsfraktion würde solche krämerischen Machenschaften öffentlich ebenso deutlich wie schonungslos bloßstellen, egal, wen es trifft. Diejenigen, die mit solchen Gedanken spielen, sollen klar wissen, daß sie politischen Widerstand finden.
Im Zusammenhang mit der Aufhebung des Halbierungserlasses wird zur Zeit auch über die Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung diskutiert. Hier und da ist das Argument zu hören, Maßnahmen in der Psychiatrie seien dem Gebot der Beitragssatzstabilität in der Krankenversicherung unterzuordnen. Im Klartext formuliert heißt dies doch: Weil wir die Beiträge nicht erhöhen wollen, müssen die psychisch Kranken weiter in der Situation leben, die von der Enquete beschrieben worden ist. Wir würden mit einem solchen Argument, sollten wir es akzeptieren, die psychisch Kranken ausdrücklich aus der Solidarität der angeblich Normalen ausschließen. Auch dies kann nicht angehen. Beitragsstabilität und Verbesserungen in der Psychiatrie sind keine alternativen Ziele. Wer so argumentiert, bietet eine Scheinalternative. Hier ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch gefragt.
Wenn ich mir überlege, daß eine Kassenart die Begrenzung des Kassenzuschusses für Zahnersatz auf 80 % dadurch unterläuft, daß sie die gesetzlich vorgesehene Härtefallregelung so ausdehnt, daß durchweg 100 % der Kosten bezuschußt werden, oder etwa, daß versucht wird, über den Satzungsumweg die selbstverständliche familiäre Hilfe im Krankheitsfall - die sogenannte Oma auf Krankenschein -, die wir mit dem Kostendämpfungsgesetz abgeschafft haben, wieder einzuführen, so ist das angesichts dieser Diskussion bemerkenswert. Wie wollen wir es denn mit unserem Gewissen vereinbaren, auf der einen Seite zigtausend DM teuren Zahnersatz durch die Kassen erstatten zu lassen und auf der anderen Seite dem psychisch
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Kranken den Abbau von Diskriminierung zu verweigern?
Noch ein Wort zum Grundsatz des Vorrangs von ambulanter vor stationärer Therapie. Voraussetzung für einen solchen Grundsatz ist selbstverständlich ein entsprechendes qualitativ ausreichendes Therapieangebot im ambulanten Bereich. Dann gilt, daß die Aufrechterhaltung der häuslichen Umwelt und der familiären Bindung im ambulanten Bereich selbstverständlich einen besseren Therapieerfolg verspricht als im stationären Bereich. Dies ist auch einsichtig und unter Fachleuten wie unter Laien nicht mehr so strittig.
Vor einigen Wochen bin ich auf diese Tatsache mit der Bemerkung angesprochen worden, es sei an der Zeit, einmal deutlich zu machen, daß dies auch seine Grenzen habe. Die Tendenz unter Aufrechterhaltung der familiären Bindung eher ambulant denn stationär zu therapieren, nehme Überhand und drohe zu erheblichen persönlichen Belastungen zu führen. Man kann dies selbstverständlich im Einzelfall nicht ausschließen. Die tatsächliche Entwicklung ist nach meinem Eindruck jedoch eine andere.
Ich halte es für erforderlich, deutlich zu machen, daß nicht die Behandlung der Kranken in ihrer häuslichen Umwelt, in der Familie tendenziell an eine Grenze gestoßen ist, sondern umgekehrt das Abschieben von Kranken und Behinderten in Heime mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, daß dort gesagt werden muß, daß die Grenze erreicht ist. Dies ist das Problem.
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Wir haben es in manchen Bereichen geradezu mit Abschiebeautomatiken bei Kranken und Behinderten zu tun. Dieser menschenunwürdigen Tendenz muß entgegengetreten werden. Das Heim oder das Krankenhaus muß die letzte Möglichkeit bleiben, einem Kranken oder Behinderten zu helfen. Dieses Bewußtsein von Solidarität muß neu geweckt werden.
Es wird sicherlich viel persönlicher Einsatz, aber auch einiges an Geld erforderlich sein, um die Situation der psychisch Kranken wirksam zu verbessern. Wir sind aufgefordert, dieses Problem im Dialog mit unseren Bürgerinnen und Bürgern offensiv aufzugreifen und dabei problembewußt zu machen. Dabei kommt der veröffentlichten Meinung eine besondere Bedeutung zu. Das setzt voraus, daß die Frau oder der Mann an der Kamera, in den Redaktionsstuben der Zeitungen und den Rundfunkanstalten - ich habe es vorhin schon gesagt - nicht nur an den Aufmacher des Tages, an die billige Sensation denkt, sondern daß er hilft, geduldig, beharrlich und kontinuierlich im Alltag über Probleme der psychisch Kranken zu berichten.
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Für meine Fraktion will ich nicht versäumen, einem Kollegen zu danken, der auf Grund seiner Aufgabe kaum Dank erhält. Ich meine den Bundesfinanzminister, der wie selbstverständlich in der Frage der psychisch Kranken Engagement bewiesen hat. Sicherlich mag der eine oder andere sagen, die vom Finanzminister zur Verfügung gestellten Mittel reichten nicht aus, sie seien nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Dies ist wahrscheinlich so, aber die Millionen helfen weiter, und sie haben gezeigt, daß der Finanzminister unseren Sorgen nicht abweisend gegenübersteht. Dies läßt für die Zukunft hoffen, insbesondere dann, wenn das Geld sinnvoll und konzeptionell genutzt wird.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen gedachte die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland des 40. Jahrestages des 1. Septembers 1939. Damals löste Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus. Der gleiche Termin betrifft auch das Thema unserer heutigen Debatte. Bezeichnenderweise war es am gleichen Tag, an dem Hitler durch die Unterzeichnung des sogenannten Euthanasie-Erlasses mit einem einzigen Satz den Weg für den Tod von über 100 000 Geisteskranken freimachte.
Ich glaube, wir können heute in diesem Hause eine Debatte über die Lage der Psychiatrie nicht führen, ohne auf diese dunkle Vergangenheit der Psychiatrie in Deutschland einzugehen. Es konnte ja auch nicht ohne Duldung - mit belastetem Gewissen oder ohne - von Psychiatern und Pflegern geschehen, daß all diese Geisteskranken in den deutschen Irrenanstalten ausgesondert und ausgeliefert wurden. Der Euthanasie-Erlaß ermöglichte es gerade, die Befugnisse der verantwortlichen Ärzte zur Freigabe für den, wie es hieß, Gnadentod zu erweitern, d. h. für die systematische Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens.
Wenn wir uns heute in der Bundesrepublik Deutschland an Hand der Psychiatrie-Enquete und der Regierungsstellungnahme mit den ernsten Rückständen in der psychiatrischen Versorgung befassen müssen, so hängt das auch mit jenen unzähligen Verbrechen an schutzbefohlenen Wehrlosen zusammen. Es hängt auch damit zusammen, daß die deutsche Psychiatrie damals erzwungenermaßen und zum Teil willfährig ihrer humanitären Aufgabe, Geisteskranke zu behandeln, zu pflegen und möglichst zu heilen, im wesentlichen nicht nachkam. Gravierende Rückstände unserer psychiatrischen Versorgung gegenüber anderen westlichen Länder sind daher bis heute mit darauf zurückzuführen.
Es gibt aber noch einen zweiten Grund für den Rückstand, der mit dem ersten sehr eng zusammenhängt. Die Nationalsozialisten diffamierten theoretische Wissenschaften und auch die Psychologie als Judenwissenschaften. Es war kein Freiraum auf diesem Gebiet. Es gab keine Sensibilität für die Probleme jener Kranken. Sie lebten in einer anderen und sie waren eine andere . Welt. Diese Trennung der psychisch Kranken von den Gesunden
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13939
Eimer ({0})
und anderen Kranken wirkt auch nach dem Krieg noch lange weiter.
Das enorm weite Echo der Betroffenheit, das die Fernsehserie „Holocaust" vor Monaten in der Bevölkerung gefunden hat, zeigt, daß in der Bundesrepublik Deutschland heute die Mehrzahl der Menschen zur inneren Bewältigung der Vergangenheit bereit ist. Sie scheint mir auch deshalb für eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Geisteskranken in unserer Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad bereit zu sein. Beides hängt miteinander zusammen.
Der außerordentliche Aufschwung, den die Rehabilitation Behinderter im Nachkriegsdeutschland genommen hat, zeigt .die innere Aufgeschlossenheit des Bürgers gegenüber dem behinderten Menschen ebenso wie die beträchtliche Spendenbereitschaft für soziale Zwecke dieser Art, nicht zuletzt der erstaunliche Aufbauerfolg etwa der „Lebenshilfe für geistig Behinderte". Dieser positive Trend in der Bewußtseinslage unserer Bevölkerung scheint mir eine hoffnungsvolle Voraussetzung für die in der Bundesrepublik noch zu leistende Reform der psychiatrischen Versorgung zu sein.
Eine der wesentlichen Forderungen der Sachverständigen nach einer Dezentralisation und Integration der psychischen Versorgung in die ärztliche Allgemeinversorgung ist auf Dauer nur mit dem weitgehenden Einverständnis der Bevölkerung zu verwirklichen. Eine allmähliche Auflösung der großen Landeskrankenhäuser, in denen psychisch Kranke von körperlich Kranken separiert werden, setzt den Aufbau psychiatrischer Abteilungen an den allgemeinen Krankenhäusern mit stationärer, halbstationärer und ambulanter Behandlung voraus. In jedem Fall kommen bei einer dezentralisierten Versorgung dieser Art seelisch Kranke und körperlich Kranke sowie Gesunde viel mehr als bisher miteinander in Berührung. Diese Berührung schafft Probleme und fordert Toleranz. Daher ist die innere Vorbereitung der Bevölkerung auf ein begrenztes Miteinander mit psychisch Kranken so wichtig.
Wir debattieren heute unmittelbar nur die Stellungnahme der Bundesregierung vom Februar dieses Jahres zum Psychiatrie-Bericht. Dieser selbst ist von der Sachverständigenkommission bereits 1975 erarbeitet und veröffentlicht worden. Ich finde es bedauerlich, daß auf diese Weise das Parlament erst nach so langer Zeit dazu kommt, die Lage der Psychiatrie zu debattieren und sich über die zu ziehenden notwendigen Konsequenzen klarzuwerden.
({1})
Die FDP hat im übrigen bereits im November 1976 mit der Vorlage ihres Gesundheitsprogramms, das eine ausführliche These zur psychiatrischen Versorgung enthält, auf den Bericht der Sachverständigenkommission geantwortet. Diese These 10 unseres Programms bezeichnete die Reform der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung als vorrangig. Als Hauptforderung für die zu leistende Reform stellten wir damals heraus: mehr ambulante Versorgung, insbesondere Abbau der großen Landeskrankenhäuser zugunsten vor allem ambulanter und halbambulanter Versorgung durch niedergelassene Ärzte und Psychologen sowie poliklinische und stationäre Behandlung in allgemeinen Krankenhäusern.
Wir wollen mehr bürgernahe Versorgung: so weit wie möglich Betreuung und Versorgung in räumlicher Nähe zur Wohnung des Patienten und durch ein möglichst engmaschiges Netz von niedergelassenen Ärzten und Psychologen, von Sozialstationen und Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung. Wir wollen mehr integrierte Versorgung: möglichst weitgehende Einbeziehung der psychiatrischen Versorgung in die allgemeine Medizin, insbesondere Aufbau von mehr psychiatrischen Fachabteilungen an den allgemeinen Krankenhäusern. Wir wollen mehr kooperative Versorgung: gezielte Zusammenarbeit niedergelassener Fachärzte, Psychologen, Sozialstationen, Krankenhäuser sowie freier Gruppen und Träger in einem Versorgungsnetz. Und wir wollen mehr psychotherapeutische Versorgung: Behandlung nicht nur durch Fachärzte, sondern verstärkt auch durch Diplompsychologen oder klinische Psychologen; ich komme auf diesen Punkt nachher noch im einzelnen zurück.
Die FDP begrüßt im wesentlichen die Grundsätze und Prioritäten der Bundesregierung, die zum großen Teil auch die der Sachverständigenkommission sind. Nehmen wir die Stärkung der Eigenverantwortung. Geistig-seelische Gesundheit ist zum großen Teil von der Bereitschaft und der Fähigkeit zu individueller Verantwortung abhängig, weshalb gerade in der Psychiatrie die Hilfe zur Selbsthilfe besondere Bedeutung hat.
Ein weiterer Punkt in dieser Reihe ist der Vorrang der ambulanten Versorgung: Förderung hauptsächlich des ambulanten, vorstationären, komplementären und rehabilitativen Bereiches, also der Betreuung durch Fachärzte und weitere Angehörige der Gesundheits- und Sozialberufe. Richtig wird gesagt, jeder Ansatz der Reform bei der stationären Versorgung müsse die Gesamtreform lähmen.
Das Prinzip der gemeindenahen Versorgung wird betont: Beschränkung der Großkrankenhäuser auf die Behandlung schwer geschädigter, nicht heilbarer .Dauerpatienten, mehr Fachabteilungen an örtlichen allgemeinen Krankenhäusern, insgesamt Rückführung zum Leben in der Gemeinschaft. Das sind die Kernforderungen der Reform.
Das Prinzip der Gleichstellung psychisch Kranker wird von der Regierung als ein weiterer Kernpunkt bezeichnet. Es geht um die chancengleiche Beteiligung der seelisch Kranken und Behinderten, insbesondere um ihre Gleichbehandlung mit körperlich Kranken. Die von den Sachverständigen und der Bundesregierung aufgeworfenen Fragen sind außerordentlich vielschichtig, so daß ich hier unmöglich auf alle Punkte eingehen kann. Ich möchte jedoch eine Reihe von Fragen herausgreifen, die uns besonders wichtig erscheinen.
Da ist erstens die Gleichstellung von seelisch und körperlich Kranken. Die soeben erwähnte For13940 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
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derung nach einer Gleichstellung seelisch und körperlich Kranker ist zu einem großen Teil durch eine Reihe von Gesetzesänderungen im Sozialgesetzbuch, im Bundessozialhilfegesetz, im Schwerbehindertengesetz, im Arbeitsförderungsgesetz sowie im Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter in den vergangenen Jahren schon weitgehend erfüllt worden, und zwar durch die Einführung der Gruppe seelisch Behinderter neben den schon bisher geförderten Gruppen der körperlich und der geistig Behinderten.
Eine leider seit Jahren nicht erfüllte Forderung ist es, eine in ihren Wurzeln noch in das Dritte Reich zurückgreifende Ungleichbehandlung seelisch und körperlich Kranker zu beseitigen. Ich meine den sogenannten Halbierungserlaß aus dem Jahre 1942, der freilich in den Bundesländern durch eine Reihe von Folgevereinbarungen abgelöst worden ist. Eine Ungleichbehandlung blieb jedoch im Prinzip insofern bestehen, als heute zwar keine Halbierung der Kosten für seelisch Kranke zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen und den Sozialhilfeträgern praktiziert wird, jedoch noch immer eine gewisse Teilungsquote vorhanden ist. In dieser Frage kann es rechtlich eigentlich keinen Zweifel geben: Wer als Versicherter körperlich oder seelisch krank ist, hat den vollen Anspruch auf Leistungen . seiner Krankenversicherung.
({3})
Wer durch körperliche oder seelische Krankheit Pflegefall ist, erhält allerdings bis heute in der Regel Leistungen nicht der Krankenversicherung, sondern im Bedarfsfall der Sozialhilfe. Beide Fragen, die einer körperlichen oder seelischen Krankheit und die andere der Abgrenzung von Krankheit und Pflege, dürfen nicht, wie dies die Teilungsabkommen tun, miteinander verquickt werden. Ich bin froh darüber, daß wir wohl demnächst durch ausdrückliche gesetzliche Regelung den Halbierungserlaß und die sich an ihn anschließende Praxis der Kostenteilung aufheben werden.
Ein zweiter Schwerpunkt sind die Förderungsmittel des Bundes. Meines Erachtens hat die Bundesregierung einen ganz wesentlichen Akzent innerhalb der Bemühungen um eine Psychiatriereform im Frühjahr dieses Jahres durch eine drastische Erhöhung der Modellförderungsmittel von 6,4 auf 81,3 Millionen DM - das ist eine Steigerung von weit über 1 000 % - gesetzt. Damit eröffnet sich für die Regierung eine einmalige Chance, aufbauend auf den Forderungen und Erfahrungen der PsychiatrieEnquete und gemäß ihren Grundsätzen in der Stellungnahme hierzu ein vorbildliches Förderungskonzept vorzulegen und durchzuführen. Die Bundesregierung kann dabei den in erster Linie für die Psychiatrie zuständigen Ländern wesentliche Impulse geben und für die dort zu leistenden Reformmaßnahmen Akzente setzen. Ich halte es für notwendig, daß sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestages möglichst bald von der Regierung über
die Grundsätze ihres Modellförderungsprogramms berichten lassen.
({4})
Dabei scheint es mir wesentlich zu sein, daß die Möglichkeiten einer Dezentralisierung und weitgehenden Überführung in ambulante Versorgung durch praktische Modelle erprobt werden. Es wird auch darauf ankommen, Modelle zur angemessenen Betreuung und Versorgung Suchtgeschädigter und seelisch Kranker zu entwickeln, zu denen leider mehr und mehr Jugendliche zählen.
Ich komme zum dritten Punkt, zum Psychotherapeutengesetz. Unsere Fraktion bedauert, daß es trotz unserer jahrelangen Bemühungen bis jetzt noch nicht möglich war, das unseres Erachtens dringend erforderliche Gesetz zur Regelung des Berufsbildes eines nicht-ärztlichen Psychotherapeuten vorzulegen. Wir glauben, daß eine ausreichende psychotherapeutische und psychologische Versorgung der Bevölkerung nur möglich ist, wenn neben den hierfür geeigneten Ärzten auch entsprechend andere, von Studium und Ausbildung her besonders geeignete Berufsgruppen mit in die Versorgung einbezogen werden. Ich meine hiermit insbesondere die Psychologen mit klinischer Spezialisierung. Zwar kennen wir die außerordentlichen Schwierigkeiten, die bei der Abgrenzung der Berufsgruppen und der zuzulassenden Tätigkeitsbereiche sowie bei den Konsequenzen für eine mögliche Kostentragung für solche Leistungen durch die Krankenkassen bestehen, aber trotzdem sollte man dieses Problem, wie ich meine, nicht von Jahr zu Jahr weiter vor sich herschieben. Jedenfalls ist die gegenwärtige Regelung außerordentlich unbefriedigend, nach der die Krankenkassen eine früher wesentlich weitergehende Praxis der Zulassung von Diplompsychologen im Delegationsverfahren aufgegeben haben. Es geht nicht länger an, daß es sich nur einkommensstärkere Selbstzahler leisten können, notwendige psychotherapeutische Beratungen und Betreuungen von nichtärztlichen Therapeuten zu erhalten.
Als vierten Punkt möchte ich das Krankenhausfinanzierungsgesetz ansprechen. Eine, wenn auch nur geringe, Möglichkeit des Bundesgesetzgebers, auf Grund seiner Zuständigkeit zur Psychiatriereform beizutragen, besteht schließlich auf dem Gebiet der Krankenhausfinanzierung. Der Regierungsentwurf ist allerdings von vornherein durch die abweisende Haltung der Bundesländer beeinträchtigt, die vor allem beim ersten Durchgang im Bundesrat deutlich wurde. Das war fast eine totale Ablehnung jeglicher bundesweiter Vorgaben für die Krankenhausbedarfsplanung der Länder. Dabei wäre es gerade auf dem Gebiet der Psychiatrie dringend notwendig, die Versorgung stärker und in den Ländern einigermaßen gleichlaufend mit der allgemeinen Krankenhausversorgung zu verzahnen und mit der ambulanten Versorgung zur Gesamtkonzeption abzustimmen. Ich kann nur hoffen, daß sich die Länder im zweiten Durchgang nicht endgültig gegen das erforderliche Minimum an bundesweiter und bundeseinheitlicher Ausgestaltung
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und Abstimmung der Bedarfsplanung sträuben. Der Sache der Psychiatrie wäre es dienlich, wenn diesbezüglich die wesentlichen Vorgaben in das Gesetz aufgenommen werden könnten.
Lassen Sie mich noch nach den Folgen dieser Debatte fragen. Was bringt diese Debatte für die Betroffenen? Wir reden, tauschen Meinungen und Ansichten aus und sind uns, wie die heutige Debatte jedenfalls bisher zeigt, ziemlich einig darin, was und vielleicht auch wie es getan werden muß. Dann gehen wir möglicherweise zum nächsten Tagesordnungspunkt über und überlassen das Handeln der Regierung. Ich meine, das darf nicht das Ergebnis dieses Tages sein.,
({6})
Wir dürfen gerade auf diesem Gebiet das Handeln nicht allein der Regierung überlassen, sondern diese Debatte muß für uns der Ansatz zu neuem Handeln und neuen Aktivitäten sein. Ich bin mir darüber bewußt, daß der Bund und damit die Regierung und wir als Gesetzgeber hier nur einen sehr engen Spielraum haben, weil das Grundgesetz andere Zuständigkeiten festsetzt. Aber wir können durch Modellversuche Anregungen geben und damit die Länder veranlassen, erfolgreiche Modelle weiterzuführen. Wir müssen als Gesetzgeber durch unser Interesse dafür Sorge tragen, daß die fast 75 Millionen DM, die wir im Etat 1980 mehr haben, sinnvoll und zweckmäßig ausgegeben werden. Diese Debatte muß Anstoß zur Meinungsbildung in der Bevölkerung und auch bei den Kollegen in den Landtagen geben, die die Hauptzuständigkeit haben. Diese Meinungsbildung sollte auch bei jenen Kollegen erfolgen, die mit diesem Problembereich nur am Rande oder nichts zu tun haben. Ich meine, wir sind dabei, durch den Stil dieser Debatte für diese Arbeit einen guten Grundstein zu legen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Reimers.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Fraktion mißt dem Problem der Kinder- und Jugendpsychiatrie besondere Bedeutung bei. Sie werden sicherlich alle Kenntnis genommen haben von einem Großversuch, der von der Gesamthochschule Essen durchgeführt wurde und bei dem 1 200 Kinder aus Normalfamilien von ihrem fünften Lebensjahr bis zu ihrem vierten Schuljahr beobachtet worden sind. Dieser Großversuch kommt zu einem Ergebnis, das man mit zwei Sätzen zusammenfassen kann. Ich zitiere:
Für die geistige Entwicklung von Kindern ist bis zum zehnten Lebensjahr die Familie wichtiger als Kindergarten, Vorklasse und Grundschule.
({0})
Schon bei fünfjährigen Kindern zeigen sich Unterschiede in Sprache, Umgang mit Menschen und Intelligenz, die kein Außenstehender mehr ausgleichen kann.
Meine Damen und Herren, das ist eine Feststellung, die für den Bereich der Bildungspolitik sicher genauso wie für den Bereich der Familienpolitik von Interesse und Belang ist und die darüber hinaus auch für unser Thema etwas beizutragen vermag. Denn wenn es stimmt, daß für die normale Entwicklung eines Kindes die ersten Lebensjahre von grundlegender Bedeutung sind - dies ist ein Ergebnis, das nicht nur von der Untersuchung in Essen bestätigt wird, sondern es gibt darüber hinaus eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu demselben Ergebnis gekommen sind; man kann hier schon von einer gesicherten anthropologischen Erkenntnis sprechen -, dann ist es sicherlich auch so, daß die psychische Fehlentwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren eine Festigkeit gewinnt, die später nur schwer verändert und abgebaut werden kann.
({1})
Mit anderen Worten: Mit jedem Jahr, in dem die psychische Störung unerkannt und unbehandelt andauert, werden die Chancen einer vollständigen Gesundung des Kindes schlechter, und das war schon immer so!
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Meine Damen und Herren, die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat aus unserer Sicht einen herausragenden Stellenwert. Von dieser Einschätzung her ergibt sich für uns die Frage, wie der Arbeitsanfall gegenwärtig aussieht. Nach den Daten, die die Enquete-Kommission geliefert hat, werden jedes Jahr bei der Einschulung von Kindern in erheblichem Umfange Auffälligkeiten festgestellt. Ich darf Ihnen die Zahlen nennen. Bei jedem Schulanfängerjahrgang sind es im Durchschnitt 25 % der Kinder, die Auffälligkeiten aufweisen, die Aufklärung notwendig machen. In Großstädten steigt diese Zahl sogar auf 31 %. Das heißt: rund 150 000 Kinder in unserem Lande allein bei den Schulanfängen weisen Auffälligkeiten auf, die aufgeklärt und behandelt werden müßten.
Die Enquete bringt noch einige weitere Zahlen, die ich ebenfalls nennen darf. Innerhalb des ersten Schuljahres werden 16,3 % der Kinder erheblich auffällig, 6 % werden vom Schulbesuch zurückgestellt und 8,7 % werden einer Sondereinrichtung zugeleitet.
Meine Damen und Herren, ein Schulanfängerjahrgang ist sicherlich ein Bereich, den man anführen kann, um den Bedarf zu kennzeichnen. Es gibt aber auch noch andere Zahlen, auf die sich hinweisen läßt. Ich darf nur die erschreckend hohe Zahl von Selbstmorden ansprechen. Diese Zahl ist in den letzten Jahren stark angestiegen. 1965 waren es 360, 1977 schon 600 Selbstmorde. In der Altersgruppe 16 bis 20 Jahre ist der Selbstmord nach dem Unfall die häufigste Todesursache.
Um zwei weitere Beispiele zu nennen, darf ich kurz verweisen auf das Thema der Drogenabhängigkeit und das Thema der Alkoholabhängigkeit.
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Auch hier gibt es Zahlen, die in den letzten Jahren drastisch angestiegen sind.
Das Urteil, das die Enquete über die Frage spricht, welches Therapieangebot diesem Bedarf gegenübersteht, ist schlichtweg vernichtend. Ich darf einmal aus der Enquete zitieren:
Ein einigermaßen strukturiertes Versorgungssystem ist auch in Ansätzen nicht zu erkennen. Der Nachholbedarf ist hier besonders gravierend.
Dies gilt nicht nur für die stationäre Versorgung, dies gilt erst recht für die Zahl der niedergelassenen Ärzte. Die Zahl, die in der Enquete genannt wird, lautet für das Jahr 1975 bzw. für den Erhebungszeitraum der Enquete 28 Praxen in der gesamten Bundesrepublik - 28 niedergelassene Fachärzte!
Wo liegen die Ursachen für den katastrophalen Ärztemangel in diesem Bereich? Wir. hatten bereits im letzten Jahr, als wir hier einen Antrag zum Thema eines Modellversuchs gestellt hatten, auf dieses Problem hingewiesen. Es ist vor allem das Problem der Weiterbildung zum Facharzt. Gegenwärtig besteht die Hauptschwierigkeit darin, daß die Institute für Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ klein sind, d. h. nur wenige Stellen für Weiterbildung zur Verfügung haben. Wenn diese Institute einen jungen Arzt ausgebildet haben, dann sind sie froh, wenn sie ihn haben; sie sind auch daran interessiert, ihn im Interesse der Versorgungsaufgaben im Institut festzuhalten. Also die Stellen für die Weiterbildung werden nicht so frei gemacht und bereitgestellt, wie dies erforderlich wäre, um eine größere Zahl auszubilden.
Wir haben deshalb bereits im letzten Jahr angeregt, den Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzugreifen, nämlich Ausbildungsstipendien zur Verfügung zu stellen, die an die Stelle der nicht vorhandenen Planstellen treten könnten. Ich habe erfahren, daß sich die Psychiatriereferenten der Länder in ihrer nächsten Sitzung mit diesem Vorschlag beschäftigen werden. Ich hoffe, daß diese Besprechung ein konkretes Ergebnis haben wird.
Im Zusammenhang mit der Weiterbildung darf ich noch ein anderes Problem ansprechen. Die gegenwärtige Weiterbildungsordnung sieht so aus, daß der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie als Assistent zwei Jahre lang das Fach Kinder-und Jugendpsychiatrie durchlaufen muß, zusätzlich aber ein Jahr das Fach Kinderheilkunde und ein Jahr das Fach Erwachsenenpsychiatrie. Hier liegt ein weiteres Problem, daß nämlich sowohl die pädiatrischen Einrichtungen als auch die psychiatrischen Kliniken nur ungern Assistentenstellen für ein Jahr zur Verfügung stellen. Auch in diesem Fall würde sicherlich über einen Stipendienpool, der die Finanzprobleme regelt, die Bereitschaft wachsen, Weiterbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Ich hatte eingangs auf den Zusammenhang von kindlicher Entwicklung und Familie hingewiesen.
Von daher liegt es auch auf der Hand, daß die Behandlung eines psychisch kranken Kindes sinnvollerweise nur auf dem Wege einer umfassenden Familiendiagnose und -beratung durchgeführt werden kann; denn die psychische Erkrankung des Kindes wird sicherlich häufig ihre Ursachen in Problemen der Familie haben.
Hier taucht nun ein Problem auf, das auf die vorhin genannte Zahl von 28 Praxen abzielt. Es ist klar, daß eine solche Beratungsarbeit, eine solche Familientherapie, nur sehr schwer im Rahmen der bisher vorhandenen Liquidationsmöglichkeiten niedergelassener Ärzte abzuwickeln ist. Wir müssen feststellen, daß heute Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie draußen in der Praxis nicht existenzfähig sind, wenn sie ihren Beruf, ihr Amt ernst nehmen. Das ist ein Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, über das wir gemeinsam nachzudenken haben.
({3})
Mein Fraktionskollege Picard hat auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Bund und Ländern hingewiesen. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir gerade auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht den Schwarzen Peter hin- und herschieben. Es liegt bei den Defiziten, die die Enquete nachgewiesen hat und die ich eben noch einmal mit Beispielen belegt habe, auf der Hand, daß man in dieser Situation die Länder vor den Aufgaben der Heranbildung einer ausreichenden Zahl von Kinder- und Jugendpsychiatern nicht alleinlassen kann. Jedenfalls ist die CDU/CSU-Fraktion nicht bereit, einer solchen Fehlentwicklung tatenlos zuzusehen.
({4})
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Mittagspause möchte ich Ihnen folgendes mitteilen:
Für die heutige Fragestunde stehen nur noch 12 Fragen zur Beantwortung an. Die Fragestunde wird deshalb voraussichtlich vor Ablauf der dafür vorgesehenen Zeit beendet sein. Im Einvernehmen mit den Fraktionen schlage ich Ihnen deshalb vor, daß wir unmittelbar nach Ende der Fragestunde mit der Tagesordnung fortfahren. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann wird so verfahren. Das Ende der Fragestunde wird über die Hausabrufanlage bekanntgegeben.
Die Sitzung ist bis 14 Uhr unterbrochen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren mit Punkt 1 der Tagesordnung fort: Fragestunde
- Drucksache 8/3237 -
Es steht noch die Beantwortung einer Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft aus. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Engholm zur Verfügung.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13943
Vizepräsident Dr. von Weizsäcker
Ich rufe die Frage 72 des Abgeordneten Weisskirchen auf:
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, daß selbstverantwortliche Tätigkeit von Schülern und Jugendlichen in Schülerzeitschriften/jugendeigenen Zeitungen grundsätzlich von hohem pädagogischen und gesellschaftlichen Wert sind und daher Förderung verdienen, und was unternimmt die Bundesregierung zur Förderung der Schülerpresse/jugendeigenen Zeitungen, und wie können die Aktivitäten erweitert werden?
Herr Kollege Weisskirchen, Ihre Frage gibt mir Gelegenheit, die positive Arbeit von Schülerzeitungen bzw. nichtkommerziellen jugendeigenen Zeitungen besonders hervorzuheben. Die Bundesregierung stimmt der Auffassung zu, daß selbstverantwortliche Tätigkeit von Schülern und Jugendlichen in Schülerzeitschriften und jugendeigenen Zeitungen grundsätzlich von hohem pädagogischem und gesellschaftlichem Wert ist und daher Förderung verdient. Die Schüler erhalten hierdurch eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, ihre Interessen und Wünsche in ihrer eigenen Sprache darzustellen. Dies bietet für die Schüler zugleich ausgezeichnete Möglichkeiten, frühzeitig eigene Erfahrungen in einem wichtigen Bereich unserer Gesellschaft zu machen und demokratisches Engagement zu entwikkeln.
Nach neueren Untersuchungen arbeiten zur Zeit über 10 000 Schüler in Schülerzeitungen mit. Die Bundesregierung begrüßt dieses starke Engagement nachdrücklich.
Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin) daß die Deutsche Jugendpresse e. V. und der Deutsche Jugendpresseclub aus Bundesmitteln vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit gefördert werden. Hier besteht eine langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Bundesregierung beabsichtigt, diese Förderung auch in Zukunft in angemessenem Umfang fortzusetzen.
Vizepräsident von Weizsäcker: Eine Frage, Herr Abgeordneter Weisskirchen, bitte.
Wenn die Bundesregierung, Herr Staatssekretär Engholm, so positiv gegenüber dieser Arbeit der Schülerpresse und der nichtkommerziellen Jugendpresse eingestellt ist, ist sie dann auch bereit, die Zeitschrift für Schülervertretungen weiter zu fördern?
Herr Weisskirchen, Sie weisen mit Ihrer Frage auf einen relativ komplizierten Sachverhalt hin. Sie wissen, daß die Bundesregierung über 20 Jahre hinweg die sogenannte SV-Zeitschrift ({0}) finanziell gefördert hat. Der Bundesrechnungshof hat aber im Jahre 1979 die Förderung wegen des dafür gewählten haushaltsrechtlichen Titels beanstandet. Die Bundesregierung hat inzwischen eine haushaltsrechtlich unbedenkliche Lösung erarbeitet, die eine Weiterführung der Zeitschrift ermöglicht. Ich begrüße es hier ausdrücklich, daß der Haushaltsausschuß dieser Form der weiteren Förderung zugestimmt hat.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte.
Verstehe ich Sie richtig, Herr Staatssekretär, daß die Schwierigkeiten, die Zeitschrift für Schülervertretung weiter zu fördern, demnach also rein haushaltsrechtlicher Natur waren?
Herr Kollege Weisskirchen, diese Zeitschrift hat sich im Laufe der Jahre mit ganz wesentlichen bildungspolitischen, aber auch schulinternen Fragen befaßt, etwa mit der Frage: Wie kann Aggressionsverminderung in der Schule stattfinden? Wie können soziale Lernprozesse in der Schule organisiert werden? Wie kann man geschichtlich darstellen, welche Zusammenhänge es gibt zwischen Schülermitverantwortung und -mitwirkung im Verhältnis zu Schule, Eltern und Lehrern?
Das sind alles Themen, die von erheblicher bildungspolitischer Bedeutung sind. Ich schließe daraus ganz eindeutig aus unserer Sicht, daß es nur haushaltsrechtliche Gründe gegeben hat, vorübergehend Fragezeichen bei der Finanzierung anzubringen.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Engholm.
Wir kommen zu der Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Wischnewski zur Verfügung. .
Ich rufe die Frage 76 des Abgeordneten Abelein auf :
Was waren die Beweggründe für Bundeskanzler Schmidt, Frau Allende zu empfangen?
Herr Kollege Dr. Abelein, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten. Frau Hortensia Allende, die Witwe des am 24. Oktober 1970 vom Kongreß gewählten und am 11. September 1973 beim Militärputsch umgekommenen chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende, hat den Herrn Bundeskanzler um ein Gespräch gebeten. Der Herr Bundeskanzler hat diesem Wunsch von Frau Allende entsprochen. In dem Gespräch wurden sehr dringende humanitäre Fragen und Probleme der Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie in Chile besprochen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Abelein.
Herr Staatsminister, wird der Herr Bundeskanzler auch andere Damen empfangen, die in der Bundesrepublik Deutschland einen Besuch machen und sich um ein Gespräch beim Herrn Bundeskanzler bemühen mit dem Inhalt der Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie etwa in einem kommunistischen Land?
13944 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Der Herr Bundeskanzler wird immer dann jemanden empfangen, wenn er glaubt, daß es gerechtfertigt und notwendig ist. Er hat dies gerade auch in der Vergangenheit bewiesen. Vielleicht ist für Sie von ganz besonderem Interesse, daß Frau Allende am Tage vorher von dem christdemokratischen Ministerpräsidenten der Niederlande empfangen wurde,
({0})
früher von Papst Johannes Paul II., vom französischen Staatspräsidenten, vom italienischen Staatspräsidenten, vom spanischen Ministerpräsidenten, vom britischen Ministerpräsidenten, vom dänischen Ministerpräsidenten, vom österreichischen Bundeskanzler.
({1})
Haben Sie noch eine weitere Zusatzfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter.
Angesichts der mitunter sehr schroffen und abweisenden Behandlung von Besuchern aus dem Ausland einer politischen Richtung, die Ihnen nicht so nahesteht, möchte ich noch die Zusatzfrage stellen: Erfahren Besucher kommunistischer Couleur aus dem Ausland oder solche, die im linken politischen Spektrum angesiedelt sind, von der Bundesregierung eine bevorzugte Behandlung?
Die Bundesregierung und insbesondere der Herr Bundeskanzler werden alle Besuche wahrnehmen, die den Interessen unseres Landes, der Menschlichkeit und der Demokratie dienen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, Sie stimmen also mit mir darin überein, daß der Bundeskanzler mit diesem Besuch und dem Gespräch mit Frau Allende einen Maßstab gesetzt hat, der in Fällen von ähnlicher Wichtigkeit und Tragweite im Falle von Menschenrechtsverletzungen auch künftig angewandt werden wird?
Der Herr Bundeskanzler und die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit sind in allen Regionen der Welt um die Lösung von Menschenrechtsproblemen bemüht. Ich darf Ihnen ein ganz praktisches Beispiel sagen: In diesen Tagen sind es seit dem 1. Januar 1975 ziemlich genau 250 000 deutsche Staatsbürger, die aus einer Reihe von Ostblockländern in die Bundesrepublik Deutschland haben ausreisen können und die jetzt die Möglichkeit haben, die Rechte und Freiheiten des Grundgesetzes für sich in Anspruch zu nehmen,
({0})
eine Aufgabe, um die wir täglich bemüht sind, auch dann, wenn es sich nicht um deutsche Staatsbürger handelt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, wie erklärt es sich aber, wenn man Ihre Antwort sehr ernst nimmt, daß zu früheren Zeiten die Menschenrechtler und Dissidenten Bukowski und Amalrik vom Bundeskanzler nicht empfangen worden sind?
Ich habe solche Persönlichkeiten im Auftrage des Herrn Bundeskanzlers empfangen und mit ihnen Gespräche geführt.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Weisskirchen.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, den Fragestellern zu erklären, wie die chilenische christdemokratische Partei ein solches Frage- und Antwort-Spiel bewerten würde?
({0})
Ich habe mehrere Male die Möglichkeit gehabt, den früheren christdemokratischen Staatspräsidenten Eduardo Frei zu sprechen, der selbstverständlich auch mehr als einmal im Kanzleramt gewesen ist. Ich glaube, er würde sich über eine solche Frage von ihm politisch Nahestehenden, bei der es um die Witwe eines bei einem Militärputsch umgekommenen Staatsspräsidenten geht, sehr, sehr wundern. Ich möchte mich darauf beschränken.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Ich rufe den' Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Dr. von Dohnanyi zur Verfügung.
Die Fragen 77 und 78 des Herrn Abgeordneten Dr. Langguth werden auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Czaja auf.
Ist die beständige Forderung der Volksrepublik Polen nach Änderung von Artikel 116 des Grundgesetzes und des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts nach Auffassung der Bundesregierung eine völkerrechtliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland, und weist sie diese Forderungen energisch zurück?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Auffassungen der
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13945
Volksrepublik Polen werden von der Bundesregierung nicht geteilt. Die Bundesregierung hat diese Auffassungen ja auch wiederholt zurückgewiesen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Läßt sich, Herr Staatsminister, bestreiten, daß der polnische Justizminister, die offizielle polnische Presse, die amtliche Nachrichtenagentur und der kommunistische Parteichef Gierek konstant die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts in der Bundesrepublik fordern, und ist das nicht - ich wiederhole die Frage - eine Einmischung in die Souveränitätsangelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Kollege, zum ersten Teil Ihrer Frage: Deswegen hatte ich ja darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung diese Auffassung nicht teilt. Meine Feststellung hatte Sinn auch nur unter der Voraussetzung, daß diese Auffassung in der Volksrepublik Polen vertreten wird. Sie haben das hier wiederholt.
Zum zweiten Teil möchte ich sagen, daß es schwierig ist, Auffassungen, die andere Regierungen in bestimmten Einzelfragen haben, jeweils als Einmischung zu bezeichnen. Wir würden uns selber ganz erheblich in Dingen einschränken, die wir gelegentlich gegenüber andern zu sagen haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie gehen doch wohl davon aus, daß das Staatsangehörigkeitsrecht eines jeden Staates im Rahmen der völkerrechtlichen Bestimmungen zu den Souveränitätskompetenzen eines Staates gehört, und es gilt für die Bundesregierung doch wohl noch die Erklärung des Bundesaußenministers Scheel vom 14. November 1970, daß durch die Ostverträge die Grundrechte und die Staatsangehörigkeitsrechte Deutscher nicht berührt werden können?
Sicher, Herr Kollege. Deswegen hatte ich ja gesagt, daß die Bundesregierung diese Auffassung nicht teilt.
Ich rufe die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Czaja auf.
Hat sich die Bundesregierung gegenüber Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und der UdSSR bei der Fürsprache für Menschenrechte deutscher Staatsangehöriger und deutscher Volkszugehöriger auch auf die Weltpakte für politische und bürgerliche Rechte berufen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Bundesregierung geht von allen Grundlagen aus, die der Verwirklichung der Menschenrechte dienen können.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, gilt die Antwort der Bundesregierung zur Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR, daß wegen schwerwiegender Verletzung der Menschenrechte Deutscher auch bilateral, ohne sich einer Einmischung schuldig zu machen, nach den Pakten zu intervenieren ist, nicht auch für die Rechte deutscher Staatsangehöriger unter polnischer Herrschaft und deutscher Volkszugehörigkeit in anderen Ländern?
Herr Kollege, ich wiederhole meine Antwort: Die Bundesregierung geht von allen Grundlagen aus, die der Verwirklichung der Menschenrechte dienen können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, würden Sie versuchen, konkret die Frage zu beantworten, ob bei den genannten Regierungen bisher auch auf Grund der Menschenrechtspakte interveniert worden ist - weil ich von dem Standpunkt ausgehe, daß diese Pakte geschlossen werden, damit die Rechtsverpflichtungen eingehalten werden -?
Herr Kollege, ich habe zu diesen Pakten im Deutschen Bundestag in der Fragestunde wiederholt Stellung genommen. Sie kennen die Auffassung der Bundesregierung über Rechtsverbindlichkeit und Durchsetzbarkeit. Vor diesem Hintergrund muß man der Bundesregierung wohl den Spielraum lassen, sich, wie ich gesagt habe, jeweils auf die Grundlagen zu beziehen, die der Verwirklichung der Menschenrechte dienen können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, hat die Regierung der Volksrepublik Polen bisher eine Berufung der Bundesregierung auf die Bestimmungen des Internationalen Pakts der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte akzeptiert, oder wurde das als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens zurückgeWiesen?
Herr Kollege, es gibt einen solchen von Ihnen hier soeben beschriebenen Vorgang nicht. Ich wiederhole noch einmal: Wir beziehen uns jeweils auf die Grundlagen, mit denen wir der Verwirklichung der Menschenrechte konkret dienen können. Wie Sie wissen, hält die Bundesregierung nicht so viel von der Berufung auf Schlagworte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, zählen Sie zu den Grundlagen, auf die Sie sich bei
13946 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Verhandlungen über Menschenrechte beziehen, auch die internationalen Menschenrechtspakte?
Herr Kollege, soweit diese der Verwirklichung der Menschenrechte im Einzelfall dienen können, würden sie sicherlich herangezogen werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ey.
Herr Staatsminister, steht die Bundesregierung in ständigen Kontakten zur polnischen Regierung, und hegt sie berechtigte Hoffnung auf Beilegung dieser unterschiedlichen Auffassungen?
Herr Kollege, die Bundesregierung steht in menschenrechtlichen Fragen natürlich in ständigem Kontakt auch zur Volksrepublik Polen. Das ist auch hier im Hause, so scheint mir, wohl bekannt.
Ich rufe die Frage 81 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die rückläufige Ausreise von deutschen Volksangehörigen aus der Sowjetunion, nachdem der Bundesinnenminister noch am 25. Mai 1979 in Moskau vor der Presse erklärt hatte, „daß bei seinem Gespräch mit dem sowjetischen Innenminister Schtscholokow Fragen der Familienzusammenführung im Geiste der KSZE-Schlußakte sowie der früheren bilateralen Erörterungen behandelt worden seien. Die Fortführung dieser Politik sei bestätigt worden"?
Bitte, Herr Staatsminister.
Wie Sie wissen, haben die Bemühungen der Bundesregierung dazu geführt, daß im Jahre 1976 etwa 9 700 Sowjetbürger deutscher Nationalität in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen konnten. Diese Zahl beinhaltet eine erhebliche Steigerung gegenüber den Vorjahren. Die Bundesregierung sieht allerdings mit einer gewissen Sorge, daß sich die Zahl seit 1977 verringert. Im Jahre 1977 waren es 9 274, im Jahre 1978 waren es 8 455. In der Zeit vom Januar bis August 1979 liegen die Zahlen im Vergleich zum selben Vorjahreszeitraum - etwa 20% niedriger.
Die mit Innenminister Schtscholokow abgestimmte Forderung und Formulierung, die Bundesinnenminister Baum in. Moskau dahin zitiert, daß die Fortführung der Politik der Familienzusammenführung bestätigt werde, entspricht der bisherigen Haltung der sowjetischen Führung, sie wolle Fragen auf diesem Gebiet positiv behandeln. Aber die bisherige Entwicklung im Jahre 1979 ist auch für die Bundesregierung enttäuschend.
Wir werden künftige Gespräche erneut nutzen, um diese Frage anzusprechen. Der Umfang der Gespräche, die Bundesinnenminister Baum in Moskau hierzu geführt hat, beweist, wie sehr uns dieses Problem beschäftigt. Die Bundesregierung wird deshalb auch weiterhin dafür eintreten, daß diese humanitäre Frage großzügig behandelt wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka, bitte.
Herr Staatsminister, worauf führen Sie es zurück, daß, wie Sie richtig angegeben haben, seit 1976 die Zahl derer, die aus der Sowjetunion zu uns kommen, immer geringer geworden ist und jetzt sogar - im Vergleich mit den ohnehin schon schlechteren Zahlen von 1977 und 1978 - mehr als 20 % geringer ist?
Zunächst: Herr Kollege, Sie irren sich hinsichtlich des Jahres 1977. Ich habe Ihnen in meiner Antwort soeben ausdrücklich gesagt, daß die Zahlen im Jahre 1977 sogar noch einmal leicht angestiegen sind. Erst seit 1978 sind die Zahlen rückläufig. Eine Erklärung hierzu kann ich im Augenblick nicht geben. Wir haben, wie gesagt, den Punkt in Moskau angesprochen; er wird erneut angesprochen werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, offenbar haben wir unterschiedliche Statistiken. Die vom Bundesinnenministerium besagt, daß 1976 -
Einen Moment, Herr Abgeordneter. Ich bitte, keine Feststellungen zu treffen, sondern Fragen zu stellen.
Herr Staatsminister, können Sie - unter Berücksichtigung der mir vorliegenden Statistik - darüber Auskunft geben, in welcher Weise nun mit der Sowjetunion bezüglich derer, die seit Jahr und Tag um Ausreise einkommen und die Erlaubnis nicht erhalten, verhandelt wird, und können Sie die Nachricht bestätigen, die heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" steht, daß nämlich dem Deutschen Roten Kreuz mehr als 100 000 Anträge bekannt sind?
Herr Präsident, wenn Sie erlauben, möchte ich zunächst doch kurz auf die Feststellung des Kollegen eingehen, weil ich mich in der Tat in der Zahl geirrt habe.
Die Antwort liegt bei Ihnen, Herr Staatsminister.
Ja. - Ich möchte das hier richtigstellen. Ich stelle fest, daß die Zahlen bereits im Jahre 1977 in der Tat etwas niedriger liegen als die Zahlen im Jahre 1976.
Was nun die Ursachen angeht, Herr Kollege Hupka, so wiederhole ich: Wir sind dabei, diese Gespräche fortzuführen, und können erst dann hierzu Auskunft geben.
Eine Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13947
Herr Staatsminister, hat die Sowjetunion ihrerseits irgendwelche Gründe für die rückläufige Zahl angegeben?
Nein, Herr Kollege. Ich sage ja, daß bei den Gesprächen, die Herr Baum hierzu geführt hat, die Fortführung der Politik der Familienzusammenführung ausdrücklich bestätigt wurde. Es kann viele Ursachen dafür geben, auch solche, die den Zusammenhang voll erklären und auch für uns verständlich machen. Ich wiederhole, die Bundesregierung ist von der Entwicklung ebenfalls enttäuscht. Aber ehe wir hierzu Feststellungen treffen, müssen wir natürlich die Zusammenhänge aufklären.
Ich rufe jetzt auf die Frage 82 des Abgeordneten Dr. Hupka:
Werden Partnerschaften mit polnischen Städten mit hohen Zuschüssen der Bundesregierung gefördert, wie der SPD-Stadtrat Gerhard Gollnast der Stadt Kerpen erklärt hat, und wenn ja, wie hoch sind diese Zuschüsse?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, Partnerschaften mit polnischen Städten werden als solche von der Bundesregierung finanziell nicht unterstützt. Es gibt aber die Möglichkeit der Unterstützung einzelner kultureller Veranstaltungen mit Auslandsbezug auf kommunaler Ebene aus Mitteln des Bundeshaushaltes. Die Mittel hierzu sind im Haushalt des Auswärtigen Amtes veranschlagt.
Bitte, eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Sind die bereits bestehenden Partnerschaften zwischen Bremen und Danzig, Göttingen und Thorn, Hannover und Posen, Nürnberg und Krakau, was das kulturelle Programm betrifft, in dieser Weise unterstützt worden?
Es gibt dort aus dem soeben von mir zitierten Fonds zum Teil Unterstützungen; das ist richtig.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, können Sie die Meldung, auf die ich mich bezogen habe, das Zitat des Stadtrats, nicht so bestätigen, daß unmittelbar für die Aufnahme einer deutschpolnischen Partnerschaft seitens der Bundesregierung Gelder zur Verfügung gestellt werden?
Herr Kollege, das habe ich ausdrücklich soeben klargestellt. Es gibt hierfür nicht unmittelbar Mittel. Es gibt Mittel für die kulturelle Zusammenarbeit. Ich kann Ihnen, wenn Sie daran interessiert sind,. eine Zusammenstellung über die Aufteilung dieser Mittel zur Verfügung stellen. Diese Mittel werden allen Städten, die sich darum bemühen, soweit der Haushaltstitel ausreicht, zur Verfügung gestellt; selbstverständlich nicht nur gegenüber Osteuropa.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Becher.
Herr Staatsminister, darf ich davon ausgehen, daß die Tatsache, daß die Bundesregierung derlei Zuschüsse zu diesen Partnerschaften aus Kulturmitteln gibt, nicht bedeutet, daß sie damit auch jene Bestimmungen von Partnerschaftsverträgen unterstreicht und bestätigt, die darauf hinauslaufen, daß die Tätigkeit der Deutschen, die aus den polnischen Städten vertrieben wurden, in den Partnerschaftsstädten unterbunden wird?
Herr Kollege Becher, ich möchte zunächst als Antwort auf Ihre Frage einmal ganz deutlich machen, daß die Bundesregierung Partnerschaften von Städten in der Bundesrepublik Deutschland mit Städten in Osteuropa ausdrücklich begrüßt. Das ist ein Teil des Entspannungs- und Normalisierungsprozesses. Wenn in diesen Partnerschaften die Möglichkeit und der Wunsch zu kulturellem Austausch gegeben sind und hierfür Unterstützung gegeben werden kann, so tun wir dies freudig, und zwar deswegen, weil gerade der Kulturaustausch mit Osteuropa nach unserer Auffassung ein bedeutsamer Faktor in diesem Prozeß der Normalisierung ist.
({0})
Ich hoffe also, daß in dieser Frage Übereinstimmung besteht.
Das ist keine Antwort auf meine Frage. Die war ja weitergehend.
Das war eine Antwort auf Ihre Frage.
Nein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie mir, da Sie die Zusammenstellung haben, sagen, wieviel insgesamt bisher gegeben worden ist und ob damit nur Summen verbunden waren, die nicht die von Ihnen vorhin selbst angeschnittenen Dissense in der Auslegung der Ostverträge betrafen?
Herr Kollege, wenn ich die Zahlen hier insgesamt zusammenfüge, dann hat der Titel im Jahre 1978 wohl etwa 150 000 DM betragen. Für 1979 sind 300 000 DM vorgesehen. Ich habe vorhin angedeutet, daß ich gerne bereit bin - das ist ja ganz selbstverständlich -, dem Haus Auskunft über die Aufteilung der Mittel für einzelne Vorhaben zu geben.
13948 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Bitte eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, bezieht sich der Titel nur auf kulturelle Veranstaltungen im Zusammenhang mit den sogenannten Städtepartnerschaften, oder ist dies ein Titel im Zusammenhang mit den bestehenden Kulturabkommen insgesamt?
Herr Kollege, der Titel bezieht sich auf Veranstaltungen mit Auslandsbezug auf kommunaler Ebene. Aus diesem Titel erhalten die kommunalen Spitzenverbände, die federführend durch den Deutschen Städtetag vertreten werden, einen jährlichen Globalbetrag überwiesen.
Ich rufe Frage 83 des Abgeordneten Hansen auf:
Welche Umstände hindern die Bundesregierung, über eine gezielte Entwicklungshilfe an Vietnam den Wiederaufbau des durch totale Kriegführung zerstörten Landes zu fördern und damit eine der Ursachen für das Problem der Vietnamflüchtlinge beseitigen zu helfen, statt nur zwangsläufige Folgen zu lindern?
Bitte, Herr Staatsminister.
Die Bundesregierung, Herr Kollege Hansen, kann die Frage einer Entwicklungshilfe für Vietnam in der gegenwärtigen Spannungslage in diesem Raum nicht aufgreifen. Voraussetzungen für eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Vietnam werden dadurch belastet, daß vietnamesische Truppen in Kambodscha stehen, die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit Kambodschas nicht wiederhergestellt ist, und dadurch, daß die vietnamesische Politik gegenüber eigenen Bevölkerungsgruppen von einer großen Mehrheit der Völkergemeinschaft verurteilt wird. Dies sind die Gründe für unsere Haltung.
Eine Zusatzfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatsminister, habe ich Ihre Antwort, daß die Gründe für die Nichtvergabe von Entwicklungshilfe an Vietnam nicht mehr das Nichtzustandekommen Oder die Nichteinigung über eine Berlin-Klausel sind, recht verstanden?
Herr Kollege, ich wiederhole noch einmal: Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit, die ja im Augenblick auf breiter Ebene nicht möglich ist, auch nicht über die Europäische Gemeinschaft, steht in erster Linie unter der Belastung der Faktoren, die ich hier aufgeführt habe.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hansen.
Ich möchte meine Frage noch einmal wiederholen. Sind damit die Auseinandersetzungen über die Berlin-Klausel zwischen der Bundesrepublik und Vietnam gegenstandslos geworden?
Herr Kollege, im Augenblick steht das von mir beschriebene Problem im Vordergrund. Die Möglichkeiten, die sich bei der Ausräumung der beschriebenen Probleme ergeben, müssen später in dem sich dann ergebenden Zusammenhang betrachtet werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hoffacker.
Herr Staatsminister, da die Entwicklungshilfe gezielt nicht möglich ist, frage ich Sie: Was hat die Bundesregierung in bilateralen Verhandlungen und Gesprächen unternommen, um dem Elend der Vertreibung von Vietnam aus ein Ende bereiten zu helfen?
Herr Kollege, wir haben nicht nur auf der Seite der Folgen dieser Politik, nämlich bei den Flüchtlingen versucht, wie Sie wissen, umfangreich zu helfen, wir haben auch jeden möglichen Einfluß auf den verschiedenen Ebenen der Politik genutzt.
({0})
- Einmal z. B. in der Diskussion über diese Fragen in den Vereinten Nationen, aber auch durch unsere Beteiligung im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, die sich ja auch zu dem Problem geäußert hat, und selbstverständlich auch bilaterale Gespräche. Es wird jede Möglichkeit genutzt - auch in Zusammenhang mit den ASEAN-Staaten -, um Einfluß darauf zu gewinnen, daß die Befreiung in Südostasien Fortschritte machen kann. Zur Befriedung gehören die Faktoren, von denen ich hier soeben gesprochen habe.
Ich rufe jetzt Frage 84 des Abgeordneten Jäger ({0}) auf.
Hat der Bundeskanzler bei seiner Unterredung mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei, Jindrich Zahradnik, auch die Besorgnis der Bundesregierung über die menschenrechtliche Situation in der CSSR, besonders über die Verfolgung der Unterzeichner der Charta 77, zum Ausdruck gebracht, und wenn ja, in welcher Weise ist das der deutschen Öffentlichkeit zu Kenntnis gebracht worden?
Bitte, Herr Staatsminister.
Die Regierung der CSSR und auch der stellvertretende Ministerpräsident Jindrich Zahradnik kennen die Haltung der Bundesregierung in der von Ihnen angeschnittenen Frage.
Die Bundesregierung hat der tschechoslowakischen Regierung auch wiederholt ihre Besorgnis über Verfolgungsmaßnahmen zum Ausdruck gebracht und wird dies auch in Zukunft tun. Sie hat ihre Haltung auch hier in der Fragestunde bereits erläutert.
Aber die Bundesregierung, Herr Kollege, hält es nicht für zweckmäßig, jeweils in jedem Falle öffentlich über Einzelheiten zu berichten, die Gegenstand des Gespräches des Herrn Bundeskanzlers mit seinen Gästen waren.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13949
Eine Zusatzfrage des Fragestellers.
Herr Staatsminister, darf ich aus dieser Antwort schließen, daß der Bundeskanzler erstens in diesem Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten die menschenrechtliche Situation nicht in der von mir erfragten Weise angesprochen hat, und daß er es zweitens in Gegensatz zu dem, was Ihre Kollegin, die Frau Staatsministerin Hamm-Brücher hier vor vierzehn Tagen gesagt hat, auch nicht für notwendig erachtet hat, die Offentlichkeit darüber zu informieren?
Herr Kollege, das können Sie natürlich nicht daraus schließen, denn wenn diese Rückschlüsse so einfach möglich wären, dann wäre ja auf indirekte Weise doch wieder eine Aussage zu Einzelheiten des Gesprächs gemacht. Wir können nicht in jedem Falle nachträglich zu solchen Einzelheiten Stellung nehmen. Ich halte es auch wirklich für einen Fehler - wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf -, wenn eine solche Stellungnahme immer wieder zu Einzelheiten provoziert werden soll.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, da sich der Minister Ihres Hauses, der Bundesminister Genscher, bei einem kürzlichen Besuch des chilenischen Außenministers nicht gescheut hat, von sich aus die Offentlichkeit darüber zu informieren, daß er diesem Herrn die berechtigte Besorgnis der Bundesregierung über die menschenrechtliche Lage in Chile zum Ausdruck gebracht hat, möchte ich Sie dennoch fragen, ob der Bundeskanzler z. B. die strafrechtliche Verfolgung von Mitgliedern der Charta 77 in der Tschechoslowakei bei diesem Besuch angesprochen hat.
Herr Kollege, ich verweise noch einmal auf das, was ich eben gesagt habe. Im übrigen gibt es ja eine Vielzahl von Äußerungen über Gespräche, die, wann immer die Bundesregierung es für richtig hält, veröffentlicht worden sind oder zu deren Inhalt öffentlich Stellung genommen worden ist und die sich auf diesen Punkt beziehen. Ich habe z. B. ein solches Gespräch mit dem stellvertretenden tschechischen Ministerpräsidenten Korcak geführt und habe darüber auch der Presse Mitteilung gemacht. Ich würde wirklich bitten, nicht zu unterstellen, daß deswegen, weil zu Einzelheiten nicht immer öffentlich Stellung genommen wird, diese nicht auch Gegenstand des Gesprächs gewesen sein könnten. Wir würden dann ja in eine schreckliche Lage im Parlament kommen, wenn immer gefragt werden könnte: Wenn das und das nicht gesagt worden ist, ist es mit Sicherheit auch nicht angesprochen worden?
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, sind eigentlich solche Rechtsverpflichtungen in internationalen Pakten, auch im Menschenrechtspakt, nicht dazu da, eingefordert zu werden, wenn sie verletzt werden und durch stille Interventionen die Verletzung nicht abgestellt wird?
Herr Kollege, ich wiederhole die Antwort, die ich in dem Zusammenhang vorhin gegeben habe. Die Bundesregierung wird jeweils jede Grundlage benutzen, die ihr zur Verfügung steht, um bei der Durchsetzung der Menschenrechte im Einzelfall Hilfestellung zu geben.
Ich rufe Frage 85 - des Abgeordneten Jäger ({0}) - auf:
In welchen Staaten der Welt gibt es nach den Erkenntnissen der Bundesregierung nach wie vor Konzentrations- oder Straflager für politische Gegner des jeweils herrschenden Regimes oder für sonstige politische Häftlinge, und was wird die Bundesregierung in Berücksichtigung des Appells des Papstes vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen unternehmen, um die betroffenen Staaten zur Beseitigung dieser Lager und zur Freilassung der darin gefangengehaltenen Häftlinge zu veranlassen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Politische Häftlinge in Konzentrationslagern oder Straflagern oder anderen Gefängnissen gibt es nach den Erkenntnissen der Bundesregierung leider noch in vielen Teilen der Welt. Die Bundesregierung teilt die Besorgnisse von Papst Johannes Paul II. über diese Situation. Sie begrüßt, daß der Papst in seiner Rede vor den Vereinten Nationen zu einer Änderung und zu einer stärkeren Berücksichtigung der Menschenrechte aufgerufen hat. Dieser Appell wird von der Bundesregierung voll unterstützt, und zwar bei allen möglichen Gelegenheiten auf allen Ebenen und in allen Gremien, in denen die Bundesregierung, die Bundesrepublik Deutschland mitwirken können.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, hat die Bundesregierung eine Übersicht darüber, in wie vielen Ländern noch solche Lager existieren, und sind Sie in der Lage, mir wenigstens eine ungefähre Zahl zu nennen?
Es gibt keine verläßliche Ubersicht, und ich kann Ihnen keine Zahl nennen.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatsminister, können Sie mir dann wenigstens beispielhaft sagen, welche Anstrengungen die Bundesregierung
13950 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Jäger ({0})
z. B. etwa bei unserem europäischen Nachbarstaat Sowjetunion unternommen hat, die ja für die große Zahl der dort noch vorhandenen Konzentrationslager bekannt ist, um auf eine Beseitigung der Lager und Freilassung der Häftlinge hinzuwirken?
Herr Kollege, ich wiederhole noch einmal: Das Vorhandensein von Straflagern oder auch Konzentrationslagern ist in dem von Ihnen gewünschten Umfange quantitativ nicht zu belegen. Selbstverständlich bemüht sich die Bundesregierung, über diese Fragen im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Auskunft zu bekommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Möller.
Herr Staatsminister, in welcher Weise wird die Bundesregierung den Appell des Papstes aufnehmen und mit den Ländern, in denen noch Konzentrationsläger vorhanden sind, darüber sprechen, daß diese beseitigt werden?
Herr Kollege, die Bundesregierung fühlt sich durch den Appell des Papstes vor den Vereinten Nationen in der Fortsetzung ihrer bisherigen Politik bestätigt. Die Politik der Bundesregierung war und ist es, einzelnen Menschen zu helfen und, soweit dies möglich ist, zugleich auf die Verwirklichung der Menschenrechte in allen Ländern der Welt Einfluß zu nehmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, könnte die Bundesregierung unsere Botschaften veranlassen, daß sie aus den Ländern, in denen solche Straflager, KZ-Lager, vorhanden sind, der Bundesregierung berichten, damit dann nachher die Bundesregierung dem Parlament darüber berichten kann?
Herr Kollege, wenn dies ein Weg wäre, um eine so umfassende Übersicht zu beschaffen, könnte man das in Erwägung ziehen. Aber ich wiederhole: Auch auf diesem Wege lassen sich die von Ihnen gewünschten Informationen nicht in vollem Umfange beschaffen. Wir sind um Informationen bemüht, wir haben ja auch bei verschiedenen Gelegenheiten Auskunft über dieses Thema gegeben, und wir werden das auch in Zukunft im Rahmen des Möglichen tun.
Ich rufe Frage 86 des Abgeordneten Dr. Becher ({0}) auf:
Geht die Bundesregierung 'davon aus, daß das Recht eines Volks auf Selbstbestimmung und sein eigenes Heimatland allgemeine Gültigkeit beansprucht, oder will sie dieses Recht nach den jüngsten Darlegungen des Bundesaußenministers und des Sprechers der EG vor der UNO nur den Palästinensern zubilligen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Antwort lautet zum ersten Teil Ihrer Frage „Ja", zum zweiten Teil ganz selbstverständlich „Nein".
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Becher.
Herr Staatsminister, darf ich dem ersten Teil Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung grundsätzlich allen Menschen das Recht zubilligt, über das Schicksal ihrer Heimat, des Landes, dem sie und ihre Vorfahren entstammen, in freier Selbstbestimmung zu entscheiden?
Herr Kollege, soweit dies nach den politischen Gegebenheiten möglich ist, wird die Bundesregierung solche Interessen immer unterstützen. Aber Sie wissen, daß die Bedingungen in den verschiedenen Ländern der Welt häufig Probleme von Minderheiten aufwerfen, und nicht jedesmal kann sich die Bundesregierung in entsprechender Weise engagieren.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher.
Herr Staatsminister, darf ich davon ausgehen, daß der Herr Bundesaußenminister auch die Feststellungen in seinem hierzulande ja vielzitierten Interview vom 3. September 1979 aus der von Ihnen nunmehr bestätigten allgemeinen Gültigkeit der Prinzipien des Heimatrechts usw. ableitete, wenn er sagte: Zum Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes gehöre ein Heimatland für das palästinensische Volk. Das Recht, über das eigene Schicksal entscheiden zu können, könne niemand anders für die Palästinenser in Anspruch nehmen, und es gehöre dazu auch das Recht, darüber zu entscheiden, wer die Palästinenser vertreten solle?
Herr Kollege, Sie haben den Bundesaußenminister zitiert. Selbstverständlich steht der Bundesaußenminister zu den Feststellungen, die er in der Vergangenheit getroffen hat. Das ist bei einer Regierung der Kontinuität ja selbstverständlich.
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, bedeutet die von Ihnen skizzierte Haltung der Bundesregierung, daß die Bundesregierung in der Frage der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch verschiedene Völker eine Rangfolge eingesetzt hat, die sich nach der Lautstärke und gegebenenfalls der Gewalttätigkeit bemißt, mit der dieses Selbstbestimmungsrecht von den jeweiligen Betroffenen verfochten wird?
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13951
Aber ganz sicher nicht, Herr Kollege Jäger, und Sie werden bei meiner Antwort sicherlich auch festgestellt haben, daß man in dieser Frage differenzieren muß.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie uns sagen, welches Echo die sehr beachtenswerte Erklärung des Bundesaußenministers vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gefunden hat, daß jeder Mensch in Freiheit sein eigenes Land verlassen kann, daß aber auch jeder in Freiheit in seinem Land bleiben kann, und zwar unter Beachtung seiner persönlichen Freiheit und seiner nationalen Bindungen, also die Erklärung mit dem Bekenntnis zum Recht auf die Heimat? Wie war das Echo?
Herr Kollege Czaja, ich war selbst nicht dort, nehme aber an, daß das Echo rundherum positiv war.
({0})
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, wie begründet sich das unterschiedliche Echo auf die Forderung der Palästinenser nach Selbstbestimmung und auf die Forderung des deutschen Volkes nach Selbstbestimmung?
Herr Kollege, es gibt den in der Frage des Kollegen Becher unterstellten Unterschied nicht. Es geht darum, daß das palästinensische Volk gegenwärtig keinen Raum für sich in Anspruch nehmen kann, daß es in keinem Raum als Volk Selbstbestimmung vollziehen kann. Und es ging dem Bundesaußenminister darum, deutlich zu machen, daß diese Voraussetzungen für die Lösung des Nahostproblems gesehen werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann ({0}).
Herr Staatsminister, welches sind die Kriterien bei der von Ihnen angesprochenen Differenzierung des Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf Heimat für einzelne Völker und Volksgruppen?
Herr Kollege, die Antwort auf diese Frage ist sicherlich komplex. Es wird wohl darauf ankommen festzustellen, inwieweit im Rahmen gegebener Möglichkeiten eine Selbstbestimmung in einem „Lebensraum" - ich benutze dieses scheußliche Wort ungern - möglich ist. Auch in Westeuropa gibt es z. B. in bestimmten Regionen Forderungen nach mehr Autonomie und nach mehr Selbstbestimmung. Viele dieser Forderungen können nach Auffassung der Bundesregierung ohne Anwendung von Gewalt im Rahmen der vorhandenen Räume auch auf demokratischem Wege realisiert werden, weil eben bestimmte Grundvoraussetzungen gegeben sind. Wenn man also differenziert, muß man sehen, inwieweit diese Elemente bereits vorhanden sind. Die Tatsache, daß es nationale Einheiten gibt, die aus einer Anzahl von Minderheiten zusammengesetzt sind, bedeutet doch nicht, daß die nationale Einheit dort gewissermaßen im Prinzip zu bestreiten wäre.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Dr. Becher auf:
Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch zwischen den Tatsachen, daß sie gemeinsam mit den Partnern in der EG die Rückkehr der Palästinenser in ihr Heimatland für legitim erklärt, während Bundeskanzler Schmidt die Rückkehr der Gebiete in deutsche Hand, in denen heute Deutsche nicht mehr siedeln, nach den in Berlin getroffenen Feststellungen als für ihn .nicht vorstellbar" bezeichnet, und, wenn ja, wie kann sie diesen Widerspruch auflösen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Antwort lautet nein. Die Bundesregierung sieht darin keinen Widerspruch.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, angesichts der Situation, daß der Außenminister der Bundesregierung das Recht auf Heimat für die Palästinenser fordert, während der Herr Bundeskanzler zur gleichen Zeit erklärt, ihm sei die Rückgabe von Gebieten unvorstellbar, in denen einmal Deutsche wohnten, möchte ich Sie fragen, ob wir uns nicht auf der Ebene doppelter Moral oder zweifacher Gesetzlichkeit bewegen, wenn die Bundesregierung das legitime Recht auf die legitime Heimat zwar einem anderen Volk zubilligt, aber nicht einem beachtlichen Teil des deutschen Volkes.
Herr Kollege, ich glaube, daß ein großer Teil der Beantwortung Ihrer Frage bereits in meinen Zusatzantworten auf die vorangegangenen Fragen gegeben wurde. Selbstverständlich besteht ein solcher Widerspruch nicht. Herr Kollege, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ich bin ganz sicher, daß Sie selbst wissen, daß ein solcher Widerspruch nicht besteht, weil die Ausgangslage sehr unterschiedlich ist.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Becher.
Wenn ich da für mich das Recht in Anspruch nehmen kann; Ihnen zu sagen, daß ich von dem, was ich sage, fest überzeugt bin, - 13952 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Herr Abgeordneter, ich bitte, keine Feststellungen zu treffen, sondern eine Frage zu stellen.
({0})
Ist dem Herrn Bundeskanzler und der Bundesregierung nur das vorstellbar, was der Opportunität aktueller Machtgegebenheiten entspricht, oder vermögen Sie sich vorzustellen, daß das Aufrechterhalten prinzipieller, also allgemein gültiger Rechtspositionen am Ende die eigene Sache auch dann stärkt, wenn diese Rechtspositionen weder heute noch morgen verwirklicht werden können, daß also die Treue zum Recht auf die Dauer gesehen auch politisch richtig ist?
Herr Kollege, die Bundesregierung und .der Bundeskanzler halten sich ganz gewiß an Rechtspositionen. Die Aussage des Bundeskanzlers bezog sich auf eine faktische, tatsächliche Perspektive. Ich wiederhole es noch einmal: Ich bin sicher, daß das ganze Haus die Unterscheidung versteht, die ich zu machen versucht habe.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, hat der Bundesaußenminister in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nicht das Menschenrecht, in Freiheit in seiner Heimat zu bleiben und sich dort frei zu entfalten, für jeden Menschen und jede Volksgruppe festgestellt?
Das ist richtig, Herr Kollege Czaja.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, wie will die Bundesregierung eigentlich dem Eindruck in der Weltöffentlichkeit und in der Öffentlichkeit des deutschen Volkes entgehen, es werde hier politisch nach verschiedenen Maßstäben gehandelt, da die Forderung nach Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser häufig und mit großem Nachdruck erhoben wird, während die Forderung nach Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes nicht nur sehr zurückhaltend, sondern gelegentlich in der Form behandelt wird, wie sie in der Frage des Kollegen Becher dargestellt ist?
Herr Kollege, ich glaube wirklich, daß Sie jetzt eine andere Frage stellen als die, die der Kollege Becher gestellt hat. Die Bundesregierung wird niemals das Recht des ganzen deutschen Volkes auf Selbstbestimmung bezweifeln und hat es auch nie bezweifelt.
Wir haben das wiederholt unterstrichen und es steht auch im Grundgesetz. Das ist eine ganz andere Frage als die, die der Abgeordnete Becher hier gestellt hat.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, nachdem Sie von der unterschiedlichen Ausgangslage gesprochen haben, meine Frage: Worin besteht die unterschiedliche Ausgangslage für das Selbstbestimmungsrecht des einen und des anderen Volkes?
In der Differenzierung, Herr Kollege Hupka, wie ich sie vorhin deutlich zu machen versucht habe. Es besteht heute eine Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung für Deutsche, während sie für Palästinenser angesichts der heutigen Ausgangslage dort mangels eines Raumes, in dem die Identität des palästinensischen Volkes gefunden werden kann, nicht besteht.
Vielen Dank, Herr Staatsminister!
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf.
Zu den Fragen 73, 74 und 75 haben die Fragesteller jeweils um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde, meine Damen und Herren.
Ich rufe wieder den unterbrochenen Punkt 6 der Tagesordnung - Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - auf. Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Frau Bundesminister Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Krankheit ist seit je eines der großen Themen der Menschheit gewesen, und mit Nachdruck sind immer neue Mittel und Wege gesucht worden - auch irrationale -, um Leid, Ängste, Existenzbedrohungen abzuwenden oder doch zu mildern. Wissenschaft und Praxis haben auch heute noch eine Fülle solcher Aufgaben zu erfüllen, wie uns Stichworte sagen wie z. B. Krebs, Herz-KreislaufErkrankungen, Zuckerkrankheit, Rheuma, um nur einige wenige zu nennen.
Forschungsergebnisse, neue erfolgreiche Untersuchungs- und Operationsmethoden, bessere Medikamente signalisieren aber auch Erfolge. Mehr Menschen als je zuvor können sich eine Heilungschance, Linderung ihrer Leiden erhoffen. Früher weit verbreitete Seuchen sind ausgestorben. Eine neue Entwicklung wird sicherstellen, daß neben der weit verbreiteten Technik nunmehr auch die notwendige Humanisierung bei der Behandlung nicht zu kurz kommt.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13953
Diese in langer Zeit entwickelte im großen und ganzen positive Bilanz gilt nicht für die psychischen Erkrankungen und für die Geisteskrankheiten. Die Geschichte der Psychiatrie ist von Unwissenheit, Angst, Vorurteilen und Hilflosigkeit bestimmt, von historischen Prozessen wie der Säkularisation, der Aufklärung geprägt, und - wie uns allen deutlich in Erinnerung - mit Exzessen wie in der jüngsten Vergangenheit beladen.
Der Ausgliederung der geistig Kranken, ihrer Isolierung in leerstehenden Seuchenhäusern nach dem Rückgang von Lepra und Pest im Mittelalter folgte im 17. Jahrhundert die gemeinsame Unterbringung mit Kriminellen, Bettlern, Landstreichern, Dirnen, aber auch mit politisch Unbequemen und Auffälligen, die man abschieben wollte. Diese Abstempelung als Randgruppe der Gesellschaft ist ebenso Teil dieser traurigen Geschichte wie die Gründung von Tollhäusern und Asylen, die man damals schon als Fortschritt betrachtete, weil man hier Geisteskranke von Strafgefangenen trennte. Die Anstaltsgründungen des 19. Jahrhunderts schlossen sich an, und sie haben sich bis in die Gegenwart erhalten, und das alles als Folge einer tragischen Verkennung von Krankheit und von den richtigen Ansätzen, sie zu behandeln und zu heilen.
Es war ein weiter Weg von der „Verwahrpsychiatrie" mit dem Einsperren der Irren über deren gezielte Isolierung bis hin zur modernen Behandlungspsychiatrie mit „offener Tür". Fortwirkende gesellschaftliche Vorteile, Mangel an geeigneten Einrichtungen und Fachkräften behinderten eine zeitgemäße Behandlung aber auch dann noch in unserem Lande, als unser Erkenntnisstand über die alten Methoden schon längst hinausgewachsen war.
So kam es, daß der Deutsche Bundestag im Sommer 1971 beschloß, eine Enquete über die Lage der Psychiatrie erstellen zu lassen. An ihr haben 140 Experten über vier Jahre lang mitgewirkt. Sie haben uns nicht nur die Situation beschrieben, sondern sie haben uns vor allem auch dargelegt, nach welchen Prinzipien und in welcher Weise eine moderne Versorgung aufgebaut werden sollte. Mit der Erarbeitung der Enquete kam zweifelsohne Bewegung in einen Gesundheitssektor, der über das tägliche Leben und über das Schicksal von 600 000 Menschen entscheidet.
In allen Ländern ist inzwischen mit der Modernisierung der Krankenhäuser begonnen worden, die starke Zimmerbelegung wurde abgebaut, neue Behandlungsformen wurden gesucht und praktiziert, und die durchschnittliche Verweildauer - das ist sicherlich eine interessante Zahl - ist in den letzten sieben Jahren, in den Jahren 1970 bis 1977 also, von 296 auf 190 Tage reduziert worden.
Wenn trotzdem eine große deutsche Wochenzeitung im vergangenen Jahr ihren Bericht über die Lage der Psychiatrie überschrieb „Die Gesellschaft der harten Herzen", so wird daraus zweierlei deutlich: einmal, daß wir hier trotz aller Bemühungen noch Nachholbedarf haben und eine humane, moderne Versorgung ihrer vollen Verwirklichung noch harrt, und zum anderen, daß das Schicksal
der kranken Menschen zweifelsohne nicht allein von den Einrichtungen abhängt, sondern auch von der Bereitwilligkeit der Mitmenschen, auch der Familien, Hilfestellung zu leisten und sich lösbaren Problemen nicht durch Abschieben zu entziehen.
({0})
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zur Psychiatrie-Enquete ausdrücklich betont, daß es ein wichtiges Ziel ihrer Politik ist, immer noch bestehende Diskriminierungen der psychisch Kranken und Behinderten gegenüber den körperlich Kranken zu beseitigen. Das heißt, daß es hier einer großen Überzeugungsarbeit bedarf, damit schließlich alle einsehen, daß auch die psychische Krankheit eine Krankheit ist, die jeden treffen kann, die behandelbar und heilbar ist und nicht den Anspruch eines Menschen aufhebt, auch als Patient wie ein Mensch behandelt zu werden und alle möglichen Hilfen und Chancen zu erhalten.
({1})
Wir haben heute mehr Grund denn je, uns um diese Gruppe kranker Mitmenschen zu kümmern. Es kann ja nicht ausgeschlossen werden und ist eher wahrscheinlich, daß wir selbst durch die Lebensbedingungen, die wir geschaffen haben, Ursachen verstärkt oder ausgelöst haben, auf denen die psychischen Krankheiten beruhen. Das bedeutet, daß wir bei der Suche nach den eigentlichen krankmachenden Faktoren tiefer schürfen müssen, als dies heute vielfach geschieht.
({2})
Solche Faktoren sind zum Beispiel bestimmte unmenschliche Wohnformen, die Entfremdung in einer hochtechnisierten Arbeitswelt, die Verstädterung, die Zerstörung der Umwelt und die Aufhebung wichtiger sozialer Gruppen wie Nachbarschaft oder Großfamilie. Zu diesen Ursachen gehören auch Umstände, die die lebendige Kommunikation im engeren, im engsten Lebensbereich, also in Familie und Nachbarschaft, stören oder zum Erliegen bringen. Hier entsteht Einsamkeit und Verlassenheit. Hier entstehen auch Altenprobleme in der Psychiatrie, um die man sich kümmern muß.
Aus amerikanischen Untersuchungen wissen wir auch, welche verheerenden Wirkungen zum Beispiel wahlloser und hemmungsloser Fernsehkonsum auf Kinder, aber auch auf die Familie als Ganzes hat. Herr Abgeordneter Reimers hat vorhin auch über ein deutsches Modellvorhaben gesprochen, nämlich den Großversuch in Essen, der die Kinder betrifft. Wir haben diese Ergebnisse sehr genau beobachtet und stimmen, was die Aussagen über die Familie betrifft, voll mit ihm überein.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellungnahme hinter das Konzept der Sachverständigen gestellt, die gemeindenahe, nicht diskriminierende, bedarfsgerechte, umfassende und gut koordinierte Versorgung empfohlen haben. Sie hat auf der Grundlage des Zwischenberichts der Sachverständigenkommission in zwölf Modellvorhaben in sieben Ländern wichtige Fragen der Versorgung, der Finanzierung, der Kooperation, der Organisation
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bis hin zur möglichen Selbsthilfe auf Umsetzungsmöglichkeiten für die Praxis abgeklopft.
Herr Picard, Sie haben gesagt, die Ergebnisse seien nicht alle gut gewesen. Die Ergebnisse sind unterschiedlich gewesen; dies geben wir durchaus zu. Aber was zeigt uns das? Es zeigt uns, wie groß dieses Neuland ist, das wir hier betreten, und wie wichtig es ist, daß wir solche Erfahrungen sammeln.
Unsere Modelle haben dazu beigetragen, daß wir nunmehr im Zusammenwirken mit den Ländern die Reform als Ganzes in Angriff nehmen können. Die Psychiatrie in unserem Lande - darüber sind wir uns wohl alle einig - muß humaner werden, und dies ist eine Forderung an uns alle,
({3})
nicht nur an die Ärzte, an die Psychotherapeuten, an Bauträger und Heimpersonal, sondern auch an uns. Die Bundesregierung sagt deutlich, daß sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu beitragen will.
Nun ist - auch hier heute morgen - die Stellungnahme der Bundesregierung zur Psychiatrie-Enquete kritisiert worden, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens, weil sie zu lange habe auf sich warten lassen, und zweitens, weil sie in bezug auf die Sache eher zurückhaltend und nicht engagiert genug gewesen sei. Meine Damen und Herren, die Vorlage konnte nicht früher erfolgen; denn der Auftrag des Deutschen Bundestages lautete, daß die Bundesregierung ihre Stellungnahme zusammen mit den Stellungnahmen der Länder und der Verbände abgeben sollte. Dieser Prozeß hat ohne unser Verschulden sehr lange gedauert. Die gemeinsamen Stellungnahmen waren aber sinnvoll und auch erforderlich, weil hier eine Enquete über ein Aufgabenfeld erstellt worden ist, das nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt. Unbeschadet der Tatsache, Herr Picard, daß auch die Bundesregierung an einer modernen und möglichst bundeseinheitlich gleich guten Versorgung interessiert ist, müssen wir doch auch - und das ist unsere Pflicht - darauf aufmerksam machen, daß sich die Forderungen der Enquete in erster Linie an die Länder richten, weil diese Aufgabe eben in ihren Verantwortungsbereich fällt. Die Verfassung gibt uns eine Einnahmen- und Aufgabenteilung vor, die auch bei erkanntermaßen notwendigen Reformen nicht dazu führen kann, daß alle Aufgaben in den Bereich des Bundes wachsen.
Die Bundesregierung hat deshalb zur Enquete nicht halbherzig Stellung genommen, sondern ehrlich. Ihre Stellungnahme - die ja nicht bloß als pauschale Anmerkung, sondern sorgfältig auf die Probleme eingehend konzipiert ist - mag dort ernüchternd erscheinen, wo vor dem Hintergrund vorhandener und selbst verbesserter personeller und finanzieller Ressourcen eine rasche Umsetzung der mehr als 150 Expertenempfehlungen, die teilweise von maximalen Versorgungsvorstellungen ausgehen, nicht realistisch erscheint. Nichtsdestoweniger steht die Bundesregierung nicht an, bei den Ländern auf zügige Beseitigung immer noch vorhandener schlechter bis schlimmer Zustände zu dringen. Wer daraus schließt, daß sich die Bundesregierung auf diese Weise selbst aus der Verantwortung stehlen will, übersieht, daß diese Regierung den Empfehlungen der Sachverständigen nicht nur in der großen Linie zustimmt, sondern in ihrer Stellungnahme ganz besondere Schwerpunkte hervorgehoben hat, indem sie - anders als die Länder, meine Damen und Herren - Vorschläge zur Prävention aufgenommen und hier auch konkrete Ansätze formuliert hat.
Hilfreicher als Diskussionsstrohfeuer sind Reformansätze, die den täglichen Bedürfnissen der Bürger entsprechen. Deshalb will die Bundesregierung außer den zwölf schon seit Jahren mit kommunalen, staatlichen, privaten und gemeinnützigen Trägern laufenden Modellvorhaben zu besonderen Einzelfragen jetzt zusammen mit den Ländern Modelle umfassender Vollversorgung in dafür geeigneten und entsprechend entwickelten Standardregionen durchführen.
Wenn Sie gesagt haben, die Ministerin sei kleinmütig in die Kabinettsitzung gegangen und habe sich nicht engagiert genug gezeigt, muß ich Ihnen sagen: Ich freue mich, daß wir die Mittel - jetzt 70 Millionen und vom nächsten Jahr ab jährlich 100 Millionen DM. - für diesen Zweck bekommen haben.
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Aber, Herr Picard, es handelt sich um genau die Mittel, die wir ein halbes Jahr vor der Kabinettsitzung verlangt und beantragt hatten. Es war lediglich so, daß der Finanzminister selbst den Ausschlag für die Bewilligung dieser Mittel gab, und er hatte sich mit der Materie erst in der Nacht vor der Kabinettsitzung beschäftigt. Für diesen Zeitablauf war ich nicht verantwortlich. Wie dem auch immer sei: Wir haben die Mittel bekommen, und wir sollten alle froh sein, daß der Bund hier einen guten Beitrag leisten kann.
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Nun sollen die neuen, umfassenderen Modelle auch - wie die Enquete verlangt - gemeindenah, vorrangig ambulant und teilstationär sein, und die Kranken sollen wieder mehr in die Nähe ihrer alten Umgebung kommen. Sie sollen ein möglichst normales Leben führen und dadurch günstigere Heilungsaussichten haben. Die Modelle werden zur Zeit von uns mit den Ländern erörtert. Sinn dieser Modelle ist es vor allem, den Anteil der stationär behandelten Patienten zu reduzieren. Meine Damen und Herren, es handelt sich hier um Bereiche, in denen bis jetzt keine oder ganz wenig Erfahrung vorliegt, besonders im komplementären rehabilitativen Bereich. Dies wird daher ein schwieriger Erfahrungsprozeß werden. Wir sind durchaus für konstruktive Kritik offen und dankbar.
Der Bund hat seine Mitwirkung aber nicht nur auf Modelle beschränkt. Seit es die Gemeinschaftsaufgabe „Krankenhausfinanzierung" gibt, sind nicht unerhebliche Bundesmittel in diesen Sektor geflossen, über deren Verwendung die Länder selbst bestimmen. Mit Sondermitteln in Höhe von 127 Millionen DM sind seit 1975 Anreize geschafDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13955
fen worden für beondere Verbesserungen in der Psychiatrie. Leistungsverbesserungen in der Sozialhilfe haben wir hier in diesem Hause auch beschlossen, die ebenfalls den psychisch Kranken und Behinderten zugute kommen.
Die richtige und humane Versorgung psychisch Kranker hängt aber auch von einer ausreichenden Zahl von Fachkräften und von deren Aus-, Weiter-und Fortbildung ab. Nur in eng begrenzten Aufgabenbereichen können Laienhelfer Betreuungsfunktionen übernehmen. Um durch Ausbau der ambulanten, komplementären und rehabilitativen Einrichtungen und Dienste psychisch Kranke und Behinderte bei adäquater Versorgung im Verband der Familie, also im Verband der Gesellschaft, zu haben und Schritt für Schritt die komplementäre Versorgung zu reduzieren und auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken, bedarf es nicht nur einer zusätzlichen Anzahl an Therapeuten, sondern darüber hinaus an Fachpersonal ganz unterschiedlicher Qualifikationsstufen. Hier weise ich auf den Entwurf eines Hebammen- und Krankenpflegergesetzes hin, der sich zur Zeit in der Parlamentsberatung befindet. In den neuen Ausbildungsvorschriften findet sich auch der Bereich der Psychiatrie. Es wird verlangt, daß sich die Krankenschwestern auch Kenntnisse im Bereich der Psychiatrie erwerben. Die Betreuung der psychisch Kranken soll in den theoretischen und praktischen Unterricht, in die Ausbildung aller dieser Pflegekräfte einbezogen werden.
Eine staatliche Regelung zur Weiterbildung für Krankenschwestern und Krankenpfleger und Fachkrankenschwestern und Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie gibt es derzeit in drei Ländern: Hamburg, Hessen und Niedersachsen. Wir streben an, daß diese Entwicklung bundesweit erfolgt, um die erforderliche personellen Kapazitäten für die Versorgung der psychisch Kranken und Behinderten zu bekommen; denn das Ganze ist ja nicht nur ein Problem der Gebäude oder des guten Willens, man muß auch die Fachkenntnisse haben.
Zur Sicherstellung der gemeindenahen Versorgung psychisch Kranker und Behinderter ist es nach allgemeiner Auffassung erforderlich, die Zahl der niedergelassenen Fachärzte zu vermehren und die an der Versorgung der psychisch Kranken beteiligten Allgemeinärzte mehr für die anstehenden Probleme zu interessieren und besser für die angesprochenen Bedürfnisse zu qualifizieren.
Darüber hinaus müssen wir aber auch - das betone ich - andere qualifizierte Therapeuten haben. So sagt es auch die Enquete. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, in diesem Felde tätig zu werden.
In der Praxis hat sich in den letzten Jahren ein neuer Berufsstand entwickelt, zu dem insbesondere Diplompsychologen mit einer Zusatzausbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie gehören. Um im . Bereich der Psychotherapie tätig sein zu können, bedarf es allerdings der Zulassung zur Ausübung der Heilkunde. Die Psychiatrie-Enquete hat darauf hingewiesen, daß ein nicht unbeträchtlicher Bedarf an Psychotherapeuten besteht. Daher muß eine gesetzliche Regelung gefunden werden, die die Grundlagen für eine angemessene Ausübung dieser Berufstätigkeit darstellt und ihre Einordnung in das Gefüge der Heilberufe ermöglicht.
Zur Vorbereitung eines solchen Gesetzes wurde ein Referentenentwurf seit Herbst 1978, also seit einem Jahr, mit den Ländern, den Verbänden und Fachgesellschaften eingehend erörtert. Dieser Referentenentwurf wird jetzt überarbeitet. Demnächst wird er den Beteiligten zugesandt und nochmals mit ihnen erörtert werden. Wenn das Gesetz auch wegen seiner Kompliziertheit in dieser Periode hier nicht mehr über die Runden gehen kann - das Parlament und der Fachausschuß haben im Moment ja auch sehr viel Arbeit -, so gehen die Arbeiten an der Materie doch zügig weiter. Wir sagen ausdrücklich: Wir sind daran sehr interessiert.
In dieser ganzen Diskussion, meine Damen und Herren, geht es jedoch nicht nur um Krankenhaus, ambulante Dienste, Ausbildung. Bei der Frage der Finanzierung dreht es sich nicht allein um das Wieviel, sondern auch um das Wie. Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren, daß der in der Nazizeit eingeführte Halbierungserlaß, von dem heute schon die Rede war, der die Kosten für die psychisch Kranken je zur Hälfte den Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern anlastet, in der Praxis überwiegend zwar schon durch andere Regelungen abgelöst ist, aber dennoch durch sein Fortbestehen eine Diskriminierung der psychisch Kranken darstellt. Die Bundesregierung hat deshalb in ihrer Stellungnahme zur Enquete zugesichert, daß der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode im Rahmen des Gesetzentwurfes die Abschaffung des Halbierungserlasses vorschlagen wird.
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Hierzu sind nun detaillierte Finanzierungsregelungen erforderlich, zu deren Erarbeitung der Bundesarbeitsminister mit den beteiligten Institutionen in Gespräche eingetreten ist. Aber der Halbierungserlaß muß und wird fallen.
Die Bundesregierung hat ebenfalls ihre Absicht bekundet, den § 13 des Bundeszentralregistergesetzes zu streichen und darauf zu achten, daß ähnliche diskriminierende Regelungen sich in Zukunft nicht mehr ausbilden. Auch die versteckten Diskriminierungen bedürfen weiterhin unserer besonderen Aufmerksamkeit. Nachdem die Arbeit an der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge nunmehr abgeschlossen ist, sind gesetzliche Schritte zur Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts eingeleitet worden. Die Materie ist sehr schwierig. Deshalb hat es sich als erforderlich erwiesen, sowohl ein rechtsvergleichendes als auch ein medizinisches Gutachten darüber einzuholen. Das Rechtsgutachten liegt bereits vor, das medizinische wird in absehbarer Zeit erwartet. Wir hoffen auf diese Weise das von uns angestrebte abgestufte System von Betreuungsmaßnahmen in Ergänzung oder an Stelle der bisherigen Vormundschaft oder Pflegschaft alsbald zu erreichen. Auch das ist ein wichtiger Schritt zur Befriedigung der speziellen Betreuungsbedürfnisse dieses Personenkreises.
13956 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Aus all diesen Bemühungen, meine Damen und Herren, wird deutlich, daß die Bundesregierung in diesem reformbedürftigen Bereich alle Anstrengungen unternimmt und künftig unternehmen wird, den psychisch Kranken endlich so zu stellen wie andere Kranke auch, jede Diskriminierung zu beseitigen und ihm die Behandlungsmöglichkeiten und Chancen zu geben, die bei der Natur seines Leidens zweierlei versprechen: Mehr Humanität, aber auch mehr Erfolg.
Mit den aufgezeigten neuen Wegen - ich betone: neuen Wegen -, die die Bundesregierung für das Kernstück der Reform hält, sollen auch Möglichkeiten eröffnet werden für jene Familien, die dadurch, daß sie ihre Angehörigen bei sich zu Hause pflegen, oft schwere Last tragen und durchaus der Hilfe solcher Einrichtungen bedürfen, die als Tages- oder Nachtkliniken oder als ambulante Dienste wohnungsnah in Anspruch genommen werden können. So stimmen wir, Herr Picard, Ihren beiden ersten Forderungen durchaus zu. Der dritten stimmen wir auch zu, aber auf die komme ich in einem anderen Zusammenhang.
Wenn das Ziel, die stationäre Behandlung zu reduzieren, erreicht wird, dann wird aber auch mehr Fürsorge und Humanität von Menschen verlangt werden müssen, deren Angehörige bislang, weil so entfernt von ihrem alten Lebenskreis, wichtiger Heilungschancen beraubt waren, denen sie nun wieder näherkommen sollen. .
Bei all dem können wir nicht davon ausgehen, daß Krankenhäuser, bei denen wir uns kleinere Einheiten wünschen, künftig ganz entbehrlich sind. Indem wir aber Konzepte mit mehr ambulanten Einrichtungen erarbeiten und modellhaft erproben wollen, erhoffen wir uns auch Erleichterungen für die Krankenhäuser mit Blick auf ihre Möglichkeiten, die Patienten besser unterzubringen und individueller zu betreuen.
Hier liegt eine große Aufgabe der Gesellschaft, die sich daran messen lassen muß, daß alle staatlichen Ebenen das Ihre und mehr tun als in der Vergangenheit; denn die Gemeinden sind auch gefordert, z. B. bei der Schaffung von Begegnungszentren.
Die staatlichen Ebenen allein, meine Damen und Herren, werden aber nicht genug bewirken, wenn es nicht Menschen gibt, die in den Einrichtungen, in Familien und Verbänden sich in ehrenamtlicher Arbeit um ihre kranken Mitmenschen kümmern, deren Schicksal früher grauenvoll war und auch heute noch nicht sehr chancenreich ist.
Die Bundesregierung hätte nichts gegen eine Bund-Länder-Institution, Herr Picard, das war ja Ihre dritte Forderung, zur besseren Information aller, wie Sie sagten. Leider ist diese Einrichtung von den Ländern als nicht notwendig abgelehnt worden, nicht von der Bunderegierung.
Den Erstellern der Enquete möchte ich heute ausdrücklich danken für den Beitrag, den sie in zweierlei Weise geleistet haben: erstens durch die Schaffung von mehr Problembewußtsein, das auch in den Medien einen kräftigen Niederschlag gefunden hat, zweitens und am meisten durch die Erarbeitung konzeptioneller Vorstellungen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.
John F. Kennedy hat 1963 in einer Sonderbotschaft an den Kongreß der Vereinigten Staaten festgestellt:
Die Zeit ist jetzt für ein neues und mutiges Vorgehen gekommen. Neue medizinische, wissenschaftliche und soziale Mittel und Erkenntnisse sind nunmehr vorhanden. Die Regierung dieses Landes und die einzelnen Staatsbürger müssen sich ihrer Verpflichtung auf diesem Gebiet bewußt sein.
Auch die Bundesregierung hält die Zeit für ein neues mutiges Vorgehen für gekommen und bietet dazu im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Hilfen an. Eine freiheitliche demokratische Gesellschaft in einem sozialen Rechtsstaat muß sich daran messen lassen, wie bereit sie ist, sich um die Schwachen solidarisch zu kümmern. Und zu diesen gehören auch und ganz besonders die psychisch Kranken.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fiebig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß ich einen Gedanken der Frau Minister aufnehme. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, daß ich an den Anfang meiner Ausführungen ein ausführliches Zitat stelle:
Der Begriff der Hilfsbedürftigkeit im Sinn des § 1531 Reichsversicherungsordnung wird dagegen von dem Reichsversicherungsamt verneint, wenn sich die Unterbringung des Geisteskranken überwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als notwendig erwies. In der Praxis muß aufgrund dieser Rechtsprechung in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob die Unterbringung eines Geisteskranken in ,seinem eigenen Interesse erfolgte oder vorwiegend aus sicherheitspolizeilichen Gründen veranlaßt worden ist. Um die mit dieser Prüfung verbundenen Schwierigkeiten zu vermeiden und die Verwaltungsarbeit der beteiligten Stellen zu vereinfachen, ordnen wir auf Grund des Erlasses des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung vom 28. August 1939 bis auf weiteres folgendes an: Werden gegen Krankheit versicherte Geisteskranke von anderen Stellen als den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen und treten die Fürsorgeverbände als Kostenträger auf, so sind die den Fürsorgeverbänden durch die Unterbringung entstandenen Kosten ungeachtet der Gründe, auf denen die Unterbringung beruht, je zur Hälfte von dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Fürsorgeverband zu tragen.
Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion danke ich Ihnen, Frau Minister, herzlich für
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13957
die Ankündigung, daß die Bundesregierung nun endlich diesen Halbierungserlaß aufheben wird.
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Eine lange, unheilvolle Geschichte hat damit endlich ihr Ende gefunden. Ich füge an: Sicher hätten wir uns dies alles schon ein klein wenig früher gewünscht.
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Immer noch leidet die Psychiatrie im wahrsten Sinn des Wortes an den Folgen des Dritten Reiches. Nicht nur wurde in den Jahren 1933 bis 1945 die psychiatrische Forschung in Deutschland abrupt unterbrochen. Viel gravierender ist, daß in unserer Gesellschaft immer noch das sogenannte Dritte Reich nachwirkt. Psychisch Kranke werden als nicht leistungsfähig, ja sogar als Schmarotzer der Gesellschaft diffamiert. Oft finden sie nicht einmal das geringste menschliche Verständnis, geschweige denn Solidarität und aktive menschliche Anteilnahme. Hadamar und Euthanasie werfen noch immer ihre furchtbaren Schatten.
Einbezogen in diese angesprochene gesellschaftliche Ächtung und die dadurch gegebene Außenseiterstellung sind die Angehörigen von psychisch Kranken. Auch an sie müssen wir denken. Im östlichen Ruhrgebiet ist dies immer noch eine Beleidigung: „Du gehörst nach Aplerbeck!" Man kann auch bei spielenden Kindern oft die Beleidigung hören: „Du bist ein Spasti!" Folglich begegnen auch die Mitarbeiter in der Psychiatrie immer noch diesen alten historischen Vorurteilen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den unbegrenzten Respekt zum Ausdruck bringen, den wir Sozialdemokraten vor dem mühsamen und mit ungeheuren Lasten beschwerten Dienst in der Psychiatrie haben.
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Und wenn das überhaupt unsere Sache sein kann und sein soll, müssen wir Sozialdemokraten all denen, die diesen schweren Dienst tun, unseren Dank sagen.
Wenn diese Debatte zusätzlich einen Sinn haben könnte, dann diesen: daß wir - über die Parteigrenzen hinweg - alle miteinander noch mehr Verständnis für unsere psychisch kranken Mitbürger und den Dienst der Psychiatrie in all ihren Formen wecken. Dabei sind wir auf die Mitarbeit von Presse, Funk und Fernsehen angewiesen. Wie klein die Lobby der psychisch Kranken hier im Parlament ist, sehen wir auch heute wieder an der Präsenz im Plenum des Bundestages.
In die Konfession der Schuld, all der Versäumnisse müssen wir Parlamentarier uns selber mit einbeziehen. Wir können nicht nur immer auf andere hinweisen, die etwas versäumt haben könnten. Wenn es um die Konfession der Schuld geht, dann möchte ich daran erinnern, daß Friedrich von Bodelschwingh, der Vater von Bethel, dem sogenannten Führer Adolf Hitler 1940 entschlossenen Widerstand entgegensetzte, als die Kranken von Bethel in die Vernichtungslager abtransportiert werden sollten. Ebenso muß an die mutigen Predigten des Bischofs von Münster, des Grafen von Galen, erinnert werden, der den ungeheuren Mut aufbrachte, die Euthanasie öffentlich zu brandmarken.
Diese Tradition sollte nicht nur in den Kirchen lebendig bleiben. Vielmehr muß unsere Gesellschaft an diese unheilvolle Historie erinnert werden, damit die Erfahrungen, die die Kirchen gemacht haben, in die Weiterentwicklung der Psychiatrie umgesetzt werden. Dazu gehört sicherlich auch die praktische Erfahrung, die in Bethel in mehr als 100 Jahren im Umgang mit psychisch Kranken gemacht worden ist, sowie die Fortschrittlichkeit von Vater Bodelschwingh, der erkannte, wie wichtig Arbeit und Beschäftigung für alle psychisch Kranken sind.
Wer erfährt als erster, wenn ein Mitbürger ganz konkret psychisch krank wird? Wer wird als erster mit einer ausweglos erscheinenden Situation konfrontiert? Es sind doch die Familienangehörigen, die sich an den Hausarzt wenden, und vielleicht - so hoffe ich, wenn ich pro domo sprechen darf - finden sie auch einen Pfarrer, der ihnen als Seelsorger hilft. Vor welche Probleme wird eine Familie gestellt, wenn ein Mitglied der Familie psychisch krank wird? Wo kann sie konkrete Hilfe und Beratung erfahren? Wie wird sie mit der neuen Situation fertig? Wie furchtbar für den psychisch Kranken, wenn der Ehepartner nichts Eiligeres zu tun hat, als einen Antrag auf Scheidung oder sogar einen Entmündigungsantrag zu stellen oder den psychisch Kranken möglichst schnell in stationäre Behandlung abzuschieben! Oft aber - das müssen wir auch sehen - bleibt nichts anderes als stationäre Behandlung übrig, weil eine Familie allein mit den Problemen nicht fertig wird.
Gegenüber 1969/70 haben sich die Verhältnisse teilweise verändert; sie müssen fortgeschrieben werden. Die Bundesregierung steht jetzt vor Grenzen, die offen ausgesprochen werden müssen. Zuerst muß mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die allseits berufene gemeindenahe Versorgung der psychisch Kranken noch nicht überall erreicht ist, ja daß sogar Modelleinrichtungen, die gebildet worden sind, Probleme offengelegt haben, die nur durch neue Konzeptionen sowohl wirtschaftlicher als auch struktureller Art gelöst werden können. So entnehme ich dem Tätigkeitsbericht 1978 des Sozialpsychiatrischen Dienstes Uelzen:
Aufgaben eines Sozialpsychiatrischen Dienstes wurden für das Land Niedersachsen erstmals gesetzlich definiert. In Erwartung der gesetzlichen Regelung hatte der Sozialpsychiatrische Dienst Uelzen bereits bei seiner Einrichtung die später im Gesetz enthaltenen Aufgaben mit eingeplant und ist darauf vorbereitet, diese Aufgaben auch offiziell zu übernehmen. Das Gesundheitsamt und die Verwaltung des Landkreises Uelzen gehen jedoch davon aus, daß die Aufgaben des Sozialpsychiatrischen Dienstes, wie sie im niedersächsischen Psychiatrie13958 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Krankenhausgesetz vorgesehen sind, vom Gesundheitsamt übernommen werden.
Durch diese Auffassungsunterschiede ist es zu Problemen in der Kooperation gekommen, auf die dieser Tätigkeitsbericht eingeht. Außerdem wird in diesem Bericht kritisch angemerkt:
Wir haben den Eindruck, daß die aufgetretenen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Landkreis Uelzen konzept- und strukturbedingt sind. Es hat einen solchen Dienst bisher nicht gegeben. Er arbeitet mit einer bisher ungewohnten Konzeption. Er ist als multiprofessionelles Team tätig und personell den Erfordernissen entsprechend ausgestattet. Er paßt nicht in das derzeit bestehende System psychosozialer Dienste und läßt sich - dies zeigen auch die Beispiele aus Hannover und Berlin - kaum im Rahmen der Vorstellung des. niedersächsischen Psychiatrie-Krankenhausgesetzes von den Landkreisen finanzieren.
Hier wird also deutlich, wie vor Ort die Schwierigkeiten gesehen werden. Es zeigt sich aber auch, daß diese in Uelzen aufgetretenen Ereignisse typisch sind und daß bei allen vergleichbaren Reformvorhaben ähnliche Schwierigkeiten auftreten.
Modellversuche der ambulanten gemeindenahen Versorgung in der Nachbarschaft meines Wahlkreises, nämlich in Dortmund-Aplerbeck, Paderborn, Lengerich und Gütersloh, haben ein überraschendes Resultat gezeigt. Es war durch die vertragliche Vereinbarung mit der Kassenärztlichen Vereinigung nur eine 20 %ige Kostendeckung zu erreichen, so daß 80 % der benötigten Kosten wiederum auf die Krankenhäuser zurückfallen, die die Träger dieser Modelleinrichtungen sind, und die Krankenhäuser können diese Kosten nicht weitergeben. Die ambulante Betreuung konnte sich hier nicht auf das Rezeptieren von Psychopharmaka beschränken. Es wurden sinngemäß die sozialtherapeutischen Dienste eingesetzt, von der Krankenversicherung jedoch nur die ärztlichen Leistungen nach der Gebührenordnung vergütet. Hier müssen wir die Bundesregierung darauf aufmerksam machen, daß auch hier die Gebührenordnung der Ärzte geändert werden muß. Während z. B. ein niedergelassener Nervenarzt aus dem betroffenen Einzugsbeispiel 2 200 Patienten abrechnete, konnten die ambulanten Dienste im Quartal nur 150 bis 200 Patienten betreuen und nur eben zu 20 % abrechnen. Es ist natürlich zu fragen, ob unter diesen Umständen die Modelleinrichtungen wirklich effektiv arbeiten, ob sich realistische Rezepte dort entwickeln und übertragen lassen. Kosten- und Stellenpläne sind hier zu untersuchen, die Kostenarten sind zu analysieren. Insbesondere ist zu prüfen, wie solchen Modelleinrichtungen langfristig eine Arbeitsmöglichkeit gegeben wird und welchen Nutzen, wiederum gemeindenah betrachtet, diese Modelleinrichtungen bringen. Auch die Bundesregierung führt in ihrer Stellungnahme aus - Zitat -, „daß bei der angespannten Finanzlage der Haushalte von Ländern und Gemeinden wie auch bei den
Kostenträgern im Gesundheitswesen derzeit noch Regelungen weiterbestehen, die psychisch Kranke und Behinderte in gewissem Umfange benachteiligen".
Lassen Sie mich noch einen Vergleich im Hinblick auf die Finanzen bei ambulanter und stationärer Versorgung anstellen. Wenn psychisch Kranke gemeindenah ambulant versorgt werden können und die stationäre Unterbringung mit wenigstens einem durchschnittlichen Pflegesatz, niedrig gegriffen, von 100 DM pro Tag, d. h. bei 150 bis 200 Kranken um eine halbe Million im Quartal, ein Vielfaches teurer sein muß als die ambulante Betreuung, dann ist die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Kranken im Sinne der Reichsversicherungsordnung für die ambulante Versorgung nicht gewährleistet. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß die Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag nicht erfüllt haben. Mit der gegenwärtigen Vergütung der ambulanten ärztlichen Tätigkeit nach Höhe und Inhalt ist offensichtlich die ausreichende ambulante Versorgung nicht durchzuführen, ohne daß irgend jemand sich bemüßigt gefühlt hätte, etwas zu ändern oder auch nur Alarm zu schlagen. Die gemeindenahe Versorgung benötigt meines Erachtens nicht nur mehr Mittel, sondern zusätzlich auch eine Umschichtung der Mittel bei sehr wahrscheinlicher Kostenersparnis.
Ein großes Problem ist die stationäre Versorgung. Die Verkleinerung der psychiatrischen Krankenhäuser mit Ausgliederung der Pflegeheime hat häufig wegen Mangels an qualifiziertem ärztlichem und pflegerischem Personal zu. einer Verschlechterung der Lage psychisch Kranker geführt. Die Einrichtung psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern stößt auf große Schwierigkeiten. Hier sind beschäftigungs-, arbeits- und sozialtherapeutische Kräfte einzubeziehen und Lentsprechende räumliche Bedingungen zu schaffen. Die Handhabung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes durch die Krankenkassen hat dazu geführt, daß sich die Krankenhausträger bei der Verwirklichung der Forderung der Psychiatrie-Enquete oft einem untragbaren wirtschaftlichen Risiko bei einer bedarfsgerechten personellen Ausstattung der psychiatrischen Abteilungen ausgesetzt sehen.
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Die Krankenkassen, die zumeist unter Hinweis auf die Kosten im Vergleich mit anderen Einrichtungen die Humanität durch kostengünstige chemische Zwangsjacken ersetzen, sind nicht bereit, die notwendigen Pflegesätze zu zahlen. Eine kostengünstige stationäre Behandlung mit notwendigerweise hohem Pflegesatz setzt eine kostendeckende ambulante oder teilstationäre Behandlung voraus. Dies ist nicht eine Frage der Finanzkraft der Krankenkassen, denn hier geht es um ein grundsätzliches Problem. Sowohl das Krankenhausfinanzierungsgesetz wie auch das Kostendämpfungsgesetz werden von den Krankenkassen nicht so angewendet, wie wir das erwarten müßten.
Ich darf einmal einen etwas unscharfen Vergleich im Hinblick auf die Kosten, die bei ChirurDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13959
gie und Psychiatrie entstehen, anstellen. Ich weiß, daß man das eigentlich nicht miteinander vergleichen kann, aber ich will es dennoch einmal tun. In einem mittleren Krankenhaus hat ein Chirurg nicht mehr alle angemeldeten Patienten aufgenommen, sondern einen erheblichen Teil ambulant versorgt. So wurde die Belegung auf 70 % reduziert; die Kasse sparte dadurch 2,5 Millionen DM an Kosten. Da die fixen Kasten jedoch die gleichen bleiben, auch bei einer geringeren Belegung ,des Krankenhauses, verteilen sich die Basiskosten dann eben auf weniger Pflegetage. Die Kassen waren in diesem Fall nicht bereit,. den Pflegesatz trotz verringerter Gesamtkosten, nämlich um 2,5 Millionen DM, zu erhöhen.
Die im Kostendämpfungsgesetz vorgesehene vor-und nachstationäre Behandlung und Diagnostik sind nicht durchgeführt worden. Sie können aber nur zum Zuge kommen, wenn Kranke durch die vorhandenen Krankenhausbetten nach dem Vollbelegungsprinzip nicht mehr durchgeschleust werden, sondern wenn für dieselben Kranken weniger Betten benötigt werden. Das hat zur Folge, daß die Belegung der Krankenhäuser sinken muß. Mit niedrigerer Belegung und Verkürzung der Verweildauer kommen mehr Leistungen und Kosten auf den jeweiligen Pflegetag. Das heißt: Bei fallenden Gesamtkosten müssen - so paradox ,das klingt - die Pflegesätze steigen. Bei wirtschaftlicher Vernunft könnten dann aber im Endeffekt viele Kosten gespart werden.
Was geschieht aber jetzt? Die Kassen drücken nur auf die Pflegesätze und sind leider beim Aushandeln der Pflegesätze mit den Krankenhäusern nicht zu einer vernünftigen Kooperation bereit. Die Kassenärztlichen Vereinigungen versuchen, die Beteiligungen und Ermächtigungen der Krankenhausärzte abzubauen. Das ist ein obendrein unerwünschter Effekt. So werden also die Absichten des Kostendämpfungsgesetzes und der PsychiatrieEnquete blockiert. Wir müssen hier die Gretchenfrage stellen, ob Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen hierbei in der Lage sind, die Probleme zu erkennen oder aber ob es zu einer Umstrukturierung kommen muß, nämlich wenn es darum geht, die Kostenexplosion und das Problem der Humanität im Krankenhaus in den Griff zu bekommen.
Eine weitere Aufgabe ist der Ausbau einer qualifizierten Mitbestimmung der Versicherten in allen Gremien und bei allen Entscheidungen, die die Krankenkassen zu treffen haben. Solidarität - das Grundprinzip jeder Sozialversicherung, auch der Krankenkassen - muß' sich auch und vor allen anderen auf psychisch Kranke beziehen.
Ein weiteres Kapitel ist die Lage der psychiatrischen Krankenhäuser. Hier haben wir es mit verschiedenen Patientengruppen zu tun, vorwiegend mit jüngeren Patienten, die in ein oder zwei Episoden im Leben psychiatrisch erkranken, dann die chronischen Erkrankungen und zuletzt mit reinen Pflegefällen. Diese drei Gruppen benötigen verschiedene Behandlungssituationen und -einrichtungen.
Hier taucht das böse Wort von der Edelpsychiatrie auf. Die Einrichtungen mit chronisch Kranken möchten gern die Patienten mit akuten Episoden behandeln, obwohl sie für diese Gruppen nicht oder ungenügend eingerichtet sind. Wenn es Edelpsychiatrie ist, die Kranken zweckmäßig, gemeindenah stationär und ambulant zu versorgen, dann müssen wir eben diese betreiben. Wir müssen aber das eigentliche Problem der psychiatrischen Krankenhäuser sehen. Mit dem Aufbau sozialpsychiatrischer Dienste, die über die notwendigen Ressourcen für die Krisenintervention und die ambulante Behandlung verfügen, wird sich der prozentuale Anteil chronisch Kranker und der Pflegefälle I in den Krankenhäusern erhöhen.
Ich sehe, daß ich zum Schluß kommen muß. Ich versuche, noch einmal zusammenzufassen. Wir müssen berücksichtigen, daß auch die Personalisierung der Verantwortung im Krankenhaus weiter vorangetrieben werden muß. Ich denke an das Urteil eines Kölner Gerichts in einem Fall, als ein Assistenzarzt versagt hat und dieses Versagen dem leitenden Arzt angelastet worden ist. Das Urteil hat auch für den Bereich, den wir heute behandeln, weitreichende Konsequenzen. Denn wer trägt die Verantwortung, wenn z. B. ein Patient in einem psychiatrischen Krankenhaus Selbstmord begeht?
Die Ziele der Psychiatrie-Enquete können nur erreicht werden, wenn es gelingt, die gemeindenahe ambulante und stationäre Versorgung psychisch Kranker kostendeckend durchzusetzen und die Heilung und Behandlung der psychisch Kranken finanziell besser auszugestalten sowie die Psychiatrie durch Personalisierung der Verantwortung zu humanisieren. Dazu brauchen wir qualifizierte Mitbestimmung der Versicherten in allen Gremien, sozialmedizinische und volkswirtschaftiche Qualifikationsnachweise für die Krankenkassen, durchgreifende Krankenkassenaufsicht und eine Überprüfung der Erfüllung des Sicherstellungsauftrages der Kassenärztlichen Vereinigungen.
Für die SPD-Fraktion sage ich eine sorgfältige Behandlung der Stellungnahme der Bundesregierung zur Psychiatrie-Enquete zu. Wir werden uns in unserem Ausschuß überlegen müssen, wie wir dieses Thema weiter behandeln, wie wir es parlamentarisch weiter verfolgen. Eventuell müssen wir überlegen, ob wir nicht noch einmal die Fachleute der Psychiatrie-Enquete zu uns bitten, um zu sehen, wie sich die Dinge in der Zwischenzeit weiterentwickelt haben.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren. Herr Kollege Fiebig, Sie haben eben dramatisch die Geister der Vergangenheit beschworen. Ich glaube, Sie haben es zu Recht getan. Sie haben den Halbierungserlaß zitiert, der mit die Diskriminierung der psychisch Kranken gebracht hat. Ich frage mich mit Ihnen: Wie konnte es geschehen, daß er jetzt erst außer Kraft gesetzt wird?
13960 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Aber noch etwas hat sich vor 40 Jahren ereignet. Am 1. September 1939 hat Hitler den EuthanasieErlaß unterschrieben. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb in diesen Tagen: Unter dem Anschein der Barmherzigkeit schuf dieser Erlaß die Rechtsgrundlage für das Programm zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Mehr als 100 000 Menschen mußten sterben. Auch ich habe damals als 14jähriger diese Zeit in der Nähe des Landeskrankenhauses Emmendingen miterlebt. Ich habe von diesen Vorfällen in einer Predigt des Freiburger Erzbischofs Gröber gehört. Ich weiß, daß die Anstrengungen der Kirchen dazu geführt haben, daß im Jahre 1941 - etwa in dieser Zeit - der Erlaß zurückgenommen worden ist - allerdings nachdem schon weit über 100 000 Menschen, vielleicht sind es sogar 120 000 gewesen, gestorben sind. Warum sage ich das? Ich sage es deshalb, weil diese Zeit die deutsche Psychiatrie um Jahrzehnte zurückgeworfen hat und weil der psychisch Kranke durch diese Zeit - vielleicht noch im Unbewußten vorhanden - diskriminiert und sozusagen ins Abseits gestellt worden ist.
Wir haben dann die Initiative ergriffen, die in die Psychiatrie-Enquete mit ihren Feststellungen, mit ihren Diagnosen, mit ihren Vorschlägen eingemündet ist. Die Bundesregierung steht dahinter, wir stehen dahinter. Wir wollen versuchen, das Beste daraus zu machen, und zwar unverzüglich. Wir wollten damit auch sehr bewußt ein Stück Vergangenheit bewältigen. Wir sind bereit - unser Sinnen steht nicht nach Konfrontation -, auch in den nächsten Jahren in gemeinsamer Anstrengung das zu tun, was zu tun notwendig ist, wenn wir es mit den Menschenrechten in unserer Verfassung ernst meinen.
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Ich stimme Ihnen voll zu, Frau Minister Huber, wenn Sie als die Ziele der Psychiatriereform eine moderne Versorgung und die Gleichstellung der psychisch Kranken genannt haben. Wir dürfen uns allerdings von Anfangserfolgen im stationären Bereich nicht täuschen lassen. Wir sollten auch noch stärker den Ursachen der Zunahme der Zahl der psychisch Kranken nachgehen. Eine dieser Ursachen ist die zunehmende langfristige Arbeitslosigkeit. Wir müssen die Reform als Ganzes vorantreiben. Wir müssen die Mängel sehen und insbesondere darauf achten, daß die Mittel, die bereitgestellt worden sind - und wir begrüßen sehr, daß es diese Mittel gibt -, auch dort schwerpunktmäßig sinnvoll eingesetzt werden, wo zunächst noch die gröbsten Mängel bestehen.
Wir hätten - ich darf das wiederholen - in der jüngsten Vergangenheit von der Bundesregierung ein bißchen mehr Mut und Engagement erwartet. Zu stark hat sie manchmal ihre Nichtzuständigkeit betont. Aber last not least, meine Damen und Herren, darf ich noch einmal sagen: Wir wollen keine Konfrontation und keine Härte, wir wollen im Guten zusammenwirken und das Beste aus dieser Enquete machen.
Ich möchte mich noch kurz mit dem Problem der Rehabilitation der Behinderten auseinandersetzen.
Ich fürchte, die psychisch Kranken sind heute noch Stiefkinder der Rehabilitation.
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Für Körperbehinderte und geistig Behinderte ist in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten ein Rehabilitationssystem von hohem Niveau aufgebaut worden. Für diese Gruppen wurden Einrichtungen zur medizinischen, zur beruflichen und zur schulischen Rehabilitation bereitgestellt. Für die psychisch Kranken steht noch nichts Gleichwertiges bereit. Zwar kennt das Bundessozialhilfegesetz seit rund einem Jahrzehnt einen Rechtsanspruch für seelisch Behinderte, und seit Jahren be- steht auch das Gesetz zur Angleichung der Leistungen in der Rehabilitation. Auch das Schwerbehindertengesetz und das Arbeitsförderungsgesetz kennen keinen Unterschied zwischen körperlich und seelisch Behinderten. Trotzdem gehören die psychisch Kranken immer noch zu der am meisten benachteiligten Behindertengruppe.
Die Psychiatriereform hat vor allem die Situation in den Landeskrankenhäusern verbessert. Es wurden räumliche und hygienische Mißstände abgebaut, die Personalausstattung verbessert und auch der Langzeit- und der Pflegebereich reduziert. So hat zum Beispiel das Land Baden-Württemberg - ich kenne nur die Zahlen aus diesem Lande - in einem Aufbau- und Nachholprogramm für die psychiatrischen Großkrankenhäuser etwa 80 Prozent dieser Häuser saniert. Es wurden 650 Millionen DM bereitgestellt; dadurch konnten selbstverständlich die gröbsten Mängel beseitigt werden. Andere Länder haben ähnliche Anstrengungen unternommen.
Durch diese Verbesserungen und auch durch neue Möglichkeiten im medizinischen Bereich sind aber auch die Chancen für die Rehabilitation der seelisch Behinderten gewachsen. Für diese große und leider Gottes noch wachsende Gruppe der psychisch Behinderten fehlt jedoch noch weitgehend ein integriertes Rehabilitationssystem. Diese Lücke wirkt sich ungünstig aus, denn die schon erwähnte Modernisierung der Fachkrankenhäuser und die wirksameren Behandlungsmethoden führen mehr psychisch Kranke als früher an die Schwelle der beruflichen Rehabilitation heran.
Auch die Veränderung der Lebensbedingungen, vor allem die erhöhten Anforderungen im Arbeitsleben, hat gleichzeitig zu einer Verminderung der Chancen der psychisch Behinderten geführt, die sich ohne berufliche Maßnahmen nicht werden behaupten können. Vor allem die Zahl der jungen Behinderten, die den Einstieg ins Berufsleben nicht schaffen, ist stark angestiegen. So hat man festgestellt, daß in Übergangswohnheimen - das sind Heime, die Patienten nach der Akutbehandlung aufnehmen - von den 18- bis 25jährigen weniger als ein Viertel und von den 26- bis 40jährigen nur die Hälfte eine Berufsausbildung haben. Der enge Zusammenhang zwischen psychischer Behinderung und mangelnder beruflicher Verwirklichungsmöglichkeiten wird hier sehr deutlich sichtbar.
Die Angebote an Einrichtungen für die beruflichsoziale Rehabilitation psychisch Behinderter sind in
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13961
der Bundesrepublik außerordentlich knapp bemessen. Das in den letzten Jahren aufgebaute dichte Netz von Berufsbildungswerken für Jugendliche und von Berufsförderungswerken für Erwachsene ist den psychisch Behinderten weitgehend verschlossen. Die Werkstätten für Behinderte sind, von Ausnahmen abgesehen, vorrangig auf die Bedürfnisse der geistig Behinderten abgestimmt. Da wegen der besonderen Betroffenheit der seelisch Behinderten meist nur eine stufenweise Rehabilitation möglich ist, muß in der Zukunft vor allen Dingen ein Netz von komplementären Diensten geschaffen werden. Dazu gehören Übergangsheime, Wohnheime, beschützende Wohngruppen, Patientenklubs und Tagesstätten, daneben rehabilitative Dienste, beschützende Werkstätten und auch beschützende Arbeitsplätze. Der Ausbau dieses Übergangsbereiches ist von einer Gesamtvereinbarung der Kostenträger abhängig, um die notwendigen therapeutischen und berufsfördernden Leistungen auch zu finanzieren. Eine solche Regelung wird gegenwärtig von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation vorbereitet. Ich hoffe, sie wird bald verabschiedungsreif beraten sein.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung dem Aufbau der komplementären Dienste prinzipiell eine erhebliche Bedeutung beimißt. Da auf diesem Gebiet auch ein strukturelles Durcheinander herrscht, muß eine sinnvolle Abstimmung beim Ausbau dieser Hilfen erfolgen.
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Zusammenarbeiten müssen vor allem auch die Verwaltungen der Gesundheitsfürsorge, der Sozialhilfe, der Jugendhilfe und der Arbeitsämter. Die volle berufliche Eingliederung - das darf nicht verschwiegen werden - bedeutet indes für viele psychisch Behinderte eine Überforderung. Es müssen daher auch Beschäftigungsformen akzeptiert werden, die auch nur beschränkt Arbeitsfähigen eine Chance geben. Insbesondere sollten auch die Werkstätten für Behinderte stärker als bisher Angebote machen. Die Bundesregierung muß in der noch zu erlassenden Rechtsverordnung sicherstellen, daß neben den geistig Behinderten auch seelisch Behinderte dort einen Platz erhalten können. Wir sind in der jüngsten Vergangenheit nicht müßig geworden, immer wieder darauf hinzuweisen, daß in diesen Werkstätten für Behinderte alle Behinderten, die gemeinschaftsfähig sind, einen Platz finden müssen. Dies gilt neben den geistig Behinderten auch für die seelisch Behinderten. In der Zukunft dürfen nicht zwei Klassen von Werkstätten geschaffen werden.
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Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt. Der Kernpunkt der Rehabilitation psychisch Behinderter ist die Frage der Annahme durch die Gesellschaft, also durch die Mitmenschen, und zwar besonders am Arbeitsplatz. Die angestrebte Rehabilitation oder Integration ist noch keine Selbstverständlichkeit. Die psychisch Behinderten sind durchaus leistungsfähig, wenn der Arbeitsplatz auf ihre individuellen Möglichkeiten abgestimmt wird. Bei diesem Personenkreis ist aber begleitende Hilfe
besonders erforderlich. Hier treten bereits die ersten Schwierigkeiten für die Bereitschaft der Aufnahme psychisch Behinderter auf. Ihre Eingliederung erfordert eine besondere Rücksichtnahme. Erhält ein so Behinderter nicht die notwendige Hilfe oder erlebt er Mißerfolge, kann er zerbrechen. Um dies zu verhindern, muß die Umgebung im Tätigkeitsbereich in der rechten Weise eingestellt werden. Die Mitarbeiter müssen lernen, den Umgang mit seelisch Behinderten als allgemein-menschliches Problem zu erkennen. Bei vielen dieser Behinderten sind persönliche Hilfen am Arbeitsplatz erforderlich. Ihr Selbstvertrauen muß gestärkt, Leistungen müssen gerecht beurteilt und Fehler müssen sachlich korrigiert werden. Zu dieser Rehabilitation gehört auch das Instrument der Arbeitserprobung. Diese Möglichkeit sollte besonders in der Zukunft stärker in Anspruch genommen werden.
Im Vergleich zu Körperbehinderten erfordert der psychisch Behinderte weit mehr Einfühlungsvermögen und flankierende mitmenschliche Hilfe, um Kontaktstörungen und phasenhaft schwankende Leistungseinbußen zu überwinden. Eine befriedigende Beschäftigung ist eine wichtige Lebensbasis; dies gilt für Gesunde wie für Behinderte, aber ganz besonders für seelisch Kranke.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie hat auf einer Tagung in Heidelberg auf all diese ungelösten brennenden Fragen ebenfalls hingewiesen. Auf dem Kongreß wurde bekannt, daß im vergangenen Jahr 23 000 psychisch Behinderte zu Frühinvaliden wurden und daß im Jahre 1978 rund 14 000 Menschen aus diesem Personenkreis Selbstmord begingen.
Diese Zahlen müssen aufrütteln. Sie müssen uns zu größeren Anstrengungen anspornen. Die Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft statt der früheren Verwahrung in Heil- und Pflegeanstalten stellt diese Gesellschaft - das sind wir alle - vor ganz neue Aufgaben.
Viele Menschen haben dies auch begriffen; denn in Stadt und Land gibt es Initiativgruppen, die sich der Betroffenen annehmen. Wir müssen den seelisch behinderten Mitbürgern durch den energischen Ausbau von Rehabilitationsdiensten möglichst bald eine faire Chance zu einem neuen Start geben. Das angekündigte Internationale Jahr der Behinderten sollte für die Bundesregierung der Anstoß sein, das Aktionsprogramm für die Rehabilitation mit diesem Schwerpunkt fortzuschreiben. Ich meine - dies ist ein Wort des ehemaligen Arbeitsministers Grundmann -: Eine Gesellschaft ist nicht nur an ihrem Lebensstandard, sondern ebenso an ihrer Menschlichkeit zu messen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Sicherlich habe nicht nur ich, sondern es haben auch viele andere
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Abgeordnete aus diesem Plenum ihre Augen immer wieder zur Bundesratsbank schweifen lassen. Diese Bank manifestiert die institutionalisierte Möglichkeit der Länderkammer, in Gestalt von Länderministern oder deren Beauftragten an der Debatte des Deutschen Bundestages teilzunehmen. Doch diese Bank war von Anfang an leer und blieb auch leer. Ich frage mich: Warum sind eigentlich die für die Psychiatrie zuständigen Landesminister oder deren Beauftragte nicht erschienen, jene Vertreter der Bundesländer, die für die psychiatrische Versorgung in erster Linie zuständig sind und die von der Psychiatrie-Enquete in erster Linie angesprochen werden. Wollen Sie etwa durch ihr Fernbleiben schamhaft zum Ausdruck bringen, daß der in der Stellungnahme der Bundesregierung dokumentierte Rückstand der Länder auf diesem Gebiet wohl den Tatsachen entspricht und daß noch vieles fehlt, obwohl alle Länder in den letzten Jahren große Anstrengungen um Verbesserungen unternommen haben? Davon sprach auch der Kollege Burger. Der Nachholbedarf war eben riesig.
Aber, meine Damen und Herren, eine Reform der Psychiatrie kann - wenn sie richtig bewältigt werden soll - nur aus einer gemeinsamen Anstrengung der Länder und des Bundes hervorgehen. Sie darf nicht etwa zerfallen in eine Bundesreform, mit der sich der Bundestag heute zu beschäftigen hätte, und in eine Länderreform oder besser in Länderreförmchen, die jedes Land für sich betriebe.
Es wird entscheidend darauf ankommen, daß Bund und Länder geeignete Gremien finden, um die Zusammenarbeit künftig noch viel enger zu gestalten als bisher. Das gilt für die Regierungen ebenso wie für den parlamentarischen Bereich.
Kollege Picard hat ja heute morgen bereits eine Forderung aufgestellt. Frau Minister Huber hat erläutert, warum diese Forderung allein durch den Bund nicht zu erfüllen ist, und gesagt, daß hier alle Länderregierungen mitspielen müssen.
Wollen wir Parlamentarier die Initiative zur Psychiatrieform nicht an die Ministerien des Bundes und der Länder verlieren, so muß ab sofort auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Landtagen und dem Bundestag gerade auf diesem Gebiet stattfinden. Als FDP-Sprecher will ich gern hinzufügen, daß ich für (lie nächste Fraktionsvorsitzendenkonferenz unserer Partei die Psychiatriereform als Tagesordnungspunkt vorgeschlagen habe. Wir wollen auf diese Weise dazu beitragen, zwischen Bund und Ländern abgestimmte Initiativen gerade auch in den Landtagen zu erreichen.
Nun zur Sache selbst, meine Damen und Herren. Der für uns Liberale entscheidende Punkt der Psychiatriereform ist eine wesentlich verstärkte Wiedereingliederung seelisch und geistig Kranker und Behinderter in die Gesellschaft. Deshalb Abbau der isolierenden Großkrankenhäuser, deshalb Integration der Psychiatrie in die allgemeine Krankenversorgung, deshalb ortsnahe Dezentralisation der Hilfen, deshalb vor allem der Vorrang ambulanter Betreuung, deshalb schließlich auch möglichst weitgehende Eingliederung der psychisch Kranken in die allgemeine Lebens-, Wohn- und Arbeitsgesellschaft der Gesunden.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Soweit Landeskrankenhäuser für schwere Fälle weiter benötigt werden, ist deren Sanierung vordringlich. Wir haben auch nichts Grundsätzliches gegen einen weitverzweigten Ausbau psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkränkenhäusern; im Gegenteil, wir brauchen diese. Allerdings darf heimliches Motiv für einen solchen Ausbau nicht die Wiederanhebung der Belegungsquoten in weiten Bereichen der stationären Versorgung sein. Ich sehe hier nämlich mit etwas Sorge allzu naheliegende Sachzwänge.
Wesentlicher als all dies und unseres Erachtens vorrangig sind weitverzweigte Angebote psychotherapeutischer Versorgung durch niedergelassene Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und andere Berufsgruppen und durch Selbsthilfeorganisationen. Notwendig sind nicht zuletzt in verstärktem Umfang Angebot der beruflichen Rehabilitation für psychisch Kranke und Behinderte, beschützende Werkstätten, geeignete Arbeitsplätze in Betrieben, eine entsprechende Kapazität der Berufsförderungswerke. Nur durch eigenverantwortliche Wiederteilnahme am Arbeitsleben kann nämlich in vielen Fällen das Selbstvertrauen eines Partienten wiederhergestellt und seine Rückkehr auf Zeit oder auf Dauer zu einer normalen bürgerlichen Existenz gesichert werden.
Ein Letztes, meine Damen und Herren. Nicht nur der Zwischenbericht 1973, sondern auch der eigentliche Bericht 1975 hat in einem bedauerlichen Ausmaß noch inhumane Zustände in der psychiatrischen Versorgung festgestellt. Einige Kolleginnen und Kollegen sind darauf eingegangen. Auch heute ist die Lage leider noch so, daß uns - gewiß nicht zu Unrecht - ein offener Brief von Mitarbeitern eines Landeskrankenhauses erreichen kann, der für Patienten, Ärzte, Schwestern und Pfleger gleichermaßen unzumutbare Zustände beklagt. Nicht nur die räumliche Situation ist oft noch unerträglich; vor allem ist es die chronische personelle Unterbesetzung, die Ansätze zur notwendigen Betreuung, Behandlung und Förderung im Keime erstickt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ausdrücklichen Dank an all jene Mitarbeiter in der Psychiatrie aussprechen, die trotz aller Mängel, Versäumnisse und trotz aller Überlastung aufopfernd seit Jahren ihren harten sozialen Dienst am Kranken versehen. Unsere Aufgabe muß es sein, den Dienst an diesen Kranken attraktiver zu machen, damit die Fehlstellen endlich auch einmal besetzt werden; denn zur Humanität in der Psychiatrie gehört Humanität für die Patienten wie für diejenigen, die im Dienste der Patienten stehen. Auch das dürfen wir bei dieser Debatte nicht übersehen.
Die Konsequenz für uns Politiker kann nur sein: Hier in der Psychiatrie muß das meist vorherrschende Denken in Kategorien der Kostendämpfung und der Rationalisierung weitgehend vor der
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Tür bleiben. Wir müssen erkennen, was die Humanität gegenüber den Kranken und Helfern unabdingbar erfordert: die Auffüllung unbesetzter Stellen, die Herstellung eines für moderne Psychiatrie erforderlichen Stellenschlüssels, ausreichende AusWeiter- und Fortbildung der Mitarbeiter.
Doch nicht nur an den Staat und an die Krankenhausträger richtet sich mein Appell. Eine ausreichende ambulante Versorgung psychisch Kranker kann in großem Stil nur dann gesichert werden, wenn etwa auch die Kassenärztlichen Vereinigungen für eine genügende Zahl niedergelassener Fachärzte für den psychiatrischen Bereich sorgen und darüber hinaus dafür sorgen, daß viele niedergelassene Ärzte mehr von der Psychiatrie verstehen, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Daneben werden wir aber auch unbedingt klinische Psychologen brauchen, insbesondere als niedergelassene Therapeuten. Deshalb ist das Psychotherapeutengesetz, von dem Frau Minister Huber sprach, so notwendig. Schließlich müssen die Krankenkassen und die Beitragszahler, wie ich hinzufügen möchte, wissen, daß dies erhebliche Mehrkosten verursachen wird. Diese für unsere psychisch Kranken aufzubringen, sollte von uns allen als Konsequenz akzeptiert werden, so bitter diese Konsequenz ist. Humanität in diesem Bereich ist nicht umsonst zu haben. Mehr Humanität kann in diesem Bereich teilweise eben auch nur durch mehr und besser qualifiziertes Personal, durch mehr persönliche Dienstleistungen erreicht werden. Kosten für Dienstleistungen aber steigen überproportional. Damit wir uns am heutigen Tage nichts in die Tasche lügen, wollte ich diese Erkenntnis zum Schluß nicht verschweigen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Braun.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Als sich der Deutsche Bundestag am 26. April dieses Jahres auf Grund der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion mit der Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland befaßte, wurde deutlich, wie notwendig und wichtig es ist, daß wir uns endlich im Rahmen der Psychiatrie-Enquete mit der Versorgung psychisch kranker alter Menschen befassen.
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Dies ist auch deswegen notwendig, weil der Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung in den letzten Jahrzehnten nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in allen Industrieländern ständig und erheblich zugenommen hat. Wir sollten allerdings differenzieren und nicht so ohne weiteres alle über 65jährigen als eine einheitliche Gruppe mit gleichen Problemen ansehen.
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Immer mehr wird deutlich, daß wir heute innerhalb
der sogenannten älteren Generation praktisch zwei
Generationen haben: zum einen die Gruppe der
„jüngeren Älteren", die noch im aktiven Erwerbsleben stehen könnten und selbständig den dritten Lebensabschnitt meistern können, und zum anderen die im hohen Alter Stehenden, die vielfach einer Hilfe, Versorgung und auch Betreuung bedürfen. So wird auch in dem Bericht zur Lage der Psychiatrie darauf hingewiesen, daß der Anteil spezifischer psychischer Alterserkrankungen in den psychiatrischen Krankenhäusern der Bundesrepublik erheblich angestiegen ist. Diese starke Zunahme an alten Patienten wirft aber auch gleichzeitig die meines Erachtens entscheidende Frage auf, ob es wirklich notwendig ist, daß von den Patienten in stationären Einrichtungen zirka 20% älter als 65 Jahre sind. Hier möchte ich mir die Aussage des Berichts zur Lage der Psychiatrie zu eigen machen, die besagt - ich zitiere -:
Manche alten Menschen, die heute noch in einer psychiatrischen Anstalt leben, bedürfen sicher nicht unbedingt der Unterbringung in einem Fachkrankenhaus und wären ebensogut in einem gemeindenahen Pflege- oder Krankenheim bzw. in anderen Heimen zu betreuen, wenn diese über die notwendigen personellen, therapeutischen und rehabilitativen Voraussetzungen und über einen regelmäßigen psychiatrischen Konsiliardienst verfügen würden.
Deswegen kommt gerade bei psychisch kranken alten Menschen der ambulanten Versorgung hohe Bedeutung zu.
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Auch heute wird noch viel zu schnell in stationäre Einrichtungen eingewiesen, obwohl gerade eine solche Aufnahme in eine Institution mit erheblichen Belastungen körperlicher und auch seelischer Art verbunden ist, denen der ältere Mensch vielfach nicht gewachsen ist. Jeder längere Aufenthalt in einem Fachkrankenhaus birgt die Gefahr in sich, daß die Selbständigkeit verlorengeht und oft eine Rückkehr zu eigener Selbständigkeit unmöglich wird.
Weil für einen hohen Prozentsatz von psychisch kranken alten Menschen die ambulante Versorgung die optimale Behandlungsform darstellt, sollten wir gemeinsam - Bund, Länder, Gemeinden, Kirchen und auch Wohlfahrtsverbände - alle Anstrengungen unternehmen, um die ambulanten Angebote zu verbessern. Dazu ist meines Erachtens im einzelnen folgendes notwendig.
Erstens. Die bisherige Planung der Altenhilfe hat ein zu starkes Gewicht auf die Versorgung im Sinne der Pflege, Betreuung und Bewahrung gelegt.
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Der Ausbau der ambulanten Versorgung darf nicht vernachlässigt, sondern muß verstärkt werden.
Zweitens. Schaffung von gemeindenahen Diensten, die in der Lage sind, beratende therapeutische und präventive Funktionen zu übernehmen. In den letzten Jahren sind in Groß- und Mittelstädten solche Dienste geschaffen worden. Wir sollten daran denken, daß auch im ländlichen Raum und in klei13964 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
neben Städten solche Dienste in gleichem Maße notwendig sind.
Drittens. Es fehlt heute noch weitgehend die gegenseitige Durchlässigkeit von Institutionen und Einrichtungen, die sich mit der Versorgung von Alterskranken befassen, wie Altenwohnheim, Altenheim, Altenpflegeheim, Krankenhaus.
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Eine Umkehr aus einer solchen Einrichtung in eine andere ist so gut wie ausgeschlossen. Nicht zuletzt wegen der Verschiedenheit der Finanzierung bzw. Kostenübernahme der einzelnen Einrichtungen gerät hier der betroffene ältere Mensch in eine Sackgasse.
Viertens. Die Koordinierung und Zusammenarbeit der verschiedenen Träger von Einrichtungen muß verbessert werden.
Fünftens. Eine Verzahnung von psychiatrischer und allgemeinmedizinischer Versorgung ist für ältere Menschen besonders wichtig und daher zu verbessern.
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Eine Angliederung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäuser ist notwendig.
Sechstens. Zeitgemäße Versorgung psychisch kranker alter Menschen erfordert neben den bisherigen Einrichtungen stationärer und ambulanter Art neue und zusätzliche Übergangseinrichtungen und Dienste. Vor allen Dingen benötigen wir mehr Tageskliniken, die den Bedürfnissen der psychisch kranken alten Menschen gerecht werden.
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Ich möchte als beispielhaft die Tagesklinik innerhalb der Einrichtung der Stiftung „Tannenhof" in Remscheid im Bergischen Land herausstellen.
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Meine Damen und Herren, die Debatte zur Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland hat im April sicherlich manchen Anstoß zum Nachdenken und Handeln gegeben. Auch diese Debatte sollte uns nachdenklich machen, uns zum Handeln einfach zwingen. Wir tragen Verantwortung für die älteren Menschen, die durch Schicksalsschläge wie Verlust des Ehepartners, Krankheit, Umzug aus der gewohnten Umgebung oder Aufnahme in ein Altersheim psychisch besonders gefährdet sind.
Zum Schluß möchte ich allen denen, die, gleich in welcher Position und Funktion, in den stationären und ambulanten Einrichtungen für die psychisch kranken alten Menschen tätig sind und ihren schweren Dienst tun, ganz herzlich danken.
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Das Wort hat der Abgeordnete Weisskirchen.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich, obwohl ich erst seit drei Jahren Mitglied des Bundestages bin, zu Beginn selbstkritisch etwas über uns selbst sage.
Der Bericht zur Lage der Psychiatrie liegt seit 1975 vor. In seine 426 Seiten gepreßt ist all das Leid und die Angst von Zehntausenden von Menschen; Zeile um Zeile eine Klage über das Elend derer, die abgeschoben und ausgestoßen werden, mit dem Stempel „nicht normal" versehen.
Die Psychiatrie-Enquete konnte nur eine Erinnerung an das Schmerzliche sein, das wir doch allzuoft verdrängen, daß wir als Auftrag haben - auch als Politiker einen Auftrag haben -, mitzuhelfen, solche Lebensverhältnisse zu schaffen, daß Menschen ohne Beschädigungen leben können, und daß wir neben unserer Fähigkeit zu trauern - „Holocaust" ist angesprochen - auch die Fähigkeit mitzuleiden entwickeln müssen.
Die Psychiatrie-Enquete hätte darüber hinaus eine Mahnung und ein Stück Aufforderung zum gesellschaftlichen Handeln sein können.
Vier Jahre nach ihrem Erscheinen reden wir darüber zum erstenmal im Bundestag. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich frage: Müßten wir nicht eigentlich Scham darüber empfinden, daß wir erst jetzt die Zeit dazu finden, über dieses Problem miteinander zu reden? Ist es nicht beschämend für uns selbst, daß wir die nicht sehen wollten, die im Dunkeln sind, obwohl wir es wußten? Über vieles haben wir hier in diesem Hause laut und oft oder manchmal zu laut gesprochen. Manches haben wir dabei umgangen, z. B. auch dieses Problem, über das wir heute sprechen.
Damit mich niemand falsch versteht: Meine Kritik richtet sich nicht etwa an einen einzelnen. Ich habe gehört, daß alle Fachminister der Länder von Frau Minister Huber schriftlich zu dieser heutigen Sitzung eingeladen wurden. Ich finde, es gehört mit dazu, daß es denjenigen, die letztlich die Verantwortung mittragen, in deren Kompetenz es mit liegt, auch mitzuhelfen, gut angestanden hätte, wenn sie heute dabeigewesen wären und vielleicht auch in. der Debatte mitgeholfen hätten.
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Von pauschaler Schuldzuweisung - das möchte ich unterstreichen - halte ich allerdings überhaupt nichts. Das wäre auch nicht gerechtfertigt; denn in vielen Ländern unterschiedlicher Couleur gibt es wirklich gute Ansätze, die Psychiatriereform voranzutreiben. Der Bund und die Länder haben Modelle in Angriff genommen, die Zeichen der Hoffnung gesetzt haben.
Worauf ich allerdings hinweisen will, ist dies: Ich glaube, daß wir, d. h. das Parlament selbst, den Mut haben müssen, uns den Beladenen zuzuwenden, denen, die sonst wenig Lobby haben. Wegsehen, das ist bequem. Es ist noch nicht allzu lange her, daß die Internierung der „Irren" den Schein aufrechterhalten sollte, daß die Gesellschaft und der Wahnsinn voneinander getrennt seien. Je fester die Mauern der Psychiatrie gefügt waren, desto sicherer konnten sich alle wähnen: die da draußen, die sind normal, die Welt ist damit wieder in
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Weisskirchen ({1})
der alten Ordnung. Der geschlossene Turm für diejenigen, die in der Psychiatrie eingesperrt waren, der geschlossene Turm für die Störer bestätigte die Gesundheit für die anderen, die außerhalb der Mauern waren. Medizin und Justiz verknüpften Therapie und innere Kolonie zu einem Netz, das dem einzelnen, dem, der sich in diesem Netz manchmal verstrickte, wenig in seinen Problemen half.
Die Versuchsreihe des amerikanischen Psychologen David A. Rosenham ist Ihnen sicherlich bekannt. Er hatte 48 Pfleger, die nachweislich gesund waren, in psychiatrische Kliniken geschickt; keiner seiner Pseudopatienten wurde entdeckt. 18 allerdings von diesen, die er in Kliniken geschickt hatte, konnten sich nicht mehr ohne Hilfe von außen aus ihrer Lage befreien. Allein dieses eine Beispiel - es gibt deren mehrere - belegt: es ist tatsächlich an der Zeit, daß wir alle aus der PsychiatrieEnquete, diesem Dokument des Mangels, jene Vorschläge verwirklichen, die die über die Bundesrepublik Deutschland verstreuten Einzelverbesserungen, die es ja gibt, sowie die baulichen Sanierungen, die es auch gibt, zu einem neuen Konzept zusammenfassen.
Warum ist dieses neue Konzept notwendig? Die Glaubwürdigkeit der alten bewahrenden, der kustodialen Psychiatrie ist zutieft erschüttert. Das Kernstück der psychischen Krankheiten ist unerforscht. Über die Beschreibung von Verhaltensformen hinaus scheinen die Ursachen der Schizophrenie bisher jedenfalls ungeklärt zu sein. Dem steht die stürmische Entwicklung in der Pharmazie seit den 50er Jahren und die Erweiterung psychiatrischer Erklärungsmodelle gegenüber. Die Ausquartierung als unbewußter Versuch, die innere Entfremdung von Lebenssituationen in unserer Gesellschaft in ein bewachtes Ghetto abzudrängen, wird um so fragwürdiger, je mehr nach dem Sinn bedrückender gesellschaftlicher Entwicklungen gefragt wird. Die Antworten auf dieses Problem sind in den westeuropäischen Ländern mit Phasenverschiebungen ähnlich verlaufen, wenn sie auch in den Begründungen oftmals unterschiedlich ausgefallen sind.
Beispielsweise haben Ihre Parteifreunde mit unseren Parteifreunden in Italien im August 1978 das Gesetz 180 verabschiedet, das die bisherige geschlossene Psychiatrie völlig aufgehoben hat. Dort ist ein radikaler Schritt vollzogen worden. Anders als bei uns wird dort die totale Institution der Psychiatrie, die geschlossene Anstalt, als Ursache und als Produktionsstätte des Wahnsinns aufgefaßt. Vom Bruch mit dieser Institution erhofft man sich das Ende der psychischen Krankheit.
Ich glaube, es wäre heute zu früh, eine vollständige Erklärung und eine abschließende Beurteilung dieses italienischen Wegs abzugeben. Ob das, was dort geschieht, eine Illusion ist, wissen wir nicht genau. Werden damit die Probleme nicht vielleicht auf die Familie zurückgedrängt, wo die einzelnen herkommen, oder in eine neue gesellschaftliche Isolierung führen?
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- Oder wenn sie keine Familie mehr haben. Welche Auffangpositionen werden im gesellschaftlichen Feld bereitgestellt, damit eine Kette des Handelns gesellschaftlich verantwortet in Gang gesetzt werden kann, damit nicht jemand in dieses Loch verschwindet, das sich möglicherweise auftut? Sind die Erfahrungen in Italien vielleicht noch zu jung, um allgemeine Schlußfolgerungen für uns in Deutschland zu ziehen?
Ich finde, wir sollten das, was in Italien geschieht, sehr aufmerksam verfolgen. Ich jedenfalls möchte sagen: Was in Italien geschieht, findet meine Sympathie, auch wenn Probleme dabei selbstverständlich nach wie vor offenbleiben.
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- Herr Kollege Schäfer, genau dies ist das Problem. In Italien ist teilweise eine Familienstruktur, die von der in der Bundesrepublik Deutschland verschieden ist. Dort sind noch sehr viel größere Familien und ein größerer Familienverband vorhanden, während sich bei uns die Familie durch die industrielle Revolution sehr viel stärker zur Kleinfamilie verändert hat. Der Blick auf die internationale Entwicklung, übrigens auch in England oder Holland oder in den skandinavischen Ländern, mag uns allerdings helfen, unsere eigenen Probleme schärfer als bisher zu sehen.
Das sollte uns vielleicht ermutigen - viele haben heute von dem Mut gesprochen, den wir brauchen -, unser Handeln anzuspornen. Ich finde, es wäre besser, wir würden über dieses Problem nicht nur miteinander reden. Wir müßten vielmehr darangehen, neben dem, was die Bundesregierung zu Recht und, wie ich finde, hervorragend an diesem Modellprogramm vorantreiben will, dies in all den politischen Bereichen gemeinsam abzustützen, in denen wir Verantwortung gemeinsam tragen können.
Was können wir tun?
Erstens: Sinnvolle Änderung kann von radikalem Umdenken erwartet werden. Vieles davon ist heute schon von vielen gesagt worden. Lassen Sie mich einige Fragen an uns - nicht nur an uns als Politiker - und auch an die Gesellschaft stellen: Kann es nicht sein, daß die Vergötzung des Leistungsprinzips sensible Menschen krank machen kann, daß am schnellsten vorankommt, wer am brutalsten seine Ellbogen gebraucht? Kann es nicht sein, daß die Zerlegung von Produktionsvorgängen und ihre zunehmende Kompliziertheit zur Atomisierung der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen führen können, der immer mehr solchen Zwängen der Veränderung von Produktionsprozessen ausgeliefert ist? Oder: Welche Folgen hat es für eine Familie, wenn Kinder ihre Eltern fragen und die Eltern diese Fragen nur noch zum Teil beantworten können oder sie vielleicht gar abwehren, weil sie gleichzeitig fernsehen wollen? Oder: Was sagt der ältere Arbeitnehmer, der im Lauf seines Arbeitslebens krank geworden ist - „gesundheitlich eingeschränkt", wie man in der Sprache der Sozialpolitiker sagt -,
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wenn ihm durch die Kündigung eröffnet wird, daß er nicht mehr gebraucht wird, weil eine EDV-Anlage da ist, die ihn abschafft? Sind nicht solche Prozesse, die in der Gesellschaft ja zunehmen und nicht abnehmen, Auslöser, Ursache, Verstärkung von psychischen Krankheiten? Ist nicht vielleicht der psychisch Kranke stellvertretend für uns krank, weil er auf diese Probleme mit Krankheit, mit anderem Verhalten reagiert?
Das sind schmerzhafte Fragen- das gebe ich zu-, aber ich glaube, die Wirklichkeit dieser Menschen ist noch weitaus schmerzhafter als die Fragen, die man dazu stellen kann. Zu dieser Wirklichkeit gehören z. B. auch - der Herr Vorredner hat vorhin davon gesprochen - die Vergötzung ewiger Schönheit, die Vergötzung ewiger Jugend und - gleichzeitig als Antwort darauf, als die Kehrseite der Medaille - das Abschieben der Alten in Heime, in Fabriken. Da sind sie abgeschirmt. Wir bezahlen dafür, tun einiges und entlasten unser Gewissen damit. Das sind, glaube ich, alles Chimären einer Entwicklung unserer westlichen Zivilisation, vielleicht der Zivilisation überhaupt. Das sind Chimären der Hollywood-Plastikwelt, die unsere Fähigkeit zum Mitleiden zuschütten. Von dieser Gaukelei des falschen Scheins, finde ich, müssen wir uns lösen, damit wir so, nach diesem Sich-Lösen, für solidarisches Handeln für diese Menschen frei werden.
Zweitens. Psychiatrisches Elend, das oftmals in sozialen Verhältnissen gegründet ist, darf durch Institutionalisierung nicht länger unsichtbar gemacht werden. In den letzten Jahren haben viele Hunderte von Pflegern und Therapeuten, von Ärzten und Sozialarbeitern durch ihre Praxis beweisen können, daß auch bei uns Patienten - auch solchen, die man heute noch als chronisch Kranke bezeichnen würde - erfolgreich geholfen werden kann. Ich bin sehr dankbar für den Hinweis auf das Aktionsprogramm für die Behinderten. Ich finde auch, wir sollten uns - wenn ich das an dieser Stelle sagen darf - überlegen, ob wir dies bei der nächsten Fortschreibung nicht ausweiten und gemeinsam mit dem Arbeitsminister - das ist eine Bitte an ihn - ein solches Aktionsprogramm formulieren können.
Bund, Länder und Gemeinden haben mit dazu beigetragen, daß die psychisch Kranken außerhalb von Anstalten leben können, wenn es für sie ambulante Dienste, beschützte Wohngruppen und beschützte Arbeitsplätze gibt. Deshalb begrüße ich es ganz ausdrücklich, daß die Bundesregierung zusätzliche Finanzmittel für die neuen Modelle in der Psychiatrie bereitstellt. Damit ist ein neuer Anfang zur Verwirklichung der Enquete-Empfehlungen möglich. An diesen neuen Anfang knüpfe ich einige Hoffnungen, aber auch, wenn Sie gestatten, einige Forderungen. Nur komplementäre und ambulante Dienste sollten gefördert werden; großstationäre Einrichtungen haben wir mehr als genug. Gelder für den Bau von Kliniken sollten nicht ausgegeben werden. Durch psychosoziale Arbeitsgemeinschaften sollten alle in der Region Arbeitenden zusammengeführt werden, die - alle für sich selber - Teil der. sektorierten Versorgung sind.
Alle Projekte sollten durch die intensive Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter begleitet werden. Die Therapiekette muß Vor- und Nachsorge sowie - Sie haben es angesprochen - Rehabilitation neben ambulanter und stationärer Versorgung aufweisen, am besten gewährleistet durch begleitendes Personal.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Ich hoffe sehr, daß dieses neue Programm, das wir jetzt durch die Hilfe der Bundesregierung voranbringen können, für uns der Anlaß sein möge, die gesamte Psychiatrie-Debatte wieder neu zu beginnen, neu zu begründen und einen neuen Anfang zu setzen. Sprechen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber, wo diese Modellprojekte durchgeführt und wie sie gestaltet werden! Überlassen wir es bitte nicht nur den Ministerien, wie sie aussehen! Machen wir das zu unserer eigenen Sache! Was soll denn das Prinzip der Gemeindenähe - lassen Sie mich das hier beispielhaft sagen ({5})
- ich komme zum Schluß -, wenn die Gemeinden Modellprojekte einfach nur übergestülpt bekommen, wenn sie nicht selber die Chance haben, die Basisaktivitäten, die es gibt - Selbsthilfegruppen, sozialpsychiatrische Vereine und ähnliches -, in diese Modellprojekte von unten herauf mit einzubeziehen? All diese Aktivitäten müssen in diesen gesamten Reformprozeß mit einbezogen werden, in einen- Reformprozeß, den wir neu begründen müssen. Bisher war der psychisch Kranke das Symbol unserer Ängste. Dieser Kreislauf muß durchbrochen werden. Dieser Kreislauf kann durchbrochen werden. Wir brauchen nur etwas Mut dazu. Der Verlauf unserer Debatte berechtigt dazu.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hasinger.
Frau Präsidentin! Meine bamen und Herren! Die Psychiatrie-Enquete widmet verhältnismäßig breiten Raum dem Thema Psychotherapie und Psychosomatik. Die zentrale Aussage in diesem Zusammenhang lautet, daß gegenwärtig das psychotherapeutische Angebot bei weitem nicht ausreiche, entsprechende Erkrankungen zu behandeln. Nach den Feststellungen der Enquete gelangt - so wörtlich - „nur ein sehr beschränkter Teil der entsprechenden Kranken in eine fachgerechte Behandlung". Die Enquete nennt dafür drei Tatbestände, die ursächlich sind: Einmal das zu geringe Angebot an Psychotherapeuten, vor allem auch im ländlichen Raum. Dann traditionelle Vorurteile bei den Kranken selbst und einen oftmals mangelnden Informationsstand, der diese Behinderten davon abhält, fachliche Hilfe zu suchen. Besonders bedeutsam erscheint mir aber folgende Feststellung der Enquete: „Eine einseitige Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung und vor allem auch eine einseitige Schulung der Ärzte über einen langen Zeitraum haben bewirkt, daß unser Gesundheitssystem viele eigentlich seelisch Kranke in unDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13967
angemessener Weise auf die Angebote der Körpermedizin hin umdirigiert." So die Feststellung der Enquete.
Lassen Sie mich, bevor ich auf konkrete Maßnahmen zu sprechen komme, dazu noch einige allgemeine Bemerkungen machen. Wir können mit einem gewissen Stolz darauf zurückblicken, daß die Tiefenpsychologie und die Anfänge der Psychotherapie - ich meine etwa die Psychoanalyse und das wichtige autogene Training - im deutschen Sprachraum entwickelt worden sind. Es gehört auf der anderen Seite - darauf haben. verschiedene Redner heute schon hingewiesen - zu den dunklen Kapiteln unserer Geschichte, ,daß diese Entwicklung in den Jahren 1933 bis 1945 gehemmt und teilweise abgebrochen worden ist. Wo Rassenideologie und ein sogenanntes gesundes Volksempfinden am Werk waren, war natürlich für die Lehren der Psychoanalyse wenig Raum.
Erfreulicherweise sind diese Lücken nach 1945 verhältnismäßig rasch durch die Gründung von Instituten in freier Initiative gefüllt worden. Seitdem haben wir eine zusätzliche Entwicklung zu verzeichnen. Neuere Schulen, wie etwa die Verhaltenstherapie, die Gesprächstherapie, die Gestalt- und Familientherapie, haben sich vor allem in den Vereinigten Staaten herausgebildet und auch bei uns Eingang gefunden. Den Laien hat dabei oft der Streit der Schulen untereinander verwirrt. Wenn nicht alles täuscht - wir als CDU haben dazu ein intensives Sachverständigenhearing abgehalten -, gehen hier jedoch die Meinungen aufeinander zu, wenigstens insoweit, als man gegenseitig andere Methoden gelten läßt, wenn es auch nicht zu einer Synthese der verschiedenen Schulen kommt. Vieles wird heute im Bereich der Tiefenpsychologie und der Psychotherapie als gesichert gelten können, und wir werden auch gesundheitspolitisch von diesem Grundbestand gesicherter Erkenntnisse ausgehen können.
Ich halte es im übrigen für eine positive Erscheinung, daß wir der bloßen Betrachtungsweise des Menschen als eines physisch-rationalen Wesens die weitere Dimension Psyche hinzufügen. Ich habe auch gar keine Sorge, statt „Psyche" das alte und gute Wort „Seele" zu benutzen. Die seelisch-emotionale Seite des Menschen ist sicherlich seit der Aufklärung und dem Siegeszug der Naturwissenschaften zu kurz gekommen. Jede Neuanbahnung von Zugängen zu dieser Seite unseres Seins sollte uns willkommen sein.
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Wenn heute viele junge Menschen den Wunsch haben, Psychologie zu studieren, so liegt der Grund hierfür wohl darin, daß sie eine bloße naturwissenschaftlich-technische Beschreibung unseres Menschseins für unzureichend halten und eine umfassendere Antwort auf die Frage nach dem eigenen Selbst suchen.
Diese ganze Entwicklung hat sich nun im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung nur wenig widergespiegelt. Zwar gibt es gute und vernünftige Entwicklungen. Dazu gehört beispielsweise die erstaunliche Offnung der ärztlich-psychiatrischen Einstellung gegenüber psychotherapeutischen Methoden. Die lange Zeit geradezu klassische Verachtung der Psychoanalyse und anderer psychotherapeutischer Methoden durch die Psychiatrie ist heute eben nicht mehr typisch. Viele Psychiater und andere Ärzte haben eine psychotherapeutische Weiterbildung absolviert. An den Landeskrankenhäusern und anderen Fachkrankenhäusern sind in erheblicher Zahl Psychologen tätig.
Anders steht es jedoch mit der ambulanten Versorgung. Sie kann nach den Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung nur durch Ärzte oder deren Gehilfen erfolgen. Ich will an dieser Stelle der gesetzlichen Krankenversicherung und auch der privaten Krankenversicherung ein Wort des Dankes sagen, daß sie. mit dem sogenannten Delegationsverfahren dennoch einen Weg gefunden haben, um wenigstens in einem beschränkten Umfang Psychotherapeuten in unser Leistungssystem der Sozialversicherung einzubeziehen. Dennoch ist das Delegationsverfahren heute überholt.
Es ist der Tätigkeit eines Psychotherapeuten auch nicht angemessen, wenn er sich nach dem Heilpraktikergesetz richten muß.
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Die Zeit für eine gesetzliche Regelung der mit der Tätigkeit des Psychotherapeuten zusammenhängenden Fragen erscheint reif. Der dazu vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit vorgelegte Referentenentwurf war freilich so unzulänglich, daß er die Dinge weniger gefördert als verwirrt hat. Ich will mich nicht mit einer Kritik dieses nicht kritikfähigen Papiers aufhalten, sondern meinerseits einige grundsätzliche Gesichtspunkte für eine gesetzliche Neuregelung, die sicherlich in der kommenden Legislaturperiode in Angriff genommen werden kann, nennen.
Erstens. Es muß sich um eine Gesamtlösung handeln. Deshalb ist ein Teilentwurf, der lediglich die Berufszulassung regelt, abzulehnen. Kein Gesetzgeber kann es sich leisten, Voraussetzungen für die Berufszulassung zu bestimmen, dann aber die Frage offenzulassen, wer die entsprechenden Leistungen eigentlich bezahlen soll.
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Zweitens. Deshalb muß der Gesetzentwurf von gesicherten Zahlen über Bestand und Bedarf an Psychotherapeuten ausgehen und die auf die Versicherungen zukommenden Kosten quantifizieren. Ich empfinde es in diesem Zusammenhang als unerträglichen Mißstand, daß die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zu diesem Thema immerhin aus Steuermitteln in Auftrag gegebene Studie des Max-Planck-Instituts in München zwar unterderhand weitergereicht, aber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorenthalten wird.
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Drittens. Sicher wird es zum Sinn eines kommenden Psychotherapeuten-Gesetzes gehören, unwissenschaftliche Scharlatanerie unmöglich zu ma13968 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
chen; denn die Gefahren unsachgemäßer psychotherapeutischer Behandlung sind genauso groß wie die einer unqualifizierten medizinischen Behandlung. Deshalb wird zu überlegen sein, ob das Gesetz einen Katalog geschützter, vorbehaltener Tätigkeiten enthalten soll. Freilich ergeben sich dadurch schwierige Abgrenzungsfragen. Wo liegt etwa die Grenze zwischen Behandlung und Beratung? Auch die Grenzen zwischen seelsorgerischer Tätigkeit und Psychotherapie - das Wort „Psychotherapie" bedeutet ja nichts anderes als Seelenbehandlung - sind fließend. Es darf durch ein kommendes Gesetz - das möchte ich hier sehr deutlich sagen - nicht zu einer Behinderung der vorhandenen Ehe- und Familienberatungsstellen, insbesondere im kirchlichen Raum, kommen, meine Damen und Herren.
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Ein Viertes. Schwierige Abgrenzungsfragen wirft in diesem Zusammenhang auch der Krankheitsbegriff auf. Keinesfalls wird uns dabei der außerordentlich weit gefaßte Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation weiterhelfen. Ich möchte in diesem Zusammenhang hinzufügen, daß dieser Begriff der WHO überhaupt wenig nützlich gewesen ist. Nicht jede Verstimmung, jede Lebensproblematik ist eine behandlungsbedürftige Krankheit. Wir dürfen die Verantwortung ides einzelnen zur Lösung seiner Probleme nicht von ihm auf die Gesellschaft verschieben.
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Ein Fünftes. Eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Arzt und nichtärztlichem Psychotherapeut muß gewährleistet sein. Es geht hier nicht um Prestige- und Standesgesichtspunkte, sondern um gesundheitspolitische Fragen. Niemandem wird eine Perle aus der Krone fallen, wenn sein Patient vorher ärztlich untersucht wird.
Sechstens. Gründlicher Prüfung wird die Frage bedürfen, welche Vorbildung und welche Ausbildung von einem Psychotherapeuten zu verlangen ist. Um zu verhindern, daß in diesen Beruf Personen drängen, die über ihre eigenen Probleme keine Klarheit haben, wird die von Anfang an entwickelte Methode der Lehranalyse oder überwachter Eigenerfahrung zur strikten Voraussetzung zu machen sein. Im übrigen wird der Gesetzgeber sich nicht zum Richter über die wissenschaftliche Haltbarkeit oder Nichthaltbarkeit von wissenschaftlichen Schulen aufwerfen können. Neue Entwicklungen müssen offenbleiben. Die bisher in der Bundesrepublik Deutschland meist aus Privatinitiative arbeitenden Institute und anderen Einrichtungen, die im wesentlichen den internationalen Standard der deutschen Psychotherapie ausmachen, dürfen durch eine neue Gesetzgebung nicht wegrationalisiert werden. Dies gilt um so mehr, als ein auf Behandlung ausgerichteter akademischer Studiengang erst im Werden begriffen ist.
Siebtens. Die Behandlung von Kindern weist gegenüber der von Erwachsenen erhebliche methodische Unterschiede auf. Im ärztlichen Bereich hat
dazu mein Kollege Dr. Reimers heute vormittag schon Stellung genommen. Bei Kindern kommt eben pädagogischen, spielerischen Methoden größeres Gewicht zu. Deshalb wird zu prüfen sein, in welchem Umfang die bisher bewährte Ausbildung von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, die auf einem Studium der Pädagogik, Sozialpädagogik oder Sozialarbeit aufbaut, beizubehalten ist.
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Ein letztes. Die Überlegungen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit werden auch dort kritisch zu überprüfen sein, wo sie allzu einseitig auf den alleinbehandelnden niedergelassenen Psychotherapeuten abstellen. Viele Erfahrungen deuten darauf hin, daß ein dauerhafter Heilungserfolg am ehesten von einem Team zu erzielen ist. Dabei geht allerdings nun die PsychiatrieEnquete in der anderen Richtung zu einseitig vor, indem sie vorwiegend von Psychotherapeutischen Diensten spricht. Nach meiner Auffassung wird es neben derartigen Diensten, die in Einrichtungen angeboten werden, auch weiterhin niedergelassene Psychotherapeuten geben müssen.
Ich möchte damit dieses Thema abschließen. Noch einige wenige Bemerkungen möchte ich am Schluß dieser Debatte hinzufügen. Wir können alle miteinander folgendes feststellen: Diese Debatte war dadurch gekennzeichnet, daß es über die Probleme über die Parteigrenzen hinweg keinen Streit gibt. Wir alle miteinander, ob wir nun auf dieser oder jener Seite oder in der Mitte des Hauses sitzen, sind der Meinung, daß im Bereich der psychischen und psychiatrischen Versorgung - bei allen Fortschritten, die wir zu verzeichnen haben - noch große Lücken bestehen. Ich möchte für meine Fraktion die Mitarbeit in einem vollkommen offenen und bedingungslosen Sinne anbieten.
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Ein weiteres Fazit dieser Debatte wird sein, daß wir zu Fortschritten auf diesem Gebiet nicht im Alleingang des Bundes kommen konnen, sondern daß es nur in einer Kooperation mit den Ländern geht. Dazu will ich sagen, daß wir als Unions-Abgeordnete bereit sind, mit denjenigen Ländern, die CDU/ CSU-regiert sind, zu sprechen, um zu einer Kooperation zwischen Bund und Ländern zu kommen.
Ein weiteres in diesem Zusammenhang. Eine der schwierigsten Fragen wird sein, wie wir die Probleme, die heute angesprochen worden sind, im Sozialversicherungsrecht regeln. Deswegen müssen sich diesem Problem nicht nur die Gesundheitspolitiker öffnen, sondern auch - jetzt sage ich es einmal so, was immer man darunter verstehen mag - die Sozialpolitiker im klassischen Sinne.
Wir werden es mit dieser Debatte im Plenum nicht bewenden lassen können. Da möchte ich mich ganz dem anschließen, was mein Vorredner gesagt hat. Wir werden die Dinge vor allem im federführenden Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit weitertreiben müssen. Hinter den Vorschlag, der ebenfalls gemacht worden ist, die Professoren, die die Enquete mit erarbeitet haben, erneut zu höDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13969
ren, möchte ich ein Fragezeichen setzen. Ich meine, die Sammlung der Forschungsergebnisse ist abgeschlossen. Worauf es ankommt, ist, daß diese Forschungsergebnisse jetzt in die Praxis umgesetzt werden, und zwar unverzüglich.
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Eine letzte Bemerkung sei mir gestattet: Ich glaube, es gibt vielleicht nur wenige Gebiete, auf denen der Bundestag selbst als Parlament mit seiner Arbeit einen so starken Akzent gesetzt hat wie auf diesem. Schließlich ist es eine parlamentarische Initiative gewesen, die die Enquete-Kommission ins Leben gerufen hat, und ich glaube, daß wir heute noch nicht so weit wären, geschweige denn die Mittel zur Verfügung hätten, wenn nicht seinerzeit diese parlamentarische Initiative von unserem Kollegen Picard ausgegangen wäre.
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Damit die Dinge nicht einseitig verteilt sind, möchte ich hinzufügen, daß diese Initiative in der Zwischenzeit in der Aktion „psychisch Kranke" eine Fortsetzung gefunden hat, an der sich Parlamentarier aller Fraktionen tragend und führend beteiligen. Sie können darauf vertrauen, daß wir als Parlamentarier die Bundesregierung auch in Zukunft kritisch und unterstützend begleiten werden und daß wir die langen Zeiträume, die den Weg dieser Enquete kennzeichnen, in Zukunft nicht mehr zulassen werden.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schwenk.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie zum Schluß der Debatte noch einige Blicke auf den mit dem Thema zusammenhängenden rechtspolitischen Bereich, der bei einer Fortentwicklung der Lage und des Schutzes der psychisch Kranken und Behinderten nicht außer acht gelassen werden darf.
Die Kommission hat sich an einigen Stellen damit befaßt, hat Forderungen aufgestellt und Bitten ausgesprochen zur Verbesserung der Ausgestaltung der leider manchmal unumgänlichen Freiheitsentziehung mit einer stärkeren Betonung der fürsorgerischen Aspekte bei einer Unterbringung; zu einer Gesamtreform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts im Bereich der Versorgung psychisch Kranker; zur Anpassung strafrechtlicher Vorschriften an die besonderen Probleme straffällig gewordener Menschen, wobei insbesondere die Berücksichtigung verminderter Schuldfähigkeit nicht aus den Augen verloren werden sollte; sowie zu einem verbesserten Schutz personenbezogener Daten einschlägiger Art.
Bei dieser Ausgangsbetrachtung möchte ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß der Abschlußbericht des Max-Planck-Instituts zur Psychiatrie den Abgeordneten nicht vorenthalten worden ist, sondern auf Abruf bekommen werden kann. Wer
sich dafür interessiert hat, hätte ihn also erhalten können oder kann ihn noch erhalten. Vielleicht ist es doch ganz sinnvoll, solche wertvollen Drucksachen nun nicht an alle zu verteilen, woraufhin die meisten Exemplare doch im Papierkorb landen, sondern die Möglichkeit zu eröffnen, daß die Interessierten den Bericht auch wirklich in die Hand bekommen.
({0})
- Herr Kollege, ich weiß nun nicht, ob das für die weitere Behandlung wirklich wertvoll und wichtig ist. Oder geht es bei der nicht redigierten Fassung darum, festzustellen, wo möglicherweise noch die eine oder die andere Lücke ist, in die man stoßen könnte? Das ist ja wohl nicht der Sinn der Sache. Der Abschlußbericht ist also erhältlich, und das ist ja wohl das Wichtige dabei.
Bei dieser Gelegenheit wollte ich Sie allerdings noch Fragen, woher Ihre Besorgnis kommt, daß die Beratungstätigkeit der freien Träger etwa eingeschränkt werde. Davon ist für mich nichts zu erkennen. Da Sie hier eine Warnung ausgesprochen haben, die schon etwas anklagend geklungen hat, muß ich diese Frage stellen. Ich meine, dahinter dürfte nichts weiter stehen. Auch in der Entwicklung des Jugendhilferechts kann ich so etwas nicht erkennen.
Zunächst komme ich zu j 13 des Bundeszentralregistergesetzes, der auch von der Kommission angesprochen worden war. Bereits der Kommissionsbericht hat bewirkt, daß der Gesetzgeber in einigen Bereichen tätig geworden ist. Auch wenn hier mehrfach beklagt wurde, daß die Beantwortungszeit sehr lang war, ist der Gesetzgeber nicht untätig geblieben. Dieser Bericht hat bereits seine Folgewirkungen gezeitigt. Dieser § 13 ist gestrichen, so daß nicht jeder Behörde, die einen Registerauszug verlangt, schwache Stellen im früheren Lebensweg des Betroffenen mitgeteilt werden. Während dieser Schutz besteht, hat das Bundeszentralregister in den wirklich wichtigen Fragen der Auskunft über Entmündigung und Schuldunfähigkeit keineswegs an Auskunftsfähigkeit eingebüßt.
Die nächste Frage bezieht sich auf den Datenschutz. Nach dem geltenden § 35 des Sozialgesetzbuches gibt es bereits einen Datenschutz. Allerdings ist bei fortschreitender kritischer Beobachtung des Datenschutzrechtes herausgekommen, daß die einzelnen Schutzvorschriften noch weiter differenziert werden müssen, daß der Austausch von Daten auch innerhalb von großen Behörden auf das wirklich Notwendige beschränkt werden muß, daß dabei allerdings, soweit das Auskunftsersuchen erforderlich ist, keine Einschränkung gilt, damit diejenigen, die Gelder oder Hilfen bewilligen müssen, auch die nötigen Daten bekommen. In den Ausschüssen wird zur Zeit darüber beraten - das möchte ich hiermit unterstützen -, wie dieser Paragraph noch weiter differenziert und ein undifferenzierter Datenaustausch innerhalb großer Behörden oder unter den fachspezifischen Behörden zum
13970 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dr. Schwenk ({1})
Vorteil des Betroffenen noch weiter eingeschränkt werden kann.
Auch im Bereich des Unterbringungsrechts hat die Kommission Verbesserungen gefordert. Hier müssen wir allerdings darauf hinweisen, daß Landeszuständigkeit gegeben ist. Die Länder Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben Gesetze über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke erlassen; bei anderen Ländern ist das in Vorbereitung. Wir hoffen, daß auch das bald verabschiedet wird, damit auch die Länder ihren Teil zur Verbesserung der Lage der psychisch Kranken beitragen.
Im Bereich der aus Krankheitsgründen notwendigen Freiheitsentziehung haben wir bundeseinheitlich zur Zeit im psychischen Bereich nur für das Kind neue Vorschriften durch das neu beschlossene Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge. Die Kommission hatte noch den vorgeschlagenen § 1631 a gerügt. Sie hatte befürchtet, daß jegliche Unterbringung eines Kindes betroffen sein könnte. Wir hatten das Problem erkannt und deshalb in dem entsprechenden jetzigen § 1631 b nur die mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung angesprochen, so daß Internate oder Heime in der Regel nicht darunter fallen. Hierbei möchte ich noch einmal dem Kollegen Reimers danken. Seine Ausführungen zur Lage psychisch geschädigter oder gefährdeter Kleinkinder hörten sich wie ein Plädoyer für dieses Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge an. Ich bedanke mich dafür, daß das von Ihrer Seite so gekommen ist.
Entsprechende Verfahrensvorschriften für Erwachsene gibt es allerdings bundeseinheitlich nicht. Herr Picard, hier haben Sie auf dem falschen Fuß gestanden; denn es liegt ein Bericht der Kornmission für die Neufassung des Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit seit Dezember 1977 vor. Nur haben sich ersten noch nicht alle Landesjustizverwaltungen dazu geäußert, und zweitens beharren mehrere Landesjustizverwaltungen auf der Länderzuständigkeit, so daß der Bundesgesetzgeber in diesem Bereich noch gar nicht tätig werden kann.
Wie ich eben ausführte, liegt der Bericht vor, und wir sind zur Gesetzgebung bereit, wenn Bund und Länder bereit sind, sie zu tragen. Bei dem hier angesprochenen Problembereich gilt das insbesondere für die vorgesehenen Vorschriften über ein einheitliches Betreuungsverfahren. Das wäre das Pendant für Erwachsene zur Neuordnung des Rechts der elterlichen Sorge die Kinder betreffend. Aber ich darf noch einmal darauf hinweisen: Erst einmal muß klar sein, daß Bund und Länder dieses Gesetz gemeinsam tragen wollen.
In Vorbereitung befindet sich ferner eine Neuordnung des Vormundschafts- und Pflegschaftrechts. Nachdem wir aber im familienrechtlichen Bereich das gerade angesprochene Gesetz verabschiedet haben, haben wir uns im Rechtsausschuß zunächst einmal anderen Aufgaben zuzuwenden. Gleiches gilt auch für das Bundesjustizministerium. Wir müssen hier noch bis zur nächsten Legislaturperiode warten.
Ein Satz noch zur Postkontrolle, die ebenfalls im Bericht angesprochen wurde. Die Postkontrolle gehört zur Ländergesetzgebung.
Zur Straffälligkeit und Strafverfolgung psychisch kranker Straftäter darf ich darauf hinweisen, daß mit früheren Strafrechtsänderungsgesetzen seit 1969 neue Vorschriften eingefügt worden sind, die diesen Problemen gerecht werden. Es sind dies die §§ 63 und 65 des Strafgesetzbuchs. Außerdem ist in § 65 aufgenommen worden, daß sozialtherapeutische Anstalten einzurichten sind.
Der Stichtag liegt allerdings noch in weiter Ferne; es ist der 1. Januar 1985. Wir wissen, daß man hierzu einen längeren Zeitraum braucht. Wir können in diesem Bereich nicht mit kürzeren Zeiteinheiten rechnen. Es zeigt sich aber zumindest, daß Bundesregierung und Bundesgesetzgeber durchaus bereit sind, etwas zu tun. Wir wollen das nicht aus dem Auge verlieren. Und wir wollen ab 1. Januar 1985 auch Erfolge sehen, das heißt, daß in diesem sensiblen Bereich den Erkrankten - ich darf mich hier einmal auf meinen Kollegen Weisskirchen berufen - mit der erforderlichen Sorgfalt geholfen wird.
Meine Damen und Herren, in bezug auf die Altersstraffälligkeit wurde gefragt, wie weit wir in der Lage seien, mehr zu tun. Ich darf darauf hinweisen, daß die §§ 20 und 21 des Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, den dafür aufgeschlossenen Staatsanwälten und Richtern ausreichende Möglichkeiten geben, dem altersbedingten Straftäter entgegenzukommen. Wir müssen dabei sehen, daß es sich bei solchen Delikten oft um eine Folge des Abbaus von Hemmungen handelt und nicht um eine Folge des direkten Willens zum Rechtsbruch. Dies kann nun einmal in der Altersentwicklung des Menschen liegen; davor ist keiner gefeit.
Bei allen Bemühungen um die Verbesserung der Lage der psychisch Kranken und Behinderten sollten wir auch einmal den eigenen Sprachgebrauch überprüfen. Oft genug hören wir bei Streitgesprächen - ob am Biertisch oder anderswo bei ernsteren Gelegenheiten -, daß einer auf die Meinung des anderen mit dem Ausspruch reagiert: das ist doch schizophren! Wäre jemand unter den Zuhörern, der zufällig diese Krankheit hat, so müßte er zusammenfahren. Wir sollten Krankheitsbilder nicht dazu benutzen, dem Diskussionsgegner einen verbalen' Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Hier sollten wir unseren Sprachgebrauch doch einmal überprüfen. Auf Platt würde man ganz einfach sagen: „Da versteihst du ji nix von." Das würde sowohl die Sachlage klarrücken wie das verbale Klima nicht verderben.
Wir alle, die wir hier zu dem Thema gesprochen haben, sind uns - so meine ich - in großen Zügen entgegengekommen, beseelt von dem Willen, etwas zu tun, um denjenigen, die auf der seelischen Schattenseite des Lebens stehen, zu helfen. Ich bitte deshalb abschließend, den Bericht zur weiteren Beratung an den federführenden Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen, damit dort die Problematik und die LöDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13971
Dr. Schwenk ({2})
sungsansätze vertieft, beraten und in eine Empfehlung gefaßt werden können.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigen-Kommission über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit vor. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU
Bundesgrenzschutz
- Drucksache 8/3131Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({0}) Haushaltsausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jentsch.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die augenblickliche relative Ruhe täuscht: In der Bundesrepublik Deutschland wird nach wie vor entschlossen versucht, unsere Sicherheitsorgane zu schwächen. Polizei einschließlich Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und Geheimdienst werden systematisch als Einrichtungen abgestempelt, die nicht der Freiheit unserer Bürger dienen, sondern eine Bedrohung dieser Freiheit darstellen. Ich muß nicht im einzelnen die zahlreichen Indikatoren dieser Kampagne aufzählen. Die Diffamierungen aus der jüngsten Zeit sind noch gut in Erinnerung; wir haben hier darüber diskutiert.
Die Kampagne begann, nachdem der Innenminister höchstpersönlich das große Aufräumen angekündigt hatte. Bezeichnungen wie „Schnüffler vom Dienst", „Sonderpolizei", „gestapoähnlich" finden sich dann auch gerade in der Presse, die der Bundesregierung und dem Innenminister höchst wohlwollend gegenübersteht. Diese Diffamierungen und Verleumdungen sind aber alles andere als eine ernsthafte Diskussion darüber, wie weit denn nun die Zuständigkeiten der Sicherheitsorgane gehen dürfen. Sie machen deutlich, daß es den Initiatoren dieser Kampagne darum auch gar nicht geht. Hier sind nämlich diejenigen am Werk, die die Freiheit diesseits von Mauer und Stacheldraht nicht für bedroht und deshalb Einschränkungen oder Opfer auch im Bereich des persönlichen Freiheitsraumes nicht für berechtigt halten. Hier sind diejenigen am Werk, die den sogenannten kapitalistischen und faschistischen Staat Bundesrepublik Deutschland seiner die Freiheit sichernden Einrichtungen berauben wollen. Alle, die leichtfertig unsere Sicherheitsorgane ins Zwielicht bringen, müssen wissen, wessen Geschäft sie betreiben. Ich meine, ein Bundesinnenminister muß es ganz besonders gut wissen.
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Vor diesem Hintergrund gibt die Lage des Bundesgrenzschutzes Anlaß zur Sorge. Der Bundesgrenzschutz darf nämlich nicht zum Werkschutz verkümmern, der an irgendwelchen Objekten Wache schiebt und bei Passagieren und Besuchern das Gepäck kontrolliert. Der Bundesgrenzschutz darf nicht stillschweigend zur bloßen Schutzpolizei umfunktioniert werden, wenn er seinen Aufgaben gerecht werden will, die ihm kraft Gesetzes aufgetragen sind.
Ich verkenne nicht die Pflicht des Bundesgrenzschutzes, in Notzeiten auch dort einzuspringen, wo die übrigen Sicherheitsorgane Hilfe und Unterstützung benötigen. Zu diesem Zweck haben wir ja das Bundesgrenzschutzgesetz geändert und den Aufgabenbereich des Bundesgrenzschutzes 1972 erweitert. Diese Aufgabenerweiterung - das ist das Entscheidende - hat aber nicht zu einer Befreiung von den ursprünglichen Aufgaben oder etwa zu deren Minderbewertung geführt. So steht auch in der jetzigen Fassung des BGS-Gesetzes nicht ohne Grund der grenzpolizeiliche Schutz an erster Stelle im Aufgabenkatalog, gefolgt von den polizeilichen Schutz- und Sicherungsaufgaben in den Fällen des Art. 91 und des Art. 115 f des Grundgesetzes; das sind der Notstands- und Verteidigungsfall. Mit Beginn eines bewaffneten Konflikts ist der Bundesgrenzschutz Teil der bewaffneten Macht der Bundesrepublik Deutschland. So sieht es § 64 des Bundesgrenzschutzgesetzes ausdrücklich vor. Der Bundesgrenzschutz muß also kraft Gesetzes auf diese Sicherheitslagen vorbereitet sein.
Um diesen bedeutsamen Sicherheitslagen gerecht werden zu können, ist der Bundesgrenzschutz als Truppenverband organisiert worden. Er ist in Abteilungen und Hundertschaften gegliedert. Wenn diese Gliederung, meine Damen und Herren, nicht nur auf dem Papier stehen soll, muß der Bundesgrenzschutz aber auch in dieser Formation handlungsfähig und einsatzfähig sein. Das ist er zur Zeit weder in personeller noch in technischer noch in organisatorischer Hinsicht.
Ich darf folgende typische Lage schildern, die ich beim Besuch einer Einsatzabteilung vorgefunden habe: Von den ca. 540 Angehörigen der Abteilung waren 99 durch Ausbildung gebunden, und zwar die Mehrzahl als Auszubildende, die also noch gar nicht für einen vollen Einsatz zur Verfügung standen. Auf Grund von Abordnungen, Krankheit und Abteilungsdienst standen weitere 265 Beamte zum Einsatz nicht zur Verfügung. Weitere 19 Beamte waren in Werkstätten und im Abteilungsstab eingesetzt. 47 Beamte waren wegen geleisteter Dienststunden freigestellt, so daß 110 von 540 verfügbar waren. Von diesen 110 allerdings mußten alle zwei Wochen 85 Beamte für die Bewachung zweier Objekte in 150 km Entfernung abgestellt werden.
Dieses Beispiel zeigt ganz klar, daß der Bundesgrenzschutz als Verband überhaupt nicht zur Ver13972 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dr. Jentsch ({1})
fügung steht. Er ist auch als Verband nicht eingeübt; denn Übungen einer geschlossenen Abteilung haben seit vielen Jahren nicht mehr stattgefunden. Selbst Hundertschaften werden im Ernstfall zusammengewürfelt, wenn sie irgendwo eingesetzt werden müssen.
Der Polizeidirektor Schubarth-Engelschall hat gestern abend im ZDF-Magazin in bewundernswerter Offenheit auf die Frage, ob er seine Abteilung geschlossen einsetzen könnte, erklärt: „Nein, das kann man im Augenblick nicht; denn die Abteilung als Verband ist zur Zeit mit zwei Hundertschaften in der Ausbildung der Beamten des zweiten Dienstjahres gebunden; die dritte Hundertschaft als Einsatzhundertschaft verfügt zur Zeit nur noch über einen Einsatzzug; die Stabshundertschaft mit den Spezialzügen ist ebenfalls nicht in der Lage, da auch diese Kräfte nur zum Teil noch vorhanden sind und somit nicht die vollen Züge einsatzbereit sind."
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- Den haben Sie gestern abend und heute mittag noch einmal hören können!
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Auf die Frage, ob sich dieser Zustand in absehbarer Zeit ändern werde, erklärt der Kommendeur, daß dies wahrscheinlich über etliche Jahre hinweg nicht der Fall sein werde. Die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes sprechen übrigens in diesem Zusammenhang von „Geister-Hundertschaften", die nur auf dem Papier stehen und in Wirklichkeit gar nicht einsatzbereit, gar nicht vorhanden sind.
Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Hieran ist sicherlich das Personalstrukturgesetz von 1976 schuld, das die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes den Polizeibeamten der Länder gleichstellen will. Hierdurch ist eine erhebliche Ausbildungslawine auf den Bundesgrenzschutz zugekommen, die natürlich wesentliche Kräfte bindet. Der Regierung muß jedoch gesagt werden, daß dies alles seinerzeit voraussehbar war. Es war meine Fraktion, die Fraktion der CDU/CSU, die damals deutlich darauf hingewiesen hat, ihre Zustimmung zum Personalstrukturgesetz erfolge nur unter der Voraussetzung, daß der Truppen- bzw. Verbandscharakter des Bundesgrenzschutzes in keiner Weise eingeschränkt werde. Uns ist dies damals zugesichert worden. Wir haben dem Personalvertretungsgesetz im Vertrauen darauf zugestimmt, daß die Änderung des persönlichen Status des Bundesgrenzschutzbeamten nicht zu einer Veränderung der Funktionsfähigkeit und der Aufgabenstellung des Bundesgrenzschutzes führt.
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Heute müssen wir feststellen, daß die Änderung genau mit der Zielsetzung erfolgt ist, den Charakter des Bundesgrenzschutzes zu verändern und ihn seiner Truppenstruktur zu entkleiden.
Hierfür gibt es zwei Belege: Erstens. Die Bundesregierung, voran der Bundesinnenminister, und die sie tragenden Parteien verharmlosen und verniedlichen die Unfähigkeit des Bundesgrenzschutzes, als Verband zu agieren, derart, daß verbale Bekenntnisse zum Truppencharakter, die wir sicherlich nachher auch wieder hören werden, nur als Beruhigungspillen angesehen werden können. Herr Minister Baum, Ihr verbales Bekenntnis zum Truppencharakter auch vor einigen Tagen auf dem Verbandstag des Bundesgrenzschutzverbands ist solange wertlos, wie Sie nichts unternehmen, um diesen Truppencharakter wiederherzustellen.
Zweitens. Von anderer Seite wird jeder Hinweis auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung des Truppencharakters des Bundesgrenzschutzes als „paramilitärisch" verunglimpft. Zugleich wird aus dieser Richtung die Abschaffung des Kombattantenstatus des Bundesgrenzschutzes verlangt.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, daß sich Minister Baum auf dem schon erwähnten Verbandstag des Bundesgrenzschutzverbands eindeutig von diesen Bestrebungen distanziert hat. Ich begrüße das. Nur, Herr Minister Baum: Ich weiß nicht so recht, ob dies augenblickliche Taktik oder wirkliche Überzeugung bei Ihnen ist; denn Sie bleiben auch in dieser Frage solange im Zwielicht, wie Sie nicht entschlossen mit Taten für die Wiederherstellung des Truppencharakters eintreten.
Meine Damen und Herren, so wie der Bundesgrenzschutz zur Zeit seinen polizeilichen Schutz-und Sicherungsaufgaben im Falle eines inneren Notstands oder im Verteidigungsfall nicht gerecht werden könnte, so müssen auch erhebliche Zweifel angemeldet werden, ob er der Aufgabe des grenzpolizeilichen Schutzes des Bundesgebietes gerecht wird. Soll man wirklich davon ausgehen dürfen, daß dieser Schutz gewährleistet ist, angesichts der Tatsache, daß die Grenzstreifentätigkeit vom Jahre 1977 auf das Jahr 1978 von 46 000 auf 31 000 Grenzstreifen zurückgegangen ist? 31 000 Grenzstreifen pro Jahr - so steht es im Tätigkeitsbericht des Bundesinnenministeriums - bedeuten, daß täglich 88 Streifen am rund 1 800 km langen Gebiet zur DDR und zur CSSR tätig sind. Eine gleiche rückläufige Tendenz findet sich übrigens bei den Grenzüberwachungsflügen mit Hubschraubern.
Der Bundesgrenzschutz kann seine Aufgabe auch nur dann wahrnehmen - damit komme ich zu einem nächsten Punkt -, wenn er einem Truppenverband entsprechend ausgerüstet ist. Deshalb verfolgen wir mit großer Sorge Bestrebungen, die Ausstattung mit Sonderwagen zu reduzieren. Der Bundesgrenzschutz verfügt derzeit über 513 solcher Sonderwagen. Diese sind bei großen gewalttätigen Demonstrationen unentbehrlich, weil sie die Gefährdung des einzelnen Polizeibeamten mindern. Dieser findet Schutz in der Nähe dieser Wagen. Die mit Gittern bestückten Sonderwagen erlauben bewegliche Straßensperren, die sonst von den Polizeibeamten selbst gebildet werden müßten. Wer also diese Sonderwagenausstattung des Bundesgrenzschutzes reduziert, muß sich schlicht und einDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. -- Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13973
Dr. Jentsch ({5})
fach sagen lassen, daß er unnötig das Leben von Polizeibeamten aufs Spiel zu setzen bereit ist. Diesen Vorwurf wird sich sicherlich niemand einhandeln wollen.
Deshalb ist es völlig unverständlich, wenn die Bundesregierung nur bereit ist, etwa, wie sie erklärt hat, 300 bis 350 der vorhandenen Sonderwagen zu ersetzen oder zu modernisieren, und in Kauf nimmt, daß die restlichen ausfallen, wenn sie verschlissen und nicht mehr einsatzfähig sind.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ist es auch dringend erforderlich - auch das wird demjenigen, der den Bundesgrenzschutz häufig besucht, auffallen -, die Zahl der geländegängigen Fahrzeuge zu erhöhen. Wir können uns auch in diesem Punkt mit der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage vom Frühjahr des letzten Jahres nicht zufriedengeben. Dort wird darauf hingewiesen, daß das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verkehrsmäßig sehr gut erschlossen sei. Neben Bundes-, Land- und Kreisstraßen ständen fast überall im Gelände zahlreiche befestigte oder gut ausgebaute Feld- und Waldwege zur Verfügung, so heißt es in dieser Antwort. Der Verfasser dieser Antwort darf es mir nicht übelnehmen, aber ich werde bei derartigen Formulierungen eher an das Räuber- und Gendarm-Spiel erinnert als an einen polizeilichen Truppenverband, der auch in Sicherheitslagen eingesetzt werden soll, in denen die Existenz unseres Staates bedroht ist. Sowohl in einem solchen Fall als auch dann, wenn ein aus der DDR Geflüchteter - das haben wir ja gestern im ZDF-Magazin in einem Film vorgeführt bekommen - und auf unserem Gebiet niedergeschossener Mitbürger verblutet, muß wohl jeder Grenzschützer so ausgestattet sein, daß er nicht mit seinem feinen Auto irgendwo im Dreck steckenbleibt, sondern schnellstmöglich an die Stelle herankommt.
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Meine Damen und Herren, Gegenstand unserer Sorge ist auch die Ausstattung des BGS mit Waffen. Wir fühlen uns hier ein wenig hinters Licht geführt, denn in unserer Kleinen Anfrage hatten wir damals nach der Entwicklung auf diesem Gebiet gefragt und die Antwort bekommen, daß zwar an anderer Stelle abgebaut werde, aber eine Erhöhung der Zahl von Maschinengewehren für den Einsatz von Sonderwagen in Aussicht gestellt sei. Wir fühlen uns deshalb hinters Licht geführt, weil wir jetzt feststellen müssen, daß diese Sonderwagen reduziert werden. So geht es natürlich nicht, uns auf der einen Seite darauf hinzuweisen, daß auf der einen Seite der Einsatz dieses Gerätes vermehrt möglich ist, anschließend aber erkennen zu geben, daß man die Sonderwagen reduzieren will.
In diesem Zusammenhang soll auch ein deutliches Wort zu der Polemik gegen eine wirksame Bewaffnung des Bundesgrenzschutzes gesagt werden. Die Bestrebungen, die Ausstattung des Bundesgrenzschutzes ausschließlich auf Handfeuerwaffen zu begrenzen, sind nach meiner Auffassung ein Teil des Versuches, den Bundesgrenzschutz von einer. hochqualifizierten Polizeitruppe auf eine reine
Schutzpolizei umzufunktionieren. Eine auf jede Sicherheitslage vorbereitete Polizeitruppe benötigt auch Maschinenwaffen, Maschinengewehre und Maschinenkanonen.
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- Ich habe das Vergnügen, jawohl, Herr Pensky, mich in diesem Zusammenhang auf Justizminister Vogel beziehen zu dürfen. Er hat in der „Neuen Ruhrzeitung" vor etwa zwei Jahren - Sie kennen das Zitat sicherlich - gesagt:
Nach den heutigen Erfahrungen kann keineswegs ausgeschlossen werden, daß Terroristen mit Handgranaten, Maschinengewehren und anderen Waffen auftreten. Was will ein Polizeibeamten mit einer Pistole gegen einen Terroristen mit einem Maschinengewehr ausrichten?
An anderer Stelle dieses Interviews sagt er:
Man sollte vielmehr ernsthaft überlegen, ob der Bundesgrenzschutz mit solchen Aufgaben betraut und mit einer entsprechenden Bewaffnung ausgerüstet werden kann.
Ich darf Ihnen sagen, wir sind zu diesen Überlegungen bereit, denn wir meinen, daß die Ausrüstung und Bewaffnung den möglichen Sicherheitslagen adäquat sein muß und nichts anderes.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Wir sind mit der Überweisung unseres Antrages zur Beratung im Innenausschuß einverstanden. Am Ende dieser Beratung muß aber die Entschlossenheit dieses Deutschen Bundestages deutlich werden, den Bundesgrenzschutz, die Polizei des Bundes, als Polizeitruppe zu stärken, damit sie als Eingreifreserve für alle, auch die schwierigsten Sicherheitslagen zur Verfügung steht. Sie darf nicht das Sicherheitspotential der Länderpolizeien ersetzen, sondern muß dieses Sicherheitspotential ergänzen. Das sind wir meines Erachtens unseren Bürgern schuldig; denn Sicherheit dient der Freiheit, und Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Ich meine, das gilt auch hier.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pensky.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um den Bundesgrenzschutz sind schon zahlreiche Glaubenskriege geführt worden, leider mit teilweise fürchterlichen Ausuferungen, die allesamt nur zu Lasten dieser Einrichtung gingen und die jeweils nichts anderes als eine totale Verunsicherung der in ihr tätigen Beamten bewirkt haben. Manches spricht dafür, daß es immer noch Kreise gibt, die, aus welchen Gründen auch immer, diesen Glaubenskrieg fortsetzen möchten.
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13974 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dafür spricht z. B. der hier zur Debatte stehende CDU/CSU-Antrag und die dazu von der Union eingeleitete Begleitmusik durch Presseerklärungen, öffentliche Reden, vorausgegangene Anfragen an die Bundesregierung mit unmißverständlicher Tendenz; dazu gehören auch Ihre gestrigen Äußerungen, Herr Kollege Jentsch, in der ZDF-Magazinsendung des Herrn Löwenthal, wo Sie sich sicher sehr wohlgefühlt haben.
Schon früher wurde dem Grenzschutz von seiten der CDU/CSU ein Selbstverständnis zugedacht, das ebenso töricht wie politisch gefährlich war und das natürlich auch auf die Beamten abfärben mußte. Denn wie anders ist es zu erklären - ich muß das noch einmal hier dartun -, daß beipsielsweise just zu dem Zeitpunkt, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt sich anschickte, seinen ersten Besuch in Erfurt zu machen, um den schwierigen Prozeß der Entspannungspolitik einzuleiten, ein hoher Beamter des Bundesgrenzschutzes vor an der Grenze zur DDR versammelten Journalisten und CDU-Politikern folgendes erklärte:
Die da drüben
- gemeint war die DDR verstehen nur eine Sprache. Dahinter muß immer die nackte Gewalt stehen. Wer glaubt, man könne mit denen im guten verhandeln, mit dem wird nur Schlitten gefahren.
Schließlich verteidigte damals in diesem Zusammenhang der Bundesgrenzschutzgeneral die Theorie vom sogenannten Polizeipuffer des Bundesgrenzschutzes im Verteidigungsfall. Er forderte eine Bewaffnung des Bundesgrenzschutzes mit schweren Waffen. Kein Wunder, meine Damen und Herren, denn die fatale Geisteshaltung, die mit diesen Äußerungen zum Ausdruck gebracht worden ist, entspricht genau dem, was die CDU und CSU jahrelang als die Maxime ihrer Politik des Säbelrasselns mit Vehemenz vertreten haben. Und was soll man, so frage ich, eigentlich von einem leitenden Beamten erwarten, dem ständig ein solches Denkmodell als adäquates Feindbild vermittelt worden ist?
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Man könnte meinen, dies alles sei der Schnee von gestern und müsse schon deshalb längst der Vergangenheit angehören, weil der Deutsche Bundestag ja 1972 in großer Übereinstimmung aller Fraktionen bei wenigen Gegenstimmen der CDU/ CSU ein neues Bundesgrenzschutzgesetz verabschiedet habe, in dem klar und unmißverständlich dem Bundesgrenzschutz ausschließlich polizeiliche Aufgaben zugewiesen wurden, und zwar sowohl an der Grenze wie im Innern des Landes. Aber weit gefehlt. Wer die öffentlich geführten Diskussionen von seiten der CDU und der CSU beobachtet hat, stellt fest, daß es dort offenbar noch eine Reihe von Leuten gibt, die sich immer noch nicht von den überholten Denkmodellen gelöst haben. Was soll man den sonst von den ständig wiederholten Äußerungen von Unionspolitikern halten, beispielsweise von Herrn Jentsch, die davon reden, dem Bundesgrenzschutz drohe Abrüstung; der Bundesgrenzschutz müsse in der Lage sein, Grenzzwischenfällen zu begegnen, er müsse bei militärischen Angriffen von östlicher Seite als Polizeipuffer funktionieren? „Unanständig!", sage ich, solche Leute als Kanonenfutter für eine Aufgabe vorzusehen, für die sie nicht ausgebildet, nicht ausgerüstet sind, für die sie nach dem Gesetz auch nicht gedacht sind.
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Wer, wie Herr Jentsch, meint, der Bundesgrenzschutz könne nur als Polizeitruppe seine gesetzlichen Aufgaben erfüllen, und wer, wie Herr Handlos - ich weiß nicht, er ist ja Verteidigungspolitiker, habe ich mir sagen lassen -, vor Bundesgrenzschutzbeamten in Deggendorf befürchtet, daß - ich zitiere - „die Grenzer zu Polizeibeamten gemacht würden" , und daran die Feststellung knüpft „Damit wäre dann die Sicherheit unserer Grenze nicht mehr gewährleistet", der, meine Damen und Herren, ignoriert nicht nur das 1972 in großer Übereinstimmung verabschiedete Bundesgrenzschutzgesetz und die damit verbundene Entschließung zur Weiterentwicklung des Bundesgrenzschutzes, sondern der stellt sich auch gegen das gemeinsame Sicherheitsprogramm, das die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder im Jahre 1972 beschlossen und im Jahre 1974 fortgeschrieben hat.
Dieses gemeinsame Sicherheitsprogramm ist von. uns damals - wohl völlig zu Recht - als großer Fortschritt bezeichnet worden, weil es mit ihm erstmals in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands überhaupt gelungen war, die Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche der Sicherheitsbehörden - ausgehend von der geteilten politischen Verantwortung von Bund und Ländern für die innere Sicherheit - in einem Gesamtkonzept gegeneinander abzugrenzen und die Möglichkeit zur Kooperation zu finden. Diese politischen Entscheidungen waren gerade für den Bundesgrenzschutz deshalb von allergrößter Bedeutung, weil damit das jahrelange Gerangel um die Frage „Bundesgrenzschutz - ja oder nein?" ein für allemal ein Ende gefunden hatte.
Wichtig war aber auch, daß mit der Neuumschreibung des Aufgabenfeldes des Bundesgrenzschutzes sowohl im Grundgesetz als auch im BGS-Gesetz saubere Rechtsgrundlagen für die ausschließlich polizeiliche Funktion des Bundesgrenzschutzes geschaffen wurden. Wir Sozialdemokraten - das sage ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit - stehen zu dieser Konzeption, weil sie dem Sicherheitsbedürfnis in unserem Lande voll gerecht wird.
({3})
Ich meine, es ist an der Zeit, daß auch die Opposition in diesem Hause endlich Farbe bekennen und erklären sollte, was sie denn von diesem gemeinsamen Sicherheitskonzept hält, das immerhin auch von den Innenministern ihrer eigenen Partei in den Ländern mitentwickelt worden ist.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13975
Nun ist es natürlich kein Geheimnis, daß der
Bundesgrenzschutz zur Zeit noch mit enormen personellen Engpässen zu kämpfen hat. Daraus aber der Bundesregierung oder dem Bundesminister des Innern einen Vorwurf machen zu wollen, geht wohl an den Realitäten vorbei. Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, war wie uns bei der Beratung des Personalstrukturgesetzes durchaus bewußt, daß der Verzicht auf Dienstpflichtige, auf Kurzdienende und die Umstellung auf das Lebenszeitprinzip mit den damit verbundenen verstärkten Schulungsmaßnahmen zu personellen Engpässen führen mußten. Wir haben dies damals - Herr Kollege Jentsch, Sie waren nicht dabei; Sie sollten es sich einmal sagen lassen - gemeinsam in Kauf genommen: im Interesse einer baldigen Verwirklichung der neuen Konzeption, aber auch - das füge ich hinzu - in der Erwartung, man möge mit der Heranziehung von Bundesgrenzschutzbeamten zu Einsätzen in der Umstellungsphase etwas zurückhaltender sein. Letzteres ist offenbar - auch das müssen wir sehen - auf Grund der anhaltend angespannten Sicherheitslage längere Zeit nicht erreichbar gewesen.
Wir begrüßen es deshalb, daß es dem Innenminister in Vereinbarung mit den Bundesländern dennoch gelungen ist, auswärtige Einsätze von Grenzschutzbeamten etwas zurückzudrehen. Wir wünschen, daß daran noch etwas mehr zurückgedreht werden könnte. Ich möchte auch von dieser Stelle aus ein mahnendes Wort an die Länder richten, im Interesse einer nicht zu vertretenden dauerhaften
Überforderung noch eine Weile äußerste Zurückhaltung bei der Anforderung von Beamten des Bundesgrenzschutzes zu üben.
Wenn ich auch soeben die Gemeinsamkeit von Bund und Ländern in Zusammenhang mit der Erarbeitung des Sicherheitskonzepts besonders gewürdigt habe, so komme ich nicht umhin, ein Wort der Kritik zu sagen, das sich jedoch ausschließlich gegen den Freistaat Bayern richten muß.
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- Jawohl, wir wissen alle, daß das BGS-Personalstrukturgesetz nur funktionieren kann, wenn die Länder bereit sind, ihren Personalbedarf für die Polizei zum Teil durch Übernahme von Bundesgrenzschutzbeamten zu decken. Wir Sozialdemokraten sind befremdet darüber, daß, obwohl gemäß Absprache in der Innenministerkonferenz alle Bundesländer eine entsprechende Übernahmeerklärung unterzeichnet haben, sich allein Bayern bis heute noch dagegen sperrt. Vielleicht können Sie das Ihrem großen Vorsitzenden mal sagen,
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meine Damen und Herren von der CSU. Ich frage, wie sich das eigentlich mit den starken Worten des CSU-Vorsitzenden vereinbart, der in den letzten Tagen und Wochen besonders lauthals von der „Verantwortung für ganz Deutschland" spricht.
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Ich stelle folgendes fest. Erstens: Die Bundesregierung hat ihre Pflicht getan, indem sie konsequent den Bundesgrenzschutz so fortentwickelt hat, wie es der gesetzlichen Konzeption unter Berücksichtigung des gemeinsamen Sicherheitsprogramms von Bund und Ländern entspricht. Das bezieht sich insbesondere auch auf das Ausbildungsprogramm, das ebenfalls einvernehmlich von einer Bund-LänderKommission festgelegt ist.
Zweitens: Die Beamten des Bundesgrenzschutzes haben vollauf ihre Pflicht erfüllt, indem sie gerade in der schwierigen Umstellungsphase einen ganz erheblichen Beitrag zur Gewährleistung der inneren Sicherheit erbracht haben, wozu wir ihnen Dank und Anerkennung sagen.
Drittens: Die Opposition wird aufgefordert, ebenfalls etwas pflichtbewußter zu sein, indem sie sich endlich zu dem gemeinsam beschlossenen Sicherheitskonzept bekennt und künftig darauf verzichtet, dieses Konzept immer wieder in Frage zu stellen oder ihm einen völlig falschen Inhalt zu geben.
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Zum Schluß bleibt noch anzumerken: die Sicherung und Befriedung unserer östlichen Staatsgrenze ist nicht nur durch Sicherheitsorgane zu gewährleisten, sondern auch durch die Fortsetzung der Verhandlungen in der Grenzkommission, deren Ergebnisse bisher schon zu einer erheblichen Verminderung von Konfliktfällen an der Grenze zur DDR beigetragen haben. Zu dieser Politik der Bundesregierung gibt es keine Alternative.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine allgemeine Bemerkung zu Ihnen, Herr Kollege Jentsch. Sie haben an den Anfang Ihrer Ausführungen für die Opposition wieder einmal die Behauptung von der systematischen Schwächung der Sicherheitsorgane in unserem Lande gestellt. Wir müssen uns an dieses Thema gewöhnen, das in gewissem Sinne System hat.
Nicht gewöhnen kann ich mich allerdings daran, daß ich am Beginn einer solchen Debatte für mich eine Bildungslücke bekennen muß, insofern nämlich, als ich nicht in der Lage war, die gestern stattgefundene und so oft zitierte ZDF-Sendung zu hören. Ich finde es also nicht so furchtbar begeisternd, wenn eine solche Sendung - ob sie gut oder schlecht war, vermag ich nicht zu beurteilen; ich habe sie, wie gesagt, nicht gesehen - nun so stark in den Mittelpunkt einer Debatte hier im Deutschen Bundestag gestellt wird.
({0})
13976 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
- Abgeordnete haben bisweilen auch abends noch etwas anderes zu tun, als sich ZDF-Sendungen anzusehen.
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Der Bundesgrenzschutz - meine Damen und Herren, damit komme ich jetzt zum Thema - ist als Verband und als Polizei des Bundes nach seinem gesetzlichen Auftrag ein unverzichtbarer Garant für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch glaubt die Opposition - ich sage: wieder einmal - Veranlassung zu der Behauptung zu haben, der Bundesgrenzschutz sei zur Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben nicht in der Lage. Ich sage „wieder einmal", weil die Bundesregierung erst im vergangenen Jahr auf eine entsprechende Kleine Anfrage der CDU/CSU eine, wie ich meine, durchaus erschöpfende Antwort gegeben hat. Was soll also der heutige Antrag?
Am Anfang dieses Antrages steht, wie immer, die Frage nach dem Verbandscharakter des Bundesgrenzschutzes, den niemand in Zweifel gezogen hat und den, wie ich sehe, in Zukunft auch niemand in Zweifel ziehen wird. Gewiß gibt es Fragen, Probleme und Schwierigkeiten, die zu überwinden sind. Auf ihre Ursachen komme ich gleich zu sprechen. All dies ist aber in der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der CDU/CSU aus dem Jahre 1978, wie ich meine, überzeugend und klar dargestellt. Deshalb wiederhole ich wiederum meine Frage: Was soll der heutige Antrag? Ich habe den Eindruck, die Opposition will einige ganz klare Tatsachen und einige ganz klare Entwicklungen einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
Erstens. Das Bundesgrenzschutzgesetz mit dem in der Fassung von 1972 festgeschriebenen Aufgabenkatalog enthält neben verbandspolizeilichen Aufgaben eine Fülle von Aufgaben, die nicht durch verbandspolizeilichen Einsatz im alten Stil zu bewältigen sind. Das Bundesgrenzschutzgesetz von 1972 hat diese Erweiterung der traditionellen grenzpolizeilichen Aufgaben um andere Sicherungsaufgaben im Inneren der Bundesrepublik Deutschland bewußt fortgeschrieben. Wir alle haben dem zugestimmt. Daß dies gewisse Konsequenzen haben mußte und gehabt hat, kann 'sicherlich nicht in Zweifel gezogen werden, aber das ist nicht der Kern des Problems. Auch ich erinnere hier unter Punkt 1 daran, daß dies alles, was 1972 Gestalt gewonnen hat, dem gemeinsamen Sicherheitsprogramm der Innenminister aller Länder in der IMK entspricht.
Zweitens. Die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere seit 1976, hat den Bundesgrenzschutz in sehr viel stärkerem Maße als in den vergangenen Jahren zwangsläufig auf Aufgaben hingelenkt, die überwiegend oder nur allein im Einzeldienst zu bewältigen sind. Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß der Bundesgrenzschutz in .den letzten Jahren durch binnenländische allgemeinpolizeiliche Aufgaben zur Unterstützung - nicht zum Ersatz - der Polizeien der Länder gefordert gewesen ist. Ich würde von der Opposition gerne einmal hören, auf welche der zusätzlichen Aufgaben des BGS, die in den letzten Jahren für alle erkennbar zwangsläufig gewesen sind, sie
glaubt verzichten zu müssen oder wo sie Einschränkungen für zulässig hält.
Drittens. Das Personalstrukturgesetz aus dem Jahre 1976, das den Ausbau des Bundesgrenzschutzes als der Polizei des Bundes mit Zustimmung aller Fraktionen erfreulich fortentwickelt hat, mußte Umstellungsschwierigkeiten mit sich bringen. Es hat aber durch die Verbesserung der sozialen Absicherung der Angehörigen des BGS, durch die Verwirklichung des Lebenszeitprinzips das Grundgefüge des BGS ganz eindeutig verstärkt. Wir haben hier gewisse Schwierigkeiten in der Umstellung, die niemand bestritten hat und auch von uns niemand bestreiten wird; aber ich sage noch einmal: Man darf diese Schwierigkeiten hier nicht zum Kern der Debatte machen.
Ich will heute der Einzelberatung im Innenausschuß zu den einzelnen Punkten des Antrages gewiß nicht vorgreifen. Schon jetzt dürfte indessen sicher sein, daß der Antrag der Opposition einer soliden sachlichen Grundlage entbehrt, es sei denn, ich würde die Konzeption des Bundesgrenzschutzes, die sich aus dem BGS-Gesetz und dem Personalstrukturgesetz ergibt, in wesentlichen Positionen in Frage stellen.
Das A und O Ihrer Ausführungen ist immer wieder die Klage über den angeblich bedrohten oder gar verlorengegangenen Verbandscharakter des Bundesgrenzschutzes. Die Verbandsstruktur des Bundesgrenzschutzes hat sich bewährt. Sie wird von niemandem, auch, wie ich weiß, von der Bundesregierung nicht, in Frage gestellt. Ich erinnere nur an die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Bundesregierung. Ich erinnere auch an die Ausführungen, die Innenminister Baum erst vor etwa zwei Wochen vor dem BGS-Verband gerade diesem Thema gewidmet hat.
Schon in der Antwort auf die Kleine Anfrage aus dem Jahr 1978 ist ersichtlich klar dargelegt worden, daß die Umstellung von Einsatzabteilungen in Ausbildungabteilungen die Leistungsfähigkeit des Bundesgrenzschutzes nicht geschwächt, seine Ausbildungskapazität aber verstärkt hat. Gerade diese Verstärkung der Ausbildungskapazität ist aber, wenn man eine Übergangsphase überwunden hat, eine sehr wertvolle und wesentliche Voraussetzung dafür, daß auch die Einsatzfähigkeit des Bundesgrenzschutzes im Verband wie im Einzeldienst in Zukunft noch besser sein wird.
Man kann nach meiner Überzeugung auch nicht daran zweifeln, daß die Neuerrichtung des Grenzschutzkommandos West von der vorgegebenen Sicherheitslage her geboten war. Es läßt sich doch nicht leugnen, daß sich im Gefolge dieser Sicherheitslage, die wir ja alle ganz genau kennen, die Einsatzschwerpunkte des Bundesgrenzschutzes in gewissen Zeiten und in gewissen Bereichen grundlegend verschoben haben. Ich würde es eher für eine Schwächung der Einsatzfähigkeit des Bundesgrenzschutzes gehalten haben, hatte man der besonderen Sicherheitslage im Westen der Bundesrepublik Deutschland - nehmen wir den Raum Bonn als Beispiel - im Rahmen der alten lokalen Strukturen Rechnung tragen wollen. Ich glaube, das hätte nicht gepaßt.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13977
Dann kommen Sie mit den angeblich fehlenden Übungen des BGS in größeren Verbänden. Was ist in den letzten Jahren tatsächlich geschehen? Gerade die vielfachen Großeinsätze, die durch die besondere Sicherheitslage bedingt waren und über den Rahmen der einzelnen Einsatzabteilungen oft hinausgingen und den BGS mit den Polizeien der Länder zu einer gemeinsamen Operation zusammengeführt haben, haben in der Praxis das erbracht, was Sie in der Theorie zu einem wesentlichen Teil zu vermissen meinen. Zusätzliche Übungen größerer Art, etwa im Großverband, hätten in dieser Phase, von der wir ja alle sprechen, die Leistungsfähigkeit des BGS unzumutbar und, wie ich meine, unnötig überfordert.
Zusammenfassend kann man deshalb heute schon folgendes feststellen: Erstens. Die Konzeption des Bundesgrenzschutzes besteht in der doppelten Aufgabe, die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu schützen und zugleich in besonderen Fällen als Sicherheitskräfte zur Unterstützung »der Polizeien der Länder im Innern zur Verfügung zu stehen. Diese neue Konzeption hat ihre Bewährungsprobe in den letzten Jahren glänzend bestanden. Die FDP-Fraktion steht unverändert hinter dieser schon seit Jahren vertretenen Konzeption.
Zweitens. Der grundsätzliche Verbandscharakter des Bundesgrenzschutzes steht »außer Zweifel. Er ist nicht nur verbal erklärt worden, wie Sie, Herr Jentsch, gemeint haben. Ich meine, er ist auch in der Praxis nie in Frage gestellt gewesen.
Drittens. Die Ist-Stärke des Bundesgrenzschutzes ist heute höher als je zuvor.
Viertens. Durch die Einführung des Lebenszeitprinzips im Personalstrukturgesetz ist der Beruf des Grenzschutzbeamten sicherer als je zuvor.
Umstellungsschwierigkeiten waren vorauszusehen. Ihr Ende ist aber absehbar. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Einsatzfähigkeit des Bundesgrenzschutzes hierdurch in keiner Weise vermindert wurde. Ich habe dies schon ausgeführt.
Ich verkenne nicht, daß dies alles von den einzelnen Angehörigen des Bundesgrenzschutzes ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft und Einsatzfreude voraussetzt. Diese Einsatzbereitschaft und diese Einsatzfreude waren unvermindert zu jeder Zeit vorhanden. Sie haben sich in dieser schwierigen Phase praktisch bewährt. Hierfür gebührt allen Angehörigen des Bundesgrenzschutzes unser Dank.
Die Ausstattung des Bundesgrenzschutzes mit modernen Waffen und Fahrzeugen, die zur Durchführung der gesetzlichen Aufgaben notwendig sind, ist nach Zahl und Qualität im Prinzip sichergestellt. Minister Baum hat vor etwa zwei Wochen vor dem BGS-Verband dargelegt, daß lediglich die bestehende Haushaltssituation zu einer stufenweise Ersatzbeschaffung älterer Fahrzeuge Veranlassung gegeben hat. Ich nehme an, »das ist auch die gegenwärtige Situation.
Was der Bundesgrenzschutz braucht, ist eine Phase der Konsolidierung, d. h. praktisch der Ruhe. Dieser Forderung wird man nicht gerecht, wenn man ihn hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit immer wieder öffentlich in Frage stellt. Für diese Forderung müssen oder sollten wir alle in diesem Hause Verständnis haben.
In einer solchen Situation, in der - ich sage das noch einmal - Übergangsschwierigkeiten nicht beschönigt werden sollen, ist der Antrag der Opposition im Grunde nicht verständlich. Bisweilen beschleicht mich bei diesem Tun allerdings die Sorge, daß Sie noch immer dem Modell einer - ich nenne das Wort einmal - paramilitärischen Einheit alten Stils nachtrauern, daß Sie sich von diesem Modell nicht lösen können. Wenn dem so ist, sollten Sie das offen sagen und nicht mit den Thesen des heutigen Antrages Ihr wahres Anliegen verbergen.
Ich halte es nicht für gut, wenn durch eine immerwährende Debatte zum gleichen Thema in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschlands sei durch die gegenwärtige Verfassung des Bundesgrenzschutzes nicht gewährleistet.
Die FDP-Fraktion wird den Antrag der Opposition im Innenausschuß sorgfältig beraten. Ich habe indessen schon heute keinen Zweifel daran, daß sich am Ende dieser Beratung jenes Gesamtbild bestätigen wird, das zu zeichnen ich soeben in kurzen Sätzen versucht habe.
({2})
Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich, Herr Kollege Jentsch, frage mich nach der Motivation Ihres Antrages. Ihre drei Einzelanträge gehen alle ins Leere. Ich werde das im einzelnen ausführen.
Zunächst muß ich mich dagegen wehren, daß Sie der Bundesregierung unterstellen, sie beschönige die Situation. Das tut sie nicht. Wir haben an vielen Stellen - bei Anfragen, die Sie an uns gerichtet haben, und auch in öffentlichen Erklärungen und Reden - keinen Hehl daraus gemacht, wie die Lage des Bundesgrenzschutzes ist. Wir haben nichts zu verbergen. Deshalb bin ich froh darüber, daß wir diese Debatte führen, damit wir endlich auch einmal hier im Deutschen Bundestag Ihren Verdächtigungen entgegentreten können.
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Wir waren gestern abend, als die Sendung von Herrn Löwenthal lief, beim BGS, Herr Jentsch, und haben uns über den Ausbildungsstand der GSG 9 unterrichtet.
Ich frage mich auch, Herr Jentsch: Haben Sie, hat die Offentlichkeit überhaupt einen Anlaß, sich über die Einsatzfähigkeit des BGS zu beklagen? Ist in den letzten Jahren irgend etwas passiert, ein Ereignis, das Sie zu dem Schluß veranlassen könnte, der BGS sei nicht einsatzfähig? Wie kommen Sie dazu, hier die Stimmung auszubreiten, der BGS habe es verdient, jetzt ins Gerede zu kommen?
13978 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Ich frage mich auch - wie meine Vorredner - ernsthaft, ob Sie noch hinter dem Neukonzept stehen, das damals von allen Parteien dieses Hauses getragen und das von Bund und Ländern beschlossen worden ist, hinter einem Neukonzept, das wesentlich bessere Voraussetzungen hinsichtlich der Berufsbedingungen im BGS geschaffen hat - Sie wissen, daß wir den einfachen Dienst abgeschafft haben -, einem Neukonzept, das mit einer wesentlich besseren Ausbildung verbunden ist - zweieinhalb Jahre für die Männer im BGS -, einem Neukonzept, das - und das ist sehr wichtig - dem BGS endlich eine gesicherte Position im Sicherheitsverbund von Bund und Ländern eingeräumt hat.
Ich jedenfalls, Herr Kollege Jentsch, habe nicht den geringsten Anlaß, den BGS zu kritisieren. Ich habe im Gegenteil hier vor dem Deutschen Bundestag festzustellen, daß er seinen Aufgaben bisher vorzüglich gerecht geworden ist und daß er es nicht verdient, in dieser Weise in Kritik gezogen zu werden.
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Wenn ich gesagt habe, wir haben nie verhehlt, daß es Schwierigkeiten gibt, so ist das auch an dieser Stelle. Wir alle wußten ja, daß mit der Umstellung des BGS, daß mit dem neuen Personalstrukturgesetz eine schwierige Umstrukturierungsphase zu bewältigen ist. Auch in den nächsten Jahren, bis etwa 1983, wird die hohe Ausbildungsbelastung, bedingt durch die Berufsförderung für die ausscheidenden Beamten alten Rechts und durch die gleichzeitige zweieinhalbjährige Ausbildung der Polizeibeamten neuen Rechts, andauern. Dies muß festgehalten werden. Das ist so, und das fordert dem BGS und den in ihm Tätigen große Leistungen ab. Von 1976 bis 1984 müssen insgesamt 13 000 Beamte neu ausgebildet werden, 13 000 Beamte, das sind etwa 1 600 pro Jahr, das ist, meine Damen und Herren, mehr als die Hälfte des gesamten Bestandes. Und das innerhalb von acht Jahren! Ich frage Sie, welcher Verband eine solche Last in einer so kurzen Zeit zu bewältigen gehabt hat, wie das beim BGS bisher ohne Beanstandung der Fall war, wobei auch noch, Herr Kollege Jentsch, die Phase der angespannten inneren Sicherheit zu berücksichtigen ist; denn es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß der BGS in den Jahren 1977/78 bis heute außerordentlich gefordert worden ist und daß er auch alle diese Anforderungen erfüllt hat.
Sie haben behauptet, der BGS baue den Verbandscharakter ab; der Abbau des Verbandscharakters des BGS müsse beendet und der Verbandscharakter wieder hergestellt werden. Ich möchte das unterstreichen, was einer meiner Vorredner gesagt hat: Dies ist eine Gespensterdiskussion. Auch in Ihrem Antrag sprechen Sie wieder von der Wiederherstellung des Verbandscharakters. Sagen Sie uns doch bitte: Was verstehen Sie unter Verbandscharakter? Ist das eine sehnsüchtige Erinnerung an die Zeiten, in denen nicht Polizeivollzugsbeamte, sondern Wehrdienstpflichtige im BGS tätig waren? Was verstehen Sie unter Verbandscharakter?
Ich möchte Ihnen sagen, was ich darunter verstehe. Die organisatorische Gliederung des BGS ist seit seiner Gründung im wesentlichen unverändert geblieben. Natürlich ist der BGS auch heute noch überwiegend verbandsmäßig gegliedert, und Sie wissen, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird. Die beiden neuen Abteilungen in Frankfurt und Karlsruhe werden in Verbandsform aufgestellt. Von den 2 666 Planstellen, die dem BGS im Rahmen des Ausbauprogramms innere Sicherheit zuwachsen, gehen 2 205 zu den Verbänden und nur 461 zum Grenzschutzeinzeldienst. Ich kann nur wiederholen, was ich schon mehrfach öffentlich gesagt habe: Niemand wird sagen können, der Verbandscharakter des BGS werde dadurch aufgegeben, daß wir die BGS-Wache beim Bundesverfassungsgericht teilweise einzeldienstlich organisiert haben und dies auch für die künftige Bewachung etwa des Gästehauses der Bundesregierung prüfen.
Alle Aufgaben, die den BGS-Verbänden übertragen worden sind, nehmen sie aus dem Verband heraus wahr. Dies gilt für die Aufgaben an der Grenze, also die Streifen an der Grenze - etwa 60 Prozent der Aufgaben liegen nach wie vor dort -, ebenso wie für die Aufgaben im Personen- und Objektschutz. Wo es die Situation erfordert, wird der BGS auch im Verband eingesetzt. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, und das Beispiel, das uns allen vor Augen steht, ist Gorleben, wo der BGS im Verband eingesetzt wird. Daß dies auch bei der derzeitigen hohen Einsatz- und Ausbildungsbelastung jederzeit möglich und der BGS dazu jederzeit in der Lage ist, hat er an verschiedenen Stellen unter Beweis gestellt.
Der Verbandscharakter des BGS darf aber nicht verhindern, daß der Einsatzwert des BGS voll genutzt wird. Es trifft sicherlich zu, daß die große Ausbildungs- und Einsatzbelastung dazu zwingt, Einsatzschwerpunkte zu bilden. Das gilt für den BGS ebenso wie für die Polizeien der Länder. Natürlich ist auch in diesem Zusammenhang, Herr Kollege Jentsch, die Zahl der Grenzstreifen und der Grenzüberwachungsflüge im Jahr 1978 im Vergleich zu 1977 zurückgegangen. In Ihrer Statistik haben Sie aber nicht erwähnt, daß es auch noch die Bayerische Grenzpolizei und den Zoll gibt, die auch an der Grenze zur DDR tätig sind. Dieser Rückgang läßt noch lange nicht den Schluß zu, der BGS sei nicht in der Lage, eine präzise Sicherung der östlichen Grenzen zu gewährleisten. Die Verbände des BGS nehmen die Grenzsicherungsaufgaben nach wie vor sehr ernst. Stärke und Dauer der Präsenz an den Grenzen sind aber von der jeweiligen regionalen und überregionalen Sicherheitslage abhängig, und es muß auch hinzugefügt werden, daß sich die Lage durch die Grenzfeststellung, die gemeinsam mit der DDR getroffen werden konnte, an manchen früher umstrittenen Abschnitten so entschärft hat, daß dem auch bei der Streifentätigkeit an der Grenze Rechnung getragen werden konnte.
Wer fordert, daß wir die Einzeleinsätze der Verbände im Personen- und Objektschutz noch weiter
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13979
zugunsten anderer Aufgaben einschränken, der muß gleichzeitig sagen, wo diese Einsätze abgebaut werden sollen. Herr Kollege Jentsch, soll das etwa im Personenschutz, bei der Sicherung deutscher Auslandsvertretungen oder bei der Lufthansa erfolgen? Welche Vorschläge machen Sie hier?
Ich bejahe also den Verbandscharakter, aber er besteht für mich nicht darin, daß ein großer Teil der BGS-Angehörigen an der Grenze in Kasernen auf seine Aufgabe wartet, sondern ich bin der Meinung, daß sie auch im täglichen Bedarf eingesetzt werden müssen. Sie sind eben nicht so verfügbar, wie Sie sich das vorstellen. Sie werden nach Bedarf zusammengesetzt. Nichts anderes war geplant und nichts anderes ist vernünftig.
Es trifft zu, daß Vollübungen im großen Verband zur Zeit nicht stattfinden. Das läßt die hohe Einsatz- und Ausbildungsbelastung nicht zu. Es werden in Kürze wieder Übungen auf Einsatzabteilungsebene stattfinden. Ich möchte in diesem Zusammenhang Ihren Blick auf die „gute alte Zeit" - wie es so schön heißt - im BGS lenken. Ende der 50er und in den 60er Jahren hielt der BGS Übungen mit großem Aufwand an Menschen und Material ab. Aber damals, Herr Kollege Jentsch, war der BGS ein Verband mit nur wenigen Aufgaben. Heute, nach dem Bundesgrenzschutzgesetz von 1972, hat der Bundesgrenzschutz eine Fülle von Aufgaben. Ich bejahe diese Aufgaben und ich möchte auch, daß er diese Aufgaben wahrnimmt.
Ein Wort noch zur verbandsmäßigen Führung. Der Polizeiführer trägt auch nach meiner Auffassung die Verantwortung für Führung und Einsatz seines Verbandes. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß die Beamten des BGS dem Personalvertretungsgesetz unterliegen, eine geregelte Arbeitszeit haben, und ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, außerhalb der BGS-Unterkunft zu wohnen. Wollen Sie daran etwas ändern, Herr Jentsch? Ich möchte daran nichts ändern.
Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, daß es vor allem diese Regelungen sind, also Fragen der Führung der Verbände, die hinter der Frage nach der Wiederherstellung des sogenannten Truppencharakters stehen. Hierzu stelle ich eindeutig fest: Die Mitwirkung der Personalvertretung, die geregelte Arbeitszeit, das Wohnen außerhalb der Unterkünfte beeinträchtigen. die verbandsmäßige Führung des BGS, wie ich sie verstehe, nicht.
Andererseits darf die klare Einordnung als Polizei - das möchte ich ebenso eindeutig feststellen - nicht mißverstanden werden als Abbau von Einsatzwert, innerer Geschlossenheit und Disziplin, die den BGS auch weiterhin auszeichnen werden.
Ein Wort noch, Herr Kollege Jentsch, zu der Verringerung der Zahl der geschützten Sonderwagen. Sie haben in Ihrem Antrag behauptet, die Bundesregierung wolle mit der haushaltsbedingten Verringerung der Ersatzbeschaffung der geschützten Sonderwagen den Einsatzwert des BGS bewußt schwächen. Ich möchte demgegenüber erklären: Für die besonderen Aufgaben des BGS, die sich teilweise deutlich von denen der Bereitschaftspolizei unterscheiden, ist zur Abwehr von Gefahren und schweren Störungen der öffentlichen Sicherheit die Ausstattung mit geschützten Kraftfahrzeugen in ausreichender Zahl unerläßlich. Nach der Konzeption, die im Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland von 1974 niedergelegt ist, kommt ein Einsatz des BGS insbesondere in Lagen, in denen die Kräfte der Bereitschaftspolizei zur Beseitigung ernster Störungen nicht ausreichen, in Betracht. Die Länder erwarten in solchen Fällen auf Grund des Sicherheitsverbundes Unterstützung durch den BGS auch mit geschützten Fahrzeugen.
Die Bundesregierung steht nach wie vor hinter dieser Konzeption und denkt nicht daran, sie zu ändern. Der BGS verfügt über einen Bestand von 513 Sonderwagen. Aus fachlichen Erwägungen halte ich eine Ausstattung mit Sonderwagen im bisherigen Umfange grundsätzlich weiterhin für zweckmäßig. Allerdings wird kein vernünftiger Mensch sich dagegen sperren können, daß diese Ersatzbeschaffung in Stufen erfolgt. Ich möchte auch darauf hinweisen, daß eine fachgerechte Entscheidung über Fahrzeugtyp und Fabrikat erst im Jahre 1980 erfolgen kann.
Ein Wort noch zum angeblichen personellen Engpaß. Auch insoweit geht Ihr Antrag in die Leere. In personalwirtschaftlicher Hinsicht kann von einem Engpaß derzeit keine Rede sein, weil die vorhandenen Planstellen des BGS nahezu vollständig besetzt sind. Es gibt ein geringes Fehl von etwa 500 Beamten; im rechnerischen Jahresdurchschnitt ist dies bei einer Sollstärke von 22 384 überhaupt nicht zu vermeiden. Es ist bei dieser Situation zu berücksichtigen, daß die Zahl der noch in Ausbildung befindlichen Beamten neuen Rechts gegenüber den für verbandsmäßige Einsätze uneingeschränkt verfügbaren Polizeivollzugsbeamten im Moment noch sehr hoch ist. Dies ist jedoch eine geradezu zwangsläufige und unvermeidbare Folge des gesetzlichen Auftrages des BGS, ohne eine Übergangsphase die alte Struktur durch eine völlig neue Struktur zu ersetzen.
Ich wiederhole: Wir haben und werden zwischen 1976 und 1984 insgesamt 13 000 Beamte, mehr als die Hälfte des Bestandes des BGS, neu ausbilden müssen. Ich wiederhole auch, daß ein weiterer Abbau der Einzelabordnungen für die Bundesregierung unvertretbar ist. Die Bundesregierung hat alle Maßnahmen getroffen, die sie nach ihrer Ansicht treffen mußte und konnte.
Ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß mit der Vermehrung der Aufgaben des BGS eine stetige Personalvermehrung einhergegangen ist. In der Zeit von 1969 bis 1979 ist die Sollstärke des BGS von 19 543 Planstellen auf 22 384 Planstellen gestiegen, also eine Aufstockung um 2 841. Im Jahre 1980 werden weitere 885, im Jahre 1981 noch einmal 635 Planstellen hinzukommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Vergangenheit werfen. In den Jahren zwischen 1960 und 1970, in einer Zeit also, in der die heutige Opposition Regierungsverantwortung trug, belief sich die Iststärke des BGS zeitweilig auf
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14 000 Mann, heute sind es etwa 22 000 Mann. Wir haben heute eine Stärke des BGS, wie es sie vorher nie gegeben hat.
Die Nachwuchssituation kann heute als gut bezeichnet werden. Obwohl die Bewerberlage 1979 leicht zurückgegangen ist, wird das Einstellungsziel für dieses Jahr erreicht.
Auch ich möchte ein Wort an die Länder richten und möchte bitten, daß Bayern möglichst bald die vorbereitete Vereinbarung unterzeichnet. Wir haben ein dringendes Interesse daran, daß unsere Beamten, die ja in die Polizeien der Länder übergehen sollen, eine Sicherheit bekommen, daß dies auch fristgemäß geschehen kann. Ich appelliere also an die Länder, ich appelliere insbesondere an den Freistaat Bayern, zu den Absprachen zu stehen, die wir, Bund und Länder, damals gemeinsam getroffen haben.
I Zusammenfassend möchte ich feststellen: Der Bundesgrenzschutz ist allen an ihn gestellten Anforderungen bisher gewachsen gewesen. Ich bin sicher, daß dies auch in Zukunft so sein wird. Organisation, Ausstattung und Ausbildung garantieren eine leistungsstarke qualifizierte Bundespolizei, die auch künftig einen Beitrag zur inneren Sicherheit unseres Landes leisten kann. Es ist keine Rede davon und kann keine Rede davon sein, daß der BGS nur bedingt einsatzfähig sei. Schon heute steht er besser da als vor der Umstrukturierung im Jahre 1972.
({2})
Der BGS ist ein unentbehrlicher Teil des Sicherheitsverbundes zwischen Bund und Ländern. Ich sage mit allem Nachdruck: Wir werden uns nicht beirren lassen beim konsequenten Ausbau des BGS zu einer einsatzfähigen Bundespolizei.
Durch das Personaistrukturgesetz wird die Leistungsfähigkeit des BGS weiter gesteigert werden. Alle Maßnahmen, die wir seit 1972 vorgenommen haben, dienten der Entwicklung des Bundesgrenzschutzes zu einer Bundespolizei, die unbestritten im Sicherheitsverbund zwischen Bund und Ländern ihre Aufgabe wahrnimmt.
Herr Kollege Jentsch, ich fordere Sie auf: Sagen Sie deutlich, was Sie wollen! Ihre in Ihrem Antrag genannten drei Positionen, die Sie dem Parlament vorgelegt haben, gehen absolut ins Leere. Was wollen Sie? Wollen Sie jetzt Ihrerseits den Bundesgrenzschutz ins Gerede bringen, oder wollen Sie zu einem erfolgreichen Abschluß dieser Umstrukturierungsphase beitragen?
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat hat Ihnen vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/3131 an den Innenausschuß - federführend - sowie an den Haushaltsausschuß - mitberatend - zu überweisen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hennig, Baron von Wrangel, Graf Huyn, Böhm ({0}), Lintner, Graf Stauffenberg, Dr. Abelein, Jäger ({1}) und der Fraktion der CDU/CSU
Sicherheit der Transitreisenden - Drucksache 8/2570 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Interfraktionell ist eine Kurzdebatte vereinbart worden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hennig.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte einleitend nichts über Präsenz sagen, obgleich es mir nach drei Jahren immer noch schwerfällt, mich daran zu gewöhnen. Ich werde mich auch nicht daran gewöhnen; haben Sie keine Sorge. Was mich aber stört und war mir mißfällt, ist, daß der eigentliche Delinquent noch nicht da ist, daß es nämlich der Kollege Egon Bahr, der genau weiß, was heute hier verhandelt wird, und der manche Dinge als einziger aufklären könnte, dennoch nicht für nötig hält, heute hier zu erscheinen.
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- Ja, auch der Kollege Wehner ist da und wird ihn gebührend vertreten.
Wir haben ja schon oft darüber gesprochen, daß es eine amateurhafte Verhandlungsweise war, gewisse Dinge unter vier Augen zu besprechen, so daß es andere Augenzeugen über diesen Sachverhalt nicht gibt.
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Nun ist die Frage: Wer hat dort recht, Egon Bahr mit dem, was er damals als Staatssekretär im Bundeskanzleramt erklärte, oder die Bundesregierung, die heute etwas anderes erklärt? Das ist der eigentliche Hintergrund unseres Antrags.
Dieser Antrag zum Thema Sicherheit der Transitreisenden ist von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrigens bereits am 14. Februar 1979 eingebracht worden. Er berührt ein empfindliches Gebiet. Ich weiß dies, und ich werde das bei dem, was ich hier sage, berücksichtigen. Andererseits berührt er aber Dinge, die für die Bundesregierung und insbesondere für den damaligen Verhandler, nämlich Egon Bahr, von höchster Peinlichkeit sind. Davon muß hier gesprochen werden; denn es besteht der schwere und von mir zu erhärtende Verdacht, daß der Staatssekretär im Bundeskanzleramt das Parlament bewußt getäuscht hat.
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Die Alternative dazu ist, daß die Bundesregierung seit 1971 eine gravierende Einschränkung des Transitabkommens mit der DDR hingenommen hat, ohne das gebührend zu kritisieren und auch öffentlich sichtbar zu machen, daß dort etwas passiert ist. Sie haben höchstens eine dritte Möglichkeit,
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daß nämlich beide Alternativen stimmen könnten. Das mag wohl auch sein.
Worum geht es im Kern? Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat mit Datum vom 29. Januar 1979, also Anfang dieses Jahres, eine offizielle Pressemitteilung herausgegeben, in der es heißt, daß DDR-Bewohner, die nach dem 31. Dezember 1971 geflüchtet sind, bei einer beabsichtigten Benutzung der Transitwege von und nach Berlin unter Umständen von den Behörden der DDR festgenommen werden können. In einer Sendung des ZDF, und zwar genau gesagt in „Kennzeichen D" vom 25. Januar, sei „irrtümlich" - so Herr Franke in der Mitteilung aus seinem Hause - behauptet worden, diese Personen könnten lediglich zurückgewiesen werden. „Irrtümlich", meine Damen und Herren!
Im Dezember 1971 hat Egon Bahr als verantwortlicher Verhandlungsführer und Staatssekretär im Kanzleramt dem Parlament das Gegenteil versichert - und deswegen dieser unser Antrag! Er hat ausdrücklich gesagt, die DDR habe sich darauf festgelegt, daß diejenigen, die die DDR verlassen hätten, die Transitstrecken benutzen könnten. Es sei in einer für die DDR verbindlichen Art geklärt, daß diese Personen nicht einmal zurückgewiesen, geschweige denn festgenommen würden. Das betreffe rund 2,5 Millionen Menschen - so hat er uns damals im Brustton der Überzeugung verkündet. Das Schlimme ist: Er hat damals hinzugefügt, es sei eine besondere Schwierigkeit in den Verhandlungen gewesen, dies nicht nur im Prinzip zu erreichen; die DDR habe vielmehr zunächst darauf aufmerksam gemacht, dies könne nur mit dem Datum der Unterschrift unter das Abkommen fixiert werden, also per Ende 1971, da man die Bestimmung ohne ein fixiertes Datum als eine indirekte Anregung zur Flucht ansehen könnte, da niemand von der Benutzung der Transitwege ausgeschlossen werde. In einer besonderen Anstrengung - so hat er uns erzählt, hat er dem Parlament weisgemacht - sei die Fixierung auf das Datum herausgebracht worden, so daß die vorliegende Regelung unbegrenzt sei.
Egon Bahr hat dies sogar noch einmal bekräftigt und hat gesagt, daß selbst in dem Fall, daß jemand in der DDR einen Bankraub begehe, in die Bundesrepublik flüchte und nach einiger Zeit wieder die Transitwege benutzen wolle, der Betreffende dann nicht festgenommen werden könne, sondern zurückgewiesen und allerdings der westdeutschen Polizei gemeldet werde. So wörtlich Egon Bahr - und das ist nun alles offensichtlich nicht mehr wahr. Nun wollen wir wissen: Was stimmt? Alle diese Fragen sind bis ins letzte Detail 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR abschließend geregelt worden - so hat man uns gesagt. Sie sind Teil des Transitabkommens und damit, wie die drei wesentlichen Botschafter nach Paraphierung der Dokumente erklärt haben, Teil der zweiten Stufe der insgesamt dreistufigen Berlin-Regelung von 1971/72. Ihre befriedigende Beantwortung war Vorbedingung für die Unterzeichnung des Viermächte-Schlußprotokolls. Da gehört das mit hinein.
Der Schutz der Transitreisenden vor unbegründeten Zwangsmaßnahmen ist von der Bundesregierung in diesem schönen Buch „Die Berlin-Regelung", in das man immer wieder einmal hineinschauen sollte, auf Seite 301 als die „Magna Charta des Transitreisenden" bezeichnet worden. Diese Magna Charta wird nun willkürlich verletzt, und die Bundesregierung protestiert nicht nur nicht dagegen, sondern sie weist die darüber korrekt berichtenden Journalisten zurecht. Dies ist ja nicht das erste Mal, daß wir etwas Derartiges erleben.
Meine Damen und Herren, es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß Egon Bahr und mit ihm die gesamte Bundesregierung durch diese Vorgänge schwer belastet worden sind.
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Die Kernfrage ist: Was ist denn mit den Flüchtlingen, die die DDR nach dem 31. Dezember 1971 verlassen haben? Dürfen sie die Transitwege benutzen oder nicht?
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Wenn sich diese Flüchtlinge an das Innerdeutsche Ministerium oder an den Innensenator in Berlin wenden, bekommen sie Auskünfte, die nicht sonderlich klar sind. Dazu gibt es ein Merkblatt der Bundesregierung, das auf Anforderung verschickt und verteilt wird, in dem es heißt, daß das ungenehmigte Verlassen der DDR mit Strafe bedroht sei und unter Umständen noch nachträglich zur Festnahme führen könne. - Hört! Hört! kann ich nur sagen; das haben wir damals anders gehört.
In diesem Merkblatt heißt es weiter, daß Personen, die bis zum 31. Dezember 1971 die DDR ohne Genehmigung der dortigen Behörden verlassen haben, hiervon nicht betroffen sind.
Wir fragen und wollen dies im Ausschuß, der das dann zu beraten haben wird, gern einmal von Egon Bahr persönlich hören: Was ist mit denen, die danach geflüchtet sind und mit denen er sich damals gebrüstet hat? Das sind ja schließlich Tausende.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt ein Punkt hinzu, der diese Sache besonders heikel macht. Ich sprach davon, daß sich Geflüchtete an die Behörden hier oder in Berlin wenden .und Auskünfte bekommen, die nicht sonderlich klar sind. Im Zweifel wird ihnen abgeraten, die Transitwege zu benutzen. Ein solcher Flüchtling - er hat mich ausdrücklich ermächtigt, das hier vorzutragen - hat einen Deutschlandexperten aus der SPD-Bundestagsfraktion angeschrieben und ihn gefragt, was er in dieser Situation machen soll.
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- Das ist der Kollege Dübber. Sie werden nicht bestreiten, daß er einiges von diesem Thema versteht. Um so bedenklicher ist die Antwort, die dieser Mann bekommen hat. Der Kollege Dübber schrieb:
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Die Antworten, die Sie von den verschiedenen Stellen bisher in Ihrer Angelegenheit erhalten haben, lassen sich schwerlich beanstanden, denn sie entsprechen der geltenden Rechtslage.
- Daß man also nicht fahren dürfe, heißt das.
Ich kann Ihre Situation persönlich verstehen. Ich habe mich Anfang der 50er Jahre in einer vergleichbaren Situation befunden.
Es handelt sich um einen Studenten in Berlin. Das ist der ernste Hintergrund dieser Sache. Der Kollege Dübber fügt dann noch hinzu, daß dem Fragesteller finanziell leider nicht geholfen werden könne. Er darf also nicht fliegen und müßte eigentlich die Transitwege benutzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen zum Schluß vor Augen führen, was der letzte Satz des Kollegen Dübber letzten Endes bedeutet, den er diesem Mann schrieb, einem im Jahre 1975 geflüchteten, der dabei nichts verbrochen hat, der nicht aus der Nationalen Volksarmee desertiert ist, also niemand, der unter diese speziellen Dinge fallen könnte, ein ganz normaler Flüchtling. Er erhält die Antwort:
Wenn Sie dies alles bedenken, müßten Sie vielleicht der Überzeugung nähertreten, ob nicht die Wahl des Studienplatzes Ihre Situation verändern könnte.
Das heißt doch wohl, in schlichtes Deutsch übersetzt: Solche Leute, die aus der DDR geflüchtet sind, sollten in Berlin nicht mehr studieren, sollten dort gar nicht mehr hingehen, weil sie das nicht ohne Gefährdung auf den Transitwegen tun können. Dies ist ein sehr ernster Punkt, meine Damen und Herren, der von einem Ihrer führenden Experten auf diesem Gebiet geltend gemacht wird. Darüber wird im Ausschuß bei den Beratungen über diesen unseren Antrag intensiv zu reden sein.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulze.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Man könnte eigentlich versucht sein, auf das einzugehen, was Herr Kollege Hennig hier gesagt hat, nur möchte ich ungern in den schlechten Stil, den er uns vorgemacht hat, verfallen.
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Insofern will ich mich auf das Sachliche begrenzen. Wir können ja dann im Ausschuß noch eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte nur noch eines vorweg bemerken: Das, was Sie mit dem Kollegen Bahr gemacht haben, indem Sie das Wort Delinquent und ähnliches gebrauchten, halte ich wirklich ernsthaft für einen schlechten Stil.
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Vielleicht können wir so etwas demnächst heraus lassen.
Der Ältestenrat, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat für diesen Antrag eine Behandlung vorgesehen, die eine nähere inhaltliche Erörterung jetzt im Plenum für meine Begriffe nicht zuläßt.
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Daran will ich mich selbstverständlich halten. Dies war die Vereinbarung, Herr Kollege, nämlich die Redezeit so festzulegen.
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Es geht mir jetzt .nur darum, etwaige Mißverständnisse - Herr Kollege Hennig hat sie, so meine ich, schon angedeutet - oder Unsicherheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Insbesondere bei den Transitreisen könnte der Eindruck bestehen, daß dies alles nur noch unsicher ist. Ich sage: vom Antrag her könnte der Eindruck entstehen. Ich habe immer noch die Hoffnung, daß es von Ihnen nicht so gemeint war.
Wer sich beim Stichwort „Sicherheit der Transitreisen" beunruhigt oder jedenfalls unbehaglich fühlt, dem möchte ich gerne folgendes vor Augen führen: Der Antrag, um den es hier geht, ist unter dem Eindruck der Festnahme des Transitreisenden Jablonski am 18. Dezember 1978 eingebracht worden. Es stimmt auch, daß der Antrag schon sehr lange hier liegt. Aber dies war nicht unsere Entscheidung, sondern eine Entscheidung des Ältestenrätes.
In der Zwischenzeit haben wir über die näheren Umstände dieses bedauerlichen Falles erfahren: Herr Jablonski ist 1962 als Soldat der DDR geflüchtet und hat bei seiner Flucht
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einen Kameraden hinterrücks erschossen und ist deswegen in der Bundesrepublik wegen Mordes rechtskräftig verurteilt worden. Außerdem hat ihn das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vor Reisen in die DDR oder durch die DDR schriftlich gewarnt. Warum Herr Jablonski unter diesen Umständen doch die Landwege nach Berlin benutzt hat und sogar nach Ost-Berlin weiter wollte, ist allen, die damit befaßt sind, bis heute unerfindlich.
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Immerhin zeigen diese Einzelheiten, wie extrem dieser Fall gelagert ist und daß aus ihm keine generellen Schlüsse gezogen werden können. Das ist das eine.
Zum anderen gilt - dies will ich auch noch einmal deutlich machen -: Das Viermächteabkommen und das Transitabkommen gewährleistet nicht nur einen reibungslosen Ablauf des Transitverkehrs von und nach Berlin, sondern sie bieten dem einzelnen Reisenden auch einen sicheren Schutz. vor unvorhersehbaren Festnahmen. Die geringe Bedeutung - ich sage geringe Bedeutung, weiß aber
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Schulze ({6})
trotzdem, was Festnahme wirklich heißt -, die den Festnahmen in der Praxis des Alltags zukommt, wird am besten aus folgenden Zahlen deutlich: Vom Inkrafttreten des Viermächteabkommens und des Transitabkommens an, also vom 3. Juni 1972 an, bis zum 31. August 1979 haben Reisende die Transitwege von und nach Berlin insgesamt etwa 110 Millionen Mal in beiden Richtungen benutzt. Während dieser gut sieben Jahre wurden insgesamt 983 Personen durch DDR-Organe festgenommen, von denen bis heute 763 entlassen wurden. Festgenommen werden darf ein Reisender gemäß Artikel 16 des Transitabkommens nur im Fall des Mißbrauchs der Transitwege. Die DDR hat hierbei für sich jedoch betont, das könne in dieser Absolutheit nicht für geflüchtete Militärpersonen gelten. Ferner hat die DDR nach dem Inkrafttreten des Transitabkommens erklärt, der genannte Grundsatz gelte nicht für solche Flüchtlinge, die die DDR nach dem 31. Dezember 1971 verlassen hätten.
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Trotz dieser Erklärung der DDR gibt es eine verläßliche und eingeführte Praxis, die die Bundesregierung befähigt, auch bei den genannten Personengruppen konkrete Ratschläge hinsichtlich der Benutzung der Transitwege von und nach Berlin zu erteilen. Dies geschieht fortlaufend.
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Ferner: Über beide Probleme ist die Öffentlichkeit informiert. Das vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen herausgegebene und in großer Auflage verbreitete blaue Merkblatt, das hier schon zitiert worden ist, empfiehlt den Angehörigen dieser beiden Personengruppen ausdrücklich, vor Antritt der Reise einen Rat des genannten Bundesministeriums oder des Innensenators von Berlin einzuholen.
Über die Gründe, die zu den Ausnahmeregelungen geführt haben, hat die Bundesregierung den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen mehrere Male umfassend unterrichtet, letztmals am 20. Juli 1979 durch den Parlamentarischen Staatssekretär Kreutzmann. Auch über den Fall Jablonski ist im Ausschuß gesprochen worden.
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Wer heute die damalige Verhandlungsführung kritisieren will, sollte sich vor Augen halten, daß sowohl das Viermächteabkommen als auch das Transitabkommen nach der Natur der Sache nur ein Kompromiß zwischen den Maximalforderungen beider Seiten sein konnten.
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- Herr Bahr hat es nicht anders erzählt. Das können Sie nachlesen, Herr Kollege Jäger.
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Die Sowjetunion und die DDR einerseits sowie die drei Westmächte und die Bundesrepublik andererseits sind Staaten mit derart unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, daß die Auffassungen über einen freien Reiseverkehr beim besten Willen nicht auf einen Nenner gebracht werden können.
Ein letztes, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Vor diesem Hintergrund muß der Umstand gesehen werden, daß die DDR solche Personen nicht gern durch ihr Territorium fahren sieht, die sie selber als ihre eigenen Staatsbürger betrachtet
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oder die als ihre Soldaten desertiert sind. Für den letzten Punkt wird man sogar Verständnis aufbringen können.
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Denn nach meiner Einschätzung duldet es kein Staat der Welt, daß seine desertierten Soldaten durch das eigene Territorium fahren und dabei eventuell sogar Schutz vor Festnahme genießen.
Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, den Entschließungsantrag dem Innerdeutschen Ausschuß zu überweisen. Ich stimme diesem Vorschlag namens meiner Fraktion ausdrücklich zu, weil ich glaube, daß wir dort sehr ernsthaft und vielleicht ohne sehr viele Emotionen darüber reden können.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ludewig.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen der CDU und der CSU im Innerdeutschen Ausschuß und die Fraktion der CDU/ CSU haben einen Antrag zum Thema Sicherheit der Transitreisenden gestellt. Ein solches Thema zur Diskussion zu stellen und darüber vor der Offentlichkeit zu sprechen, ist legitim und im Augenblick vielleicht sogar sehr angebracht, damit etwaige Verunsicherungen beseitigt werden können. Niemand sollte sich verunsichern lassen. Es besteht kein Grund zur Besorgnis.
Deshalb begrüße ich die heutige Kurzaussprache. Ich erlaube mir den Hinweis, daß der Auslöser der Fall Jablonski war. Ich gehe etwas darauf ein. Staatssekretär Höhmann hat uns am 17. Januar 1979 im Innerdeutschen Ausschuß einen aktuellen Bericht gegeben. Damals lag das Ereignis der Festnahme am 18. Dezember 1978 nur kurz zurück. In der Offentlichkeit herrschte weithin der Glaube vor, ein Unschuldiger bzw. jemand, der für seine Tat schon einmal gebüßt hat, wäre auf der Transitstrecke nach Berlin innerhalb der DDR widerrechtlich festgenommen worden. Am 20. Juni 1979 hatten sich die Wogen noch nicht geglättet. Das ist der Tag, an dem Staatssekretär Dr. Kreutzmann uns einen weiteren Bericht gegeben hatte. Damals war die Verurteilung des Günter Jablonski wenige Tage alt!
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Ich bringe hier, damit jeder versteht, wovon wir reden, noch einmal die Fakten: Er war 1962 als Angehöriger der Nationalen Volksarmee in der DDR auf Streife. Er hat seinen Streifenführer erschossen und ist in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet. Am 14. Dezember 1962 hat ihn das Jugendgericht Schweinfurt zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt; er war 18 Jahre und vier Monate alt. Er hat sechs Jahre davon abgesessen. 1974 hat er dann die Bundesregierung gefragt, ob er in die DDR fahren oder durch die DDR fahren könnte. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat ihm gesagt, ein Besuch in der DDR und die Benutzung der Transitstrecke durch die DDR nach West-Berlin seien ihm nicht zu empfehlen.
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- Ich will Sie ja nicht widerlegen, Herr Dr. HennIg, ich will bei dieser Gelegenheit vor der Öffentlich nur einmal die Fakten ausbreiten. Ich meine, es käme dann praktisch klar zum Ausdruck, daß wir uns möglicherweise über Dinge aufregen, die der Aufregung nicht wert sind. - Auch Freunde und Bekannte in Leipzig, vom Schwiegervater gefragt, hatten abgeraten. Trotzdem hat der Betroffene seine Reise am 18. Dezember angetreten. Er wollte nach West-Berlin fahren; er ist verhaftet worden. Am 7. Juni hat der Prozeß vor dem Militärobergericht in Berlin stattgefunden. Die Anklage lautete: vorsätzliche Tötung und Fahnenflucht. Die Verhandlung war nicht öffentlich, die Urteilsverkündung dagegen war öffentlich. Das Urteil vom 12. Juni 1979 lautet auf „lebenslänglich" . Für die Urteilsbegründung wurde die Öffentlichkeit wieder ausgeschlossen; ich habe die nächsten Zeilen deshalb auch gestrichen.
Die Kernfrage für uns lautet natürlich: Hätte der Betroffene festgenommen werden dürfen oder nicht? „Wie ist die Rechtslage?", fragt sich auch der juristische Laie. Wir sind beim Ausdeuten dieser und jener Äußerung aus den Verhandlungen. Für mich hat es sich gelohnt, daß ich das Protokoll vom 20. Juni noch einmal ausführlich und genau nachgelesen habe. Ganz zweifellos hat die Verhaftung des Günter Jablonski auch bundesrepublikanische Stellen zur Überprüfung sämtlicher bis dahin getroffener Vereinbarungen und Protokolle veranlaßt. Das kann uns ja gemeinsam beruhigen, Herr Dr. Hennig. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat am 29. Januar eine zweimal erwähnte Pressemitteilung herausgegeben, nach der alle DDR-Bewohner, die nach dem 31. Dezember 1971 geflüchtet sind,
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von den Behörden der DDR unter Umständen festgenommen werden könnten.
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Die Opposition sieht darin einen Widerspruch zur Aussage von Herrn Bahr, den sie mit dem Ausspruch zitiert hat:
Selbst ein Bankräuber, der in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet ist, könnte auf den Transitwegen nicht festgenommen werden, sondern er könnte höchstens zurückgewiesen und der Polizei gemeldet werden.
Die Deutsche Demokratische Republik hat ihren Standpunkt folgendermaßen dargelegt: Erstens. Der Schutz vor Festnahmen auf den Transitstrecken könne sich nicht auf ihre eigenen Staatsbürger beziehen - Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR vom 20. Februar 1967. Im Zusammenhang mit dem Verkehrsvertrag wurde am 16. Oktober 1972 ein neues Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft erlassen. Diesem Gesetz zufolge werden alle Flüchtlinge, die vor dem 1. Januar 1972 die Deutsche Demokratische Republik verlassen haben, aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen. Faktum ist, daß bei Abschluß des Transitabkommens dieses Gesetz in der DDR noch nicht in Kraft getreten war. Nach DDR-Auffassung zur Zeit der Verhandlungen über das Transitabkommen waren alle Flüchtlinge noch Bürger der DDR, und sie sollten keinen Schutz genießen. Es handelte sich zu dieser Zeit um zirka 2,5 Millionen Personen.
Das war für die Bundesregierung unannehmbar. Die Bundesregierung hat es durchgesetzt, daß auch Flüchtlinge die Transitwege benutzen können, es sei denn, sie hätten schwere Straftaten begangen, und zwar erstens gegen das Leben, zweitens gegen die Gesundheit eines Menschen oder drittens gegen das Eigentum. Festgelegt wurde, daß die dafür vorgesehene Maßnahme die Zurückweisung und nicht die Festnahme sein sollte.
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Wenn man zusammenfaßt: Wer vor dem 31. Dezember 1971 aus der DDR geflüchtet ist, hat wegen dieser Flucht keine Strafe zu erwarten. Darunter fallen nicht die Personen, die nach dem 31. 12. 1971 geflüchtet sind.
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Die DDR wollte noch eine Ausnahme machen, nämlich dann, wenn es sich um geflüchtete Militärpersonen handelt. Die DDR steht auf dem Standpunkt, diese Ausnahme müsse in jedem Fall gelten ohne Bezug auf den Stichtag und eben dann, wenn es sich um Soldaten handelt. So weit die andere Seite. Auch heute noch werden ehemalige Angehörige der Nationalen Volksarmee vor der Einreise bzw. vor der Benutzung der Transitwege gewarnt. Dieses geschieht bei jedem, der bei den bei uns zuständigen Stellen als solcher bekannt wird. Wer wegen eines präzisen Reisetermins anfragt oder sich überhaupt meldet, bekommt nicht nur ein Merkblatt geschickt, sondern er wird individuell beraten. Es wird möglicherweise zurückgefragt, es werden möglicherweise Erkundigungen eingezogen. Dieses ist die Praxis. So sieht die Wirklichkeit aus.
Nun zurück zum Ausgangspunkt, zu Ihrem Antrag. Sie fordern die Veröffentlichung von vertraulichen Absprachen. So steht es kurz gefaßt darin.
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Natürlich, sehr geehrte Herren Kollegen, werden wir - das wird einleuchtend sein und wohl nicht weiter darzulegen sein - die Bundesregierung nicht auffordern, die Offentlichkeit umfassend über Geheimabsprachen, wie Sie es genannt haben, aufzuklären, nicht in dieser Sache und auch in keiner anderen Sache. Denn vertrauliche Verabredungen werden ja wohl nach meinem Verständnis getroffen, damit über den Gegenstand der Absprache nur ein ausgewählter Personenkreis Bescheid weiß. Geheimhaltung oder, sagen wir, Vertraulichkeit und Aufklärung sind gewöhnlich ja wohl Gegensätze. Man brauchte keine Aufklärung, wenn es überhaupt keine Vertraulichkeit und keine Geheimhaltung gäbe. Aufklärung richtet sich immer auf von der anderen Stelle vertraulich gehaltene Kenntnisse. Man brauchte die Vertraulichkeit nicht, wenn alles öffentlich gemacht werden könnte. Sie erwekken mit Ihrem Antrag wieder einmal den Eindruck, die Bundesregierung habe etwas zu verbergen.
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Der Antrag soll suggerieren, wir würden in ungenügendem Ausmaß unsere Interessen wahrnehmen. Das soll heißen, diese Regierung tut zu wenig für die Bürger.
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Dies, meine lieben Kollegen, ist falsch. Sie werden verstehen, daß es auch nicht angebracht ist, vertrauliche Absprachen jetzt öffentlich zu machen, zumal da die Erfüllung des Wunsches, daß betroffene Personen vor einem Risiko geschützt werden, durch die Praxis der bundesdeutschen Behörden gewährleistet ist.
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Zu Ihrer zweiten Frage nach Veränderungen gegenüber dem Stand vor Abschluß des Transitabkommens. Da kann man schon von sehr vielen Veränderungen sprechen, nämlich von einer ungeahnten Zunahme des Reiseverkehrs, sehr geehrter Herr Dr. Hennig, von einer Zunahme. des Reiseverkehrs in die DDR und von einer Zunahme des Transitverkehrs durch die DDR nach West-Berlin. 110 Millionen Transitreisende seit 3. Juni 1972. Das sind beachtliche Zahlen. Ich will das nicht oft wiederholen. Aber ich denke immer noch oft an die Kerzen in den Fenstern. Das war unsere letzte große Maßnahme zu Zeiten, als diese Abkommen noch nicht abgeschlossen waren. Das ist eine gute Veränderung. Danach können Sie oft fragen. Dann bekommen Sie als Antwort oft den Hinweis auf die Leistungen, die diese Regierung mit dieser Koalition erbracht hat.
Sie fordern drittens von der Bundesregierung, daß sie gegenüber der DDR mit allem Nachdruck durchsetzt, daß Zurückweisungen nur im Rahmen der Tatbestände des Art. 16 des Transitabkommens erfolgen dürfen. In unserer Ausschußsitzung ist meines Erachtens hinreichend klargeworden, daß die Praxis der DDR-Organe dem entspricht, was Sie unter Ihrer dritten Forderung, vierter Spiegelstrich, erwähnen, daß nämlich keine Festnahme von Personen erfolgen darf, denen Taten vorgeworfen werden, die nach den Gesetzen der DDR zwar strafbar sind, aber nicht im Zusammenhang mit der Benutzung der Transitwege stehen. Allenfalls können solche Personen von der Benutzung der Transitwege ausgeschlossen, also zurückgewiesen werden. Zusätzlich kann auch den Behörden der Bundesrepublik, also z. B. der Polizei, Mitteilung gemacht werden.
Aber, wie schon gesagt, das Zusammentreffen von zwei gravierenden Tatbeständen, Fahnenflucht und Mord, hat in diesem einen von Ihnen erwähnten und von uns im Ausschuß ausführlich behandelten Fall zur Verhaftung geführt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Bundesregierung sich auch für den am 18. Dezember 1978 Festgenommenen und am 12. Juni 1979 zu lebenslänglicher Haft Verurteilten einsetzt und hoffentlich auch seine vorzeitige Freilassung erreichen wird.
Sie, meine Kollegen von der Opposition, und wir, wir alle in diesem Hause wissen, wie schwierig solche Verhandlungen sind. Insofern sehen wir keinen Grund, daß die Bundesregierung zu besonderer Eile aufgefordert werden müßte. Wir hoffen, daß wir Sie bei der weiteren Ausschußberatung von diesem unserem Standpunkt überzeugen können.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Franke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der Opposition, der. hier zur Debatte steht und der zur weiteren Beratung an den innerdeutschen Ausschuß überwiesen werden soll, endet in seiner Formulierung mit der Bezugnahme auf Jablonski. Diese Drucksache liegt vor. Die Anworten sind in ihrer Formulierung natürlich entsprechend zubereitet, damit wir uns eng daran halten, um versuchen zu können, eine sachliche Basis für die Behandlung des sehr ernsten Themas zu finden, dessen Lösung ja nicht nur in unserem Ermessen liegt ganz gleich, wer wir sind -, sondern immer verlangt, daß wir auch mit jenen klarkommen, die daran beteiligt sind und die sogar einen sehr großen Anteil daran haben, daß sich die Dinge sinnvoll entwickeln können.
Dieser Entschließungsantrag, meine Damen und Herren, 'veranlaßt mich, noch einmal folgendes in Ihr Gedächtnis zurückzurufen. Das kann gar nicht oft genug getan werden, damit wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Hier geht es nicht um Peinlichkeiten für diesen oder für jenen, hier geht es auch nicht darum, daß alles widerspruchslos hingenommen wird. Im Gegenteil, wir haben gemeinsam Instrumentarien entwickelt, die auch in Anspruch genommen werden. Wir haben offizielle Adressen: Es gibt die Transit-Kommission, in der jeder einzelne Fall, der nach unserem Empfinden eine ungerechtfertigte Festnahme bedeutet, ange13986 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
sprochen und zur Klärung gebracht wird, soweit das im Rahmen dieses Abkommens geklärt werden kann.
Hier sind schon Zahlen genannt worden. Nach Inkrafttreten dieses Abkommens haben 110 Millionen Reisende in beiden Richtungen - von hier nach Berlin und von Berlin nach hier - von der Möglichkeit des Transits Gebrauch gemacht. In den Jahren des Abkommens wurden 938 Personen verhaftet; davon wurden 763 schnellstens wieder entlassen. Die Zahl hat sich bis heute noch um einiges erhöht. Jeder einzelne Fall wird überprüft. Wie Sie aus diesen Zahlen ersehen, sind per 31. August 175 in unserem Sinne ungeklärte Fälle übriggeblieben. Davon sind in diesen Tagen bereits wieder einige Personen nach West-Berlin gekommen, und zwar jene, die sich auf der Autobahn nicht nach den Gesetzen der DDR bewegt haben, weil sie Alkohol genossen hatten oder weil sie die Geschwindigkeitsbegrenzungen überschritten hatten. Sie sind eingesperrt und in diesen Tagen wieder entlassen worden. Heute nachmittag - das kann ich bei dieser Gelegenheit mit hinzufügen - sind Herr Bahro und Herr Hübner aus dem Gewahrsam der DDR zunächst nach Ost-Berlin entlassen worden. Wie das weitergehen wird, werden wir sehen. Jeder einzelne von Ihnen weiß aus unserer Praxis, daß wir uns um jeden einzelnen Fall intensiv und mit aller Ernsthaftigkeit bemühen und schon sehr viele Schicksale zur Zufriedenheit haben lösen können. Da hinein gehört das Ganze.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um die gebotene Sachlichkeit bei der Behandlung solcher Themen. Ich sage Ihnen noch einmal: Die Reisen nach Berlin und von Berlin in die Bundesrepublik sind so sicher, wie man es sich nur wünschen kann.
Daß aber gewisse Dinge bei einer solch großen Zahl immer als „Ausfranser" zu werten sind, wird gerade demonstrativ durch den Fall Jablonski bewiesen. Lassen Sie mich das hier in aller Deutlichkeit sagen: Ein Mann, der von dort drüben wegen Mordes verfolgt wird und sich wieder in die Nähe des Machtbereiches jener begibt, die diese Forderung nach wie vor aufrechterhalten haben, dem ist nicht zu raten. Entweder kann er nicht lesen oder er wollte sich da irgendeiner Situation aussetzen, die unvertretbar ist und die ein Werk gefährdet, das noch längst nicht vollkommen ist.
Ich bitte Sie sehr darum: Machen Sie sich nicht unnötig zu Befürwortern von Leuten, die wirklich nur unser aller Bedauern finden sollten, aber nicht so dargestellt werden sollten, als hätten sie sich in besonderer Weise für Recht und Freiheit eingesetzt. Es ist peinlich, wenn man mit den Leuten darüber sprechen muß. Der Mann ist auch hier bei uns wegen Mordes verurteilt, und Mord bleibt Mord. Es gibt keine Motivation, die dem jungen Mann damals hätte Veranlassung geben können, wegzugehen, außer daß er meinte, hier könne er besser leben als drüben. Er hatte keine politische Motivation, die ihn zu einer solchen Tat veranlaßt hätte, um überhaupt die DDR verlassen zu können.
Dieses binden Sie hier in diesen Antrag mit. ein. Das ist doch eine gewisse Peinlichkeit.
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- Nein, das ist kein Nebengleis. Das ist für Sie ja der Aufhänger gewesen. Das paßt Ihnen natürlich nicht. Aber ich bleibe doch dabei. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß kein Reisender mehr kontrolliert wird, wie dies früher der Fall war, es sei denn, es gibt Verdachtsmomente - und diese hat sich die DDR vorbehalten; da war nicht zu widersprechen - bei Mißbrauch der Transitwege. Die Transitautobahn führt durch das Gebiet der DDR, ob uns das paßt oder nicht. Die DDR hat ihre eigenen Gesetze. Wenn sie Leute, die nach 1971 geflohen sind, nach wie vor als ihre Bürger betrachtet, können wir ihr das nicht verwehren. Wir können den Leuten nur sagen: Benutzt die Wege, die auch andere Leute benutzen, die bequemer reisen wollen als mit dem Auto, aber nicht gefährdet sind. Ich meine jene, die die Flugzeuge benutzen. Auch rufen wir dazu auf: Bitte sehr, wendet euch in jedem Fall, wenn ihr selber nicht klar seht, wie die Lage ist, entweder an den Senator in Berlin oder an uns; dann bekommt ihr die richtige Auskunft.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Einen Augenblick, einen Satz möchte ich noch hinzufügen bezüglich Ihrer Aussage betreffend die Bekanntgabe, bei der irrtümlich etwas gesagt worden sei. Dieses war in der Tat nicht ein Irrtum irgendeiner Behörde oder irgendeiner Dienststelle hier bei uns in Bonn oder in Berlin, sondern in einer Fernseh- oder Rundfunkmeldung hieß es: Wenn dieser oder jener diese Autobahn benutzt, so kann er höchstens zurückgewiesen werden.
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- Entschuldigen Sie, ich versuche oft, mit den Fernsehanstalten und mit den Rundfunkanstalten über die Dinge, wie sie wirklich sind, zu reden. Ich bin nicht in der Lage, denen jedes Wort vorzuschreiben, damit sie es ablesen. Sie berichten, wie sie es verstehen oder wie sie es nicht verstehen. Ich bin auch nicht für die Rundfunksendungen und für die anderen Sendungen verantwortlich. Nur daraufhin habe ich das getan, damit nicht der Eindruck entstand: Jetzt könnt ihr alle drauflosreisen, auch jene, die in die Kategorien gehören, von denen die DDR ausdrücklich gesagt hat, es handle sich um Leute, die nach wie vor ihrem Zugriff ausgesetzt seien, Militärs oder andere Leute, die nach dem 31. Dezember 1971 geflohen sind.
Nun will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich habe die Zahlen doch genannt.
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Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13987
- Das kommt auch noch dazu.
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- Lassen Sie mich doch das zu Ende bringen. Nun kommt noch folgendes hinzu. Wir bekommen inzwischen Jahr für Jahr durchschnittlich 4 500 bis 4 800 einzelne Ausreisegenehmigungen aus der DDR. Daraus ist doch zu ersehen, ,daß viele DDR-Bewohner wissen, daß es möglich ist - allerdings dauert das sehr lange -, auch mit Zustimmung der Behörden der DDR den Wohnsitz zu wechseln und aus der DDR in die Bundesrepublik zu kommen. Daß sich die DDR ihren Respekt selber verschafft
- über die ihr geeignet erscheinenden Wege -, das ist eine Sache, über die wir mit ihr nicht reden können. Das ist ihre besondere Angelegenheit.
Herr Bundesminister, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hennig?
Herr Minister, nachdem Sie nun diese Presseerklärung aus Ihrem Hause erneut verteidigt haben,
Sie war notwendig!
... muß ich Ihnen die
Kernfrage stellen - und Sie bitten, im Rahmen Ihrer Redezeit auch darauf zu antworten -, ob nun Flüchtlinge nach dem 31. Dezember 1971 die Transitwege benutzen :dürfen, und zwar ohne die Gefahr, verhaftet oder zurückgewiesen zu werden, oder ob das nicht der Fall ist. Hat also Egon Bahr 1971 richtig berichtet, oder ist das inzwischen wieder zurückgenommen worden?
Nein, das hat sich nicht verändert. Nach wie vor besteht die DDR darauf, daß jene, die sich nach dem 31. Dezember 1971 unerlaubt aus der DDR entfernt haben, als ihre Bürger zu betrachten seien. Lassen Sie mich dazu noch folgendes sagen. Es kommt dabei natürlich auch auf eine gewisse Praxis an. Wir haben inzwischen praktische Erfahrungen. Es gibt sogenannte Bagatellfälle; dabei hat sich inzwischen herausgestellt, daß die Betreffenden in der Tat dann die Autobahn wieder ungefährdet benutzen können. Aber so unklar ist das nun einmal. Wir haben kein Rechtshilfeabkommen mit der DDR. Wir haben nur das vereinbaren können, was in der Situation möglich war. Wenn, wie ich Ihnen gesagt habe, inzwischen 110 Millionen Reisende ungeschoren davongekommen sind, ist es, glaube ich, ein unvertretbarer Aufwand, den wir jetzt hier treiben. Wir bemühen uns um jede Klarstellung. Aber daß es immer . Gegensätze geben wird, ist Ihnen klar und ist mir klar. Das wird bei der staatlichen Ordnung der DDR, mit der wir es zu tun haben und die sich von unserer grundlegend unterscheidet, immer so sein. Es gibt in der DDR ein ganz anderes Verständnis von Freizügigkeit und Meinungsfreiheit. Das kennen wir alles. Darüber brauchen wir uns heute nicht zu unterhalten.
Herr Minister, ich verstehe sehr gut, daß Sie auf die Praxis rekurrieren, und ich bin ja hier daran gehindert, die Vereinbarungen zu zitieren, weil sie geheim sind.
Herr Kollege, würden Sie bitte eine Frage stellen!
Herr Minister, ich möchte mir die Frage erlauben: Was ist vereinbart? Dürfen sie oder dürfen sie nicht?
Herr Kollege Hennig, wir haben im Ausschuß sehr eingehend darüber berichtet, und wir werden jetzt erneut eine Situation bekommen, in der wir alle diese Dokumente und Unterlagen eingehend durchgehen werden, und dann werden wir sehen, wie die Dinge liegen. Es ist nicht möglich, das jetzt in dieser kurzen Debatte zu klären. Aber das Problem mußte angesprochen werden. Ich habe darauf geantwortet. Außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß manches an Vereinbarungen von der DDR sinngemäß und für die Reisenden aus der Bundesrepublik positiver, als es zunächst festgelegt war, gehandhabt wird. Auch das muß man bei dieser Gelegenheit einmal betonen, um zu sehen, wie in diesem schwierigen Bereich der Versuch gemacht wird, doch all die Kanten und Ecken abzufeilen. Trotzdem bleibt sehr viel übrig; das gebe ich gern zu.
({0})
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat empfiehlt, den Antrag an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
Wahl der vom Bundestag zu entsendenden Mitglieder für den Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt
- Drucksache 8/3201 Dazu liegt ein gemeinsamer Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vor. Erhebt sich Widerspruch gegen diesen Vorschlag? - Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Werten Gesetzes zur Änderung des BundesSeuchengesetzes
- Drucksache 8/2468 13988
Vizepräsident Frau Funcke
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit ({0})
- Drucksache 8/3176 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Reimers ({1})
Dazu wünscht der Herr Berichterstatter Dr. Reimers das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf Grund der Tatsache, daß einige redaktionelle Änderungen zu § 80 des Bundes-Seuchengesetzes, der nicht Gegenstand der Ausschußberatungen war, notwendig geworden sind, ist es erforderlich, diese redaktionellen Änderungen hier vorzutragen. Sie sollen in einer neuen Nr. 56 in den Entwurf eingefügt werden, die wie folgt lautet:
56. Der § 80 wird wie folgt geändert:
a) Nummer 1 erhält folgende Fassung:
„1. das Gesetz über die Pockenschutzimpfung vom 18. Mai 1976 ({0}),"
b) In Nummer 3 wird das Wort „Viehseuchenrechts" durch das Wort „Tierseuchenrechts" ersetzt.
c) Nummer 6 erhält folgende Fassung:
„6. das Gesetz über technische Assistenten in der Medizin vom 8. September 1971 ({1}),".
Die Nr. 56 des Ihnen vorliegenden Entwurfs in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit wird Nr. 57.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber auch noch eine kurze Bemerkung zur Sache machen, die das Verhältnis von Exekutive und Legislative betrifft, denn bei Abgeordneten aller Fraktionen bestand bei der Ausschußberatung Unbehagen gegenüber einigen sehr weitgefaßten Bestimmungen des Entwurfs, die zur Abänderung des Gesetzes durch Rechtsverordnung ermächtigen. Im wesentlichen geht es dabei um Ermächtigungen, die sich auf die Aufhebung, Einschränkung oder Erweiterung der Meldepflicht für übertragbare Krankheiten beziehen.
Für uns war einsichtig, daß man zu einer Ausweitung des Katalogs, nämlich dann, wenn Gefahr im Verzuge ist, wenn eine neue Krankheit auftaucht, wenn ein neuer Erreger erkannt wird, der Exekutive die Möglichkeit schnellen Handelns geben muß. Zunächst nicht einsichtig war aber für uns, warum auch die Herausnahme meldepflichtiger Krankheiten aus dem Gesetz durch Rechtsverordnung ermöglicht werden soll. Die Bundesregierug hat vorgetragen - und uns damit schließlich überzeugt -, daß diese Regelung im Interesse einer schnellen Entlastung der Betroffenen notwendig ist. Denn es kann eben geschehen, daß auf
Grund der Krankheitslage die Meldepflicht nicht mehr notwendig ist und von den staatlichen Gesundheitsämtern bereits als überflüssig eingeschätzt wird, der Gesetzgeber aber noch nichts unternommen hat. Dieses kann wieder dazu führen, daß die Meldemoral insgesamt absinkt, und genau das Gegenteil wird vom Gesetzentwurf bezweckt. Zum anderen ist es auch denkbar, daß der Verordnungsgeber selbst restriktiver, als es an sich notwendig ist, bei der Ausweitung der Meldepflicht entscheidet. Auch dies liegt nicht im Interesse des zu schützenden Bürgers. Aus diesen Gründen haben wir uns überzeugen lassen und unsere Bedenken zurückgestellt. Im übrigen beziehe ich mich auf meinen Schriftlichen Bericht.
({2})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wortmeldungen zur Aussprache liegen nicht vor.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Wer den Artikeln 1 bis 6, Einleitung und Überschrift seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache. Wer dem Gesetz in dritter Beratung seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.
Wir haben nun noch über die Empfehlung des Ausschusses unter Ziffer 2 abzustimmen, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Finnland über den Fluglinienverkehr
- Drucksache 8/2878 -Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen ({0})
- Drucksache 8/3189 Berichterstatter: Abgeordneter Tillmann ({1})
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Das Wort wird auch sonst nicht gewünscht.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die Art. 1, 2 sowie Einleitung und Überschrift auf. Die AbstimDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13989
Vizepräsident Frau Funcke
mung darüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Mai 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Irak über den Luftverkehr
- Drucksache 8/2882 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen ({2})
- Drucksache 8/3190 Berichterstatter: Abgeordneter Tillmann ({3})
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die Art. 1 und 2 sowie Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung darüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 3. September 1976 über die Internationale Seefunksatelliten-Organisation ({4})
- Drucksache 8/3057 -
a) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 .der Geschäftsordnung
- Drucksache 8/3255 Berichterstatter: Abgeordneter Müller ({6})
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen ({7})
- Drucksache 8/3207 -Berichterstatter: Abgeordneter Sick ({8})
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? - Das ist . ebenfalls nicht der Fall.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Wer dem Gesetz als Ganzem seine Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Erhard ({9}), Dr. Klein ({10}), Vogel ({11}), Dr. Bötsch, Hartmann und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung beurkundungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 8/3174 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({12})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung beurkundungsbedürftiger Rechtsgeschäfte
- Drucksache 8/3230 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({13})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Zu diesem Punkt ist eine verbundene Debatte vereinbart worden.
Wird zu Punkt 14 a) zur Begründung das Wort gewünscht?
({14})
- Herr Kollege, Herr Bundesminister Vogel wünschte, zur Einbringung des unter Punkt 14 b) aufgeführten Entwurfs zu sprechen. Deswegen mußte ich die Frage stellen, ob Sie zuvor zur Einbringung der unter Punkt 14 a) aufgeführten Vorlage das Wort wünschen.
({15})
In der Aussprache bekommen Sie dann alle das Wort.
Zur Begründung hat Herr Bundesminister Vogel das Wort.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches bedürfen alle Verträge, die sich auf Grundstücke beziehen, der notariellen Beurkundung. Diese .Bestimmung erfüllt zwei Funktionen. Zum ersten ist es die Beweisfunktion; man will bei Grundstücksgeschäften die Gewißheit haben, daß das Vereinbarte jederzeit leicht festgestellt werden kann. Zum zweiten ist es die Warnfunktion; die Beteiligten sollen durch den
13990 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Vorgang der notariellen Beurkundung nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, daß es sich hier nicht um ein alltägliches Geschäft, sondern, um ein Geschäft von erheblicher Bedeutung handelt.
Die Praxis hat es bisher als zulässig erachtet, daß die notarielle Urkunde, die über einen solchen Vertrag errichtet wurde, auf Pläne oder auf Bauzeichnungen Bezug nahm. Außerdem hat es die Praxis als zulässig erachtet, daß in der notariellen Urkunde auch auf andere Urkunden Bezug genommen wurde, d. h. auf Urkunden, die nicht zwischen den Parteien errichtet worden waren.
Nun sind in der ersten Hälfte dieses Jahres drei Urteile des Bundesgerichtshofs ergangen, die von dieser Praxis abweichen und die einschlägigen. Bestimmungen des Beurkundungsgesetzes anders auslegen, als sie die Praxis bisher verstanden hat. Im Kern sagen diese drei Urteile, daß solche Bezugnahmen nicht zulässig sind. Auch Baupläne und Bauzeichnungen müssen in die Urkunde als Anlagen mit aufgenommen und zum Gegenstand der Erörterung gemacht werden. Auch eine andere notarielle Urkunde, die nicht zwischen den Parteien errichtet worden ist, muß als Anlage beigefügt und infolgedessen auch verlesen werden.
Diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs haben zwei Probleme aufgeworfen. Das erste Problem besteht darin, daß etwa 100 000 bis 110 000 Verträge - genau läßt sich dies nicht ermitteln -, die zwar beurkundet, aber noch nicht im Grundbuch vollzogen sind, möglicherweise zwar der bisherigen Praxis entsprechen, nicht aber den .Anforderungen des Bundesgerichtshofes genügen und deshalb nichtig sind. Das hat einerseits dazu geführt, daß sich Bauträger unter Berufung auf diese Urteile von den Verträgen lösen wollten oder Nachforderungen - gelegentlich in sehr rigider Weise - verlangt haben; andererseits haben sich aber auch einzelne Käufer unter Berufung auf diese Entscheidungen aus den Verträgen zu lösen versucht, obwohl sie aus ganz anderen Gründen eine Lösung der Verträge wünschten. Dies alles hat zu einer gewissen Rechtsunsicherheit geführt.
Zur Behebung dieser Rechtsunsicherheit gibt es zwei Wege. Der eine Weg bestünde darin, daß man die Vertragsparteien auf den Prozeßweg verweist, daß man ihnen rät zu versuchen, mit dem Grundsatz „Treu und Glauben" nach § 242 BGB zu einer angemessenen Lösung zu kommen. Dies würde aber bedeuten, daß die Unsicherheit über lange Zeit fortbesteht. Auch läßt sich das Ergebnis eines solchen Prozessen an Hand der bisherigen Rechtsprechung zu § 242 BGB in keiner Weile voraussehen.
Es verbleibt also der zweite Weg, daß nämlich der Gesetzgeber den Vertrauensschutz aus der Vergangenheit wiederherstellt und gewährleistet.
Es liegen zwei Entwürfe vor. Der eine Entwurf stammt von der Opposition, der andere von der Bundesregierung. Letzterer hat den Bundestag deshalb zeitlich später erreicht, weil wir den Weg über den Bundesrat genommen haben. Der Bundesrat hat dazu seine Stellungnahme abgegeben. Beide Entwürfe stimmen darin überein, daß die Nichtigkeit von Verträgen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes beurkundet worden sind, nicht aus der Bezugnahme auf nicht zu der Urkunde genommene Anlagen, Pläne oder andere Urkunden hergeleitet werden kann.
Wir haben darüber hinaus - das ist auch eine Frucht der Beratung mit den Ländern - eine Bestimmung aufgenommen, wonach auch Vereinbarungen, die getroffen worden sind, weil sich ein Vertragspartner auf die Nichtigkeit berufen hat - wenn also beispielsweise ein Bauträger Nachforderungen erhoben hat, die geleistet wurden, weil der Betreffende in Sorge war, er würde sonst sein Grundstück oder sein Reihenhaus verlieren -, keine Bestandskraft haben, also nichtig sind. Das ist ein Problem, das in der Besprechung mit den Ländern deutlich geworden ist. Der Bundesrat hat einer solchen Regelung auch ausdrücklich zugestimmt. Das spielt in der Praxis nach den Mitteilungen der Landesjustizverwaltungen in einer nenneswerten Zahl von Fällen eine Rolle.
Meinungsverschiedenheiten bestehen gegenwärtig noch darüber, ob es richtig und notwendig sei, mit der Vertrauensregelung für die Vergangenheit sofort auch eine Änderung des Beurkundungsgesetzes für die Zukunft zu verbinden. Der Bundesrat hat dies befürwortet; auch die Opposition schlägt das in ihrem Entwurf vor. Die Bundesregierung ist für Überlegungen und Beratungen in dieser Richtung offen. Sie warnt aber davor, die Entscheidung darüber zu sehr zu beschleunigen, möglicherweise sogar zu übereilen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß jede Änderung des Beurkundungsgesetzes, das die Verlesungspflicht einschränkt, an dem Maßstab der Warnfunktion gemessen werden muß. Das, was dafür zur Begründung geltend gemacht wird, daß man hier korrigieren, wieder zur alten Praxis zurückkehren solle - trotz der Urteile des Bundesgerichtshofs -, hat einen berechtigten Kern. Aber dieser Kern sollte dazu führen, dann auch im Bereich des Beurkundungswesens überhaupt Überlegungen darüber anzustellen, wie man der Warnfunktion voll gerecht werden kann.
Wir sind also offen in der Beratung auch dieses Punktes. Wir meinen nur, so eilbedürftig die Regelung für die Vergangenheit, die Sicherung des Vertrauensschutzes ist, so sehr diese keinerlei Aufschub versträgt, so sehr sollte man doch sehr sorgfältig überlegen, ob im selben Zuge und mit derselben Eilbedürftigkeit auch die Änderung des Beurkundungsgesetzes für die Zukunft bereits jetzt in einem Zuge erledigt werden sollte. Dies wird sicherlich der Hauptpunkt der Verhandlungen im Rechtsausschuß sein.
({0})
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Es ist interfraktionell ein Kurzbeitrag je Fraktion vereinbart worden. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erhard.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13991
Frau Präsidentin, der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion ist auch einzubringen.
Herr Kollege, ich habe Sie doch eben gefragt, ob Sie eine Begründung geben wollen.
Sie haben gefragt, ob der Bundesjustizminister das vorher tun sollte. Daraufhin bin ich zurückgetreten. Aber wir wollen darüber nicht streiten, Frau Präsidentin. Ich habe das Wort.
({0})
Jetzt muß ich nur fragen: Wollen Sie zur Einbringung sprechen, oder wollen Sie einen Kurzbeitrag in der Debatte leisten? Dies nur, damit es nachher nicht gegensätzliche Auffassungen gibt.
Ich möchte den Entwurf, den wir vorgelegt haben, selbstverständlich auch kurz begründen.
Dann ist es gut. Sie haben das Wort.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Gesetzentwürfe beschäftigen sich mit demselben Gegenstand. Wer dabei zuerst zu Stuhl gekommen ist, kann kein Gegenstand längerer Betrachtung sein. Daß die Bundesregierung besonders lange gebraucht hat, einen Entwurf vorzulegen, auf den ich gleich noch kurz eingehen werde, ist ein anderes Problem.
Das Entscheidende ist dies: Ein Senat des Bundesgerichtshofs hat durch die drei Entscheidungen das geltende Recht und eine jahrzehntelange Rechtsprechung umgestoßen. Offenbar wollte der Senat Verbraucherschutz im Einzelfall praktizieren. Dabei hat er in Zehntausenden von Fällen das Gegenteil bewirkt, Rechtsunsicherheit geschaffen und ein völlig unpraktikables Beurkundungsrecht erzwingen wollen.
({0})
Der Richter als Sozialingenieur hat nicht nur seine Grenzen gefunden, sondern sie auch deutlich überschritten, so daß der Gesetzgeber handeln muß. Der Gesetzgeber ist gezwungen, Rechtssicherheit wiederherzustellen: Insofern stimmen wir mit der Bundesregierung und dem Herrn Bundesjustizminister überein.
Mit unserem Gesetzentwurf versuchen wir erstens, die Fortentwicklung des Beurkundungsrechts, die der Bundesgerichtshof bewirken wollte, soweit vertretbar, anzuerkennen und beizubehalten. Schriftstücke und Zeichnungen sollen Bestandteil der notariellen Urkunde werden, und auf sie soll verwiesen werden dürfen. Das ist im übrigen eine Forderung, die ich bereits 1977 dem Herrn Bundesminister der Justiz anregend unterbreitet hatte. Dieser Vorschlag paßt auch lückenlos in das Beurkundungsgesetz hinein; denn wir haben dort bereits ein Vorbild für die Beurkundung von Grundpfandrechten und Schiffshypotheken. Er paßt aber auch in unsere neuere Rechtsentwicklung; denn mit der jüngsten Strafrechtsnovelle - gültig ab 1. Januar 1979 - haben wir beschlossen, daß Strafurteile, die auf Bilder Bezug nehmen müssen, also Bilder darstellen müssen, weil sich aus ihnen der strafbare Tatbestand ergibt, auf diese Bilder verweisen dürfen, ohne sie näher beschreiben zu müssen, wenn sich diese Bilder nicht etwa als Anlage zum Urteil befinden, sondern in den Akten des Gerichts vorhanden sind.
Zweitens. Auf bereits öffentlich errichtete Urkunden oder auf behördlich genehmigte Pläne usw. - wie z. B. auf Baugenehmigungen - darf in der Vertragsurkunde nach unserem Entwurf verwiesen werden, ohne daß diese erneut der notariellen Urkunde beigefügt werden müssen, d. h., sie brauchen als Schriftstücke nicht verlesen zu werden.
Drittens. Die durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entgegen der bisherigen Rechtsauffassung nichtigen Vertragsurkunden werden kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung für wirksam erklärt. Als unwirksam sind ja durch das dritte Urteil sogar solche Verträge bezeichnet worden, die bereits im Grundbuch durchgeführt waren. Aus Respekt vor der Rechtsprechung bleiben rechtskräftige Entscheidungen nach unserem Entwurf unberührt.
Mit diesen Vorschlägen wird die eingetretene Rechtsunsicherheit beseitigt. Gleichzeitig wird für die Zukunft ein sinnvolles und praktikables Beurkundungsrecht geschaffen, wobei der Schutz der Vertragsparteien über mögliche bisherige Mängel ausgebaut und umfassend gesichert wird.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf - das, was der Bundesrat dazu gesagt hat, ist ja noch lange nicht Inhalt des Entwurfs der Regierung - läßt sich nur mit einer recht harten Kritik beurteilen. Er beseitigt nicht die Rechtsunsicherheit. Er verlagert diese Unsicherheit nur und schafft überdies eine Fülle neuer Probleme. Außerdem enthält er sich auch nur des leisesten Versuchs, das Beurkundungsgesetz für die Zukunft praktikabel zu erhalten. Ich kann mich sowohl aus meiner beruflichen wie aus meiner langjährigen Abgeordnetentätigkeit heraus nicht des Eindrucks erwehren, als hätten hier die Gesetzesformulierer jeden Bezug zur Rechtswirklichkeit und Rechtspraxis verloren. Allem Anschein nach sind sie - wie nach meiner Überzeugung auch die Richter des V. Senats beim Bundesgerichtshof - niemals in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, vor allem nicht im Grundbuchwesen vor Ort tätig gewesen; sonst wäre man nicht auf den Gedanken gekommen, von den Rechtspflegern zu erwarten, daß sie mit nichtigen Verträgen arbeiten.
Wenn das, was die Bundesregierung vorschlägt, Gesetz wird, bleiben alle nach dem bisherigen und
13992 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Erhard ({1})
jetzt noch geltenden Recht beurkundeten Verträge gegenüber Außenstehenden unwirksam, d. h. nichtig. Das heißt weiter: Das Grundbuchamt darf die Grundbuchanträge nicht eintragen, darf keine Auflassungsvormerkung eintragen, darf keine vom Verkäufer bestellten Grundpfandrechte zur Finanzierung des Kaufpreises durch den Käufer eintragen. Die Folgen: Rechts- und wirtschaftliche Unsicherheiten bleiben bestehen - im wesentlichen zu Lasten des Käufers, der ja gerade geschützt werden sollte. Weitere Folgen sind: kein Schutz vor Zwischenverfügungen - z. B. Handwerkersicherungshypotheken -, kein Schutz des Käufers, kein Schutz vor anderweitigem Verkauf, kein Schutz- im Konkursverfahren des Verkäufers und ebenso auch nicht vor Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Verkäufer. Der Käufer kann aus den vorgenannten Gründen den Kaufpreis nicht bezahlen; er gerät in Verzug. Welche Rechtsfolgen ergeben sich? Der Zivilrechtler weiß: Eine breite Palette von Möglichkeiten tut sich hier auf.
Unsicherheit besteht im Verhältnis zu den Gemeinden wegen der Erschließungs- und Anschlußkosten und wegen solcher Verträge.
Wenn der Verkäufer, wie dargestellt, den Kaufpreis deshalb nicht erhält, weil keine Grundpfandrechte eingetragen werden können, muß gegebenenfalls der Bau eingestellt werden. Alle Beteiligten, nicht nur die Vertragsparteien, hängen rechtlich in der Luft, und letztlich ist wieder der Käufer der Benachteiligte.
Weiß der Bundesminister der Justiz nicht, wie viele Hunderte von Verträgen zur Zeit bei den Amtsgerichten liegen und nicht bearbeitet werden, und zwar aus den von mir genannten Gründen? Aber der Herr Bundesminister hat gemeint, er könne mit seinem Gesetzentwurf die Rechtsunsicherheit beseitigen. Für die Vergangenheit und für die Zukunft erfüllt der Gesetzentwurf der Regierung beides nicht.
Warum sollen für die Zukunft endlose Baubeschreibungen verlesen werden, warum umfangreiche Teilungserklärungen, die längst beurkundet sind, erneut verlesen werden? Zu Teilungserklärungen gehört auch die Gemeinschaftsordnung beim Wohnungseigentum. Die Verlesungen dauern für jeden einzelnen Fall viele Stunden, bis zu fünf Stunden, weil gegebenenfalls mehr als 100 Seiten verlesen werden müssen. Kein einziger Vertragsbeteiligter kann solches noch aufnehmen und einordnen. Die Sicherheitsfunktion der Beurkundung fällt tatsächlich fort. Wenn bei größeren Wohnungseigentumskomplexen die Teilungserklärung und die dazugehörige vollständige genehmigte Bauzeichnung jeder Urkunde beigefügt werden müssen, werden dicke Pakete von Plänen die Grundakten füllen. Bei jedem einzelnen Wohnungsgrundbuch wird genau der gleiche Vorgang in vollem Umfang Bestandteil der Grundakten werden. Das alles wird höchst kostenaufwendig sein. Von wem wird es zu bezahlen sein? - Vom Käufer, also dem Verbraucher.
Im Bundesministerium der Justiz, so habe ich den Eindruck, hat man offenbar viel und lange gedacht, viel aufgeschrieben, sehr viel in die Begründung, fast nichts in die Paragraphen. Das ganze läßt sich so beurteilen, daß der hohe Berg des hohen Bundesministeriums der Justiz lange und schmerzhaft kreißte, aber geboren wurde eine lächerliche Maus.
Unsere Gesetzgebung muß einfach, klar und praxisbezogen sein, sie muß Rechtssicherheit schaffen und die Lebensvorgänge wirksam regeln.
Ich hoffe, daß der Rechtsausschuß schnell, von überflüssigen Fraktionsbindungen frei, eine sachgerechte Entscheidung für die zweite und dritte Lesung, die möglichst noch in diesem Jahr stattfinden sollten, finden wird.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesjustizminister hat in seiner Einbringungsrede darauf hingewiesen, wie wichtig die Schutzfunktion des Notars bei Grundstücksgeschäften ist. Ich gehe hier davon aus, daß niemand in diesem Hause - Sie nicht und wir nicht - an dieser Schutzfunktion grundsätzlich etwas ändern will.
({0})
- Da stimmen wir überein, daß dies ein sehr wichtiger Punkt ist, weil eben bei diesen Geschäften häufiger auch Betroffene beteiligt sind, die nicht in der Lage sind, die wirtschaftlichen und rechtlichen Implikationen, die damit verbunden sind, zu durchschauen. Ich gehe auch davon aus, daß wir uns einig sind, daß dies eine sehr sensible Materie ist.
Auf Grund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sind insbesondere bei solchen Grundstücksgeschäften grobe Probleme aufgetreten, bei denen sich der Verkäufer verpflichtet hat, auf dem Grundstück ein Gebäude zu errichten. Wir alle wissen, daß viele Jahre zwischen dem Vertragsabschluß und der Eigentumseintragung liegen können. Genau dies sind die Fälle, die hier eine ganz besondere Rolle spielen. Es wäre eigentlich ein Wunder gewesen, wenn nicht einige versucht hätten und noch versuchen, aus dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Honig zu saugen. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, in denen Bauunternehmen versucht haben, die inzwischen gestiegenen Baupreise nachträglich einzukassieren oder sogar noch weit darüber hinausgehende Forderungen zu realisieren oder sich beispielsweise auch aus der Verpflichtung herauszustehlen, aufgetretene Baumängel zu beseitigen. Wenn dies so kommen würde und wenn dies möglich wäre, würde auf alle diese Erwerber eine Belastung zukommen, die sie vorher nicht einkalkuliert haben, die ihre ganzen Berechnungen über den Haufen wirft und möglicherweise dazu führt, daß sie aus dem ganzen Geschäft aussteigen müssen.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13993
Schmidt ({1})
Aus diesem Grunde, Herr Kollege Erhard, sind wir der Meinung, daß es jetzt vor allen Dingen darauf ankommt, sehr schnell die Rechtsunsicherheit bezüglich der Vergangenheit zu beseitigen.
({2})
Ganz im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, daß die Bundesregierung mit ihrem Entwurf ausschließt, daß aus solchen Fehlern der Vergangenheit, Fehlern jedenfalls, wie sie der Bundesgerichtshof gesehen haben will, die Nichtigkeit eines Vertrages abgeleitet werden kann. Wir meinen, daß es darauf ankommt, schnell zu handeln.
Nun komme ich zu Ihrem Entwurf. Im Grunde genommen sind wir ja einer Meinung, was den Umstand betrifft, daß wir die Mängel der Rechtsgeschäfte aus der Vergangenheit heilen wollen. Jetzt komme ich aber zum zweiten Punkt, nämlich der Frage: Sollen wir damit gleichzeitig eine Änderung des Beurkundungsgesetzes verbinden?
({3})
- Herr Kollege Bötsch, dazu möchte ich Ihnen nur, folgendes sagen: Wir sind überhaupt nicht dagegen
- das haben Sie auch aus den Äußerungen des Bundesjustizministers entnehmen können; die Regierung ist also offensichtlich der gleichen Meinung -, anläßlich dieser Geschichte darüber zu beraten, ob möglicherweise die Vorschriften des Beurkundungsgesetzes zu ändern sind. Nur meinen wir, daß es hierbei zwei Punkte zu unterscheiden gilt, nämlich einmal die Verpflichtung, jene Mängel zu heilen, die sehr große Unsicherheit hervorgerufen haben - das ist das dringlichste -, und auf der anderen Seite zu überlegen, was man für die Zukunft tun kann. Gerade Sie, Herr Kollege Erhard, haben ja in der Vergangenheit immer davor gewarnt - ich kenne Ihre diesbezüglichen Ausführungen im Rechtsausschuß -, mit heißer Nadel und sehr schnell anläßlich eines ganz bestimmten _Tatbestandes Gesetze zu ändern. Wir sollten uns überlegen, ob es ein geeigneter Aufhänger ist, jetzt einige im übrigen sehr umstrittene Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zum Anlaß zu nehmen, das Beurkundungsgesetz sehr schnell zu ändern. Ich glaube, so eilbedürftig ist dies auch wieder nicht. Ich betone hier, daß die SPD-Fraktion, genau wie Sie und andere, der Meinung ist, daß es für Parteien unzumutbar ist, stundenlange Vorlesungen über irgendwelche Urkunden anhören zu müssen, dann aber nicht mehr in der Lage zu sein, das eigentlich Wesentliche bei einem solchen Grundstücksgeschäft, nämlich die Belehrungen des Notars, richtig in sich aufzunehmen.
({4})
Wenn man an diese Dinge herangeht, dann muß man sich auch Zeit lassen. Wir sollten uns davor hüten, bei jedem beliebigen Anlaß unbedingt sofort in aller Eile das zu tun, was gar nicht in Eile geschehen muß, hinterher aber gehalten zu sein, weil ein solches Gesetz nicht vernünftig anwendbar ist, es wieder zu novellieren. Ich glaube, mit einem solchen Verfahren tut sich der Gesetzgeber keinen Gefallen.
Zur Position der Richter sollten wir noch folgendes festhalten: Sie haben sicherlich auch mitbekommen, daß sich eine ganze Reihe von Richtern dagegen ausgesprochen hat, daß wir als Parlament mit einem Gesetz Folgen, die durch ein Urteil entstanden sind, korrigieren. Dies wird als Urteilsschelte empfunden. Dies ist aber weder die Absicht der Bundesregierung noch unsere Absicht, wenngleich ich doch eines hinzufügen möchte: Es wäre auch für den Bundesgerichtshof absehbar gewesen, welche Folgen sein Urteil hat. Er hätte sicherlich auch eine Möglichkeit gefunden, nicht die ganzen Folgen lawinenartig auf uns zustürzen zu lassen. Dies ist aber nicht der Ort, um sich mit der dritten Staatsgewalt darüber auseinanderzusetzen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Folgen dieser Entscheidung zu beseitigen.
Ich möchte noch hinzufügen: Angesichts der Anforderungen, die gerade bestimmte Richter bei der Auslegung von Treu und Glauben stellen, ist es äußerst unsicher, wie viele von den vom Herrn Bundesminister zitierten 100 000 oder 110 000 Fällen zugunsten derjenigen ausgehen, die sich auf Treu und Glauben berufen.
({5})
Wenn man so hohe Anforderungen stellt und praktisch nur solche Umstände anerkennt, wo eine ganz besondere Härte vorliegt, wo man sagen muß, dies ist nicht zuzumuten, würden wir, wenn wir den Vorschlägen der Richter folgen würden, jeden einzelnen Betroffenen dem Prozeßrisiko aussetzen und uns der Möglichkeit begeben, Rechtssicherheit zu schaffen.
({6})
Ich bin der Meinung: Wir müssen 'Rechtssicherheit schaffen. Es wäre gut, Herr Kollege Erhard, wenn wir Übereinstimmung erzielen könnten, daß es in erster Linie darauf ankommt, jetzt Rechtssicherheit für die Vergangenheit zu schaffen. Dann sollten wir gemeinsam überlegen, wie wir am besten mit den Problemen, die anläßlich dieser Urteile aufgetreten sind, fertig werden können und ob es nicht noch ein paar andere Dinge gibt, die wir dabei miterledigen könnten.
Wir sollten auf jeden Fall eines nicht tun: uns jetzt zu übereilten Maßnahmen hinreißen lassen und sie später korrigieren. Wenn wir hier gemeinsam vernünftig arbeiten, werden wir auch ein vernünftiges Ergebnis erzielen.
({7})
. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Wesentliche ist gesagt. Dem hier anwesenden sachlich interessierten Kreis ist der Sachverhalt bekannt. Es ist nicht sehr sinnvoll, daraus für die eine oder die andere Seite des Hauses Nutzen ziehen zu wollen. Wir haben es vielmehr mit einem Problem zu tun, das wir normalerweise dem Auswärtigen Amt überlassen: daß es hier diplomatische Schwierigkeiten zwi13994 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
sehen verschiedenen Verfassungsorganen gibt. Solche Schwierigkeiten sollten wir, wenn sie sich ergeben, mit der gebotenen Offenheit austragen.
Wir haben bereits vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Bedeutung der Vormerkung im Grundbuch Veranlassung gehabt, eine gesetzliche Regelung zu treffen. Das war sehr bedauerlich.
Wir haben jetzt wieder einen Fall, der, wie wir alle wissen - deshalb unterhalten wir uns darüber -, politische Dimensionen angenommen hat. Eine etwas pfleglichere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Verfassungsorganen stände nicht nur uns, die wir hier bemüht sind, sehr vornehm und betulich um die Angelegenheit herumzureden, gut an, sondern auch der anderen an diesem Fall beteiligten Seite.
Deshalb, Herr Erhard, muß ich Ihnen sagen: Es ist Ihr gutes Recht als Opposition, den Entwurf des Bundesjustizministers als unzulänglich oder unvollständig anzugreifen. Aber dieser Entwurf trägt doch nur der Situation des Bundesjustizministers Rechnung, soweit er nämlich auch damit zu tun hat, daß der Bundesgerichtshof jedenfalls eine ihm zugeordnete Justizbehörde ist, wie auch immer man das im einzelnen semantisch werten mag.
({0})
Deshalb finde ich es sehr richtig, daß wir hier vom Parlament aus uns etwas näher . und etwas kerniger mit der Sache befassen, die weite Bevölkerungskreise beunruhigt, als es der Herr Bundesjustizminister mit seinem Entwurf getan hat. Er hat in der Begründung ganz deutlich klargestellt, daß weitere Überlegungen durchaus geboten sein können.
Ich teile nicht die Ansicht von Herrn Schöfberger, daß etwa - ({1})
- Entschuldigung, Herr Schmidt. Also diese Münchener - na ja, Gott!
({2})
Ich teile nicht die Ansicht von Herrn Schmidt,
({3})
daß wir hier bis zu irgendeinem späteren Termin damit warten können, die Dinge für die Zukunft zu regeln. Nur wenn der aktuelle Druck und die aktuelle Interessenlage der betroffenen Kreise uns veranlassen, uns mit der Sache zu befassen, ist der Zeitpunkt richtig, uns - wie übrigens im Fall der Vormerkung - für die Zukunft und dann gleich rundum mit der Sache zu befassen. Jetzt etwa nur das zu regeln, was in der Vergangenheit durch dieses Urteil, mit dem wir uns zu befassen haben, zweifelhaft geworden ist
({4})
- damit haben wir uns ja zu befassen -, würde ich für unklug halten, weil die Erfahrung lehrt, daß einige Zeit nach dem aktuellen Anlaß, Herr Schmidt, das Interesse nachläßt, die Motivation, wie man heute so schön sagt, nachläßt und wir deshalb wohl nicht zu den Ergebnissen kommen würden, die wir in der plastischen Anschauung des Vorkommnisses haben würden.
Darum bin ich ausdrücklich dankbar, daß die CDU/CSU-Fraktion hier einen Entwurf vorgelegt hat, der unseren weiteren Beratungen dienen kann, um auch zu überlegen, wie wir das, was hier in Zukunft zu geschehen hat, am besten regeln können, um von den beteiligten Kreisen den Druck der Unsicherheit zu nehmen.
Ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß es der Sinn der Fortentwicklung des Rechts ist, eine jahrzehntelang gewachsene Rechtsprechung durch ein für alle Beteiligten völlig überraschendes Urteil zu ändern, nur um damit der Rechtsentwicklung zu dienen.
Es ist meiner Meinung nach für das Verhältnis zwischen den Gewalten nicht gut, wenn der Bundesgerichtshof in Fragen, die rechtlich vielleicht gar nicht so besondere Qualität haben - wer sich mit der Vorlage befaßt hat, wird diese Ansicht teilen können -, die aber eine große praktische Qualität haben, glaubt sich als Ersatzgesetzgeber profilieren zu müssen. Leider sind wir durch diese falsche Einschätzung der Aufgabe zum wiederholten Male in die Situation gekommen, daß wir hier nicht etwa eine Gesetzesflut auslösen, sondern das Notwendige tun müssen, um von vielen Menschen - mindestens vielen Zehntausend; über die Zahl mag man trefflich streiten - die Last zu nehmen, daß hier die für sie ganz lebensentscheidenden Verträge, die in der Mehrzahl der Fälle ihr gesamtes Vermögen betreffen, in Zweifel gezogen werden können.
In einer solchen Situation müssen wir hier handeln. Wir wollen handeln, aber nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft, um hier zu einer Klarstellung zu kommen. Wir bedauern, daß wir aus konkretem Anlaß zu solchen Klarstellungen gezwungen sind. Wir möchten bei dieser Gelegenheit allen Betroffenen sagen: Möge sich niemand - von wem auch immer, sei er auch noch so gemeinnützig - ins Bockshorn jagen lassen! Wir werden rechtzeitig dafür sorgen, daß aus dieser kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundesgerichtshof und diesem Haus für die Betroffenen keine entscheidende Fehlentwicklung ihres ganzen Lebens werden kann. Sie mögen sich wehren, und wenn sie sich wehren, werden wir rechtzeitig dabei sein und dafür sorgen, daß dieses Sich-Wehren auch von Erfolg gekrönt ist.
({5})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Vogel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13995
aller Kürze: Herr Kollege Erhard, wer Sie gut kennt - und wir kennen Sie ja gut -, der hat Ihnen deutlich angemerkt, welche Mühe es Ihnen gemacht und welche innerliche Überwindung es Sie gekostet hat, selbst bei einer solchen Gelegenheit noch ein gewisses Maß an Polemik und an Kritik hineinzubringen. In aller Freundschaft nur drei Bemerkungen.
Erstens. Von Verzögerung kann doch wohl im Ernst nicht die Rede sein. Ihre Drucksache trägt das Datum 13. September, die Vorlage der Bundesregierung trägt das Datum 3. Oktober. Dafür, daß wir noch mit elf Landesjustizverwaltungen beraten und den ersten Durchgang im Bundesrat erledigt haben, ist dieser Abstand von nur zwanzig Tagen ein Zeichen für ganz besondere Beschleunigung und für großes Tempo.
({0})
Und nur, weil Sie das Stichwort gegeben haben, benütze ich die Gelegenheit, um dem Bundesrat dafür, daß er mit einer Vorbereitungszeit von wenigen Tagen die Vorlage im Rechtsausschuß und im Plenum behandelt hat, 'herzlich zu danken.
Zweitens, Herr Kollege Erhard. Die Behauptung, daß die Fassung, die wir vorgeschlagen haben, die wir mit elf Landesjustizverwaltungen erörtert haben, mit den Leuten, die der Praxis nahestehen, mit der Notarkammer usw., die Unsicherheit vermehre, werden Sie ja wohl im Ernst nach näherer Prüfung nicht aufrechterhalten wollen. Wenn Sie sagen, Sie wüßten nicht, wie es im Justizministerium zugehe, dann will ich Ihnen das gern bestätigen. Aber daß wir hier praxisnah mit den Leuten geredet haben, ist einfach eine Tatsache. Ihr Vorwurf richtet sich in gutem Eifer verbal gegen mich, in Wirklichkeit aber gegen die Landesjustizverwaltungen, die mit uns gearbeitet haben. Das ist nicht gut.
Die dritte und letzte Bemerkung, Herr Kollege Erhard. Jetzt sagen Sie, das Gesetz sei zu kurz.
({1})'
Sonst höre ich immer, daß wir durch lange und umständliche Gesetze die Gesetzesflut fördern.
({2})
- Aber, lieber Kollege Erhard, Sie sind manchmal mit sich selber nicht gut. Dann sagen Sie vor lauter Bitterkeit Sachen, die Sie nachher gar nicht mehr wissen. Sie haben doch hier gesagt, die Berge hätten gekreißt und herausgekommen sei ein kleines Mäuslein von einigen Sätzen.
({3})
- Gern.
Ich habe mir das, was ich da gesagt habe, vorher sogar aufgeschrieben. Würden Sie so freundlich sein, das Protokoll darauf nachzulesen, ob ich von wenigen Sätzchen oder von einer lächerlichen Maus gesprochen habe? Und würden Sie weiterhin so freundlich sein, anzuerkennen, daß Ihr Gesetzentwurf die
bestehenden Verträge für Dritte weiterhin für nichtig erklärt? Und wie wollen Sie dort Rechtssicherheit schaffen?
Also, Herr Kollege Erhard, zu Ihrer ersten Bemerkung: Reden werden nicht immer besser, wenn man sie vorher
aufschreibt.
({0})
Man kann natürlich immer b sagen, wenn der andere a sagt. Das ist völlig gleich.
Das zweite gebe ich natürlich nicht zu. Ich bestreite in entschiedenster Weise, daß hier irgendeine Unklarheit bleibt. Das Gegenteil ist ja gerade der Sinn der Maßnahme.
Zum dritten machen wir uns ja beide lächerlich, ich, wenn ich noch weiter auf Ihre Darlegungen eingehe, und Sie, wenn Sie das immer noch ein bißchen weiter fortsetzen. Wenn Sie sagen, es ist eine Maus, dann ist es eben kein Elefant. Maus ist etwas Kleines, etwas Kurzes. Ich finde es gut, wenn eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung kurz ist. Da habe ich gedacht, ich kriege ein Lob für eine kurze Vorlage.
({1})
Nun ist es dem armen Kollegen Erhard auch wieder nicht recht. Das nächste Mal machen wir es wieder länger. Dann sagt er: Gesetzesflut, die schreiben viel zu viel. Herr Kollege Erhard, lassen Sie uns so etwas mit gutem Humor im Ausschuß weiter behandeln. Ich bin völlig offen für die Frage, ob wir das Beurkundungsgesetz ändern sollten. Wir sollten das aber nicht über das Knie brechen. In den Urkunden, die nicht vorgelesen werden, stecken doch oft Dinge drin, die die Parteien eigentlich mit gutem Recht wissen sollten. Lassen Sie uns doch gemeinsam suchen.
Dann mache ich Ihnen noch ein Angebot. Gehen wir doch - der Kollege Kleinert macht uns dies wirklich in angenehmer Weise deutlich - in solche Debatten nicht immer herein, als wenn wir vorher ein Gläschen Salzsäure miteinander getrunken hätten.
({2})
Lassen Sie uns doch ganz locker und munter miteinander reden. Sind Sie denn am Abend glücklicher, wenn Sie jetzt auch noch an Hand dieser Frage dem Bundesjustizminister nachgewiesen haben, daß er nichts versteht, alles ganz falsch macht, die Leute beunruhigt und die Werte zerstört und verzehrt? Also alles mit etwas Abschlag.
({3})
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat empfiehlt, beide Entwürfe an den Rechtsausschuß - federführend - und zur Mitberatung an den Ausschuß für Raum13996 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Vizepräsident Frau Funcke
Ordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Das Haus ist damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte
- Drucksache 8/3181 Das Wort zur Begründung hat Herr Bundesminister Vogel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon weil die Sache einen sehr langen Titel hat, darf ich mich außergewöhnlich kurz fassen. Es geht darum, daß wir in der Europäischen Gemeinschaft die Dienstleistungen liberalisieren und auch die freien Berufe allmählich grenzüberschreitend tätig werden lassen wollen. Bei, den Ärzten ist das weit fortgeschritten. Nun gibt uns die Richtlinie den Auftrag, auch für die Berufsausübung der Anwälte den ersten Schritt zu tun. Eine volle Niederlassungsfreiheit quer durch die Rechtsgebiete ist freilich noch nicht möglich, weil die Rechtsordnungen noch viel zu unterschiedlich sind und weil es infolgedessen nicht gewährleistet werden könnte, daß der Rechtsuchende tatsächlich den optimalen Rat bekommt. Wir wollen statt dessen im Rahmen der Richtlinie erlauben und es ermöglichen, daß auch Anwälte aus den anderen EG-Staaten vor unseren Gerichten auftreten und tätig werden, aber immer in Begleitung eines deutschen Rechtsanwalts. Wenn Verfahrenshandlungen vorgenommen werden und es ausnahmsweise zu einer ,Divergenz zwischen dem ausländischen Kollegen und dem deutschen Anwalt kommt, dann hat die Entscheidung des deutschen Anwalts den Vorrang.
Wir halten dies für eine vernünftige Ausfüllung der Richtlinie. Wir meinen, es ist ein Schritt zur Europäisierung auch auf diesem Gebiet, aber kein übereilter, sondern einer, der den Gegebenheiten Rechnung trägt. Das Gesetz selber ist wesentlich länger. Das hängt einfach mit der Vielzahl der Fragen zusammen, die nach der Richtlinie irgendwie beantwortet werden müssen. Ich bitte, daß wir es noch in dieser Legislaturperiode zum Abschluß bringen, damit wir einer europäischen Verpflichtung gerecht werden.
({0})
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Interfraktionell ist ein Kurzbeitrag je Fraktion vereinbart.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Helmrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine allgemeine Vorbemerkung, die sowohl für diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung gilt als auch für andere. Die Frage, die ich anspreche, ist: Warum werden sämtliche Gesetzentwürfe der Fraktionen und des Bundesrates und Ausschußberichte mit einem Vorblatt veröffentlicht, in dem es unter A. „Problem", unter B. „Lösung", unter C. „Alternativen" und unter D. „Kosten" heißt, während es bei den Entwürfen der Bundesregierung unter A. „Zielsetzung" heißt? Es gibt eine Anordnung des Präsidenten vom 1. Dezember 1969, daß unter A. stets das Problem aufzuführen ist. In der Anweisung heißt es dann weiter, daß Entwürfe, die nicht so vorgelegt werden, zurückzuweisen sind. Ich möchte den Präsidenten an dieser Stelle nur bitten, einmal nachzuprüfen, warum nicht entsprechend dieser Anordnung verfahren wird.
({0})
Der Kollege Collet hat in seiner Erklärung darüber - wenn ich Ihnen das sagen darf - am 24. Januar 1978 gesagt:
Es setzt sich doch niemand plötzlich ein Ziel, weder die Regierung noch die Opposition noch irgendein sonstiger Antragsteller, sondern es gibt ein Problem in unserem Lande, das man lösen wall.
Und es wäre uns sehr hilfreich, wenn das Problem in den Vorblättern etwas deutlicher dargestellt würde.
Abgesehen von dieser Vorbemerkung möchte ich aber nun auf das hier eingebrachte Gesetz zu sprechen kommen. Herr Minister, Sie haben schon gesagt, worum es geht. Lassen Sie mich deshalb zum Herzstück dieses Gesetzes, dem § 4, kommen. Sie haben darauf hingewiesen, daß jeder ausländische Advokat, der bei uns vor einem Gericht oder bei einer Behörde auftreten will, von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt begleitet werden muß. Nicht zu Unrecht hat man diese Vorschrift deshalb die „Gouvernantenklausel" genannt. Das bedeutet aber - und wir müssen die Bundesregierung, glaube ich, in der Beratung fragen, ob das tatsächlich gewollt ist -, daß zwar jeder Franzose vor einem deutschen Amtsgericht selbst klagen kann und selbst Prozeßhandlungen vornehmen kann, daß aber, sobald er sich eines Anwalts aus dem EG-Bereich bedient, dieser Anwalt einen deutschen -„Gouvernantenanwalt" braucht. Das heißt: Der Advokat aus dem EG-Raum, der in Deutschland auftritt, kann weniger - beim Amtsgericht, wohlgemerkt - als der jeweilige Staatsbürger aus Frankreich, Belgien usw. Ich weiß nicht, ob das das Ziel des Entwurfes sein soll. Es ist richtig, daß nach dem Wortlaut der Richtlinie diese Regelung dem Art. 5 Alternative II entspricht. Aber ich knüpfe hieran die Frage, ob das Wort „Einvernehmen", das im deutschen 'Text der Richtlinie steht, in den übrigen Ländern im Sprachgebrauch dasselbe bedeutet wie das, was wir jetzt in unserem deutschen Gesetz daraus machen. Ich bitte, einmal zu prüfen, ob sich hier möglicherweise ein Übersetzungsfehler eingeschlichen hat. Denn ich kann es beim ersten Draufblick nicht als richDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13997
tig empfinden, daß bei einer Liberalisierung des Verkehrs der Anwälte im EG-Raum über die Grenzen der französische Advokat vor dem. deutschen Amtsgericht weniger können soll, als der französische Staatsbürger ohnehin kann. Das zum ersten.
Zum zweiten. Die Anwaltskammer nennt den Abs. 2 des § 4 problematisch, weil alle Handlungen, die nicht im Einvernehmen erfolgt sind, schlicht unwirksam sein sollen. Ich frage mich, ob wir die Richtlinie so restriktiv auslegen müssen.
Am Rande sei zu Abs. 2 noch folgendes bemerkt. Solche Fehler sollten nach Möglichkeit nicht unterlaufen. Alles, was nach Art. 1 getan werden kann, wird in Abs. 2 für unwirksam erklärt, wenn das Einvernehmen nicht. vorliegt. Das gilt auch, wenn der Advokat aus Frankreich einen Besuch im Gefängnis ohne Begleitung macht. Dann wird dieser hinterher für unwirksam erklärt. Das ist ein Lapsus, den man sicherlich beseitigen kann.
Die Frage, welche Stellung der Anwalt aus dem EG-Bereich in Deutschland haben soll, setzt sich dann fort, soweit es sich um die reinen Anwaltsprozesse handelt, also ab Landgericht aufwärts. Da heißt es in der Begründung: § 78 ZPO bleibt unberührt. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat darauf hingewiesen, daß es eindeutig ist, was das bedeutet. Sie legt das Gesetz jetzt dahin gehend aus, daß ein französischer Advokat selbst nicht einmal mehr mit dem Einvernehmen eines deutschen Anwalts vor dem Landgericht Prozeßhandlungen vornehmen kann. Ich habe Zweifel, ob das so gemeint ist. In der Begründung wird der § 78 ZPO auch nur im Zusammenhang mit dem Lokalisationsprinzip genannt, und dann werden die entsprechenden Vorschriften aus dem GWB, dem UWG, dem Warenzeichengetz herangezogen. Soweit es sich in § 78 ZPO nur um das Lokalisationsprinzip handelt, mag das richtig sein. Aber der § 78 ZPO enthält vielmehr als nur das Lokalisationsprinzip. Er enthält die Bestimmung, wann ein Anwaltsprozeß vorliegt, d. h., wann überhaupt ein Anwalt auftreten muß. Da meine ich, daß das, was bezüglich der Amtsgerichte jetzt an Einvernehmenshandlungen möglich ist, auch der ausländische Anwalt im Anwaltsprozeß tun können müßte. Das gebe ich zu bedenken.
Das gleiche gilt für die Auseinandersetzung der Bundesregierung mit dem Bundesrat über die Frage des § 138 Abs. 2 der Strafprozeßordnung. Jeder amerikanische Anwalt, Professor oder sonstige Rechtskundige kann bei einem deutschen Gericht als Verteidiger zugelassen werden. Das geht nach dem Gesetzentwurf, soweit es sich um Anwälte aus dem EG-Bereich handelt, jetzt nicht mehr. Die Bundesregierung sagt mit Blick auf das Diskriminierungsverbot: da der deutsche Anwalt nicht einem besonderen Zulassungsverfahren nach § 138 Abs. 2 StPO unterworfen ist, darf auch der EG-Anwalt, der in Deutschland auftritt, einem solchen Verfahren nicht unterworfen werden, sonst würde er ja diskriminiert. Aber ich frage Sie: Was ist die größere Diskriminierung, nach einem Zulassungsverfahren nach § 138 Abs. 2 frei auftreten zu dürfen oder aber ohne ein solches Zulassungsverfahren nur mit einem Gouvernantenanwalt auftreten zu
dürfen? Hier muß man, glaube ich, das Diskriminierungsverbot nicht allein vom Buchstaben her auslegen; eine sinngemäße Auslegung würde möglicherweise doch zu einem anderen Ergebnis, wie der Bundesrat es vorgeschlagen hat, führen können.
Ich komme zum Schluß und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß sich mit Hilfe dieses Gesetzes eine Sonderkaste von europäischen Anwälten herausbildet,, die sich mancher Schwierigkeiten, die uns das EG-Recht beschert - wenn ich etwa auf das Tabaksteuergesetz und auf die darin enthaltenen Definitionen hinweise, die ja nur deshalb so schwierig sind, weil sie EG-weit abgestimmt sind -, besonders annimmt.
({1})
Herr Kollege Helmrich, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede das Bundestagspräsidium aufgefordert, sich um die Vereinheitlichung des Deckblattes zu kümmern. Es trifft zu, daß der Bundestag die Übung hat, auf dem Deckblatt unter A von „Problem" zu sprechen. Ebenso trifft aber zu, daß die Bundesregierung und, wie Sie unschwer feststellen können, auch der Bundesrat Wert darauf legen, statt von „Problem" von „Zielsetzung" zu sprechen. Wir respektieren diese Wünsche und nehmen deswegen auch die kleine Uneinheitlichkeit in Kauf. - Herr Kollege Helmrich, wünschen Sie eine Frage an mich zu stellen?
Nein, keins Frage, sondern ich wollte nur sagen: Ich danke für Ihren Hinweis, aber ich bin der Auffassung, daß es ein sehr feiner Unterschied sein kann, ob man einen Gesetzentwurf lediglich mit einer Zielsetzung beginnt oder aber ein Problem sieht, das es zu lösen gilt.
Sie haben, philologisch gesehen, völlig recht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Weber ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Helmrich, es ist gleich 19.40 Uhr, und da habe ich keine Lust, hier etwas fortzusetzen, was von Ihnen begonnen worden ist, was aber gar nicht den Gepflogenheiten dieses Hauses entspricht, nämlich an dieser Stelle Detailprobleme zu erörtern, die in die Ausschußberatungen gehören. Ich meine, das können wir den noch hiergebliebenen Damen und Herren Kollegen gar nicht zumuten.
Wir können sicherlich auch davon ausgehen, daß die Gruppe von Bürgern, die von diesem Gesetz einmal betroffen sein wird, den Inhalt verstehen wird, gleichgültig, ob wir bei diesem Gesetzentwurf nun vorweg die „Zielsetzung" oder das „Problem" beschreiben.
13998 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dr. Weber ({0})
An dieser Stelle gleich ein Wort an die Zunft der Rechtsanwälte, die von diesem Gesetz einmal betroffen sein wird und die vielleicht der Überschrift entnehmen zu können glaubt, entweder sei nun die im Heimatland gegründete berufliche Existenz gefährdet, weil ein Heer von Anwälten aus anderen EG-Staaten in die Bundesrepublik ströme, oder die Einkünfte aus dem Heimatland könnten nach diesem Gesetz durch eine Zweigniederlassung in einem anderen EG-Staat aufgebessert werden. Je nach ihrer Ambition können die Anwälte, wenn sie das Gesetz einmal ganz lesen, sich freuen oder auch enttäuscht sein. Denn durch dieses Gesetz wird nicht - der Herr Justizminister hat schon darauf hingewiesen - der europäische Rechtsanwalt geschaffen. Es soll vielmehr nur die grenzüberschreitende Tätigkeit der Rechtsanwälte gesetzlich geregelt werden. Es geht dabei um den sogenannten Dienstleistungsverkehr, d. h., es soll die Ausübung anwaltlicher Tätigkeit in jedem anderen EG-Staat, dem sogenannten Aufnahmestaat, unter gleichzeitiger Beibehaltung der Niederlassung im Heimatstaat, im sogenannten Herkunftsstaat, ermöglicht werden. Deshalb werden auch keine Bestimmungen darüber getroffen, wann oder durch welches Verfahren ausländischen Rechtsanwälten eine Zulassung zur deutschen Rechtsanwaltschaft ermöglicht wird.
Was regelt das Gesetz? Nach bisherigem innerstaatlichen Recht dürfen ausländische Staatsangehörige auf dem Gebiet der Rechtsberatung und Rechtsbesorgung bei uns grundsätzlich nicht tätig werden, soweit sie die zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten erforderliche Erlaubnis nach dem Rechtsberatungsgesetz nicht besitzen. Für die Staatsangehörigen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft regelt dieser Gesetzentwurf nunmehr die Voraussetzungen, unter denen sie anwaltlich in einem anderen EG-Staat tätig werden können.
Dafür gilt erstens, daß derjenige tätig werden darf, der berechtigt ist, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft seine berufliche Tätigkeit unter dem für uns bezeichnenden Begriff „Rechtsanwalt" auszuüben, wobei das Recht des Herkunftslandes maßgeblich ist.
Zweitens sind alle gerichtlichen und außergerichtlichen Tätigkeiten vertretender und beratender Art erlaubt, die ein bei einem deutschen Gericht zugelassener Rechtsanwalt ausüben kann, sofern diese Tätigkeiten selbständig, also nicht in einem abhängigen Arbeitsverhältnis, ausgeübt werden.
Drittens wird klargestellt, daß alle innerstaatlichen Vorschriften, die sich auf die Ausübung anwaltlicher Tätigkeiten beziehen, auch auf den Dienstleistungserbringer anzuwenden sind. Dies gilt für Vorschriften, die den Anwälten in besonderen Situationen eine besondere Stellung einräumen, ebenso wie für die Berufspflichten und Standesregelungen. Diese Handlungsbefugnis des Dienstleistungserbringers wird für einen Teil der Rechte pflege eingeschränkt, nämlich u. a. für die gerichtlichen Verfahren aller Gerichtsbarkeiten und bestimmte behördliche Verfahren. Der Dienstleistungserbringer muß in diesen Fällen im Einvernehmen mit einem Rechtsanwalt hier in der Bundesrepublik handeln, der selbst Prozeßbevollmächtiger oder Verteidiger ist. Damit wird - über den Begriff des Einvernehmens können wir uns im Ausschuß noch unterhalten - der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens nach deutschem Recht sichergestellt, und es wird letztlich die Verantwortlichkeit gewährleistet, wobei - ich meine, darauf sollten wir besonderes Gewicht legen - eine gewisse Großzügigkeit auch bei der Auslegung des Begriffes „Einvernehmen" erlaubt sein muß. Das kommt auch bereits dadurch zum Ausdruck, daß es dem deutschen Rechtsanwalt z. B. überlassen bleiben soll, in welcher Weise er sein Einvernehmen im konkreten Fall zum Ausdruck bringt.
Wir sollten diesen Gesetzentwurf begrüßen, weil er geeignet ist, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bestehende künstliche Barrieren abzubauen, und weil er sich als ein erster Schritt zur Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auf beruflichem Gebiet anbietet.
Da - damit knüpfe ich an die Bemerkung des Herrn Bundesjustizministers an - das Recht in Europa nicht so einheitlich geformt ist wie der menschliche Körper, wird es sicherlich noch einige Zeit dauern, bis wir zu einer Vereinheitlichung kommen, aber ich kann Ihnen versprechen, daß wir diesen Gesetzentwurf im Rechtsausschuß zügig beraten werden.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Meine Herren Vorredner haben in bemerkenswerter Weise schon einige Dinge angedeutet, die zeigen, wie gründlich wir uns im Rechtsausschuß mit der Problematik zu befassen haben werden. Ich meine, wir sollten als erstes bei dieser Gelegenheit ein herzliches Willkommen all denjenigen europäischen Kollegen sagen, die in den dafür geeigneten Fällen vor unseren Gerichten aufzutreten wünschen.
({0})
Ich glaube, dies alles wird sich in einem verhältnismäßig kleinen Rahmen abspielen; denn nach den Dichtern sind es wahrscheinlich die Advokaten, die am meisten auf die Sprache als Mittel ihrer beruflichen Tätigkeit angewiesen sind.
({1})
Von daher besteht überhaupt keine Veranlassung zu glauben, daß eine Überfremdung auftreten könnte und irgend jemand in seiner Existenz bedroht werden könnte. Was auf uns zukommen kann, ist ausschließlich Bereicherung.
({2})
In diesem Sinne kann man doch wirklich diesen Gesetzentwurf aus vollem Herzen begrüßen. Mit
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13999
diesen Worten möchte ich es - weil Sie gerade so guter Stimmung sind - bewenden lassen.
({3})
Wird das Wort weiter gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung der Vorlage an den Rechtsausschuß. Ist das Hohe Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. So beschlossen.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zur Förderung des Baues von Erdgasleitungen
- Drucksache 8/3081 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen damit zur Aussprache. Es ist Kurzdebatte vereinbart. Das Wort hat der Abgeordnete Spies von Büllesheim.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Steigende Energiepreise verschärfen als solche die Wettbewerbsnachteile ländlicher Räume. Es war daher richtig, daß die Bundesregierung bereits im Jahre 1979 das Versprechen abgab, anläßlich der Erhöhung der Mineralölsteuer einen Teil der dadurch aufkommenden Mittel zur Entzerrung der regionalen Disparitäten in der Energieversorgung einsetzen zu wollen.
Wie es oft so ist: Die gute Absicht schlummerte dahin; sie kam nicht zur Ausführung. Steigende Energiepreise und knapper werdendes Mineralöl machen die Lösung schon lange gesehener Probleme inzwischen dringlicher.
Der Gruppenantrag der Kollegen Schmidhuber, Warnke, Waigel und Kollegen vom 26. Juni 1978 hat sich des Problems dann erneut angenommen und in der Nr. 3 die Förderung des Auf- und Ausbaus der regionalen Erdgasnetze und ihre Einbindung in das europäische Erdgasverbundsystem gefordert. In Zeiten beginnender Energieknappheit ist es besonders wichtig, möglichst allen Regionen der Bundesrepublik auch Erdgas anbieten zu können, das für die Versorgungssicherheit notwendig ist. Außerdem wird Erdgas heute noch relativ kostengünstig angeboten, so daß dessen Nichtvorhandensein die Wettbewerbsfähigkeit entfernt liegender Gebiete beeinträchtigt. Sicherlich reichen auch die Vorräte an Erdgas bei dem höheren Anteil heimischer Erzeugung wesentlich weiter als beim Mineralöl. Außerdem sind breit gestreut langfristige Lieferverträge abgeschlossen worden, so daß sich hier eine gewisse Versorgungssicherheit ergibt, die beim Mineralöl nicht erreichbar ist. Schließlich besteht langfristig die Erwartung, daß das Angebot von . Gas durch die Vergasung von
Kohle verbreitert wird und dadurch eine zusätzliche heimische Erzeugung zu beachtlichem Anteil weiter gewährleistet bleibt.
Die Gaswirtschaft baut ihr Verteilernetz in der Bundesrepublik schnell und zügig aus. Es ist aber selbstverständlich, daß zunächst die Leitungen gebaut werden, die eine möglichst große Zahl von Abnehmern möglichst schnell erschließen. Ein anderes Verhalten der deutschen Gaswirtschaft kann im Rahmen unseres marktwirtschaftlichen Systems nicht erwartet werden. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß die entlegenen Räume, die zum Abbau der regionalen Disparitäten in der Energieversorgung des Gasanschlusses besonders dringend bedürfen, auf diesen Anschluß besonders lange warten müssen.
Dieser Entwicklung soll durch den vorliegenden Gesetzentwurf begegnet werden. Es entspricht dem Art. 104 a des Grundgesetzes, daß der Bund den Ländern Finanzhilfen gewährt, wenn das zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet erforderlich ist. Der Art. 104 a des Grundgesetzes bestimmt, daß die gemeinsam wahrgenommene Aufgabe durch Bundesgesetz oder auf Grund des Bundeshaushaltsgesetzes durch eine Verwaltungsvereinbarung geregelt werden kann.
Die Bundesregierung hat im September 1978 den Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung vorgelegt, die in ihrem Inhalt sehr weitgehend dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf entspricht. Wegen verfassungsrechtlicher Bedenken einzelner Länder gegen neue Formen der Mischfinanzierung und ihrer daraus folgenden mangelnden Bereitschaft, eine solche Verwaltungsvereinbarung abzuschließen, konnte dieser Weg dann letztlich nicht beschritten werden. Ohne Beteiligung aller Länder ist eine rechtlich abgesicherte verfassungsmäßige Regelung nur durch ein Gesetz möglich.
Dieses Gesetz hat das Land Schleswig-Holstein im März 1979 im Bundesrat eingebracht. Der Bundesrat hat am 11. Mai 1979 beschlossen, den Gesetzentwurf beim Deutschen Bundestag einzubringen.
Die Bundesregierung wiederholt in ihrer Stellungnahme, daß sie eine Verwaltungsvereinbarung für das geeignetere Mittel zur Lösung des Problems gehalten habe, daß sie aber gegen das Gesetz als solches keine grundsätzlichen Einwendungen erhebe. Alle Beteiligten sind also in der Notwendigkeit des Gesetzes und auch in der Zielsetzung völlig einig. Es geht darum, erstens den Disparitäten in der Wirtschaftskraft und Wirtschaftsentwicklung entgegenzuwirken, zweitens die Versorgungssicherheit durch das zusätzliche Angebot von Gas überall in der Bundesrepublik zu verbessern, drittens auch in den bisher nicht mit Gas versorgten Räumen über den Einsatz von Gas den Mineralölanteil an der Energieversorgung zurückzudrängen, viertens sogenannte Inselgaswerke, d. h. bereits bestehende Ortsnetze, an das überregionale Erdgasverbundnetz anzuschließen.
14000 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Die Beratungen in diesem Hause werden sich angesichts dieser Situation vor allem mit folgenden noch offenen Detailfragen zu befassen haben:
Erstens. Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht Finanzierungshilfen des Bundes in Höhe von höchstens 20 % vor. Das würde eine Gesamtförderung in Höhe von 40 °Io bei gleichem Länderanteil bewirken. Hier sollte hervorgehoben werden, daß das Gesetz den Ländern nur ein Angebot macht. Es steht den Länder frei, die angebotenen Bundesmittel anzunehmen oder nicht. Es steht ihnen auch frei, selbst über den durch den Bundesanteil vorgegebenen Fördersatz hinaus für solche Projekte eine besondere, noch höhere Landesförderung für Einzelprojekte zu gewähren.
Zweitens. Die Bundesregierung hält einen Fördersatz von bis zu 30 % - Bund und Land je 15 % - für eine ausreichende Förderung. Bei höheren Beihilfen bestehe die Gefahr, daß auch Leitungen verlegt würden, die auch langfristig unwirtschaftlich seien.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht vor, daß alle Vorhaben gefördert werden, die am 1. August 1978 noch nicht begonnen waren. Diese Rückwirkung sei notwendig, weil ab diesem Zeitpunkt bereits Leitungen gebaut worden seien in der Erwartung der Bezuschussung.
Die Bundesregierung hält eine Rückwirkung nicht für notwendig. Bereits im November 1978 sei nämlich absehbar gewesen, daß der Weg einer kurzfristig abzuschließenden Verwaltungsvereinbarung nicht habe beschritten werden können.
Beide Fragen sollten letztlich lösbar sein, zumal der Finanzrahmen des Gesetzes mit Finanzhilfen des Bundes in Höhe von 170 Millionen DM für fünf Jahre festgeschrieben ist. Werden also Projekte rückwirkend gefördert oder mit einem höheren Fördersatz versehen, so vermindern sich die in der Zukunft noch zur Verfügung stehenden Mittel.
Noch offen sind weiterhin Fragen der verwaltungsmäßigen Abwicklung, des Rechts des Bundesministers für Wirtschaft, einzelne Förderungsprojekte von der Förderung auszuschließen etc.
Schließlich ist auch noch die Frage zu entscheiden, ob hinsichtlich technischer Einzelfragen auf der Grundlage des Gesetzes noch eine Verwaltungsvereinbarung abgeschlossen werden soll, um das Gesetz von sonst notwendigen Einzelbestimmungen zu entlasten.
Die Flächenländer sind an einer beschleunigten Verabschiedung des Gesetzes interessiert. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Herr Dr. Stoltenberg, hat in seiner Rede vor dem Bundesrat erklärt, daß es letzlich gleichgültig sei, ob nun eine Förderung von 15 oder von 20 % von Bund und Land gewährt werde. Wichtiger sei es aus der Sicht des Landes Schleswig-Holstein, das Gesetz über die Finanzhilfen beschleunigt zu verabschieden, damit möglichst bald etwas geschehe.
Die Fraktion der CDU/CSU wird bemüht sein, an dieser erwünschten und dringend notwendigen Beschleunigung mitzuwirken.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haase ({0}).
Frau Präsident! Meine Herren, die sie noch übriggeblieben sind! Der Gesetzentwurf, den die Landesregierung von Schleswig-Holstein vorgelegt hat, ist an sich ein Abklatsch der Verwaltungsvereinbarung, die die Bundesregierung vorgelegt hat. Diese Verwaltungsvereinbarung wurde mit dem Widerspruch des Landes Niedersachsen hinfällig gemacht, und nunmehr hat in der berühmten Ländersolidarität wohl das Land Schleswig-Holstein versucht zu retten, was noch zu retten ist, und hat seinerseits diesen Gesetzentwurf eingebracht. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Die SPD-Fraktion wird diesen Gesetzentwurf mit großem Interesse beraten.
Auch die revierfernen Gebiete sollen an die Erdgasversorgung angeschlossen werden. Darüber gibt es gar keinen Streit.
Nach dem Gesetzentwurf soll es den Bund auch einiges kosten, nämlich 170 Millionen DM in vier Jahren - eine nicht unerhebliche Summe.
Wenn ich das zusammennehme, dann darf ich doch einmal fragen, ob denn nun der Bau von Erdgasleitungen als Alternative zum Heizöl oder als Alternative zu anderen Energieträgern - wie z. B. der Fern- und Abwärme oder vielleicht auch der Stromversorgung - gedacht ist. Denn das kann ja wohl nicht so gemeint sein, daß wir einen Energieträger, der am Ort bereits vorhanden ist, durch einen anderen ersetzen oder ihm dadurch Konkurrenz machen -, mit erheblichen Bundeszuschüssen bestückt.
Welche Mehrungen wird nun das Erdgas zur Folge haben, wenn die Installationen erst einmal stattgefunden haben? Wie hoch schätzt man den zusätzlichen Verbrauch? Wie hoch schätzt man überhaupt die Ausweitungsfähigkeit der Menge des Brennstoffes Erdgas? Wieweit lassen das die Vorkommen zu? Eine weitere Frage, die zu stellen sein wird: Handelt es sich bei den öffentlichen Mitteln um Subventionen, die ohne Rücksicht auf die Unternehmen selbst gezahlt werden? Das heißt: Werden auch Unternehmen dabei sein, die - wie z. B. in Niedersachsen - von den niedersächsischen Erdgasfeldern profitieren und damit an den windfall profits teilhaben? Wie kann die Mitsprache der Bundesregierung hinreichend abgesichert werden? Gibt es Rückzahlungsverpflichtungen für Subventionsempfänger, wenn sie mit ihrem Projekt aus den roten Zahlen hinausgekommen sind? Oder sind das verlorene Zuschüsse? So gibt es eine ganze Reihe von Fragen, die hier zu stellen sind.
({0})
Abschließend noch eine Bemerkung zu § 7 des Gesetzentwurfs. Ich habe ja Verständnis dafür, wenn CDU/CSU-geführte Länder in jedem Fall ihre berlinfreundliche Gesinnung unter Beweis stellen möchten und dieses auch tun, indem sie, wie in § 7 vorgesehen, eine Berlin-Klausel aufnehmen. Nur fordere ich dann dazu auf, den Inhalt des Gesetzes
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14001
Haase ({1})
so abzufassen, daß das Land Berlin von dem ganzen auch profitiert. Davon steht nichts im Gesetz. Im Gegenteil: Berlin ist ausdrücklich von diesem Gesetz und seiner Wirkung ausgenommen.
({2})
Dieses Gesetz läßt doch eine Reihe von Fragen offen, was hiermit demonstriert wurde. Ich glaube, wir haben in den Beratungen mehr Zeit, dieses noch zu korrigieren oder jenes zu unterstützen, je nachdem, für wie schlecht oder wie gut wir dieses Gesetz im einzelnen halten.
Die SPD-Fraktion glaubt, daß dieses Gesetz mit wohlwollendem Interesse in die Beratungen kommen sollte.
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Das Wort hat der Abgeordnete Zywietz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf des Bundesrates beantragt für fünf Jahre - genaugenommen: für die Zeit von 1979 bis 1983 - Bundeszuschüsse in der Gesamthöhe von 170 Millionen DM zum Ausbau des Erdgasnetzes in bestimmten Regionen der Flächen-Bundesländer. Damit sind eigentlich die beiden Hauptabsichten dieser Vorlage angedeutet, nämlich zum einen regionalpolitische Hilfestellung für strukturschwache und benachteiligte Regionen zu geben, Disparitäten abzubauen, damit die" wirtschaftlichen Verhältnisse und damit die Lebensverhältnisse für alle Bewohner der Bundesrepublik in etwa gleiche Chancen gewähren, zum anderen energiepolitisch gesehen die Chancen für die Nutzung und Anwendung des Erdgases zu verbessern, um damit die Diversifizierung im energiepolitischen Bereich weiter voranzutreiben.
Sowohl der regionalpolitischen als auch der energiepolitischen Zielsetzung können wir im Grundsatz zustimmen. Regionalpolitik und Energiepolitik haben bei uns einen hohen Stellenwert. Die vorgesehenen Maßnahmen können sowohl in Richtung einer Unterstützung schwach strukturierter Gebiete als auch einer Erhöhung der energiepolitischen Sicherheit von Vorteil sein und uns ein gutes Stück weiterbringen.
Wir begrüßen auch die regionale Schwerpunktbildung bei der Aufteilung der Finanzhilfen auf die Länder, wie sie im Zahlenspiegel, der dem Gesetz beigegeben ist, ihren Ausdruck findet. Wir meinen, daß der Bund mit einem Fördersatz von 15 % dieser ursprünglichen Länderaufgabe seine Unterstützung in ausreichender und richtiger Höhe zuteil werden läßt. Es ist eine Unterstützung, die, wie ich andeutete, auf die strukturschwachen Gebiete abzielt, weil sich in den Stadtstaaten und in den Ballungszentren die Ausbreitung von Erdgasnetzen von der Rendite her rechnen läßt. Dort sind keine weiteren Anreize durch öffentliche Mittel vonnöten.
Noch ein paar Bemerkungen aus energiepolitischer Sicht; denn mit diesen regionalen Hilfsmaßnahmen werden wir auch energiepolitische Reflexe hervorrufen, die wir begrüßen, weil sie genau im Rahmen der Zielvorstellung liegen, die in den auch hier wiederholt erörterten Darlegungen zur Energiepolitik der Bundesregierung zum Ausdruck gekommen ist: rationelle Energieverwendung und Substitution, eine Politik weg vom Ö1 - auch wenn das nicht so schnell geht, wie man sich das mitunter vorstellt -, eine Politik, die die Angebotspalette im Bereich der Energieträger erweitern und eine Risikostreuung durch den Bezug aus mehreren Regionen sicherstellen will. All dies trifft auf das Erdgas, das hier eine Förderung erfahren soll, zu.
Wir begrüßen es, daß hiermit auf dem Wärmemarkt ein Substitutionsprozeß eingeleitet werden kann, ein wenig weg vom Ö1 und mehr hin zum Erdgas. Mit dem Wärmemarkt hat man den richtigen Ansatzpunkt gewählt, weil dort etwa 40 % der gesamten Energie verwendet werden, so daß dort, so möchte ich einmal sagen, das kostbare Ö1 etwas „freier" gemacht werden kann für jene Verwendungsbereiche, wo es sehr viel schwerer zu substituieren ist, nämlich im Bereich der Chemie als Vorprodukt und im Verkehrssektor. Damit unterstützen wir diese Nebeneffekte der Regionalmaßnahmen im energiepolitischen Bereich.
Es sei nur angemerkt, daß mit dem Erdgas ein Energieträger gefördert wird, der besonders umweltfreundlich ist und der, wenn auch begrenzt wie alle Energieträger, dennoch von den Ressourcen her betrachtet eine erheblich längere Reichweite hat. Es ist ein Energieträger, bei dem wir nicht in so extrem hohen Maße wie beim Erdöl auf Bezüge aus dem Ausland angewiesen sind. Wir haben hier einen eigenen Produktionsanteil von ungefähr 30 % und können weitere Partien aus dem benachbarten Ausland beziehen. Damit sind wir nicht wie beim 01 nur auf die OPEC-Staaten angewiesen.
Ich möchte hinzufügen, daß mit Hilfe des 15 %igen Anreizes des Bundes - wobei wir erwarten, daß er durch 15 % Länderanteil ergänzt wird, so daß, daraus resultierend, wie man bislang weiß, 60 bis 70 Projekte gefördert werden - die Planung und der Vollzug dieser Projekte auch in enger informativer Fühlungnahme mit den Kommunen, mit den bisherigen Händlern der konventionellen Brennstoffe und nicht zuletzt mit den eventuell begünstigten oder betroffenen Bürgern geschieht, damit sie nicht eines Tages relativ schnell vor vollendete Tatsachen gestellt werden, weil sie vielleicht noch in anderen Bereichen Investitionen getätigt haben und sich dann nur sehr schwer und vielleicht nur mit erheblichen Reibungsverlusten politischer Art diesem Angebot zuwenden können.
Ich möchte noch einige Anmerkungen hinsichtlich des Verfahrens des eingebrachten Gesetzes machen. Zwei Aspekte bedürften, wenn man den Gesetzentwurf betrachtet, nach unserer Auffassung noch einer Verdeutlichung. Es handelt sich um eine Programmaßnahme von 170 Millionen DM auf fünf Jahre. Wenn man den Beginn der Maßnahme
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im Gesetz fixiert, dann sollte man auch das Auslaufen der Maßnahme im Gesetz zum Ausdruck bringen.
Auch die Frage, in welcher Weise der Zuschußgeber, der Bund, an dieser Projektierung beteiligt wird, bedarf noch einmal der gutwilligen Überprüfung. Nur eine nachträgliche Vollzugsmeldung als Entgegenkommen der Bundesländer, wie es im Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt, scheint mir in der Tat etwas zu wenig zu sein bei einem 15 %igen Fördersatz und einer Gesamtsumme von 150 Millionen, die der Bund zur Verfügung stellen soll.
Abschließend möchte ich noch eine genauere Betrachtung zu einem Umstand anstellen, der mir eigentlich ein bißchen widersprüchlich und unangenehm zu sein scheint. Von Vorrednern ist dargelegt worden, daß der gleiche Inhalt und die gleiche Zielsetzung in der regionalen Förderung und in der Energieförderung auch mit einem Verwaltungsabkommen hätte verwirklicht werden können. Ausgerechnet das Bundesland Niedersachsen hat diesen Verwaltungsweg blockiert. Hier hätte man einmal ein praktisches Beispiel dafür geben können, wie man mit weniger Bürokratie das gleiche Ziel erreicht. Der durchaus vernünftige und gangbare Weg ist sinnigerweise verstopft und blockiert worden von einem Bundesland, das bei der Erhöhung des Förderzinses für die Gasvorkommen und die Erdölvorkommen in seinem Bereich, ich möchte einmal sagen, vom Bund sehr tolerant behandelt worden ist. Ausgerechnet dieses Land versperrt hier schnelle und unbürokratische Wege, um regionalpolitisch und energiepolitisch das zu tun, was in diesem Gesetz zum Ausdruck kommt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß das eine CDU-Land den kurzen, unbürokratischen, zum gleichen Ergebnis führenden Weg blockiert und das Nachbarland mit Herrn Stoltenberg das in Gesetzesform einbringt und dann allerdings gleichzeitig die Peitsche durch die Aussage im Bundesrat hebt, der Prozentsatz - ob 15 oder 20 °/o - sei nicht der entscheidende Punkt, aber es sei Eile geboten. Auf diesen Hinweis hätte man verzichten können, wenn man den durchaus angebotenen Weg des Verwaltungsabkommens gegangen wäre.
Wir werden uns allerdings - das darf ich für die FDP-Fraktion sagen -, auch wenn wir an diesen Formfragen Anstoß nehmen, bei den weiteren Beratungen mehr von den inhaltlichen von uns begrüßten Zielsetzungen leiten lassen.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs des Bundesrats auf Drucksache 8/3081 an den Ausschuß für Wirtschaft sowie gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsauschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes
- Drucksache 8/3194 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({0})
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht. Interfraktionell ist ein Kurzbeitrag für jede Fraktion vereinbart. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Berger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes wird ein Problembereich erfaßt, der durch das Haushaltsstrukturgesetz im Jahr 1975 geschaffen worden ist. Seinerzeit ist im Versorgungsrecht festgelegt worden, daß Beamte ihre Pension nur aus dem Amt erhalten, das sie zwei Jahre vor der Zurruhesetzung bekleidet haben. Diese Regelung ist praktisch ein Beförderungsverbot zwei Jahre vor der Pensionierung. Sinn und Zweck dieser Regelung war es, Geld einzusparen und sogenannte Gefälligkeitsbeförderungen kurz vor Ruhestandseintritt auszuschließen.
In den zurückliegenden vier Jahren hat sich gezeigt, daß diese Bestimmung rechtlich bedenklich, problematisch in der Praxis und altenfeindlich ist. Rechtlich bedenklich ist die Begrenzung, weil sie den Grundsatz der amtsgemäßen Versorgung einschränkt. Es gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, daß der Beamte die Pension grundsätzlich aus dem zuletzt ausgeübten Amt erhält. Problematisch in der Praxis ist die Regelung, weil sie dann zu ungerechten Ergebnissen führt, wenn neue Beförderungsämter durch Gesetz geschaffen werden.
Im Gegensatz zu der üblichen Beförderung, die von der Leistung des Beamten und der Beurteilung durch seinen Vorgesetzten abhängig ist, ist diese Beförderungsmöglichkeit an einen rein zufälligen Tatbestand geknüpft: an das Inkrafttreten des Gesetzes. Hier muß der Beamte dafür büßen, daß - wofür er nichts kann - das Gesetz nicht zu einem früheren Zeitpunkt erlassen worden ist. Zahlreiche Härten hat es in diesem Zusammenhang nach der Einführung des neuen Spitzenamtes - bekannt unter dem Stichwort A 9 plus Zulage - im Polizeivollzugsdienst gegeben. Dieses neue Spitzenamt, das Anfang 1979 im Polizeibereich eingeführt wurde, ist nicht zuletzt für ältere Beamte gedacht, weil diese häufig herausgehobene Dienstposten seit vielen Jahren wahrnehmen. Gerade diese Beamten können aber nach der jetzt geltenden Rechtslage von einer Beförderung nicht mehr für ihren Lebensabend profitieren, weil sie nach dem Gesetz zu alt waren. Das ist ungerecht.
Die Zwei-Jahres-Frist ist auch altenfeindlich. Sie diskriminiert den älteren Beamten gegenüber dem jüngeren. Sie folgt damit dem Vorurteil unserer juDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14003
Berger ({0})
gendbesessenen Zeit. In den öffentlichen Medien und in der Werbung wird uns weisgemacht, daß nur die jugendlichen Menschen leistungsfähig und leistungsbereit seien. Dieses Vorurteil ist falsch. Jeder, der in Behörden oder Betrieben gearbeitet hat, weiß, daß gerade ältere Menschen auf Grund ihrer unersetzbaren Erfahrung wertvolle Dienste leisten können, die denen der jüngeren Beschäftigten in nichts nachstehen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb die Initiative des Bundesrats. Die Zurückführung der Wartefrist von bisher zwei Jahren auf ein Jahr trägt den von mir soeben dargelegten Bedenken Rechnung. Andererseits werden durch diese Bestimmung die früher hier und da vorgenommenen Gefälligkeitsbeförderungen ausgeschlossen. Der Dienstherr wird es sich genau überlegen, ob er einen unfähigen Beamten - auch solche soll es ja geben - auf einen höherwertigen Dienstposten befördern und dort ein Jahr ertragen will. Durch die Befreiung von der einjährigen Wartefrist für die Fälle, denen die Schaffung eines neuen Beförderungsamtes durch Gesetz zugrunde liegt, werden die dargelegten Härten, wie sie bei der Einführung des Spitzenamtes im mittleren Polizeivollzugsdienst eingetreten sind, beseitigt. Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist sachgerecht und in sich ausgewogen.
Dem Bundesrat ist vom Bund der Steuerzahler der Vorwurf gemacht worden, er verfolge mit seiner Gesetzesinitiative eine „Aktion Abendsonne", die den Pensionären des öffentlichen Dienstes Vorteile bringen soll. Dieser Vorwurf ist grotesk und unhaltbar. Ich glaube, in meinem Beitrag bereits nachgewiesen zu haben, daß keine Privilegien geschaffen, sondern vorhandene Ungerechtigkeiten beseitigt werden sollen.
Auch die Haltung der Bundesregierung zu dem Gesetzentwurf ist mir unverständlich. Sie räumt einerseits selbst ein, daß infolge der Zwei-JahresFrist Schwierigkeiten eingetreten sind. Andererseits hat sie in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf des Bundesrats ohne jegliche Begründung erklärt, sie möchte an dieser Frist festhalten. Für diese Erklärung nimmt die Bundesregierung auch noch - wie bei ihren Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen des Bundesrates leider vielfach üblich geworden - die verfassungsrechtlich höchstzulässige Frist von drei Monaten in Anspruch und macht dann eine Kabinettsvorlage im Umlaufverfahren mit dem Hinweis, daß die Frist abläuft. Dann war also am Ende der drei Monate noch Eile vonnöten.
Bei den weiteren Beratungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages wird die Bundesregierung die Gründe im einzelnen nennen müssen, die nach ihrer Auffassung für die Beibehaltung der Zwei-Jahres-Frist sprechen. Die älteren Beamten haben einen Anspruch darauf, daß ihre Interessen auch von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen, die sich auf Wahlveranstaltungen gerne als altenfreundlich bezeichnen, wahrgenommen werden. Es geht nicht an, daß sie mit pauschalen Erklärungen abgespeist werden.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf eines hinweisen. Es stehen noch zahlreiche ungelöste Probleme im Bereich der Versorgung an. Ich nenne nur beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze für Bundesbeamte - meine Damen und Herren, Sie wissen sicher, daß die Betroffenen die durch das Haushaltsstrukturgesetz beschlossene Verschlechterung um ein Jahr als „sozialliberales" Jahr bezeichnen -, die Begrenzung der zumutbaren Eigenleitsung durch Beiträge für eine beihilfenkonforme - das heißt: für eine restkostendeckende - Krankenversicherung, die Gewährung ausreichender Beihilfen bei notwendiger Unterbringung von Versorgungsempfängern in Alten- und Altenpflegeheimen, eine Verbesserung der Situation der sogenannten nachgeheirateten Witwen. - Ursprünglich soll das von Ihnen, Herr Staatssekretär, einmal vorgesehen gewesen sein. Doch ich habe dann zu meinem Entsetzen gehört, es handele sich nur um Spielmaterial; diese Formulierung ist mir gegenüber in dem Zusammenhang gebraucht worden. Und nun steht es im Entwurf wohl nicht mehr, obwohl gerade dieses Problem besonders dringend ist. - Der seit März 1978, also seit. mehr als eineinhalb Jahren, überfällige Disparitätenbericht der Bundesregierung wird wegen des verfassungsgerichtlichen Verfahrens zur Pensionsbesteuerung noch immer zurückgehalten. Dies darf jedoch kein Hindernis dafür sein, wenigstens die notwendigen Neuregelungen in Angriff zu nehmen, die von der zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht berührt werden. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich bisher stets um eine Regelung dieser Problembereiche gedrückt.
Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, endlich auch die noch offenen Strukturprobleme auf dem Gebiet der Versorgung noch in dieser Legislaturperiode zu lösen, anstatt die älteren Mitbürger mit leeren Versprechungen hinzuhalten.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wittmann ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzesvorlagen betreffen Besoldungsstrukturfragen mit unterschiedlicher Zielsetzung. Mit der Bundesratsvorlage - Drucksache 8/3194 - soll erreicht werden, daß sich Beförderungen vor der Pensionierung - weitergehend als bisher - auf das Ruhegehalt auswirken. Mit der Vorlage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - Drucksache 8/2877 -, die wir beim nächsten Tagesordnungspunkt behandeln werden, soll das neue Spitzenamt für Polizeivollzugsbeamte auf alle Laufbahnen des mittleren Dienstes ausgedehnt werden.
Beiden Vorlagen ist gemeinsam, daß sie aus der Palette möglicher Strukturmaßnahmen nur zwei punktuelle Fragen herausgreifen, ohne daß sie in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden. Ich
14004 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Wittmann ({0})
gebe zu, daß eine konzeptionelle Besoldungspolitik angesichts der gewachsenen Besoldungsstrukturen mit ihren zahlreichen Ungereimtheiten auf vielfache, manchmal kaum überwindbare Hindernisse stößt.
({1})
Ungeachtet dessen darf das Ziel einer Gesamtlösung nicht aufgegeben werden.
Auch die Opposition sollte sich die Sache nicht so leicht machen, einerseits von der Bundesregierung ein umfassendes Besoldungsstrukturgesetz zu verlangen, andererseits heftig zu kritisieren, daß die Beratungen darüber noch nicht abgeschlossen sind, nicht zuletzt wegen zahlreicher Schwierigkeiten in den Ländern, und dann noch selbst einen Gesetzentwurf zu den einzelnen Maßnahmen vorzulegen. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nichts anderes als der Versuch der Wahlwerbung bei einer bestimmten Beamtengruppe.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates greift zweifellos ein wichtiges Anliegen der lebensälteren Beamten auf. Ich denke hierbei insbesondere an die Polizeibeamten, die erst kurz vor der Pensionierung in das neue Spitzenamt des mittleren Dienstes befördert werden konnten. Wir werden die Realisierbarkeit dieser Maßnahme sehr sorgfältig prüfen.
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Einige der möglichen Bedenken hat das Land Niedersachsen bereits geltend gemacht, das gegen den Bundesratsentwurf gestimmt hat.
Lassen Sie mich nochmals in Erinnerung rufen, daß wir mit dem Haushaltsstrukturgesetz im Jahre 1976 die Zwei-Jahres-Frist eingeführt haben, um auf Dauer zu verhindern, daß ältere Beamte jeweils kurz vor der Pensionierung auf einen Beförderungsposten verbracht werden. Herr Kollege Berger hat das ja hier mit dem Hinweis auf die Gefälligkeitsbeförderung sehr deutlich gemacht. Zur Zeit ist die Rechtslage so, daß ruhegehaltsfähige Dienstbezüge aus dem letzten Amt nur der Beamte erhält, der die Dienstbezüge dieses Amtes mindestens zwei Jahre erhalten hat. Bei Dienstunfähigkeit verkürzt sich die Frist auf ein Jahr.
Meine Damen und Herren, ich bin mir aber auch der Problematik bewußt, die einerseits in der Beachtung des versorgungsrechtlichen Beförderungsschnitts liegt und die ,andererseits dem Grundsatz der amtsgemäßen Versorgung Rechnung tragen soll.
Ich hoffe, daß wir bei den Ausschußberatungen zu einer vernünftigen Regelung kommen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Kollege Berger, es wäre sicher ein Vergnügen, wenn wir bei einem größeren Publikum Zeit hätten, über die Frage zu sprechen, wie weit mit dem ersten Entwurf, über den wir sprechen, nämlich dem Entwurf betreffend Änderung des Beamtenversorgungsrechts, sicher ernst zu nehmende Probleme wie Altenpolitik, Altenfeindlichkeit oder ähnliches berührt werden. Ich möchte mich in diesem wirklichen Kurzbeitrag auf das beschränken, was jetzt hier zur Entscheidung ansteht.
Es ist völlig richtig, daß für lebensältere Beamte ein Problem besteht, das sich durch das Haushaltsstrukturgesetz und die Rückführung der Grenze von einem Jahr auf zwei Jahre verschärft hat.
Der Vorschlag des Bundesrates betrifft zwei Punkte, nämlich erstens die Zwei-Jahres-Frist wieder auf eine Ein-Jahres-Frist zurückzuführen und zweitens Beförderungen und beförderungsgleiche Vorgänge, denen die Schaffung eines neuen Beförderungsamtes durch Gesetz zugrunde liegt, von dem Erfordernis der Ein-Jahres-Frist auszunehmen.
Ich möchte hier für meine Fraktion keinen Hehl daraus machen, daß wir gegen die erste Lösungsmöglichkeit immer noch einige Bedenken haben, obwohl hierbei sicherlich das letzte Wort nicht gefallen ist. Sicher ist diese Änderung, wie Sie selbst gesagt haben, Herr Kollege Berger, durch das Haushaltsstrukturgesetz eingeführt worden. Eine Änderung oder eine Lockerung des Haushaltsstrukturgesetzes in diesem einen Punkt würde eine ganze Reihe von Folgerungen nach sich ziehen. Wir kennen sie; sie liegen auf dem Tisch. Wenn wir an .diesem einen Punkt ansetzen, müssen wir auch alle Folgen, die sich aus einer Änderung ergeben können oder ergeben könnten, berücksichtigen. Das ist ja in diesen Bereichen gerade sehr oft der Fall.
Meine Fraktion hält dagegen das zweite vorgeschlagene Lösungsmodell erwägenswert, wonach Beförderungen und beförderungsgleiche Vorgänge, denen die Schaffung eines neuen Beförderungsamtes durch Gesetz zugrundeliegt, von dem Erfordernis der Ein-Jahres-Frist auszunehmen sind. Es spricht in der Tat vieles dafür, daß der bisherige Ausschluß der Ruhegehaltsfähigkeit der zuletzt zugestandenen höheren Dienstbezügen mit dem Sinn und Zweck der strukturellen Besoldungsmaßnahmen, die ja schließlich vom Gesetzgeber gewollt waren, nur schwer vereinbar ist. Mit dieser Problematik hat sich bekanntlich auch die Innenministerkonferenz mehrfach befaßt. Wie ich weiß, unterstützt auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates diesen Punkt. Wir werden - das kann ich hier schon sagen - diesem Teil der Vorlage sicherlich zustimmen.
Ich möchte zusammenfassen. Wir werden die Vorschläge des Bundesrates sehr sorgfältig im Innenausschuß prüfen. Gegen eine Auflockerung des Haushaltsstrukturgesetzes in gewissen Bereichen bestehen Bedenken wegen möglicher Folgewirkungen, die wir dabei immerhin berücksichtigen müssen. Wir dürfen es nicht isoliert sehen.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14005
Im übrigen aber möchte ich mich schon jetzt dafür aussprechen, daß der Innenausschuß die Gesamtproblematik im Zusammenhang mit den Beratungen zum Besoldungsstrukturgesetz, die bevorstehen und zu denen vielleicht unter dem nächsten Tagesordnungspunkt noch einiges zu sagen sein wird, erörtert.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes des Bundesrates auf der Drucksache 8/3194 an den Innenausschuß - federführend - und an den Haushaltsausschuß - mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung - vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist beschlossen.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 8/2877 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({0})
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Berger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute in erster Lesung zur Beratung anstehende Entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes sieht die Einführung eines Spitzenamtes - A 9 plus Zulage von 225 DM - für den gesamten mittleren Dienst vor. Diese Regelung, die allerdings für höchstens 30 °/o der Beamten in der Spitzengruppe des mittleren Dienstes gilt, besteht seit Anfang des Jahres nur für die Polizeivollzugsbeamten.
Meine Fraktion ist der Auffassung, daß aus Gründen der Gleichbehandlung und aus dem Gesichtspunkt der funktionsgerechten Besoldung das neue Spitzenamt auf den gesamten mittleren Dienst ausgedehnt werden muß. Sicherheitsaufgaben werden beispielsweise auch von den Beamten des Strafvollzugsdienstes, der Zollverwaltung und der Sicherheitsbehörden wahrgenommen. Auch in anderen Bereichen des mittleren Dienstes werden entsprechende quantitative und qualitative Leistungsanforderungen gestellt.
Lassen Sie mich ein Wort zu den Kosten des Gesetzentwurfes sagen. Die zusätzlichen jährlichen Ausgaben im Bund, Ländern und Gemeinden werden ca. 65 Millionen DM betragen. In aller Bescheidenheit kann ich feststellen, daß wir uns damit im Rahmen des Möglichen und Erträglichen gehalten haben, besonders wenn man dazu die Kosten einer linearen Gehaltserhöhung in Vergleich setzt. Eine Besoldungserhöhung von 1 % für den
Gesamtbereich des öffentlichen Dienstes kostet nämlich 1,8 Milliarden DM.
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Die von uns vorgeschlagene Strukturverbesserung beträgt demnach - in Prozenten ausgerechnet - noch nicht einmal ganz 0,02 %. Die vorgeschlagene Strukturmaßnahme ist sachlich geboten und haushaltsmäßig vertretbar. Die Fürsorgepflicht gegenüber den betroffenen Beamten fordert eine alsbaldige gesetzliche Regelung.
Nun ist es nicht so, daß diese Erkenntnis meiner Fraktion allein vorbehalten gewesen sei. Der Bundesrat hat bereits in seiner Empfehlung vom 21. Dezember 1978 die gleiche Feststellung getroffen und die Bundesregierung aufgefordert, umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem ein neues Spitzenamt für den gesamten mittleren Dienst geschaffen werden solle.
Der Bundesregierung ist diese Erleuchtung bereits am 6. Februar 1978 gekommen. Denn sie hat in ihrer Stellungnahme zur Einführung des neuen Spitzenamtes im Polizeivollzugsdienst erklärt, die vom Bundesrat vorgeschlagene Amtszulage für das Spitzenamt des mittleren Polizeivollzugsdienstes werde im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtlösung der anstehenden strukturellen Besoldungsfragen behandelt werden. Ferner hieß es, die Bundesregierung beabsichtige, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Sogar der Bundesminister der Finanzen hat im Januar dieses Jahres seinen Zollbeamten versprochen, ihnen alsbald das neue Spitzenamt zukommen zu lassen. Trotzdem haben die Bundesregierung sowie die SPD und die FDP es bis auf den heutigen Tag nicht geschafft, ihr Versprechen wahrzumachen und einen Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Spitzenamtes im gesamten mittleren Dienst einzubringen.
Meine Fraktion war nicht mehr länger gewillt, dieses Versteckspiel weiter mitzumachen. Sie hat deshalb im Mai dieses Jahres den heute zur Erörterung stehenden Entwurf eingebracht. Die Initiative der CDU/CSU kann erst jetzt beraten werden, weil im Ältestenrat die Vereinbarung getroffen war, sie gemeinsam mit dem Entwurf eines Strukturgesetzes der Bundesregierung zu beraten. Aber auch der Ältestenrat sah wohl ein, daß man nun nicht mehr länger auf die Regierung warten kann.
Wie recht die CDU/CSU damit hatte, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, zeigt die Behandlung des von dem Bundesinnenminister jetzt den Verbänden zugeleiteten Entwurfs eines Strukturgesetzes. Dieser Referentenentwurf ist ein getreues Spiegelbild der Beamtenpolitik dieser Regierung. Er ist dürftig, mager und eine lästige Pflichtübung. Die Regierung scheut sich nicht, diesem Entwurf öffentlich den Namen „Strukturgesetz" zu geben. In Wirklichkeit handelt es sich um ein reines Blendwerk. Die Seiten und Paragraphen dieses sogenannten „Jahrhundertwerks" sind weitgehend damit gefüllt, daß Zulageregelungen, die in anderen Rechtsvorschriften enthalten sind, in das neue Besoldungsgesetz übernommen werden. Dies ist allen14006 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Berger ({1})
falls für Besoldungsexperten und Perfektionisten von Interesse. Bei den wenigen vorgesehenen strukturellen Maßnahmen ist die Regierung heillos zerstritten.
Selbst der für die Besoldung zuständige Bundesinnenminister hat ein öffentliches Bekenntnis der Unfähigkeit dieser Regierung zur Lösung der anstehenden Probleme abgelegt. Statt einen wohlabgewogenen und abgestimmten Entwurf der Regierung an die beteiligten Verbände zu verschicken, hat er in dem Übersendungsschreiben zugeben müssen, daß in wichtigen Fragen Bundesinnenminister, Bundesfinanzminister und Bundesarbeitsminister heillos zerstritten sind.
Dies gilt leider auch für das neue Spitzenamt A 9 plus Zulage. Hier hat sich - für alle Beteiligten unverständlich - der Bundesfinanzminister gegen das neue Spitzenamt bei den Soldaten ausgesprochen. Diese Einschränkung können wir nicht mitmachen. Es muß bei der Einbeziehung des gesamten mittleren Dienstes verbleiben. Auch die Soldaten haben einen Anspruch auf gerechte Behandlung. Sie sollten mit dem gleichen Prozentsatz wie der sonstige mittlere Dienst an den Zulagen in A 9 beteiligt werden.
Durch das zögernde und unentschlossene Verhalten der Bundesregierung ist schon viel kostbare Zeit verstrichen. Wir fordern deshalb die Kollegen von der SPD und FDP auf, mit dazu beizutragen, daß die Gesetzesinitiative der Union in den Ausschüssen zügig beraten wird. Die betroffenen Beamten hätten zu Recht kein Verständnis dafür, wenn die Verabschiedung noch weiter hinausgezögert würde. Hierzu besteht auch keinerlei Veranlassung. Der zu regelnde Sachverhalt ist eindeutig, ist unbestritten. Außerdem sind Regierung und Koalitionsfraktionen im Wort.
In gleicher Weise muß die Regierung unverzüglich den Entwurf eines echten Strukturgesetzes einbringen, damit dieser noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Statt redaktioneller Mätzchen, die der bisherige Gesetzentwurf des Bundesinnenministers enthält, muß das Gesetz einen Beitrag zur Lösung der zahlreichen noch offenen Probleme auf dem Gebiet des Besoldungsrechts bringen. Hierzu gehören insbesondere folgende Schwerpunktbereiche: Verwirklichung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom März 1977 zur besoldungsmäßigen Gleichstellung von Beamten mit drei und mehr Kindern, Einführung einer familienpolitischen Komponente beim Urlaubsgeld, Bereinigung des Haushaltsstrukturgesetzes - soweit kein Bedürfnis für die im Jahre 1975 verfügten Restriktionen mehr besteht, müssen sie aufgehoben werden -, Verwirklichung der notwendigen strukturellen Maßnahmen für die Versorgungsempfänger.
Meine Fraktion hat bereits mehrfach auf diese noch offenen und regelungsbedürftigen Strukturprobleme hingewiesen. Leider haben Regierung, SPD und FDP die Ohren fest verschlossen und den öffentlichen Dienst mit Leerformeln hingehalten, so etwa der anwesende Staatssekretär von Schoeler,
der gesagt hat, es werde eine „ausgewogene Gesamtlösung der anstehenden besoldungs- und versorgungsrechtlichen Fragen" herbeigeführt. Dabei möchte ich deutlich herausstellen, daß die Herbeiführung einer ausgewogenen Gesamtlösung struktureller Besoldungs- und Versorgungsprobleme ohne die Regelung „A 9 plus Zulage" nicht denkbar ist und daß daher im Hinblick auf die Vordringlichkeit und nicht zuletzt auf Grund der Empfehlung des Bundesrates vom 21. Dezember 1978 eine isolierte Behandlung des Antrages der CDU/ CSU-Fraktion erforderlich wird, wenn der Entwurf der Bundesregierung für ein Besoldungsstrukturänderungsgesetz nicht spätestens zu Beginn des nächsten Jahres vorliegt.
Ich bin jedoch von Hause aus ein optimistischer Mensch und lasse insbesondere hach den Ausführungen meiner Vorredner zum vorangegangenen Tagesordnungspunkt trotz vieler leidvoller Erfahrungen mit dieser Regierung und den Koalitionsfraktionen die Hoffnung nicht fahren, daß sie wenigstens in letzter Minute auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Ich verlange ja nicht, daß sie all ihre hochtrabenden Versprechungen erfüllen. Mir würde es schon ausreichen, wenn wenigstens die dringlichsten Strukturprobleme angepackt würden. Die Unterstützung der Union wird ihnen dabei sicher sein.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wittmann ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beamtenpolitischen Sprecher der Opposition werfen uns immer wieder Versagen auf dem Gebiet der Beamtenpolitik vor.
({0})
Der Kollege Berger hat dafür gerade wieder ein Musterbeispiel geliefert.
Es ist das gute Recht der Opposition, zu kritisieren, sofern sie dabei ernsthaft Sachlösungen anstrebt und insgesamt glaubwürdig bleibt. Was die CDU/CSU betreibt, ist aber alles andere als glaubwürdig. Sie bringt vor allem das Kunststück fertig, in Arbeitsteilung unter den Oppositionspolitikern gleichzeitig Politik für und gegen den öffentlichen Dienst zu vertreten. Ich darf Ihnen dafür ein Beispiel geben.
Unter der Überschrift „Verwaltete Bürger - Gesellschaft in Fesseln" führte die CDU 1978 eine sogenannte Fachtagung durch. Generalsekretär Reiner Geißler hat eine Broschüre mit den Beiträgen auf dieser Fachtagung herausgegeben und hat sie mit einem Vorwort versehen. Nicht ein einziges Mal kommt in diesem Vorwort das Wort „Verwaltung" vor, obgleich es hier doch hauptsächlich oder zumindest überwiegend um Verwaltungsprobleme geht. Statt dessen kann man hier von den Gefahren einer verbürokratisierten Gesellschaft, von den Ursachen und den Folgen der Bürokratisierung, von bürokratischer Kontrolle, von BürokratiDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14007
Wittmann ({1})
sierung alle Bereiche der Gesellschaft lesen. Ich könnte das beliebig fortsetzen.
({2})
Einige dieser Begriffe werden in dem kurzen Text gleich mehrmals an verschiedenen Stellen verwendet; die Worte „Bürokratisierung" und „Entbürokratisierung" stehen in jeder fünften Zeile. In diesem Vorwort wird kein Wort darüber gesagt, welche Leistungen unsere öffentlichen Verwaltungen, d. h. die Beamten, die Angestellten und die Arbeiter im öffentlichen Dienst, heute erbringen. Äußerungen darüber sind den Beamtenpolitikern im Innenausschuß und gelegentlich hier vorbehalten. In der breiten Offentlichkeit dagegen schwingt die CDU/CSU den Knüppel gegen die Verwaltungen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne, Herr Kollege Berger.
Herr Kollege Wittmann, können Sie mir klarmachen, welcher Zusammenhang zwischen der eingangs von Ihnen genannten Bürokratisierung und dem Antrag der CDU/CSU auf Einführung von A 9 plus Zulage besteht?
Herr Kollege Berger, wenn Sie etwas Geduld gehabt hätten, hätten Sie die Antwort bekommen; Sie bekommen sie jetzt im Zusammenhang mit Ihrer Gesetzesvorlage.
({0})
- Nein, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern; denn seine Reden schreibt der Wittmann selbst.
Die Aktivitäten der CDU/CSU in der einen oder anderen Richtung lassen sich nur dann auf einen Nenner bringen, wenn man dahinter wahltaktische Überlegungen vermutet. Mit den Angriffen auf die Bürokratie sollen die Nicht-Beamten gewonnen werden, und mit den Besoldungsforderungen und Einrichtungen neuer Beförderungsämter sollen die Beamten gewonnen werden. Das ist doppelzüngig.
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- Herr Kollege, wir reden jetzt über das Spitzenamt.
({2})
- Nein, ich rede über Beamtenpolitik, ich rede jetzt über das Spitzenamt.
Herr Kollege Berger tut so, als ob der gesamte Deutsche Bundestag für das Spitzenamt gewesen wäre. Mit Herrn Kollegen Riedl aus München haben Mitglieder des Haushaltsausschusses dafür gesorgt, daß diese Sache im Bundestag zweimal abgesetzt worden ist, weil man gegen das Spitzenamt war, und jetzt tut man so, als ob alle dafür wären. Alle haben bei der Polizeizulage Magenschmerzen gehabt, und die gleichen Magenschmerzen haben jetzt all diejenigen, die es in dieser Frage ehrlich meinen. Der Kollege Berger weiß so gut wie ich, daß die Geschichte draußen nichts als Ärger bringt.
({3})
Mit den beiden heute zur Beratung anstehenden Gesetzesvorlagen zum öffentlichen Dienst leisten CDU/CSU und Bundesrat ferner einen anschaulichen Beitrag zur Debatte über die Gesetzesflut. Einerseits bezeichnet die CDU/CSU den Bundestag als Gesetzesfabrik, auf der anderen Seite legt sie hier einen Gesetzentwurf zu einer einzigen Frage, nämlich zum Spitzenamt des mittleren Dienstes, vor und fordert von der Bundesregierung gleichzeitig ein Gesetz mit umfassenden und weiteren Regelungen. Der Bundesrat leistet seinerseits einen Beitrag zur Erhöhung der Zahl der Beratungsunterlagen, indem er zu einer anderen punktuellen Frage einen eigenen Gesetzentwurf vorlegt. In der Tat kann man so die Zahl der Gesetzesvorlagen erhöhen. Wenn sie dann verabschiedet werden und die Seiten des Bundesgesetzblattes füllen, kann man das hinterher zum Beweis dafür nehmen, daß wir eine Gesetzesflut durch eine sozialliberale Gesetzgebungsmehrheit haben. So sieht das in der Praxis aus.
({4})
Dafür hätten wir keine Mehrheit bekommen, auch nicht von Ihren Herren im Haushaltsausschuß.
({5})
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung zu dem von Ihnen hier Vorgetragenen machen. Einerseits fordern Sie ein echtes Besoldungsstrukturgesetz mit nicht unerheblich höheren Haushaltsbelastungen, die Sie im übrigen nicht beziffern, andererseits haben Sie in der Haushaltsdebatte auf die Sparsamkeit und den Abbau öffentlicher Verschuldung gedrängt, während Sie gleichzeitig Steuersenkungen gefordert haben. Wie wollen Sie dies alles gleichzeitig noch glaubhaft vertreten?
Zur Gesetzesvorlage der Opposition möchte ich auf meine Ausführungen zu Punkt 17 der Tagesordnung verweisen. Wir gehen davon aus, daß die Bundesregierung ein Besoldungsstrukturgesetz vorlegen wird, in das wir auch diese Einzelfragen einbeziehen werden. Bundesregierung und SPD-Bundestagsfraktion werden weiterhin mit Konsequenz und Beharrlichkeit
({6})
14008 Deutscher Bundestag. - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Wittmann ({7})
für Maßnahmen im öffentlichen Dienst eintreten. Der öffentliche Dienst jammert nicht so wie der Kollege Berger.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Berger, ich freue mich immer sehr darüber, wenn Sie hoffnungsfroh sind; aber ich weiß nicht, ob ich Ihre Hoffnungsfreude voll aufrechterhalten kann oder einen Beitrag dazu leiste, sie ein bißchen zu reduzieren.
Wir alle haben uns im vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, für die Polizeivollzugsbeamten im mittleren Dienst ein neues Spitzenamt A 9 mit Zulage zu schaffen. Im Innenausschuß waren wir uns bei den Beratungen einig, daß wir mit der Schaffung der Zulage in der Besoldungsgruppe A 9 ein polizeispezifisches Problem befriedigend lösen wollten. Ich habe mich in der Richtung ganz präzise geäußert, aber ich muß hier auch einmal darauf hinweisen, wie schwierig es im Grunde genommen - Herr Kollege Berger, hier spreche ich alle Mitglieder ,des Haushaltsausschusses in diesem Hohen Hause an, auch den Kollegen Riedl aus Ihrer Fraktion - in der damaligen Situation war, die Zustimmung zu bekommen, weil die Frage möglicher finanzieller Folgen nicht zu übersehen war.
({0})
Das, meine Damen und Herren, ist ja die faktische Situation - ich will jetzt keine Fronten aufreißen zwischen Besoldungspolitikern einerseits und Haushaltspolitikern andererseits -, in der wir uns im vergangenen Jahr befunden haben.
Ich möchte nicht verhehlen, daß in meiner Fraktion bei der Beratung über das Spitzenamt für den mittleren Polizeivollzugsdienst sicherlich auch Überlegungen eine Rolle gespielt haben, welche Forderungen nach einer generellen Ausweitung dieses Spitzenamtes in näherer oder entfernterer Zukunft zur Debatte stehen würden.
Die Bundesregierung hatte in ihrer Stellungnahme zum damaligen Bundesratsentwurf die Auffassung vertreten, daß die Probleme im Zusammenhang mit der Schaffung dieses Spitzenamtes am besten im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtlösung zu klären seien. Davon reden wir nun ununterbrochen.
Für meine Fraktion habe ich in der Zweiten Lesung am 13. Dezember 1978 klar zum Ausdruck gebracht, daß wir der Schaffung des Spitzenamtes im mittleren Polizeidienst zustimmen, weil wir den besonderen Strukturen und den Aufgabenverteilungen der Polizeien vor allem in den Ländern Rechnung tragen wollten. Ich habe aber auch damals schon zum Ausdruck gebracht, daß ich keinesfalls in Abrede stelle, daß in anderen Bereichen andere oder
vergleichbare Besonderheiten vorhanden sein mögen wie im mittleren Polizeivollzugsdienst.
({1})
In welcher Breite diese Besonderheiten nun gegeben sind, also zum Beispiel beim gesamten mittleren Dienst, bedarf sicher noch einer sehr sorgfältigen Überprüfung.
Damit kommen wir auf den Punkt, auf den letztlich alles zuläuft. Das sind die Vorstellungen der Bundesregierung für ein Besoldungsstrukturgesetz. Wie Sie wissen, ist - davon war schon mehrfach die Rede - in dem Referentenentwurf, der bisher vorliegt - die Beteiligungsgespräche haben stattgefunden -, die Schaffung eines Spitzenamtes A 9 plus Zulage für den gesamten mittleren Dienst vorgesehen.
({2})
Herr Berger, ich halte es trotz Ihrer Ausführungen zum Besoldungsstrukturgesetz im ganzen für ratsam - auch unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten -, die Einzelberatungen zu Ihrem Gesetzentwurf gemeinsam mit der Beratung des Besoldungsstrukturgesetzes durchzuführen.
({3})
Denn, Herr Kollege Berger, Sie wissen doch auch auf Grund der Beteiligungsgespräche auf anderer Ebene ganz genau, wie der Stand der Entwicklung in der Bundesregierung ist. Es kann gar nicht die Rede davon sein, daß hier irgend etwas ad calendas graecas verschoben wird.
({4})
Wir werden sehr bald
({5})
- sicherlich in diesem Jahr - mit dem Besoldungsstrukturgesetz zu tun haben. Deshalb ist es jetzt fehl am Platze, zu diesem Einzelgesetzentwurf noch andere Dinge anzuführen, die nach Ihrer Auffassung in ein Besoldungsstrukturgesetz aufgenommen werden sollten. Die Zeit dafür ist dann da, wenn wir über dieses Gesetz sprechen.
({6})
- Bitte, die sollen wir dann durchaus einbeziehen.
Aber alle anderen Dinge, die der Kollege Berger aufgeführt hat und über die man in einer Gesamtstruktur sicherlich wird reden müssen, muß man kostenmäßig quantifizieren. Für mich ist es einfach fehl am Platze, diese Dinge jetzt schon in die Debatte einzuführen.
Ich habe mit Verwunderung festgestellt, daß beispielsweise der Kollege Haase als Haushaltsmann Ihrer Fraktion dem schon Beifall gezollt hat, obwohl er offenbar gar nicht weiß, was das finanziell einmal bringen wird.
({7})
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14009
Ich will das damit keineswegs vom Tisch bringen. Ich will nur sagen: es hängt mit dem Besoldungsstrukturgesetz zusammen, mit dem wir in absehbarer Zeit zu rechnen haben.
Wir haben uns zweimal geschworen, daß wir strukturelle Veränderungen in der Besoldung nicht an einem Einzelpunkt aufhängen, sondern daß wir sie in einem breiteren Zusammenhang sehen wollen, in den sie hineingehören. Deswegen halte ich einen solchen Einzelantrag, wie sie ihn hier zu diesem Problem gestellt haben, für zu eng. Ich bin der Meinung, die Zeit, darüber zu reden, ist dann, wenn das Besoldungsstrukturgesetz der Bundesregierung im Entwurf vorliegt. Herr Berger, im Grunde wissen Sie nach dem Stand der Beteiligungsgespräche doch auch genau, daß damit in sehr kurzer Zeit zu rechnen sein wird
({8})
- in diesem Jahr jedenfalls - und daß das Gesetz damit auch noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten wird.
({9})
- Bitte.
Ist Ihnen bekannt, daß das Kabinett in den nächsten Tagen nicht zu einer Entschließung kommt und daher der Bundesrat frühestens am 19. Dezember zu einem etwaigen Kabinettsentwurf Stellung nehmen kann?
({0})
Gut. Ich habe aber gesagt, daß der Gesetzentwurf eines Besoldungsstrukturgesetzes mit Sicherheit noch in dieser Legislaturperiode im Parlament beraten und verabschiedet werden wird.
({0})
- Das ist nicht ausgeschlossen! Ich kann Ihnen versichern, daß es die Absicht der Koalition und daher auch meiner Fraktion ist, ein solches Besoldungsstrukturgesetz - gleich welchen Inhalt es haben wird, will ich jetzt vorsichtig sagen - ganz
bestimmt noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Ich wundere mich eigentlich, daß darüber ein Zweifel besteht. Ich bin davon ausgegangen, daß das auch für Sie klar ist.
Ich meine deshalb, wir sollten diesen Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, als einen Teilpunkt einer Besoldungsstruktur zusammen mit dem Besoldungsstrukturgesetz beraten, das - ich sage es noch einmal - sicherlich noch in dieser Legislaturperiode, mag es Januar sein, wenn wir es im Innenausschuß haben - ({1})
- Was heißt aha? - mag es also Januar sein. Das ist doch nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, daß wir nicht ein Einzelproblem lösen,
sondern daß wir Besoldungsprobleme in größeren Zusammenhängen lösen. Darum bemühen wir uns seit Jahren, und davon sollten wir nicht abkommen.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/2877 an den Innenausschuß - federführend - und an den Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({0}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Reichs- bzw. bundeseigene Grundstücke in Berlin-Tiergarten; Veräußerung für Zwecke des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaues und für den Bau von sogenannten Stadthäusern
- Drucksachen 8/2685, 8/3209 -Berichterstatter: Abgeordneter Grobecker
Wird zur Berichterstattung das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Anderweitige Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 8/3209 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe. - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({1}) zu der aufhebbaren
Dreiundvierzigsten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsordnung
Achtunddreißigsten Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung Neununddreißigsten Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung Einundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Zweiundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz Vizepräsident Dr. von Weizsäcker
- Drucksachen 8/3040, 8/3038, 8/3059,
8/3039, 8/3071, 8/3191 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Unland
({2})
Wird zur Berichterstattung das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Anderweitig wird das Wort auch nicht gewünscht.
Meine Damen und Herren, es handelt sich um einen Bericht des Ausschusses für Wirtschaft, von dem nur Kenntnis zu nehmen ist, wenn nicht Anträge aus der Mitte des Hauses gestellt werden. - Solche Anträge liegen mir nicht vor. Ich stelle fest, daß das Haus von dem Bericht auf Drucksache 8/ 3191 Kenntnis genommen hat.
Meine Damen und Herren! Ich rufe jetzt noch Tagesordnungspunkt 2 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung eines einmaligen Heizölkostenzuschusses 1979
- Drucksache 8/3220 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({3})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 8/3254 -Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Rose
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
- Drucksache 8/3250 Berichterstatter: Abgeordneter Marschall
Wünscht einer der Herren Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Braun.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal befassen wir uns mit der Gewährung eines einmaligen Heizölkostenzuschusses. Was 1973 einmalig sein sollte, wiederholt sich nun für die Heizperiode 1979/80. Hier muß allerdings die Frage gestellt werden, wie es weitergehen soll, wenn die Preise für Heizöl nach Abschluß der laufenden Heizperiode nicht merklich sinken.
({0})
Ich möchte den Einleitungssatz zur Zielsetzung des Gesetzentwurfs in Frage stellen, daß der Anstieg der Preise in diesem Jahr so plötzlich und in seinem Ausmaß nicht vorhersehbar gewesen sei. Meine Damen und Herren, der Entwurf datiert vom 1. Oktober 1979 - das war vor elf Tagen. Zu diesem Zeitpunkt war das Ausmaß der Preissteigerungen schon erkennbar. Bereits vor der Sommerpause haben zahlreiche Abgeordnete des Hohen Hauses die Bundesregierung in den Fragestunden immer
wieder gefragt, ob und wann ein Heizölkostenzuschuß beabsichtigt sei.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt diesem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, zu, weil die sozial Schwächsten nicht weiter unter den hohen Heizölkosten leiden sollen. Das trifft vor allen Dingen für die Heimbewohner zu, die ebenfalls in den Genuß dieses Zuschusses kommen und die keinen Einfluß darauf haben, welche Energieart in ihrer Einrichtung verwandt wird.
({1})
Wir müssen jedoch betonen, daß sich die Bundesregierung mit diesen sogenannten einmaligen Zuschüssen auf die Dauer nicht über die Runden retten kann. Es kann nicht nur eine Energieart gegenüber anderen besonders gefördert werden. Wie müssen die Preise anderer Energiearten steigen, z. B. für Kohle oder Gas? Gerade im letzteren Fall sind in diesen Tagen, in diesen Stunden erhebliche
Preissteigerungen angekündigt worden.
({2})
Welche Preise für Heizung sind sozial vertretbar und zumutbar? Was muß geschehen, um eine Umstellung auf andere Energiearten finanziell zu ermöglichen?
Wir erwarten, daß sehr bald aus der Andeutung im Vorspann des Gesetzentwurfs, in dem es heißt, daß auf die Dauer eine Umstellung unumgänglich sei, eine konkrete Vorlage wird. Es sollten mehr Mittel für bauliche Maßnahmen im Sinne der Energieeinsparung bereitgestellt werden. Meine Damen und Herren, fragen Sie in Ihren Kreisverwaltungen nach, wie viele Anträge dort mangels Masse noch unerledigt vorliegen und nicht bedient werden können.
({3})
Lassen Sie mich eine Bemerkung zur Finanzierung dieses Heizölkostenzuschusses machen. Wir waren im federführenden Ausschuß der Meinung, daß der Bund die Gesamtkosten für dieses Gesetz mit geschätzten Ausgaben in Höhe von rund 500 Millionen DM voll tragen müsse und auch tragen könne, da er durch die hohen Ölpreise auch vermehrte Einnahmen an Mehrwertsteuer hat.
Im Jahre 1973 haben nicht einmal 30 % der Anspruchsberechtigten von dem Heizkostenzuschuß Gebrauch gemacht.
({4})
Vielleicht war damals das Antragsverfahren zu bürokratisch; vielleicht haben aus Unkenntnis zu wenige von der Möglichkeit der Antragstellung Gebrauch gemacht, und vielleicht ist auch bei der von mir eben erwähnten Möglichkeit, für bauliche Maßnahmen Anträge zu stellen, das Verfahren zu bürokratisch. Deswegen fordern wir Bund und Länder auf, alles zu tun, um dieses Verfahren so unbürokratisch wie möglich zu gestalten, damit die Betroffenen so schnell wie eben möglich ihren Zuschuß erhalten.
Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14011
Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, wie er in dem Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vorgelegt wird.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Marschall.
Herr Präsident! Werte Zuhörer! Herr Braun hat in seinen Ausführungen soeben Kritik geäußert, ist aber in keiner Weise auf das eingegangen, was die energiepolitischen Maßnahmen in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren beschreiben könnte, nämlich die Tatsache, daß unser Land als erstes Land ein Energieprogramm vorgelegt hat, als andere noch nicht daran dachten, und daß gerade unser Land eine Fülle von Maßnahmen zur Energieeinsparung unter dieser Regierung ergriffen hat, die ebenso erfolgreich waren wie viele Maßnahmen zur Entwicklung alternativer Energien. Ich glaube, daß dies in einer Debatte entsprechend gewürdigt werden müßte.
Wir sprechen heute über den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung eines einmaligen Heizölkostenzuschusses 1979. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den Entwurf entsprechend der Beschlußvorlage. Mit dieser Vorlage hat die Bundesregierung zügig auf die schwierige Situation reagiert, die für viele Mitbürger durch stark gestiegene Kosten für leichtes Heizöl entstanden ist bzw. in der Heizperiode des nächsten Winters entstehen wird.
Mit dem vorgesehenen einmaligen Zuschuß von 120 DM für die erste, 60 DM für jede weitere im Haushalt lebende Person bis zum Höchstbetrag von 420 DM werden Bürger mit geringem Einkommen von der Belastung der gestiegenen Heizölpreise zwar nicht voll entlastet; die dadurch entstehenden Härten werden aber ganz erheblich gemildert. Kinderreiche Familien werden zusätzlich entlastet. Die Nettoeinkommensgrenzen - 900 DM für Alleinstehende, 1 250 DM für Zweipersonenhaushalte und zusätzlich 250 DM für jede weitere im Haushalt lebende Person - erfassen diejenigen, die am meisten unter den. Ölpreissteigerungen zu leiden haben. Dies gilt für Wohngeld- und BAföG-Empfänger, für Anspruchsberechtigte auf Sozialhilfe genauso wie für Arbeitnehmer- und Rentnerhaushalte innerhalb der Einkommensgrenzen.
Zu dem, was mein Vorredner vorhin angeführt hat: Die Heizölpreise je 1001 sind gegenüber der Heizperiode des Vorjahres von etwa 30 DM auf etwa 58 DM, also um nahezu 100 °/o, gestiegen. Bei Haushalten von Rentnern und Sozialhilfeempfängern liegen daher die Mehrkosten für leichtes Heizöl zwischen 340 DM und 450 DM. Bei einem Vierpersonenarbeitnehmerhaushalt mit mittlerem Einkommen liegen die Mehrkosten für leichtes Heizöl gegenüber der vorjährigen Heizperiode bei rund 600 DM. Der vorgesehene Zuschuß - er ist übrigens gegenüber 1973 erheblich gesteigert; der Höchstbetrag stieg z. B. von 300 DM auf 420 DM - fängt einen erheblichen Teil der Mehrbelastung für
Bürger mit geringem Einkommen auf. Hier beweist sich der demokratische Sozialstaat. Er ist in der Lage, sogenannte Grenzen des Sozialstaats, die andere ihm aufschwätzen wollen, im Interesse der sozial schwächeren Mitbürger weiter hinauszuschieben, wenn dies notwendig ist.
In der zu Beginn der Heizölpreissteigerungen aufgeflammten Diskussion um Lohnnachschläge haben die Gewerkschaften eine verantwortungsbewußte Haltung eingenommen. Karl Hauenschild, Vorsitzender der IG Chemie, Papier, Keramik, hat dafür plädiert, daß die Belastung durch die gestiegenen Ölpreise von der Volkswirtschaft insgesamt getragen wird. Aber die Gewerkschaften haben auch zu Recht gefordert, daß für die unteren Einkommensgruppen gezielte Zuschüsse zur Milderung von Härten gewährt werden.
Diesem berechtigten Anliegen trägt das Gesetz Rechnung. Der Heizölkostenzuschuß mildert für viele Haushalte die Auswirkungen gestiegener Lebenshaltungskosten. Zirka ein Drittel der Preissteigerungsrate ist durch die Ölpreise bedingt. Rechnet man die Ölverteuerung aus dem Lebenshaltungskostenindex heraus, so ergibt sich eine Preissteigerungsrate von 3,8 statt 5,3 %. Die Auswirkung auf Haushalte mit geringem Einkommen wird nun durch den Zuschuß gemildert. Den Höherverdienenden muß zugemutet werden, diese Belastung selber zu tragen. Der Anreiz zu wirtschaftlichem und sparsamem Umgang mit Energie, insbesondere mit Heizöl, muß grundsätzlich erhalten bleiben.
Auf Antrag von SPD und FDP hat der federführende Ausschuß beschlossen, eine zusätzliche Auslaufregelung bei den Einkommensgrenzen vorzunehmen. Diese Regelung sieht vor, daß die vorgesehenen Einkommensgrenzen um bis zu 10 % überschritten werden können. So erhält z. B. ein EinPersonen-Haushalt mit einem Einkommen von 901 bis 999 DM die Hälfte des Zuschusses.
Die Bundesregierung hat für ihren Gesetzentwurf Gesamtkosten von voraussichtlich 480 Millionen DM angenommen. Nach den Erfahrungen mit dem Gesetz von 1973, das Vorbild für dieses Gesetz war, ist die Annahme nicht zu wagemutig, daß der Kostenrahmen auch unter Einschluß dieser zusätzlichen Regelung ausreichend ist.
Von den tatsächlich entstehenden Kosten wird der Bundeshaushalt den Ländern zwei Drittel ersetzen. Dies ist ein Entgegenkommen. Die öffentliche Fürsorge des Grundgesetzes ist seit jeher Aufgabe insbesondere der Länder und Gemeinden. Daß der Bund hier anteilig Kosten übernimmt, kann die grundsätzliche Verpflichtung der Länder zur Kostentragung nicht in Frage stellen. Die Forderung des Bundesrates, der Bund solle die den Ländern entstehenden Kasten voll tragen, kann daher nicht akzeptiert werden. Wenn CSU-Generalsekretär Stoiber im Juli bereits angekündigt hat, man werde sich den „unheimlichen Heizkostenrechnungen des kleinen Mannes" im Herbst zuwenden, dann hat die Bayerische Staatsregierung im Bundesrat im zweiten Durchgang dieses Gesetzes Gelegenheit, mit dieser Ankündigung Ernst zu machen.
14012 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Es wird Aufgabe der Länder sein, die bürgerfreundlichen Regelungen des Gesetzes im Sinne der Verwaltungsvereinfachung in zweckmäßige Organisation umzusetzen. Durch das Gesetz wird dies ganz entschieden ermöglicht und vorbereitet.
Lassen Sie mich zu Ende kommen. Den Haushalten mit geringen Einkommen wird mit diesem einmaligen Zuschuß ermöglicht, sich allmählich und nicht abrupt auf die neue Situation einzustellen. Es ist jetzt am Bundesrat, dieses Gesetz seinerseits so schnell wie möglich zu behandeln, damit es zum nächstmöglichen Termin in Kraft treten kann. Mehr als 3 Millionen Haushalte brauchen diese Hilfe. Sie wollen auch eine schnelle Auszahlung.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit der wenigen.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein gutes Gesetz braucht wenig Worte. Das sieht man am Text des Gesetzes und an der schriftlichen Begründung. Auch die mündliche Begründung meines Kollegen Marschall erlaubt es mir, mich ebenfalls sehr kurz zu fassen.
Das es ein einmaliger Zuschuß sein soll, wurde. bereits betont. Der Anregung meines Kollegen Braun, .daß man vielleicht daran denken sollte, eine allgemeine Subvention aller Energien möglicherweise auf Dauer vorzunehmen, kann ich nicht zustimmen, denn dies würde dem Gedanken der Energieeinsparung zumindest nicht förderlich sein.
Durch den kurzfristigen und starken Anstieg des Preises für leichtes Heizöl sind Härten entstanden, die anders kaum oder nicht beseitigt werden können. Wir sehen deshalb in diesem Gesetz einen unbürokratischen Ausgleich für diese Härten.
Bei der Sozialhilfe werden diese Kosten für Heizöl sicher Einfluß auf den Warenkorb haben, der für die Berechnung der Sozialhilfe herangezogen wird. Dieser Hinweis auf die Sozialhilfe ist auch eine Begründung für die Kostenaufteilung zwei Drittel Bund und ein Drittel Länder, die wir für gerecht halten. Gerade aus diesem Grund sollten sich die, Länder hier beteiligen.
Die von der SPD und der FDP eingebrachten Änderungen verbessern das Gesetz weiter. Mein Kollege Marschall hat darauf bereits hingewiesen, so daß ich mich zur Begründung nicht weiter auslassen muß.
Ich betone nochmals: Ein gutes Gesetz braucht nur wenige Worte. Wir stimmen dem Gesetz zu.
({0})
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Zander.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf über die Gewährung eines einmaligen Heizölkostenzuschusses an Haushalte mit geringen Einkünften orientiert sich an dem Gesetz aus dem Jahr 1973, als die Bevölkerung ebenso unerwartet wie diesmal mit einer drastischen Verteuerung des leichten Heizöls konfrontiert wurde. Wie damals können wir auch diesmal nicht tatenlos zusehen. Es ist eine Verpflichtung des Sozialstaats, jenen Bürgern Hilfe zu geben, deren finanzieller Spielraum so eng ist, daß ihnen angesichts der Tatsache, daß die Preise für leichtes Heizöl sich im Zeitraum eines Jahres annähernd verdoppelten, eine kurzfristige Umstellung in ihren Verbrauchsgewohnheiten kaum möglich sein dürfte. Hierfür die notwendige Rechtsgrundlage zu schaffen, ist das Ziel dieses Gesetzes.
Es sieht einmalig für die Heizperiode 1979/80 Zuschüsse an von den Preiserhöhungen besonders hart betroffene Haushalte vor. Die Einmaligkeit des Zuschusses und der vergleichsweise niedrige Betrag berücksichtigen zum einen, daß künftig alle Bevölkerungskreise unabhängig von der Art des verwendeten Heizstoffs gezwungen sein werden, höhere Heizkosten im Familienbudget vorzusehen. Andererseits soll jedoch nach den auf dem Wirtschaftsgipfel von Tokio vereinbarten Zielen vermieden werden, daß der von der Preiserhöhung ausgehende Anreiz zum Energiesparen verlorengeht. Die Beschränkung auf die vom leichten heizöl abhängigen Haushalte rechtfertigt. sich deshalb, weil es eine auch nur annähernde vergleichbare Preisentwicklung bei anderen Heizstoffen nicht gibt und aller Voraussicht nach in der vor uns liegenden Heizperiode nicht geben wird.
({0})
Bei voller Inanspruchnahme wird dieses Gesetz etwa 480 Millionen DM kosten. Vorgesehen ist wie 1973 eine Zweidrittelbeteiligung des Bundes.
Im ersten Durchgang hat der Bundesrat mit seiner Mehrheit vom Bund die volle Kostenübernahme gefordert. Die Begründung des Bundesrats für seine finanzielle Forderung ist kaum allzu überzeugend. Denn jedermann kennt die Ursachen für die Ölpreissteigerungen und weiß, daß hierfür nicht die Bundesregierung verantwortlich zu machen ist. Schließlich haben wir in der OPEC weder Sitz noch Stimme.
({1})
Auch Ihr Argument, Herr Kollege Braun, von dem steigenden Mehrwertsteueraufkommen ist abwägig. Denn gerade die Bevölkerungsgruppe, um die es hier geht, wird ihre Verbrauchsgewohnheiten ändern, so daß per Saldo ein steigendes Mehrwertsteueraufkommen überhaupt nicht zu erwarten ist.
Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung dargelegt, was sie von dem Vorschlag des Bundesrats hält. Ich will das hier auch wegen der fortgeschrittenen Zeit nicht im einzelnen wiederholen, sondern nur klarstellen: Es handelt sich beim Heizölkostenzuschuß nicht um eine energiepolitische Maßnahme, sondern um eine notwendige SozialleiDeutscher Bundestag - 8. Wahlperiode - 177. Sitzung. - Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 14013
stung auf einem Gebiet, auf dem von jeher die Verantwortung und auch die Kostenträgerschaft bei den Bundesländern liegen. Die Bereitschaft des Bundes, zwei Drittel der Kosten zu übernehmen und damit den Ländern ihre Last tragen zu helfen, läßt sich nur als Ausnahme von dieser Regel rechtfertigen. Ich hoffe, daß der Bundesrat im zweiten Durchgang des Gesetzgebungsverfahrens zustimmen wird.
Dem Deutschen Bundestag und seinen Fraktionen danke ich am Ende der Beratung für die Bereitschaft zu einer so ungewöhnlich zügigen Behandlung dieses Gesetzes.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe §§ 1 bis 10, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/ 3250 unter Ziffer 2, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären. Ist das Haus damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit, meine Damen und Herren, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 12. Oktober, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.