Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich die gestern begonnene entwicklungspolitische Runde fortsetzen. Entwicklungspolitik hat auch aus liberaler Sicht nicht an Bedeutung verloren. Es wird, glaube ich, heute manchmal vergessen, daß der erste Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von der FDP gestellt worden ist. Walter Scheel hat vor rund zehn Jahren eine Konzeption der Entwicklungshilfe erarbeitet, die in ihren grundsätzlichen Elementen auch heute noch Bestand hat.
Auch für eine liberale Entwicklungspolitik ist Ausgangspunkt der Grundsatz, allen Menschen auf dieser Welt und nicht nur denen in den Industriestaaten das Recht auf politische Selbstbestimmung, persönliche Freiheit und menschenwürdiges Dasein verwirklichen zu helfen. In dem überwiegenden Teil der Dritten Welt sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. Halten wir uns einmal ganz klar vor Augen: 10 °/o der Weltbevölkerung leben in den Industriestaaten und verfügen über 90 °/o der Werte dieser Welt. Zwei Drittel der Menschheit aber leben auch heute noch in Armut und Hunger, ohne Aussicht auf Bildung, ohne Aussicht auf gesicherten Arbeitsplatz. Diese Konfliktsituation muß früher oder später zur Explosion führen, wenn wir nicht bereit sind, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Unser Beitrag zur Entwicklungshilfe darf nicht darin bestehen, aus dem sicheren Hort des eigenen Wohlstandes mehr oder weniger billige Patentrezepte zu geben und damit das schlechte Gewissen zu beruhigen, obendrein wahrscheinlich noch garniert mit Geldern und Maßnahmen, die dann letztlich auch noch uns zugute kommen. Trotz der unbestreitbar drängenden innenpolitischen Probleme muß Entwicklungshilfe fühlbar sein, eine echte Hilfe für die Dritte Welt, ein echtes Anliegen aber auch im eigenen Land.
Sie alle kennen die Strategie für das zweite Entwicklungsjahrzehnt, wie sie von den Vereinten Nationen am 24. Oktober 1970 verabschiedet wurde. Sie sieht u. a. einen Beitrag der entwickelten Länder für die Dritte Welt von 1 v. H. des Bruttosozialprodukts vor, wovon 0,7 v. H. auf öffentliche Leistungen entfallen sollten. Ich möchte heute nicht die Forderung aufstellen, daß dieses Ziel bereits für das Jahr 1973 im Bundeshaushalt verwirklicht wird. Wir alle kennen viel zu genau die großen Schwierigkeiten, die der Erfüllung dieser Forderung angesichts der vielen bekannten Haushaltsprobleme entgegenstehen. Wir sollten aber in den kommenden Jahren diese Probleme im Auge behalten und uns nach Kräften bemühen, das auch von uns erwartete Ziel zu erreichen.
Mit der Regelung unseres Verhältnisses zur DDR und den osteuropäischen Staaten sind wir erfreulicherweise auch in der Entwicklungspolitik in eine neue Phase eingetreten, die durch die HallsteinDoktrin oder andere Anerkennungstheorien nicht mehr belastet ist.
Die von früheren Regierungen aufgebauten Positionen haben in der Vergangenheit hin und wieder zu entwicklungspolitischen Maßnahmen geführt, die trotz hohen Einsatzes weder die gewünschte politische noch die erwünschte entwicklungspolitische Wirkung erzielt 'haben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf reisende Politiker, die oft Versprechungen und hohe Zusagen gegeben haben, die dann hinterher nicht realisiert werden konnten. Heute ist es ein, wie ich glaube, auch von der Opposition nicht bestrittener Grundsatz, daß Entwicklungshilfe kein geeignetes Instrument zur Durchsetzung außenpolitischer Ansprüche ist. Diese Erfahrungen haben im übrigen nicht nur wir, sondern vor allen Dingen auch der größte Geldgeber der westlichen Welt, die USA, machen müssen.
Weil wir in unseren finanziellen und personellen Möglichkeiten beschränkt sind, meine Damen und Herren, tut es not, bei der Feststellung unserer künftigen Entwicklungspolitik Schwerpunkte regionaler und sektoraler Art zu bilden. Unsere Möglichkeiten erlauben es einfach nicht, alles und jedes zu tun. Wir müssen den Mut haben, mit bestimmten liebgewordenen Vorstellungen über die Verteilung unserer Mittel aufzuräumen. Walter Scheel hat bereits am 7. Mai 1962 in seiner programmatischen Rede zur Entwicklungspolitik ausgeführt - ich zitiere mit der Genehmigung des Präsidenten -:
Mit dem System der Weltgießkanne, d. h. mit der bilateralen Berieselung aller Gebiete des Globus mit Entwicklungshilfe, ist eine dauerhafte Wirkung unserer entwicklungspolitischen Maßnahmen nicht möglich.
So sollte es diese sozialliberale Koalition noch mehr als in den vergangenen drei Jahren vermeiden, um kurzfristiger tagespolitischer Erfolge willen diesen bereits vor zehn Jahren als richtig erkannten Grundsatz zu gefährden.
Auch sollten wir beispielsweise damit aufhören, bestimmte europäische Länder, die heute nominell noch als Entwicklungsländer gelten, durch öffentliche Maßnahmen zu unterstützen. Diese Länder haben erfreulicherweise einen so hohen Entwicklungsstand erreicht, daß andere Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit ihnen in Betracht gezogen werden können.
Ich möchte heute nicht die gesamte Bandbreite der deutschen Entwicklungshilfe abhandeln. Bekanntlich hat die erste sozialliberale Koalition ihre entwicklungspolitische Konzeption für das zweite Entwicklungsjahrzehnt erarbeitet, eine Konzeption, die weltweite Anerkennung gefunden hat. Sie gilt es in den kommenden Jahren mit Leben zu erfüllen und .gegebenenfalls auch fortzuentwickeln.
Ein Gebiet scheint mir aber noch besonders erwähnenswert zu sein. Ich meine die stärkere Gewinnung unserer mittelständischen Wirtschaft für eine Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Ich bin mir bewußt, daß ich damit ein heißes Eisen anfasse. Unbestreitbar ist, daß im vergangenen Jahrzehnt die wirtschaftliche Zusammenarbeit hier nicht die erforderlichen Ergebnisse gebracht hat. Abgesehen einmal davon, daß der überwiegende Teil der an sich geringen Investitionen von der deutschen Großindustrie stammt, führt es im Inland zu unerwünschten strukturellen Folgen, wenn man weiter am Gedanken der unbegrenzten Expansion festhält.
Ich denke hier insbesondere an das Gastarbeiterproblem. Angesichts der immer schwieriger werdenden Integrations- und Reintegrationsprobleme halte ich es für wenig sinnvoll, auf lange Sicht immer mehr ausländische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik zu holen. Statt dessen sollte man in Betracht ziehen, die benötigten Produktionsbetriebe in den Entwicklungsländern selbst zu bauen. Damit gäbe man den betroffenen Ländern eine Chance, ihre Wachstums- und Beschäftigungsprobleme organisch zu lösen. Hier liegt eine aussichtreiche Zukunftsaufgabe für die deutsche Wirtschaft.
Das staatliche Förderungsinstrumentarium - ich meine in diesem Zusammenhang vor allen Dingen das Entwicklungshilfesteuergesetz - sollte allerdings so ausgestaltet werden, daß Spekulanten, die lediglich hohe Abschreibungsvorteile erzielen wollen, nicht noch animiert werden, entwicklungspolitisch unerwünschte Investitionen vorzunehmen.
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Nicht zuletzt aus diesem Grunde muß die Novellierung des Entwicklungshilfesteuergesetzes unverzüglich in Angriff genommen werden, damit es nicht ein verkapptes Steuerhinterziehungsgesetz bleibt.
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Für die Bewältigung der vor uns liegenden entwicklungspolitischen Aufgaben benötigten wir die Mitarbeit aller politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte unseres Volkes. Ich möchte hier die erfolgreiche Tätigkeit der Kirchen, der politischen Stiftungen und der übrigen gesellschaftspolitischen Träger hervorheben, für deren stilles, aber nichtsdestoweniger erfolgreiches Wirken ich ausdrücklich danken möchte. Sie müssen auch künftig im Rahmen der öffentlichen Programme nachhaltig gefördert wenden.
Meine Damen und Herren, die FDP hat bei der Regierungsbildung unter Beweis gestellt, daß sie für eine sachbezogene vernunftgerechte Politik konkrete Maßnahmen ergreift. Ihrer liberalen Handschrift ist es zu verdanken, daß mit der Übertragung der Kapitalhilfe vom Wirtschaftsministerium auf das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit der für die deutsche Entwicklungspolitik zuständige Minister das Instrumentarium erhalten hat, um Entwicklungspolitik aus einem Guß betreiben zu können.
Entwicklungspolitik ist nicht Tagespolitik; sie muß langfristig angelegt sein, um nachhaltig positive Ergebnisse zu erbringen. In diesem Sinne sind wir bereit, bei der Bewältigung dieser auch für unser Volk lebenswichtigen Aufgabe mitzuarbeiten, Verantwortung zu tragen und, wenn es sein muß, Opfer zu bringen.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wulff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß zum erstenmal, seitdem der Herr Kollege Scheel Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gewesen ist, hier wieder ein FDP-Kollege zu entwicklungspolitischen Fragen gesprochen hat. Ich hoffe, daß das Engagement fortdauert und daß insbesondere auch Kollegen der FDP demnächst einmal wieder im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit erscheinen, um das, was sie hier sagen, dort auch zu erarbeiten.
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Das hat schon etwas für sich, weil, wie ich glaube,
liberales Gedankengut auch Verantwortung gegenüber anderen Menschen in sich birgt. Ich will Herrn
Flach nicht zu nahetreten, der uns gestern in mieser Theologenart Verhaltenregeln im Umgang mit dem C geben wollte. Hier möchte ich ihm nur sagen: es wäre noch viel darüber zu diskutieren, was als liberal zu bezeichnen ist.
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Nur einige kurze Anmerkungen zu den Problemen, die die Entwicklungshilfe betreffen. Ich bin der Meinung, daß es richtig war und ich bin dafür dankbar , daß die Bundesregierung die Kapitalhilfe dieses Mal aus dem Wirtschaftsministerium herausgezogen und in das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit verlagert hat. Wir als CDU/CSU haben diese Forderung seit Jahren gestellt, und wenn die Bundesregierung diese unsere Forderung jetzt erfüllt, kann sie auf unsere Zustimmung rechnen; das erklären wir. Nur liegen hier wiederum Gefahren. Ich weiß nicht, verehrter Herr Minister Eppler, ob nicht doch wieder durch irgendwelche Erlasse das Auswärtige Amt wie auch das Wirtschaftsministerium derart eingeschaltet werden, daß die Effizienz unserer Entwicklungspolitik verlorengeht. Ich möchte Sie ausdrücklich warnen, sich wie in der vorigen Regierungszeit auf krumme Kompetenzerlasse einzulassen, die unserer Entwicklungshilfe nicht dienlich sind. Sie können auf die Hilfe der Opposition rechnen, wenn hier wieder etwas Ähnliches über die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers geschehen sollte.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben davon gesprochen, in Zukunft könne man Entwicklungshilfe besser leisten, da das Problem der Anerkennung der DDR überwunden sei. Ich warne hier ausdrücklich vor solchen Vorstellungen, wonach wir es jetzt gegenüber der DDR in der Dritten Welt einfacher hätten. Warum? Wir, die westliche Welt, leisten ein Vielfaches von dem, was der Osten für die Entwicklungsländer leistet. Allein die Leistung der Bundesrepublik Deutschland ist so groß wie die Leistungen des gesamten Ostblocks. Das kann sich sehen lassen. Mit Sicherheit wird man versuchen, unsere Hilfe zu diskriminieren, weil sie schon quantitativ weit über die des Ostens hinausgeht. Ohnehin wird es ein schwieriges Problem sein, wie wir uns demnächst gerade auf diesem Gebiet in der Dritten Welt verhalten.
Ich halte es für eine gute Sache, daß unsere Entwicklungshilfe multilateral geregelt wird, was wir immer gefordert haben. Wir waren und sind der Meinung, daß man unsere Entwicklungshilfe schon früher hätte europäisieren sollen. Das hätte ihre Durchschlagskraft für die Dritte Welt wesentlich verbessert.
Ein kurzer Hinweis noch auf das Problem Entwicklungshilfe und Vietnam. Meine Fraktion wird mit absoluter Sicherheit hinter all denen stehen, die sich jetzt nach dem furchtbaren Krieg in diesem armen Land für die Bevölkerung einsetzen. Sie wird Sie unterstützen, meine Damen und Herren von der Regierung, wenn es um Hilfe für den Süden und den Norden dieses Landes geht. Sie finden uns dabei auf Ihrer Seite. Ich denke, daß es in unserem Volke darin auch deshalb eine Übereinstimmung gibt, weil es ebenso von verheerenden Bombenangriffen geplagt war wie jetzt dieses arme Volk in Vietnam.
Der Herr Bundeskanzler sagte in seiner Regierungserklärung:
Öffentliche und private Leistungen für die Entwicklungshilfe werden wir - dem Vorgehen unserer europäischen Partner gemäß - zu steigern haben.
Ich frage mich: Was ist in den letzten Jahren geschehen? Die Aufforderung der zweiten und dritten Welthandelskonferenz an die Industrienationen ging dahin, 1 °/o vom Bruttosozialprodukt für die Entwicklungshilfe zu leisten, und zwar 3 0/oo private Hilfe und 7 °/oo öffentliche Hilfe. Was ist aus diesen 7 °/oo öffentlicher Hilfe, gemessen am Bruttosozialprodukt, geworden? Diese Hilfe ist, gemessen am Bruttosozialprodukt, permanent jedes Jahr zurückgegangen. Ich denke, es ist ein Zeichen für eine schlechte Politik, wenn man sich trotz der Versprechungen, die man gemacht hat, so zurückhält.
Meine Damen und Herren, nur ein Drittel der Menschheit lebt heute in relativem Wohlstand; die anderen zwei Drittel, also über 2 Milliarden Menschen, leben in Verhältnissen, die als menschenunwürdig zu bezeichnen sind. Diese Menschen sind nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Sie sind Opfer der Unterernährung, der völlig unzureichenden Schulbildung und der quälenden Armut. Da der in solch bedrückender Lage sich befindliche Teil der Menschheit mehr als doppelt so rasch wächst wie die Bevölkerung bei uns, werden nach den vorsichtigen Schätzungen der Vereinten Nationen zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als drei Viertel aller Menschen aus der heute sogenannten Dritten Welt stammen.
Diese Lage ist um so alarmierender, als 20 °/o der Menschen in der Dritten Welt unterernährt sind und hungern. 60 °/o haben nur mangelhaft zu essen. Mindestens 25 Millionen sterben jährlich an direkten oder indirekten Folgen des Hungers. Ohne Hilfe von uns kann die Bevölkerung der Dritten Welt ihre elementaren Bedürfnisse nicht befriedigen. Ihr Einkommen erreicht nicht einmal das Existenzminimum. Besitz ist Privileg einer Minderheit. Die Mehrzahl kann nicht lesen und schreiben, und politische und soziale Grundrechte werden ihnen in vielen Fällen verweigert. Sie sind in unmittelbarer Not und werden der Ungerechtigkeit ausgeliefert.
Lassen Sie mich kurz - Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung - zitieren, was McNamara vor einem Jahr in Kopenhagen gesagt hat:
Ich schließe mich der düsteren Meinung Lester Pearsons an, daß ebensowenig wie ein Land ein ganzer Planet halb versklavt, halb frei, halb im Elend ertrinkend, halb galoppierend auf dem Wege zu den vermeintlichen Freuden des nahezu uneingeschränkten Wohlstands und Verbrauchs überleben kann. Das ist der Weg in die Katastrophe. Aber es ist der Weg, auf dem wir uns heute fortbewegen, es sei denn, wir wären bereit, die Richtung zu wechseln, und zwar rechtzeitig.
Meine Herren von der Regierung, wenn diese Opposition - und das erkläre ich hier freimütig - die Regierung nach dem 19, November hätte übernehmen können, wären wir bereit gewesen, unserem Volk zu erklären, daß es für diese Dritte Welt auch zu Opfern bereit sein müssen.
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Ich meine, das sollten wir insbesondere auch dann sagen, wenn wir heute nicht in der Regierung stehen. Verehrter Herr Minister Eppler, Sie können uns an diese Worte erinnern. Wir werden hinter der Regierung stehen, wenn sie draußen im Lande unserem Volke erklärt, es müsse zu Opfern bereit sein, wenn es um die Hilfe für die Dritte Welt gehe. Hier verschließen wir uns keiner Forderung, weil wir der Meinung sind, daß jede Hilfe und jede soziale Gerechtigkeit nicht an zufällig gezogenen Landesgrenzen haltmachen dürfen, sondern daß sie darüber hinauszugehen haben. Wir sind bereit, diese Verantwortung mit Ihnen zu tragen, und bieten Ihnen unsere Mitarbeit bei der Lösung dieser Aufgabe an.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Eppler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den beiden Kollegen, Herrn Opitz und auch Herrn Wulff, für ihre konstruktiven Beiträge danken. Herr Wulff, ich werde wirklich eines Tages noch auf Ihre Worte zurückkommen. Ich habe nur etwas auszusetzen, nämlich das, was Sie über die FDP gesagt haben. Denn Sie tun da z. B. einem Manne Unrecht, der unser aller Kollege war und den ich meinen Freund nenne, ich meine den Baron von Lemmingen.
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Herr von Gemmingen hat sich so stark in der Entwicklungspolitik engagiert, daß er jetzt weitermacht,
obwohl er gar nicht mehr Mitglied dieses Hauses ist.
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Ich wollte Ihnen das nur sagen. Möglicherweise wissen Sie das nicht.
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- Nein, er hat von der Zeit gesprochen, seit Walter Scheel nicht mehr Entwicklungsminister ist, und das ist die Zeit seit 1966. Von 1966 bis 1969 hat Baron von Gemmingen seine Arbeit hier geleistet.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zu der gestrigen Debatte noch ein Wort. Ich will nicht mehr darüber reden, wer hier wen bei der Grundsatzdebatte verzeichnet hat. Jeder ist natürlich in der Gefahr, in dem anderen etwas zu sehen, was nicht ganz stimmt. Darüber wird man weiter reden müssen.
Aber, Herr Kiep, Ihr Entlastungsangriff für Herrn von Weizsäcker ist wirklich danebengegangen. Ich habe mir das Protokoll jener Fernsehdiskussion mit Reinhard Appel geben lassen, wo es um Politik und Moral in der Außenpolitik ging. Der fragliche Satz lautete eben ganz anders, als Sie ihn jetzt noch in Erinnerung haben. Jeder täuscht sich, wenn er sich nach längerer Zeit erinnern will. Der Satz, den Richard von Weizsäcker damals sagte, lautet folgendermaßen:
Unserer Meinung nach ist Entspannungspolitik auch Interessen- und Machtpolitik, nicht dagegen eine in erster Linie moralische Politik, wie sie Bundeskanzler Brandt immer wieder schildert.
Ich will jetzt nicht darüber philosophieren, wie schön es ist, wenn Sie den Bundeskanzler darüber belehren wollen, daß Politik, Außenpolitik gelegentlich auch mit Macht und Interessen zu tun hat. Ich glaube, so ein heuriges Häschen ist er nicht. Mir geht es jetzt nur darum, herauszustellen, daß von Ihrer Seite gesagt wird: Durch diesen Bundeskanzler kommt zuviel moralischer Impetus,
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d. h. zuviel Wille zu Frieden und Versöhnung in die Politik. Das war es doch.
Meine Damen und Herren, wenn Herr Strauß das gesagt hätte, hätte ich kein Wort darauf erwidert, weil ich ihn an diesem Maßstab des C noch nie gemessen habe.
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Aber wenn Herr von Weizsäcker so spricht und solches am grünen Holze geschieht, dann frage ich, was an diesem C eigentlich noch einen Sinn haben soll. Das war der Zweck meiner Intervention.
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Diese Äußerung hat damals nicht nur mich ziemlich betroffen, sondern auch viele von denen, Herr Kiep, die genau wie Sie und ich wissen, daß ein Mindestmaß an Entspannung unerläßlich ist, wenn das geschehen soll, was Herr Kollege Barzel in seiner Rede als eine Sache des Herzens und nun wieder als eine moralische Verpflichtung dargestellt hat, nämlich wirksame Entwicklungspolitik.
Ich will jetzt nicht wieder bösartig sein und fragen: Warum kommt da die moralische Pflicht so stark zum Ausdruck und dort nicht? Bitte, das alles müssen Sie unter sich abmachen.
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Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe jetzt vier Jahre entwicklungspolitischer Diskussion hinter mir. Wenn einer von uns hierhergekommen wäre, etwa der Bundeskanzler oder ich, und hätte sich erlaubt, zu sagen, für ihn sei Entwicklungshilfe eine Sache des Herzens, dann hätte ich Ihren Spott einmal hören wollen.
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Mir ist im Augenblick gar nicht nach Spott zumute.
Abg. Reddemann: Man soll seinen Haß
nicht so deutlich zeigen, Herr Eppler!)
Die Regierungserklärung in Sachen Entwicklungspolitik ist sehr knapp und nüchtern ausgefallen. Das war auch mein Wunsch. Wir haben am 11. Februar 1971 ein Konzept erarbeitet, und jetzt werden wir nicht nur die Zeit, sondern auch die administrativen Mittel haben, um dieses Konzept in Projekte und Programme umzusetzen.
Herr Kiep, Sie sagten, die Übertragung der Kapitalhilfe auf das BMZ sei drei Jahre zu spät gekommen. Ich würde meinen, sie ist elf Jahre zu spät gekommen. Sie haben das Thema erst entdeckt, als der Kanzler nicht mehr der CDU angehörte. Der Kanzler hat ja wohl die Organisationsgewalt in einer Regierung. Aber wir wollen nicht darüber streiten.
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Wir sind alle miteinander froh, daß das jetzt erledigt ist.
Wir werden, meine Damen und Herren, noch stärker als bisher - da bin ich Herrn Kollegen Wulff für seine Unterstützung dankbar - auch international arbeiten. Das wird leichter sein, weil jetzt auch die multilaterale Kapitalhilfe - ich denke z. B. an die Weltbank, an den Kontakt mit Robert McNamara, den ich inzwischen für die nächsten Monate in die Bundesrepublik eingeladen habe - nun auch in diesem Ministerium zusammenläuft.
Wenn wir in der UNO sein werden, werden wir auch im Wirtschafts- und Sozialrat sein. Dann werden wir sehr viel mehr Entscheidungen über Entwicklungspolitik mit zu verantworten haben, und darauf bereiten wir uns vor.
Nun ein Wort zu Europa. Meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, die Bundesregierung erklärt hiermit, daß, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, bei der Harmonisierung und Integrierung der Entwicklungspolitik in der Europäischen Gemeinschaft voranzukommen, diese Regierung nicht bremsen, sondern drängen wird. Wenn es nach uns ginge, dann könnte man sogar die Instrumente der Entwicklungspolitik, wie immer sie aussehen, Schritt für Schritt in europäische Verantwortung überführen. Aber wir haben Partner, Herr Wulff, denen dies unendlich viel schwerer fällt als uns, die viel mehr aufzugeben haben als wir oder glauben aufgeben zu müssen.
Ich war Anfang dieser Woche in Paris. In den bilateralen Gesprächen über Entwicklungshilfe ging es fast immer nur darum, wie weit wir unsere französischen Partner bewegen können, auf diesem Wege mitzugehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden in Sachen europäischer Entwicklungspolitik immer drängen und immer so weit gehen, wie wir dies unseren Partnern, und zwar ganz besonders einem großen Partner, zumuten können. Sie als Opposition dürfen weitergehen, das ist Ihr gutes Recht.
Nur sollten Sie wissen, daß Sie in der gleichen Richtung wie die Regierung operieren.
Eine Bemerkung zu dem, was Sie, Herr Kollege Kiep, über den Rechnungshof gesagt haben. Zwei Beispiele. Der Rechnungshof kritisiert, daß der Deutsche Entwicklungsdienst nicht nur Projekte übernimmt, die ihm angetragen werden, sondern daß er selbst Projekte sucht. Nun wissen Sie als Fachmann so gut wie ich, daß wir, wenn wir nur warten wollten, welche Projekte welche Regierung in der Entwicklungshilfe, vor allem in der gesamten technischen Hilfe an uns heranträgt, dann meistens nur miserable Projekte bekämen. Wenn man also das Geld vernünftig einsetzen will, kommt es darauf an, die Projekte zu suchen, die für das Entwicklungsland wichtig sind und für deren Durchführung wir die besten Kräfte haben. Die Frage, ob man in der Entwicklungspolitik Projekte suchen soll oder nicht, wird hier in diesem Hause und in der Bundesregierung entschieden, nicht beim Bundesrechnungshof.
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- Wir müssen uns in diesem Land auch an die verfassungsrechtlichen Kompetenzen erinnern. Es kann
nicht jeder im Gebäude des anderen herumpfuschen.
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- Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendein Mitglied dieses Hauses gibt, das, wenn es auf meinem Stuhl säße, sich vom Rechnungshof vorschreiben ließe, ob es Projekte suchen oder nur von den Regierungen der Entwicklungsländer entgegennehmen sollte. Keinen wird es hier geben.
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Ein anderer Punkt: Das politische Engagement der Entwicklungshelfer. Ich habe nichts dagegen, wenn wir uns hier in diesem Hause zwischen Regierung und Opposition darüber unterhalten, wie weit denn das politische Engagement der Entwicklungshelfer gehen soll. Aber ich habe entschieden etwas dagegen, wenn sich der Rechnungshof dafür interessiert. Dies ist unsere Sache und nicht die Sache des Bundesrechnungshofs.
({12})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Mikat?
Herr Minister Eppler, bestreiten Sie dem Rechnungshof auch die ihm verfassungsmäßig obliegende Pflicht, sich dafür zu interessieren? Auch wer mit Ihnen der Ansicht ist, daß Sie anderer Auffassung sein können als der Bundesrechnungshof, der muß doch fragen, ob - wie Sie wörtlich sagten - dem Bundesrechnungshof das Recht bestritten werden darf, sich für die von Ihnen angeschnittenen Fragen zu interessieren.
Herr Kollege Mikat, darum geht es doch nicht.
({0})
Jeder kann sich als Staatsbürger interessieren,
({1})
wofür er sich interessieren will. Nur: Die politischen Fragen dieses Landes, etwa die Frage, wie weit das politische Engagement eines Entwicklungshelfers gehen kann - die kann doch nicht irgendein Beamter des Rechnungshofes entscheiden, sondern dazu sind wir hier gewählt,
({2}) Sie als Abgeordnete und wir als Regierung.
Nebenbei wenn wir schon an dem Thema
sind : In dem Gutachten wird auch wieder die
Sache in Bolivien angesprochen. In Bolivien sind etwa ein Dutzend Entwicklungshelfer eingesperrt worden von der dortigen Regierung, über deren demokratische Qualität jeder von uns hier eine eigene Meinung hat, eingesperrt worden auf Grund durchweg falscher Anschuldigungen, wie nachher von der dortigen Regierung dann auch zugegeben wurde. Nur ein einziger hatte, wie Sie wissen, bei einem Umsturz deren gibt es dort ja ziemlich viele - einmal einem Menschen mit seinem Flugzeug das Leben gerettet. Ich möchte nicht vom Bundesrechnungshof nun darüber belehrt werden, ob etwa ein Beauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes einen Professor retten darf oder nicht, und ich möchte auch nicht, daß er Bezug nimmt auf Verhaftungen, die sogar nach Meinung jener Regierung auf Grund falscher Anschuldigungen stattgefunden haben. Das möchte ich nicht. Nebenbei: ich möchte auch nicht, daß das die Opposition tut, weil sie sich damit selber keinen guten Dienst tut.
({3})
Vizepräsident von Hassel: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Bitte!
Vizepräsident von Hassel: Bitte, Herr Dr. Althammer!
Herr Minister, sind Sie nicht der Auffassung, daß es die verfassungsmäßige Pflicht des Bundesrechnungshofes ist, sich darum zu kümmern, wie die Steuergelder
({0})
der deutschen Bevölkerung auch im Bereich des Entwicklungsdienstes zweckmäßig und richtig verwendet werden, und sind Sie nicht auch der Auffassung, daß es dafür auch von erheblicher Wichtigkeit ist, zu
wissen und zu beobachten, wie sich unsere Entwicklungshelfer in fremden Ländern betätigen?
({1})
Herr Kollege Althammer, natürlich ist es das Recht, und nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des Rechnungshofes,
({0})
sich für die Verwendung unserer Steuergelder zu interessieren. Nur: wir alle sind hier politisch Gewählte; insofern haben wir ein gemeinsames Interesse, politische Fragen auch politisch zu entscheiden. Darum geht es doch.
({1})
Ich hätte dieses Thema gar nicht aufgebracht, wenn nicht Herr Kiep noch einmal darauf zurückgekommen wäre; ich mußte also dazu etwas sagen.
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Schäfer?
Bitte schön!
Herr Minister, sind Sie mit mir einig, wenn ich folgendermaßen formuliere und unterscheide: Es ist Sache der politischen Organe, Sache des Ministers, Sache der Regierung, zu bestimmen, ob und welche Objekte in Angriff genommen werden; es ist Sache dieses Hauses und des Entwicklungsausschusses, mit dem Minister darüber zu debattieren, und es ist Aufgabe des Rechnungshofes, die so bestimmten Objekte daraufhin zu überprüfen, ob die dafür ausgesetzten Mittel ordnungsgemäß in Sinne der Haushaltsordnung verwendet wurden?
Ich bin völlig mit Ihnen einverstanden.
({0})
- Herr Kollege, wenn Sie jetzt an diesem einen Worte „pfuschen" Anstoß nehmen - ({1})
- Ich gehöre zu den Ministern, die hier versuchen, auch als Minister frei zu sprechen, und ich bin gern bereit zu sagen, daß dieses Wort „pfuschen" im Augenblick sicherlich nicht das beste gewesen ist. Ich hätte sagen müssen: „eingreifen" ;
({2})
das wäre wohl das richtigere gewesen. Aber das ändert doch an der Sache nichts.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Barzel hat gesagt, daß die Entwicklungspolitik für die Union eine Sache des Herzens und eine moralische Verpflichtung sei. Herr Kiep hat ja ein Stück Zusammenarbeit angeboten, Herr Wulff noch ein Stück mehr. Ich möchte mich dafür bedanken.
In diesem Zusammenhang habe ich aber doch noch ein paar Fragen an die Opposition. Bedeutet dies, daß Sie nun in einen Wettbewerb mit uns um die optimale Qualität und Quantität unserer Entwicklungshilfe eintreten wollen? Bedeutet dies auch, daß Sie von dem in den letzten zwei Jahren sichtbaren Prinzip der Polemik um jeden Preis abgehen wollen? Bedeutet dies z. B., Herr Kiep, daß Sie damit aufhören, etwa alle halbe Jahre einen Ideologievorwurf entweder zu erheben oder dann wieder zurückzunehmen? Ich könnte Ihnen genau belegen, wo Sie solche Vorwürfe erhoben, dann wieder zurückgenommen und wieder erhoben haben. Bedeutet das, was Sie gesagt haben, Herr Wulff, daß Sie aufhören, prinzipiell zu sagen: Wir müssen mehr Entwicklungshilfe leisten, im Haushaltsausschuß dann aber jeden Erhöhungsantrag von unserer Seite ablehnen und gelegentlich sogar noch Streichungsanträge stellen?
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß Sie sich Gedanken darüber machen, wie diese Zusammenarbeit aussehen soll. Ich wäre dankbar, wenn wir zu diesem Wettbewerb um die beste Entwicklungshilfe kämen, denn nach allem, was Herr Opitz und Herr Wulff zu unserer gemeinsamen Aufgabe gesagt haben, wäre diese Alternative, wie ich glaube, für uns alle und für die Entwicklungsländer besser.
({3})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Freiherr von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur kurz auf das erwidern, was Herr Eppler soeben gesagt hat. Herr Eppler, wollen Sie hier eigentlich eine Diskussion über die politische Bedeutung ethischer und christlicher Kategorien, oder wollen Sie das nicht? Gestern haben Sie mir unterstellt - so kann ich nur sagen -, ich hätte der Kategorie der Moral das Kalkül gegenübergestellt. Das war nicht richtig zitiert. Heute haben Sie, wie Sie wissen, aus dem Zusammenhang herausgerissen zitiert, obwohl Sie meine Position und auch unsere Diskussion über dieses Thema natürlich kennen.
Herr Präsident, erlauben Sie mir, daß ich einen kurzen Passus über diese Frage aus einem Buch zitiere, in dem sowohl Herr Eppler als auch ich und einige andere Kollegen aus diesem Hause ihre Positionen dargelegt haben. Dort heißt es:
Frieden und Versöhnung ist eine Sache der Menschen und der Völker. Sie ist eine moralische Kategorie. Diese spielt in der Politik eine wichtige Rolle. Wer die moralische Basis seiner Politik nicht klarzumachen weiß, macht schlechte Politik. Moral, auch im Sinne der Versöhnung, ist nicht auf das persönlich-mitmenschliche Verhältnis beschränkt, sondern gehört auch zu den Elementen staatlicher Beziehungen. Freilich, man kann nicht die Moral zum eigentlichen Inhalt der Friedenspolitik machen. Es gibt zwar keine Friedenspolitik ohne moralische Komponente, aber es gibt eben auch keinen moralischen Ersatz für die nüchterne Suche nach dem richtigen Weg.
({0})
Herr Eppler, Sie wissen doch so gut wie ich, daß gerade das Element der Nüchternheit ein in hohem Maße christlich-ethisches Element ist, das wir anwenden müssen, wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, diese Grundsätze in der Politik zu verwirklichen.
({1})
Herr Eppler, ich habe Sie in den Diskussionen außerhalb dieses Hauses als einen Mann kennengelernt, der sowohl die Redlichkeit als auch den Verstand hat, diese meine Position zu verstehen und zu würdigen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Eigenschaften auch in diesem Hause praktizierten, nicht aber Beiträge dazu leisteten, die immer wieder beweisen sollen, daß die christlichethische Substanz nur außerhalb der CDU/CSU zu finden sei.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat Herr Bundesminister Eppler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Herr von Weizsäcker in die Diskussion, von der wir sprachen, das gesagt hätte, was er hier jetzt vorgetragen hat, hätte es nie eine Kontroverse gegeben.
({0})
- Nein, ich bitte Sie! Ich lese Ihnen noch einmal den Satz vor, um den es ging und den ich damals in dieser Diskussion schon attackiert habe. Herr von Weizsäcker, es würde Ihnen ja auch kein Stein aus der Krone fallen, wenn Sie sagen würden: Dieser Satz war nicht unbedingt das Klügste, was ich bisher von mir gegeben habe.
({1})
Sie haben damals gesagt - und ich fand das schon in bezug auf den Bundeskanzler erstaunlich, der immerhin lange Jahre Regierender Bürgermeister von Berlin und Außenminister war und nicht erst seit 1969 dem Deutschen Bundestag angehört -: „Unserer Meinung nach" - bitte, hören Sie jetzt genau zu; das ist etwas anderes als das, was Herr Weizsäcker jetzt richtig gesagt hat -„ist Entspannungspolitik auch Interessen- und Machtpolitik,"
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- ja gut, natürlich; als ob wir das nicht selber wüßten - „nicht dagegen eine in erster Linie moralische Politik, so wie Bundeskanzler Brandt sie immer wieder schildert." Das heißt, Sie werfen dem
Bundeskanzler vor, bei ihm sei die moralische Komponente in der Politik zu stark und er übersehe dabei die Realitäten.
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Dabei ist beides erstaunlich. Zum einen hat er die Realitäten viel besser erkannt als Sie - das ist die eine Seite der Sache -,
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und zum anderen ist es ganz erstaunlich, wenn wir von Leuten, die selber an jener Denkschrift mitgearbeitet haben, die die Ostpolitik erst in Gang gebracht hat und die die Politiker auf die Versöhnung stoßen wollte, nachher hören, jetzt sei etwas zuviel Moral und Versöhnungswille in der Politik. Das ist der Punkt.
Herr von Weizsäcker, vielleicht können wir uns jetzt darauf einigen, daß diese Äußerung von Ihnen nicht die allerglücklichste war; ich habe auch schon Äußerungen gemacht, die nicht besonders glücklich waren.
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- Wenn Sie schon so bescheiden geworden sind, daß Sie da klatschen müssen - wie muß es da bei Ihnen aussehen!
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Aber wenn wir uns darauf einigen, daß Ihre jetzt vorgetragene Fassung, die Sie in dem Buch geschrieben haben, Ihre wirkliche Überzeugung ist, brauchen wir nicht weiterzudiskutieren. Doch dies konnte hier so nicht stehenbleiben.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß die Debatte mit dem Kollegen Eppler nicht lohnt. Es war ein vergeblicher Versuch, den mein Kollege von Weizsäcker unternommen hat, um den Kollegen Eppler doch dazu zu bewegen, im Umgang mit Zitaten und Meinungen korrekt zu sein.
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Auch das, was er soeben gebracht hat, war nicht hilfreich und verdient auch keine Antwort.
({1})
Meine Damen und Herren! Ich habe um das Wort gebeten, um einen Punkt aus der gestrigen Debatte aufzugreifen, zu dem wir gegen Schluß der Sitzung gestern schon erklärt hatten daß wir darauf in Anwesenheit des Herrn Bundeskanzlers zurückkommen müßten, weil er nur in seiner Anwesenheit und von ihm selbst geklärt und erledigt werden kann. Gestern Abend war er nicht mehr da.
Herr Bundeskanzler, Ihr Minister in Ihrem Geschäftsbereich, Ihr engster Berater, Ihr engster Vertrauter, Egon Bahr, hat gestern einen bemerkenswerten Beitrag - wenn ich so sagen darf - zur politischen Moral oder genauer gesagt: zur politischen Soziologie der Lüge geleistet.
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Es handelt sich um folgenden Vorgang, Herr Bundeskanzler. Mein Kollege Windelen hat in seiner Rede darauf hingewiesen, daß es vor der Wahl 1969 eine gemeinsame Position aller in der Frage der Nichtanerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat gab. Er hat dann darauf hingewiesen, daß nach der Regierungsbildung 1969 es hier eine Debatte gegeben hat, in der wir Sie gefragt haben, und zwar der Fraktionsvorsitzende: Warum haben Sie hier Ihre Meinung geändert? Mit wem haben Sie das besprochen? Haben Sie das konsultiert mit den Alliierten? - Daraufhin habe der Bundeskanzler - und das ist völlig korrekt, alles, was Herr Windelen vorträgt - gesagt: Aber ich weiß nicht, warum Sie sich aufregen - es waren doch inzwischen Wahlen. Und wir haben damals im Bundestag - Herr Windelen hat das gar nicht mehr gesagt, aber dies ist ausweislich des Protokolls richtig - gesagt: Na, dann haben Sie also die Wähler an der Nase herumgeführt.
Auf diesen Vorgang hat mein Kollege Windelen gestern, wie ich meine, mit Recht, weil das der fundamentale Bruch in der Deutschlandpolitik und in der Übereinstimmung der Fraktionen und Parteien war und dieser Vorgang das markiert, hingewiesen. Das nahm Ihr Minister, Herr Bundeskanzler, zum Anlaß, folgendes zu sagen - ich zitiere jetzt nach dem unkorrigierten Protokoll -:
Zunächst einmal - so Bahr ist beklagt worden, es habe ein gewisser Zynismus darin gelegen, wenn der Bundeskanzler gesagt habe, es habe an den Wahlen gelegen, daß man vor den Wahlen anders als danach von der DDR als Staat gesprochen habe. Nun, hier muß festgestellt werden: Nach den Wahlen war eine politische Entscheidung gefallen, die es ermöglichte, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung zu tragen, daß in der Demokratie und in der Politik, wenn möglich, die Wahrheit gesagt werden sollte.
Das Protokoll verzeichnet in Klammern an dieser Stelle:
Abg. Rave: Also haben Sie vorher bewußt etwas anderes gesagt! Das sind ja feine Sachen! Wir nehmen es zur Kenntnis, Herr Bahr! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU.
Text Bahr geht weiter:
Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelassen hätten, die Wahrheit zu sagen, die Sie selbst auch gesehen haben.
({3})
Es kommen dann alle möglichen Zurufe, es kommen Fragen des Kollegen Marx, auf die der Minister Bahr sagt:
Ich bleibe dabei.
Und als der Zurufer auf die gemeinsame Entschließung kam, sagte er noch einmal:
Nach den Wahlen hat eine kleine Mehrheit den Mut gehabt, die Wahrheit zu sagen.
Soweit der Ausflug in dieses gestrige Protokoll.
Herr Bundeskanzler, das ist ein ernster Vorgang. Wir müssen also in Rechnung stellen, daß Ihre Politik und Ihre Regierungserklärung - so interpretiert in fundamentalen Punkten durch Ihren engsten Berater und jetzt zu Ihrem Minister aufgestiegenen Kollegen - etwa ausgehen von einem Begriff der Wahrheit als einer quantitativen Opportunitätskategorie.
({4})
Herr Bundeskanzler, auch dies ist eine Frage des ganzen Hauses an Sie ganz persönlich. Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet doch - das ist auch eine Frage, die Ihren Partner interessieren wird : Welche Wahrheit haben Sie eigentlich im Kopf für den Fall, daß Sie Ihr Ziel, nämlich die Mehrheit allein, erreichen? Das ist doch die Frage, die hier gestellt werden muß.
({5})
Ich glaube, es wäre gut, wenn dies in einer Weise in Ordnung kommen könnte, die uns dann der Notwendigkeit - ich sage: der Notwendigkeit, nicht mehr: der Vermutung, sondern: der Notwendigkeit - enthebt, Ihre ganze Regierungserklärung als Verschleierung oder als „Überbau" zu betrachten. Der Kanzler sollte hier mit Konsequenz Klarheit schaffen.
Und wenn Sie das zu tun die Absicht haben, Herr Bundeskanzler, wäre es ganz gut, noch ein anderes bei dieser Sache mit zu erledigen. Hier in diesem Hause sind Kollegen, und die wünschen nicht, von der Regierungsbank herab als „Leute" bezeichnet zu werden.
({6})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, dem letzten, was Herr Kollege Dr. Barzel gesagt hat, ist ohne jeden Zweifel beizupflichten. Sonst helfen uns in dieser Debatte Aufwallungen künstlicher Erregung überhaupt nicht weiter.
({0})
Ich bitte auch um Verständnis dafür, daß ich zu den eigentlichen politisch-substantiellen Fragen mich im Zusammenhang äußere, im Laufe des Tages oder morgen früh, so wie die anderen auch sich für die Darlegungen ihrer Auffassungen den Zeitpunkt suchen, den sie für den richtigen halten. Deshalb in diesem Augenblick nur ein paar Bemerkungen.
Herr Kollege Barzel, Herr Bahr hat seinen Ausrutscher - und wem von uns kann nicht ein Ausrutscher passieren - gestern in Ordnung gebracht.
({1})
Demgegenüber muß ich feststellen, daß Herr Windelen, der die Regierung und Herrn Bahr provoziert hatte, überhaupt nichts von dem in Ordnung gebracht hat, was er hier gesagt hat.
({2})
Und jetzt nehme ich mir einmal das Protokoll vor. Da spricht für die Opposition ein Abgeordneter in eklatantem Widerspruch zu dem Bemühen, das hier in den Reden von Mikat, von v. Weizsäcker und Schröder zum Ausdruck kam, doch bei allem, was uns trennt, zu sehen, ob wir nicht in Fragen der Nation auch Gemeinsames finden können. Und da kommt dann einer hier her, ganz in dem alten Stil und in dem Stil des Wahlkampfes, und sagt, die Regierung müsse sich dem Vorwurf ungenügender Vertretung nationaler Interessen stellen.
({3})
Das ist, meine Damen und Herren, eine unerträgliche Zumutung und muß in Ordnung gebracht werden.
({4})
Weiter weist das Protokoll aus, daß derselbe Abgeordnete sagt,
({5})
die Bundesregierung solle sagen, was sie unter Deutschland verstehe.
({6})
Für Sie also, im Unterschied zu uns anderen auf der anderen Seite und dort auf der Regierungsbank, sei Deutschland nach Geist und Inhalt des Grundgesetzes mehr als nur ein zeitlich begrenzter alliierter Vorbehalt. Dies ist ungeheuerlich und ein Vorgang, der in einem anderen demokratischen Staat in diesem Teil ,der Welt undenkbar wäre.
({7})
Hier will ein Teil des Hauses ,die Verfassung einseitig für sich okkupieren
({8})
und maßt sich an, diejenigen, die die Mehrheit des Volkes hierhergeschickt hat, danach zu befragen, was das Vaterland ist. Ich muß das mit Empörung zurückweisen.
({9})
Herr Kollege Barzel, was Entschließungen angeht, so ist zu sagen, daß diese im Prozeß der politischen
Meinungsbildung von Parteien und Fraktionen - auch interfraktionell - ihre große Bedeutung haben können; davon will ich nichts abstreichen. Nur werden Sie mir zugeben müssen, daß Regierungserklärungen im politischen Leben des Staates einen noch höheren Rang als interfraktionelle Entschließungen haben; ohne jeden Zweifel.
({10})
Sie können unsere Auffassungen nachlesen, zum einen in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, an der unsere Politik in den vergangenen drei Jahren zu messen ist,
({11})
zum anderen - und darüber reden wir in diesen
Tagen - können Sie die jetzige Politik anhand der
Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 nachlesen.
Es hat doch überhaupt keinen Sinn, Herr Kollege Barzel, jetzt mit jenen Kategorien, die Sie einzuführen belieben, von der Tatsache abzulenken, daß vom Ende des Jahres 1966 bis zum Herbst des Jahres 1969 neben vielem, was wir erfreulicherweise gemeinsam vertreten haben, auch manches, und zwar zunehmend, unterschiedlich vertreten wurde.
({12})
Warum soll das jetzt weggewischt werden? Wir haben doch im Wahlkampf 1969 - nicht nur jeder in seinen Versammlungen - vor aller Offentlichkeit über die Punkte gesprochen ich kann mich an Herrn Kollegen Kiesinger, der heute leider nicht dasein kann, weil er mit Kollegen Leber zur Beisetzung von Präsident Johnson in Amerika ist, kurz vor der Wahl erinnern -, gerade auf die Deutschlandfrage bezogen, auf den sogenannten Alleinvertretungsanspruch bezogen, auf die Art, in der wir mit der DDR glaubten umzugehen müssen. Da gingen die Meinungen auseinander. Übrigens waren der damalige Bundeskanzler und ich zwischendurch einander näher, als wir es dann im Wahlkampf waren. So etwas gibt es doch in der Politik.
Ich bin gerne bereit, das - sei es noch im weiteren Verlauf der Debatte, sei es an anderer Stelle
- anhand jener Entwicklung 1966 bis 1969 darzulegen, und würde es sehr begrüßen, wenn wir das herausheben könnten aus den völlig irrigen Kategorien Wahrheit oder Lüge. Das wird dem Gegenstand nicht gerecht.
({13})
- Das geht jetzt an zwei Adressen. Ich habe gesagt: Bahr hat seinen Ausrutscher in Ordnung gebracht.
({14})
Ich sage: gestützt darauf war es falsch, was Herr Barzel hier gemacht hat. Im übrigen äußere ich mich dazu erst weiter, wenn Herr Windelen hierhergekommen ist und sich entschuldigt hat.
({15})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So dankenswert es ist, daß der Herr Bundeskanzler gleich das Wort genommen hat, so warten wir noch auf die Antwort auf unsere Frage.
({0})
Denn dazu hat sich der Herr Bundeskanzler nicht geäußert. Er hat sich dies vorbehalten. Wir warten darauf. Spätestens am Schluß der Debatte wird es ja sicherlich einen Umgang von Schlußbetrachtungen über die Debatte geben.
Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie einladen, doch die Unterscheidung, die wir gestern von Anfang an und heute auch in dieser Sache gemacht haben, mit uns zu vollziehen. Das, was Sie den „Ausrutscher" des Kollegen Bahr nennen, haben wir gestern als erledigt bezeichnet mit Bemerkungen, die für sich oder gegen sich selbst sprechen; das muß jeder selber wissen. Wir haben aber gesagt - ich gucke jetzt auch den Kollegen Wehner wegen des einen Satzes von gestern abend an -, daß das zur Sache, nämlich mit der Wahrheit, doch hier noch in Anwesenheit des Kanzlers werde besprochen werden müssen, weil das natürlich auf gar keinen Fall ein „Ausrutscher" sein konnte. Denn das Protokoll weist ja aus, daß dies die Einlassung war, wegen derer sich der Minister gemeldet hat. Also das, Herr Bundeskanzler, was hier noch steht, ist die von mir sehr präzis gestellte Frage, und Sie haben sie ja sicherlich auch verstanden. Dazu warten wir auf Ihre Antwort.
Was Sie versucht haben, nun als Ablenkungsmanöver in einer ersten Entgegnung zu starten, nämlich einen Angriff auf die Rede meines Kollegen Windelen, er habe Herrn Bahr provoziert und einen Vorwurf erhoben, - nun, ich habe den Text geprüft. Er hat Fragen gestellt. Er hat allerdings die unglaubliche Kühnheit gehabt, als Abgeordneter seine Meinung zu sagen und auf Fragen Antwort zu erheischen, die er nicht bekommen hat. Warum diese Empfindlichkeit?
({1})
Er hat seine Meinung gesagt, er hat Fragen gestellt.
({2})
Auf einen Punkt des Kollegen Windelen ist Herr Bahr gestern ganz anders zurückgekommen als Sie soeben, Herr Bundeskanzler. Er hat nämlich seine Frage, ob Deutschland mehr sei als ein alliierter Vorbehalt, positiv aufgenommen. Sie nehmen das heute als einen Punkt, um hier einen Ablenkungstheaterdonner hinzulegen.
({3})
Dieser Versuch, einem Abgeordneten hier einen Maulkorb umzuhängen und seine eigenen Empfindlichkeiten abzureagieren, zeigt doch wohl, daß hier ein Punkt getroffen sein muß. Deshalb müssen von der Sache selbst noch ein paar Worte mehr gesprochen werden.
({4})
Kollege Bahr hat uns im Grunde vorgeworfen - dies ist ein politischer Vorwurf, mit dem setzen wir uns politisch auseinander; es ist sein gutes Recht, uns das vorzuwerfen, wenn er so denkt, und es ist unser gutes Recht, zu sagen, wie wir in dieser Sache denken -, wir hätten uns nicht getraut, die DDR als einen Staat, der sie doch sei, zu bezeichnen. Das ist der Kern des sachlichen Vorwurfs, sofern ich in dieser Rede einen sachlichen Kern entdecken kann. Nun, gucken wir uns das an, und dann kommen wir am Schluß genau zum Punkt des Kollegen Windelen.
Wir haben doch - und das sollte Herr Bahr doch wissen, nicht nur aus seiner Kenntnis der Akten, die er für Verhandlungen kennen müßte, sondern auch aus seiner Anwesenheit in Berlin - miteinander jahrelang auf manchen Vorteil verzichtet, den wir hätten haben können, z. B. im Handel, weil wir um die Bezeichnung „Währungsgebiet der DM ({5})" gekämpft haben. Hat uns das nicht jahrelang beschäftigt? Haben wir das nicht miteinander verteidigt, eben weil wir sagten: Was immer dort drüben ist, im Interesse der Einheit wollen wir es nicht als Staat anerkennen? Das war doch bis vor kurzer Zeit unsere gemeinsame Meinung.
Oder haben wir nicht - damals waren Sie die Opposition, und Herr Professor Erhard war der Bundeskanzler -- in den Zeiten, als wir uns mit Erfolg um Passierscheine bemühten, was vergessen ist, alles getan und erfolgreich getan, um für die Menschen etwas zu erreichen, ohne den Staatscharakter der DDR aktenkundig für Nation und Welt zu machen? Damit haben wir doch gemeinsam Erfolg gehabt.
Und wie war es eigentlich zur Zeit der Großen Koalition? War es nicht ein Prinzip nicht nur der Verabredung für die Koalition, sondern auch der Politik, daß wir mehr tun wollten gegenüber denen drüben? Aber die Grenze war eben, die Staatlichkeit der DDR nicht zu akzeptieren, nicht zu tolerieren oder gar zu unterschreiben. Diese ganze Politik fand ihren Niederschlag in der Erklärung und Entschließung des ganzen Hauses. Über das, was der Kanzler eben über Entschließungen gesagt hat, werden wir wohl alle das Parlament noch nachzudenken haben;
({6})
alle, Sie auch.
Dann kam es - nach Prag - zu einer Überlegung. Ich erinnere gerade den Bundeskanzler daran. Damals haben wir miteinander gesagt: Jetzt müssen wir aufpassen, daß nicht wegen der Ereignisse in Prag die Deutschlandpolitik hinter die Startlöcher zurückfällt, die wir jetzt erreicht haben; halten wir den Stand fest! Dann haben wir, gegen die damalige Opposition der FDP, in diesem Punkt diese Entschließung vom 28. September 1968 gemacht, deren Punkt 6 hieß:
Unsere Verbündeten und die ganze überwiegende Mehrheit der Völker haben bekundet, ,daß sie die Bundesregierung als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und rechtmäßig gebildet ist. Sie spricht auch für jene, denen mitzuwirken bisher versagt ist. Die Anerkennung des anderen Teiles Deutschlands als Ausland oder als zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht.
({7})
Dann haben wir in den Wahlen - und jetzt komme ich eben zu dem Punkt von Herrn Windelen -, als wir anderes hörten, gefragt: Steht ihr noch dazu? Da ist gesagt worden: Natürlich. Ich erinnere mich, am Mittwoch vor dieser Wahl hat Helmut Schmidt, damals mein Kollege als Fraktionsvorsitzender, eben dies in einer gemeinsamen Fernsehdiskussion erklärt. Dann war die Wahl vorbei, und dann hieß es: Wähler an ,der Nase herumgeführt, natürlich ist dies ein Staat. Darüber sind nicht einmal die drei Westmächte konsultiert worden. Das ist der Vorgang.
({8})
Deshalb müssen wir doch fragen, wenn damals hier einer Entschließung zugestimmt worden ist und Herr Bahr heute von ihr sagt: Natürlich war das nicht unsere Meinung, aber wir hatten nicht die Mehrheit und konnten deshalb die Wahrheit nicht sagen. Das ist der Punkt, um den es hier geht.
({9})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu jedem einzelnen Punkt ließe sich natürlich, Herr Dr. Barzel, allerlei sagen
({0})
- warten Sie doch erst ab, falls Sie das überhaupt hören und diskutieren wollen -, z. B. dazu, wir hätten uns gemeinsam um Passierscheine mit Erfolg bemüht. Wenn es sein muß, wird ,die Auseinandersetzung darüber einmal geführt werden. Aber es ist doch nicht so, daß jetzt das, was weiter zum Verhältnis zwischen ,den Teilen Deutschlands zu tun ist, davon abhängt und ,daß man das wiederbeleben kann. Das kann man - Herr Dr. Barzel, Sie wissen das ganz genau - nicht wiederbeleben, und zwar nicht, weil wir uns geändert hätten, sondern weil die Verhältnisse nicht mehr so sind und weil - Sie wissen ,das ja - das Ende dieser ein paar Jahre währenden Möglichkeit, Passierscheine zu erwirken, durch Entschlüsse, die die damalige Bundesregierung zu verantworten hatte, wesentlich gefördert worden ist, d. h. negativ bestimmt worden ist. Aber wie dem im einzelnen sei, im Interesse unseres Parlaments liegt es, diese Auseinandersetzung zu entgiften. Das heißt nicht - ich sage das klar -: von Gemeinsamkeit zu schwärmen, wo keine ist; auf vielen Gebieten und in vielen Punkten kann keine sein.
Dabei ist nicht zu vergessen, daß wir in unserem Streiten um politisch gegensätzliche Auffassungen und Einschätzungen darauf angewiesen sind, Grundlage und Rahmen für dieses Streiten - unseren Deutschen Bundestag, unsere parlamentarische De254
mokratie, die bei auf solche Weise willentlich und künstlich erzeugten Explosionen nicht auf Dauer leben könnte - nicht zu zerstören. Es wäre ungerecht, nur den Knall - um es einmal so zu sehen - der gestrigen spätabendlichen Debatte bewerten und zum Gegenstand der Nachprüfung machen zu wollen. Heute morgen sagen Sie nun, Herr Dr. Barzel, das sei ja eigentlich im wesentlichen gestern abend erledigt worden. Es wäre gar nicht übel, wenn das die übereinstimmende Meinung ist. Aber daß es und wie es dazu hatte kommen können, verdient jedenfalls einer sachlichen Betrachtung. Herrn Windelens Ausführungen über die „angebliche Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf ungenügender Vertretung nationaler Interessen" waren der Kern.
({1})
- Nein, das war der Kern des Vorwurfs. ({2})
- Sie sagen, es sei eine Frage gewesen; jeder kann sich irren. Obwohl ich nicht so sehr am Papier kleben möchte, habe ich es hier, daß die Regierungserklärung den für Herrn Windelen etwas rätselhaften Satz enthalte: „Die Erhaltung des Friedens rangiert noch vor der Frage der Nation." Er hat daran Bemerkungen geknüpft: Krieg, Angriffskrieg komme von unserer Seite sowieso nicht in Frage; denn das Grundgesetz verbiete Angriffskriege. Darüber haben wir keinen Streit. Das ist auch nicht die Klärung der Sache. Dann fragte er: Was soll dieser Satz also? Nun, er beantwortet das selbst: „Ich fürchte, der Verdacht ist nicht unbegründet, daß er der Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf ungenügender Vertretung nationaler Interessen dienen könnte." Das heißt, dies unterstellen Sie, Herr Windelen, und das ist das, was eigentlich die Sache entzündet hat.
({3})
- Warum sind Sie dann nachträglich noch einmal darüber zornig?
Dann sagen Sie, darauf deuteten jedenfalls Äußerungen aus den Reihen der Koalition hin, und bepacken diese Unterstellungen mit einigen Ihrer Mutmaßungen. Dagegen hat sich Herr Bahr verwahrt. Er hat dargelegt, daß von Gemeinsamkeit doch nicht ernsthaft zu sprechen sei, wenn Abgeordneten unseres Parlaments, und zwar der Mehrheit der Abgeordneten, bestritten werde, daß sie die nationalen Interessen verträten. In dieser Fassung von Herrn Windelen wird ihnen eine „ungenügende Vertretung nationaler Interessen" vorgeworfen, und es heißt dort, wir versuchten angeblich, diesen Vorwurf abzuwehren. Wie gesagt, daran hat sich der Streit entzündet.
Meine Damen und Herren, Sie schleppen doch auch jetzt in diesen Teil der Debatte Vorwürfe und Behauptungen hinein, die Sie im Ringen um die Wiedervereinigungspolitik der fünfziger Jahre gegen uns erhoben und zum Teil konstruiert hatten, und konstruieren daraus neue Wurfgeschosse gegen eine realistische Politik im getrennten Deutschland. Nehmen Sie folgendes Beispiel. Herr Windelen hat erklärt, ich hätte früher schon - das wird unscharf gesagt - die Wiedervereinigung an gesellschaftspolitische Voraussetzungen geknüpft oder gar gebunden. Wenn Sie die große Güte hätten, sich wirklich einmal darüber zu informieren, würden Sie es bleiben lassen, damit zu unterstellen, wir hätten etwa daran gedacht und versuchten nun, die gesellschaftlichen Ordnungen beider Teile Deutschlands miteinander zu vermischen.
Worum ist es in dieser Zeit der fünfizger Jahre gegangen, einer vergangenen Zeit, die nicht wiederkehrt, an die Sie nicht wieder anknüpfen können, aus der höchstens Lehren gezogen werden können, und zwar allseits? Ich habe mir damals z. B. ein so mutiges Plädoyer zu eigen gemacht, wie es Professor von Nell-Breuning für die Menschen gehalten hat, die im anderen Teile Deutschlands leben, nämlich daß sie, gesetzt den Fall der Wiedervereinigung, das, was dort eingerichtet worden ist - zum großen Teil sogar sehr gegen ihren Willen, was sie dann aber in manchen Teilen anders zu bewerten gelernt haben -, auch behalten können müßten, soweit sie es wollten. Daß wir ihnen also nicht unsere Ordnung und unsere Modelle zu oktroyieren hätten. Das haben viele von Ihnen inzwischen genauso gesehen. Damals ist es Gegenstand heftigen Streites gewesen, ob die das Recht haben dürften, das zu behalten, was dort gewachsen ist. Um solche Äußerungen ging es.
Es ging auch darum, daß z. B. der vielen noch in Erinnnerung befindliche frühere preußische und spätere Reichsstaatssekretär des Innern Arnold Brecht in einigen seiner Ausführungen dafür plädiert hat, man müßte sogar versuchen, langfristig zu sichern, daß nicht die eine Seite die andere Seite schluckt. Das stand alles im Zeichen des Streits um die Wiedervereinigungspolitik. Was wir hier, meine Damen und Herren, gegeneinander auszutragen haben, ist viel. Ich meine die Gegensätze in der deutschen Politik im Bereich der Bundesrepublik Deutschland. Es ist viel und greift auch sehr tief. Dabei geht es um die Ausgestaltung unseres Staates und um die freiheitlich-soziale Entwicklung unserer gesellschaftlichen Ordnung. Was uns, die Sozialdemokraten, von der drüben regierenden Partei trennt, ist im Unterschied zu dem, was uns hier trennt und sehr scharf aufeinanderprallen läßt, von existentieller Bedeutung. Ich will damit sagen: deren SED schließt die Existenz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands oder einer sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus. Denn diese SED erlaubt nur Parteiattrappen neben und um sich, wie es die Ost-CDU, wie es die LDPD, wie es die Nationaldemokratische Partei und andere sind. Das ist so. Das können wir von hier aus gar nicht einmal ändern. Ich wollte damit nur die Qualitätsunterschiede der Gegensätze ausdrücken.
Ich habe einmal - was man mir sehr übelgenommen hat, da drüben sehr übelgenommen hat - 1952 dem
Bei aller Schärfe der sozialdemokratischen Opposition gegen Ihre Politik und gegen entscheidende Grundbestandteile Ihrer Politik -, in einem Punkt haben wir eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen, um
den Preis der Existenz unseres Staates und unserer eigenen Partei. Diese Grenze sei die Kollaboration mit den dortigen Parteien. Ich sagte: Das ist, wenn Sie wollen, eine Loyalitätserklärung. Ich würde aber wohl fehlgehen, wenn ich annähme, Sie würden uns eine entsprechende geben. - Ich habe mich darin nicht getäuscht. Herr Adenauer kannte die Zwangslage, in der Sozialdemokraten sich in einem getrennten Deutschland befinden, sowohl gegenüber der dort herrschenden Partei als auch Ihnen hier gegenüber, die ich damit nicht vergleiche. Ich habe vorhin die Unterschiede dargelegt.
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rawe?
Ja, bitte.
Herr Kollege Wehner, der Streit ging doch gestern darum, daß der Bundesminister Bahr hier sich dazu bekannt hat, daß er vorher nicht die Wahrheit gesagt hat. Nachdem der Bundeskanzler sich so hartnäckig geweigert hat, diese Frage zu beantworten, darf ich Sie fragen: Wie beurteilen Sie denn den Satz des Herrn Bundesministers, in dem er ausdrücklich gesagt hat: „Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelassen hätten, die Wahrheit zu sagen"? Das war der Kernsatz, an dem wir uns erregt haben. Dazu hat der Herr Bundeskanzler leider keine Antwort gegeben.
({0})
Das habe ich ja damit zu sagen versucht und versuche es noch einmal zu sagen, daß dieser Streit entgiftet werden muß. Beigelegt kann er kaum werden. Aber entgiftet werden kann er. Zu dieser Kontroverse, die Sie mit Ihrer Frage - ({0})
- Ich will Ihnen ja antworten entschuldigen
Sie -, falls Sie Geduld dazu haben.
({1})
Eines ist schon nicht richtig: daß Sie sagen, Herr Bahr habe gesagt, er habe nicht ,die Wahrheit gesagt. Das ist es nicht.
({2})
Ich will Ihnen nur folgendes sagen.
({3})
Hier habe ich z. B. am 8. November 1966 in der damaligen Krise der Regierung des Bundeskanzlers Professor Erhard in einer Reihe von Punkten dargelegt, was geschehen müsse, damit eine Regierung, die sich wieder auf eine Mehrheit stützen könne, auch wirklich regieren könne. Einer meiner Punkte
- Sie werden das nachlesen, wenn Sie möchten - besagte, daß wir den Handlungsspielraum im Verhältnis zwischen den beiden Teilen Deutschlands
ausloten und ihn voll auszuschöpfen versuchen müßten. Es hat dann Regierungsbildungsverhandlungen gegeben. Bei diesen Verhandlungen - ohne daß ich das jetzt im Detail rekonstruieren und wiedergeben will - haben Sie ausdrücklich erklärt: Einverstanden mit dem Ausloten, aber in einem Punkte darf ein Limit nicht überschritten werden. Das von Ihnen gesteckte Limit hieß: es darf nicht von einem anderen, einem zweiten deutschen Staat die Rede sein. Wir haben uns dem damals gefügt und haben versucht, das Maximum dessen herauszuholen, was bei dieser Begrenzung am Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands zu verbessern war zugunsten der Menschen und zugunsten der Entwicklung dieses Verhältnisses.
({4})
- Moment, ich bin mit der Erklärung noch nicht zu Ende. Sie haben sich nun darüber empört, daß gesagt worden ist, daß das Aussprechen dessen, was ist, auch gebunden ist - so verstehe ich das, was Herr Bahr mit „die Wahrheit" in bezug auf den Charakter des anderen Teiles Deutschlands hat sagen wollen und auch ausgedrückt hat - an Mehrheitsverhältnisse. Aber das heißt doch nicht, daß gelogen wird, daß heißt doch - ({5})
- Lesen Sie bitte heute einmal mit geschärften Augen die hochinteressante Rede, die der Nachfolger von Bundeskanzler Professor Erhard, nämlich I Herr Kurt Georg Kiesinger, zum 17. Juni des Jahres 1967 gehalten hat. Bitte, lesen Sie sie. Da werden Sie finden, daß er nicht nur gesagt hat, daß wir nicht auf dem stehenbleiben dürfen, was ist und was wir haben. Er sagte, die Zeit arbeite nicht für uns, und schließlich würden wir nicht einmal mehr das halten können, was wir haben. Lesen Sie ,die Rede, dann werden Sie dieses Um-die-Begriffe-Herumgehen, dieses quälende Suchen feststellen.
Ich mache damit Herrn Kiesinger gar keinen Vorwurf. Mein Vorwurf gegen ihn liegt auf einer ganz anderen Ebene: daß er daraus nicht gewisse Konsequenzen gezogen hat. - In diese Zeit führt die Auseinandersetzung zurück.
Meine Damen und Herren, in der September-Entschließung im Jahre 1968 ist versucht worden, noch einmal festzuklopfen, daß nie von einem zweiten deutschen Staat die Rede sein dürfe. Es war eine 15-Punkte-Entschließung mit recht interessanten Punkten. In Punkt 6 deckte sie sich nicht mit dem Entschließungsentwurf, den die FDP, die damalige Opposition, eingebracht hatte, während sich in allen anderen Punkten der Wortlaut deckte. Die Opposition bezog eine Stellung dazu, wonach beide Teile füreinander nicht Ausland sein dürften. Das habe ich jetzt natürlich nicht wörtlich zitiert, aber darum ist es damals gegangen.
Dann gab es die Regierungserklärung. Sie haben sich heute und in der Nacht wieder darüber erregt, daß Herr Brandt gesagt haben soll - und dann wird es ein wenig verkürzt -: Da waren ja Wahlen
dazwischen. Ja, ich bitte Sie! Die Regierungserklärung von 1969 erklärt:
Diese Regierung geht davon aus, daß die Fragen, die sich für das deutsche Volk aus dem zweiten Weltkrieg und aus dem nationalen Verrat durch das Hitlerregime ergeben haben, abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden können. Niemand kann uns jedoch ausreden, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle anderen Völker auch.
Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.
Das war damals das, was man sich vornahm. Weiter heißt es:
Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte - mit ihrem Glanz und Elend - verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Haus. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung: für den Frieden unter uns und in Europa.
Dann heißt es:
20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Dies ist nicht nur ein deutsches Interesse, denn es hat seine Bedeutung auch für den Frieden in Europa und für das Ost-West-Verhältnis. Unsere und unserer Freunde Einstellung zu den internationalen Beziehungen der DDR hängt nicht zuletzt von der Haltung Ost-Berlins selbst ab. Im übrigen wollen wir unseren Landsleuten die Vorteile des internationalen Handels und Kulturaustausches nicht schmälern.
Dann heißt es, daß die Bundesregierung die im Dezember 1966 durch Bundeskanzler Kiesinger und seine Regierung eingeleitete Politik fortsetzt und dem Ministerrat der DDR „erneut Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen" anbietet, „die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen soll. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein."
Dann geht es in die Praxis. Hier war der entscheidende Schritt getan. Sie haben dann versucht, Herr Dr. Barzel - das ist verständlich -, diesen Punkt wieder rückgängig zu machen. Statt dessen haben Sie wieder jene Entschließung mit dem Punkt 6, von dem ich eben sprach, zum Ersatz für diese Zielsetzung der Regierungserklärung von 1969 zu machen versucht. Darum ist gerungen worden, und das war das einzige Mal, daß der jetzt
zu Ihnen Sprechende gesagt hat, und zwar in einem Interview - er hat es dann auch erläutert -, daß er die Opposition unter diesem Aspekt nicht brauche. Er hat dann erläutert, daß es aber für die Führung und praktische Politik notwendig sei, daß das Verhältnis von Koalition und Opposition, von Regierung und Opposition ein geregeltes Verhältnis werden müsse, soweit das geht.
Die Wahrheit ist, daß wir nicht mehr von „Phänomen" geredet haben, sondern daß wir gesagt haben: Das ist ein, wenn auch uns nicht passender und nicht gefallender und von uns in dieser Beziehung nicht zu übernehmender, Staat.
({6})
Die Wahrheit ist, daß wir an die Stelle des sogenannten Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik Deutschland gesetzt haben erstens die Bereitschaft zu einer vertraglichen, das heißt völkerrechtswirksamen Regelung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten einschließlich der Bereitschaft, daß beide gleichberechtigte Mitglieder der Vereinten Nationen werden, wenn sie ihr Verhältnis vertraglich geregelt haben, und zweitens die Tatsache, daß wir Verträge mit anderen Staaten nur im eigenen Namen schließen. Das ist sicher ein schmerzender Schritt gewesen, aber ein Schritt, der aus der Einsicht der tatsächlichen Verhältnisse und der internationalen Gegebenheiten einschließlich des Verhältnisses im westlichen Bündnis unvermeidlich war und uns nicht nur ein Stück nach vorn gebracht hat, sondern uns auch weiter nach vorn sehen läßt.
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mertes?
Herr Kollege Wehner, sind Sie der Auffassung, daß eine gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages über wesentliche Fragen unseres nationalen Interesses, unserer Staatlichkeit und unserer Verfassung ohne vorherige parlamentarische Beratung durch eine Regierungserklärung außer Kraft gesetzt werden kann?
Ja.
({0})
Dies war ein neuer Bundestag, der 1969 zusammengetreten war. Das war eine neue Regierung, die auf der Basis des Wahlergebnisses gebildet worden ist, mit einer Regierungserklärung, die nach vorn blickte. Wir haben inzwischen erneut Wahlen gehabt, und die Mehrheit von damals ist eine verbreiterte Mehrheit. Sie können jetzt nicht alle erdenklichen Entschließungen früherer Perioden als gültig an die jetzigen Verhältnisse anhängen.
({1})
Gültig ist das Grundgesetz. Darüber wollen wir mit Ihnen nie streiten, daß wir uns alle bemühen müssen, dem Grundgesetz getreu zu bleiben.
({2})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch diese sicher interessante Rede des Kollegen Wehner ersetzt nicht die notwendige Antwort deis Kanzlers auf die Frage, um die es hier geht, nämlich über den Rang der Wahrheit in diesem Parlament.
({0})
Das ist die Frage auf die wir die Antwort vom Kanzler erwarten. Wir haben nicht die Absicht, die Debatte zu diesem Thema jetzt im einzelnen zu führen. Das wird in wenigen Wochen sein, Herr Kollege Wehner, wenn eine Vorlage idas Haus beschäftigen wird. Worum es heute geht, ist: Wer soll dieser Regierungserklärung glauben vor dem Hintergrund der Wahrheitsdefinition des Ministers Bahr?
({1})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Scheel.
Herr Präsident! Lieber Herr Dr. Barzel, Sie haben vorhin - nicht jetzt - das Wort von dem Theaterdonner gewählt. Sie werden mir zugeben, daß die über eine ganze Nacht und durch viel Nachdenken wohl vorbereitete Intervention des heutigen Morgens die Bezeichnung „Theaterdonner" sehr wohl verdienen könnte.
({0})
Ich will auch gleich sagen, warum. Sie haben eigentlich mit einem Trick heute morgen versucht, einen Eindruck zu erwecken, der natürlich, wenn wir in diesem Hause ehrlich miteinander sind, falsch ist, indem Sie sich eine ganz kleine Reaktionsschwäche meines Kollegen Bahr zunutze gemacht haben.
({1})
- Nun lassen Sie mich das mal zu Ende führen; ich werde Ihnen ja sagen, welche. Diejenige nämlich, die jedem Kollegen, der es mit Journalisten und mit Zwischenfragern zu tun hat, manchmal unterläuft, wenn er eine ihm in einer Frage vorgelegte Formulierung in der Antwort übernimmt. Sie wissen, es ist eine der großen Fähigkeiten von Interviewern, daß sie in ihre Fragen Begriffe hineinbringen in der Hoffnung, sie würden in der Antwort übernommen werden.
({2})
- Sie sind in eine solche Situation nie gekommen, Sie werden auch in Ihrer parlamentarischen Laufbahn wenig in solche Situationen kommen, Herr Kollege.
({3})
Nun, meine sehr verehrten Kollegen, hier war es
das Wort „Wahrheit". In Wirklichkeit war es ja
etwas anderes, über das gesprochen wurde. Denn die Entschließung enthielt, damals unter den Koalitionsfraktionen vereinbart - ({4})
- Nicht „die damalige Wahrheit" ; sondern: die Entschließung hat nicht den Mut erkennen lassen, die Wirklichkeit zu formulieren.
({5})
Es handelt sich ja nicht um die Wahrheit etwa in einer moralischen Kategorie, sondern es handelt sich hier um die Formulierung einer politischen Wirklichkeit oder um den Mangel an Mut, die politische Wirklichkeit zu formulieren. Ich kann das deswegen so gut sagen, meine verehrten Kollegen, weil ja meine Fraktion zu jener Zeit dem Punkt 6 der Entschließung nicht zugestimmt hat,
({6})
und zwar genau aus dem Grunde, weil wir diese eine Formulierung nicht mitmachen wollten, die uns un- wirklich erschien.
({7})
Wir hatten die Wirklichkeit zu sagen vielleicht etwas früher den Mut als andere Gruppen in diesem Parlament.
Aber nun wollen wir uns doch auch wieder nichts vormachen. Wie kommen denn Entschließungen in einem Parlament zustande? Wie bekomme ich eine Mehtheit für eine Entschließung? In jedem Falle doch dadurch, daß die beteiligten Gruppen Kompromisse machen.
({8})
Es ist doch auch nicht etwa wirklichkeitsfremd, wenn ich sage, daß Koalitionsmehrheiten nur dann regieren können, wenn sie ihre gemeinsame Meinung auf der Basis vom Kompromissen formulieren.
Hier komme ich zu einem Punkt, der von Herrn Kollegen Barzel soeben erwähnt worden ist: daß der Koalitionspartner interessiert sein müßte, wie der Partner den Begriff „Wahrheit" nimmt. Ich habe soeben schon gesagt: unser Streit ist nur dadurch entstanden, daß Sie hier etwas willkürlich „Wirklichkeit" und „Wahrheit" - im moralischen Sinne - vermischt haben: Jeder in diesem Saal hat, wenn er ehrlich mit sich selber ist, gewußt, wenn Herr Bahr in seiner Antwort gestern gesagt hätte: Es ist nicht möglich gewesen, die Wirklichkeit zum Gegenstand einer formulierten Erklärung zu machen, so wäre das vollkommen verstanden worden, auch von Ihnen.
({9})
Genau das ist auch seine Antwort gewesen. Jeder,
der nicht bewußt etwas anderes hineinlegen wollte
- und Sie haben das ja erst heute morgen entwickelt - ({10})
- Aber doch nicht deswegen! ({11})
- Jetzt komme ich doch darauf, wer die Akzente verschoben hat. Gestern haben Sie hier eine große Diskussion geführt und sich unerhört erregt, aber nicht etwa, weil Herr Bahr das Wort „Wahrheit" hier, wie ich meine, an einer falschen Stelle gewählt hat, sondern deshalb, weil Herr Bahr gesagt hat, er sei nicht gezwungen, mit jedem Abgeordneten zu sprechen.
({12})
Das war gestern allein die Ursache Ihrer Erregung. Nur das war die Ursache Ihrer Erregung!
({13})
Meine verehrten Damen und Herren., es bedurfte einer ganzen Nacht,
({14})
um die Chance zu entdecken, die darin lag,
({15})
um die Vermischung der Wörter „Wahrheit" und
„Wirklichkeit" für einen Theaterdonner 'zu nutzen.
({16})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Stauffenberg?
Bitte sehr, natürlich gerne!
Vizepräsident von Hassel: Bitte, Graf Stauffenberg!
({0})
Herr Minister, ich frage Sie, ob Sie sich der Formulierung von Herrn Kollegen Wehner über Wert und Unwert gemeinsamer Entschließungen dieses Hauses anschließen und, wenn ja, ob diese Definition und Formulierung auch für die gemeinsame Entschließung dieses Hauses vom 17. Mai 1972 gilt.
({0})
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ich schließe mich in vollem Umfang der 'Definition an, die Herr Kollege Wehner
eben hier vorgetragen hat. Das beantwortet den zweiten Teil Ihrer Frage von selbst.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage (des Abgeordneten Rawe?
Falls Sie eine Erläuterung dazu 'haben wollen, bin ich auch gern bereit, sie zu geben.
({0})
Meine Damen und Herren, Entschließungen sind als die Bekundung des Willens einer bestimmten Mehrheit in einem Parlament 'zu verstehen. Sie sind außerdem nur aus der gegebenen politischen Situation heraus zu verstehen. Wenn ich Ihnen aus den Protokollen des Deutschen Bundestages Entschließungen vorlegte, die Sie, die CDU/CSU, einmal mit uns, einmal mit der SPD, ein anderes Mal, wenn ich in die Historie des Bundestages zurückgehe, mit einer dritten, vierten, fünften, sechsten oder gar siebenten Partei, manchmal auch ganz allein gefaßt haben, und Sie fragte, ob Sie jetzt noch zu diesen Entschließungen stehen, würde ich dadurch hier möglicherweise teilweise eine humorvolle Stunde im Parlament entfesseln.
({1})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rawe?
Aber bitte, Herr Rawe!
Herr Bundesaußenminister, nachdem Sie sich jetzt selbst der Mühe unterzogen haben, zu dem Punkt zurückzukehren, um den es geht, nämlich um die Wahrheit, die Herr Bahr hier verkündet hat, darf ich Sie fragen, ob Ihnen entgangen ist, daß der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU gestern abend ausdrücklich angekündigt hat, daß er heute morgen auf diesen Punkt zurückkommen werde, so daß dies deswegen gar kein Theaterdonner sein kann; und darf ich Sie weiter fragen - ich sage noch einmal: nachdem der Herr Bundeskanzler sich hartnäckig geweigert hat, nachdem Herr Wehner lange genug, wie wir das von ihm kennen, um die Sache herumgeredet hat -, ob Sie jetzt wenigstens die Güte haben, uns bitte zu sagen, wie Sie zu dem Satz des Herrn Bahr stehen: „Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelasen hätten, die Wahrheit zu sagen." Das ist der Kernpunkt, um den es hier geht.
({0})
Ich wiederhole: Die Mehrheit war nicht so, daß sie es
zugelassen hätte, die politische Wirklichkeit in einer
Entschließung zu formulieren. Und dies ist richtig.
({0})
- Ja, Sie können auch sagen: die Mehrheit war nicht so, daß sie es zugelassen hätte, die politische Wahrheit zu sagen.
({1})
- Herr Kollege Rawe, ich glaube, daß jeder objektive Zuhörer sehr wohl versteht, worum es hier geht. Sie wollen diese Antwort in eine Kategorie hineinbringen, in die sie nicht gehört. Sie wollen doch bei den Zuhörern den Begriff Lüge als Gegenbegriff zu dem insinuieren, was Herr Bahr hier als Wahrheit bezeichnet hat. Das ist das, was Sie wollen. Aber dies ist unzulässig, und deswegen weise ich es zurück.
({2})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?
Jawohl, bitte sehr!
Herr Minister, indem ich Ihrer Definition folge, möchte ich fragen, ob Sie dabei den jetzt schon zweimal von Herrn Kollegen Rawe nicht genannten letzten Teil des Bahrschen Satzes auch so vor sich haben. Der Satz insgesamt heißt: „Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelassen hätten, die Wahrheit zu sagen, die Sie selbst auch gesehen haben." Ich finde, daß dies ja wohl Ihre Definition mit der Wirklichkeit deckt.
({0})
Herr Wehner, ich sehe es genauso. Ich hatte deswegen auch schon darauf hingewiesen, daß ich mit einer gewissen Berechtigung sehr objektiv von diesen Dingen spreche, weil wir bei der Verabschiedung dieser Entschließung damals aus unserer besonderen Situation heraus in der Lage gewesen sind, ganz offen die politische Wirklichkeit zu vertreten und uns zu weigern, einer Entschließung zuzustimmen, die in diesem Punkte an der politischen Wirklichkeit vorbeigegangen ist. Wir konnten dies, weil wir in der Opposition saßen und diese beiden Fraktionen Koalitionspartner und darauf angewiesen waren, gemeinsam eine Entschließung zustande zu bringen, in der die CDU/CSU darauf drängte und darauf bestand, etwas zu formulieren, von dem sie damals selbst wußte, daß es unwirklich war. Aber Unwirklichkeit gehörte ja zur Grundlage Ihrer Politik, meine Damen und Herren.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Rawe?
Bitte!
Herr Bundesaußenminister, warum wollen Sie nicht endlich zur Kenntnis nehmen, daß es nicht darum ging, sondern um den Wahrheitsbegriff des Herrn Bahr? Deswegen darf ich Sie noch einmal - -({0})
- Ja, darf ich eigentlich die Zwischenfrage stellen, Herr Präsident?
Ich sagte ja - Rawe ({0}) : Eine Sekunde, Herr Scheel.
Bitte sehr!
Schauen Sie, das ist ja nicht so zufällig gewesen. Wir hätten uns sicherlich nicht erregt - -({0})
Vizepräsident von Hassel: Ich bitte Sie, eine Frage zu stellen.
Aber selbstverständlich, Herr Präsident. Ich habe nämlich gefragt, ob der Bundesaußenminister nicht endlich zur Kenntnis nehmen will, daß Herr Bahr Bedenkzeit gehabt hat, nämlich nach einer Zwischenfrage des Herrn Vizepräsidenten Schmitt-Vockenhausen. Und dann frage ich Sie, Herr Scheel: Ist Ihnen eigentlich zur Kenntnis gekommen, daß er nach dieser Bedenkzeit sich ausdrücklich noch einmal zu diesem Wahrheitsbegriff bekannt hat, indem er gesagt hat: Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe?
({0})
Herr Rawe, ich habe Politiker immer sehr gern, die bei dem bleiben, was sie gesagt haben.
({0})
Zum ersten Teil Ihrer Frage, die Sie ja zum wiederholten Male gestellt haben, möchte ich sagen: Wenn Sie Lust haben, Herr Rawe, stellen Sie diese Frage im Laufe der Erörterung, so häufig Sie wollen. Sie können sie gar nicht häufig genug stellen,
({1})
weil wir ja vor der Offentlichkeit diskutieren und
weil ich eigentlich überhaupt keine Chance auslas260
sen möchte, Ihnen die Gelegenheit zu geben, immer wieder diese Frage zu stellen,
({2})
damit die Offentlichkeit sich ein Urteil darüber bilden kann, was die Absicht der heutigen Intervention gewesen ist.
({3})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmöle?
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen. Mit dem größten Vergnügen.
Herr Minister, sind Sie sich bewußt, daß Sie dann, wenn Sie die politische Wahrheit nach den augenblicklichen politischen Mehrheitsverhältnissen begründen, die Glaubwürdigkeit der Politik ingesamt in Frage stellen?
({0})
Sie haben noch nicht so differenziert gedacht, wie das in der Politik notwendig ist.
({0})
Ich habe zu keiner Zeit die Behauptung aufgestellt - wie würde ich dazu kommen? -, die Wahrheit sei durch Mehrheitsentscheidung festzustellen. Dies ist doch kompletter Unsinn.
({1})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiep?
Ich muß zumindest die Möglichkeit haben, auf die erste noch zu antworten; dann bin ich ja immer bereit, mir die nächste Zwischenfrage anzuhören. Meine Antwort ist noch nicht zu Ende; ich wiederhole noch einmal, damit sie im Zusammenhang gegeben werden kann. Ich habe zu keiner Zeit gesagt, daß die Wahrheit durch Mehrheitsentscheidung festzulegen und durch Mehrheitsentscheidung aufzuheben wäre. Es gibt überhaupt keine politische Entscheidung über Wahrheit oder Nichtwahrheit.
({0})
Deswegen ist ja die Begriffswahl falsch. Der Sinn meiner Wortmeldung war ja kein anderer als der, darauf hinzuweisen, daß wir hier mit falschen Begriffen operieren. Wir hätten von vornherein sagen müssen, es handelt sich um politische Wirklichkeit und nicht - ({1})
- Das tue ich doch vor diesem Hause, dem Herr
Bahr anzugehören seit einiger Zeit ja die große
Ehre hat, wie wir alle, meine Damen und Herren.
Jetzt zu den Entschließungen - ich will doch dem Herrn Kollegen eine volle Antwort geben. Wir sollten doch der Öffentlichkeit gegenüber nicht den Eindruck erwecken, daß Entschließungen von Parlamentsmehrheiten alles enthalten müßten, was die beteiligten politischen Gruppen als ihre Meinung vertreten. Gemeinsame Entschließungen von mehreren politischen Gruppen können nur eine Mehrheit finden, wenn sie im Kompromißwege beschlossen werden. Das gilt jetzt auch als Antwort auf die Frage, die eben Herr Dr. Barzel gestellt hat, als er sich danach erkundigt hat, ob der Koalitionspartner sich nicht dafür interessiere, wie die SPD über diese Dinge denke. Hierzu muß man sagen: Koalitionen sind Vereinbarungen, um eine ganz bestimmte Politik in die Wirklichkeit umzusetzen, eine Politik, die von einer Mehrheit der Parlamentarier getragen wird und von einer Mehrheit der Wähler gewünscht wird. Das heißt, wenn es eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten gibt, dann kann es weder ein sozialdemokratisches Regierungsprogramm geben noch ein liberales Regierungsprogramm im Sinne der Freien Demokraten, sondern dann kann es nur ein sozialliberales Regierungsprogramm geben. Das, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat, war ja nicht seine persönliche Meinung, die Meinung der SPD, der FDP oder meine Meinung, sondern das Programm der Regierungskoalition.
Und was das Merkwürdige ist - ich bitte einmal, darüber nachzudenken -: heute hat dieses sozialliberale Regierungsprogramm in der Offentlichkeit eine viel breitere Mehrheit gefunden, als die beiden Parteien gemeinsam beim letzten Mal an Wählern für sich haben buchen können.
({2})
Das heißt, in der Kombination dieser Politik, so wie sie sich heute darstellt, liegt für viel mehr Menschen ein gewisser Reiz. Das muß Herr Strauß sich merken, wenn er über Mitte philosophiert.
({3})
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiep?
Ja.
Herr Minister, da wir aus der bisherigen Diskussion und aus dem Beitrag von Herrn Minister Bahr gestern abend doch zumindest den Eindruck gewinnen mußten, daß es eine gewisse Interdependenz zwischen Mehrheitsverhältnissen und der Wahrheit oder, wie Sie sagen, der wirklichen Meinung der Beteiligten in diesem Hause gibt, und nachdem Sie hier einige Ausführungen über den Wert - oder besser gesagt, den Unwert - von gemeinsamen Erklärungen gemacht haben, möchte ich Sie fragen, wie Sie sich eigentlich angesichts dieser Äußerungen überhaupt eine Gemeinsamkeit zwischen Opposition und Regierungsparteien in den Schicksalsfragen der Nation vorstellen. Mit anderen Worten: worauf soll sich denn z. B. eine Opposition dann noch in der Gemeinsamkeit
und in ihrer Festlegung der Gemeinsamkeit verlassen können, wenn die Dinge so sind, wie Sie soeben hier dargestellt wurden?
({0})
Ich wiederhole noch einmal, Herr Kiep, was ich vorhin gesagt habe. Entschließungen, die von Mehrheiten gefaßt werden,
({0})
müssen notwendigerweise Kompromisse sein. Man weiß hier im Raume ja immer sehr genau, was in den Entschließungen fehlt, weil es nicht gemeinsame Politik der Beteiligten sein kann. Man weiß sogar, welche Nuancen zu einzelnen Punkten einer großen Entschließung bei den einzelnen beteiligten Gruppen festzustellen sind. Wir wollen doch der Öffentlichkeit kein falsches Bild von dem geben, was wir hier im Parlament tun. Es wäre doch ganz falsch, der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, daß von verschiedenen Gruppen im Parlament gefaßte Entschließungen hinsichtlich der einzelnen Punkte von allen gleich, ganz gleich, beurteilt werden. Es ist doch vielmehr so, daß es Unterschiede und Nuancen in der Beurteilung gibt.
({1})
Jeder hat gewußt, daß die Ziff. 6 der von Ihnen immer herangezogenen Entschließung des vorletzten Bundestages im ganzen Parlament sehr unterschiedlich beurteilt worden ist, und zwar nicht nur
von den Freien Demokraten. Die konnten es sich leisten - ich wiederhole es noch einmal -, als einzige Oppositionspartei ganz klar zu sagen: dies ist Unsinn! Die konnten es sich leisten. Aber die Koalitionsparteien haben einfach eine Gemeinsamkeit finden müssen, die in diesem Punkte unter dem starken Druck der größeren Koalitionsfraktion, nämlich der CDU, zustande gekommen ist.
({2})
Aber hier hat jeder gewußt, auch der Vorsitzende der CDU-Fraktion und alle anderen Mitglieder, wie der Partner, die SPD, schon damals über diesen bestimmten Passus gedacht hat. Man hat sie mit dem Appell an die Loyalität zur Koalition dazu gebracht, hier eine solche Entschließung zu fassen. Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit; so müssen wir die Dinge sehen.
({3})
Ich wiederhole noch einmal: Entschließungen sind von Mehrheiten auf der Basis der aktuellen politischen Situation gefaßt und sind als Grundlage gemeinsamen Handelns zu verstehen. Sie können doch als CDU der SPD nicht den Vorwurf machen, sie habe in dem Zeitraum, in dem sie mit Ihnen zusammen die Mehrheit in diesem Bundestag vertreten und in dem sie mit Ihnen zusammen eine Regierung gebildet hat, etwa gegen die gemeinsame Entschließung verstoßen. Das ist ja nicht der Fall. Die Sozialdemokratische Partei hat sich in diesem ganzen Zeitraum absolut an diese Entschließung gehalten, obgleich einige Politiker der Meinung gewesen sind, daß das vielleicht sogar nicht sehr nützlich für ihre Wahlinteressen gewesen ist. Erst nachdem die Mehrheiten in diesem Parlament verändert worden sind und sich neue Mehrheiten gruppiert haben, ist auch in diesem Punkt eine neue Politik entstanden. So ist die Wirklichkeit.
Was nun die Gemeinsamkeiten des Parlaments angeht: Hier, Herr Kiep, glaube ich, sind wir völlig einer Meinung. Es gibt fundamentale Grundüberzeugungen und fundamentale Ziele nationaler Politik, die sich auch nie geändert haben in der Zeit, in der ich dem Parlament angehöre, zu denen ich stehen werde, auch wenn ich dem Parlament noch mehrere Legislaturperioden angehören sollte. Diese fundamentalen Ziele und fundamentalen Grundsätze -der Grundsatz der Freiheit für die Menschen in unserem Lande, der Grundsatz, alles zu versuchen, die Spaltung Deutschlands zu überwinden - sind ganz zweifelsohne gemeinsame politische Grundlage für alle demokratischen Parteien, die in diesem Parlament vertreten sind.
({4})
Aber zu diesen fundamentalen Grundsätzen in der Politik gehört zweifellos nicht das Urteil, ob die DDR ein Staat ist, staatlichen Charakter hat oder nicht. Das hat nie zu den Grundsätzen der Politik gehört. Das war eine politische Meinung, die nur aus der Zeit und den jeweiligen politischen taktischen Zielen heraus zu verstehen gewesen ist.
({5})
Darauf, glaube ich, sollten wir hinweisen, wenn wir jetzt über den kleinen Zwischenfall diskutieren, von dem Herr Rawe ja soeben gesagt hat, daß sich die CDU/CSU-Fraktion gestern abend sehr viel Zeit gelassen hat, um heute morgen
({6})
- nein, nein! -, um heute morgen - sage ich das etwa falsch? - darüber zu diskutieren.
({7})
Es war die Zeit, die nötig war, um sehr sorgfältig zu prüfen und herauszufinden, ob daraus nicht eine Chance zu konstruieren wäre.
({8})
Ich wiederhole noch einmal: Das war ein Fehlschuß. Ich bin fest davon überzeugt. Jetzt werden Sie es selber schon bereuen, daß Sie die Diskussion über diesen Punkt in dieser Form angefangen haben.
({9})
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Mikat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für meine Fraktion folgendes erklären. Da in der Diskussion, die wir gerade hatten, der Begriff der Entschließung sehr undeutlich und undifferenziert gebraucht wurde und leider auch nicht vom Herrn Bundesaußenminister genügend differenziert wurde, möchte ich festhalten: Wir gehen davon aus, daß die „Gemeinsame Entschließung" des Deutschen Bundestages vom Mai 1972 von den Erklärungen des Herrn Bundesaußenministers nicht umfaßt wurde.
Bei dieser gemeinsamen Entschließung, die der Deutsche Bundestag im Mai 1972 gefaßt hat, handelt es sich um ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland,
({0})
über das wir gleichzeitig auch insofern Einigkeit erzielt haben, als wir auch seine völkerrechtliche Verbindlichkeit im Hohen Hause bekräftigt haben. Ich gehe davon aus, daß Regierung und Hohes Haus zu dem stehen, was wir in völkerrechtlicher und innerstaatlicher Hinsicht über die „Gemeinsame Entschließung" im Hohen Hause ausgeführt haben und an dem sich nichts geändert hat. Ich gehe davon aus, daß sie zu Buchstaben, Geist, Inhalt und Rechtswert dieses Dokumentes nach wie vor unvermindert als einer der entscheidenden Grundlagen unserer Politik stehen.
({1})
Meine Damen und Herren, das Wort hat ,der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir zwar verständlich, ,daß nun diese Erörterungen auf ,diese Entschließung zugetrieben sind. Ich möchte hier nur folgendes dazu sagen. Bei allem Respekt vor Ihnen, Herr Kollege Mikat: Es geht Ihnen um eine Entschließung, die zu Verträgen gefaßt wurde, die von ,den Mitgliedern Ihrer Fraktion teils abgelehnt, teils mit Stimmenthaltung behandelt worden sind und keine einzige Zustimmung gefunden haben. Wir kennen die Bedeutung des Zustandekommens der Entschließung. Wir finden, daß es nicht notwendig ist, darüber heute noch einmal zu sprechen. Die Entschließung ist kein Vertrag über die Verträge und steht nicht über den Verträgen. Die Verträge gelten.
({0})
Meine Damen und Herren, ,das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, ganz gut, damit wir hinterher nicht weiter auseinander sind als notwendig, daß diese präzise Frage jetzt noch mit in die Debatte hineingekommen ist. Wenn schon darüber gesprochen wird, wird man sich darüber im klaren sein müssen, daß im Laufe der Jahre Entschließungen unterschiedlichen Werts verabschiedet worden sind. Auch die Kollegen der Union werden mir zugeben, daß, wenn wir die Entschließungen des Bundestages seit 1949 aufblättern, sie manche aus den fünfziger Jahren anders beurteilen, als sie sie damals beurteilt haben. Keiner von uns kann ausschließen, ob dort sitzend oder sonstwo im Hause, daß wir Entschließungen des Jahres 1968 anders sahen, als wir sie 1978 sehen würden.
Ich will aber auf etwas anderes hinaus, nämlich in Beantwortung der Frage, die Herr Kollege Mikat eben aufgegriffen hat Herr Kollege Leisler Kiep war vorhin schon daran -: daß überhaupt kein Zweifel daran sein darf, daß, obwohl vom vorigen Bundestag beschlossen, die Entschließung des vorigen Bundestag für die Bundesregierung bindend ist. Sie ist nicht Vertragsinstrument, worauf Herr Kollege Wehner eben hingewiesen hat. Sie ist politisch für die Bundesregierung bindend, und ich möchte das nicht relativieren, wenngleich ich, nachdem ich dies gesagt habe, hinzufügen darf, ohne daß Sie das mißverstehen: Wir haben die Entschließung unter nicht ganz gleichen Voraussetzungen zur Entscheidung gebracht. Sie ist gemacht worden als eine politische Willenskundgebung, um die Verträge zustannde zu bringen, und sie muß für diejenigen, die die Verträge abgelehnt haben und ,sie heute weiter ablehnen, zwangsläufig etwas anderes bedeuten, als für die, die sie angenommen haben oder haben passieren lassen. Aber ich sage: Dies ändert nichts an meinem Vorsatz, daß die Bundesregierung der Bundesaußenminister sieht das so wie ich - ,diese Entschließung natürlich nicht beiseite zu schieben, zu relativieren wünscht.
Aber ich möchte dann doch noch folgendes hinzufügen dürfen, meine Damen und Herren. In der Erklärung, die ich hier am 18. abgegeben habe, finden Sie - zwar nicht in Verbindung mit der Außenpolitik, sondern mit der Hochschulpolitik den Satz, daß über die Wahrheit nicht mit Mehrheit beschlossen werden könne. Als ich das vortrug, habe ich nach meiner Erinnerung beträchtliche Zustimmung auch aus den Reihen der Opposition gehabt. Es versteht sich wohl im Grunde von selbst, daß dieser Satz, daß über die Wahrheit nicht mit Mehrheit befunden werden kann, in allen Bereichen der Politik seine Gültigkeit hat, soweit es sich um die Orientierung an Grundwerten handelt und nicht um Vorletztes, also um Fragen der Zweckmäßigkeit, der Opportunität, wenn Sie so wollen; denn dieses Wort muß ja nicht einen odiösen Klang haben und hat es auch kaum, wenn man es ins Deutsche, nämlich mit „Zweckmäßigkeit", übersetzt. Ich erlaube mir, daran zu erinnern - gestern war in anderem Zusammenhang davon die Rede -, daß in früheren Jahren auf sozialdemokratischer Seite Adolf Arndt dem Gedanken, den ich soeben angedeutet habe, viel Gewicht verliehen hat. Ich könnte in diesem Zusammenhang auch Carlo Schmid zitieren.
Aber meine Damen und Herren, daß sich im Verlauf politischer Prozesse die Einschätzung von Fakten bezüglich ihres Stellenwerts im eigenen politischen Kalkül verändert, wird man auch sehen müssen. Ich darf das beides, damit wir uns hier vielBundeskanzler Brandt
leicht noch etwas besser verstehen als vorher, nebeneinanderstellen. Sie finden in der Regierungserklärung, was den anderen Teil Deutschlands, die Deutsche Demokratische Republik angeht, auch den Satz, wir hätten - d. h. die, die diese Regierung tragen - das Regierungs- und das Gesellschaftssystem der DDR ständig abgelehnt, und dabei werde es bleiben. Das ist, solange die Verhältnisse in der DDR sind, wie sie sind, eine Wahrheit von dem Range, vor dem wir sagen, daß über sie nicht mit Mehrheit befunden werden könne, also eine solche, die nicht zur Disposition steht.
Hier erinnere ich noch einmal daran: Walter Scheel und ich haben auch über diesen Punkt - das Verhältnis der beiden Teile Deutschland zueinander und ihre Stellung in der Welt - noch wenige Tage vor der Wahl 1969 im Fernsehen diskutiert und keinen Zweifel daran gelassen, daß wir es zusammen anders machen würden, wenn wir dafür die Zustimmung der Wähler erhielten.
({0})
Gegenstand des Wahlkampfes von 1969 war doch - neben vielem anderen - auch schon, ob es sozusagen unterhalb des Ranges, von dem ich soeben gesprochen habe, weiterhin richtig sei, und ob es im Interesse der Menschen in den beiden Teilen Deutschlands liege, die DDR als Phänomen oder als einen Staat zu betrachten, nämlich als ein Gebilde mit allen Attributen eines Staates in dieser Welt. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wissen, daß darüber im Wahlkampf mit gestritten wurde. Sie wissen, daß darüber mit entschieden wurde. Dies bewegte sich im Bereich des Abstimmbaren. Dies muß man, finde ich, wenn die Debatte nicht reine Polemik bleiben soll, im Zusammenhang mit diesem Teil der Äußerung des Herrn Bahr von gestern betrachten. Im November 1972 konnte auch nicht über das Grundgesetz abgestimmt werden. Es konnte weder aus unserer noch aus Ihrer Sicht über Grundwerte abgestimmt werden, wohl aber konnte über das abgestimmt werden, was man Ostpolitik genannt hat. Das hat sogar eine wichtige Rolle gespielt; auch das Verhältnis zur DDR hat eine wichtige Rolle gespielt. Darüber ist entschieden worden, und darauf stützt sich unsere Arbeit.
Was ich also insoweit über die beiden Etagen sage, also über das, was nicht zur Disposition steht, und das, was im Bereich des Abstimmbaren liegt, ändert nichts an dem, was ich in meiner ersten Intervention über die Rede gesagt habe, die den Zwischenfall von gestern provozierte. Ich stelle fest, daß noch immer nicht, nicht einmal andeutungsweise, der Versuch gemacht worden ist, diesen Stein aus dem Weg zu räumen, der, wenn er dort liegenbleibt, Gemeinsamkeit nicht möglich macht.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir halten als erstes fest, daß der Herr Bundeskanzler - wie auch der Bundesaußenminister durch sein Verhalten - hier völlig
klargemacht hat, daß diese Entschließung vom Mai 1972 von anderen zu unterscheiden sei. Der Kanzler hat ausdrücklich die bindende Kraft der völkerrechtlich relevant gewordenen Entschließung, die ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland geworden ist, bestätigt. Darüber gibt es also keinen Streit.
Der Hauptpunkt aber, um den es geht, ist die Frage: Wie halten wir es hier mit Wahrheit? Das war der Ausgangspunkt.
({0})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat hierzu einen Satz gefunden, dem ich zustimmen möchte. Er hat gesagt: Im Verlauf politischer Prozesse verändert sich die Beurteilung von Fakten. - Ich würde noch hinzufügen: vielleicht auch die Meinungen. Das ist im politischen Prozeß normal, falls das Denken nicht dann aufhört, wenn man mit der Politik beginnt.
({1})
Nur ist dies nicht genau der Punkt, Herr Bundeskanzler. Der Punkt, der uns in der Erklärung des Herrn Bahr belastet, ist die Tatsache - ({2})
- Ich weiß, daß Sie versuchen abzulenken. Sie wissen, daß Ihnen das bei mir nicht gelingt, meine Damen und Herren!
({3})
Der Punkt, um den es geht, ist,
({4})
daß die Beurteilung von Fakten und Meinungen, wie sie Politiker und Parteien haben, korrekt und eindeutig und ohne inneren dolosen Vorbehalt den Wählern gesagt werden muß.
({5})
Wenn sich die Beurteilung verändert, was ja sein kann, muß argumentiert werden, müssen die Gründe dargelegt werden, aus denen heraus die Meinungen geändert werden. Wenn aber diese Meinungsänderung, wie es hier der Fall ist, innerhalb weniger Wochen, eigentlich innerhalb von 14 Tagen passiert und gesagt wird, natürlich haben wir v o r der Wahl anders geredet als nach der Wahl; aber wir haben vor der Wahl schon so gedacht, wie wir nach der Wahl geredet haben,
({6})
und wir haben auch die Absicht gehabt, das zu tun, was wir vor der Wahl verschwiegen haben, wir wollten es hinterher machen, dann wird hier die Wahrheit ein Instrument politischer Opportunität. Davon ist der Kanzler nicht abgegangen. Diese Sache bleibt nun an seinem Minister Bahr hängen, und das zerstört zu Beginn dieser Legislaturperiode einen Teil der Möglichkeiten,
({7}) sich hier zu verständigen.
({8})
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Ehmke.
Kollege Barzel, ich darf zu Ihrer Intervention vom gestrigen Tage feststellen, daß in der Tat bei Ihnen nicht davon die Rede war, daß hier ein vielleicht nicht ganz glücklicher Gebrauch des Wortes „Wahrheit" vorgekommen ist. Das ist wirklich erst heute morgen gewesen.
({0})
- Lesen Sie es nach! Auf der Protokollseite von gestern steht nichts davon. Das hat nichts mit Wahrheit, aber etwas mit Richtigstellung zu tun, und diese ist vielleicht erlaubt. Ich nehme an, Herr Windelen wird seine Sache selbst in Ordnung bringen, so wie Herr Bahr die persönliche Sache in Ordnung gebracht hat.
({1})
Aber, Herr Kollege Barzel, was mich an dieser Geschichte bekümmert, ist, daß wir hier heute bei Ihnen für taktische Zwecke einen unwahren Umgang mit dem Begriff „Wahrheit" erleben.
({2})
Ich finde das nicht gut, diese moralisierende Art in einer Sache, die eigentlich klargeworden ist, vor allen Dingen nach den Ausführungen von Herrn Kollegen Scheel. Nun doch noch und gerade einen moralischen Widerspruch zu konstruieren! Es ist klargeworden: hier waren die Beurteilungen unterschiedlich. Meine Partei hat früher auch einmal die Hoffnung gehabt, eine andere politische Lösung würde in Deutschland möglich sein. Wir haben zusammen schmerzhaft lernen müssen, daß das nicht der Fall ist. Es hat dann Auseinandersetzungen darüber gegeben: Stellen wir uns auf den Boden der Realität, nützen wir den deutschen Interessen nicht mehr, wenn wir uns keine Illusionen machen, sondern die Dinge so akzeptieren, wie sie sind? Über diesen Vorgang hat der Kollege Bahr gesprochen. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Barzel, ist auch im Wahlkampf darüber gesprochen worden, auch im 69er Wahlkampf.
({3})
Der Bundeskanzler hat es eben noch einmal zitiert. Es ist klargemacht worden: sowohl die Sozialdemokraten wie die Freien Demokraten waren der Meinung, man muß das Kind beim Namen nennen. Das ist dasselbe, was der Herr Kollege Bahr hier mit „Wahrheit" gemeint hat.
Nachdem das in der Sache geklärt ist und sich heute auch Herr von Weizsäcker und mein Kollege Eppler geeinigt haben, daß christliche Werte in beiden Parteien und auch außerhalb der beiden Parteien vertreten sind, bin ich der Meinung, wir sollten uns nun auch dazu entschließen, mit der Wahrheit wahrheitsgemäß umzugehen.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner. - Sie verzichten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem wir früher nur ein Phänomen in diesem Hause hatten, haben wir nach meiner Überzeugung nun ein weiteres Phänomen neu hinzubekommen: daß nämlich die Vergangenheitsbewältigung der Großen Koalition bei der CDU/CSU nicht zu schaffen ist.
({0})
Die CDU/CSU kommt auf die Zeitabschnitte immer wieder zurück, weil sie immer noch nicht bemerkt hat, daß wir im Jahre 1973 sind und nicht mehr im Jahre 1968. Das ist der Ausgangspunkt.
({1})
Der zweite Punkt! Nach meiner Überzeugung ist es für alle, die hier eine Auseinandersetzung über den Sachgehalt der Regierungserklärung erwarten, unverständlich, daß in dieser Weise anderthalb Stunden, zwei Stunden versucht wird, Fragen, die Sie 1968 parteitaktisch und nicht politisch gesehen haben, 1973 wieder neu aufzugießen. Um etwas anderes geht es doch nicht.
({2})
Eine weitere Bemerkung dazu! Wir wissen natürlich sehr genau, in welcher Weise um den Punkt 6 der hier immer wieder zitierten Entschließung gerungen wurde. Herr Kollege Barzel, ich werde auch heute nicht von meinem Standpunkt abgehen, von den Gesprächen etwas zu sagen, die um diese Punkte geführt wurden, um das stundenlange Ringen darum, wie dieser Punkt 6 aussehen sollte. Eines ist aber auch bei diesen Gesprächen deutlich geworden: daß die Frage, ob man die eine oder die andere Formulierung nimmt, heute nicht so hochstilisiert werden kann, als handele es sich bei dem Abgehen von diesem Punkt 6 um einen Bruch mit Grundsätzen der Deutschlandpolitik. Denn wenn das so wäre, wäre es mir unverständlich, daß Ihr Herr Bundeskanzler Kiesinger ein Jahr nach dieser Entschließung bei den Verhandlungen über die Bundesversammlung in Berlin, bei den Verhandlungen mit dem sowjetischen Botschafter immer davon ausgegangen ist, daß die DDR ein Staat ist. Sie haben nur nicht den Mut gehabt, das zu sagen, und Sie haben ihn heute noch nicht. Das ist Ihr Problem.
({3})
Das Wort hat der Bundesminister Friderichs.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! In der ersten Runde der Debatte über die Regierungserklärung in der vergangenen Woche hat die Opposition bemängelt, daß in der Regierungserklärung das Wort „soziale Marktwirtschaft" nicht enthalten sei. Die Opposition hat hinzugefügt, dies sei
nach ihrer Meinung kein Zufall, aber es wundere um so mehr, als verkündet worden sei, diese Regierungserklärung enthalte eine liberale Handschrift. Erlauben Sie mir zu diesem Teil zunächst einige Bemerkungen.
Ich bin der Meinung, daß unsere Wirtschaftsordnung und damit auch die Wirtschaftspolitik dieser Regierung nicht von Formeln, sondern von dem Inhalt der von ihr zu betreibenden Politik bestimmt wird. Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung wird - da braucht die Opposition gar nicht besorgt zu sein - in einer bestehenden freiheitlichen Wirtschaftsordnung verankert bleiben. Das sage ich, um jede Spekulation, ob sie nun auf Besorgnis oder gar Hoffnung beruhen mag, von vornherein auszuschalten. Es ist ebenso keine Frage, daß diese Wirtschaftsordnung vom Handeln nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der Arbeitnehmer, der Unternehmer, der Verbraucher, der Gewerkschaften und Verbände, schlicht: von dem Verhalten all derer bestimmt wird, die daran beteiligt sind.
Herr Dr. Barzel, Sie haben das Fehlen des Wortes als eines Formelbegriffs oder als eines Begriffs moniert. Erlauben Sie mir dazu zwei Bemerkungen:
Erstens. Im Sitzungsbericht ist auf Seite 126 in den Ausführungen des Bundeskanzlers klar der Satz enthalten, in dem von der Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung gesprochen wird. Das wird dort ausdrücklich hervorgehoben. Dies nur zur Klarstellung.
Zweitens. Für sehr viel wichtiger halte ich aber die Tatsache, daß in der Regierungserklärung Ausführungen zum Inhalt der Politik enthalten sind. Diese Regierung hat eben nicht die Absicht, mit Formeln, sondern mit Inhalten Politik zu machen. Da ist einmal der Teil, der sich mit der Stabilitätspolitik befaßt. Da geht es um die Anforderungen an die Weltwährungsordnung, die Tarifautonomie der Sozialpartner, den Schutz des Eigentums, die Sicherung des Wettbewerbs, den Verbraucherschutz und eine aktive Verbraucherpolitik. Dies ist Inhalt von Politik. Wenn man das zusammenfaßt, könnte man auf das Wort sogar ganz verzichten, weil es wichtiger ist, den Inhalt darzustellen und zu praktizieren.
({0})
Die Sorge, die hier ausgedrückt wird, ist völlig überflüssig.
Herr Dr. Barzel, bitte, erlauben Sie mir gleich die Bemerkung: Sie können davon ausgehen, daß sich dieser Wirtschaftsminister als ein Offizialverteidiger unserer Wirtschaftsordnung empfindet, so daß die Sorge, sofern sie echt gewesen sein sollte, überflüssig ist.
({1})
Dies bestätigen auch namhafte, politisch angehauchte oder nicht angehauchte Autoren. Ich denke z. B. an „Die Welt" - ich meine diese begrenzte „Welt", die in Papierform hier zu kaufen ist, nicht die übrige Welt -, die sehr klare Ausführungen dazu gemacht hat, ebenso wie Herr Professor Biedenkopf.
Aber wir sollten am Beginn dieser Periode genauso deutlich sagen, daß diese Wirtschaftsordnung keine für Schönwetterlagen ist. Bei manchen draußen im Lande habe ich den Eindruck, daß sie den Begriff dann sehr gern gebrauchen, wenn es sehr angenehm ist, daß sie ihn aber sehr schnell nicht mehr oder anders gebrauchen, wenn es um die andere Seite dieses Systems geht, wenn ihnen nämlich der verschärfte und harte Wind des Wettbewerbs ins Gesicht bläst.
({2})
Die Bundesregierung wird die Ernsthaftigkeit des Willens der Opposition, zur Ausgestaltung dieser Wirtschaftsordnung beizutragen, daran messen, ob sie dann, wenn opportunistische Gruppeninteressen Dinge fordern, die mit dem freiheitlichen Teil dieses Systems nichts zu tun haben, auf der Seite der Rufer oder der Seite der Verteidiger stehen.
({3}) Dies wird mit Spannung erwartet.
Lassen Sie mich gleich eine Bemerkung hinzufügen. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung mehrfach das Wort „Leistung" gebraucht. Ich habe den Eindruck, daß es von einigen Damen und Herren dieses Hohen Hauses so verstanden worden ist, als ob sich dieses Wort ausschließlich an die Tätigen in unserem Volk richtet, nämlich an die Arbeitnehmer. Nein, meine Damen und Herren, das Wort „Leistung" richtet sich im selben Umfang an diejenigen, die in anderer Funktion, nämlich als Unternehmer, in unserem Staat, in unserer Gesellschaft mitwirken. Auch an sie ist dieser Anspruch in aller Deutlichkeit zu richten.
({4})
- Vielen Dank, Herr Abgeordneter. Die Bundesregierung ist daher bereit, einen konstruktiven Dialog mit allen Gruppen zu führen, aber sie ist nicht bereit, den Querschnitt von Gruppeninteressen zum Leitbild ihrer Wirtschaftspolitik zu machen. Dies muß in aller Deutlichkeit gesagt werden.
({5})
Unser Volk hat eine eindeutige Mehrheit in dieses Parlament geschickt. Daraus ist eine Regierung gebildet worden. Diese Regierung hat auch ihre wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen formuliert, und sie wird sie durchsetzen. Sie wird bereit sein, Ratschläge anzunehmen, aber sie wird eben nicht bereit sein, faule Kompromisse im Sinne von Querschnittsmeinungen oder unterschiedlichen Gruppenkartellen zu Lasten des Gemeinwohls zum Gegenstand ihrer Politik zu machen.
({6})
Dies soll auch die Opposition am Beginn dieser Periode wissen.
Auch das soll gesagt sein: Marktwirtschaft ist keine Veranstaltung zugunsten von Unternehmern, sondern Marktwirtschaft ist eine Veranstaltung zu266
gunsten der Verbraucher, das heißt, der Gesamtheit dieses Volkes.
({7})
So werden wir uns mit diesen Fragen auseinander- setzen.
Lassen Sie mich gleich ein Wort zu dem Begriff „Gewinn" sagen, der manchmal in Zweifel gezogen wird. Meine Damen und Herren, diese Regierung ist auch gewillt, das Ziel, Leistung zu erbringen und Gewinne zu erwirtschaften, im richtigen Rahmen zu sehen. Das bedeutet, daß bei voller Aufrechterhaltung einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die jeweiligen konkreten Daten, die den Rahmen abstecken, neu gesetzt werden müssen. Zu den Daten, die den Rahmen abstecken, gehört, daß in einer veränderten Welt, in einer veränderten Umwelt die Bezüge - auch bezüglich des Verhaltens der Gruppierungen - neu definiert werden müssen. Anders ausgedrückt: Der Begriff „Gewinnmaximierung" - ich möchte lieber sagen: Gewinnoptimierung - muß auch im Rahmen der anderen, übergeordneten Ziele gesehen werden, in die er einzuordnen ist. Dies ist manchmal nicht deutlich genug gesagt worden. Daß wir sie brauchen, steht außer jedem Zweifel.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein paar Worte zu dem vielleicht wichtigsten Gesetz sagen, das in den nächsten Monaten - genau genommen, in der nächsten Woche eingebracht wird, das mit dem ordnungspolitischen Teil zu tun hat. Wenn in der nächsten Woche die Koalitionsfraktionen die alte, aus der vorigen Legislaturperiode bekannte Novelle zum Kartellgesetz einbringen und sie dann beraten wird, werden wir ermessen können, wo die Bereitschaft zur Verschärfung von wettbewerbsrechtlichen Vorstellungen enthalten ist. Wir wollen - und diese Regierung wird das auch tun - die Einführung einer vorbeugenden Fusionskontrolle, die Verbesserung der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen sowie Kooperationserleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen. Herr Abgeordneter Dr. Strauß, natürlich wissen wir - und beachten dies auch -, daß wir eine Wirtschaft brauchen, die im Wettbewerb auch außerhalb Deutschlands, auch außerhalb Europas leistungsfähig ist. Aber wir sind nicht bereit, unter dem Vorwand - ich betone: unter dem Vorwand - von Leistungsfähigkeit draußen den Wettbewerb im Innern weiterhin einschränken zu lassen. Dafür wird es in diesem Hause keine Mehrheit geben.
({8})
Deswegen werden die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung auch z. B. die Frage abgestimmter Verhaltensweisen - eine Frage, deren Bedeutung häufig unterschätzt wird - in die Beratung dieses Gesetzes einbeziehen. Ich weiß, daß es nicht leicht sein wird, abgestimmte Verhaltensweisen von zufälligem gleichförmigen Verhalten zu unterscheiden. Sie selber können einen Beitrag dazu leisten, wenn Sie bei der Formulierung dieses Teiles des Gesetzentwurfs mitwirken mit dem Ziel, daß
klar von zufälligem gleichförmigen Verhalten abgegrenzt wird und daß am Ende eine sowohl praktikable wie justiziable Lösung herauskommt.
Ich meine, wir sollten das Verhalten dieser Regierung und der Mehrheit dieses Parlaments nicht daran messen, ob es permanent mit Formeln und Begriffen um sich wirft, sondern daran, ob es bereit ist, mit Mehrheitsentscheidungen auch unpopuläre Dinge durchzusetzen, wenn sie zu einer fortschreitenden Entwicklung dieser Ordnung führen. Ich betone: zu einer Entwicklung, nicht zu einem starren Festhalten. Ich kann mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, als ob Sie sich bei diesem Teil - der sehr kritisch wird - ähnlich wie bei der vorangegangenen Debatte über die Außenpolitik lieber mit Begriffen auseinandersetzen als mit Inhalten von Politik. Damit allerdings werden wir nicht weiterkommen.
({9})
- Ich warte mit Spannung ab, und ich warte natürlich mit Freude darauf.
({10})
Lassen Sie mich ein paar Zusatzbemerkungen zur Stabilitätspolitik machen. Der Gegenstand dieser Fragen, dessen ausfürliche Behandlung in der Regierungserklärung von der Opposition ebenfalls vermißt worden ist, wird im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht behandelt werden, der, was die Bundesregierung anbelangt, ohne Problem Mitte Februar in diesem Parlament behandelt werden kann. Eine frühere Vorlage, meine Damen und Herren, war - dies hatte ich mit dem Oppositionsführer auch besprochen - allein schon deswegen nicht möglich, weil es kaum angegangen wäre, den Konjunkturrat und die Konzertierte Aktion zu einem Zeitpunkt einzuberufen, zu dem die Regierungserklärung entweder nicht abgegeben oder nicht diskutiert worden war. Frühester Termin ist deshalb die kommende Woche. Sie werden daher eine einoder zweiwöchige Verspätung der Vorlage in Kauf nehmen müssen. Das hat aber auch den Vorteil, daß die Erfahrungen aus dieser Debatte und die Entwicklungen in den ersten Monaten dieses Jahres, einschließlich der Abschlüsse der Tarifvertragsparteien, noch Gegenstand des Jahreswirtschaftsberichts werden können, so daß wir auf Grund eines auf neuestem Stand befindlichen Datenmaterials über die wirtschaftliche Entwicklung miteinander sprechen und diskutieren können.
Wir sind gespannt darauf, ob außer dem Bemängeln in bezug auf ausreichende Stabilität auch die Bereitschaft vorhanden ist - die Regierungsparteien sind dazu bereit -, Entscheidungen zu treffen, die dem einen oder anderen oder der einen oder anderen Gruppe nicht sehr angenehm sind, weil sie wiederum Leistungen im Sinne von stabilitätsorientierter Leistung erfordern. Denn, meine Damen und Herren, mit der Methode: „Wasch mir den Pelz und mach mich nicht naß!" werden Sie nicht weiterkommen.
({11})
- Herr Abgeordneter Müller-Hermann, ich meine
auch Sie. Denn bis jetzt ist ja von dem, was Sie wolBundesminister Dr. Friderichs
len, nichts gesagt worden, sondern Sie haben ausschließlich gesagt, was Ihnen nicht gefällt. Ich warte mit Spannung auf den ersten nennenswerten Streichungsantrag der Opposition bei den Haushaltsberatungen.
({12})
Ich warte mit Spannung auf Ihre Beiträge bei der Diskussion des Jahreswirtschaftsberichts, angesichts des Ziels, das die europäischen Staaten vereinbart haben,
({13})
im Dezember 1973 eine andere, nämlich eine niedrigere Preissteigerungsrate zu haben und damit den Trend bei diesem Teil des wirtschaftspolitischen Verhaltens umzukehren. Für mich und für diese Regierung hat der Hinweis auf die Währungsproblerme anderer Länder - auch das soll klar gesagt sein - keine Alibifunktion.
({14})
Wir wissen, daß wir im eigenen Lande genug zu tun haben. Wir wissen aber auch, daß leider ein Teil unserer Maßnahmen in europäische Verhaltensweisen eingebettet sein muß und daß hier nicht immer alles so ganz einfach ist. Das kam bei der Diskussion über die Wirtschafts- und Währungsunion ja auch hinreichend zur Sprache und wird in diesem Zusammenhang noch einmal zur Sprache kommen.
Lassen Sie mich alles in allem folgendes ganz deutlich sagen. Wir stehen am Beginn einer Aufschwungphase, die auch durch die Behauptungen vom Herbst des vergangenen Jahres nicht abgebremst worden ist. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich genauso deutlich sagen: Niemand sollte glauben, daß die Schwarzmalerei der Monate September, Oktober und der ersten Hälfte November 1972, was die wirtschaftliche Lage anbelangt, dazu beigetragen hätte, diese Lage zu stabilisieren. Im Gegenteil!
({15})
Sie müssen sich sagen lassen, daß auch in einem Bundestagswahlkampf die Fragen, die ihrerseits psychologische Wirkungen auf das Verhalten einer großen Zahl von Verbrauchern haben, mit einer gewissen Art von Disziplinen behandelt werden müssen. Weil das nicht geschehen ist, wird Ihnen das hier und heute vorgehalten.
({16})
- Das hat eben nicht geschadet, weil die Form des Sagens für Meinungsbildungsprozesse unendlich wichtig ist, Herr Abgeordneter.
({17})
- Sie nennen das Stichwort „Arbeitslose". Es ist Ihnen gelungen, in einer bestimmten Phase des
vorigen Deutschen Bundestages so zu tun, als ob selbst die Arbeitsplätze gefährdet seien. Meine Damen und Herren, ich verkenne nicht, daß die Arbeitsplätze einiger Abgeordneter bei Wahlen gefährdet sind. Aber das bedeutet doch nicht automatisch, daß die Arbeitsplätze draußen gefährdet sind. Das ist doch der Unterschied.
({18})
Genauso können Sie das Floaten von Abgeordneten doch auch nicht mit dem Floaten von Währungen vergleichen.
({19})
Das Floaten von Währungen schafft zwar andere Paritäten, aber es ist im letzten Deutschen Bundestag nicht einmal gelungen, die Paritäten durch das Floaten nachhaltig zu verändern, weil bei der endgültigen Festsetzung der „Kurse" am 19. November die Paritäten anders festgesetzt worden sind,
({20})
weil - um es ganz deutlich zu sagen; lassen Sie es mich einmal so formulieren - es beim Floaten sehr häufig so ist, daß das schlechte Geld dahin geht, wo es glaubt, im Moment eine bessere Marktchance zu haben. Das hat nicht geklappt.
({21})
Sie müssen sich jetzt damit abfinden, daß diese Regierung von ihrer Mehrheit auch in der Wirtschaftspolitik Gebrauch machen und auf der Basis unserer wirtschaftlichen Grundordnung - Sie brauchen gar keine Sorge zu haben, daß wir diese Grundordnung verlassen - Entscheidungen fällen wird. Sie ist auch bereit, jeden konstruktiven Beitrag aus diesem Hause und insbesondere von der Opposition aufzunehmen und zu prüfen und, wenn er sich in die wirtschaftliche Gesamtsituation richtig einordnet, in ihrem Programm zu berücksichtigen. Wir warten mit Spannung auf solche konstruktiven Beiträge von Ihnen.
({22})
- Herr Abgeordneter, darüber werden wir in den jeweiligen Debatten diskutieren. Wenn Sie in der Lage sein sollten, sogar zur Frage der Mitbestimmung einen konstruktiven Beitrag zu leisten, würden wir ihn beispielsweise dankbar aufnehmen,
({23})
wobei ich unter „konstruktiv" nicht verstehe: so nicht!, jetzt nicht! und Enthaltung. Das ist nicht konstruktiv im Sinne einer Fortentwicklung der Teilnahme der Arbeitnehmer an den Entscheidungsprozessen in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, in der sich aber ganz bestimmte Konstellationen entwickelt haben.
Lassen Sie mich zu einem Gebiet noch etwas sagen, weil die Presse hinreichend darauf eingegangen ist. Diese Bundesregierung wird in diesem Jahr ein Konzept für das Gebiet der Energiepolitik vorlegen. Ich möchte hier nicht in die Details gehen. Weil ich aber weiß, daß dieses Thema draußen im Lande, insbesondere in den Regionen, in denen der Energieträger Kohle zu Hause ist, heiß diskutiert wird, möchte ich mir einige Bemerkungen dazu erlauben.
Erstens. Diese Bundesregierung ist nicht bereit - auch nicht unter dem Druck bestimmter Interessenten -, Einzelprobleme des Gesamtkonzeptes vorzuziehen und damit die Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes zu gefährden.
({24})
Dies sei hier gesagt, weil veröffentlichte Briefe mir dazu einen Anlaß ,geben. Sie wissen, wen und was ich meine.
Zweitens. Die Energieversorgung war in den letzten Jahren relativ problemlos. Es ist nicht zu verkennen, daß es sich dabei um eine so langfristige Aufgabe handelt, daß auch die Versorgungsfragen des nächsten Jahrzehnts jetzt in strukturellen Beziehungen aufgerissen und geklärt werden müssen.
Drittens. Die Risiken vom Weltenergiemarkt her sind in letzter Zeit größer geworden, und sie werden nach unserer Überzeugung weiterhin größer werden. Daher müssen diese Risiken in das Gesamtkonzept einbezogen werden.
Viertens. Die Situation des deutschen Steinkohlenbergbaus hat sich entscheidend verschlechtert. Diese Problematik ist bei der Energiekonzeption zu berücksichtigen.
Dazu stellen wir uns folgende Aufgaben. Wir müssen eine Verminderung der Risiken im Mineralölbereich herbeiführen. Die Weltmärkte scheinen sich umzukehren, was für uns als überaus großes Importland dieses Energieträgers von Bedeutung ist. Wir werden den Versuch machen, die Förderung kostengünstigerer und sicherer Ersatzenergien vorzunehmen. Und schließlich: Die Konsolidierung des einheimischen Steinkohlenbergbaus wird auch Bestandteil des Energiekonzepts sein.
Bei der Lösung der Gesamtproblematik wird auch der Zielkonflikt Umweltschutz, Preisgünstigkeit und Sicherheit der Versorgung aufeinander abzustimmen sein.
Ich weiß, daß dies nicht einfach ist; aber die Bundesregierung hat die Absicht - und sie wird diese Absicht verwirklichen -, sich nicht nur mit einem Energieträger zu befassen, sondern eine Konzeption vorzulegen, die auch eine Voraussetzung für die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit dieser Wirtschaft und damit für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft bedeutet, weil Energie - und deswegen äußere ich mich bewußt nur zu diesem Einzelteil - eben nicht irgend eine Art von Produktion ist, sondern weil Produktion und Versorgung mit Energie im Grunde genommen eine infrastrukturelle Aufgabe in dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darstellen. Auch hier sind ,die Probleme der europäischen Politik mit zu berücksichtigen.
Eine letzte Bemerkung zum strukturellen Teil. Neben einer Überprüfung unserer Regionalstrukturpolitik, wo sicher auch der eine oder andere Aspekt persönlicher Interessen aus dem jeweiligen Wahlkreis mit übergeordneten Interessen einer sinnvollen regionalen Strukturpolitik in Widerstreit geraten werden, wind es darauf ankommen, mehr als früher in der sektoralen Strukturpolitik den Mut zu einer aktiven Strukturpolitik zu haben und nicht nur die Dinge sich entwickeln zu lassen, um die eine oder andere Ungereimtheit durch eine staatliche Anpassungsmaßnahme etwas zu erleichtern - eine Art Sterbehilfe zu leisten -, sondern wir müssen unsere wirtschaftlichen Strukturen rechtzeitig dem sich verschärfenden Wettbewerb auf den Weltmärkten mit dem Ziel anpassen, durch eine rechtzeitige Umstrukturierung auch langfristig - ich betone: langfristig - einen Beitrag zu einer stabilitätsorientierten Politik zu leisten.
An diesen Maximen wird sich diese Bundesregierung in diesem Jahr auf wirtschaftspolitischem Gebiet messen lassen.
({25})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Narjes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Rede des Herrn Bundesministers Friderichs haben wir die Diskussion über die Wirtschaftspolitik begonnen. Ich möchte diese punktuelle liberale Offizialinterpretation der Regierungserklärung an den Punkten im einzelnen berücksichtigen, wo sie in der Antwort auf die Regierungserklärung ihren Platz finden. Ich halte es aber von vornherein für richtig, zu sagen, daß wir die Energiepolitik als Ganzes später in diesem Jahr diskutieren, wenn das Konzert im Detail vorliegt, das uns jetzt in seinem größeren Rahmen angekündigt worden ist.
Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung die Gesellschaftspolitik in den Mittelpunkt gestellt, mehr als die Wirtschaftspolitik. Mit dieser Feststellung ist kein Vorwurf verbunden; sie macht es nur nötig, darauf hinzuweisen, daß die Wirtschaftspolitik eine Schlüsselfunktion für nahezu alle Bereiche der Politik hat; ohne eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik kann es auch keine erfolgreiche Gesellschafts- und Sozialpolitik geben. Jeder Zuwachs des Sozialprodukts kann nur einmal verteilt werden. Eine alle Aspekte der Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und Verfassungspolitik berücksichtigende und ordnende wirtschaftspolitische Gesamtkonzeption ist, wie dieser Hinweis und auch die liberale Offizialinterpretation der Regierungserklärung beweisen, unabdingbar. Diese Regierungserklärung läßt in ihren spärlichen Aussagen grundsätzlicher Natur wie in ihren wirtschaftspolitischen Einzel-Inhaltsangaben einen konzeptionellen Gesamtzusammenhang indessen nicht erkennen.
Unsere eigenen wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen sind gewachsen aus der geschichtlichen Bewährung des mit dem Namen und dem Erfolg Ludwig Erhards unlösbar verbundenen Leitbildes der sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Unsere Politik ist der Ausdruck unseres Willens zu einer offenen, allein dem Menschen und seinem Wohl verpflichteten, sozial gerechten Wirtschaftsordnung, die sich auch uneingeschränkt dem Geist und dem Buchstaben des Grundgesetzes verpflichtet weiß. Sie erlaubt es, verantwortete Freiheit des einzelnen und die soziale und humane Berufung und Verpflichtung des Staates miteinander in Einklang zu bringen. Unsere Wirtschaftspolitik ist kein Selbstzweck, sie ist immer ein Stück praktischer Gesellschaftspolitik im Dienste des Bürgers.
({1})
Sie ermöglicht soziale Gerechtigkeit ohne Kollektivismus. Das Wohl der Bürger als Arbeitnehmer, als Verbraucher, als Angehörige freier Berufe, als Handwerker, als Kaufleute, als Unternehmer ist die Richtschnur unseres Handelns. Ihrer aller Leistungen sind jedoch unverzichtbare Voraussetzungen für den Erfolg. Wir wissen nach 20 Jahren erfolgreicher Anwendung unserer Wirtschaftspolitik, daß sie ihre Bewährungsprobe im Alltag - um dieses Kriterium aufzugreifen - besser bestanden hat als jede andere bisher bekannte und erprobte Wirtschaftsform.
({2})
Dabei ist sie anpassungsfähiger und elastischer als I alle ideologisch fixierten Ordnungsvorstellungen der Marxisten oder jener Zeitgenossen, die meinen, daß man sich mit dem Marxismus irgendwo auf halbem Wege treffen könne.
({3})
Die Organisation des arbeitsteiligen Produktionsprozesses in der sozialen Marktwirtschaft ist auch menschenwürdiger, und ihre Möglichkeiten für eine sozial gerechte Verteilung des Sozialprodukts sind ergiebiger als die anderer Ordnungssysteme, die überdies sämtlich ein geringeres Maß an Freiheit und damit an Würde des Menschen bieten. Sie sichert aber nicht nur die materielle Seite der Freiheit und der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen. Sie gibt ihm zugleich die Chance der persönlichen Bewährung in der eigenständigen Leistung, und ich beziehe mich auf alles, was dazu gestern hier gesagt worden ist.
Weil sie wirksamer ist als andere Wirtschaftsordnungen, erlaubt sie es schließlich auch, mehr Mittel, etwa - um ein praktisches Beispiel zu nennen - für die Humanisierung des Produktionsverlaufes bereitzustellen. Denn die ständige Verbesserung der Qualität des Arbeitsplatzes, an dem die Menschen auf absehbare Zeit immer noch den größten Teil ihrer Zeit verbringen und ihrer Kraft einsetzen werden, ist für uns auch weiterhin ein Ziel besonderer Priorität.
({4})
Unsere Wirtschaftspolitik lehnt den Irrweg in das Kollektiv ab, selbst wenn er mit einer entliehenen,
frömmelnden Sprache angeboten werden sollte. Unsere Freiheit ist prinzipiell die persönliche Freiheit, die der citoyen - um das Wort des Herrn Bundeskanzlers aufzugreifen - einst dem absoluten Fürsten abgetrotzt und in Verfassungs- und Grundrechten, auch für seine wirtschaftliche Handlungsfreiheit, abgesichert hat. Diese Freiheit ist etwas anderes als eine sich unter dem irreführenden Namen „Sicherung der realen Freiheit" vollziehende Zuweisung begrenzter Wahlmöglichkeiten an die einzelnen Angehörigen eines Kollektivs. Das führt allenfalls zu einem geborgenen Leben in der stickigen Luft eines allmächtigen Wohlfahrtsamtes.
({5})
Die Regierungserklärung hat sich im Gegensatz zu der des Jahres 1969 nicht zur marktwirtschaftlichen Ordnung bekannt, und dies kann kein Zufall sein. Sie hat sich auch nicht zu den Bedingungen ihrer Funktionsfähigkeit und ihrem sozialen Nutzen geäußert. Dies wäre um so notwendiger gewesen, als nach dem Wahlkampf im Zeichen des demokratischen Sozialismus erhebliche Zweifel über die Ordnungsvorstellungen der Sozialdemokratie bestehen.
({6})
Dieser vieldeutige Begriff des demokratischen Sozialismus kann auch Ordnungssysteme meinen, die mit dem, was wir, was der Herr Bundesminister Friderichs und was die Menschen im Lande unter sozialer Marktwirtschaft verstehen, nichts mehr zu tun haben.
({7})
Da der Bundeskanzler in der sozialen Marktwirtschaft anscheinend auch - so seine Rede vom 10. Dezember - eine Tarnbezeichnung für die Verfestigung ihm unliebsamer Machtstrukturen sieht, da er selbst sich Demokratie nur im Sozialismus vollendet vorstellen kann und da der Vorsitzende der Jungsozialisten schon heute die Existenz der sozialen Marktwirtschaft überhaupt leugnet, hätte diese Koalition aus FDP und SPD noch mehr Veranlassung gehabt, die verdächtige Flucht ins Schweigen in der Regierungserklärung zu unterlassen.
({8})
Eine Erklärung zur sozialen Marktwirtschaft wäre schließlich wünschenswert gewesen, weil die SPD die dynamischen Kräfte der Wirtschaft, ohne deren Leistung eine freiheitliche Wirtschaftsordnung gar nicht funktionieren kann, fortlaufend zu verunsichern sucht. Dabei trifft die Nichtbeachtung der Selbständigen nicht nur diejenigen, die jetzt hier und heute in Handwerk, Industrie, Landwirtschaft und freien Berufen, Handel und Banken auf eigenes Risiko arbeiten und wirtschaften, sondern zugleich auch solche Menschen, deren Leben bereits heute durch die Hoffnung oder die Chance bestimmt wird, später einmal die Selbständigkeit zu erreichen; ob es sich um den jungen Handwerker handelt, der sich selbständig machen will, den Ingenieur, der ein Beratungsbüro eröffnen möchte, oder den Kaufmann, der seine eigene Existenz zu gründen sucht:
({9})
Sie alle müssen durch das spürbare negative Schweigen der Regierungserklärung eher abgeschreckt sein. Sie finden kein Wort der Anerkennung für die breiten mittelständischen Schichten unseres Volkes.
({10})
Sie werden den Widerspruch spüren, der zwischen diesem Verhalten und den Festtagsreden über die Erweiterung des Freiheitsraumes des einzelnen Menschen liegt.
({11})
Auch der Satz der Regierungserklärung über das Eigentum und seine Sozialpflichtigkeit ist angesichts der Diskussion innerhalb der SPD über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unzureichend. Für die „guten Hände", in denen sich das Eigentum befinden soll, bietet nach allem, was in ihr dazu gesagt wird, diese Partei keine Gewähr. Statt einer klaren Aussage wird uns eine Schön-Wetter-Formel zugemutet.
({12})
Wir müssen uns bei der Diskussion der Wirtschaftspolitik der Regierungserklärung eben des Umstandes bewußt sein, daß es sich um die Erklärung einer Regierungskoalition handelt, deren Parteien, namentlich in den Flügelgruppen, in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen durch unauflösbare Gegensätze getrennt sind. Der demokratische Sozialismus ist mit einer vom freien Unternehmer getragenen und dem Prinzip des Privateigentums verpflichteten Marktwirtschaft, zu der sich weite Teile der FDP bekennen, kaum vereinbar, jedenfalls ist dieses System
({13})
nicht mehr zu vereinbaren mit dem, was die auf Sprengung unserer bewährten marktwirtschaftlichen Ordnung angelegten Entmachtungsstrategien der radikalen Linken beabsichtigen.
Dieser Geburtsfehler der Regierungserklärung, der eben offenbar nicht einmal mehr einen Formelkompromiß erlaubt hat, muß sich also mit der Koexistenz im Gewande des Schweigens begnügen, ein Schweigen, das es wohl der Regierung erlauben soll, zur Wirtschaft hin die Sprache des Marktes und mit den lautstarken Radikalen die andere Sprache des nur aus taktischen Gründen für eine Legislaturperiode an der Systemüberwindung Verhinderten zu sprechen.
({14})
Für die Opposition muß gelten, daß Unklarheit zu Lasten der Regierung und ihrer Glaubwürdigkeit geht. Die maßvollen Vertreter der Mehrheit dürfen sich nicht wundern, wenn in Zweifelsfällen die letzten Absichten dieser Regierung auch im Lichte der Forderungen der extremen Flügel bewertet werden müssen, solange die Parteiführungen ihnen nicht glaubhaft und ausdrücklich widersprochen haben.
({15})
Letzteres ist um so mehr geboten, als in den vergangenen Jahren in Langzeitprogrammen und Langzeitstrategien die zweifelhafte Kunst entwickelt worden ist, radikale Ziele in einer harmlosen Sprache zu formulieren und sie in psychologisch wohl bemessene Teilabschnitte mit Überschriften der allgemeinen Weltbeglückung zu zerlegen. Unser Atem wird indessen länger sein.
Als zweiten Geburtsfehler der Wirtschaftspolitik muß ich auf den drastischen Kompetenzabbau hinweisen, den das Bundeswirtschaftsministerium erfahren hat. Dieses stolze und mit der wohl glanzvollsten Periode der deutschen Wirtschaftsgeschichte verbundene Haus ist unnötig verkleinert worden. Das ist mehr als Koalitionsproporz und Organisationstechnik. Das muß auch als die Verkennung der Notwendigkeit einer übergreifenden, alle Teilbereiche der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik umfassenden Gesamtkonzeption verstanden werden.
({16})
Wie sonst soll jetzt eine Wirtschaftspolitik aus einem Guß gesichert sein? Etwa durch die Führungskraft des Bundeskanzleramtes oder durch den Rotstift des Herrn ersten Ministers der Sozialdemokratie in dieser Regierung? Wir werden praktisch, so fürchten wir, wohl so viele Formen von Wirtschaftspolitik haben, wie es Ministerien gibt. Wir von der Opposition jedenfalls werden dem Bundeswirtschaftsministerium jede Hilfe geben, wenn es darum geht, einem weiteren Abbröseln der Kompetenzen entgegenzutreten.
Die soziale Marktwirtschaft ist für uns die Wirtschaftsordnung der Freiheit, also der Freiheit der Konsumenten, der Freiheit der Arbeitsplatzwahl der Arbeitnehmer und auch ihrer Koalitionsfreiheit, der Gewerbefreiheit der Unternehmer und auch der Meinungsfreiheit der Bürger. Sie kann nur funktionieren, wenn sich ihr über den Markt gesteuerter Produktionsprozeß in einem Rahmen von Daten entwickelt, die von einem starken Staat gesetzt und auch wirksam durchgesetzt werden. Ein starker Staat ist ein Staat, der mächtiger ist als die großen Gruppen, auch wenn sie einmal gemeinsam auftreten oder einen Querschnitt von Gruppeninteressen anbieten, um den Herrn Bundeswirtschaftsminister zu zitieren.
Ein unverzichtbares Element der marktwirtschaftlichen Ordnung ist der leistungsbezogene, funktionsfähige Wettbewerb. Er führt zu einer optimalen Kombination der Produktivkräfte und dient damit allen. Wir kämpfen für das Prinzip des Wettbewerbs aber nicht nur, weil er ein nützliches Instrument ist, um einen gut funktionierenden Marktablauf sicherzustellen, sondern auch, weil er ein hervorragendes, nicht autoritäres Koordinierungsinstrument der Einzelpläne der Bürger und der Unternehmer ist und weil schließlich nur im Wettbewerb unser politisches Grundziel der persönlichen Freiheit seinen wirtschaftlichen Ausdruck finden kann.
({17})
Marktmechanismus und Wettbewerb sind schließlich auch Machtkontrolleure von verfassungspolitischem Rang. Sie verhindern das Zusammenfallen von wirtschaftlichere und politischer Macht. In dem Maße nun, wie wir durch einen funktionsfähigen Wettbewerb diesem Ziele näherkommen, gewinnen wir zugleich an Legitimation, um über alle Formen
von Macht in Wirtschaft und Gesellschaft zu sprechen, z. B. auch über die der nichthoheitlichen Kollektivvermögen.
Die richtigen Daten für die Ordnung des Wettbewerbs zu setzen, seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen ist eine permanente Aufgabe, weil auch das Verhalten am Markt und die Art und Größe der Märkte einem fortlaufenden Wandel unterworfen sind. Wir haben mit dem Kartellgesetz, dem wettbewerbspolitischen Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft, 1958 einen umfassenden Anfang gemacht. Im gleichen Sinne ist es unsere Initiative gewesen, entsprechende Vorschriften in die Römischen Verträge einzufügen. Wir bekennen uns zu einer aktiven Wettbewerbspolitik und halten deshalb ebenfalls die Tatbestände der in der letzten Legislaturperiode nicht verabschiedeten Kartellnovelle für schnell regelungsbedürftig.
({18})
Das gilt für die vorbeugende Fusionskontrolle ebenso wie für die Verstärkung der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende und marktstarke Unternehmen, schon um der Chancengleichheit der mittelständischen Betriebe willen. Durch neue Formen von Kooperation müssen die kleinen und die Mittelbetriebe überdies die Möglichkeit zu einer leistungssteigernden Zusammenarbeit erhalten, die ihre Produktivität verbessert und ihre strukturbedingten Nachteile auszugleichen sucht.
Der Bundesregierung hat offenkundig die Führungskraft gefehlt, diese Kartellnovelle selbst fortzuschreiben und in den Bundestag einzubringen.
({19})
Sie überläßt es den Initiativen des Bundestages, dies zu tun, mit allen sich daraus ergebenden Unklarheiten, etwa für den Zeitbedarf bis zur Verabschiedung. An unserer konstruktiven Mitarbeit wird es nicht fehlen.
Für die CDU/CSU wird es jedoch bei der Novellierung dort Grenzen geben, wo mit Hilfe der Wettbewerbsgesetzgebung Dirigismus und Staatswirtschaft erschlichen werden sollen. Wir werden uns auch an keinem Gesetz beteiligen, das die europäischen und internationalen Verpflichtungen, Verflechtungen und Dimensionen außer acht läßt, nicht in dem Sinne, wie Sie es zu unterstellen scheinen, hier Vorwände zu konstruieren, sondern um den Realitäten des Marktes gerecht zu werden.
({20})
Integrierter Bestandteil jeder Wettbewerbspolitik ist sodann für uns eine wirksame Verbraucherpolitik, wo immer sich die Notwendigkeit von Schutz und Aufklärung abzeichnet oder die Preispolitik helfen kann.
Die wichtigste Aufgabe der Konjunkturpolitik, der ich mich jetzt zuwenden möchte, ist der Kampf gegen das soziale Unrecht der Inflation, gegen die weitere Entwertung des Geldes. Der Sachverständigenrat hat seinen Bericht diesem Ziele gewidmet und vieles bestätigt, was die Opposition dazu im Wahlkampf gesagt hat. Wir werden bei der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts darüber sprechen.
Nach dem, was die Regierungserklärung jedoch zu
diesem Thema gesagt hat, erscheint es mir unerläßlich, schon heute einige Feststellungen zu treffen.
Zunächst noch zum Tatbestand! Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben eine Disziplin bei der Darstellung der konjunkturpolitischen Situation gefordert und die Mitverantwortung all derer hervorgehoben, die mit einer gewissen Autorität zu diesem Thema sprechen. Ich halte dies für richtig. Auch ich teile die Ansicht, daß jeder, der mit Verantwortung dazu spricht, eine gewisse Disziplin zu wahren hat. Aber ich meine, daß, wenn einmal das Vertrauen erschüttert ist, wenn einmal eine Preissituation inflatorischen Ausmaßes eingetreten ist, es dann umgekehrt die Pflicht aller Beteiligten sein sollte, möglichst klar und deutlich darüber zu sprechen, damit diese Wunde ein für allemal ausgebrannt werden kann und wir zu einer neuen Basis des Vertrauens kommen können.
({21})
Die Regierungserklärung enthält noch kein umfassendes längerfristiges Stabilitätsprogramm, so wie wir es dringend benötigen. Bei einer Inflationsrate von 61/2 % für den Normal- und 7,1 % für den Rentnerhaushalt und weiter steigender Tendenz dieser Raten haben wir schon am Anfang dieser Aufschwungperiode eine Situation, für die es in der Nachkriegsperiode keinen Vergleich gibt. In dieser Lage und nach allem, was die Regierung in den vergangenen Jahren getan und versäumt hat, ist der Weg zurück zur Stabilität in jedem Fall für sie mühsam und steinig und erfordert viel Entscheidungskraft und Zähigkeit. Je länger aber die Bundesregierung zögert, ihn zu gehen, um so schwieriger wird er werden.
Ein Dilemma ist schon am Jahresbeginn offenkundig geworden. Eine der Bundesregierung recht nahestehende Illustrierte hat in der vergangenen Woche eine Tabelle veröffentlicht, aus der sich ergibt, daß Gehaltserhöhungen von wenigstens 10 % nötig wären, wenn am Zahltag die Kasse stimmen soll. Eine solche Erhöhung kann jedoch die Bundesregierung aus stabilitätspolitischen Gründen als Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes z. B. weder bewilligen noch einkommenspolitisch gutheißen. Der Bundeskanzler muß also schon heute eingestehen, daß seine Wahlkampferklärung an die Arbeitnehmer, „unter dem Strich" werde immer noch ein realer Zuwachs übrigbleiben, nicht mehr wahr ist,
({22})
weder wahr, noch wirklich in der Terminologie von heute morgen.
({23})
- Ja, sonderbar!
Wenn die Bundesregierung nicht schnell eine umfassende Stabilitätspolitik einleitet, kann es sich ergeben, daß sie in dieser Legislaturperiode wiederholt vor ein solches Dilemma gestellt werden wird. Wäre es dann nicht besser gewesen, die volle Autorität des Bundeskanzlers sofort nach der Wahl in einer vorgezogenen Konzertierten Aktion zu nutzen,
um in einer nationalen Anstrengung aller Beteiligten den dornenvollen Weg zurück zur Stabilität abzukürzen? So hat die Bundesregierung bereits heute die erste Runde im Kampf um die Stabilität nach Punkten verloren.
({24})
Es ist heute auch nicht mehr klar ersichtlich, wie die Bundesregierung angesichts der erwähnten Auftriebskräfte und Vorbelastungen noch das in diesem Jahr notwendige Ziel einer Tendenzwende der Preisentwicklung erreichen kann, ein Ziel, das um so notwendiger erreicht werden muß, als sonst die gefährliche Inflationsmentalität nicht gebrochen werden kann.
Ist es schließlich richtig, so müssen wir fragen, die Geld- und Kreditpolitik formal an die erste Stelle der stabilitätspolitischen Instrumente zu setzen? Gibt es dafür sachlich Gründe, oder sollte damit nur einer gewiß zögernden Bundesbank die Hauptlast der Stabilitätsbekämpfung zugeschoben werden?
Weitere Fragen schließen sich an: Gibt das derzeitige Wetterleuchten an der Währungsfront der Bundesbank überhaupt für längere Zeit die notwendige außenwirtschaftliche Handlungsfreiheit? Ist man sich darüber klar, daß geld- und kreditpolitische Maßnahmen längere Vorlaufzeiten brauchen, daß sie aber, wenn sie einmal greifen, besonders hart die Beschäftigung treffen können? Ist sich die Bundesregierung darüber klar, daß eine extreme Kreditverteuerung und -verknappung, zu der eine isoliert handelnde Bundesbank gezwungen werden könnte, zugleich auch die Kosten und Preise nachhaltig beeinflußt und dabei besonders die mittelständische Wirtschaft schwächen kann?
Neben die Geld- und Kreditpolitik müssen nach Ansicht der CDU/CSU als gleichrangige Instrumente die Einkommens- und Haushaltspolitik treten. In der Einkommenspolitik sollte durch ein abgestimmtes und in sich widerspruchsfreies Verhalten der Gruppen und des Staates unter Führung einer um das gegenseitige Vertrauen aller Partner bemühten Bundesregierung eine gleichmäßige und nur deshalb zumutbare Lastenverteilung der Inflationsbekämpfung versucht werden.
({25})
Dem Herrn Bundeskanzler und seiner Regierungsmannschaft fehlt offensichtlich die Kraft zur Führung, etwa durch Herausgabe der im Stabilitätsund Wachstumsgesetz vorgeschriebenen Orientierungsdaten.
Wäre es, um eine Frage hinzuzufügen, in der gegenwärtigen Phase des sich beschleunigenden Preisauftriebs nicht auch an der Zeit gewesen, daß der Bundeskanzler die Gewerkschaften auf die falsche Anlage ihrer Lohnstrategie hingewiesen hätte? Die Sachverständigen, deren Gutachten seit November vorigen Jahres vorliegt, heben hervor, daß nur geringe Chancen bestehen - ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten -,
durch Ausübung von Marktmacht auf den
Arbeits- und Gütermärkten die volkswirtschaftlichen Anteile der Arbeitseinkommen oder der
Besitzeinkommen auf längere Sicht zu beeinflussen.
Mit dem Sachverständigenrat stimmt die CDU/ CSU darin überein, daß die strategische Größe für die Verteilungspolitik, die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, die wachsende Beteiligung der Arbeitnehmer an den Kapitalerträgen darstellt und sein muß. Hier hätte die Bundesregierung deshalb schon heute konkret ansetzen müssen
({26})
und nicht ihre vagen Absichtserklärungen zur Vermögensbildung zum wer weiß wievielten Male wiederholen sollen. Dann hätte sie es den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern sicherlich leichter gemacht, den Weg zurück zur Stabilität zu gehen.
Auch die Statistenrolle, die die Bundesregierung der Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände einräumen will, kann unter den gegenwärtigen Umständen nicht befriedigen. Auf die Ausführungen von Herrn Kollegen Strauß kann ich insoweit verweisen.
({27})
Natürlich ist es politisch mißlich, auf der Ausgabenseite der Haushalte zu streichen. Aber wenn uns eine Regierung in die derzeitigen außergewöhnlichen Inflationsraten hineinmanövriert hat, so muß von ihr mit Fug und Recht erwartet werden, daß sie wenigstens in diesem kritischen Jahr alle Instrumente und damit auch den Haushalt vielleicht auf beiden Seiten benutzt, um den Exponentialtrend des Preisauftriebs zu brechen.
Im übrigen ist die angekündigte Wachstumsrate des Haushalts 1973 weder konjunkturgerecht, noch entspricht sie dem Geist der dazu vorliegenden Empfehlungen der EWG.
Insgesamt vermitteln die konjunkturpolitischen Ausführungen der Regierungserklärung noch nicht den Eindruck, daß die Politik des Treibenlassens beendet werden soll. Um so gespannter erwarten wir den Jahreswirtschaftsbericht in der Absicht, durch konstruktive Kritik und Mitwirkung bei vernünftigen Maßnahmen zur Rückgewinnung der Stabilität beizutragen.
Die fortlaufende Beschäftigung mit dem Thema der Inflation birgt die Gefahr in sich, daß wir die längerfristige Entwicklung der Qualität und Struktur unserer Wirtschaft und die Konsequenzen der Konjunkturpolitik für ihre Entwicklung nicht immer rechtzeitig erkennen. Das gilt nicht nur für die Rückwirkungen unserer Außenwirtschaft auf unsere Binnenstruktur oder für die unterschiedliche regionale Wirkung unserer konjunkturpolitischen Maß nahmen.
Das gilt besonders für die zu Recht als Lohn kostenexplosion angesprochene Lohnentwicklung der letzten drei Jahre.
Selbstverständlich wollen wir eine ständige Steigerung der Reallöhne in einer gewissen Anlehnung an die Entwicklung der Produktivität. Das ist dei wesentliche Inhalt jeder Politik, die den Lebens standard und den Massenwohlstand heben will. Das
ist etwas anderes als der Rückgriff auf das süße Gift und die Scheinwelt der inflatorisch wirkenden Nominallohnsteigerungen. Diese hohen Nominallohnsteigerungen wirken als ein Faktor der Beschleunigung in unseren ohnehin beachtlichen Strukturwandlungsprozeß besonders hinein, Sie zwingen unsere Wirtschaft, den Übergang von der lohnintensiven zur kapitalintensiven Produktion noch schneller zu vollziehen, einen Übergang, den wir bisher dank der Elastizität unserer Wirtschaftsordnung im Ganzen gut meistern konnten. Diese 'Beobachtung darf uns aber nicht an der Feststellung hindern, ,daß der deutsche Produktionsstandort in den letzten Jahren im internationalen Vergleich eine grundlegend neue Bewertung erfahren hat, die sich auf die Investitionsprogramme dieser Jahre schon ausgewirkt hat und weiter auswirken wird und ,die erst in drei bis fünf Jahren in ihren Konsequenzen voll wirksam werden dürfte,
Herr Kollege, ich muß Sie leider auf den Ablauf der Redezeit aufmerksam machen.
Ich darf es einer späteren Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht vorbehalten, zu den regionalstrukturpolitischen Ausführungen Stellung zu nehmen, desgleichen zu den Auswirkungen der Technologieprogramme der Bundesregierung auf die Struktur unserer Wirtschaftspolitik, und darf mich abschließend auf ein Wort zum Thema Europa beschränken.
Die Regierungserklärung hat an mehreren Stellen im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik von Europa gesprochen. Der Bundesaußenminister hat mit Recht die zunehmend irreversible Verflechtung des politischen und ides wirtschaftlichen Bereichs hervorgehoben. Politisch geht es im wirtschaftlichen Bereich insbesondere um die Fragen der Institutionen, um Fragen, die noch in diesem Jahr auf die Tagesordnung kommen, wenn es darum geht, über die kommende Etappe der Wirtschafts- und Währungsunion zu befinden und über die europäische Union insgesamt zu beraten.
Wir müssen dazu daran erinnern, daß wir die Europäische Gemeinschaft in den Römischen Verträgen als eine Gemeinschaft der Völker vereinbart und Organe für sie gefunden haben, die unter Verwendung föderaler Verfassungserfahrungen konzipiert worden sind. und daß wir uns bereits in den Rämischen Verträgen verpflichtet haben, die in der Gemeinschaft angesiedelte und künftig anzusiedelnde öffentliche Gewalt demokratisch zu legitimieren und demokratisch zu kontrollieren.
Um so größer ist unser Bedauern, daß die Regierungserklärung entgegen dem Votum des Europäischen Parlaments auch für die kommende Legislaturperiode die vertragliche Verpflichtung zu direkten Wahlen für das Europäische Parlament mit Schweigen übergeht.
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Damit wird die Regierung noch in diesem Jahr in
ein Dilemma kommen, wenn sie ihre Vorstellungen
über die Institutionen der Wirtschafts- und Währungsunion festlegen und im einzelnen ,darüber verhandeln muß. Zu dieser Teilunion stelle ich nur fest, daß sie sinnvollerweise überhaupt nur dann in ihre zweite Etappe eintreten kann, wenn eine in der Sache ausgefeilte Synchronisierung wirtschafts- und währungspolitischer Fortschritte in ihr sichergestellt ist.
Auf das 15-Punkte-Programm -
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis. Ich habe Ihre Redezeit schon verlängert. Ich wäre dankbar, wenn Sie jetzt zum Ende kommen würden.
Ich danke für den Hinweis. Ich will das Thema Europa abschließen. Auf das 15-Punkte-Programm, das gestern Herr Kollege Arndt angesprochen hat, bin ich nicht zuletzt deshalb nicht eingegangen, weil es Herr Minister Friderichs nicht zu vertreten hat und weil es in der Sache kaum eines anderen Kommentars bedurft hätte als den, den eine führende Tageszeitung in der letzten Woche dazu geboten hat: läppisch und wahlwortwirksam aufgeblasen. Ein Konjunkturprogramm von substantiellem Inhalt ist es jedenfalls nicht gewesen.
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Meine Damen und Herren, das war die erste Rede des Kollegen Narjes in diesem Hause. Ich darf ihn dazu herzlich beglückwünschen.
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Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Junghans.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Jungfernrede unseres Kollegen Narjes, die mehr philosophischen und weniger substantiellen Charakter hatte, möchte ich mich jetzt wieder den praktischen Fragen der Regierungserklärung zuwenden.
Meine Damen und Herren, wir hätten von Ihnen sehr gern einmal gehört - aber man hört es ja nie -, wie Ihre konkrete Stellungnahme zu den tatsächlichen Vorhaben, die in der Regierungserklärung genannt sind, ist. Wir haben nichts darüber gehört. Sie haben es abgetan mit Bemerkungen zu den 15 Punkten, zur Strukturpolitik und zu den wesentlichen Inhalten der Kartellrechtsnnovelle.
Herr Kollege Narjes, Sie haben hier einen bunten Strauß philosophischer Erörterungen, angefangen von der Freiheit des Individiums bis hin zu den berühmten Jusos, ausgebreitet. Wir kennen das alle, das ist nicht neu und auch nicht sehr interessant. Aber, Herr Kollege Narjes, ich habe eine Frage: Inwieweit beziehen Sie und Ihre gesamte Fraktion sich auf Herrn Strauß? Denn Herr Strauß hat in wichtigen Punkten genau das Gegenteil wie Sie gesagt, zum Beispiel zur Lohnpolitik der Ge274
werkschaften. Herrn Strauß war es praktisch zuwenig und Ihnen zuviel.
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- Sie müssen sich einigen. Herr von Bismarck, das sind wesentliche Aussagen. Der eine will auf die Dörfer gehen und die Arbeitnehmer bei ihren Gewerkschaften so im Hintergrund diffamieren. Der andere sagt, es ist zuviel gewesen.
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Hier ist von der Opposition die Frage gestellt worden, wie die soziale Marktwirtschaft funktionsfähig erhalten werden soll. Man halte nichts von unverbindlichen Ankündigungen und wolle exakte Liefertermine und Liefermöglichkeiten. Meine Damen und Herren, was eine der wichtigsten ordnungspolitischen Entscheidungen dieser Legislaturperiode betrifft, die Kartellrechtsnovelle, so wird sie noch in dieser Woche geliefert. Das müssen Sie sich sagen lassen: Ihr Beitrag zur Verbesserung des Wettbewerbs war bisher gleich Null. Sie haben sich in Ihrer Fraktion in der letzten Legislaturperiode praktisch nicht entscheiden können, wie Sie zu der eingebrachten Novelle standen. Durch die Patt-Situation hat es dann zur Verabschiedung nicht mehr gereicht. Was hierzu heute von Herrn Kollegen Narjes gesagt worden ist, auch nicht mehr als ein Bekenntnis zum Prinzip des Wettbewerbs. Sie werden in den nächsten Wochen und Monaten Gelegenheit haben, Ihren Lippenbekenntnissen zur Marktwirtschaft in dieser konkreten Frage Taten folgen zu lassen. Dann nämlich, wenn dieser Entwurf mit der Möglichkeit zusätzlicher Ergänzungen und Verbesserungen in den Ausschüssen beraten wird. Wettbewerbspolitik ist nach unserer Auffassung mehr als nur Mittelstandspolitik oder gehobener Verbraucherschutz. Sie ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Entwicklung der Marktwirtschaft.
Umgekehrt begrüßen wir aber auch die in der Regierungserklärung angekündigten weiteren Maßnahmen zum Schutze des Verbrauchers. Denn der Verbraucher wird eben nicht ausschließlich schon durch einen funktionsfähigen Wettbewerb geschützt. Ich verweise auf die angekündigten Maßnahmen im Zuge des Lebensmittelrechts, des Arzneimittelgesetzes und solche, die den Verbraucher vor Täuschungen zu schützen haben.
In der ersten Regierungserklärung von
Auf die Dauer können Stabilität und Wachsturn nur in einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung erreicht werden.
Vergesse jeder so gut er kann die Angriffe und maßlosen Unterstellungen, die uns Sozialdemokraten im Wahlkampf hinsichtlich unserer Einstellung zur Marktwirtschaft gemacht worden sind, hier auch heute wieder von Herrn Narjes. Wir wollen hier keine Reprise. Für uns war, ist und bleibt selbstverständlich: Eine funktionierende marktwirtschaftliche Ordnung vermag die Steuerung der Wirtschaft besser zu erfüllen als jedes andere System,
das wir kennen. So steht es in unserern Dortmunder Beschlüssen. Nichts anderes ist Gegenstand sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik.
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Richtig ist aber auch - das haben wir auch einmal gesagt -, daß wir die Marktwirtschaft nicht als eine Art Freigehege für eine bestimmte Gruppe unserer Gesellschaft betrachten. Wir treten für eine Marktwirtschaft ein, an der genauso wie die Unternehmer auch die Arbeitnehmer teilhaben.
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Wenn der Marktwirtschaft überhaupt Gefahr gedroht hat und droht, dann nicht über die Überforderung des Unternehmers und durch angeblich ruinöse Besteuerung der Gewinne. Gefahren ziehen dort herauf, wo der Lebensnerv der Marktwirtschaft, der Wettbewerb nicht funktioniert. Leider wird heute über Marktwirtschaft mehr geredet - so heute auch von Ihnen, Herr Kollege Narjes -, als daß sie konsequent angewandt und verwirklicht würde. Wenn es zum Schwur kommt, hören wir aus Ihren Reihen das bekannte: „So nicht", „jetzt nicht", „noch nicht" und so weiter.
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Herr Abgeordneter Junghans, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann?
Ja, bitte.
Sehr verehrter Herr Kollege Junghans, wer hat denn eigentlich in der letzten Legislaturperiode im Wirtschaftsausschuß die Mehrheit gehabt? Warum haben Sie denn die Kartellgesetznovelle nicht nach Ihren Wünschen verabschiedet?
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Herr Müller-Hermann, damit bestätigen Sie genau das, was ich gesagt habe: daß Sie der Kartellrechtsnovelle nicht zustimmen wollten. Wir haben ja um Ihre Zustimmung gebeten.
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Es fällt Ihnen doch kein Stein aus der Krone, wenn Sie einer guten Sache, sofern auch Sie sie dafür halten, zustimmen und nicht aus prinzipieller oppositioneller Haltung immer gegen das sind, was in den Ausschüssen beraten wird. Das lag in Ihrer Hand. Sie kennen die Situation.
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Deshalb begrüßen wir es ja auch, daß, Herr Kollege Katzer, die Sicherung des funktionsfähigen Wettbewerbs in der Regierungserklärung als eine der dringendsten Aufgaben bestätigt worden ist.
In der Regierungserklärung wurde gesagt, daß die Einbringung der Wettbewerbsnovelle unverzüglich erfolgen soll. Um das Verfahren so weit wie möglich beschleunigen zu helfen, werden die Koalitionsfraktionen, wie ich eingangs schon sagte, die Novelle noch in dieser Woche einbringen. Wie in der Regierungserklärung angekündigt, werden wir darin die „abgestimmten Verhaltensweisen" am Markt, die Preisbindung und den Mißbrauch von Preisempfehlungen energisch anpacken. Das gleiche gilt für die Fusionskontrolle und die Mißbrauchsaufsicht. Schließlich - und nicht zuletzt - gilt das für Kooperationserleichterungen für die kleinen und mittleren Unternehmen, die ihre wichtige Funktion in unserer Wirtschaftsordnung erfüllen.
Bereits 1960 wurde von uns eine Novellierung des damals geltenden Kartellrechts in dieser Richtung gefordert. 1965 kam es zur ersten Änderung des Kartellgesetzes. Seit 1967 wurde erneut die Verbesserung dieses „Grundgesetzes der Wirtschaft" -wie es einmal genannt worden ist - angesprochen. Während der Großen Koalition gab es zwei Referentenentwürfe, aus denen schließlich 1971 ein Kabinettsentwurf hervorging. Diese Einigung auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner" scheiterte an einer Art „konzertierter Aktion" von einigen Industrieinteressen und an der Patt-Situation im Parlament. Wenn wir jetzt die alte Novelle wieder einbringen, mag das niemand zu falschen Schlüssen verleiten. Realistisch denkende Wirtschaftskreise neigen ja bereits dazu, „grünes Licht" für die Verabschiedung der Novelle in der alten Form zu geben, gleichsam - Herr Kollege von Bismarck, Sie gucken mich so ungläubig an - nach der Devise: Wenn schon eine neue Wettbewerbsregelung nicht zu verhindern ist, dann soll das Übel - der Wettbewerb ist für die ja ein Übel - wenigstens minimiert werden. Meine Damen und Herren: wer den Wettbewerb in der Marktwirtschaft als Übel betrachtet, hat kein Recht, über Marktwirtschaft überhaupt ein Wort zu verlieren.
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Wir werden uns mit einer solchen Skelettierung nicht zufriedengeben.
Wie sieht denn heute die wettbewerbspolitische Landschaft aus? Eine nun wirklich der Industrie nicht feindlich gesonnene und unseren Auffassungen eher kritisch gegenüberstehende Zeitung wie die „Frankfurter Allgemeine" mag für ein Beispiel herhalten, das für viele steht. Im Brauereiwesen wird von einem Verschmelzungsvertrag berichtet, in dem zwei Großbanken als Ehestifter fungierten. Die Bierlandschaft werde sich in Deutschland und Europa schlagartig verändert haben nach dieser „Elefantenhochzeit mit Signalwirkung". Im regionalen Bereich werde der Konzern sicherlich für einige Aufregung sorgen. Dem Verbraucher, urteilt die Zeitung, bringe diese Fusion keinerlei greifbare Vorteile; sie schade dem auf Machtausgleich orientierten System der Marktwirtschaft. Mit einem Wort: Fusionskontrolle sei dringender notwendig denn je, wie die Ankündigung über Bierpreiserhöhungen vor den Wahlen ja wohl gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, wenn man z. B. von der Erhöhung der Baupreise spricht, dann muß der Bürger auch wissen, daß es Zementkartelle gibt.
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Wenn man von Lebensmittelpreisen spricht, muß man auch wissen, daß es Zuckerkartelle gibt. Ich könnte die Aufzählung der Wechselbeziehungen noch fortsetzen: von den Preiskalkulationen für Schuhe und Linoleum bis hin zu denen für Teerfarben.
Überkapazitäten, Fehlinvestitionen, sinkende
Preise und konjunkturelle Absatzschwierigkeiten sind keine Rechtfertigung für Preisabsprachen und abgestimmte Investitions- und Produktionsentscheidungen.
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Wie sieht denn nun die Reaktion einiger betroffener Unternehmer aus? Auf die Berliner Kartellbehörde prasseln Dienstaufsichtsbeschwerden nieder. Ätzendscharfe Angriffe gegen die Berliner Beamten sind an der Tagesordnung. Ein Fabrikant verstieg sich sogar zu der Feststellung: die Vergawaltigung einer Frau koste heute weniger als eine kleine Preisabsprache, wie die FAZ vom 1. 6. 1972 berichtete.
Nie war die Publizität des Kartellamtes so groß wie zu dem Zeitpunkt, da eine Millionenbuße verhängt wurde. Niedrige Summen wurden offenbar mit einer Art Sportsgeist hingenommen. Nicht wenige, die von unkontrollierter Behördenpublizität sprechen, schlagen den Sack und meinen den Esel: sie kritisieren die Öffentlichkeitsarbeit und meinen die Entscheidungspraxis des Kartellamtes, urteilt die Presse mit Recht.
Aber das ist noch vergleichsweise harmlos. Was soll man von einem. Artikel im „Handelsblatt" halten mit der Überschrift „Wenn das Kartellamt ins Haus steht, kann Schweigen oft Gold sein"? Da werden Anweisungen gegeben, wie die Ermittlungen der Kartellbehörde und richterlich angeordnete Durchsuchungen trickreich zu verhindern sind. Diese „Aktion Widerstand" unter Ausnutzung, wie ich meine, aller Finessen von Winkeladvokaten sollte die Unternehmer veranlassen, sich von dem Drahtzieher dieses Artikels, dem Wettbewerbsreferat des BDI, zu distanzieren.
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Meine Damen und Herren, das Kartellamt hat doch nichts weiter getan, als gemäß Punkt 7 des 15-Punkte-Programms gegen Preissteigerungen vom 27. Oktober 1972 zu handeln, nämlich die Möglichkeit des geltenden Kartellrechts besonders hinsichtlich der Preisstabilität auszuschöpfen. Wer eben das kritisiert, muß sich wiederum fragen lassen, ob er es mit den Forderungen nach Preisstabilität überhaupt wirklich ernst meint.
Um Mißbräuche wirtschaftlicher Macht zu begrenzen und einen funktionsfähigen Wettbewerb herbeizuführen, werden wir unseren Kartellgesetzent276
wurf verabschieden, gerade weil nur in einer leistungsorientierten Wirtschaftsordnung die Mittel erwirtschaftet werden können, die die soziale Sicherheit ausbauen und die Gemeinschaftsaufgaben erfüllen helfen. Ich stimme völlig zu, wenn gesagt wird: Nicht das Streben nach Gewinn ist zu beanstanden, sondern der Mißbrauch wirtschaftlicher Macht.
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Das ist - dies sei nebenbei an Ihre Adresse, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gesagt -, wenn hier schon von Klassenkampf geredet wird, auch eine Art Klassenkampf. Ich betone: Es geht nicht um das Gewinnstreben. Ohne Gewinn gibt es keine Investitionen, ohne Investitionen keine Realisierung von Neuerungen und ohne diese nur Stagnation. Freier Wettbewerb ist ebenso notwendig wie freie Arbeitsplatzwahl und Konsumwahl und unternehmerische Initiative. Alle zusammen bleiben wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik, und daran lassen wir nicht rütteln.
Wenn wir aber von der Leistungsgesellschaft sprechen, dann meinen wir eben eine humane Leistungsgesellschaft. Diese ergibt sich nicht von selbst; sie muß gestaltet werden. Zu einer der wichtigsten Voraussetzungen dafür gehört eine ausgewogene Strukturpolitik. Weder wollen wir eine Aufsplitterung in Ballungszentren unserer Bundesrepublik noch eine Auspowerung anderer Räume. Ungleichgewichte - wo immer sie entstanden sind - müssen beseitigt werden. Besser ist, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.
Wir begrüßen daher die Ankündigung in der Regierungserklärung, daß die Wirtschaft sich auf die Forderungen der Zukunft vorbereiten soll und daß wir mit unserer Strukturpolitik hierbei helfen wollen, dies zu erleichtern. Die Strukturpolitik, wie sie von Bund und Ländern gemeinsam entwickelt worden ist, soll sektoral und regional weiter ausgebaut werden. Wir werden also auf dem bisher erfolgreichen Wege fortschreiten.
Wir Sozialdemokraten unterstreichen, daß - wie in der Regierungserklärung zum Ausdruck kommt - das Zonenrandgebiet nicht vernachlässigt werden darf.
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Dem Ausbau der Infrastruktur soll Vorrang gegeben werden.
Mit der Bundesregierung sind wir der Meinung, daß die Strukturpolitik sektorale und regionale Wandlungsprozesse einleiten und soziale Risiken vermindern soll, ohne daß die gesamtwirtschaftlich notwendigen Anpassungsvorgänge verhindert werden dürfen. Rechtzeitige Anpassung gibt auf längere Sicht eine wesentliche Voraussetzung auch für die Stabilitätspolitik.
Ausgehend von einer Notstandsförderung des Gießkannenprinzips haben wir heute eine gezielte Politik der Strukturförderung, die dort ansetzt, wo sich bereits Ansätze finden. Entscheidend ist heute eben nicht mehr nur die wirtschaftliche Schwäche eine Gebietes - dieses Kriterium allein würde unsere Zustimmung nicht finden -; entscheidend ist, daß folgende Ziele erreicht werden:
die Förderung regional ausgeglichener Lebensverhältnisse,
ein Netto-Abwanderungsstopp aus entwicklungsfähigen Regionen,
Schaffung von Optionen für Unternehmensinvestitionen in diesen Gebieten,
gleiche berufliche Chancen für die Menschen in diesen Räumen durch eine entsprechende Infrastruktur, ohne daß davon nur die Landwirtschaft und das lokale Handwerk angesprochen werden.
Vielleicht wird an unserer bisherigen Strukturpolitik - und wer will das leugnen - manches zu überprüfen sein. Doch ich gebe zu bedenken, daß wir in vielen Bereichen nicht auf halbem Wege stehenbleiben dürfen. In jedem Fall muß die Kontinuität der Förderungspolitik gewahrt bleiben. Auch in der Strukturpolitik muß die Wirtschaft einen staatlichen „Vertrauensschutz" für sich in Anspruch nehmen können.
Dieser Vertrauensschutz gilt auch für die Gemeinden. Unternehmen und Gemeinden sollen nicht bei der Infrastrukturförderung mittendrin alleingelassen werden. Das heißt nicht, daß Kosten-NutzenAnalysen nicht noch strenger gehandhabt werden sollten. Manche Hotelneubauten und Abschreibungsgesellschaften könnten getrost einer Überprüfung zum Opfer fallen.
Infrastrukturmaßnahmen und Industrieansiedlung müssen sich sinnvoll ergänzen. Darauf kommt es uns an: auf die Parallelität. Die berühmte Frage „Was war zuerst - die Henne oder das Ei?" darf nicht dahin abgewandelt werden: Zuerst Infrastruktur oder Industrieansiedlung.
Hier kann es nur eine ausgewogene Synthese geben. Freilich verstehen wir unter „ausgewogen", daß sich der Schwerpunkt ruhig ein wenig in Richtung auf die Infrastrukturmaßnahmen verschieben sollte. Wir vergessen auch nicht, daß Länder und Gemeinden hier einen großen Teil der finanziellen Aufwendungen mitzutragen haben.
Wir werden jedenfalls mithelfen, daß eine gewisse Parallelität entsteht und beispielsweise Berufsschulen nicht erst dann gebaut werden, wenn der Exodus der Berufsschüler aus den lokalen Unternehmen und Betrieben in die Schulen der Umgebung überwältigend wird.
Es geht uns auch nicht um Strukturerhaltung, sondern es geht uns in der Tat darum, den sozialen Wandel begleitend vorzubereiten und in die Wege zu leiten. Dafür geben wir Starthilfe, Hilfe zur Selbsthilfe.
Wir stimmen insbesondere der Regierung auch zu, daß der Sektor Energiepolitik unser vorrangiges Augenmerk im Rahmen einer Strukturpolitik verdient. Wir begrüßen, daß möglichst bald ein energiepolitisches Programm vorgelegt wird.
Herr Abgeordneter Junghans, ich muß Sie leider
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident.
Der Sektor Energiepolitik ist nämlich typisch für ein Feld, auf dem eine planende und bewußte Gestaltung nicht mehr möglich war. Erst als das Kind in den Brunnen gefallen war, kam eine Art Kohle-Programm. Hier war versucht worden, einen Krisenherd isoliert zu behandeln, ohne ihn in Wechselbeziehung zu den anderen Energieträgern zu sehen.
Zusammen mit der Bundesregierung werden wir versuchen, eine Regelung zu finden, die abgestimmt ist m i t allen Energieträgern und a u f alle Energieträger, mit dem Ziel einer langfristigen Sicherstellung der Energieversorgung unserer Volkswirtschaft. Es geht darum, einerseits der Volkswirtschaft langfristig die notwendige Energie zu sichern und andererseits den in diesem Wirtschaftszweig tätigen Menschen einen sicheren Arbeitsplatz zu geben. Auch dies gehört zum grundgesetzlichen Auftrag: vergleichbare Lebensbedingungen im ganzen Bundesgebiet herzustellen. Ohne eine konsequente Ordnungspolitik und ohne eine solide Strukturpolitik wird das nicht möglich sein.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung auf diesem Wege und in diesem Bemühen voll unterstützen.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Sprecher der Opposition und auch der verehrte Herr Kollege Narjes haben beklagt, daß in der Regierungserklärung ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft nicht in ausreichender deklamatorischer Weise abgegeben worden sei. Nun hat heute Herr Narjes zunächst einmal diesem Defizit in, wie mir scheint, überreichem Maße abgeholfen und hier sehr beherzigenswerte Grundsätze vorgetragen, auf die wir uns im wesentlichen, soweit es den ersten Teil seiner Ausführungen betrifft, einigen können. Ich habe es allerdings bedauert, daß nach den Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers, der hier in prägnanten, kurzen Sätzen Inhalte vorgetragen hat, zu diesen Inhalten nicht etwas mehr Stellung genommen worden ist. Allerdings hat Herr Narjes es für richtig befunden, gegenüber dem neuen Bundeswirtschaftsminister aus dem teilweisen Kompetenzabbau seines Ministeriums - ich mache gar kein Hehl daraus, meine Damen und Herren, daß ich das Uberwandern der Abteilung Geld und Kredit in das Bundesfinanzministerium bedaure - auch auf mangelnde sachliche Kompetenzen zu schließen. Dem ist erstens zu widersprechen; zweitens ist die Frage zu stellen, wie denn bei anderem Wahlausgang wohl die Kompetenzen eines Bundeswirtschaftsministers Narjes ausgesehen hätten; darüber ist ja vorher genug diskutiert worden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ohne Frage richtig, daß auch in der Öffentlichkeit an der Regierungserklärung im In- und Ausland Kritik geübt worden ist. Es ist ganz zweifellos, daß es in einer Regierungserklärung offenbar niemals allen recht gemacht werden kann, und dies ist wahrscheinlich eine Binsenwahrheit. Interessanterweise sind es allerdings die ausländischen Pressestimmen gewesen, die uns hier für so etwas wie eine Insel der Seligen halten, was natürlich nicht stimmt, und ich wäre der letzte, der sich damit tröstete, daß es anderswo ja noch schlechter zugehe als vielleicht bei uns.
Aber wie sieht es denn eigentlich bei uns aus? Gibt es so etwas wie einen neutralen, einen objektiven Beurteiler des wirtschaftspolitischen Teils dieser Regierungserklärung? Hier bitte ich um Nachsicht, wenn ich aus meiner persönlichen beruflichen Erfahrung einen zugegebenermaßen erzkapitalistischen Zeugen aufrufe, nämlich die Wertpapierbörse, die ihre Preise bekanntlich nicht nach Sympathie oder Antipathie bildet, sondern nach der Beurteilung von Chance und Risiko. Das Urteil der deutschen Aktienbörsen in den Tagen nach der Regierungserklärung war eindeutig. Der wirtschaftspolitische Teil dieser Regierungserklärung ist positiv beurteilt worden; die Kurse stiegen in überraschendem Ausmaße. Mit anderen Worten: Es wurde eine gesunde, positive Wirtschaftsentwicklung prognostiziert. Steigende Rentabilität der Unternehmen wird erwartet. Ebenso werden Fortschritte erwartet beim Kampf um die Rückgewinnung der Stabilität, ein Thema, zu dem nachher noch einige Sätze zu sagen sein werden, was aber im übrigen Teil der heutigen Debatte, der sich dem Haushalt widmet, überlassen werden kann.
Zur Frage der Stabilität jetzt nur einige wenige Sätze. Ich habe es bedauert, Herr Narjes, daß Sie nicht die Gelegenheit wahrgenommen haben, auf die, wie ich meine, sehr bedenkenswerten Ausführungen einzugehen, die der Kollege Arndt gestern im Zusammenhang mit den internationalen Währungsfragen zu diesem Thema gemacht hat.
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Sie, Herr Narjes, haben von dem Wetterleuchten gesprochen, das sich an den Wertpapierbörsen abgezeichnet hat - Wetterleuchten in der Tat wegen der unerfreulichen Entwicklung an den Devisenmärkten nach der Spaltung des italienischen Lira-Kurses. Ich bin der Auffassung, daß wir hier ein Gebiet vor uns haben, dem wir, wie Herr Arndt das gestern ausgeführt hat, größte Aufmerksamkeil widmen müssen. Ich bin auch persönlich der Auffassung - daraus mache ich keinen Hehl, auch wenn das unpopulär ist und von Ihnen nicht gern gehört wird -, daß unser binnenwirtschaftlicher Anteil am Zustandekommen der Inflation im Verhältnis zum. außenwirtschaftlichen Anteil relativ gering ist und
die eigentliche Lösung dieses Problemes auf diesem Gebiet gesucht werden muß.
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Die Formulierung von Herrn Narjes, die Regierung habe uns in Inflationsraten hineinmanövriert, muß korrekterweise doch wohl heißen: sämtliche Regierungen der westlichen industrialisierten Länder haben ihre Länder in Inflationsraten hineinmanövriert; denn wir sind ja nicht die einzigen. Im Gegenteil, wir sind, wie Herr Arndt auch ,das gestern ausgeführt hat, erfreulicherweise nach wie vor am Ende der Skala. Ich sage: erfreulicherweise, ohne damit irgendwie eine Alibi-Funktion dieser Tatsache zitieren zu wollen.
Außer der Frage der Preisstabilität ist im Wahlkampf von der Opposition das Thema Vollbeschäftigung in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt worden. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat vorhin das Glück gehabt, den Zwischenruf „Arbeitslosigkeit" serviert zu bekommen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, ,daß jemand in unserer Situation mit einem solchen Zwischenruf operiert. Aber: nun denn!
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- Herr Müller-Hermann, Sie haben es heute ja
erneut wieder aufgegriffen; ich weiß nicht, warum.
({4}) - Nein, nicht Sie persönlich.
Es kann doch wohl kein Zweifel daran bestehen, daß diese Regierung, wie heute jede demokratisch gewählte Regierung in den Ländern der industrialisierten Welt, sich zur Erhaltung der Vollbeschäftigung verpflichtet fühlt. Angesichts der allgemein bekannten Lage am Arbeitsmarkt - mein Kollege Opitz hat heute morgen über die Frage, ob wir nicht endlich mit dem Kapital dorthin gehen sollen, wo die Arbeitsreserven zu finden sind, zutreffende Ausführungen gemacht -, der Zahl der Gastarbeiter usw. können wir beim besten Willen nicht sehen, daß ausgerechnet dieses Ziel des Stabilitätsgesetzes, nämlich das Ziel der Vollbeschäftigung, zur Zeit akut gefährdet ist.
Wir legen allerdings Wert darauf, in diesem Zusammenhang eines klarzumachen: Vollbeschäftigung oder gar Arbeitsplatzgarantie kann nicht heißen, daß jemand in dem gleichen Betrieb, in dem er seine Lehre absolviert hat, auch pensioniert wird. Es ist nicht Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik, für einen bestimmten oder den bestimmten spezifischen Arbeitsplatz und dessen Erhaltung zu sorgen. Sie muß angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, und wir alle müssen uns darüber im klaren sein, daß die fortschreitende technologische Entwicklung den Wechsel von einem Arbeitsplatz zum anderen im Laufe eines Berufslebens mehr und mehr zur Regel machen wird. Im Sinne liberaler Wirtschaftspolitik sehen wir in dieser Mobilität auch positive Wachstums- und Struktureffekte. Im übrigen hat ja Herr Dr. Friderichs auf einige möglicherweise gefährdete Arbeitsplätze hingewiesen. Die
Kenntnis darüber stammt aber nicht aus Veröffentlichungen ,der Bundesanstalt für Arbeit, sondern aus dem „Rheinischen Merkur".
Wir sind dem Bundeskanzler dafür dankbar, daß er keine Regierungserklärung der Deklamationen abgegeben, sondern konkrete Zielsetzungen und Gesetzgebungsvorhaben angekündigt hat. Die Opposition, Herr Narjes, wird ausgiebig Gelegenheit haben, im Plenum und in den Ausschußberatungen ihr marktwirtschaftliches Bekenntnis mit uns zusammen, wie ich hoffe, zu praktizieren.
Meine Fraktion hat sich entschlossen, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner und der Regierung für eine zügige Beratung der Kartellnovelle zu sorgen. Wettbewerb ist ,die Grundlage unserer wirtschaftlichen Ordnung; sie ist heute morgen oft genug erwähnt worden. Wir sind aber die Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft leid, die auf Tagungen von Verbänden und sogenannten Wirtschaftsräten abgegeben werden, wenn deren Redner vom Podium eilen, neben dem Branchenkonkurrenten Platz nehmen und die nächste Preisliste absprechen.
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Die Verantwortlichen in unserer Wirtschaft, die sich dem Wettbewerb stellen, die ,die täglich neue Herausforderung des Marktes annehmen, werden die Liberalen in diesem Hause auf ihrer Seite finden.
Wer aber die Wettbewerbswirtschaft und den ihr untrennbar verbundenen Leistungsgedanken offen oder versteckt verneint, dem werden wir uns entschlossen widersetzen.
Die Freien Demokraten sind der Ansicht, daß der Staat ein brauchbares, ja - ich spreche das ruhig aus - ein starkes Kartellgesetz braucht, um auf der Grundlage eines solchen Gesetzes eine pragmatische liberale Handhabung durch das Bundeskartellamt zu ermöglichen.
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Jetzt ist es nahezu umgekehrt: Wir haben ein Kartellgesetz, das durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse, und eine ihrer selbst nicht mehr sichere Behörde.
Deshalb muß jetzt die vorbeugende Fusionskontrolle kommen, nicht weil wir volkswirtschaftlich sinnvolle Konzentrationsbewegungen abschnüren wollen, wohl aber, um z. B. Bierfusionen der bekannten Art zu verhindern und um bei Maschinenbaukonzentrationsbewegungen mitreden zu können. Ich erwähne diese beiden Fälle deshalb ausdrücklich, weil sie prima vista im Ergebnis unterschiedlich beurteilt werden müssen. Der erste Fall ist volkswirtschaftlich nicht vertretbar und betriebswirtschaftlich offensichtlich auch nicht; denn die größten Brauereien sind mit den Bierpreiserhöhungen immer vornean. Der zweite Fall scheint volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich eine entgegengesetzte Beurteilung erfahren zu können. Ich will aber nicht so tun, als hätte ich die Fusionskontrollfunktion bereits ausgeübt. Aber es scheint mir prima vista so zu sein. Worauf wir aber Wert legen, ist die Gelegenheit, die Chance und das Recht des Staates, in dieDr. Graf Lambsdorff
sen Fragen mit-zu-sprechen und zu überprüfen, ob Wettbewerb erhalten bleibt.
Machen wir uns nichts vor: Die Fusionswelle rollt weiter. Auch nach Auslaufen des Umwandlungssteuergesetzes wird das so bleiben, insbesondere dann, wenn wir bei Einführung des Anrechnungsverfahrens in der Körperschaftssteuer zwangsläufig ein erneutes Umwandlungssteuergesetz brauchen werden. Hier gibt es eine sehr unheilige Koalition: auf der einen Seite diejenigen, die dem so lange zusehen, bis der staatliche Zugriff auf das Mammutunternehmen der Branche nur noch Formsache ist, und auf der anderen Seite diejenigen, die unter den Anforderungen des Wettbewerbs verzagen, im Sinne einer kurzfristig verstandenen Gewinnmaximierung den bequemeren Weg suchen und zuletzt Subventionen fordern, weil sie ihre eigene Leistungskraft unterminiert haben.
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Dazwischen gilt es, zu den ordnungspolitischen Grundsätzen der Marktwirtschaft zu stehen, sie wo nötig, wiederherzustellen und sie durchzuhalten. Davon lassen wir uns, das sei deutlich gesagt, nicht durch Hinweise auf kommendes Recht oder mögliche Interpretationen des geltenden Rechts der EWG abbringen. Das eine tun, das andere nicht lassen! Sorgen wir jetzt für die richtige Ordnung im eigenen Hause.
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Meine Fraktion legt Wert darauf - ich wiederhole das -, daß die Kartellnovelle nun wirklich schnell und zügig verabschiedet wird. Sie muß selbstverständlich die in der neu einzubringenden alten Vorlage bereits diskutierten Vorschläge enthalten - ich kann das ganz kurz machen; das ist häufig erwähnt worden -: Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen, endlich auch die Kooperationserleichterung für kleine und mittlere Unternehmen. Es kann nicht in unserem Sinne liegen, daß Gemeinschaftsgründungen mittlerer Unternehmen am Wettbewerbsrecht scheitern und daß z. B. die Gemeinschaftswerbung von selbständigen Lebensmitteleinzelhändlern, die sich zu Filialketten zusammengeschlossen haben, nur hart am Rande der Legalität durchgeführt werden kann.
Die Freien Demokraten sind grundsätzlich der Ansicht, daß das Wettbewerbsrecht durch ein Verbot der abgestimmten Verhaltensweisen ergänzt werden muß. Wirtschaftsentwicklung und Rechtsprechung machen eine Regelung dieser Frage zu einem, wie wir meinen, unerläßlichen Gebot. Wenn Berichte zutreffen, daß sich Abgesandte von Unternehmen in verdunkelten Hotel- oder Verwaltungszimmern versammeln; daß dort mit einem Bildwerfer Preise an die Wand geworfen werden und daß dann behauptet wird, das sei natürlich keine Preisabsprache gewesen, so wird der Staat in seiner Funktion zur Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Ordnungsprinzipien schlichtweg veralbert.
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Dies kann und darf er sich nicht gefallen lassen, weil das ernsthafte Folgen hat - nicht wegen irgendwelcher verletzter Eitelkeiten.
Wir würden es begrüßen, wenn das Problem der abgestimmten Verhaltensweisen schon jetzt in diese Novelle aufgenommen werden kann. Angesichts der gesetzestechnischen Schwierigkeiten und des unbestrittenen zeitlichen Vorranges der Fusionskontrolle halten wir es - wenn auch ungern - für denkbar, für nicht vollständig ausgeschlossen, die Novellierung des Wettbewerbs, was die abgestimmten Verhaltensweisen anbelangt, in Zeitabschnitten zu vollziehen. Wir würden es aber begrüßen, wenn das in gemeinsamer Übereinkunft aller Fraktionen nicht nötig werden würde.
Die Preisbindung der zweiten Hand werden meine Freunde und ich vorurteilsfrei prüfen. Ihre Verteidigung ist für meine Fraktion kein Glaubensbekenntnis, ihre Abschaffung aber auch nicht. Sie hat natürlich Folgeprobleme. Denken Sie bitte an die Situation unseres Buchhandels oder der Verlage. Wir versprechen uns davon keine nachhaltige Unterstützung bei der Bekämpfung des Preisauftriebs. Sehr viel ernstere Probleme scheinen - Herr Junghans hat das vorhin erwähnt - die uns oft irreführenden unverbindlichen Preisempfehlungen zu enthalten. Auch die Praxis der sogenannten Lockvogelangebote, meine Damen und Herren, bedarf nach unserer Meinung einer Korrektur, notfalls durch eine Ergänzung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb.
Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt die Darlegungen des Herrn Bundeskanzlers zum Problemkreis Leistungsgesellschaft, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz. Wir sind überzeugt davon, daß unsere leistungsfähige Wirtschaftsordnung die solide Basis zur Lösung auch dieser Probleme ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat in der Vergangenheit wirtschaftliche Erfolge errungen, die in der ganzen Welt anerkannt worden sind. Diese Erfolge sind die verläßliche Grundlage für die notwendigen Reformen unserer sozialen und gesellschaftlichen Ordnung. Sie verpflichten uns aber auch, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um die wirtschaftliche Entwicklung Europas in marktwirtschaftliche Bahnen zu lenken. Es wäre verhängnisvoll, wenn sich Europa von einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ab- und einem suprastaatlichen Dirigismus zuwenden wollte.
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Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang eine persönliche - ich betone: persönliche - Bemerkung: Die Bundesregierung hat auf einer ihrer ersten Sitzungen den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum internationalen Kakaoabkommen beschlossen. Für diese Entscheidung gab und gibt es gewichtige außenpolitische Gründe. Ich halte die Entscheidung deshalb für richtig. Die Bundesregierung hat aber die ökonomischen Vorbehalte gesehen, und sie bestehen fort. Ich warne davor, dieses Abkommen als Muster für die Aufteilung der Weltrohstoffmärkte zu nehmen. Das würde den mühsam aufgebauten freien Welthandel zerstören und - was das Schlimmste dabei ist - die Disparitäten zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern nicht beseitigen. Wir würden - überspitzt formuliert - Kolonialpo280
litik mit Mitteln des 20. Jahrhunderts betreiben, und das können und dürfen wir nicht wollen.
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Meine Damen und Herren, dies war eine persönliche Bemerkung.
Herr Narjes, Sie haben kritisiert, daß die Orientierungsdaten fehlen. Die Bundesregierung und der Bundeswirtschaftsminister haben einen Kranz von Daten gegeben. Eine Zahl hat dabei gefehlt, bewußt gefehlt, nämlich die Zahl über die vertretbaren Tariferhöhungen. Herr Narjes, dies ist ganz gezielt geschehen. Wir wissen aus Erfahrung - warum soll man aus Erfahrung nicht gelegentlich etwas lernen? -, daß, wenn hier gesagt wird, wieviel an Tarifanhebungen vertretbar ist, dieser Satz unter allen Umständen die Untergrenze dessen ist, was von den Gewerkschaften im Verständnis ihrer eigenen Aufgaben erreicht werden muß.
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Das war der Grund, warum wir diese Zahlen, wie ich meine, richtigerweise nicht genannt haben. Ich habe den Herrn Bundeswirtschaftsminister in dieser Frage unterstützt. Es ist richtig gewesen, daß er einen Kranz von Orientierungsdaten gegeben hat, aus dem sich jeder, der zu rechnen versteht, ausrechnen konnte, welche Steigerungen vertretbar waren und welche nicht. Aber es wäre nicht sinnvoll gewesen, eine feste Zahl zu nennen. In Fragen solcher Zahlen haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wiederhole: Man muß ja nicht immer die alten Fehler aufs neue machen.
Ich komme zum Schluß: Die Freien Demokraten werden die ordnungspolitischen Vorstellungen einer der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten Wirtschaftspolitik geschlossen unterstützen. Dies ist eine Wirtschaftspolitik, die, wie es der Herr Bundeswirtschaftsminister heute schon gesagt hat, in erster Linie für den Verbraucher bestimmt ist, eine Wirtschaftspolitik, die nicht für den Staat, sondern für seine Bürger bestimmt ist, die nicht für Wachstum als Selbstzweck, sondern für Wachstum als Grundlage der notwendigen Reformen für unser Land sorgen soll.
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Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause.
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Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 15 Uhr.
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Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Wir fahren in der Rednerliste fort; das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wex.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung spricht von der Solidarität gegenüber dem Nächsten, von der Bereitschaft zum Mitleiden, von der Geborgenheit und sogar von der exakten Witterung für die Notwendigkeit, Grundwerte des Lebens zu bewahren. Gemeint sind u. a. der vitale Bürgergeist, die moralische Kraft eines Volkes. Solidarität, Mitleiden, Geborgenheit sind Kennzeichen eines Ethos, dessen Ursprung und vitalen Kern man nach dieser Regierungserklärung gar nicht dort suchen würde, wo er eigentlich liegt, nämlich in der Familie. Nach dieser Einsicht sucht man in der Regierungserklärung vergebens, soweit ich sehe. Liegt das nur am knappen Raum, der für die Themen Familie, Jugend, Erziehung und Gesundheit überhaupt zur Verfügung stand? Viel wichtiger, scheint mir, ist die Akzentverlagerung, die unter dem Wortschleier von familiären Tugenden vorgenommen wurde. Wo ist in einer solchen Perspektive, meine Damen und Herren, der Ort der Jugend, der Familie? Wie sieht man auf seiten der Bundesregierung die verschiedenen Rollen der Frau? Wie steht es um die brennenden gesundheitspolitischen Fragen?
Der Herr Bundeskanzler spricht davon, daß es um die Freiheit im Alltag gehe. Dem können wir natürlich zustimmen. Aber was ist davon zu halten, wenn nicht mit einem Wort davon gesprochen wird, wie im Alltag diese Freiheit bewahrt werden kann, wenn man nicht mit einem Wort von der Institution spricht, die im Mittelpunkt dieses Alltags steht, von der Familie selbst?
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Es wäre wohl notwendig gewesen, ein Wort zur zukünftigen Rolle der Familie in der gesellschaftlichen Entwicklung zu sagen, z. B. wie bei der gegenwärtigen Preissituation die wirtschaftliche Grundlage auch der unvollständigen Familie gesichert werden soll, wie die Regierung die Kleinfamilie und die Mehrkinderfamilie und ihre Situation beurteilt, welche Aufgabe vor allem der Familie für die Erziehung der Kinder zukommt und welche Bedeutung sie der Frau als Hausfrau und Mutter zubilligt.
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Meine Frage ist: Folgt die Regierungserklärung der Wahlplattform der SPD vom Oktober 1972? Dort ist die Familie in den gesellschaftlichen Rahmen folgendermaßen eingeordnet:
Unser Leben wird durch die zwischenmenschlichen Beziehungen unter Freunden und Bekannten, in Familie und Betrieb, in gesellschaftlichen Gruppen und im Staat geprägt.
Diese Einordnung der Familie an der dritten Stelle nach Freunden und Bekannten ist, wie ich meine, wohl kein Zufall. Ist es ein Zeichen dafür, daß die Regierung die außerordentlich moderne Bedeutung der Familie für unsere gesellschaftliche Entwicklung nicht genügend erkannt hat? Denn moderne Familienpolitik kann nicht davon ausgehen, die Familie in den Rahmen anderer gesellschaftlicher Verbindungen hineinzupressen; sie nur als eine unter anderen zwischenstaatlichen Beziehungen gleichsam gleichwertig einzuordnen.
Theodor Heuss hat die Familie „Herberge der Menschlichkeit" genannt. Dieser Satz ist aktueller und gültiger denn je. Sicherlich ist die Familie kein Selbstzweck, aber sie ist die Grundlage von Staat und Gesellschaft, das einzige Gegengewicht gegen den Trend, ,den Menschen zu kollektivieren und ihn zur Funktion der Gesellschaft, ,des Betriebs, der Wirtschaft zu degradieren. Es darf nicht darum gehen, die Familie und den einzelnen in noch straffere gesellschaftliche Organisationen einzupassen, sondern darum, die Freiheit im Alltag, wie es der Bundeskanzler ausgedrückt hat, zu verwirklichen. Dieser Freiheitsraum kann entweder in der Familie und mit der Familie geschaffen werden, oder aber er geht verloren.
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In den letzten Jahren ist sehr viel von Reformen gesprochen worden, und dem Reformwillen stimmen wir ausdrücklich zu. Ich bin aber überzeugt, alle Reformen werden scheitern, wenn sie nicht auf der Grundlage einer intakten Familie aufbauen können.
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Die Regierungserklärung, ,die für die neue Mitte, den vitalen Bürgergeist, die Lebensqualität und die gute Nachbarschaft viele Worte findet, schweigt oder murmelt allenfalls, wenn es um den zentralen Ort dieser Werte geht. Sie schweigt noch auffälliger, wenn man nach dem Wege fragt, auf dem die Bereitschaft zum Mitleiden, der solidarische Geist, die Geborgenheit erworben werden. Kann man ernsthaft meinen, dazu gehörte, statt ,der Erziehung in der Familie, in der Schule, in der Vielfalt menschlicher Gruppen, nur die Schärfung des politischen Bewußtseins?
Wer in derart verkürzter Perspektive über Jugend, Familie und Erziehung spricht oder nicht spricht, dokumentiert damit doch den Willen, diese wichtige Wirklichkeit auszublenden. Das ist jedenfalls dann keine Frage ,der Redezeit, wenn soviel familiäre Töne über die Heimat der Gesellschaft, über das Recht auf Geborgenheit angeschlagen werden.
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Wer sparsam die Worte setzt, den muß man wörtlich nehmen. Dann ist die Tatsache, daß die Kernfragen der Familie und Erziehung völlig außer acht gelassen' werden, doch sehr beachtlich.
Dies gilt auch für den Zusammenhang, in dem von der Reform des § 218 gesprochen wird:
Neben einem Abbau kinderfeindlicher Tendenzen und dem Ausbau der Familienplanung bedarf es in dieser Legislaturperiode einer Reform des § 218.
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Das bedeutet doch hoffentlich nicht, daß dieses fundamentale Problem unter dem Gesichtspunkt etwa der Familienplanung gesehen wird.
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Mit dem Hinweis auf Familiensinn, Familienplanung, Familienlastenausgleich sind die Grundlagen der Familie nicht ausreichend fixiert.
Dasselbe gilt für die Rolle, die man der Frau zuschreibt. So richtig ,die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers ist, die Gleichberechtigung der Frau sei über den Abbau rechtlicher Benachteiligung nur in einem verbesserten gesellschaftlichen Klima zu verwirklichen, so nötig wäre gerade bei dem sorgfältig formulierten, aber vielsagenden Lob des neuen Selbstbewußtseins und des politischen Engagements unter den Frauen ein aufmerksames Wort für die Hausfrauen gewesen. Die sind doch - wenn man
so fragen darf - auch in dieser Gruppe der selbstbewußten und politisch engagierten Frauen zugelassen?
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Das ist keine polemische Frage. Denn wir gehen von der Gleichwertigkeit der berufstätigen Frau und der Hausfrau aus. Auch darf es nicht so sein, daß etwa die Kleinfamilie und die berufstätige Frau zum alleinigen Maßstab der Familienpolitik gemacht werden.
Ich hoffe, daß die Bundesregierung mit uns einer Meinung ist, wenn ich sage, daß es für die Persönlichkeitsbildung der Frau nicht etwa unabdingbare Voraussetzung ist, sie von der Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder zu befreien, sondern daß sie auch in der Erziehung der Kinder und dem Zusammenhalt der Familie eine bisher noch unersetzbare Aufgabe erfüllen kann. Aus diesem Grunde können wir auch keine Tendenzen unterstützen, die diese Funktion nur auf sogenannte gesellschaftliche Kräfte übertragen wollen.
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Auch der berufstätigen Frau sollte die Möglichkeit erhalten werden, ihre Kinder selbst zu erziehen. Dabei ist mir völlig klar, wie schwer das im Einzelfall sein wird.
Gleichberechtigung! Wir stimmen wohl darin überein, daß zur Verwirklichung der Gleichberechtigung zunächst die Voraussetzungen für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau geschaffen werden müssen. Partnerschaft heißt aber nach unserem Verständnis: mehr Verantwortungsbewußtsein füreinander. Es darf nicht etwa heißen, das Eheverhältnis oder den Familienverband leichter auflösen oder lockern zu können. Dieser Maßstab sollte auch die entscheidende Rolle spielen, wenn wir in den nächsten Monaten in diesem Hause über eine Änderung des Ehescheidungsgesetzes und über eine Änderung des § 218 beraten. Dabei muß darauf geachtet werden, daß nicht alte Abhängigkeiten durch neue ersetzt werden.
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In diesen Zusammenhang gehört die Abschaffung der Leichtlohngruppen, um den arbeitenden Frauen in unserem Lande das Gefühl der Minderbewertung zu nehmen. Dazu hat der Herr Bundeskanzler leider nichts gesagt. Aber dieses Thema beschäftigt uns ja schon seit Jahrzehnten. Ich möchte den Bundeskanzler an dieser Stelle an einen Brief vom 8. Juni
1971 erinnern, auf den Frau Focke geantwortet hat. Er betrifft einen Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments vom 19. April 1971, der sich mit der Verwirklichung des Grundsatzes des gleichen Arbeitsentgelts für Männer und Frauen, wie er in Art. 119 des EWG-Vertrages niedergelegt ist, befaßt. Ich möchte heute an diesen Brief erinnern, damit die vielen Initiativen auf diesem Gebiet endlich einmal zu einem Erfolg führen. Ich sage das in diesem Zusammenhang, weil der Herr Bundeskanzler in Paris von einem „sozialen Europa" gesprochen hat. Gerade dieses Gebiet möge in dieser Initiative nicht vergessen werden.
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Der Bundeskanzler hat die soziale Sicherung der Frau erwähnt. Das ist der zweite wichtige Punkt zur Herstellung der Gleichberechtigung. Man sollte dieses Problem nicht allein in das Fach „Langfristig" einordnen, sondern es vielmehr mit dem Stempel „Vordringlich" versehen. Wir sind der Auffassung, daß die eigenständige soziale Sicherung der Frau unter den gegenwärtigen Bedingungen nur in Stufen verwirklicht werden kann, um sie bei Invalidität, Krankheit und im Alter zu sichern. An erster Stelle muß nach unserer Auffassung der Schutz der Hausfrau vor Invalidität stehen. Deshalb sollte eine eigenständige Pflichtunfallversicherung eingeführt werden.
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Weiter muß die soziale Sicherung der Frau im Krankheitsfalle verbessert werden. Eine berufstätige Mutter, die ein krankes Familienmitglied zu Hause pflegt, sollte von der Krankenversicherung ein Pflegegeld in Höhe des Krankengeldes erhalten.
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Schließlich sollte eine ausreichende soziale Sicherung jeder Frau im Alter angestrebt werden. Hier stellen wir uns vor, daß das Prinzip der Zugewinngemeinschaft auch im Sozialversicherungsrecht gelten sollte. So entsteht ein vom Mann unabhängiger Rentenanspruch.
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Beim Studium der Regierungserklärung fällt auf, daß an keiner Stelle das Wort „Erziehung" zu finden ist. Statt dessen wird von Menschen gesprochen, „die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten". Das sind alles wichtige Eigenschaften. Aber wie, so frage ich mich, wollen Sie denn zu diesem Bürger kommen, wenn sie ihn nicht auf diese Aufgabe vorbereiten
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und ihn nicht fit machen, in unserer Gesellschaft zu bestehen, in der ja auch nach den Worten des Bundeskanzlers Leistung eine bedeutende Rolle spielen soll? Etwa durch „Abwesenheit von Erziehung?" Sie sprechen davon, daß wir dem angelsächsischen „citizen" und dem französischen „citoyen" nähergerückt seien. Aber wir wissen doch alle, was für eine Rolle die Erziehung in diesen Ländern spielt.
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Wir sollten uns auch in der Bundesrepublik nicht davor scheuen, zu fragen, was die Erziehung für den einzelnen, für die Familie, die Gesellschaft und für den Beruf bedeutet.
Wir sehen in den Worten des Bundeskanzlers „Demokratie braucht Leistung" wohl einen wichtigen Ansatzpunkt. Aber wir können von der jungen Generation keine Leistung und keine Partnerschaft erwarten, wenn ihr nicht auch in der Erziehung diese Prinzipien nähergebracht werden.
Unter diesem Gesichtspunkt gilt es den Erziehungsauftrag der öffentlichen Einrichtungen neu zu definieren. Es darf nicht einfach hingenommen werden, daß viele Schulen vor ihrer Erziehungsaufgabe kapitulieren, wofür - das weiß ich sehr genau - die Gründe sehr differenziert sind. Ich will die Gründe in diesem Zusammenhang nicht näher untersuchen, aber ich meine doch, wir dürfen nicht länger zusehen, daß die Lehrerbildung zum Teil in einer Weise betrieben wird, die die Eltern verschreckt und die Kinder nicht zum Urteil, sondern zum Vorurteil erzieht. Wie sollen wir als Politiker unserer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen gerecht werden, wenn wir es zulassen, daß Schule und Elternhaus nicht miteinander, sondern zum Teil gegeneinander arbeiten, und wenn wir es zulassen, daß Schulen ein Feindbild vom Elternhaus zeichnen? Ist es dann ein Wunder, wenn Leistungsverweigerung und Realitätsverlust bis hin zur Droge eintreten? Eine der Ursachen hierfür liegt in der Unsicherheit, was und wie Erziehung heute sein sollte. Ein Angebot konkreter Inhalte sollte vorhanden sein und Vorrang vor jeder Organisationsveränderung haben.
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Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung gesagt: „Man muß wieder lernen, Solidarität gegenüber dem Nächsten zu üben." Damit sind wir voll einverstanden. Aber auch dies ist eben eine Frage der Erziehung.
Auf die Bildungs- und Jugendpolitik werden die Kollegen Martin und Rollmann im Laufe der Debatte noch eingehen.
Erziehung zur Solidarität und zur Hilfe am Nächsten wird sich in unserer Gesellschaft positiv auswirken, z. B. im Bereich der sozialen Dienste.
Die Situation in den Krankenhäusern und in den Beratungsstellen sowie in den Betreuungsstätten für alte Menschen zwingt, vom Mitleiden zum politischen Handeln überzugehen. Politisch heißt hier, den in diesem Dienste Tätigen Anreize, auch materielle Anreize neben der Erziehung zu der Bereitschaft, soziale Dienste zu übernehmen, zu bieten,
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etwa ein Anrecht auf eine Wohnung im sozialen Wohnungsbau oder bevorzugte Berücksichtigung bei der Vergabe von Studien- und Ausbildungsplätzen. Denn je mehr unsere Gesellschaft die Form einer Dienstleistungsgesellschaft annimmt, um so dringender ist diese Gesellschaft auf die BereitFrau Dr. Wex
schaft ihrer Mitbürger angewiesen, diese Leistungen wirklich zu erbringen.
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Auf diesem Gebiet leisten die sozialen Einrichtungen der karitativen Organisationen und der freien Wohlfahrtspflege schon hervorragende Arbeit, die wir dankbar anerkennen. Der Bundeskanzler hat dies auch erwähnt: Diese sollen vom Staat nicht angetastet werden. Aber eine solche Formulierung ist nicht klar genug. Sie sollten vom Staat nicht nur nicht angetastet werden, sondern vom Staat als vollwertige Partner bei den Zukunftsaufgaben akzeptiert und eingeschaltet werden.
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Von der Weiterentwicklung und den politischen Maßnahmen im Bereich der sozialen Dienste wird die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens abhängen. Ohne diese Bereitschaft zu den sozialen Diensten wird unser Gesundheitswesen überhaupt nicht weiterentwickelt werden können. Vor dem Hintergrund der Tagungen von Marburg und Köln sowie der Heidelberger Studie zum Gesundheitswesen hat das Wort des Herrn Bundeskanzlers „Am Grundsatz der freien Arztwahl und einer freien Ausübung der Heilberufe wollen wir festhalten" eine gewachsene Bedeutung. Wir vermissen aber bei der gegenwärtigen Lage ein Wort dazu, daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient nicht durch Entwicklungen belastet werden darf, die mit Wissenschaft und Medizin nur noch zum Teil etwas zu tun haben und dabei Gefahr laufen, den einzelnen Menschen aus dem Auge zu verlieren. Er nämlich muß es sein, der im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Diskussion steht, auch bei der notwendigen Verbesserung der Struktur des Krankenhauses und der Effizienz des Gesundheitswesens.
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Mit Ihrer Regierungserklärung haben Sie, Herr Bundeskanzler, auch in diesen Bereichen ein sozusagen wohltemperiertes Weltbild gezeichnet, in dem einiges angedeutet ist, dem aber insgesamt eine aussagekräftige Struktur fehlt, besonders auf diesem wichtigen Gebiet der Gesellschaftspolitik. Weder sind für uns die inneren Verbindungslinien zu erkennen, noch wird das Ziel einer auf Grundsätzen beruhenden Gesellschaftspolitik deutlich. Deutlich wird das Bestreben, die Gesellschaft der Bundesrepublik mit einer neuartigen, übergreifenden und umformenden Art - lassen Sie mich das in diesem Zusammenhang sagen - von Familienideologie auszustatten.
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Sie haben mit erstaunlichem Mut die gegenwärtige Situation der Gesellschaft ausgeklammert und drängende Fragen offengelassen. Sie haben zwar versprochen, den Staat zum Besitz aller zu machen, aber wir werden aufpassen müssen, daß der Staat nicht zum Besitzer aller wird.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Arendt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Aussprache über die Regierungserklärung dürfen Grundsätze und Aufgabenstellungen der Bundesregierung nicht verloren gehen. Lassen Sie mich deshalb zu Beginn meiner Ausführungen einen Überblick über unsere sozial- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen geben. In der vergangenen Legislaturperiode lag neben der Schaffung einer neuen, einer besseren Betriebsverfassung ein besonderer Schwerpunkt unserer Arbeit auf dem Gebiet der sozialen Sicherung: ihre Ausdehnung auf bisher nicht geschützte Personenkreise, ihre Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung, die Modernisierung des Leistungsrechts und die Stärkung der Vorsorge. Das Rentenreformgesetz, die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung und die Weiterentwicklung der Krankenversicherung stehen als markante Beispiele.
Die Grundsätze der Sozialpolitik der 6. Legislaturperiode werden insoweit auch Richtschnur für die nächsten vier Jahre sein. Die sozialpolitische Arbeit des neuen Gesetzgebungsabschnittes wird aber ihren eigenen spezifischen Akzent haben. Ich darf das an Hand einiger Thesen erläutern.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Stellung des Arbeitnehmers in unserer Gesellschaft festigen und ausbauen. Der zentrale Punkt wird dabei die Ausdehnung der Mitbestimmung sein.
Wir wollen uns besonders der Arbeitsumwelt annehmen. Wo staatliches Handeln möglich ist, will die Bundesregierung das ihre zur Humanisierung des Arbeitslebens beitragen. Sie wird sich dabei auf die Kräfte der Tarifparteien und der Selbstverwaltung stützen.
Wir wollen unsere Wirtschaftsordnung gerechter gestalten. Deshalb wollen wir breite Schichten am Zuwachs des gemeinsam erarbeiteten Produktivvermögens beteiligen.
Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, daß unsere Gesellschaft menschlicher wird. Wir werden uns deshalb verstärkt den Behinderten, den vom Strukturwandel betroffenen Menschen und den ausländischen Arbeitnehmern zuwenden.
Wir wollen uns dafür einsetzen, daß die Europäische Gemeinschaft eine demokratische und soziale Komponente erhält, daß Europa mehr als bisher zur Heimstatt der Arbeitnehmer wird.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, dazu noch die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung nehmen, die ich bereits erwähnt habe, so haben Sie einen Überblick liber unsere Gesamtkonzeption für diese Legislaturperiode.
Nun, meine Damen und Herren, zu den einzelnen Punkten.
Die Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft müssen ausgebaut und gefestigt werden. Im Mittelpunkt steht für mich dabei die humane und gerechte Gestaltung der Verhältnisse in der Arbeitswelt. Wir wollen den mündigen Bürger. Bei dieser Zielsetzung darf der Bereich des Arbeitslebens nicht ausgespart blei284
ben. Es widerspräche den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft, wollte man Mitgestaltungsansprüche des Bürgers etwa nur auf seinen Freizeitbereich verweisen. Millionen von Arbeitnehmern sind durch die Erfahrungen im Arbeitsleben geprägt: durch ihre Chancen, sich beruflich und persönlich zu entfalten; durch ihre Möglichkeiten, auf die Bedingungen der Arbeit Einfluß zu nehmen; durch die Sorge, ausreichend finanziell, sozial und rechtlich gesichert und gesundheitlich geschützt zu sein.
Deshalb wird die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen Kernstück unserer Sozialpolitik in den kommenden vier Jahren sein.
Nachdem die Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer innerhalb der Betriebe in der vorigen Legislaturperiode durch das neue Betriebsverfassungsgesetz entscheidend verbessert worden sind, soll nunmehr der Grundsatz der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Arbeit und Kapital auch auf der Ebene des Unternehmens seinen Ausdruck finden.
Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen diese Mitbestimmung durchaus kontrovers beurteilt wird. Es gibt verschiedene Mitbestimmungsmodelle. Man weiß von unterschiedlichen Auffassungen auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion.
Die Regierungskoalition verhehlt nicht, daß auch in ihren Reihen die Diskussion noch nicht abgeschlossen ist. Ich bin aber sicher, meine Damen und Herren: Wir werden - wie beim Betriebsverfassungsgesetz - zu einer befriedigenden Lösung kommen. Die Mitbestimmungsfrage wird nicht ausgeklammert.
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Durch die Arbeiten an der Mitbestimmung darf nicht die Aufgabe vernachlässigt werden, die Rechtsstellung der Arbeitnehmer entsprechend der sozialen Wirklichkeit in einer modernen Industriegesellschaft neu zu gestalten. Die Arbeiten am Sozialgesetzbuch werden ebenso wie die Arbeiten am Arbeitsgesetzbuch intensiv fortgesetzt. Die Schaffung eines umfassenden Arbeitsgesetzbuches ist eine anspruchsvolle und längerfristige Aufgabe, die nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Wir werden aber in dieser Legislaturperiode damit fortfahren, das gesetzliche Arbeitsrecht in den Bereichen fortzuentwickeln, in denen eine Initiative des Gesetzgebers besonders dringlich ist. Ich meine hier vor allem das Recht des Arbeitsverhältnisses.
Ferner wollen wir den Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen - wie etwa der Gruppen der freien Mitarbeiter an Tageszeitungen, bei Funk und Fernsehen, der Handelsvertreter und auch der freien Schriftsteller - dadurch stärken, daß auch für sie die Möglichkeit geschaffen wird, ihre Beschäftigungsbedingungen durch Tarifvertrag zu regeln. Dies steht nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit den Bestrebungen der freiberuflich geistig und kulturell Schaffenden, sich zu organisieren, um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, die Forderung nach einer sicheren, menschenwürdigen Umwelt beziehen Millionen von Arbeitnehmern mit Recht zuerst auf ihren Arbeitsplatz, auf ihre Arbeitsumwelt. Wir werden den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit durch gesetzliche Regelungen, Forschung und Aufklärung weiter verbessern. Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf über Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit wieder einbringen. Alle Betriebe sollen zum Ausbau des medizinischen und technischen Schutzes ihrer Arbeitnehmer verpflichtet werden.
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Besonders ernst nehme ich dabei die Sorge um die jugendlichen Arbeitnehmer. Die heutigen Vorschriften zum Jugendarbeitsschutz entsprechen nicht mehr den veränderten Verhältnissen im Arbeitsleben. So kommt z. B. häufig der Ausbildungsanspruch der Jugendlichen zugunsten der wirtschaftlichen Ansprüche der Betriebe zu kurz. Wir werden deshalb das Jugendarbeitsschutzgesetz novellieren und uns dafür einsetzen, daß seine Vorschriften besser eingehalten werden.
Dem Ziel, die Position des Arbeitnehmers in der Gesellschaft zu festigen, dient auch die Vermögenspolitik der Bundesregierung. Die Marktwirtschaft, das zeigt die öffentliche Diskussion, bedarf der sozialen Korrektur. Eigentum am gemeinsam erarbeiteten Zuwachs des Produktivvermögens muß schon im Ursprung gerechter auf alle verteilt werden.
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Die Vermögenspolitik wird in der neuen Legislaturperiode damit einen neuen Ansatz finden. Dabei werden wir an die Eckwertbeschlüsse der Bundesregierung vom Juni 1971 anknüpfen können. Dazu kommen die erheblichen Auswirkungen des 624-DMGesetzes, dessen Bedeutung auch in der nächsten Zeit noch weiter zunehmen wird.
Mehr Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit brauchen wir auch in der sozialen Sicherung. Die Weiterentwicklung der Krankenversicherung gehört dazu. Hier stehen wir auch in der neuen Legislaturperiode vor zwingenden Aufgaben.
Der Wandel unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen stellt neue Anforderungen an die Gesundheitssicherung. Der medizinisch-technische Fortschritt schafft neue Möglichkeiten. Beides, meine Damen und Herren, bedeutet für lange Zeit erhebliche Kostensteigerungen. Das kann nicht ohne Folgen für Leistungen und Finanzierung der sozialen Krankenversicherung bleiben.
Soziale Sicherung durch die gesetzliche Krankenversicherung wird für die heute noch ausgeschlossenen Personengruppen immer wichtiger. Deshalb müssen wir in den nächsten Jahren Möglichkeiten der Ausdehnung und der Öffnung prüfen.
Leistungsverbesserungen sind insbesondere bei der Früherkennung von Krankheiten und bei der Gesundheitsvorsorge nötig. Andere Verbesserungen zeichnen sich ab, meine Damen und Herren, wenn ich z. B. an das neue Rehabilitationsgesetz oder an die Initiativen aus der Mitte des 6. Deutschen Bundestages erinnere.
Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in Stadtrand- und Landgebieten muß garantieren, daß alle Bürger möglichst gleiche Chancen in der Gesundheitssicherung haben.
Bei all diesen Fragen wird die Bundesregierung großen Wert auf die Hilfe durch die Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung legen.
Auch nach der Reform der Rentenversicherung in der vorigen Legislaturperiode werden wir die Alterssicherung in den nächsten Jahren weiter verbessern.
In der Rentenversicherung bleiben zunächst allerdings einige nötige Aufräumungsarbeiten aus der Verkrampfung der letzten Legislaturperiode im vorigen September.
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Die finanziellen Auswirkungen der Rentenreform
aus der vergangenen Legislaturperiode werden wir
in den nächsten Jahren sorgfältig im Auge behalten.
Neben einigen Anpassungen und Verbesserungen im Rentenbeitrags- und Leistungsrecht stehen wir vor der großen Aufgabe - meine Damen und Herren, wir alle -, gemeinsam nach Wegen für mehr eigenständige soziale Sicherung für die Frau zu suchen. Dazu wird die Sicherung der Frau im Falle der Ehescheidung ein wichtiger Baustein sein.
In der betrieblichen Altersversorgung werden wir schon bald die in der vorigen Legislaturperiode vorbereiteten Absicherungen vorlegen. Dabei geht es vor allem um die Unverfallbarkeit der Versorgungszusagen bei Arbeitsplatzwechsel der Anspruchsberechtigten.
Auch bei einem umfassenden System sozialer Sicherung müssen wir uns weiterhin den Problemen zuwenden, die sich aus der besonderen Situation einzelner Gruppen ergeben, die trotz Vollbeschäftigung und wirtschaftlichem Wachstum im Schatten stehen. Ich will dabei zwei Gruppen besonders erwähnen: die Schwerbeschädigten und die Behinderten. Wir haben schon im Jahre 1970 für die Behinderten unsere Vorhaben in einem Aktionsprogramm zusammengefaßt und der Öffentlichkeit übergeben. In der letzten Legislaturperiode waren wir dabei, dieses Aktionsprogramm Schritt für Schritt zu verwirklichen. Diesen Weg werden wir fortsetzen. Es werden Ihnen demnächst das Gesetz zur Angleichung medizinischer und .beruflicher Leistungen zur Rehabilitation und eine Novelle zum Schwerbeschädigtengesetz vorgelegt. Die Vorarbeiten hierzu sind schon sehr weit gediehen. Wir werden aber auch prüfen, wieweit die vielen, von Geburt an körperlich, geistig oder seelisch Behinderten in den Schutz der sozialen Sicherung einbezogen werden können. Ein Gesetz über die soziale Sicherung der Behinderten, die in beschützenden Werkstätten tätig sind, wird ein erster Schritt sein. Ein ausgebautes Netz von Rehabilitationseinrichtungen für alle Bereiche der Rehabilitation soll dazu beitragen, die betroffenen Menschen besser in unsere Gesellschaft und in den Arbeitsprozeß einzugliedern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Aufgaben besonderer Art stellen sich uns im Zusammenhang mit einer anderen Gruppe in unserem Lande: den ausländischen Arbeitnehmern. Fast 2½
Millionen sind inzwischen in unserer Wirtschaft beschäftigt. Dabei wird immer deutlicher, daß die Aufnahmefähgkeit der sozialen Infrastruktur mit der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes nicht Schritt hält. Die ausländischen Arbeitnehmer dürfen aber nicht zu einer Randgruppe unserer Gesellschaft werden.
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Wir werden deshalb bald prüfen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Interesse an der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer mit der Notwendigkeit ihrer angemessenen Eingliederung in unsere Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die Zuwanderung von ausländischen Arbeitnehmern muß daher an die Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur angepaßt werden.
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Die Bundesregierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat bereits Schritte in dieser Richtung unternommen:
Seit April 1971 sind die Richtlinien für angemessene Unterkünfte den modernen Mindestanforderungen angepaßt worden,
Bis November 1972 war es den Staatsangehörigen von Anwerbeländern möglich, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik aufzunehmen, ohne die Anwerbekomrnission der Bundesanstalt für Arbeit einzuschalten. Davon hat im Jahre 1971 rund ein Drittel aller neu Einreisenden Gebrauch gemacht. Dieser Weg ist grundsätzlich gesperrt worden. Nun ist die Einschaltung der Bundesanstalt für Arbeit zwingend erforderlich. Das hat zur Folge, daß bei der Vermittlung des weitaus größten Teils der ausländischen Arbeitnehmer die Unternehmer z. B. angemessene Unterkünfte für die anzuwerbenden Arbeitskräfte nachweisen müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird weitere Schritte unternehmen, um ein gesellschaftspolitisch sinnvolles Gleichgewicht zwischen der Aufnahmefähigkeit der Infrastruktur und den berechtigten Forderungen unserer ausländischen Mitbürger herzustellen. Einen Schwerpunkt werden dabei die Ballungsgebiete bilden, in denen Norm und Wirklichkeit am weitesten auseinanderklaffen.
Auf dem Gebiet der internationalen Sozial- und Gesellschaftspolitik ist unser Blick vor allem auf die Europäische Gemeinschaft gerichtet. Die fortschreitende europäische Integration muß über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgehen. Auf deutsche Initiative hin hat die Pariser Gipfelkonferenz im Oktober die Organe der Gemeinschaft aufgefordert, ein sozialpolitisches Aktionsprogramm zu erstellen. Stichworte, die dieses Programm auffüllen, sind: eine abgestimmte Politik auf dem Gebiete der Beschäftigung und der Berufsausbildung, eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die Mitwirkung der Arbeitnehmer in den Organen der Unternehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes unterstreichen. Wir brauchen keinen neuen Anfang auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Wir können uns auf das Vertrauen breiter Schichten unseres Volkes stützen. Wir wissen aber auch, daß das kein blindes Vertrauen ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode ihren Willen und ihre Leistungsfähigkeit zu Reformen in den wichtigen Bereichen der Gesundheitssicherung und der Alterssicherung, in der Vermögensbildung und der Betriebsverfassung bewiesen. Auf diesem Wege können, müssen und werden wir weitergehen.
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Wir können und wollen dies nicht im Alleingang tun. Im Rahmen der sozialpolitischen Gesprächsrunde werden wir das Gespräch mit den großen Gruppen in unserer Gesellschaft fortsetzen. Ich hoffe aber auch, meine Damen und Herren, auf die Mitarbeit der Opposition in diesem Hohen Hause.
Im Herbst dieses Jahres werde ich dem Parlament wieder einen Sozialbericht vorlegen, der das gesellschaftspolitische Programm der Bundesregierung eingehend erläutert. Das Sozialbudget wird zeigen, daß die Sozialpolitik und die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung aufeinander abgestimmt sind. Sie alle, meine Damen und Herren, werden erkennen, daß es in der Sozial- und Gesellschaftspolitik in den nächsten Jahren keinen Stillstand geben wird.
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Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Focke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Wort des Dankes für meine Vorgängerin Käte Strobel beginnen.
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Ihre Arbeit erlaubt es mir, auf einer guten Grundlage weiterzubauen. Dies zu sagen ist für mich sowohl Ausdruck politischer Kontinuität wie persönliche Verpflichtung für meine zukünftige Tätigkeit. Käte Strobel hat gezeigt, daß es zwischen den Aufgaben sozialer Sicherung, wie sie vor allem durch den Ausbau z. B. der Renten- und Krankenversicherung wahrgenommen werden, und denen der Bildungsreform mit den Schwerpunkten Schule, Hochschule und Berufsbildung eigenständige gesellschaftspolitische Aufgaben gibt, die noch mehr als in anderen politischen Bereichen den jungen wie den älteren Bürger als Individuum ansprechen und für seine sehr persönliche Qualität des Lebens sorgen. Soziale Hilfen in besonderen Lebenslagen auf Grund eines ganz persönlichen Schicksals wird es auch bei einem noch so vollkommenen Ausbau unseres Systems der sozialen Sicherung allein deshalb immer geben müssen, weil keine politische Bemühung den Faktor Glück oder Unglück im menschlichen Leben und das, was dieser Faktor für Chancengleichheit - oder besser -ungleichheit - bedeutet, sozusagen schematisch ausgleichen könnte.
Jugendhilfe und Hilfe für ältere Menschen zur Ergänzung und Stärkung der Solidarität zwischen den Generationen - und damit, Frau Wex, natürlich auch der Integrationsfähigkeit der Familien - erfordert über die Sicherung der materiellen Existenz hinaus ein ganzes Bündel von Maßnahmen - beratende, erzieherische, soziale, medizinische -, und sie verlangen das Zusammenwirken von staatlichen und privaten Kräften - ich betone es hier noch einmal - auf allen Ebenen. Anstöße und Hilfen in solcher übergreifender Zusammenarbeit zu geben, wobei es nicht zuletzt und gerade auch immer wieder darauf ankommt, die jungen und die älteren Mitbürger beim Zusammenwirken hierbei zu beteiligen, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit.
Dies gilt selbstverständlich auch und ganz besonders für die Eingliederung der Behinderten und Schwerbeschädigten, auf die die Regierungserklärung einen ebenso entschiedenen Akzent gesetzt hat wie auf die Fortsetzung des Kampfes gegen den Drogen- und Rauschmittelmißbrauch. Über letzteren dachte ich eigentlich, seien wir in diesem Hause alle einig. Dann müssen wir ja wohl auch alle zusammen wissen, daß dem Problem mit Polizei und Gesetzen allein nicht beizukommen ist und es bisher leider auch Grenzen in der Wirksamkeit aufklärender, beratender, medizinischer und sozialer Maßnahmen gibt. Es erscheint mir deshalb wenig hilfreich, Herr Barzel, daß Sie in dem ZDF-Interview vom vergangenen Sonntag den Eindruck zu erwecken suchten, als hätte es die Bundesregierung bisher bei Worten bewenden und an Taten fehlen lassen, und es dabei doch einzig und allein auf einen ganz bestimmten Paragraphen, der mehr Härte, mehr Starrheit in den Strafbestimmungen des Opiumgesetzes vorsah, abgestellt hatten.
Meine Damen und Herren, ich kann hier heute leider nicht so lange stehen, wie ich gern sprechen möchte. Daß ich mich trotzdem humpelnd auf den Plan gerufen fühlte, so lag das an dem Diskussionsbeitrag von Frau Wex. Er hat Vorwürfe und Ängste enthalten, die mir doch erheblich an der tatsächlichen Politik und an den Absichten dieser Koalition vorbeizuzielen schienen.
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Das mag vielleicht nicht einmal so schlimm sein. Schlimmer finde ich, daß Sie eigentlich erheblich an der Wirklichkeit der Familienmitglieder in der heutigen Bundesrepublik Deutschland vorbeigezielt haben.
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Ich glaube nicht, daß die Mitglieder der heutigen Familien im Lande das, was eine Regierung, was eine Koalition für die Familie in unterschiedlichsten Funktionen tut, daran messen, wie oft das Wort Familie in einer Regierungserklärung vorkommt,
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wobei ich übrigens - damit das ganz korrekt dasteht - daran erinnern möchte, daß der Bundeskanzler in einem Zusammenhang sehr deutlich an Familiensinn appelliert hat.
Ich möchte also statt dessen eher darauf vertrauen, daß der Wahlausgang des 19. November 1972 eigentlich sehr deutlich zu erkennen gegeben hat, daß die Familienmitglieder in diesem Lande und die Frauen sehr wohl wissen, wer ihre Interessen, so wie das den heutigen Bedürfnissen entspricht, wahrnimmt.
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Wenn ich auch verstehen kann, Frau Wex, daß gerade Sie nach diesem Wahlausgang die Frauen neu entdeckt haben, so habe ich doch große Zweifel, ob der Ansatz, der heute in diesem Diskussionsbeitrag geboten worden ist, das ist, was die Frauen dazu bewegen könnte, ihre Interessen besser bei der CDU/CSU aufgehoben zu sehen. Ich bin sicher, daß sich meine Fraktions- und Koalitionskolleginnen mit dem Familiengemälde abseits der Gesellschaft in einem geborgenen Winkel und den Gefahren, die dieser Familie drohen - wie Sie sie geschildert haben -, noch ausführlich auseinandersetzen werden.
Mir liegt daran, bevor ich das Rednerpult verlasse, doch auch noch einmal auf die auch von Ihnen wieder angeknüpfte Diskussion über die Bedeutung von Leistung in unserer Gesellschaft zurückzukommen, eine Diskussion, die wir gestern schon geführt haben, die sich aber immer wieder wie ein roter Faden als eine gewisse grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen uns durch die Aussprache über die Regierungserklärung zieht. Genaugenommen, Herr Barzel, ist es dabei ein Satz aus Ihrer ersten Erwiderung auf die Regierungserklärung - ausgesprochen am 18. Januar 1973 -, der mich besonders hellhörig gemacht hat. Sie sagten nämlich am vergangenen Donnerstag, daß von allen Verteilungsprinzipien die Verteilung nach der Leistung immer noch die gerechteste sei.
Die CDU/CSU hat sich die Frage, nach welchen Kriterien eine solche Leistung eigentlich gemessen werden sollte, schon gefallen lassen müssen. Herr Barzel, ich räume ein, daß Sie gesagt haben, Leistung könne man sicher nicht ausschließlich nach dem Entgelt bewerten.
Aber darüber hinaus würde ich Sie gern fragen, wie Sie sich eigentlich das Verteilungsprinzip „Leistung" für die Zuteilung von Gesundheit, Umweltschutz, Bildungschancen in der Familie oder in der frühkindlichen Erziehung überhaupt,
({5})
von Rehabilitationschancen für Behinderte oder Rauschgiftsüchtige vorstellen. Ich habe nur ein paar Güter herausgegriffen, für deren gerechte Verteilung das Prinzip „Leistung" doch sicher vollkommen versagt.
({6})
Es liegt mir fern, Leistung und Leistungsbereitschaft gering zu schätzen. Auch ich erinnere daran, daß der Herr Bundeskanzler davon gesprochen hat, daß Demokratie Leistung braucht. Aber ebenso, wie mein Kollege Erhard Eppler schon gestern Herrn von Weizsäcker auf die Fragwürdigkeit oder zumindest Mißverständlichkeit seiner Leistungsphilosophie angesprochen hat, so möchte ich gern Sie, Herr Barzel, fragen, wogegen Sie sich eigentlich wehren, wenn Sie eine bürokratische Zuteilung von Lebenschancen - so haben Sie es in diesem Zusammenhang auch ausgedrückt - ablehnen. Ich hoffe, Sie wehren sich nicht dagegen, daß durch politische Entscheidungen, die dann allerdings auch durch Bürokratien verschiedener Art durchgeführt werden müssen, Jugendhilfe für diejenigen jungen Menschen gewährt wird, denen ihre Familiensituation keine hinreichenden Lebenschancen eröffnet.
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- Sie sprachen davon, daß Sie sich gegen die bürokratische Zuteilung von Lebenschancen wehren. Ich frage: Ist das nicht auch etwas, was - auf Grund einer politischen Entscheidung - Bürokratien mit verwirklichen müssen, um Lebenschancen besser zu verteilen?
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Dasselbe gilt für meine Frage, ob Sie sich dagegen wehren, daß das Sozialhilfegesetz reformiert und entsprechend angewandt wird - durch was sonst außer durch Bürokratien -, um noch mehr Fällen von sozialer Not gerecht werden zu können.
Dasselbe gilt für die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Besserung der sozialen Dienste - ich stimme mit Ihnen überein, Frau Wex, daß das ein I wichtiger Punkt ist -, nicht im Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit geprüft und, soweit wir etwas dazu beitragen können, auch geschaffen werden. Das alles gehört mit dazu, daß Lebenschancen verbessert werden.
Das gilt auch für die Chancen vieler Frauen bezüglich einer ihnen gemäßen Lebensgestaltung durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen, über die die Bundesregierung gegen Ende der letzten Legislaturperiode in dem Bericht über die Verbesserung der Situation der Frauen ja auch ausführlich Rechenschaft gegeben hat.
Ich möchte hier hinzufügen, Frau Wex, daß wir eben nicht unterschiedliche Rollen der Frauen werten und sagen: Dieses ist diejenige Rolle, die nach unserer politischen Meinung Priorität genießt. Wir wollen vielmehr die Möglichkeit der Frauen unterstützen und vergrößern, frei zu wählen, was sie tun wollen und was sie in bezug auf ihre Lebensgestaltung für richtig halten.
({9})
Ist es nicht etwa auch eine Mitwirkung von Bürokratien an der Verbesserung von Lebenschancen, Herr Barzel,
({10})
wenn wir den Verbraucherschutz durch ein neues Lebensmittelrecht und durch mehr Arzneisicherheit verbessern und kontrollieren, wenn wir auch dafür sorgen - als öffentliche Aufgabe -, daß sich ältere Menschen mehr als bisher selber unabhängig behaupten und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können?
Ich erinnere auch daran, daß das ganze Problem der Gesundheitssicherung durch mehr Vorsorge und Früherkennung, durch bessere Krankenhausversorgung, durch ein regional und sozial gerechteres Angebot an modernen medizinischen Leistungen für alle Menschen nur dann gelöst werden kann, wenn, nach entsprechenden politischen Entscheidungen, auch durch Bürokratien - ich weiß nicht, warum dies ein so abwertendes Wort sein muß - dafür gesorgt wird, daß die Zuteilung gerechter erfolgen kann.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Ja.
Frau Minister, ist Ihnen bekannt, daß viele Jugendverbände von der Sorge getragen werden, daß die Mittelvergabe in Zukunft tatsächlich an zu viele staatliche Auflagen gebunden sein könnte, und daß dies die Sorge unseres Fraktionsvorsitzenden war, als er von „zuviel Bürokratismus" sprach?
Ich weiß, daß es eine Diskussion, die ich partnerschaftlich fortzusetzen gedenke, über die Kriterien für die Vergabe von Mitteln zur Förderung von Jugendverbänden gibt; aber das, was ich hier auf Grund des Dikussionsbeitrages von Herrn Barzel vom vergangenen Donnerstag, heute vor einer Woche, zitiert habe, hat mit diesem Teilproblem gar nichts zu tun.
({0})
Dies ist genauso wie die Auseinandersetzung gestern mit dem Zitat von Herrn von Weizsäcker in bezug auf die bürokratisch abgepackten Zuteilungen von Lebenschancen
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- ich habe das Zitat nicht vor mir liegen, die Auseinandersetzung, die zwischen Ihnen und Herrn Eppler stattgefunden hat, ein Sich-Verwahren gegen das, was wir im Grund als die notwendige öffentliche Hilfe betrachten, damit der einzelne bessere und gerechtere Lebenschancen hat.
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Ich habe dazu hier nur einige Stichworte aufzählen können und einige der Voraussetzungen anzudeuten versucht, die für eine bessere Qualität des Lebens öffentlich geleistet werden müssen, wobei es keineswegs darum geht, daß diese Dinge nur vom Staat allein, nur von uns in diesem Parlament oder in der Regierung geregelt werden können.
Vieles davon, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, scheint mir zugleich Voraussetzung dafür
zu sein, daß Menschen überhaupt Leistungen erbringen können,
({3})
ob es nun, wie ich bei manchen von Ihnen vermute, in einer mehr ökonomischen Interpretation von Leistung diskutiert wird oder mehr in der von Selbstentfaltung. Am einleuchtendsten dürfte das bei dem gesamten Problem der Gesundheitssicherung sein; aber viele Stichworte weisen in dieselbe Richtung.
Ich hoffe deshalb, daß ich Sie von der Fragwürdigkeit des absoluten Verteilungsprinzips Leistung für gerechte soziale Chancen etwas habe überzeugen können. Natürlich würde es mich außerdem freuen, wenn die Stichworte, die ich Ihnen aufgezählt habe, Ihnen nahegebracht haben, welche wichtigen Aufgaben innerhalb der gesamten Reformpolitik dieser Bundesregierung das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zur gerechteren Verteilung von sozialen Chancen leistet; darüber ein andermal noch mehr.
({4})
Frau Bundesminister, unbeschadet der derzeit recht lebhaften politischen Kontroverse wünscht Ihnen das ganze Haus eine baldige Wiederherstellung Ihrer Gesundheit.
({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Katzer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Focke, ich komme in meinen Bemerkungen nachher noch zur Frage des Leistungsprinzips zurück. Ich bin etwas erstaunt. Der Herr Bundeskanzler hat diesem Leistungsprinzip in einem außergewöhnlichen Maße in der Regierungserklärung Rechnung getragen. Es ist, glaube ich, an drei Stellen davon die Rede, und zwar in einem Augenblick, in dem die Christlich-Demokratische Union von der humanen Leistungsgesellschaft gesprochen hat und damit zum Ausdruck bringt, daß Leistung ein wesentlicher, aber natürlich nicht der alleinige Bemessungsgrad sein kann und daß wir sehr wissen, daß der Mensch gewertet wird, auch der und gerade der, der ohne eigene Schuld nicht leistungsfähig ist. Da sollten Sie nicht solche Polemik hier an den Anfang der Diskussion stellen.
({0})
Dennoch begrüße ich es, daß dieser Punkt herausgestellt worden ist; denn das soll - das ist vielleicht ein Verdienst des Bundeskanzlers und seiner Regierungserklärung - dazu führen - die gestrige Debatte hat das deutlich gezeigt -, daß wir vielleicht etwas tiefer über die Grundlagen unserer Politik und die Anlage unsere Politik miteinander diskutieren.
Lassen Sie mich dazu einige Bemerkungen machen. Herr Bundeskanzler, Sie gehen diesmal in dieser Regierungserklärung etwas sparsamer mit dem anspruchsvollen Wort „Reform" um. Ich möchte meinen, es ist erlaubt, darin mehr als einen Zufall zu sehen. Ihre Mitarbeiter an der Regierungserklärung
scheinen offenbar die Erfahrung gemacht zu haben, was es heißt, der Wortwahl nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
Was also hat der sparsamere Gebrauch des Wortes „Reform" zu bedeuten? Nun, sicher nicht, daß es bei uns nach dreijähriger Regierungszeit und sechsjähriger Regierungsverantwortung - Herr Bundeskanzler, am Ende dieser Legislaturperiode werden Sie zehn Jahre in der Regierungsverantwortung stehen; das sollte niemand hier im Raum, aber auch niemand draußen im Lande übersehen, denn manchmal wird so getan, als hätte das alles erst vor ein paar Tagen angefangen - nichts zu reformieren gäbe. Im Gegenteil, Erneuerungen tun heute so not wie zu jeder Zeit, und viele der angekündigten Vorhaben sind alte Bekannte, die wir schon aus der Regierungserklärung von 1969 kennen. Mir scheint eher, daß sich hier die Erkenntnis niedergeschlagen hat, die auch andere machen müssen, daß es mit dem Willen zur Reform allein noch nicht getan ist. Für diese Lesart spricht, daß der Bundeskanzler, der sich 1969 noch als Kanzler der inneren Reformen feiern ließ, heute so erstaunliche Sätze wie diesen verwendet:
Reformgerede, hinter dem sich nur Gehaltsforderungen tarnen, taugt wenig.
Man muß in der Tat, von diesem Satz ausgehend, etwas tiefer in die Grundsätze hineingehen, wie ich glaube; denn das alles kann man so verbal nur unterstreichen. Wir haben uns, wie Sie sich erinnern werden, in vielen Debatten in diesem Hause gegen die Inflationierung des Wortes „Reform" gewehrt und haben gesagt, dadurch leide die Reformidee insgesamt Schaden. Wir hätten es auch noch mehr begrüßt, Herr Bundeskanzler, wenn Sie endlich durch eine klare Aussage mit dem falschen Anspruch Schluß gemacht hätten, als ob einzig Ihre Partei den Reformwillen und die Reformfähigkeit besitze. Wenn Sie das getan hätten und so in den Wettstreit um die Zielrichtung der Reformen eingetreten wären, wäre dieser Regierungserklärung und der Aussprache mehr gedient gewesen.
({1})
Statt dessen bezeichnen Sie Ihre Politik schlicht und einfach als „neue Mitte". Kollege Strauß hat dazu gestern einige Bemerkungen gemacht. Ich kann nur sagen, damit werden - und sollen es doch offenbar - alle anderen Parteien und Strömungen als links oder rechts von dieser Mitte qualifiziert. Herr Bundeskanzler, soll das etwa heißen, daß es nach Ihrer Ansicht außer den Anhängern dieser Koalition nur noch ideologisch Verblendete, reaktionäre Einfallslose und Interessenabhängige gäbe? Eine solche Klassifizierung ist falsch; wir wehren uns ganz entschieden gegen diesen Versuch, sie auch nur aufkommen zu lassen.
({2})
- Herr Kollege Schäfer, dies ist auch undemokratisch, wenn es so gemeint wäre.
({3})
Wir werden es ja hören, denn Demokratie lebt von der Voraussetzung - darin haben wir heute morgen Anschauungsunterricht bekommen -, daß keine Partei die Wahrheit gepachtet hat. Nur so ist ein fruchtbarer politischer Dialog miteinander möglich. Wenn ich das recht sehe, ist das ja wohl im Kern der Vorzug der Demokratie gegenüber der Diktatur. Ich weise daher diese Auffassung, falls sie so gemeint sein sollte, für meine Freunde mit Nachdruck zurück, und ich weise sie mit Nachdruck für mehr als 16,8 Millionen Wähler zurück, die ihr Mandat in unsere Hände hier im Deutschen Bundestag gelegt haben.
({4})
Ich weise diese Auffassung nicht zuletzt auch, wenn Ihnen das sympathischer ist, als Vorsitzender der Sozialausschüsse der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft zurück. Wir haben eine andere Vision von der Gesellschaft als Sie, deshalb arbeiten wir in der Christlich-Demokratischen Union. Auch wenn wir auf katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik fußen, so wissen wir doch, daß auch wir selbstverständlich nicht allein im Besitz der Wahrheiten sind. Wir halten deshalb nichts davon, politisch Andersdenkende zu verteufeln oder als interessenabhängig zu disqualifizieren. Umgekehrt geht das aber auch nicht.
({5})
Wir begrüßen in der Regierungserklärung das Wort - das Bekenntnis fast - des Kanzlers zu der „realen Freiheit". Hier, Frau Focke, beginnt doch eigentlich die geistige Auseinandersetzung zwischen dem, was Sie gesagt haben, und dem, was der Kollege Barzel gesagt hat. Die Skepsis beginnt doch bei der Frage, ob die Regierung tatsächlich auf dem Weg zu den Zielen ist, die sie uns nennt.
({6})
Denn ebenso wie für die vergangene Legislaturperiode besteht unseres Erachtens auch jetzt ein deutlicher Widerspruch zwischen proklamiertem Ziel und Leistung. So müssen wir doch jetzt schon einen Abstand zwischen dem Anspruch dieser Regierung und der Realität feststellen. Es stellt sich die Frage: was meint diese Regierung in Wirklichkeit, in concreto, mit Worten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Leistung? Das Ist der Sinn einer Aussprache über die Regierungserklärung, dem nachzuspüren zu versuchen. Ich will mich mit drei Bemerkungen zu drei Punkten darum bemühen.
Erstens. Ein unvollständiges Abbild gesellschaftlicher Realitäten zeichnet meines Erachtens die Regierungserklärung bei der Behandlung des immer weiter fortschreitenden Verfalls unseres Geldwertes. Denn es fehlt hier völlig der Hinweis auf den absolut unsozialen Aspekt der inflationären Entwicklung.
({7})
Es ist doch klar, daß für jemand, für den die Wiedergewinnung der Preisstabilität nicht auch sozialpolitisch motiviert ist, diese Frage in der Rangskala leicht um einige Stufen nach unten rutscht. Es müßte
sich doch allmählich herumgesprochen haben, daß gerade die Gruppen, die sich nicht aus eigenes Kraft, Frau Focke, das ihnen zukommende Stück aus dem Kuchen des Bruttosozialprodukts herausschneiden können, die Hauptleidtragenden einer inflationären Entwicklung sind. Darauf weisen wir doch ständig hin.
({8})
So verstanden, ist Stabilitätspolitik auch Sozialpolitik, fortdauernde Geldentwertung umgekehrt ein Verstoß gegen die soziale Gerechtigkeit. Gerade die Entwicklung der Renteneinkommen in den Jahren 1969 bis 1972 hat dies ja gezeigt. Ohne die von der Union initiierte und dann später durchgesetzte Anhebung der Renten wären die Rentner im sozialen Gefüge unserer Gesellschaft deutlich abgestiegen. Sie waren dagegen. Wir haben es auf den Tisch gelegt und dann auch durchgebracht.
({9})
Auch darauf haben wir in der Vergangenheit hingewiesen, und ich will es heute wiederholen: zunehmend tritt nun auch der unsoziale Aspekt der inflationären Entwicklung bei den Arbeitnehmereinkommen zutage. Preissteigerungen von 6,5 % sind doch schon lange kein Kavaliersdelikt mehr. In welche Sackgasse gerade die Arbeitnehmer durch die inflationäre Entwicklung geführt worden sind, wird insbesondere durch die Ergebnisse der letzten Lohnrunde immer deutlicher. Selbst Abschlüsse von über 8 % verhindern heute kaum mehr, daß die Arbeitnehmer nach Abzug von Preissteigerungen, Steuern und Sozialabgaben - einschließlich Steuererhöhungen - mit weniger Kaufkraft als im letzten Jahr nach Hause gingen.
({10})
Der Herr Kollege Junghans war es heute morgen in der wirtschaftspolitischen Debatte, der meinte, man müsse sich in der Union klarwerden zwischen den Kollegen Strauß und dem Kollegen Narjes, wie das eigentlich auszusehen habe. Der Kollege Konrad Ahlers, seit kurzem prominentes Mitglied der Fraktion hier im Hause, schreibt in der letzten Nummer der „Wirtschaftswoche" zu diesem Thema - ich zitiere wörtlich -:
Ich meine, daß die Gewerkschaften im Recht sind, wenn sie sich dagegen wehren, ,daß die Arbeitnehmer nun auch noch einen Konjunkturzuschlag zahlen sollen, dessen stabilitätspolitische Wirkungen besonders dann fraglich sind, wenn er eine Fortsetzung der maßvollen Tarifpolitik durchkreuzt.
In diesem Zusammenhang darf ich auch gleich ein paar Worte zu dem heute von Herrn Bundesminister Friderichs besonders apostrophierten Stabilitätsprogramm der Bundesregierung sagen. Hier darf ich wiederum Herrn Ahlers zitieren. Es ist ein hochinteressanter Artikel, den ich Ihrer Lektüre sehr empfehle. Es stehen auch interne Dinge der SPD-Fraktion darin, die wir alle mit großem Interesse zur Kenntnis genommen haben.
({11})
- Ich habe gestern so viele liebevolle Hinweise von FDP und SPD bekommen, was die CDU alles tun sollte, daß Sie jetzt meine Worte doch einmal dankbar entgegennehmen könnten.
({12})
Freuen Sie sich doch, daß Sie einen so freien Geist wie Herrn Ahlers haben, der uns in schöner Offenheit das alles darstellt! Das tut der Diskussion in unserem Land sehr gut und wird Ihnen, den reformerischen Kräften in Ihrer Partei, auf die Dauer ganz sicher sogar nutzen; davon bin ich persönlich überzeugt.
({13})
Herr Ahlers hat die auch vom Herrn Kollegen Wehner ,der Regierungserklärung vorgeworfene Enthaltsamkeit in Sachen der 15 Punkte angesprochen. Herr Ahlers griff das auf und sagte:
Die fünfzehn Punkte des aufgrund der Luxemburger Beschlüsse am 2. November zusammengestellten Stabilitätsprogramms, deren Erwähnung Herbert Wehner vermißt hatte, sind nur zum Teil verwirklicht und auch sonst kaum geeignet, die anhaltende Preisentwicklung zu stoppen, zumal dann nicht, wenn die Bundesregierung selber sich zu Preis- und Steuererhöhungen gezwungen sieht und bei der Regierungsbildung nicht einmal den guten Vorsatz, Stellen einzusparen, einhalten konnte.
Das aus dem Mund von Herrn Ahlers ist in der Tat interessant. Man kann nicht von Stabilitätspolitik reden und jedem die Verantwortung zuschieben, nur bei sich selbst, obwohl man die Möglichkeit in der Hand hat, nicht damit anzufangen, sondern im Gegenteil mit einer Aufblähung des Beamtenapparates diese Regierungsbildung zu beginnen.
({14})
Meine Damen und Herren, wo finden wir denn einen sozialen Ausgleich für die Arbeitnehmer? Wo ist denn das Korrektiv, das den Arbeitnehmern, die die Last der Stabilisierung mittragen sollen, garantiert, daß sie an den Chancen einer günstigeren wirtschaftlichen Entwicklung beteiligt werden?
Ich wundere mich, daß noch nicht der Zwischenruf gekommen ist - meistens kommt er spätestens im ersten Drittel der Rede -: Wo sind denn Ihre Alternativen? Sie fragen jetzt gar nicht mehr; Sie haben sie gesehen und niedergestimmt. So ist es.
Meine Damen und Herren, ich würde Sie bitten, zu prüfen - das zu sagen wird ja wohl erlaubt sein -, ob es denn nicht richtig ist, in diesem Augenblick den Arbeitnehmern eine Beteiligung am Zuwachs des Produktivvermögens der Wirtschaft anzubieten. Dies wäre doch ein Weg. Er wäre stabilitätspolitisch vertretbar ich sehe den Kollegen Rosenthal im Augenblick nicht -, verteilungspolitisch notwendig und erwünscht, und zwar, meine Damen und Herren, nicht irgendwann, sondern gerade jetzt, in dieser konjunkturellen Lage, würde eine solche vermögenspolitische Initiative hervorragend in die politische Landschaft passen. Wir vermissen sie leider schmerzlich.
({15})
Der Sachverständigenrat hat darauf ebenfalls besonders hingewiesen. Ich glaube, ohne mehr Stabilität und mehr Verteilungsgerechtigkeit sind soziale Spannungen bereits vorprogrammiert. Man denke an die Urabstimmung. Gerade im Hinblick auf einen Konjunkturzuschlag - der Finanzminister ist im Augenblick nicht da - ist das Anwachsen sozialer Spannungen doch schon heute nicht zu übersehen.
Damit sind wir bei einem zweiten wichtigen Punkt, an dem sich in concreto erweisen wird, was es mit mehr realer Freiheit auf sich hat. Ich meine eben die Ausgestaltung der Beteiligung unseres Volkes am Zuwachs des Produktivvermögens. Daß es sich hier um eine für die Existenz der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung entscheidende Frage handelt, ist inzwischen wohl im Hohen Hause unbestritten. In der Regierungserklärung wird die Ausarbeitung eines Vorschlages angekündigt, ohne daß im einzelnen gesagt wird, wohin die Reise geht. Angesichts der Dauer und Intensität der öffentlichen Diskussion dieser Frage ist die Aussage der Regierungserklärung dürftig. Das, verehrter Herr Arbeitsminister, was Sie dazu gesagt haben, ist gegenüber dem, was von der FDP, vom Herrn Kollegen Mischnick in der Konkretisierung gerade zur Vermögensbildung gesagt wurde, geradezu eine Verschleierung, eine geringere Aussage als das, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt hat.
Mir scheint, die Auffassungen im Koalitionslager haben eine sehr große Bandbreite. Sie reichen von Stimmen, die sich für eine Vervielfältigung der Eigentümerpositionen im Sinne liberaler Traditionen aussprechen, wie Herr Kollege Mischnick das sehr deutlich und präzise getan hat, bis hin zu jener offenbar wachsenden Zahl von politischen Kräften, die eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen überhaupt nicht wünschen, weil sie in ihr nur ein Hindernis für die Abschaffung des Privateigentums sehen.
Wenn wir die Geschichte der Bundesrepublik sehen, wenn wir einmal nachschauen und fragen: Wie kommt es denn, daß die Eigentumsverteilung gerade im produktiven Bereich so unbefriedigend ist?, dann ist das im Grunde das unheilvolle parallele Wirken diametraler Kräfte: Die Unternehmer wollten nicht zahlen, und die Gewerkschaften hatten streckenweise eine andere Vorstellung als das individuelle Einkommen und persönliche Eigentumsbildung beim Arbeitnehmer. Deshalb wurde seit dem Jahre 1951, als Karl Arnold auf dem Parteitag der Union den Investivlohn gefordert hat, nichts getan. Wer nichts getan und unseren Gesetzentwurf zum Beteiligungslohn drei Jahre in der Schublade hat liegenlassen, der kann sich heute hier nicht hinstellen und die einseitige Vermögensverteilung lauthals kritisieren.
({16})
Meine Damen und Herren, unser Beteiligungslohngesetzentwurf steht als Diskussionsgrundlage zur Verfügung. Das gleiche gilt für unsere zusätzlichen Überlegungen innerhalb der Union; denn
natürlich ist auch bei uns seit 1970 über dieses Problem weiter nachgedacht worden. Für uns ist essentiell - das geht über das hinaus, was der Arbeitsminister in diesem Augenblick zur Regierungserklärung sagen konnte; wir als Opposition wollen Ihnen unsere Position hilfreich sagen, das wird vielleicht für Sie nützlich sein -:
Erstens. Wir gehen davon aus, daß die Arbeitnehmer persönlich Miteigentümer werden und über ihr Eigentumsrecht persönlich verfügen können. Das ist die erste grundsätzliche Aussage.
({17})
Das zweite ist, daß die vom Wettbewerb geprägte Marktwirtschaft nicht beeinträchtigt wird. Die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand darf nicht zu mehr zentraler Lenkung des Wirtschaftsablaufs führen.
({18})
Man kann auch darüber reden, man kann über alles sprechen. Diejenigen aber, die für mehr zentrale Lenkung des Wirtschaftsablaufs sind, sollten uns das offen sagen. Dann können wir uns mit ihnen darüber auseinandersetzen. Aber sie sollen ihr Ziel nicht unter dem Deckmantel „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" verbergen; das nenne ich Etikettenschwindel.
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Drittens darf durch die Vermögensbildung die Konzentrationstendenz in der Wirtschaft nicht gefördert werden. Wir sollten im Gegenteil versuchen, auch in diesem Zusammenhang etwas für die Klein-und Mittelbetriebe und damit für einen gesunden Wettbewerb zu tun. Graf Lambsdorff hat heute morgen in der wirtschaftspolitischen Debatte dazu einige Bemerkungen gemacht, die in unserer Fraktion einen lebhaften Gedankenaustausch sicherlich sehr erleichtern werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit zum dritten Beispiel kommen. Von Freiheit und der Mündigkeit des Bürgers zu sprechen, ist eine Sache; danach zu handeln, ist eine andere. Nehmen wir als drittes Beispiel die flexible Altersgrenze. Da hat die Union - übrigens mit Zustimmung der Koalition in namentlicher Abstimmung - vor der Wahl eine flexible Altersgrenze durchgesetzt, die exakt nach dem Prinzip der Freiheit, die die Mündigkeit des Bürgers zur Voraussetzung hat, konzipiert ist. Jeder Bürger erhält danach in Form von Rentenzuschlägen einen Ausgleich für eine kürzere Rentenlaufdauer. Auf ein Beschäftigungsverbot hei Rentenbezug konnten wir deshalb verzichten. Mit dieser liberalen Regelung hat das Änderungsgesetz, das Sie jetzt eingebracht haben, nichts zu tun. Denn derjenige, der nicht mit 63 Jahren die Rente nimmt, wäre danach der Dumme. Hier wird ganz deutlich, was von dem Bekenntnis der Regierungserklärung zur Freiheit des Bürgers in concreto zu halten ist. Meine Damen und Herren, Sie engen in Wahrheit den Freiheitsspielraum des einzelnen ein, indem derjenige, der mit 63 Jahren nicht in Rente geht, ein Dummkopf wäre. Wir aber geben ihm den Freiheits292
spielraum, selber zu entscheiden, ob er aufhören oder weiterarbeiten will.
({20})
- Wir haben da einen Dissens zwischen den Parteien; ich kenne das ja, ich weiß, das ist eine echt andere Auffassung. Aber ich sage: es ist ein Widerspruch, einerseits von der Mündigkeit des Bürgers zu sprechen, andererseits aber zu sagen: „So mündig ist er nicht, als daß wir ihn nicht davor bewahren müßten, selber zu entscheiden, ob er krank oder nicht krank genug ist, ob er weiter arbeiten will oder nicht weiter arbeiten will."
({21})
Das ist nicht der mündige Bürger, den wir im Auge haben.
Meine Damen und Herren - Herr Kollege Schellenberg, Sie werden sicher noch etwas dazu sagen -, ich halte diese Konzeption für falsch. Das habe ich hier mehrfach gesagt. Ich will es jetzt in der Diskussion über die Regierungserklärung nicht vertiefen. Aber vielleicht darf ich Sie doch bitten, einmal die Stellungnahmen der Gerontologen nachzulesen. Frau Professor Ursula Lehr hat kürzlich in einer großen Tageszeitung diese unsere Haltung ausdrücklich bestätigt. Denn es sind ja gerade die Folgen des abrupten Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand, die in der Öffentlichkeit unter dem Schlagwort „Pensionstod" diskutiert werden. Sie konnten heute morgen in der Zeitung lesen, daß ein Richter, der ich weiß nicht wieviel Jahre Richter gewesen war, den Freitod gesucht hat, weil er, in die Pensionierung gehen müssend, einfach nichts mehr mit seinem Leben anzufangen wußte. Es war der Sinn der flexiblen Altersgrenze, die Starre aufzulösen und den Übergang nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen des einzelnen Bürgers flexibler zu gestalten.
({22})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließlich eine Bemerkung zur Frage der Mitbestimmung machen. Die Regierungserklärung befaßt sich mit dieser Frage nur sehr kurz. Der Herr Arbeitsminister hat alles getan, um diese vage Aussage noch vager zu halten, was ich angesichts der Situation verstehen kann. Die Aussage: „Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern" hört sich - wir haben das schon ein paarmal gesagt - gut an. Aber wenn man einmal ein bißchen darauf klopft, stellt man fest: sie ist derart sybillinisch, daß man darunter fast alles verstehen kann. Auf jeden Fall kann man alle zur Zeit diskutierten Modelle darunter subsumieren.
({23})
- Mit Ausnahme? Auch noch nicht einmal dies; denn das ist ja in Bewegung; Sie werden dazu nachher von mir eine Bemerkung hören. - Bedeutet dies eine Feststellung in Richtung auf paritätische Mitbestimmung? Der DGB behauptet dies. Oder umfaßt sie auch ein Drei-Faktoren-Modell? Das haben andere Kreise unter dieser Passage der Regierungserklärung verstanden, wie man heute in allen Wirtschaftszeitungen lesen kann. Bedeutet dieser Satz eine Absage an das Riemer-Modell oder an Maihofer! Oder ist es eine Bestätigung von Riemer oder von Maihofer? Sie haben ja jetzt über diesen Punkt viel zu denken. Ich freue mich schon, daß Herr Arendt da Hilfe bekommt.
({24})
Damit hängt selbstverständlich auch die Frage zusammen, wie Sie die leitenden Angestellten sehen. Werden sie als eigenständige Kräfte gesehen, oder will man sie den Arbeitnehmern zuzählen? Das alles geht aus der Regierungserklärung nicht hervor - und aus den Ausführungen des Arbeitsministers schon gar nicht.
Meine Damen und Herren, all dies sage ich bei diesem großen Thema ohne jeden Unterton und schon gar nicht mit einem hämischen Unterton. Ich weiß es auch als ein Zeichen der Ehrlichkeit - freilich nicht der Geschlossenheit - zu schätzen, daß die fundamentalen Unterschiede in den Auffassungen von SPD und FDP in diesen Punkten offen zugegeben werden. Meine Damen und Herren, Sie wissen, die Union ist mit dieser Frage auf großen Parteitagen in mehreren ganztägigen Diskussionen befaßt gewesen, in Berlin, in Düsseldorf, und auch jetzt steht dieses Thema wieder an, wie wir gesagt haben. Sie sollten das ebensowenig hämisch begleiten wie ich; ich habe mir ja auch eine hämische Bemerkung über die Zerstrittenheit der Koalition in dieser eminent wichtigen gesellschaftspolitischen Frage, die von uns zu lösen ist, verkniffen.
({25})
Uns geht es - hier stimme ich dem Arbeitsminister zu - um mehr Selbstbestimmung für die Arbeitnehmer. Auch die Probleme am Arbeitsplatz selbst müssen gesehen und gelöst werden.
Meine Damen und Herren, wir können vielen Punkten im Bereich der Gesellschaftspolitik zustimmen. Ich denke hier z. B. an das, was zum Sofortprogramm der beruflichen Bildung gesagt worden ist. Es hieße Eulen nach Athen tragen, hier mehr darüber zu sagen. Es ist auch überflüssig, hier irgendwelche Urheberansprüche anzumelden, denn jedermann im Hause weiß, daß wir die Grundlagen für ein solches Programm schon lange gelegt haben. Ich freue mich natürlich darüber, daß eine bessere Koordinierung zwischen betrieblicher Ausbildung und Berufsschule erstrebt wird. Ob die Zusammenfassung in einem Ministerium der richtige Weg ist, wird die Zukunft erweisen. Ich hatte als Arbeitsminister immer sorgfältig darauf geachtet, daß es im Ressort des Arbeitsministers bleibt, weil ich mit dafür sorgen wollte, daß die Praxisnähe erhalten bleibt. Ich wollte verhindern, daß das Ganze zu einer bloßen Verschulung wird, obwohl der schulischen Seite natürlich auch verstärkte Bedeutung zukommt.
({26})
Zur ergänzenden Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten haben wir in der letzten Legislaturperiode ein Aktionsprogramm vorgelegt. Die
berufliche Bildung der jungen Menschen, die in einem Ausbildungsverhältnis stehen, ist erstmals von Ihnen aufgegriffen worden. Ich freue mich darüber, denn auf diesen Punkt haben wir in unserem Regierungsprogrammbeschluß auf dem Parteitag in Wiesbaden ausdrücklich Bezug genommen.
Auch in den Aussagen zur Rehabilitation sehen wir eine begrüßenswerte Fortentwicklung unserer eigenen Politik. Freilich haben wir es bedauert, Herr Bundeskanzler, daß in dieser Erklärung zum erstenmal seit 1949 weder an die Kriegsopfer noch an die Heimkehrer gedacht worden ist.
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Meine Damen und Herren, ich weiß, daß die finanziellen Probleme nicht leicht oder sogar schwer zu lösen sind. Sie haben ja aber auch in anderen Bereichen gerade die menschlichen Probleme herausgestellt. Ich glaube, wir sollten denjenigen, die die schmerzhaftesten Opfer in der leidvollen Geschichte unseres Volkes gebracht haben und nunmehr in ein Alter kommen, in dem sie mit ihren Opfern leicht vergessen werden, besonders in dieser Stunde und in dieser Situation ein Wort zurufen und ihnen zeigen, daß wir an sie denken und zu ihnen stehen.
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Meine Damen und Herren, entgegen manchen Ankündigungen ist die Regierungserklärung auch im innenpolitischen Bereich nicht das „stromlinienförmige Glitzerding" geworden - um einen von der Zeitung „Die Zeit" geprägten Ausdruck zu verwenden. Es handelt sich wieder um einen Katalog von Einzelmaßnahmen in guter alter Ressorttradition, und der einzige gemeinsame Nenner, auf den das alles gebracht werden soll, ist das Wort vom „gewandelten Bürgertypus". Wir sollten diesem gewandelten Bürgertypus etwas mehr auf den Zahn fühlen und uns nicht mit Ihren negativen Abgrenzungen begnügen, Herr Bundeskanzler. Negative Definitionen sind freilich, so glaube ich - entschuldigen Sie, wenn ich das mit allem Respekt, aber auch mit aller Deutlichkeit hier sage , ein besonderes Kennzeichen der Sprache der Sozialdemokraten. Wer kennt nicht die vielen sozialdemokratischen Formeln, die lauten: Wir wollen weder ..., wir wollen noch ...? Was Sie aber eigentlich wollen, sagen Sie nicht.
({29})
So forschen wir denn an anderen Stellen der Regierungserklärung weiter, und da stoßen wir nicht nur auf das Recht, frei atmen zu können - so steht es da geschrieben -, sondern auch auf das Recht auf Geborgenheit. Wo solches gesagt wird, ist eine Politik der Zipfelmütze nicht mehr weit, einer Zipfelmütze, unter der radikale Tendenzen einfach verschwinden. Sie haben auf sie nur im Bereich der Hochschulen Bezug genommen; alle anderen haben Sie - die Sie vor drei Jahren davon sprachen: Wir brauchen Reformen! - weggeschrieben. Wir stellen heute fest: diese Reformen sind nicht da. Statt dies zu beklagen, spielen Sie das Spiel, als stünde eine heile Welt vor uns. Die großen Konflikte dieser Gesellschaft werden überhaupt nicht erwähnt; sie
werden unter den Teppich gekehrt; davon wird überhaupt nicht gesprochen.
({30})
Meine Damen und Herren, Klassenkampf, neue Personifizierung aller Mängel dieser Gesellschaft, alle undemokratischen und totalitären Bewegungen, wie sie uns ja heute begegnen, sie sind doch da, die können wir nicht verschweigen, sondern mit denen müssen wir uns in diesem Deutschen Bundestag geistig auseinandersetzen.
({31})
Deshalb bedauere ich diesen Eindruck. Vielleicht - ich weiß es nicht - ist dieser Eindruck durch die Mitarbeit einiger sehr bemerkenswerter und geschätzter Journalisten entstanden. Aber ich glaube, die politische Regierungserklärung muß sich diesen Tendenzen, diesen Tatsachen stellen, sich mit ihnen auseinandersetzen.
Wenn es darum geht, diese unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung, die wir - und darauf sind wir ein ganz klein wenig stolz - aus den Trümmern des Jahres 1945 haben mit aufbauen dürfen, diesen freiheitlichen, sozialen Rechtsstaat zu verteidigen, ihn weiterzuentwickeln und weiterzugestalten, läßt sich die Christlich Demokratische und Christlich Soziale Union von niemandem in diesem Hohen Hause übertreffen.
({32})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, bevor ich grundsätzliche Bemerkungen zur Sozialpolitik mache, zu zwei mehr aktuellen Fragen, die Herr Kollege Katzer angeschnitten hat, Stellung nehmen.
Thema flexible Altersgrenze - um das endlich einmal vom Tisch zu bringen!
({0})
Die von der CDU in letzter Stunde durchgesetzte Regelung des vollen Arbeitsverdienstes bei gleichzeitigem Rentenbezug und sogar noch höherem Arbeitsverdienst widerspricht nach unserer Auffassung dem humanitären Sinn der flexiblen Altersgrenze. Sie widerspricht weiter dem Solidarausgleich zwischen jüngeren und älteren Arbeitnehmern, und sie gefährdet schließlich die langfristige finanzielle Solidität der Rentenversicherung.
({1})
- Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulassen.
Im übrigen will Herr Katzer vergessen machen, daß die CDU/CSU in diesem Hause überhaupt keine Gesetzesinitiative zur flexiblen Altersgrenze eingebracht hat,
({2})
sondern erst im letzten Augenblick auf den Zug der Rentenreform hinsichtlich der flexiblen Altersgrenze aufgesprungen ist.
({3})
Nun eine Bemerkung zu den Kriegsopfern. Die CDU/CSU-Politik hat dazu geführt, daß die Kriegsopfer viele Jahre gezwungen waren, immer wieder zur Wahrung ihrer sozialen Interessen auf die Straße zu gehen. Die sozialliberale Koalition hat dagegen bei hinhaltendem Widerstand der CDU/CSU die Dynamisierung der Kriegsopferrenten verwirklicht.
({4})
Dadurch sind die Kriegsopferrenten in der letzten Legislaturperiode für die Beschädigten um 42 und für 'die Witwen um 53 erhöht worden, so stark wie niemals zuvor in einer Legislaturperiode.
({5})
Auch in dieser Legislaturperiode wird die sozialliberale Koalition im Einklang mit einer soliden Haushaltspolitik ihre Verpflichtung gegenüber den Opfern des Krieges erfüllen.
({6})
Nun zu den grundsätzlichen Ausführungen von Herrn Katzer. Herr Kollege Katzer, Ihre Darlegungen zeigen von Einzelheiten abgesehen, auf die ich eingehen werde -, daß die CDU keine Alternative zur Regierungserklärung
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zu bieten hat.
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Sie zeigen, daß die CDU/CSU immer noch über keine gesellschaftspolitische progressive
({9})
Gesamtkonzeption verfügt. Meine Damen und Herren, das ist doch auch in Ihren Kreisen Gegenstand lebhafter Diskussion
({10})
Mag die CDU/CSU auch hier und da Reformwillen bekunden, politisch ist entscheidend, daß sie in ihrer überwiegenden Mehrheit nach wie vor gesellschaftspolitisch konservativ ist.
({11})
Das wird sich auch dann nicht ändern, wenn die CDU, weil sie sich in der Opposition befindet, wie schon in der letzten Legislaturperiode in dieser oder jener Frage aus taktischen Gründen versuchen sollte, gesellschaftspolitisch der sozialliberalen Koalition zuvorzukommen oder sie in irgendeinem Detail zu übertrumpfen.
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Solche Einzelaktionen können die geschichtliche Tatsache nicht verdecken, daß die Konservativen gegenüber den Notwendigkeiten der industriellen Gesellschaft versagt haben.
({13})
Dafür hat die CDU/CSU von den Wählern die gebührende Quittung erhalten.
({14})
Die sozialliberale Koalition hat dagegen mit ihrer Politik der inneren Reformen eine zukunftsweisende Sozialpolitik eingeleitet. Diese progressive Sozialpolitik wird - und das ist eine wichtige Aussage der Regierungserklärung - kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei wird die Qualität des Lebens immer mehr zum Leitbild unserer modernen Sozialpolitik. Das möchte ich für einige Bereiche der Gesellschaftspolitik verdeutlichen.
Erstens. Qualität des Lebens - das bedeutet konkret mehr Freiheit, aber auch mehr Mitverantwortung im Arbeitsleben. Konservative Sozialpolitik hält grundsätzlch am Herr-im-Hause-Standpunkt in Betrieb und Unternehmen fest, was z. B. die Leitlinien der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU für diese 7. Legislaturperiode beweisen; die sollten Sie sich einmal gründlich ansehen.
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Die CDU ist weder auf ihrem Parteitag noch in ihrem Regierungsprogramm von diesen konservativen Leitlinien auch nur mit einem Wort abgerückt; das sind die Tatsachen.
({16})
Moderne Sozialpolitik will dagegen die demokratische Mitbestimmung des mündigen Bürgers auch im Arbeitsleben.
Die SPD-Fraktion begrüßt es, daß die Regierungserklärung der Mitbestimmung einen hohen Rang zuerkennt und sie als eine der Hauptaufgaben unserer Gesellschaftspolitik bezeichnet. Wir Sozialdemokraten haben als einzige Fraktion bereits im Dezember 1968 einen Gesetzentwurf zur gleichgewichtigen Mitbestimmung in Großunternehmungen vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf ist auch heute noch die Grundlage unserer politischen Bemühungen.
({17})
Aber in der gleichen Weise wie beim Betriebsverfassungsgesetz, der Mitbestimmung auf der betrieblichen Ebene, wird die sozialliberale Koalition auch für die Mitbestimmung in Großunternehmungen in fairer Partnerschaft eine gemeinsame Lösung erarbeiten.
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In der letzten Legislaturperiode haben Sie, Herr Katzer, für die Opposition prophezeit, die Koalition werde mit ihrer Erklärung über die Neuregelung der Betriebsverfassung einen Offenbarungseid leisten müssen. Ebenso wie die CDU/CSU damals falsch spekuliert hat, wird sie sich auch in dieser Wahlperiode mit ihrer negativen Prognose verkalkulieren.
Herr Barzel hat insbesondere ein allgemeines Bekenntnis zur Mitbestimmung abgelegt. Mit allem Nachdruck ist jedoch darauf hinzuweisen, daß wir Scheinlösungen zur Mitbestimmung, wie sie die CDU CSU in der letzten Legislaturperiode beantragte, kategorisch ablehnen,
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und zwar deshalb, weil hierdurch die Vormachtstellung des Kapitals gegenüber den Arbeitnehmern zementiert wird.
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Im übrigen hält es die SPD-Fraktion für erforderlich, daß der Regierungsentwurf zur Einführung der Mitbestimmung in den Großunternehmungen so rechtzeitig vorgelegt wird, daß er noch vor Ablauf der Fristen des Mitbestimmungssicherungsgesetzes, nämlich Ende 1975, in Kraft treten kann.
Zweitens. Qualität des Lebens bedeutet auch wirksamere und gerechtere Vermögensbildung für die Burger. Konservative Sozialpolitik handelte mit ihren ungerechten Steuervergünstigungen nach dem Motto: „Wer hat, dem wird gegeben". Sie war damit, wie die Auswirkungen des Ersten und Zweiten Vermögensbildungsgesetzes sowie der Sparprämiengesetze gezeigt haben, im wesentlichen eine Politik für die Privilegierten. Moderne Sozialpolitik will die Vermögensbildung der breiten Schichten unseres Volkes.
In der letzten Legislaturperiode hat die sozialliberale Koalition durch das Dritte Vermögensbildungsgesetz die Sparförderung der Arbeitnehmer entscheidend verbessert. Das beweist eindrucksvoll die Tatsache, daß die Zahl der begünstigten Arbeitnehmer von 2 Millionen auf 14 Millionen Arbeitnehmer, die jetzt vermögenswirksam sparen, heraufgeschnellt ist. Damit wurde ein großer Durchbruch in der Sparförderung erreicht. Darauf wird die sozialliberale Koalition in ihrer Vermögenspolitik aufbauen.
Jetzt geht es darum, die soziale Ungerechtigkeit, daß die Arbeitnehmer immer noch vom Zuwachs des von ihnen miterarbeiteten Produktivvermögens ausgeschlossen sind, zu beseitigen. Dieses große Ziel läßt sich nur schrittweise erreichen. Die sozialdemokratische Fraktion begrüßt es, daß die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Beteiligung der breiten Schichten unseres Volkes am Zuwachs des Produktivvermögens vorlegen wird.
Die Herren Barzel, Strauß und auch Herr Katzer haben in der Debatte wiederum ihre alte Vorlage über den Beteiligungslohn angepriesen. Damit will die CDU/CSU vergessen machen, daß der CDU/CSU-Entwurf die öffentlichen Haushalte allein im ersten Jahr mit über fünf Milliarden D-Mark Mehrausgaben belastet hätte und damit finanzpolitisch unsolide war.
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Gegenüber den utopischen Vorschlägen der CDU/CSU wird die sozialliberale Koalition ihren Weg zur breiten Vermögensbildung realistisch und mit Augenmaß fortsetzen.
Drittens. Qualität des Lebens bedeutet auch soziale Sicherung für alle Burger. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie wollen heute vergessen machen, daß konservative Sozialpolitik die soziale Sicherung jahrzehntelang durch enge Versicherungsgrenzen eingeengt hat. Moderne Sozialpolitik geht davon aus, daß soziale Sicherung zur Selbstbehauptung jedes einzelnen Bürgers und zur sozialen Grundausrüstung für die Wechselfälle des Lebens gehört.
Dem Ziel einer Volksversicherung ist die sozialliberale Koalition ein großes Stück nähergekommen. Das gilt sowohl für den Bereich der Leistungen wie für den geschützten Personenkreis.
Ich darf aber freimütig darauf hinweisen, daß das finanzielle Volumen der Rentenversicherung durch die erreichten Leistungsverbesserungen für die nächste Zeit ausgeschöpft ist. Die finanzielle Solidität im Interesse der Beitragszahler und der Rentner gebietet es deshalb, zunächst einmal die finanziellen Auswirkungen der beschlossenen Regelungen abzuwarten. Erst dann kann und soll über weitere Leistungsverbesserungen beraten werden.
Durch Öffnung wurde die Rentenversicherung zu einem Angebot für alle Burger. Mit der Unfallversicherung für Schulkinder und Studenten, dem Beitrittsrecht aller Angestellten zur Krankenversicherung und der neugeschaffenen Krankenversicherung für Landwirte wurden weitere Bevölkerungskreise in die soziale Sicherung einbezogen.
In dieser Legislaturperiode geht es darum, die soziale Sicherheit weiter zu vervollständigen. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung in der Regierungserklärung und der Bundesarbeitsminister in seinen Ausführungen ausdrücklich die Notwendigkeit einer Verbesserung der sozialen Sicherung der Frauen unterstrichen haben. Für uns ist dies ein Bestandteil der Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft.
Die Koalition hat hierzu durch ihren Gesetzentwurf über Leistungsverbesserungen in der Krankenversicherung, und zwar sowohl hinsichtlich der Gewährung eines Rechtsanspruchs für Frauen auf Haushaltshilfe bei Krankenhaus- und Kuraufenthalt als auch hinsichtlich des Rechts erwerbstätiger Mütter auf Freistellung von der Arbeit zur Betreuung ihres Kindes, eine Initiative für die Mutter ergriffen. Die SPD-Fraktion wird gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner auch für die Verwirklichung dieser notwendigen Verbesserungen der sozialen Sicherung der Frau sorgen.
Meine Fraktion begrüßt die zusätzlichen Erklärungen des Bundesarbeitsministers, wonach die Bundesregierung prüfen will, inwieweit die von Geburt an Behinderten in die soziale Sicherung einbezogen werden können.
Viertens. Qualität des Lebens bedeutet auch mehr soziale Gerechtigkeit gegenüber den Familien. Konservative Sozialpolitik hat durch Steuerfreibeträge die Familien mit hohen Einkommen begünstigt und damit die Familien mit niedrigem Einkommen benachteiligt, und sie hat gegenüber der Kleinfamilie
völlig versagt. Moderne Sozialpolitik will die Familienlasten gerecht verteilen. Sie ist eine Politik für a 11 e Familien.
Nachdem in der letzten Legislaturperiode die Ausbildungsförderung und die Kindergeldleistungen - das vergißt die CDU/CSU immer! - verbessert wurden, geht es jetzt vor allem darum, den Familienlastenausgleich grundlegend neu zu gestalten. Die SPD-Fraktion begrüßt es im Interesse der Familien nachdrücklich, daß diese zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe in dieser Legislaturperiode - ich unterstreiche: in dieser Legislaturperiode - verwirklicht wird.
Fünftens. Qualität des Lebens bedeutet auch, daß der Bürger durch vorausschauende Sozialpolitik gegen Gefahren geschützt ist. Konservative Sozialpolitik wurde im wesentlichen erst tätig, wenn der Schaden bereits eingetreten war. Moderne Sozialpolitik stößt dagegen zu den Ursachen persönlicher Notstände und gesellschaftlicher Mängel vor. Sie ist eine Politik, die nicht nur die Risiken abdeckt, sondern sie zu verhindern sucht. Dies ist vor allem zur Erhaltung der Gesundheit als einer entscheidenden Voraussetzung für die freie Entfaltung des Menschen erforderlich.
In der letzten Legislaturperiode wurde durch die Einführung der Vorsorgeuntersuchungen hier eine Wende eingeleitet. Während - das vergessen Sie immer, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU - die konservative Sozialpolitik den Weg zum Arzt durch Kostenbeteiligung erschweren wollte,
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ist nunmehr der Durchbruch zur Gesundheitsvorsorge gelungen. Dieser Fortschritt muß ausgebaut werden. Die SPD-Fraktion begrüßt es, daß der Gesundheitsschutz auf Grund der Regierungserklärung weiter verbessert wird.
Auch der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, den die Konservativen jahrzehntelang schwer vernachlässigt haben, wird und muß vorangetrieben werden. Die Arbeitsplätze müssen sicherer und menschengerechter werden. Die SPD-Fraktion erwartet, daß die Bundesregierung den Gesetzentwurf über Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte bald dem Bundestag vorlegen wird und daß sie die Maßnahmen zur Unfallverhütung und zum Arbeitsschutz weiter intensivieren wird. Wir haben mit großem Interesse davon Kenntnis genommen, daß der Arbeitsminister heute hier die Neuregelung des Jugendarbeitsschutzes ausdrücklich angekündigt hat.
Sechstens. Qualität des Lebens - das bedeutet auch mehr Chancen für die Behinderten, sich in der Gesellschaft zu entfalten. Konservative Sozialpolitik hat die soziale Integration der Behinderten vernachlässigt. Moderne Sozialpolitik setzt sich zum Ziel, die Behinderten im Beruf einzugliedern und ihnen die gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Die sozialliberale Koalition hat in der vergangenen Legislaturperiode mit ihrem Aktionsprogramm zur Rehabilitation erste richtungweisende Schritte eingeleitet. Die SPD-Fraktion begrüßt es außerordentlich, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung eine Gesamtreform des Behindertenrechts angekündigt hat. Ziel dieser Reform muß es sein, für alle Behinderten, auch für die Kinder, unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung, eine umfassende Rehabilitation zu gewährleisten. Darüber hinaus muß arbeitsrechtlich sichergestellt werden, daß die Behinderten ihre wiedergewonnene Arbeitsfähigkeit auch wirklich nutzen können.
Siebentes. Qualität des Lebens - das bedeutet für die ältere Generation ein Lebensabend in Würde. Konservative Sozialpolitik hat sich vor allem darauf beschränkt, mehr oder weniger zureichend die materielle Existenz im Alter zu sichern. Moderne Sozialpolitik wird dagegen die ältere Generation voll in die Gesellschaft zu integrieren haben.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode die wirtschaftliche Sicherung für unsere älteren Mitbürger in Qualität und Quantität entscheidend verbessert. Auch in den nächsten Jahren werden die Renten z. B. werden wir 1973 eine Rentenanpassung von 11,35 0/0 beschließen - erheblich verbessert. Das ermöglicht es jetzt, das Schwergewicht auf Bereiche zu legen, die über die materielle Sicherung hinaus für einen Lebensabend in Würde unerläßlich sind.
Das bedeutet vor allem: Hilfe zur selbständigen Lebensführung durch soziale Dienstleistungen, hauspflegerische Betreuung unserer älteren hilfsbedürftigen Mitbürger, weitere Sicherung des sozialen Mietrechts, besonders im Interesse der älteren Generation, Erforschung und Behandlung altersbedingter Krankheiten und Ausbau der gesundheitlichen Vorsorge für ältere Menschen. Die SPD-Fraktion erwartet von der Bundesregierung, daß sie im Interesse unserer älteren Mitbürger unter anderem die Vorschriften über den Ausbau der Altenhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz und den Ausbau eines Gesetzes zum Schutze der Bewohner in Altenheimen und Altenwohnheimen vorlegt und ihre Wohnungspolitik besonders in den Dienst der älteren Mitbürger stellt.
Ich fasse zusammen. In der vor uns liegenden Legislaturperiode gilt es, gesellschaftspolitisch das Errungene zu sichern und weitere Reformen zu verwirklichen. Es geht darum, die Qualität des Lebens in allen Bereichen zur Grundlage der Sozialpolitik werden zu lassen: durch mehr Humanität, durch mehr Freiheit und Mitverantwortung im Arbeitsleben, durch gerechtere Lebenschancen, durch mehr Solidarität in unserer Gesellschaft. Damit verwirklicht die sozialliberale Koalition den weiteren Ausbau des sozialen Rechsstaats.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Welchen Rang die CDU der Familienpolitik einräumt, haben wir gerade erlebt. Denn als wir das von ihr selbst durch Frau Kollegin Wex gerade eingeführte Thema der Familienpolitik disFrau Funcke
kutieren wollten, verlangte Herr Katzer das Wort zu einem anderen Thema. Offensichtlich ist dann wohl der CDU dieses Problem nicht so wichtig, wie sie vorgab.
({0})
Wir sehen uns jetzt in der schwierigen Lage, nur noch schnell und verkürzt über die vielen Probleme aus dem Bereich der Familienpolitik, der Jugendpolitik und der Gesundheitspolitik diskutieren zu können. Ich werde mich auf die Fragen beschränken, die Frau Wex angesprochen hat.
Frau Wex, als bekannt wurde, daß Sie heute nachmittag die Familienpolitik anschneiden würden, habe ich mich sehr gefreut. Ich habe gemeint, jetzt würden wir endlich einmal etwas Moderneres zu dem Problemkreis Familie und Stellung und Chancen der Frau in Familie, Beruf und Gesellschaft von der CDU hören. Wir kennen Sie noch aus der Zeit, als Sie vor einigen Jahren im Bundestag die Bildungspolitik vertraten und mitunter recht mutige und nach vorn gerichtete Worte von Ihnen zu hören waren. Aber demgegenüber war Ihr heutiges Referat doch recht enttäuschend. Das waren alles die altbekannten Vorstellungen von der traditionellen Auffassung, die wir von der CDU über Familie seit langem kennen. Da war der alte Gegensatz zwischen Familie und Gesellschaft, der so pointiert herausgestellt wird, als wüßten wir nicht, daß in unserer Zeit die Linien ineinanderlaufen, daß die Familie in sich ohne die Gesellschaft nicht existieren kann und daß auf der anderen Seite die Gesellschaft die Gliederung in Familien nicht entbehren kann, weil die Familie ein Stück ihrer selbst ist. Was soll da die fast feindliche Alternative, die bei Ihnen durchklang? Ihre nachdrückliche Forderung, daß die Gesellschaft nicht in die Familie und die Erziehung hineinreden möge, ist doch nur aus einer Antistellung zu verstehen, die immer wieder bei der CDU anklingt, wenn von der Familie hie und der Gesellschaft dort die Rede ist.
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- Lesen Sie genau nach.
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Das klingt sehr deutlich heraus.
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Ich frage mich, Frau Kollegin Wex, ob Sie in der Tat nichts Moderneres haben sagen können oder dürfen;
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denn an sich möchte ich annehmen, daß Sie in Ihren Auffassungen sehr viel differenzierter sind, als in Ihrem Referat zum Ausdruck kam. Aber Ihre Fraktion das kennen wir doch nun seit vielen Jahren - ist halt in diesen Dingen recht konservativ und einseitig. Darum hat doch bei der Neugestaltung des Familienrechtes die CDU nicht auf den Stichentscheid des Vaters verzichten wollen, obwohl er gegen das Grundgesetz war.
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Darum setzte sie es gegen bessere Argumente durch, daß das Kindergeld bei der Unfallversicherung angesiedelt wurde, um den Staat aus diesem Bereich auszuschalten. Darum die Ablehnung des „Babyjahres" in der Rentenversicherung durch die CDU/ CSU, obwohl damit doch die Entscheidung der Mutter zur ausschließlichen Pflege des Kindes erleichtert werden sollte, darum die Ablehnung der Opposition, die Ausbildungsjahre einer Frau bei freiwilliger Versicherung anzuerkennen, während die Ausbildungszeiten des Mannes selbstverständlich anerkannt werden. Darum die Konstruktion der CDU zur flexiblen Altersgrenze, nach der der 63jährige Mann noch einen vollen Verdienst neben der Rente erhalten sollte, nicht aber die Frau, die mit 60 Jahren die Rente beantragt.
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Ja, eben! Bei der vorgezogenen Rente der Frau erkennen Sie den Vollverdienst nicht an, bei der vorgezogenen Altersgrenze des Mannes haben Sie ihn durchsetzen wollen.
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Herr Barzel hat in seiner Rede der letzten Woche gesagt - und ich frage mich, was das denn eigentlich sollte -: „Wir wenden uns gegen ein staatlich verordnetes Leitbild der Rolle der Frau." Vielleicht können wir einmal hören, wen oder was er damit meinte.
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Wenn gerade von Ihrer Seite vom Leitbild gesprochen wird, muß man doch feststellen, daß in der gesamten Politik, die Sie seit 20 Jahren vertreten haben, doch das Leitbild der ausschließlich auf das Haus fixierten Frau die Grundlage Ihrer Entscheidungen war.
Darum bin ich froh, wenn Sie jetzt davon sprechen, daß der Frau die freie Entscheidung darüber eingeräumt sein soll, ob und inwieweit sie ihre Fähigkeiten in der Familie oder/und im beruflichen Leben einsetzen will. Aber alles, was Sie bisher vertreten und entschieden haben, verhinderte mehr, als daß es half, der Frau die Entscheidung zu eröffnen. Denn die Hindernisse, die Sie, Frau Kollegin, heute auch beklagen, sind ja doch das Ergebnis Ihrer Politik, einer Politik, die sich an einem sehr herkömmlichen Familienbild orientierte. So hat denn auch - von Wuermeling bis zu Frau Brauksiepe - die Aktivität des Familienministeriums sich weithin auf die Besorgung der Dinge der kinderreichen Familie konzentriert und begrenzt, und die traditionellen Familienverbände waren die Hauptanwälte der öffentlichen Meinung. Auch Ihr Hinweis, Frau Wex, auf die „intakte Familie" deutet darauf hin; denn Ihre Klage, daß die unvollständige Familie schlecht behandelt würde, ist doch offensichtlich die Folge dieser einseitigen Vorstellung von Familie und Familienpolitik
({9})
Auch die Frauenenquete von 1966 zeigt, wenn man sie sorgfältig liest, deutlich, daß das, was aus dem Sozialministerium und dem Innenministerium gekommen war, sehr viel progressiver war als der Beitrag, den das Familienministerium zu diesen Dingen geleistet hat. Und so war denn auch die praktische Auswertung durch das federführende Haus gleich null. Die einzigen Konsequenzen, die aus der Frauenenquete in gesetzgeberischer Hinsicht, gezogen worden sind, hat damals aus der Opposition heraus die FDP eingeführt und so weit wie möglich durchgesetzt: das war die Teilzeitbeschäftigung der Beamtin, das war die Steuerfreiheit der Fortbildungskosten für die Hausfrau, und das war das Bemühen, das sich erst in der sozialliberalen Koalition dann durchsetzen ließ, daß z. B. Unfälle bei einem Umweg zum Kindergarten auf dem Weg zur Arbeit für Familienangehörige von der betrieblichen Unfallversicherung gedeckt werden.
Nun haben wir in diesen Tagen über „progressiv" und „konservativ" gesprochen. Meine Herren und Damen, ich will da nicht theoretisieren. Aber progressive Politik treiben heißt doch, daß man die Bewegungen in dieser Welt rechtzeitig erkennt und daraus die entscheidenden Schlüsse zieht und nicht einfach auf den Formen der Vergangenheit beharrt. Die Bewegungen dieser Welt machen vor der Familie nicht halt. Dennoch hat sich bei uns weithin noch die Vorstellung erhalten, ,die von den Männern sicherlich sehr gut gemeint ist: Politik, das ist Wirtschaft, das ist Außenpolitik, das sind Zölle, das ist Mitbestimmung und noch manches mehr; aber was meine Familie angeht, das besorge ich selbst, das ist mein privater Bereich. - Aus dieser Vorstellung heraus sind lange Zeit alle Fragen, die die Familie betreffen, so am Rande und dann eben etwas unter dem Blickwinkel des Ludwig-Richter-Genre-Bildes betrachtet worden, und es ging allenfalls um das Kindergeld.
Ich meine, wir müssen aber einmal ein bißchen tiefer loten. Die Bewegungen dieser Welt haben vor der Familie nicht halt gemacht, und so gilt es, wenn man von Familienpolitik spricht, die Problematik einer veränderten Familienstruktur zu erkennen und ernst zu nehmen. Es gibt entscheidende Änderungen: zunächst haben wir nicht mehr die Großfamilie, sondern die Kleinfamilie. Das hat selbstverständlich Rückwirkungen in vielerlei Hinsicht. Die Kolleginnen dieses Hauses waren doch etwas betroffen, als einmal ein Staatssekretär in der Fragestunde sagte: Eine Familie, die nur aus Frau und Kind besteht, ist keine Familie. Heute müht sich die CDU plötzlich um die unvollständige Familie. Hier zeigt sich doch, daß eben nicht mehr das Bild der Drei-GenerationenFamilie mit Verwandten und bekannter Nachbarschaft Grundlage dessen ist, was wir mit Familie bezeichnen, sondern daß heute die isolierte Kleinfamilie mit der ganzen Abhängigkeit von der Umwelt die Wirklichkeit geworden ist.
({10}) Das gilt es einmal zu erkennen.
Das zweite ist die totale Anonymität und Isoliertheit dieser Kleinfamilie. Da ist die junge Familie, die durch den Beruf des Mannes oder der Frau an einen fremden Ort, als Unbekannte in ein Mietshaus zieht, ohne Verbindung zur Nachbarwelt, zur Verwandtschaft und Bekanntschaft und damit auch ohne deren Hilfeleistung in den Wechselfällen des Lebens. Das muß einmal in der ganzen Problematik gesehen werden.
Frau Kollegin Wex, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Frage: Was passiert denn, wenn das Kind krank wird? Früher war da die Großmutter oder eine Tante oder es gab ältere Geschwister oder die Nachbarsfrau. Das haben wir vielfach heute nicht mehr. Die Familie ist anfällig und von der Gesellschaft abhängig geworden. Darum bin ich so betroffen über die Gegensätze, die zwischen Familie und Gesellschaft konstatiert werden.
Eine weitere, sehr entscheidende Änderung besteht darin, daß immer mehr Arbeit vom Haushalt in die gewerbliche Wirtschaft oder die sozialen Einrichtungen abgewandert ist. Dabei ist die Hausfrau auf der einen Seite von einer Fülle von Arbeit entlastet. Diese Arbeit ist aber nicht verlorengegangen, sondern nur aus dem Einzelhaushalt herausgenommen. Der Haushalt hat sie der Gesellschaft zugeschoben. Und da stellt sich doch die Frage: Kann sich die Frau dann der Berufstätigkeit außerhalb des Hauses völlig enziehen, wenn ein nicht unerheblicher Teil ihrer früheren Arbeit inzwischen auf die Berufswelt übergegangen ist, sei es das Krankenhaus, die Konservenfabrik, die Spinnerei und Weberei oder die Schule? Hier muß eine Gesellschaft, die den Einfluß der Frau auf diesen Gebieten nicht völlig verlieren will, die Notwendigkeit sehen und die Möglichkeit schaffen, daß diese Tätigkeiten auch draußen mit in die Verantwortung der Frauen übernommen werden können. Das heißt dann ganz einfach: die Berufstätigkeit der verheirateten Frau ist nicht ein Vergehen an ihrer Familie, wie manche Leute sagen, sondern ist der Beitrag, ja, der natürliche und notwendige Beitrag, den die moderne Frau in ihrer Weise nicht anders leistet, wie ihn ihre Urgroßmutter zu ihrer Zeit in einem großen, produktiven Hauswesen geleistet hat.
({11})
Wir müssen weiter sehen - das ist die andere Seite -, daß Kinder heute wachsende Anforderungen an die Eltern stellen. Wenn man früher ein bißchen vereinfacht sagen konnte: Wo sechs satt werden, wird auch ein siebentes satt, wissen wir heute, welche unendlichen Anforderungen ein Kind heute an seine Eltern stellt, an ihre ständige schützende Hand in einer gefährlichen Umwelt, durch Verbrecher, durch Straßenverkehr, durch die gesundheitlichen Gefährdungen, an ihre geistige Führung in der Kommunikation und schulischen Hilfe, da Kinder in der Kleinfamilie nahezu ausschließlich auf die Eltern angewiesen sind, während früher dafür die große Hausgemeinschaft zur Verfügung stand. Und dazu macht die psychologische und soziologische Forschung jeden Tag darauf aufmerksam, wie wichtig die unmittelbare Zuwendung dem Kleinkind gegenüber in den isolierten Verhältnissen für das gesunde Wachstum des Kindes ist.
Dazu kommen die Schwierigkeiten in der heutigen Familie durch die Kinderfeindlichkeit der Umwelt.
Das bringt es mit sich, daß viele Eltern meinen, nicht mehr als zwei Kinder haben zu können, weil eben die Wohnungen nicht entsprechend groß sind, weil die Nachbarn sich ständig über den Lärm beschweren, weil das Betreten des Rasens verboten ist und Spielpätze und Kindergärten fehlen.
Hier liegt e i n Grund für den Geburtenschwund, über den sich heute plötzlich sogar die Wirtschaft mit großen Bedenken beklagt. Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen Einschub. Der Rückgang der Geburten auf 75 % der Jahrgänge zuvor ist nicht vorrangig der Pille oder der „Bequemlichkeit" der heutigen Frau oder ihrer „Gewinnsucht" im Beruf zuzuschreiben, sondern ist ganz einfach die Spätfolge des letzten Krieges. Sie können das gleiche in Rußland, in Polen, auf dem Balkan und bei anderen Völkern erleben, die gleiche oder ähnlich schwere Verluste in dem Krieg gehabt haben. Denn wenn die Elterngeneration nur 75 °/o eines normalen Jahrgangs beträgt, dann ergibt sich zwangsläufig, daß 25 Jahre später die Kinderzahl zurückgeht. Ich sage das in Richtung unserer Bildungspolitiker, damit sie nicht etwa falsch disponieren: Sie wird sich in einigen Jahren wieder nach der anderen Seite entwickeln.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Götz?
Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie sprachen mit Recht von cien wachsenden Anforderungen an die Familien, vor allem an die kinderreichen Familien. Sie sprachen von Geburtenrückgängen. Kann ich damit rechnen, daß Sie während Ihrer Ausführungen auch sagen, welche Konsequenzen die Koalition oder Ihre Fraktion daraus in dieser Legislaturperiode bis zu der Neuordnung des Familienlastenausgleichs, die doch wohl einige Jahre noch auf sich warten läßt, zu ziehen gedenkt?
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Herr Kollege, ich bin ein bißchen traurig, daß Sie, nachdem ich versuche, die ganze Problematik der Familie heute aufzuzeigen, wieder nur die Frage stellen, wie es mit dem Kindergeld aussieht.
({0})
Ich glaube, das geht ein bißchen an der Sache vorbei. Wir bemühen uns bei dem Kinderlastenausgleich, wie Sie aus den Eckwerten der Regierung wissen, bereits für das erste Kind den Eltern eine Entlastung zu geben, und zwar unabhängig von der Höhe ihres Steuersatzes, durch einen gleichmäßigen Barbetrag. Das ist doch wohl eine auch in Ihrem Sinne positiv zu wertende Leistung. Aber nun lenken Sie doch bitte nicht von den etwas weitergehenden Gedanken ab, mit denen ich mich gerade beschäftige.
({1})
- Sie haben genau bestätigt, was ich an der CDUFamilienpolitik kritisiert habe, daß Ihre ganze Familienpolitik sich in der Vergangenheit auf die kinderreiche Familie und das Geld konzentriert hat und dabei übersehen wurde, welche ganz anderen Fragen und Probleme sich der Familienpolitik heute stellen.
Dazu gehört auch die Frage nach der Frau in unserer Gesellschaft. Die Frau, die heute einen Beruf erlernt und dies doch nicht nur als ein Zwischenspiel zwischen Schule und Ehe versteht, sondern ebensoviel an Eifer, an Fähigkeiten, an Leistungswillen investiert wie die Männer, hat, so meine ich, den berechtigten Anspruch darauf, daß ihr die Ausweitung ihrer Ausbildung unter erträglichen Bedingungen ermöglicht und erleichtert wird und sie nicht unter dem Druck ungünstiger Umstände mit der Verheiratung einen Schlußstrich darunter ziehen und sagen muß: „Nun habe ich Familie, nun ist das alles nicht gewesen." Nein; ich glaube, diese Gesellschaft hat aus vielerlei Gründen, aus inneren und auch aus materiellen Gründen, viel Anlaß, der Frau zu helfen, ihre erlernten Fähigkeiten im Sinne einer produktiven oder sozialen oder erzieherischen Aufgabe auszuwirken im Sinne und im Interesse unserer Gemeinschaft.
Als Zweites müssen wir uns darum mühen, daß der Einfluß der Frau auf die Öffentlichkeit wieder wächst. Es ist ja nicht so, daß wir in der Vergangenheit die Frau nur in der Familie gehabt hätten, so à la Friedrich v. Schiller: „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau." Nein; die Frau hat in der Vergangenheit - denken Sie einmal an die Meistersfrau im Mittelalter - einen sehr weiten Einfluß auf die Gesellschaft und das heißt die bekannte Umgebung gehabt. Dazu gehörte eben mehr als die Zwei-Kinder-Familie. Dieser Einfluß ist durch die Trennung von Beruf und Haushalt und durch die Isolierung der Familien immer kleiner geworden. So ist der Anspruch der Frau, in der Gesellschaft mitzuwirken, nicht ein neuer Anspruch, sondern ein Zurückholen von früher besessenen Positionen und Einflußmöglichkeiten. Ich wage zu behaupten, selbst wenn Sie das anmaßend finden mögen, daß manche Ungereimtheit unserer Zeit auch darauf beruht, daß die innerhäuslichen Dinge weithin allein der Frau überlassen blieben und die außerhäuslichen weitgehend den Männern, während doch die Familie von der Schöpfung her auf Partnerschaft angelegt worden ist.
({2})
Das wirkt sich natürlich aus und hat sich ausgewirkt. Der Mann hat sehr sorgfältig dafür gesorgt, daß, wenn er einmal durch Krankheit oder Invalidität ausfällt, durch Solidarität der Gesellschaft ein finanzieller Ausgleich geschaffen wird. Man hat aber nicht gleichermaßen darüber nachgedacht, was denn eigentlich passiert, wenn eine Frau in eine solche Lage kommt. Darf ich es ein bißchen scherzhaft ausdrücken, wie ich es kürzlich einmal gesagt habe: Wenn ein Arbeitnehmer mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus eingeliefert wird, dann ist es für die Familie kein „Beinbruch". Wenn aber die Mutter mit einem Beinbruch ins Krankenhaus kommt, fällt ' ihr unmittelbarer Beitrag für die Familie ersatzlos aus. Denn während der „haushalts300
mäßige" Beitrag des Mannes für die Familie durch seine Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, seine Unfallversicherung oder Rentenversicherung für die Familie ersetzt wird, gibt es für die Hausfrau weder einen finanziellen Anspruch noch praktische Hilfe, um ihren Ausfall auszugleichen.
Das gilt, meine Damen und Herren, auch für einen anderen Bereich. Die Männer haben sich sehr nachdrücklich und erfolgreich darum bemüht, die tägliche Arbeitszeit im Beruf herabzusetzen. Sie haben - durchaus berechtigt - für die Vierzigstundenwoche gekämpft. Aber wenn eine Frau nicht bereit ist, mit dem 3. und 4. und 5. Kind eine Achtzigstundenwoche auf sich zu nehmen, dann gibt es einen hundert Jahre alten Paragraphen, der sie ins Gefängnis bringt. Das ist die Situation, über die wir einmal nachdenken müssen. Heute möchte ich zu dem Problem des § 218 nicht mehr sagen, denn wir werden bald Gelegenheit haben, uns darüber auszusprechen. Ich höre, daß die CDU bereit ist, auch eigene Vorschläge zu bringen.
Frau Abgeordnete Funcke, würden Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Wex - sie wartet schon - gestatten?
Oh, entschuldigen Sie! Bitte sehr!
Frau Funcke, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es sehr viel besser wäre, allen Ihren Ausführungen einen realen Hintergrund zu geben, indem Sie die Texte und die Aussagen Ihrer Vorredner - dazu gehöre ich ja in diesem Falle- etwas sorgfältiger lesen? Ich habe nämlich in meinen ganzen Ausführungen sowohl von der Partnerschaft als auch von der Lage der Frau im Krankheitsfall als einem unserer wichtigsten Ausgangspunkte gesprochen. Meinen Sie nicht, daß Vorurteile, die im Gewande von Progressivität kommen, uns als Frauen in unserer politischen Arbeit viel mehr schaden, als wir überhaupt je aufholen können?
({0})
Frau Kollegin, ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich habe hier dargelegt, wie die Situation ist. Ich habe mich in dem zweiten Teil meiner Ausführungen überhaupt nicht an eine bestimmte Partei gewendet. Ich bin dankbar - das wollte ich gerade eben sagen; Sie sind mir zuvorgekommen -, wenn es Ansätze für praktische Lösungen auch bei Ihnen gibt, auf die wir uns einigen können.
Eine bekannte Soziologin hat kürzlich die Frage untersucht, ob Familie in unserer Zeit Zukunft hat. Sie hat sie auf Grund der soziologischen Umfragen eindeutig dahin gehend beantworten können, daß die weitaus größte Mehrheit, auch unter der jungen Generation, die Dauerbindung in der Familie wünscht und anstrebt. Insoweit brauchen wir da keine verbalen Unterstreichungen. Aber jetzt kommt es darauf an, wie wir Familie unter den gewandelten Voraussetzungen und mit cien gewandelten Ansprüchen auch der Frau auf soziale Sicherung, auf persönliche Entfaltung und auf ihre Entscheidung über die Größe ihrer Familie möglich machen. Darum geht es. Sie haben, Frau Wex - darauf wollte ich Sie gerade positiv ansprechen --, von der eigenständigen Alterssicherung der Frau gesprochen, allerdings erst auf lange Sicht - so schien es - , um die Jahrhundertwende. Wenn Sie das Splitting wollen, was wir bereits vor zehn Jahren wollten, wogegen sich aber Ihre Fraktion bisher immer gewandt hat, dann brauchen Sie keine gesonderte Invaliditätsversicherung der Frau, denn diese ist darin ja enthalten.
({0})
Eben darum reicht Ihr Vorschlag von einer Unfallversicherung nicht aus. Es gibt ja wohl auch Frauen, die invalide werden, ohne daß sie einen Unfall gehabt haben. Insofern beinhaltet Ihre Unfallversicherungsregelung ja keine exakte Sicherung der Frau bei Invalidität auf Grund von Krankheit, und solche Fälle gibt es ja wohl auch.
Wir haben seitens der FDP auf unserem letzten Parteitag eine Programm für all die Fragen erarbeitet, die sich stellen, wenn man die partnerschaftliche Mitwirkung der Frauen in Familie, Beruf und Offentlichkeit sichern will. Hierhin gehören der bereits in der Vergangenheit vorgelegte Entwurf der Koalitionsfraktionen, der eine Lohnfortzahlung für Frauen oder Männer vorsieht, die wegen eines kranken Kindes vorübergehend der Arbeit fernbleiben müssen. Dazu gehören die Tagesheimschule, die vorschulische Erziehung, die Gleichstellung der Frau in Bezahlung und Aufstieg am Arbeitsplatz und die Gestaltung der Arbeitszeit in Richtung auf eine partnerschaftliche Einteilung der Familienpflichten von Mann und Frau. Wir Freien Demokraten werden uns dafür einsetzen, daß diese von uns sorgfältig erarbeiteten Forderungen in dieser Koalition Stück für Stück verwirklicht werden.
({1})
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Eilers.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Ausführungen zur Familienpolitik. Dabei möchte ich nicht davon ausgehen, zu zählen, wievielmal das Wort „Familie" von einem Debattenredner gebraucht wurde, sondern ich möchte mehr vom Sinngehalt ausgehen. Wir als Sozialdemokraten meinen nämlich, daß Familienprobleme nicht ressortgebunden sind, sondern daß Hilfen für die Familie in fast allen Teilbereichen der Politik gewährt werden. Daher ist es für Sozialdemokraten entscheidend, daß die Familienpolitik in alle Bereiche des Lebens hineinwirken kann.
Wir Sozialdemokraten haben für unseren Parteitag ein familienpolitisches Programm vorbereitet,
Frau Eilers ({0})
das dort diskutiert werden wird, in dem sich die Politik der SPD darstellt und das die Bedingungen schaffen soll, unter denen Familien in einer Gesellschaft ihre Aufgaben optimal erfüllen können.
Vielfältige Maßnahmen sind hierfür notwendig. Das geht von der Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage ({1}) über familienergänzende Einrichtungen ({2}) und Maßnahmen zur Förderung der Erziehungsfähigkeit ({3}) bis hin zu Wohnungs-, Gesundheits- und Rechtsproblemen.
Dieses Programm wird nach seiner Verabschiedung auch die Grundlage familienpolitischer Initiativen der sozialdemokratischen Politik sein.
Wir sind uns, glaube ich, darüber einig, daß bei allen Vorhaben das Wohl des Kindes stärker als bisher im Mittelpunkt stehen muß. Leider müssen wir immer noch feststellen, daß wir in einer kinderunfreundlichen, zum Teil sogar kinderfeindlichen Umwelt leben. Es hat sich seit 1968, als hier eine Debatte über Kinder und ihre Probleme geführt wurde, einiges gewandelt; aber wir sind noch nicht restlos mit den Ergebnissen, die von dort ausgegangen sind, einverstanden.
Auf diesem Gebiet sind wir zu folgenden Aufgaben aufgerufen - ich wiederhole, was mein Kollege Hauck 1968 in der erwähnten Debatte gefordert hat
1. Ausweitung und Verstärkung der Offentlichkeitsarbeit auf allen Ebenen, um mehr Verständnis für Kinder-, Jugend- und Familienbelange zu wekken.
2. Aufforderung an alle Gesetzgebungskörperschaften - von Kommunalparlamenten bis zum Bundestag --, um darauf hinzuwirken, daß in unseren Gesetzen mehr kinder- und familienfreundliche Akzente gesetzt werden.
3. Ausbau der beratenden Dienste auf den verschiedensten Ebenen.
Unter Bezugnahme auf cien zur Zeit lebhaft diskutierten Tatbestand der sinkenden Geburtenrate möchte ich deutlich sagen, daß es nicht das Ziel der Bundesregierung oder des Parlaments sein kann, künftig bestimmte Geburtenzahlen anzustreben.
({4})
Ein zeitweiliger Geburtenrückgang stellt noch nicht die Bestandserhaltung der Bevölkerung in Frage, da die langfristige Entwicklung hierfür entscheidend ist, diese aber noch nicht übersehen werden kann. In späteren Jahren werden z. B. stärker besetzte Jahrgänge nachrücken.
Die familienpolitischen Maßnahmen zielen darauf hin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Familie ihre pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgaben bestmöglich erfüllen kann. Konkrete familienfördernde Maßnahmen müssen sich deshalb an dieser Zielrichtung orientieren - nicht an Gesichtspunkten, die mit einer bestimmten Tendenz auf die natürliche Bevölkerungsentwicklung Einfluß nehmen wollen.
Bevölkerungspolitik und Familienpolitik sind jeweils eigenständige Bereiche; es bestehen jedoch zwischen ihnen Wechselwirkungen, die wir in der Politik auch beachten müssen. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, eine kinderfreundliche Sozialordnung zu schaffen, die es den Eltern erlaubt, die Entscheidung über die Größe ihrer Familie ohne materielle Nachteile selbst bestimmen zu können.
({5})
Und dazu stehen wir. Deshalb wird die Verabschiedung eines gerechten Familienlastenausgleichs eines der wichtigsten Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode sein. Dies wird im Zusammenhang mit der Steuerreform erfolgen und soll erreichen, daß die Familien vom ersten Kind an unabhängig von der Höhe ihres Einkommens nach der Kinderzahl gleichmäßig gefördert werden.
({6})
Wir betrachten Familienpolitik als Gesellschaftspolitik, und die Familien in unserem Lande werden sich in diesem Falle auf uns verlassen dürfen.
({7})
Ich möchte zur Rolle der Frau in unserer Gesellschaft -- in weitgehender Übereinstimmung mit Frau Kollegin Funcke - noch einige, vielleicht auch konkretere Ausführungen machen. Wir stellen fest, daß wir den Wandlungsprozeß im Hinblick auf die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft in den vergangenen 50 Jahren - wenn ich einmal die Zeit von 1918 bis 1968 nehme nicht so stark empfunden haben, wie er gerade in den letzten Jahren von 1968 bis heute deutlich geworden ist. Die Frauen, die sich früher vorwiegend ihrer familiären und häuslichen Aufgabe widmeten und einer Erwerbstätigkeit nur nachgingen, wenn das finanziell notwendig war, sehen sich heute einem neuen Selbstverständnis gegenübergestellt, und sie sind bereit, neue Rollenfunktionen für sich zu durchdenken und zu übernehmen. Wir müssen ihnen helfen, diesen neuen Standort zu finden und ihre eigene Rolle zu definieren. Nicht gesellschaftlicher Zwang und Konventionen sollen länger die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft bestimmen. In bewußter Eigenverantwortung wird die Frau als Partnerin des Mannes entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten ihren Platz in Familie, Beruf und öffentlichem Leben finden.
Ich glaube, daß gerade die Gesetze, die hier im Bundestag verabschiedet worden sind - das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das Arbeitsförderungsgesetz , Initialzündungen für die Frauen waren, sich neue Gebiete zu erschließen und neue Berufs- und Bildungschancen für sich wahrzunehmen.
({8})
- Sie wissen ganz genau, durch welche gemeinsame Arbeit es geschehen ist, Herr Kollege.
({9})
Aber noch heute gibt es Hemmnisse, z. B. auch im
gesellschaftspolitischen Bereich. Das Angebot an
Frau Eilers ({10})
Kindergärten ist noch nicht so breit, daß die Frauen wirklich ihre volle Funktion schon übernehmen können. Soziale Gegebenheiten sind daher zu verändern. Ein Umdenken in unserer Gesellschaft ist notwendig, um diesen emanzipatorischen Bestrebungen der Frauen auch zum Durchbruch zu verhelfen.
Die Sozialdemokratische Partei hat sich den Belangen der Frau schon immer angenommen. Die Frauen haben durch ihre Wahlentscheidung am 19. November für die sozialliberale Koalition dieses Bemühen anerkannt. Dieses Vertrauen werden wir bei der Regelung der auf uns wartenden Aufgaben nicht enttäuschen.
Bereits die erste von Sozialdemokraten und Freien Demokraten getragene Regierungserklärung im Jahre 1969 hob die besondere Verpflichtung gegenüber den Frauen hervor, als sie Konsequenzen ankündigte, „um den Frauen mehr als bisher zu helfen, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Beruf, Politik und Gesellschaft zu erfüllen". In der 7. Legislaturperiode wird dieses Ziel weiter zu verfolgen sein, wobei auf das Erreichte aufgebaut und damit von einer günstigeren Position, als wir sie 1969 vorgefunden haben, ausgegangen werden kann.
Der sozialdemokratischen Fraktion geht es dabei nicht nur um die Durchsetzung von Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes in allen Lebensbereichen, sondern darüber hinaus auch um die Verwirklichung gleicher Chancen für Frauen, also um ihre soziale Gleichberechtigung und volle gesellschaftliche Integration. Durch zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen - von der Bundesregierung in einem speziellen „Frauenbericht dokumentiert - wurde die rechtliche Stellung der Frau in Familie, Beruf und Gesellschaft entscheidend verbessert. Zugleich wurden wesentliche Voraussetzungen im Hinblick auf die Chancengleichheit geschaffen. Und rückblickend möchte ich mir - nicht ohne Stolz - die Feststellung erlauben, daß in den drei Jahren sozialliberaler Koalition mehr zur Verbesserung der Situation der Frau erreicht und eingeleitet worden ist als in jeder vorhergegangenen Legislaturperiode.
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- Sie haben den Weg miterlebt, daher sollten Sie es eigentlich beurteilen können.
Bei der eingeleiteten Reform des Ehe- und Familienrechts wurde politisches Neuland beschritten. Dieses in der 6. Legislaturperiode eingeleitete umfangreiche Reformvorhaben wird in den Gremien dieses Hauses in nächster Zeit ausführlich zu erörtern sein. Sozialdemokraten wollen mit diesem Gesetzeswerk insbesondere dem Verständnis der jüngeren Generation entsprechen, für die sich die Ehe - unter sozialpolitischem Aspekt - als eine Gemeinschaft auf partnerschaftlicher Basis darstellt. Unter sozialpolitischen Aspekten messe ich dabei einer zufriedenstellenden Regelung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen eine besondere Bedeutung zu, um im Falle einer Scheidung dem wirtschaftlichen schwächeren Ehepartner - gewöhnlich ist das ja die Frau - zu mehr Gerechtigkeit als bisher zu verhelfen und sie nicht länger auf eine meist unzulängliche eigene Alters- und Invalidenversicherung zu verweisen.
Die im Regierungsprogramm von Bundeskanzler Willy Brandt angekündigte moderne Sozialpolitik, die ein Streben nach mehr Gerechtigkeit beinhaltet, fassen wir Sozialdemokraten als eine besondere Verpflichtung gegenüber den Frauen auf. Daher werden künftig alle gesetzgeberische Maßnahmen, auch jene, die außerhalb des Bereichs der eigentlichen Sozialpolitik liegen, auf ihre frauensoziale Komponente hin zu überprüfen sein. Dabei denke ich auch an die Steuergerechtigkeit gegenüber einzelnen Gruppen, beispielsweise gegenüber den ledigen, den geschiedenen, den verwitweten Frauen oder auch verwitweten Männern mit Kindern, Probleme, die im Rahmen der Steuerreform das besondere Anliegen der sozialdemokratischen Parlamentarierinnen finden werden.
Bei der Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung wird meine Fraktion überprüfen, wie den besonderen Bedürfnissen berufstätiger Mütter oder Väter - um auch hier den von uns angestrebten Partnerschafts-Prinzipien Geltung zu verschaffen Rechnung getragen werden kann, um bei Erkrankung eines Kindes entsprechend zu helfen. Dies gilt auch für den umgekehrten Fall, wenn eine Familienmutter etwa ernsthaft erkrankt ist und im Haushalt lebende Kleinkinder unversorgt sind.
Den besonderen Belangen der Frauen wird auch im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Rechnung getragen werden, in dem nicht nur wegen der jahrzehntelangen sozialpolitischen Versäumnisse unter CDU/CSU-Bundesregierungen einiges nachzuholen ist, sondern auch gerade erst in jüngster Zeit materiell-rechtliche Verbesserungen für Frauen von der Opposition verhindert worden sind. Ich verweise hierbei nur auf das an der Haltung der Opposition gescheiterte „Baby-Jahr" für versicherte Mütter und die von ihr durchgesetzte Hausfrauenversicherung minderen Rechtes. Die sozialdemokratische Fraktion wird überprüfen, in welchem Umfang sich bestehende versicherungsrechtliche Nachteile für Frauen abbauen lassen, um damit die von uns angestrebte eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen ihrem Ziel näherzubringen, wobei sich ein solches Vorhaben keinesfalls im Laufe einer Legislaturperiode voll realisieren lassen wird.
Frau Wex hat hier zum § 218 ausgeführt, daß er keine Frage der Familienplanung sei. Ich glaube, keiner von uns hier ließe einen solchen absurden Gedanken überhaupt aufkommen.
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Uns kommt es darauf an, wenn wir den § 218 aufgreifen, Frauen aus dem Raum des Strafgesetzbuches heraus in eine Situation zu bringen, die unter gesetzlicher, unter ärztlicher Kontrolle von ihr selbst mitbestimmt werden kann. Wir halten es bei der Neuregelung der Strafbestimmungen hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs für dringend geboten --- wir hatten das auch schon in der vorigen Legislaturperiode eingeleitet -, auch die soziale Komponente hier zu intensivieren und die Arbeit daran verbessert weiterzuführen. Unsere Bemühungen auf
Frau Eilers ({13})
sozialpolitischem Gebiet gelten humanen, praktikablen Vorschlägen, die sowohl dem Schutz des werdenden Lebens als auch den berechtigten Anliegen der Mütter Rechnung tragen. Diese gesetzliche Regelung muß im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ihre Entsprechung finden, wobei wir den vorbeugenden und ergänzenden Maßnahmen eine ganz besondere Bedeutung beimessen.
Wenn ich den Ausführungen des Kollegen Barzel in seiner Antwort zur Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt entnehme, daß „gleicher Lohn bei gleicher Leistung" auch für die Frauen zu einer Selbstverständlichkeit werden müsse, so wird gerade diese Forderung von meiner Fraktion hier wesentlich weiter gefaßt. Wir wollen dem Prinzip „gleicher Lohn für gleichwertige Leistung" zum Durchbruch verhelfen, wobei jede Regelung, die uns diesem Ziel näherbringt, von den Tarifpartnern mitzutragen ist, um den Grundsatz der Selbstbestimmung nicht einzuschränken.
Herr Barzel hat von einem Wettbewerbsprogramm gesprochen, das er alternativ zur Regierungspolitik stellen möchte, im speziellen auch auf den Bereich der sozialen Sicherung der Frauen. Ich muß sagen, ich habe weder bei Herrn Katzer noch bei Frau Wex ein Alternativprogramm in der Frage der sozialen Sicherung der Frau angeboten bekommen. Es wäre schön, wenn wir in gemeinsamer Arbeit im Interesse der Frauen tatsächlich so etwas schaffen könnten.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sich wie bisher gemeinsam mit der Koalitionsregierung in besonderem Maße der Frauen annehmen. Ich möchte daher wünschen und zugleich anregen, daß die Bundesregierung uns in dieser Legislaturperiode erneut einen entsprechenden Tätigkeitsbericht vorlegt, der eine Verfolgung der Maßnahmen und Leistungen für Frauen ermöglicht.
Eine volle Integration der Frauen, politisch wie gesellschaftlich, kann zwar durch gesetzgeberische Maßnahmen unterstützt, nicht jedoch ohne Mitwirkung aller Gesellschaftsgruppen umfassend verwirklicht werden. Wir Sozialdemokraten sehen in der Durchsetzung der sozialen Gleichberechtigung für Frauen und ihrer gesellschaftlichen Integration nicht zuletzt eine Verbesserung der Lebensqualität gerade für den Personenkreis, der in diesem Hause selbst nur zu unzulänglich vertreten ist.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat ,der Herr Bundesinnenminister.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Aus guten Gründen ist dem Umweltschutz in der Regierungserklärung ein breiter Raum eingeräumt worden. Das zeigt den Stellenwert, den die Bundesregierung den Aufgaben des Umweltschutzes beimißt. Es kann deshalb nicht verwundern, daß die ersten Sprecher der Opposition, Herr Dr. Barzel und Herr Strauß, zu dieser Frage - sei es direkt, wie Herr Strauß bei
seinem ersten Ausflug in den Umweltschutz, sei es indirekt, wie bei Herrn Dr. Barzel - Stellung genommen haben.
Die Mitteilung von Herrn Dr. Barzel über die künftige Verfassungspolitik der Opposition verdient Würdigung, weil sie erkennen läßt, daß die Opposition abweichend von ihrem Verhalten in der letzten Legislaturperiode in dieser Legislaturperiode an Verfassungsänderungen nicht mehr mitwirken will. Das bedeutet praktisch eine Verweigerung zukünftiger und dringend notwendiger Verfassungsänderungen für die gesamte vor uns liegende Legislaturperiode.
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Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
Bitte schön.
Herr Kollege Genscher, sind Sie bereit einzuräumen, daß ich erklärt habe: Die Opposition ist bereit, in dieser Legislaturperiode an Änderungen des Grundgesetzes mitzuwirken, sie zieht es aber vor, die aus der Enquete-Kommission kommenden abgeschlossenen Teile im Gesamtzusammenhang zu verabschieden, um von den vielen Einzeländerungen des Grundgesetzes der vergangenen Periode wegzukommen? Ich möchte Sie einladen, das zur Kenntnis zu nehmen. So ist das gemeint und gar nicht anders.
Herr Kollege Barzel, Sie haben ausgeführt, es sollten keine weiteren Einzeländerungen des Grundgesetzes mehr vorgenommen werden vor Abschluß der entsprechenden Arbeiten der Enquete-Kommission. Wer die Dauer der Arbeit der Enquete-Kommission und die Möglichkeit der Verwertung ihrer Erkenntnisse noch in dieser Legislaturperiode kennt, weiß, daß das in der Praxis bedeutet, daß Sie in dieser Legislaturperiode daran nicht mehr mitwirken können.
Wenn das noch jemand bezweifeln sollte, dann muß er nachlesen, was Kollege Strauß hier zu dem konkreten Bereich des Umweltschutzes gesagt hat. Kollege Strauß hat ausgeführt:
Gerade bei Landschaftsschutz, Naturschutz, Gewässerschutz soll sich der Bund darauf beschränken, ein Rahmengesetz zu erlassen, mit deren Hilfe dann die Länder auf Grund ihrer regionalen Sonderbedingungen das tun können, was für sie in ihren Bereichen zweckmäßig und notwendig ist.
Das bedeutet Ablehnung der notwendigen Übertragungen von Kompetenzen auf den Bund, damit wir mit unserer Umweltschutzgesetzgebung vorankommen.
Dabei frage ich mich allerdings, wo eigentlich beim Gewässerschutz, wenn Sie sich einmal den Rhein ansehen, die regionalen Sonderbedingungen am
Rheinverlauf liegen. Wir bemühen uns im Augenblick darum, europäische Lösungen beim Umweltschutz durchzusetzen. Hier gibt es Leute - offenbar neuerdings, wie ich gleich begründen werde -, die der Meinung sind, wir brauchten unverändert ein unterschiedliches Wasserrecht in den verschiedenen deutschen Bundesländern.
In der letzten Legislaturperiode haben Sie sich zur Übertragung der Kompetenz für die Reinhaltung des Wassers noch positiv ausgesprochen. Herr Kollege Dr. Gruhl hat gesagt, er sei überzeugt, daß die Kollegen der CSU in der Landesgruppe im Bundestag dieser Kompetenzverlagerung zustimmen würden. In Ihren Grundsätzen für die Umweltpolitik, die Sie im Oktober letzten Jahres den Wählern vorgestellt haben, haben Sie zum Ausdruck gebracht, daß Sie sich dafür einsetzen wollen, daß diese Kompetenzverlagerung auf den Bund, die Sie für dringend notwendig halten, stattfinden kann.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Herr Bundesminister Genscher, können Sie mir die Stelle der Regierungserklärung zitieren, in der der Herr Bundeskanzler die Übertragung dieser Kompetenz gefordert hat?
Herr Kollege Dr. Lenz, der Bundeskanzler hat sich dafür ausgesprochen, das Umweltprogramm der Bundesregierung zu verwirklichen. Darin ist diese Forderung enthalten.
Im übrigen muß ich Ihnen noch einmal sagen: Herr Kollege Strauß hat, ohne daß es ausdrücklich in der Regierungserklärung genannt war, schon vorsorglich die Übertragung dieser Kompetenz abgelehnt. Daran ist nicht zu rütteln. - Bitte schön.
Herr Kollege Genscher, täuscht mich meine Erinnerung, wenn ich sage, daß der Kollege Strauß in seiner Rede die Übertragung weiterer Kompetenzen davon abhängig gemacht hat, daß die bisher an die Bundesregierung und an den Bund übertragenen Kompetenzen erst einmal genutzt werden? Können Sie hier bestätigen, daß das schon in vollem Umfang geschehen ist?
Herr Kollege Dr. Lenz, ich muß es Ihnen noch einmal vorlesen. Hier heißt es:
Gerade bei Landschaftsschutz, Naturschutz, Gewässerschutz soll sich der Bund darauf beschränken, Rahmengesetze zu erlassen.
Dann können die Länder diese Rahmengesetze ausfüllen. - Bitte schön.
Herr Kollege Genscher, würden Sie die Freundlichkeit haben, auch noch die weiteren Sätze des Kollegen Strauß zu zitieren, in denen steht, daß der Bund von den bisher übertragenen Kompetenzen noch keinen Gebrauch gemacht hat? Es geht doch darum, daß Sie nicht neue Kompetenzen bekommen, ohne die alten in Anspruch genommen zu haben.
Herr Kollege, ich werde im Laufe meiner Ausführung c n noch darlegen, was wir in dieser Beziehung getan haben.
Sie haben in der letzten Legislaturperiode einen aus Ihrer Sicht verständlichen und für uns akzeptablen Grundsatz aufgestellt. Er lautete, daß Sie Grundgesetzänderungen prinzipiell nur zustimmen, wenn die Bundesregierung zugleich das einfache Gesetz vorlegt, mit dem sie von dieser Kompetenz Gebrauch machen will. Ich halte das für einen vernünftigen Grundsatz. Wir haben danach gehandelt, und wir haben die entsprechenden Gesetze vorgelegt. Die Kompetenz für die Abfallbeseitigung haben wir erhalten; das Abfallbeseitigungsgesetz haben wir gemeinsam verabschiedet. Wir haben das Immissionsschutzgesetz vorgelegt. Daß es nicht mehr abschließend beraten werden konnte, lag nicht an uns, sondern ist durch das vorzeitige Ende der Legislaturperiode bewirkt worden. Wir sind also diesem Weg gefolgt.
Ich möchte die Opposition bitten, in diesem Zusammenhang noch einmal ihre Position zu diesen, auch von ihr in der Vergangenheit als notwendig erkannten Kompetenzübertragungen wirklich zu überdenken. Schon in der vorletzten Legislaturperiode hat damals eine Zahl von Kollegen der CDU/CSU -- zum Beispiel war Herr Kollege Kiep dabei; er gehörte ja schon immer zu den progressiven Kräften der Union - eine Anfrage an die Bundesregierung über die Auffassung der damaligen Regierung der Großen Koalition zum Föderalismus gerichtet. Mein Amtsvorgänger hat für die damalige Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung im Interesse einer sinnvollen Fortentwicklung unseres bundesstaatlichen Systems die Übertragung der Kompetenz für den Gewässerschutz für notwendig erachte. Meine Bitte ist also an Sie, Ihre Position zu diesen Verfassungsänderungen zu überdenken und zu dem Grundsatz zurückzukehren, daß Sie zwar darauf bestehen, das einfache Gesetz zu sehen, um zu wissen, wie die Bundesregierung von einer neuen Kompetenz Gebrauch machen will, aber gleichzeitig offen für dringend notwendige Verfassungsänderungen zu sein.
({0})
Meine Damen und Herren, der Kollege Barzel hat dann weiter gesagt, eine weitere einseitige Verlagerung der Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund sei bedenklich. Die Einbahnstraße der Kompetenzverlagerung von den Ländern auf den Bund sollte so nicht weitergeführt werden, weil sonst die Grundlagen des bundesstaatlichen Aufbaus und der hierzu unabdingbaren Eigenstaatlichkeit der Länder gefährdet sein könnten.
Es wird niemand in diesem Raum sein, der sich
dafür einsetzt, unbedenklich Kompetenzverlagerungen vorzunehmen. Wir müssen aber auf der anderen
Seite sehen, daß gerade das Erfordernis der Gleichheit der Lebensverhältnisse, daß notwendige Reformvorhaben unabdingbar fordern, dem Bund in bestimmten Bereichen - ich nenne den Umweltschutz zunehmend Kompetenzen einzuräumen. Es ist auch nicht so, daß das föderalistische System in seiner Funktionsfähigkeit davon abhängig wäre, ob diese oder jene Kompetenz beim Bund oder bei den Ländern ist. Der tragende Grundsatz des Föderalismus - darum bejahen wir ihn zutiefst - ist seine gewaltenteilende Funktion, ist die Möglichkeit der Mitwirkung der Länder im Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung und ist schließlich auch, daß in dem Verfassungsorgan Bundesrat für die Bundesgesetzgebung die Vielfalt der Ideen der Länder zum Ausdruck und zur Durchsetzung kommen kann.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Genscher, ist Ihnen die Passage der Rede des Kollegen Dr. Barzel noch in Erinnerung, in der er davon spricht, daß wir weiteren Verfassungsänderungen nur dann nähertreten können, wenn die entsprechenden Arbeiten der Enquete-Kommission abgeschlossen sind, und ist Ihnen bekannt - das können Sie aus dem Zwischenbericht entnehmen, der in diesen Tagen verteilt worden ist -, daß die Enquete-Kommission bereits präzise an diesem Thema arbeitet? Darf ich jetzt fragen: können Sie daraus den Schluß einer absoluten Ablehnung jeder Bereitschaft zur Kooperation von unserer Seite ziehen?
Herr Kollege Lenz, für diese Legislaturperiode ist das praktisch das Ergebnis. Vor Ablauf von zwei Jahren wird die Enquete-Kommission ganz sicher nicht zu einem Ergebnis gekommen sein. Das Ergebnis muß ausgewertet und überprüft werden, Es sollte Ihnen zu denken geben, daß mein Amtsvorgänger, der Ihrer Fraktion angehörte, schon im Jahre 1969 der Meinung war, der Bund brauche dringend diese Kompetenz. Dann kann es wahrlich nicht vertretbar sein, diese Kompetenzübertragung auf die nächste Legislaturperiode, also auf die Jahre von 1976 an, zu verschieben. Wir brauchen ein Wasserabgabengesetz, Herr Kollege Lenz, wir brauchen gleichartige Gütestandards für unsere Gewässer in der Bundesrepublik Deutschland. Das können wir nicht erreichen, ohne die Kompetenz für die Reinerhaltung des Wassers zu bekommen.
({0})
Ich sage Ihnen dazu: die Menschen draußen im Lande verstehen nicht, daß der Rhein - um es einmal sehr einfach auszudrücken - auf der Höhe von Mainz und Wiesbaden auf der einen Seite nach hessischem und auf der anderen Seite nach rheinland-pfälzischem Recht noch länger saubergehalten werden soll, wenn wir uns auf europäischen Konferenzen um ein europäisches Umweltrecht bemühen.
({1})
Deshalb wollen wir an Sie appellieren, uns hier bei der Gesetzgebung zu unterstützen. Wir machen Ihnen das Angebot, wie in der vergangenen Legislaturperiode auch diesmal von Ihnen nicht einen Freibrief für den Gebrauch dieser neuen Kompetenz zu verlangen, sondern Ihnen mit der Verfassungsänderung die zur Ausführung und Ausfüllung dieser Kompetenzverlagerung erforderlichen Gesetze vorzulegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Herr Kollege Genscher, ich glaube, wir sind uns in diesem Hause in dieser Zielsetzung, die Sie angesprochen haben, hundertprozentig einig. Die Frage, um die es hier geht, war doch: Ist es unbedingt erforderlich, das so zu machen, wie Sie es in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen haben? Das war der Punkt, an dem Sie im Bundesrat gescheitert sind, und diesen Punkt müssen wir halt noch einmal erörtern. Herr Kollege Barzel hat vorgeschlagen, dabei die Enquete-Kommission einzuschalten. Ich weigere mich einfach, hinzunehmen - ich hoffe, Sie stimmen mir darin zu; dies ist meine Frage -, daß Sie die Stellungnahme des Kollegen Barzel hier zu Unrecht als völlige Verweigerung der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet darstellen; dies entspricht nicht den Tatsachen. Stimmen Sie mir darin zu, Herr Kollege Genscher?
({0})
Herr Kollege Lenz, wenn eine andere Absicht hinter dieser Erklärung steht, würde ich das außerordentlich begrüßen, aber diese andere und von mir ausdrücklich als bessere, von Ihnen eben in die Erklärung von Herrn Barzel interpretierte Absicht kann nur dann verwirklicht werden, wenn Sie die Bedingung streichen, daß Sie erst nach Vorlage der Arbeiten der Enquete-Kommission bereit sind, über Kompetenzverlagerungen zu sprechen und ihnen zuzustimmen. Zusätzlich müssen Sie für den Bereich des Umweltschutzes auch noch ausräumen, was Herr Kollege Strauß expressis verbis gesagt hat, daß er nämlich keine Notwendigkeit sehe, die Kompetenz für Landschaftsschutz, Naturschutz und Gewässerschutz zu verlagern. Er hat das doch nicht als CSU-Vorsitzender gesagt, sondern als Sprecher für die Gesamtfraktion, möglicherweise natürlich auch nur als Vertreter der Auffassungen Bayerns denn Bayern hat schon in der Vergangenheit im Bundesrat Einspruch dagegen erhoben.
Meine Damen und Herren, es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß Kompetenzverlagerungen nur in diesem Bereich notwendig sind. Ich will Ihnen einen anderen Bereich nennen. Die Innenminister der Länder, die wahrscheinlich nicht in dem Verdacht stehen, daß sie Vertreter eines Zentralstaatsdenkens seien oder ihren ganzen Ehrgeiz darin setzen, Kompetenzen auf den Bund zu übertragen,
haben mit einer Ausnahme den Bundesinnenminister gebeten, sich dafür einzusetzen, daß der Bund die Vollkompetenz für das Sprengstoffrecht bekommt, weil sie wissen, daß mit der gegenwärtigen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern eine im Interesse der inneren Sicherheit ausreichende Kontrolle des Erwerbs und der Verwendung von Sprengstoffen nicht möglich ist. Nun frage ich Sie: Wie wollen Sie Ihre Forderung nach innerer Sicherheit mit einer Verweigerung oder einem Hinausschieben der Kompetenzverlagerung in diesem für die innere Sicherheit ganz entscheidenden Punkt in Einklang bringen, in dem sich die Ihrer Partei angehörenden Innenminister ausnahmslos, Herr Kollege Lenz, für eine Kompetenzübertragung nicht erst in vier Jahren, sondern schon in dieser Legislaturperiode einsetzen?
({0})
- Nein, Herr Kollege Lenz, ich wäre dankbar - es werden ja noch Redner von Ihnen kommen; Herr Dregger ist schon gemeldet -, wenn dieser Irrtum ausgeräumt werden könnte. Wenn Sie hier gesagt hätten, daß Sie auch vor Abschluß der erst in einigen Jahren zu erwartenden Schlußarbeit der Enquete-Kommission bereit sind, Verfassungsänderungen zuzustimmen, dann hätte diese Debatte dem Verständnis der Erklärung Ihres Vorsitzenden gedient und hätte damit ein großes Bedenken bezüglich der Haltung der Opposition in ganz entscheidenden Fragen unserer Verfassungspolitik ausgeräumt.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich so gründlich in diese Frage einsteige. Es ist einfach nicht denkbar, daß wir die Umweltschutzpolitik der Bundesregierung, wie sie im Umweltprogramm dargelegt ist, wie sie die Zustimmung Ihrer Fraktion in der Vergangenheit gefunden hat, etwa daran scheitern lassen müßten, daß wichtige Gesetzgebungsvorhaben auf lange Zeit aufgeschoben werden. Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung mit Recht davon gesprochen, daß das Recht auf eine saubere Umwelt, auf menschenwürdige Lebensverhältnisse im Umweltbereich Verfassungsrang haben sollte. In der Tat, Umweltschutz ist unser aller Bürgerrecht und längst nicht mehr, wie man vielleicht früher meinte, die Marotte einiger Ökologen. Es besteht kein Zweifel, daß die natürlichen Hilfsquellen als Grundlage menschlicher Existenz unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gehören, daß dieser Schutz denselben Rang haben sollte wie die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit von Forschung und Lehre oder das Recht auf Bildung. Meine Damen und Herren, dem Recht auf ungestörten Schlaf, auf sauberes Wasser und reine Luft sollten wir Verfassungsrang einräumen. Wir wollen dazu beitragen, daß die Zielkonflikte zwischen Umweltschutz einerseits und Produktivität und Konsum andererseits gelöst werden können. Der Verfassungsrang des Rechts auf menschenwürdige gesunde Lebensbedingungen löst folgerichtig auch die Pflicht aus, alle Planungsentscheidungen der öffentlichen Hand und der Wirtschaft auf ihre Umweltverträglichkeit zu prüfen. Die Sozialstaatsklausel unseres freiheitlichen Rechtsstaates wird damit für einen weiteren Sektor konkretisiert und ausgefüllt. Zugleich schafft dieser Verfassungsrang auch Auslegungs- und Abwägungsmaßstäbe für geltendes Recht und für künftig zu setzendes Recht und gibt damit der Umweltpolitik eine neue Dimension und Priorität.
Die Bundesregierung wird den im Umweltprogramm vom Herbst 1971 beschrittenen Weg vom bloß reagierenden Umweltschutz zu einer planvollen und umfassenden Umweltpolitik auch in der Fortschreibung des Programms konsequent weitergehen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode die Grundgesetzänderungen durchführen können für die Abfallbeseitigung, für die Lärmbekämpfung, für die Reinerhaltung der Luft. Jetzt stehen vor uns wichtige neue Kompetenzverlagerungen und Gesetze. Wir hätten das Abfallbeseitigungsgesetz nicht schaffen können, wir könnten das Immissionsschutzgesetz nicht verabschieden, wenn wir nicht in der Vergangenheit in Zusammenarbeit mit Ihnen diese Kompetenzverlagerungen hätten durchführen können. Vor uns steht die Notwendigkeit, das Immissionsschutzgesetz endlich zu verabschieden. Vor uns steht die Notwendigkeit, die Novellen zum Wasserhaushaltsgesetz zu verabschieden, das Wasserabgabengesetz, das Umweltstatistikgesetz und das Wasserhygienegesetz. Das ist ein großes Gesetzgebungsprogramm, das in wesentlichen Teilen vorbereitet ist.
Die Bundesregierung wird darüber hinaus - das möchte ich mit besonderem Nachdruck sagen - ihre Bemühungen fortsetzen, auch in europäischer Zusammenarbeit zu einer gemeinsamen europäischen Umweltpolitik zu kommen. Wir sehen die internationale Zusammenarbeit als notwendig an, weil sie in bestimmten Fällen aus der Sache heraus geboten ist. Ich erinnere nur an die gemeinsamen Bemühungen um die Reinhaltung des Rheins. Wir brauchen diese internationalen Bemühungen, weil wir gemeinsame Forschungsvorhaben weniger aufwendig durchführen können. Wir brauchen die internationale Zusammenarbeit, insonderheit aber eine Zusamemnarbeit in der Europäischen Gemeinschaft, weil wir keine neuen Handelshindernisse durch unterschiedliche Umweltschutzbedingungen und -bestimmungen entstehen lassen wollen. Schließlich wollen wir auch nicht neue Wettbewerbsverzerrungen durch den Umweltschutz entstehen lassen.
Nun wird die Frage entstehen: was geschieht, wenn es in bestimmten Bereichen nicht möglich ist, internationale Regelungen so zu verwirklichen, wie unser Umweltschutzprogramm sie vorsieht? Wie verhält sich die Bundesregierung, wenn wir z. B. in Europa nicht in der Lage sind, sofort alle unsere Partner von der Notwendigkeit dieser oder jener Regelung zu überzeugen? Wir haben im letzten Herbst auf Antrag der Bundesregierung hier in Bonn die erste europäische Umweltministerkonferenz gehabt. Wir haben gerade in dieser Konferenz die Frage der Zusammenarbeit in der Gemeinschaft untersucht. Wir konnten als gemeinsames Ergebnis
festhalten - ich zitiere wörtlich aus einer gemeinsamen Entschließung - :
Es muß Ziel der Umweltpolitik in der Gemeinschaft sein, so weit wie möglich koordinierte und harmonsierte Fortschritte der jeweiligen nationalen Politik zu fördern, ohne jedoch die Fortschritte zu verhindern, die auf nationaler Ebene schon erreicht wurden oder erreicht werden könnten.
Das bedeutet, daß die Bundesregierung in Zukunft wie in der Vergangenheit fehlende internationale Möglichkeiten nicht als Vorwand für nationale Untätigkeit nehmen wird. Ich sage an die Adresse aller, die es angeht - ich meine niemanden hier im Hause, sondern ich meine viele Betroffene - : niemand sollte darauf vertrauen oder gar spekulieren, es könne in Brüssel Möglichkeiten geben, konkrete Bestimmungen und Regelungen in der Bundesrepublik aufzuhalten oder auszuhöhlen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird von ihren Kompetenzen Gebrauch machen, weil wir wissen, daß wir der großen Herausforderung, die uns die Umwelt stellt, gerecht werden müssen, wenn wir nicht die Glaubwürdigkeit und damit auch den Bestand dieser unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung verspielen wollen. Sie muß sich auch bei der Lösung dieser Probleme bewähren. Hier geht es nicht ohne harte und strikte staatliche Regelungen und nicht ohne die Erkenntnis, daß Umweltpolitik auf der einen Seite der Mitwirkung aller Bürger bedarf, auf der anderen Seite aber nicht auf den großen Planungsrahmen staatlicher Entscheidungen verzichten kann.
Deshalb wollen wir wahrlich im Zusammenhang mit der Umweltpolitik nicht eine Art „Bruttonationalglück" anstreben, wie es Herr Kollege Strauß hier ironisiert hat. Ich meine vielmehr, die Gefahr, daß wir hier zu einem „Bruttonationalglück" kommen, ist nicht so groß, wie die Gefahr bei Untätigkeit in Sachen Umweltschutz wäre, daß wir zu einer Bruttonationalkatastrophe kämen, wenn wir hier nicht handelten.
({2})
Daher, meine Damen und Herren, habe ich diese kurze Intervention zu Beginn des Teiles der Debatte, der sich mit meinem Bereich befassen wird, benutzt, um Sie von der Opposition dringlich zu bitten, Ihre bisherige Arbeit und Mitarbeit gerade im Bereich des Umweltschutzes fortzusetzen, auch dort, wo Verfassungsänderungen notwendig sind, und zwar notwendig nicht in zwei oder drei oder vier Jahren, sondern jetzt und hier bei Wiedervorlage der Gesetzentwürfe und der Entwürfe zu Verfassungsänderungen jeder von uns zu dem stehen muß, was er in der letzten Legislaturperiode gesagt, seinen Wählern vor der Wahl versprochen hat und was für ihn auch ein Beitrag zur Glaubwürdigkeit seiner Ankündigungen vor den Wahlen und zu ihrer Verwirklichung danach sein wird.
({3})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesinnenminister hat es für angemessen gehalten, in der Aussprache über die Regierungserklärung die innenpolitische Runde selbst zu eröffnen. Das ist sein Recht, aber das ist ungewöhnlich. Herr Kollege Genscher, waren etwa auch Sie der Meinung, daß der innenpolitische Teil der Regierungserklärung so dürftig ist, daß er noch durch eine Zusatzerklärung von Ihnen erweitert werden mußte?
({0})
Der Herr Bundesinnenminister hat es ferner für zweckmäßig gehalten, Fragen an die Opposition zu stellen, bevor die Opposition Fragen an die Regierung stellen konnte. Auch das ist sein Recht, aber das ist ebenfalls ungewöhnlich.
Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jahren haben wir uns an vieles gewöhnen müssen, z. B. daran, daß die Regierung die Versprechungen macht und daß sie dann die Opposition fragt, wie man sie verwirklicht.
({1})
Das ist nicht die übliche Arbeitsteilung in einer parlamentarischen Demokratie. Wir haben nicht die Absicht, uns diese Arbeitsteilung von Ihnen aufzwingen zu lassen. Herr Kollege Genscher, wir haben auch nicht die Absicht, den Schwerpunkt der Diskussion über die Innenpolitik von Ihnen bestimmen zu lassen.
({2})
Ich bitte um Verständnis, daß ich auf diese Fragen daher jetzt nicht eingehe,
({3})
zumal die Zwischenfragen meiner Kollegen einiges geklärt haben und es nach unserer, Arbeitsteilung Herr Kollege Vogel übernommen hat, etwas zum Umweltschutz zu sagen.
Ein Wort zum innenpolitischen Teil der Regierungserklärung als Ganzem. Für ihn gilt, was für die Regierungserklärung überhaupt gilt: Er klingt wohltuend, verschweigt das Wesentliche und verharrt, soweit er nicht schweigt, im Unverbindlichen:
({4})
Keine inhaltliche Aussage zum Angriff der Systemveränderer auf unsere verfassungsmäßige Ordnung, kein Wort zur politischen Kriminalität. Die beklagenswerte Lage an den Universitäten findet ihren Ausdruck in der Bitte der Regierung an die Betroffenen - ich zitiere -, sich nicht entmutigen zu lassen und sich nicht zu zersplittern. „Freunde, harrt aus, seid tapfer!"
({5})
Herr Bundeskanzler, dieses geradezu biedermeierlich klingende Wort verschleiert mehr, als daß es aufhellt. Der Lage an den Universitäten jedenfalls wird es nicht gerecht. Mancher, der sich dort be308
droht und vom Staat im Stich gelassen fühlt, wird ein solches Wort in einer Regierungserklärung als blanken Hohn empfinden.
({6})
Meine Damen und Herren, eine Regierungserklärung ist doch wohl in erster Linie nicht eine literarische, sondern eine politische Aufgabe. Ein Regierungschef muß führen, muß fordern, muß sagen, was zu tun ist. Die Absicht, möglichst allen das zu sagen, was sie hören möchten, und vor allem das nicht zu sagen, was sie nicht hören möchten, und alles so zu sagen, daß niemand beschwert und beunruhigt wird, das mag am Ende einer Legislaturperiode im Angesicht einer Wahl verzeihlich sein; zu Beginn einer Legislaturperiode ist es unverzeihlich. Herr Bundeskanzler, wo bleibt Ihr innenpolitisches Programm? Diese Frage wurde durch Ihre Regierungserklärung nicht beantwortet.
Herr Bundesinnenminister, Sie erinnern sich sicherlich an die vergangene Legislaturperiode. Was hätten Sie zustande gebracht, wenn Sie in der Sicherheitspolitik allein auf die in dieser Hinsicht unentschlossene Koalition angewiesen gewesen wären und wenn Ihnen die Opposition nicht in einer parlamentarisch so ungewöhnlichen Weise geholfen hätte?
({7})
Weder die von meiner Fraktion beantragte Haftrechtnovelle noch die Vorlagen des Herrn Minister Genscher zum Bundesgrenzschutz und zum Bundesverfassungsschutz hätten wahrscheinlich dieses Haus passiert. Herr Bundesinnenminister, wir werden auch in der kommenden Legislaturperiode nicht nur im Umweltschutz mit Ihnen zusammenarbeiten, wo immer es geht; und das wird in weiten Bereichen der Fall sein. Politisch entscheidend ist allerdings die Frage, ob wir eine gemeinsame Strategie gegen die politische Kriminalität zustande bringen. Wir zweifeln nicht an Ihrer Bereitschaft und Fähigkeit.
({8})
Aber, Herr Kollege Genscher, verzeihen Sie; was ich jetzt sage, richtet sich nicht gegen Sie persönlich. Sie sind Innenminister dieser Koalition, und solange Sie es sind, sind Sie in der Sicherheitspolitik zwar einiges, aber nicht sehr viel mehr wert als diese Koalition selbst.
({9})
Was will ich damit sagen? Meine Vorbehalte richten sich nicht gegen die Bereitschaft der Koalition zum Kampf gegen die Mördern und Kidnapper, Sprengstofftäter und Bankräuber vom Schlage der Baader-Meinhof-Bande,
({10})
obwohl die intellektuellen Hilfstruppen dieser Koalition sich in dieser Hinsicht manchmal, sagen wir schonend, etwas mehrdeutig ausgedrückt haben. Ich zweifle aber - und das sage ich mit vollem Ernst - an der Fähigkeit der Koalition, dem Klima der Verharmlosung, Beschönigung und Verunsicherung entgegenzutreten, in dem sich solche Straftaten entwikkeln. Wer zum Beispiel sein intellektuelles Haupt verständnisvoll wiegt, wenn an unseren Universitäten Hausfriedensbruch, Nötigung und nur leichte Körperverletzung nicht gerade selten sind, und dem in Wort und Schrift, durch Handlungen und Unterlassungen Ausdruck gibt, der macht sich zumindest moralisch und politisch mitverantwortlich nicht nur für die Lähmung des Wissenschaftsbetriebes, sondern auch für eine Eskalation der Gewalt, die schließlich in Straftaten nach Art von Baader-Meinhof mündet.
({11})
Ein zweiter Aspekt! Wenn sich das Gefühl der Unsicherheit in unserem Lande ausbreiten sollte - es ist noch nicht zu dramatisieren, aber immerhin haben 81 % der Bürger dieses Landes gefordert: Der Staat muß mehr für unsere Sicherheit tun! -,
({12})
dann könnte das System der DDR nicht nur bei denen an Attraktivität gewinnen, die ideologisch anfällig sind, sondern auch bei denen, die die dort herrschende Ordnung bewundern. Dafür gibt es in der deutschen Geschichte Beispiele.
({13})
Nun, wir wollen erklären - was sicherlich übereinstimmende Auffassung des ganzen Hauses ist -: Für uns ist Ordnung kein absoluter Wert. Wir wollen eine Ordnung des Rechts in Freiheit und lehnen es ab, für Ordnung mit dem zu bezahlen, dem Ordnung dienen soll, nämlich dem Recht und der Freiheit des Menschen, und zwar jedes einzelnen Menschen.
Ich bin sicher, daß Justiz und Polizei ihre Aufgabe erfüllen werden, wenn wir sie erfüllen - wir Politiker. Wir müssen erkennen, daß unsere Arbeit mit der Verabschiedung der Gesetze nicht getan ist. Wir müssen Justiz und Polizei moralisch den Rücken stärken, indem wir jeder Aufweichung des rechtsstaatlichen Bewußtseins entgegentreten und nicht das Gegenteil tun.
({14})
Wer es z. B. zuläßt, daß mit Hilfe des imperativen Mandats in Frankfurt am Main ein Polizeipräsident abgelöst wird, weil er ohne Ansehung der Person das Gesetz gegen Rechtsbrecher zur Geltung bringen will,
({15})
wer so etwas tut und mit dem innerparteilichen Mäntelchen der Liebe zudeckt, lädt eine schwere Verantwortung auf sich und ist zur politischen Wahrnehmung - -({16})
- Nein, das ist kein Unsinn, das ist die Wahrheit, und wir können es in der Diskussion ja vertiefen, Herr Kollege Schäfer.
({17})
Wer einen Richter zum Vorsitzenden Richter eines Oberlandesgerichts befördert, der auch nach Ansicht des Hessischen Richterbundes Auffassungen vom Richteramt vertritt, die mit unserer Verfassung nicht übereinstimmen - so geschehen im Falle des Senatspräsidenten Rasehorn, wiederum in Hessen -, verliert das Mandat, vom konsequenten Eintreten für den Rechtsstaat zu sprechen.
({18})
Wenn ich das hier deutlich ausspreche, meine Damen und Herren, dann nicht um parteipolitischer Polemik willen,
({19})
wie sich jetzt mancher zur Beruhigung seines demokratischen Gewissens einreden wird.
({20})
Es geht vielmehr darum, der nicht nur in der Außenpolitik festzustellenden Neigung des Bundeskanzlers entgegenzutreten, Unangenehmes aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Nur wenn wir die Tatsachen erkennen erkennen, nicht unbedingt anerkennen, Herr Bundeskanzler - und aussprechen, was ist, werden wir den Gefahren begegnen, die unserer rechtsstaatlichen Ordnung drohen.
In diesem Zusammenhang ein Wort an den Herrn Bundesinnenminister. Herr Kollege Genscher, bei allem Respekt vor Ihrer Amtsführung - daß dieser Respekt auch Grenzen hat, bedarf keiner Hervorhebung -({21})
möchten wir Sie auffordern, sich gerade in den kommenden Jahren nicht auf die technische Seite der Verbrechensbekämpfung zu beschränken, sondern vor allem die politischen Führungsaufgaben wahrzunehmen, die Ihres Amtes sind.
({22})
Sie sind aufgerufen, gegen modische Torheiten auch in Ihrer eigenen Partei und in der Koalition anzugehen
({23})
und gegen die Unterhöhlung des rechtsstaatlichen Bewußtseins in der Auseinandersetzung immer wieder neu Front zu machen, auch dann, wenn es parteipolitisch und koalitionspolitisch einmal nicht opportun erscheint.
({24})
Meine Damen und Herren, ich wage die Behauptung, daß darin die eigentliche, die größte, die schwerste und die wichtigste Aufgabe des Amtes des Bundesinnenministers in den kommenden Jahren liegen wird. Herr Bundesinnenminister, wir werden Ihnen auch in dieser Hinsicht jede Unterstützung leihen, wenn Sie nur selbst zu kämpfen bereit sind.
({25})
Ein Wort zur Verfassungspolitik. Der Bundesinnenminister ist nicht nur der oberste Schirmherr der inneren Sicherheit, sondern auch der Verfassungsminister. Auch hier sind die mehr technische
Seite seiner Amtsführung und die Wahrnehmung grundsätzlicher Positionen im Kampf um unsere verfassungsmäßige Ordnung zu unterscheiden. Die Verfassung ist nicht nur ein Organisationsstatut für den Staat, sondern Grundlage der freiheitlichen Existenz eines jeden Bürgers.
Aufgabe Nummer eins des Verfassungsministers und aller verfassungstreuen Kräfte ist es, die ideologische Herausforderung der Spätmarxisten abzuwehren, die den Staat als Instrument der herrschenden Klasse denunzieren und ihm jede Legitimität absprechen. Um diesen Staat zu verteidigen, ist es notwendig, seine Konturen hinter den soziologischen Wortschleiern, die heute über ihn gebreitet werden, sichtbar zu machen und ihn in den Köpfen und Herzen der Menschen, insbesondere der Jugend, zu verankern.
Die zweite wichtige Aufgabe, die insbesondere Ihnen, Herr Bundesinnenminister, als Verfassungsminister und als Ressortminister für den gesamten öffentlichen Dienst obliegt, ist es, die Grenzen der Toleranz gegenüber Verfassungsfeinden genau zu bestimmen. Ob der Beschluß, den der Herr Bundeskanzler im Januar 1972 mit den Ministerpräsidenten der Länder gefaßt hat, ein großer Wurf war, ob er tragfähig oder verbesserungsbedürftig ist, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Aber ich meine, es kommt darauf an, daß man seine Abänderung nicht von denen erzwingen läßt, die eine Abgrenzung von Verfassungsfeinden grundsätzlich ablehnen. Mir ist gerade eine dpa-Meldung bekanntgeworden, die das sehr aktualisiert. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten einige Sätze verlesen:
Die Jusos und der SHB haben Bundeskanzler Brandt aufgefordert, gegen den Beschluß der Länderministerpräsidenten über die Beschäftigung von verfassungsfeindlichen Kräften im öffentlichen Dienst vorzugehen. In einem gemeinsamen Brief an Bundesregierung und SPD-Landtagsfraktion verlangten die Organisationen, Brandt solle in einer neuen Sitzung der Ministerpräsidenten die Aufhebung der Beschlüsse erwirken. Alle Mandats- und Amtsträger der SPD werden aufgefordert, gegen die Anwendung der Beschlüsse vorzugehen, ihre Anwendung zu unterlassen und auf Einstellung der von den Berufsverboten Betroffenen hinzuwirken.
({26})
Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist sehr deutlich. Hier geht es um eine grundsätzliche Ablehnung, nicht um die Frage der Opportunität oder der Praktikabilität. Ich meine, es darf nicht so sein, daß der Bund die Gemeinsamkeit von Bund und Ländern in dieser Frage zerbröseln läßt.
Wenn Änderungen notwendig sein sollten, dann ist es die Aufgabe des Bundesinnenministers, tätig zu werden und für eine gemeinsame Haltung von Bund und Ländern Sorge zu tragen. Daß der Bundeskanzler zu der ständigen Durchbrechung eines von
ihm selbst mit gefaßten Beschlusses bisher geschwiegen hat, ist schlimm genug. Aber ebenso schlimm ist es, daß der Ressortminister für die Verfassung und den öffentlichen Dienst bis heute ebenso geschwiegen hat, vielleicht, Herr Kollege Genscher, aus koalitionspolitischen Gründen. Auch das koalitionspolitische Herunterschlucken muß da eine Grenze haben, wo Staat und Verfassung gefährdet werden. Ich meine, daß das dort der Fall ist, wo z. B. Kommunisten - und für Rechtsextremisten gilt genau dasselbe ({27})
Gelegenheit erhalten, sich im öffentlichen Dienst und insbesondere im Bildungswesen festzusetzen. In .diesem Staat kann jeder denken, was er will; im Rahmen der Strafgesetze kann auch jeder reden und handeln, wie er will; besondere Pflichten gelten aber für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die nach allen Beamtengesetzen verpflichtet sind, den demokratischen Staat und seine Verfassung aktiv zu verteidigen. Sie haben keinerlei Anspruch auf Beschäftigung und Besoldung von seiten des Staates, den sie bekämpfen.
({28})
Meine Damen und Herren, es mag Kommunist sein, wer will; aber wer Kommunist ist und den Wert unserer freiheitlichen Ordnung leugnet, darf nicht Lehrer unserer Kinder sein.
({29})
Herr Bundesinnenminister, wir vermissen Ihre Aktivität, wo es darum geht, diese ebenso einfache wie unausweichliche Konsequenz in der Koalition deutlich zu machen. Niemand kann Ihnen mangelnde Öffentlichkeitsarbeit und eine ungenügende Spannbreite Ihrer Erklärungen zum Vorwurf machen, aber Äußerungen zu der unverantwortlichen Nachgiebigkeit mancher Politiker gegenüber kommunistischer Unterwanderung fehlen meines Wissens bisher vollständig.
({30})
Und noch eins. Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß die DKP nicht verboten ist, verpflichtet den Staat nicht, Mitglieder dieser Partei in den öffentlichen Dienst zu übernehmen.
({31})
- Meine Damen und Herren, das spielt gar keine Rolle,
({32})
von welcher Partei und von welcher Landesregierung hier Beschlüsse gefaßt worden sind, die wir nicht billigen können. Das kann nicht von einem parteipolitischen Standpunkt her beurteilt werden, sondern nur von einem allgemeinpolitischen demokratischen Standpunkt her.
({33})
Wenn es anders wäre, bliebe dem Bundesminister des Innern keine andere Wahl, als pflichtgemäß die DKP als Ersatzorganisation der bereits vom Verfassungsgericht verbotenen KPD zu verbieten. Herr
Wehner, beide unterscheiden sich doch nur durch die Reihenfolge der Anfangsbuchstaben: KPD und DKP.
({34})
Wer 'die politische Auseinandersetzung dem rechtlichen Verbot vorzieht - und dazu bekenne ich mich persönlich -, sollte nicht die Voraussetzungen in Frage stellen, ohne die eine rein politische Auseinandersetzung keinen Erfolg haben kann. Das sind meines Erachtens zwei: zum einen, daß der öffentliche Dienst freigehalten wird, und zum anderen, daß die demokratischen Parteien sich klar von verfassungsfeindlichen Kräften abgrenzen.
Meine Damen und Herren, auch hierzu ein deutliches Wort. Wir sehen mit Sorge, daß es der Führung der SPD immer weniger gelingt, Volksfrontbündnisse ihrer Mitglieder mit Kommunisten zu verhindern.
({35})
- Das können Sie doch nicht bestreiten; das ist doch Ihr ständiger Ärger!
Diese Entwicklung, meine Damen und Herren, vollzieht sich nicht allein in der Bundesrepublik.
({36})
Es ist nicht zu übersehen, daß sich in mehreren Ländern Europas die demokratischen Sozialisten wieder auf die totalitären Sozialisten Moskauer Provenienz - wenn auch nur aus taktischen Gründen - zubewegen.
({37})
In Frankreich treten demnächst Kommunisten und demokratische Sozialisten gemeinsam zur Wahl an. In Schweden stützt sich die sozialdemokratische Minderheitenregierung auf die Kommunisten. In Italien scheitert die Politik der linken Mitte an der Unfähigkeit der Sozialisten, sich von den Kommunisten klar abzugrenzen. In der Bundesrepublik begann die Volksfrontpolitik an den Universitäten. Die amerikafeindlichen Vietnam-Demonstrationen haben gezeigt, daß sie sich über diesen Raum auszuweiten beginnen. Ich will keineswegs die Sozialdemokratie als Ganzes damit identifizieren; aber lesen Sie doch bitte einmal die Rede im Wortlaut, die der Oberbürgermeister von Frankfurt, ein prominentes Mitglied ihrer Partei, an ein vorwiegend linksradikales Publikum zur Vietnam-Frage gehlten hat. Meine Damen und Herren, die Art, in der Herr Arndt unseren wichtigsten Verbündeten diffamiert und sich mit der kommunistischen Bürgerkriegsarmee in Vietnam identifiziert hat, stellte eine Redeweise dar, wie wir sie bisher von Sozialdemokraten nicht gewöhnt waren. Das belastet nicht nur unsere außenpolitischen Beziehungen, es verändert auch die innenpolitische Situation der Bundesrepublik.
Ein Wort zu den Universitäten. An ihnen herrscht nicht nur ein bildungspolitischer, sondern auch ein verfassungspolitischer Notstand. Ich will nicht wiederholen, was viele kritische Beobachter dazu gesagt
haben. Ich erinnere an die ausgezeichneten Analysen von Professor Schelsky. Ist es nicht ein erschreckendes Indiz, wenn neuerdings von verunsicherten und bedrohten Professoren aus Heidelberg berichtet wird, daß sie ihre Zuflucht in Absprachen mit kommunistischen Gruppen gesucht hätten, da diese allein Ordnung garantieren könnten? Meine Damen und Herren, Kommunisten als Ordnungsmacht an unseren Universitäten?! - Herr Bundeskanzler, überhören Sie das alles? Erinnern Sie sich noch an die Aufforderung Professor Steinbuchs, Ihres früheren Anhängers, Ihre Autorität zur Verteidigung der Demokratie zur Geltung zu bringen? Ihr Amt als Bundeskanzler verleiht Ihnen die oberste, zum politischen Handeln berufene Autorität dieses Staates. Handeln Sie endlich!
({38})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Oetting?
Mit Vergnügen!
Bitte schön!
Herr Dregger, Sie haben über die DKP und über die KPD gesprochen und in diesem Zusammenhang auch nicht versäumt, über die SPD zu sprechen. Ich habe eine Zeitlang gewartet; jetzt frage ich Sie, ob Sie bewußt vergessen haben, über SRP, NPD und dann in diesem Zusammenhang auch über die CDU zu sprechen.
({0})
Herr Kollege, wenn Sie mir genau zugehört hätten, dann hätten Sie in Erinnerung, daß ich gesagt habe, daß für Rechtsextremisten genau dasselbe gilt wie für Linksextremisten. Es spielt gar keine Rolle, auf welcher Seite die Verfassungsfeinde stehen.
({0})
Meine Damen und Herren, zum Presserecht: nur zwei Grundsatzpositionen, auf die der Bundesinnenminister zu achten haben wird. Ich bin überzeugt, daß er es tun wird; aber wir möchten ihm den Rücken stärken, einmal, wenn es darum geht, den Vorschlägen auf Einrichtung von Bundes- und Landespresseausschüssen entgegenzutreten, die unserer Auffassung nach eine Einschränkung der Pressefreiheit bedeuten würden, und schließlich, Widerstand zu lei-sien bei Angriffen auf die privatwirtschaftliche Organisation des Pressewesens im Hinblick auf die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich über die verfassungsrechtliche Betrachtung hinaus hinzufügen, daß überall dort in der Welt die Presse unfrei ist, wo sie nicht privatwirtschaftlich organisiert ist. Vielleicht nicht die Theorie, aber die Praxis bestätigt: Rechtsstaatliche Demokratie, marktwirtschaftliche Ordnung und persönliche Freiheit gehören zusammen, und wo nur eine dieser Säulen gestürzt wird, stürzt das ganze Gebäude.
({1})
Ein Letztes. Wir werden unseren Staat und seine freiheitliche Ordnung vor dem sozialistischen Zwangsstaat totalitärer Prägung nicht bewahren können, wenn wir Staat und Verfassung, gestützt auf staatliche Macht, allein mit den Mitteln des Rechts verteidigen wollen. Die Entscheidung fällt letztlich in den Köpfen der Menschen.
({2})
Entscheidend ist daher die Erziehung der Jugend.
Was in dieser Hinsicht geschieht und unterbleibt, ist
verfassungspolitisch erschreckender als alles andere.
({3})
An vielen Schulen, meine Damen und Herren, wird nicht für, sondern gegen unseren demokratischen Staat, nicht für, sondern gegen seine freiheitliche Verfassung erzogen.
({4})
- Ich gebe Ihnen Material in Fülle, in Fülle. Nachdem die Universitäten umfunktioniert sind,
({5})
versuchen Gegner unserer verfassungsmäßigen Ordnung, auch die Lehrerbildung voll in den Griff zu bekommen. Es wird versucht, die Kinder auch dem Elternhaus zu entfremden. Diese Ideologen wollen sie auch aller anderen Bindungen an Kultur, Religion, Tradition und Nation berauben. Ihr Ziel ist der manipulierbare Mensch als Rohstoff für die neue Gesellschaft.
({6})
Diese Art von Gesellschaftspolitik, meine Damen und Herren, ist totalitär, menschenverachtend, niederträchtig und zudem verfassungswidrig.
({7})
- Herr Wehner, Sie haben kürzlich zu meinem sehr geschätzten Kollegen Strauß gesagt, wenn Sie Herrn Strauß sähen, falle Ihnen nichts mehr ein; wenn ich Sie sehe, fällt mir sehr vieles ein, Herr Wehner.
({8})
Meine Damen und Herren, hinsichtlich dessen, was ich zuletzt behandelt habe, verweise ich auf eine Dokumentation, die die CDU-Landtagsfraktion in Wiesbaden im September 1972 veröffentlicht hat. Ich nehme an, daß die Vorgänge an unseren Schulen dem Herrn Bundesinnenminister, unabhängig von dieser Dokumentation, bekannt sind. Ich frage ihn, ob er glaubt, zu diesem verfassungspolitischen Notstand an unseren Schulen schweigen zu können.
Der Bundesverteidigungsminister - ich möchte das dankbar hervorheben; es war Helmut Schmidt
- hat sich in seinem Verantwortungsbereich in
diese Entwicklung durch den Versuch eingeschaltet, die Kultusminister zu veranlassen, den Jugendoffizieren der Bundeswehr Zutritt zu den Schulen zu verschaffen - daß man sich darum bemühen muß, kennzeichnet die Situation - und auf einen objektiven Unterricht über Aufgaben und Funktionen der Bundeswehr hinzuwirken. Die Wirkungen waren zwar gering. An vielen Schulen wird nach wie vor nicht die Verteidigung des demokratischen Staates, sondern die Wehrdienstverweigerung propagiert. Um das zu ändern, müßten Verteidigungsminister und Bundeskanzler sich entschiedener einsetzen. Immerhin wurde wenigstens der Versuch eines Anfangs gemacht. Der Verfasungsminister sollte sich unseres Erachtens verpflichtet sehen, dieses Beispiel im Rahmen seines größeren Verantwortungsbereichs aufzugreifen. Er sollte im Zusammenwirken mit den Kultusministern, ja, im Zusammenwirken mit allen verfassungstreuen Demokraten, darauf hinwirken, daß sich die Erziehung an allen unseren Schulen an der Wertordnung orientiert, die ihren Niederschlag in unserer Verfassung gefunden hat.
Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren: Freiheitliche Demokratie ist die menschenwürdigste Regierungsform der Geschichte, aber auch die gefährdetste. Sie ist, beginnend im Athen des Perikles,
({9})
immer nur für relativ kurze geschichtliche Augenblicke verwirklicht worden. Wenn wir uns in der heutigen Welt umsehen: die freiheitlichen Demokratien sind nur Inseln im Meer des Zwanges. Diese Inseln werden überflutet werden, wenn ihre Bewohner nicht die Deiche befestigen, wenn sie z. B. so töricht und verantwortungslos sind, die Erziehung ihrer Jugend ausgerechnet denen zu überlassen, die ihre freiheitliche Verfassung zerstören wollen, und wenn sich ihre Regierungen auch in Grundsatzfragen opportunistisch verhalten. Ich unterstreiche das Zitat des großen russischen Dichters Solschenizyn, das der Oppositionsführer nicht ohne Grund an den Schluß seiner Rede gesetzt hat, wobei es ihm um etwas ganz anderes ging, als Herr Wehner vermutete. Herr Wehner, Ihnen kann man sicherlich nicht Feigheit vorwerfen; ganz und gar nicht. Sie haben andere Fehler.
({10})
Unsere Jugend braucht Vorbilder. Ich kenne keinen Nobelpreisträger - das ist meine persönliche Auffassung -, der dazu geeigneter wäre als dieser russische Patriot, dieser orthodoxe Christ, dieser tapfere Mann, der die Feigheit verachtet, die sich im Westen auszubreiten beginnt, der nicht den für ihn bequemeren Weg der Emigration wählt, der in seinem Lande ausharrt und dessen Beharrlichkeit verglichen werden kann mit der eines ungarischen Patrioten, des Kardinals Mindszenty. Solschenizyn hat recht: Am Ende von Nachgiebigkeit und Lächeln wird nicht die humane Welt stehen, sondern die Herrschaft der Barbarei über uns alle.
Noch können wir handeln, ohne daß von uns der Mut eines Solschenizyn oder eines Mindszenty gefordert würde. Tun wir endlich das, was möglich und
notwendig ist, um der zweiten deutschen Republik das Schicksal der ersten zu ersparen, ein Schicksal, das heute von anderer Seite droht als damals, das aber sicherlich nicht weniger schrecklich wäre. Handeln wir, ehe es zu spät ist. Handeln wir jetzt!
({11})
Der Kollege Dr. Dregger hat seine erste Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Sie haben ihm dazu gratuliert.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
Ich darf um Ruhe bitten.
Herr Kollege Dregger ist hier neu und hat versucht, ein altes Lied zu singen. Es war nicht nur ein Lied, es waren mehrere. Ich verstehe erst jetzt einen Passus aus der Rede des Herrn Kollegen Barzel vor einer Woche. Dort hat Herr Kollege Barzel gesagt:
Wir stehen zu der ordnungspolitischen Verantwortung, die wir haben, und haben nicht die Absicht, Prätorianer etwa morscher Schlösser zu sein.
Er fühlte wohl selbst die Notwendigkeit, das auszusprechen, was er gerne verhindern möchte, so hoffe ich. Die Rede von Herrn Dregger zeigte, daß er wohl zu der Kategorie, die Herr Barzel kennzeichnete, gehört.
({0})
Damit könnte man an sich schon die Antwort auf Sie, Herr Dregger, abschließen, wenn es nicht so peinlich wäre, was Sie vorgetragen haben.
({1})
- Bitte schön.
Herr Kollege Schäfer, halten Sie die freiheitliche Demokratie und unsere Verfassung für ein morsches Schloß?
Da müssen Sie Herrn Barzel fragen. Ich habe Herrn Barzel zitiert. Das waren ja nicht meine Worte. Ich habe jetzt wohl Herrn Barzel, wie ich hoffe, richtig verstanden.
Dr. Schäfer ({0})
Meine Damen und Herren, die Fragen, die bis jetzt aus dem Bereich des Innenressorts angeschnitten wurden, gehören zu dem größeren Bereich der Gesamtverantwortung im Bundesstaat, sei es, daßman über innere Sicherheit spricht, sei es, daß man über Umweltschutz oder Bildungspolitik spricht. Das hat das Grundgesetz der gemeinsamen Verantwortung der Länder und des Bundes zugeordnet. Sie können diese Fragen nur gemeinsam regeln.
Diese Bundesregierung, die politisch identisch ist mit der vorangehenden, hat immer, von Anfang an der Frage des Föderalismus ihr besonderes Augenmerk gewidmet. Sie hat eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die über die Länderneugliederung beraten soll. Den Bericht werden wir ja wohl in wenigen Wochen erhalten. Sie hat ihrerseits von vornherein erklärt - wir haben das dann vom Bundestag aus unmittelbar getan -, daß eine Sachverständigenkommission prüfen müsse, inwieweit das Grundgesetz weiterentwickelt werden müsse wobei wir uns einig sind, daß es sich nicht um eine Generalrevision des Grundgesetzes handeln kann -, um den Anforderungen der Zukunft gerecht werden zu können. Die schon mehrfach erwähnte Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform, die zu leiten ich in den letzten zwei Jahren die Ehre hatte, hat ihren Zwischenbericht vorgelegt. Wir sind uns wohl darüber einig, daß die Arbeiten fortgeführt werden, aber es dauert noch mindestens zwei Jahre.
Herr Kollege Lenz, ich darf Sie daran erinnern, daß wir uns ganz am Anfang in einer der ersten Sitzungen der Enquete-Kommission darüber einig waren, daß notwendige Verfassungsänderungen, die aus der Tagespolitik heraus notwendig erscheinen, nicht bis zu einem Zeitpunkt aufgehalten werden sollen, der nach der Vorlage des Schlußberichts liegen müßte. - Bitte, Herr Lenz.
Herr Kollege Schäfer, können Sie mir im Augenblick bestätigen, daß bei den Beratungen über die Verteilung der Gesetzeskompetenzen zwischen Bund und Ländern präzise dieser Punkt, den Herr Genscher eben angesprochen hat, Gegenstand mehrfacher Vorschläge von verschiedenen Seiten gewesen ist?
Sehr richtig, Herr Kollege Lenz. Wir waren uns aber auch im letzten Bundestag einig, daß bei so dringenden Fragen, wie sie zum Beispiel das Abfallbeseitigungsgesetz betrifft, die Kompetenz geschaffen werden muß. Wir waren uns in der Enquete-Kommission einig, daß das die Gesamtüberlegungen nicht stört.
In den letzten drei Jahren hat sich ein wesentlicher, ein ganz entscheidender Wandel im Verhältnis zwischen Bund und Ländern vollzogen. Während wir früher eine ausgesprochene Konfrontation hatten, hat sich in den letzten drei Jahren ein Klima des Zusammenwirkens entwickelt, wie es vorher nie bestanden hat. Es ist deshalb heute nicht mehr eine Frage von erster Ordnung, ob die Zuständigkeit, ein Gesetz zu erlassen, beim Bund oder bei
den Ländern liegt, sondern es ist die gemeinsame Überzeugung, daß es darauf ankommt, daß diejenige Stelle das Gesetz macht, die das beste Instrumentarium zur Verfügung stellen kann.
Deshalb haben die Länder anerkennenswerterweise auf einigen Gebieten - auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, auf dem Gebiet des Umweltschutzes - ihrerseits beantragt, daß der Bund die notwendigen Gesetze erlassen soll. Bei den Hearings, die der Innenausschuß über die Fragen des Umweltschutzes durchgeführt hat, haben gerade die Vertreter der Industrie - es waren zehn Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie dabei - wiederholt darauf hingewiesen, daß es notwendig ist, daß wenigstens im Gebiet der Bundesrepublik einheitliche Gesetze erlassen werden, damit nicht Wettbewerbsverzerrungen eintreten, wie es der Fall wäre, wenn man die Gesetze einzeln und voneinander verschieden erließe.
Sie kennen alle die Beispiele von Wettbewerbsverzerrungen, die nicht nur hinter vorgehaltener Hand erzählt werden. In dem einen Bundesland werden Auflagen gemacht, die Millionenkosten verursachen, in einem anderen Bundesland gibt es diese Auflagen nicht. Die Industrie wird ihre Standorte dementsprechend verlagern oder aber dementsprechenden verschiedenen, die Wettbewerbssituation beeinflussenden Belastungen unterworfen sein. Genau um diese Frage geht es bei dem anstehenden dringenden, notwendigen Gesetz über die Wasserreinhaltung.
Deshalb unterstützen wir den Appell des Herrn Bundesinnenministers an die Opposition. Hier, meine Damen und Herren, wo man Ihre Stimme braucht, können und müssen Sie zeigen, daß es Ihnen ernst ist mit der Mitarbeit im Umweltschutz. Hier müssen Sie zeigen, daß Sie nicht nur mit dabei sein wollen, sondern daß Sie mit die Verantwortung dafür tragen wollen. Diese Gesetze kann man in dieser schmalen Bundesrepublik in der Tat nicht in zehnerlei verschiedener Weise erlassen, sondern man muß sie in diesem kleinen einheitlichen Wirtschaftsgebiet auch einheitlich gestalten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr, Herr Lenz.
Herr Kollege Schäfer, gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie mir mit Nachdruck widersprechen werden, wenn ich jetzt sage, daß Sie und Herr Bundesminister Genscher über die verfassungspolitische Haltung der CDU einen Türken gebaut haben, bei dem das einzig Reale das Pappmaché ist?
Bis jetzt habe ich noch gar nichts zu Ihnen gesagt. Es ist interessant, daß Sie sich schon gegen etwas wehren, was ich noch gar nicht gesagt habe. Da muß doch jeder Psychologe gleich seine Schlußfolgerungen ziehen,
Dr. Schäfer ({0})
daß man hier auf etwas getippt hat, was bei Ihnen anscheinend so ist.
({1})
Nun, Herr Lenz, dann muß ich Sie gleich etwas fragen. Herr Barzel ist leider nicht da; es wäre gut, wenn er da wäre. Ich muß ihn etwas fragen. Da gab es im Dezember Verhandlungen, daß die CDU und die CSU sich zusammenschließen. Da haben Sie den § 10 der Geschäftsordnung für sich in Anspruch genommen. Dort heißt es ausdrücklich, daß Abgeordnete von Parteien mit gleichgerichteten politischen Zielen in einer Fraktionsgemeinschaft zusammengeschlossen sind. In den Zeitungsberichten über den Zusammenschluß der beiden Parteien CDU und CSU zwischen dem 4. und 11. Dezember ist die Frage behandelt, ob die zwei verschiedenen Parteiprogramme von einer Fraktion vertreten werden können. Wenn Sie § 10 in Anspruch nehmen, sind Sie verpflichtet, diesem Hause auch die Unterlagen zu geben, daß Sie dazu berechtigt sind.
Aber die ganze Sache ist interessant. Wissen Sie, früher war es so: wenn CDU und CSU sich zusammengeschlossen haben, gab es einen Briefwechsel - na, das wissen Sie ja -, und in dem Briefwechsel stand, daß sich die CDU in Fragen der föderalistischen Ordnung verpflichtet, die CSU nicht zu majorisieren. - Sie bestätigen das; es ist auch so. Aber jetzt lese ich z. B. in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 6. Dezember von einem Koalitionsabkommen zwischen den beiden Parteien. Das ist interessant: ein Koalitionsabkommen!
({2})
In den „Nürnberger Nachrichten" - Herr Schneider, die „Nürnberger Nachrichten" sind für Sie doch wohl zuverlässig -- vom 7. Dezember heißt es:
Der CSU-Landesvorsitzende Richard Stücklen erläuterte die bei den Fraktionsverhandlungen gefundene Gleichberechtigungsformel so: Sie schließe Initiativen der Union gegen den Willen der CSU aus und stelle klar, daß keine Seite die andere majorisieren könne.
Meine Damen und Herren, es ist eine sehr ernste Frage, die ich hier zu stellen habe. Dieses Haus und die ganze Offentlichkeit haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, nach welchen Prinzipien die Willensbildung und Meinungsbildung in der CDU/CSU-Fraktion erfolgt, ob dort nach demokratischen Prinzipien die Mehrheit herrscht oder ob die Minderheit herrscht, ob im Endergebnis die 48 Abgeordneten der CSU die Linie angeben und Herr Barzel hier nur die Generalaussage machen durfte.
({3})
- Ich frage, bitte antworten Sie darauf! Antworten Sie! Dieses Haus hat einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie dort Willensbildung erfolgt, ob der Herr Barzel hier die Generalaussage machen darf und hinterher der Herr Franz Josef Strauß marschiert und erklärt, wie das zu verstehen ist, so wie wir das gestern morgen erlebt haben: Keine Grundgesetzänderungen, nur, nur, usw. Das widerspricht in vollem Umfang dem, was diese Fraktion - wenn sie überhaupt auf Kontinuität Wert legt, ich weiß es nicht, man redet manches; Herr Schneider, Sie waren doch dabei! - im letzten Bundestag erklärt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gern, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Schäfer, sind Sie bereit und in der Lage, mir zuzugestehen, daß die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der Gesetzgebung über den Umweltschutz jeweils mit Zustimmung der Fraktion der CDU/CSU erfolgt sind, und sind Sie in der Lage, mir zu bestätigen, daß wir in dem einen Punkte Naturschutz/ Landschaftspflege einmal im Innenauschuß und dann vor diesem Hause gewichtigste Gründe dafür vorgetragen haben, weshalb wir glauben, daß der Sache mehr gedient ist, wenn diese Materien, Naturschutz und Landschaftspflege, auf Rahmenbasis geregelt werden?
Herr Schneider, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie das jetzt noch einmal so deutlich gemacht haben, daß nämlich diese sozialliberale Koalition mit ihrem Umweltprogramm die Führung übernommen hat. Ich anerkenne auch heute noch einmal, daß Sie bereit waren, der Führung zu folgen, und daß Sie im Innenausschuß sehr intensiv mitgearbeitet haben und daß wir in diesen Fragen hier im Hause Einigkeit hatten.
Sie haben gerade jetzt die Differenzierung noch einmal gemacht. Sie haben nämlich, Herr Schneider, genau und richtig gesagt: im Landschaftsschutz.
({0})
- Ich merke das doch, ich verstehe etwas davon. Sie haben ganz bewußt den Gewässerschutz wieder weggelassen. Genau über Gewässerschutz hat aber Ihr Vorsitzender Strauß gestern geredet, daß Sie da nämlich einer Grundgesetzänderung nicht zustimmen wollen.
({1})
Meine Damen und Herren, das Wasser fließt den Berg hinunter von einem Land zum anderen, und Sie wollen torpedieren. Das wollen wir festhalten, meine Damen und Herren,
({2})
daß die CDU/CSU den entscheidenden Beschluß, Umweltschutz zu praktizieren, unmöglich machen will.
({3})
- Sie kann das Wasser nicht halten, es fließt weiter, das stimmt; aber ich hoffe, daß sie sich das noch einmal überlegt.
Herr Dr. Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Einen Augenblick, ich muß erst diesen Satz noch sagen.
Meine Damen und Herren, lenken Sie nicht ab. Wir haben einen Anspruch darauf, hier zu erfahren, wie der Willensbildungsprozeß in der CDU/CSU erfolgt. Nach den Berichten die in der Zeitung stehen, haben wir einen Anspruch darauf, zu erfahren,
({0})
ob hier demokratisch eine Mehrheit entscheidet. Wir haben einen Anspruch darauf, daß der geheime Schriftwechsel offengelegt wird, damit man weiß, wer in diesem Staate etwas zu sagen hat und wer zu den Drahtziehern im Hintergrund gehört.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön!
Herr Kollege Schäfer, ich schätze Ihren juristischen, insonderheit Ihren verfassungsrechtlichen Sachverstand: Sind Sie mit mir der Meinung, daß Sie genauso viel Anspruch haben, diesen Schriftwechsel zwischen CDU und CSU zur Kenntnis zu nehmen, wie die Opposition einen Anspruch an den Herrn Bundeskanzler hat, ihr seine Koalitionspapiere, die er für die SPD mit der FDP ausgehandelt hat, auszuhändigen oder zu interpretieren?
({0})
In der Tat. In der Regierungserklärung haben Sie in aller Offentlichkeit das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen.
({0})
- Sehen Sie, Herr Schneider, das ist für Sie eben etwas Neues. Aber wir Sozialdemokraten und die Freien Demokraten haben das schon beim letztenmal so gemacht. Für uns ist das nichts Neues, für uns gibt es keine Geheimpapiere, aber für Sie gibt es offensichtlich welche.
({1})
- So ist es, es war die Wahrheit, die ganz korrekte Wahrheit. Sie haben vorhin nicht gewagt, sie darzustellen.
({2})
Herr Dr. Schäfer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte!
Sind Sie bereit, auch darauf hinzuweisen, daß immer noch ein kleiner Unterschied zwischen der Fraktionsgemeinschaft CDU/ CSU und einer Koalition zwischen SPD und FDP besteht?
({0})
Ich darf Ihre Frage zum Anlaß nehmen, noch einmal auf § 10 der Geschäftsordnung hinzuweisen. Bei einer Koalitionsvereinbarung handelt es sich um zwei selbständige Parteien, die sich zum Zwecke der Regierungsbildung für vier Jahre zusammenschließen. In § 10 der Geschäftsordnung ist die Rede von Bundestagsabgeordneten solcher Parteien, die die gleiche Zielrichtung haben. Nach den Verhandlungen und Berichten, die wir bekommen haben, die wir in den Zeitungen haben lesen können, muß man ernsthafte Zweifel haben,
(Zuruf des Abg. Vogel [Ennepetal]
ob Ihre beiden Parteien im Sinne des § 10 der Geschäftsordnung gleiche Ziele haben.
({0})
- Ich frage Sie, bitte antworten Sie doch!
({1})
Sie brauchen es nur offenzulegen.
({2})
- Nein, aber es ist ein Problem der Demokratie, ein sehr wichtiges Problem der Demokratie.
({3})
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem der wichtigen Gebiete der Zusammenarbeit, nämlich zu dem Gebiet der inneren Sicherheit. Wir haben auf diesem Gebiet, was ich für einen sehr großen Fortschritt halte, die effektive Zusammenarbeit von Bund und Ländern erreicht. Diese Bundesregierung hat sich das Konzept von Bund und Ländern zu eigen gemacht. Wir haben in dieser Hinsicht vor drei Jahren kein gutes Erbe angetreten. Das kann niemand bestreiten. Das Bundeskriminalamt war nicht in der Lage, seiner Funktion und seinem Auftrag gemäß zu handeln, auch die anderen Bundeseinrichtungen waren dazu nicht in der Lage. Der Bundesgrenzschutz befand sich seit 1956 in einer ungeklärten Situation.
({4})
Wir haben diese Fragen aufgegriffen und nicht vom Bunde aus dekretiert, sondern wir haben mit den Ländern darüber verhandelt. Wir haben die Länder gebeten, unmittelbar zu den Beratungen hinzuzukommen. Wir haben deshalb auch zusammen mit den Ländern die notwendigen Verfassungsänderungen beschlossen. Das, meinen wir, ist einer der großen Nutzeffekte des Bundesstaates, daß alle poli316
Dr. Schäfer ({5})
tischen Kräfte in der politischen Verantwortung, sei es im Bund, sei es in den Ländern, stehen und daß sie deshalb gerade in Fragen der inneren Sicherheit aus der Verantwortung heraus zusammenarbeiten müssen, gleichgültig ob es eine CSU-geführte Regierung, eine SPD-geführte Regierung oder eine CDU-geführte Regierung ist. Sie stehen alle in der Verantwortung, und wir haben Grund anzuerkennen, daß die Länder es genau so gesehen haben. Genau in dieser Linie werden wir die Fragen der inneren Sicherheit fortführen. Wenn Sie sich mit den Problemen befassen, werden Sie sehr schnell erkennen, daß es keine Frage der Bundesregierung allein ist, sondern daß es eine Frage der Gesamtverantwortung ist und daß deshalb auch dieser Gesamtverantwortung gemäß gehandelt werden muß.
Sie schneiden den sogenannten Erlaß, ich sage: Beschluß des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten an. Sie konnten nicht einen Fall anführen, bei dem im Bundesdienst irgend etwas geschehen wäre, was nicht in Ordnung ist. Dieser Beschluß sagt, daß die bestehenden Gesetze angewandt werden sollen. Wir Sozialdemokraten ich habe es von diesem Platz aus schon wiederholt gesagt - sind der Auffassung, daß wir diesen Staat mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen müssen, so daß auch gegen solche notwendig werdenden Entscheidungen Rechtsmittel möglich sind.
({6})
Wir sind in einigen Fällen besorgt, daß es nach der einen oder anderen Seite nicht so angewandt wird, wie wir wollen. Ich habe selbst angeregt, daß der Bundesinnenminister jeden im Bundesdienst vorkommenden Fall dem Innenausschuß des Bundestages vorlegen soll, und ich habe angeregt, daß die Landtage - es ist ihre Aufgabe, die Verwaltungskontrolle auszuüben - sich alle diese Fälle vorlegen lassen, um vom Politischen her eine Kontrolle durchzuführen. Ich hoffe, daß wir uns da einig sind, Herr Dregger. Was wollen Sie denn hier ein Phantom aufbauen? Kehren Sie doch vor Ihrer eigenen Türe! Gehen Sie doch mal zu Ihrem Freund Hahn! In Rheinland-Pfalz wird der Herr Kossick abgelehnt,
({7})
abgelehnt als politisch untragbar, und der Herr Hahn in Stuttgart stellt ihn ein als Dozent.
({8})
- Aber hören Sie, dann helfen Sie doch mit, daß auf Ihrer Seite keine solchen Dinge geschehen!
({9})
Da sagen Sie pathetisch, das gelte für rechts und für links. Man hat aber das Gefühl, daß Sie es nur mit Worten tun und daß Sie etwas ganz anderes wollen. Da meinen Sie, wenn Sie gar nicht weiterkommen jetzt muß ich sagen wie Alex Möller -, dann helfen Ihnen die Jusos; meinen Sie. Sehen Sie, diese Jusos bewegen sich ganz genau, exakt im Rahmen des Grundgesetzes. Ich habe noch keinen Antrag und noch nichts von denen bekommen, wo sie sich nicht im Rahmen des Grundgesetzes bewegt hätten. Das, was Sie sagen, ist doch kein Grund,
hier die Regierung anzugreifen dafür, daß der eine oder andere eine Auffassung vertritt, die wir nicht für richtig halten.
Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Werner?
Herr Kollege Schäfer, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß Herr Kossick von Herrn Kultusminister Hahn auf den einstimmigen Vorschlag des Führungskollegiums der Ingenieurschule in Nürtingen eingestellt wurde, dem ein Rektor vorsteht, der Mitglied Ihrer Partei ist und im Kreistag - dessen Zusammensetzung Sie in Ihrer näheren Heimat kennen müßten - eine führende Rolle innerhalb der SPD spielt,
({0})
daß Herr Kossick von Herrn Minister Hahn auf Grund dieser Vorschläge eingestellt wurde?
({1})
Herr Kollege, das ist mir nicht bekannt. Wenn es aber so wäre, muß ich Ihnen sagen: die politische Verantwortung trägt allemal der Minister.
({0})
Für die Fachqualifikation mag eine Schule zuständig sein.
Herr Dr. Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage, von Herrn Dr. Dregger?
Zwei Fragen, Herr Kollege Schäfer! Ist Ihnen aufgefallen, daß ich den Begriff „Juso" nur ein einziges Mal gebraucht habe, und zwar im Zusammenhang mit einem Brief, der heute zu dem einschlägigen Thema an den Bundeskanzler gerichtet worden ist? Ich darf Ihnen versichern, daß dieser Brief von mir nicht bestellt war.
Zweite Frage: Sind nicht auch Sie der Meinung, daß die Praxis der Länder hinsichtlich des Beschlusses vom Januar 1972 inzwischen, aus welchen Gründen auch immer, so uneinheitlich geworden ist, daß es notwendig ist, daß der Bundesinnenminister und der Bundeskanzler ihre koordinierende Funktion wahrnehmen und für eine einheitliche Praxis sorgen?
({0})
Zur ersten Frage. Herr Kollege Dregger, daß jemand ein Brief an den Bundeskanzler schreibt, kann für Sie bestenfalls ein Anlaß sein, ihm zu sagen: Bitte, folgen Sie dem nicht!
({0})
- Bitte, ziehen Sie doch einmal die Folgerung aus
dem, was Sie selber vorschlagen! Sie sagen, der
Bundeskanzler habe eine koordinierende Funktion.
Dr. Schäfer ({1})
Die hat er, soweit es die politische Führung nach Art. 53 des Grundgesetzes zuläßt, ausgeübt. Oder wollen Sie Ihren Freunden eine Änderung des Art. 74 a des Grundgesetzes vorschlagen? Ich bin mit dabei, weil es nämlich 1970 falsch gemacht wurde, weil die CSU das letzte Mal nicht mehr mitgemacht hat. Ich freue mich, daß Sie heute selber sehen, daß hier eine koordinierende Funktion des Bundeskanzlers, der Bundesregierung tatsächlich notwendig wäre. Wir haben sie nicht; Sie können das deshalb nicht rügen. Wenn wir sie nicht haben, werden wir uns verfassungsgemäß verhalten. Das werden Sie sehr bald in der Praxis merken.
({2})
- Ich verstehe Sie so nicht.
Lassen Sie mich bezüglich des Bund-Länder-Verhältnisses noch zu zwei Gebieten etwas sagen. Das eine ist das Gebiet der Kultur- und der Bildungspolitik im weitesten Sinne. Wir haben hier in den letzten Jahren etwas Erfahrung gesammelt und dürfen feststellen, daß man, wenn man sich zu einer sachgebundenen, sachlichen Verhandlung zusammengefunden hat, auch Ergebnisse erzielt hat. Wir haben z. B. für den Hochschulbau recht ordentliche Gesamtregelungen erreicht. Wir müssen heute aber auch an die Adresse der Länder sagen: Man könnte es so machen, wie es Herr Kollege Mischnick vorgeschlagen hat. Das ist sehr schwer, weil die Kompetenzänderung notwendig wäre. Ich meine aber, daß sich die Länder selber einen guten Dienst im Sinne des Föderalismus erweisen, wenn sie sich auf dem Gebiete der Bildungsplanung kooperativ verhalten; denn Gewinner sind beide Seiten, wenn man sich hier einigen kann. Sie sollten sich nicht in der Weise verhalten, wie es wiederholt festgestellt werden mußte.
Auf dem Gebiet des Sports ist die Verantwortung ebenfalls geteilt. Wir freuen uns, daß der Herr Bundeskanzler in der Regierungserklärung die gesellschaftspolitische Rolle des Sports ausdrücklich hervorgehoben hat. Wir erinnern daran, daß der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft wirkungsvoll dazu beigetragen hat, daß erstmals ein gemeinsames Aktionsprogramm „Schulsport" mit den Bundesländern, den kommunalen Spitzenverbänden und dem Deutschen Sportbund verabschiedet werden konnte. Nach unserer Meinung kommt es nun darauf an, daß dieses Programm realisiert wird. Dafür sind aber die Länder zuständig, und da können Sie, meine Damen und Herren, auch in Ihrem Bereich, in Ihrer Partei darauf einwirken.
Wir meinen, Sie sollten auch mithelfen, daß die Deutsche Sportkonferenz, die seither hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, aktiviert wird. Auch halten wir es für sehr wichtig, die Sportkontakte mit der DDR lebendig auszugestalten. Auch hier sind gerade die Sportverbände und die Länderorganisationen zuständig.
Meine Damen und Herren, wir ermutigen die Bundesregierung, auf dem seither eingeschlagenen
Weg, der sich auch in dieser Regierungserklärung deutlich ausdrückt, fortzufahren, enge Kooperationen mit den Ländern zu pflegen und darauf Bedacht zu nehmen, daß die Strukturpolitik und die Finanzpolitik im Rahmen des Stabilitätsgesetzes und der gemeinsamen Möglichkeiten auch tatsächlich ausgestaltet und praktiziert werden. Das ist eine Mahnung an beide Seiten. Es ist für die öffentliche Finanzwirtschaft von gleicher Bedeutung, ob der Bund oder ob die Länder oder die Gebietskörperschaften überhaupt Geld ausgeben und wofür sie es ausgeben. Wir haben nicht umsonst den Art. 109 des Grundgesetzes im Jahre 1967 vollkommen umformuliert. Ich sage auch hier noch einmal dankbar: das war nur möglich, weil die Länder dieses Problem selbst erkannt haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß auf eine ganz entscheidende Frage des BundLänder-Verhältnisses wenigstens noch hinweisen. Die Regierung hat auf der Gipfelkonferenz erklärt - und die Gipfelkonferenz hat das im ganzen beschlossen , daß wir bis zum Jahre 1980 eine europäische Union wollen. Der Vorsitzende Ihrer Fraktion, der Opposition, hat erklärt, daß Sie bis 1980 einen europäischen Bundesstaat wollen.
({3})
- So steht es wörtlich im Protokoll, Herr Lenz. Ich zitiere nur das Protokoll. Soll ich Ihnen das Protokoll wörtlich vorlesen? Aber lassen Sie mich erst den Satz zu Ende reden.
({4})
- Sie können Ihre Frage gleich stellen, seien Sie nicht so aufgeregt.
({5})
Wenn Sie die Rede Ihres Vorsitzenden nicht kennen und ich die Liebenswürdigkeit habe, Ihnen das vorzulesen, ist doch kein Grund für Aufregung.
({6})
Herr Barzel hat ausdrücklich davon gesprochen, daß er einen europäischen Bundesstaat will.
({7})
Sicher, ohne Jahreszahl. Lassen Sie mich doch
meinen Satz aussprechen.
({8})
Sie können anscheinend nicht mehr zuhören. Ich wollte Ihnen damit deutlich machen, daß so unqualifizierte Aussagen auf diesem schwierigen Gebiet nicht hilfreich sind.
({9})
So unqualifizierte Aussagen nebulöser Art, wie Sie
selber sagen, helfen politisch nicht weiter; denn
wenn wir hier eine Weiterentwicklung haben, wird
Dr. Schäfer ({10})
sie sich auch in unserer eigenen bundesstaatlichen Ordnung auswirken und ausprägen, weil wir in der europäischen Ordnung, wie sie kommen wird, funktionsfähig sein müssen.
({11})
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich immer über den Verwandlungsprozeß, der in dem Kollegen Professor Schäfer vorgeht, wenn er hier oben auf das Podium im Deutschen Bundestag tritt.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Schäfer, ich möchte Ihnen eines sagen: Die Art und Weise, wie Sie versucht haben, über das Verhältnis zwischen CDU und CSU eine Verdachtsglocke zu hängen, ist infam.
({1})
Herr Kollege Schäfer, das ist böses Gift, das hier verspritzt wird. Sie haben den § 10 der Geschäftsordnung zitiert. Sie hätten ihn am besten ganz zitiert; dann wäre deutlich geworden, worum es geht und was Sie hier hineinzulegen versucht haben. Dort ist vom Zusammenschluß von Angehörigen solcher Parteien die Rede, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Das ist exakt das Verhältnis zwischen CDU und CSU. Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Im übrigen könnte ich mir vorstellen, Herr Kollege Schäfer, daß Sie wohl etwas mehr an die Rolle der FDP innerhalb der Koalition gedacht haben. Das mag Sie allerdings bedrücken, wenn es um die Verfolgung Ihrer sozialdemokratischen politischen Ziele geht.
({2})
Ich hoffe, daß Sie angetreten sind, um sozialdemokratische politische Ziele zu verfolgen. Nur sollten wir dann auch darüber sprechen.
Meine Damen und Herren, der Bundesinnenminister ist in diese Debatte offenbar mit dem Motto gegangen: Angriff ist die beste Verteidigung.
({3})
Ich habe nur den Eindruck, das ist ein Angriff mit Platzpatronen gewesen, und vielleicht, Herr Bundesminister, ist hier sogar etwas geplatzt.
Sie dürfen eines zur Kenntnis nehmen: Diese Opposition, diese CDU/CSU steht nicht auf Kommandoton bereit, wenn es um Verfassungsänderungen geht.
({4})
Ich erinnere mich sehr genau, Herr Kollege Wehner, an die Ausführungen, die Sie zu diesem Thema im Jahre 1965 gemacht haben. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: wir treten nicht dann an, wenn es den Herren der Regierung, den Herren der Koalition gefällt. Das, was der Oppositionsführer hier vorgetragen hat, ist ein verfassungspolitisches Konzept gewesen, und ich glaube, daß es gut ist, sich mit diesem verfassungspolitischem Konzept auseinanderzusetzen, das es nun einmal nicht erlaubt, daß wir scheibchenweise einmal diese Grundgesetzänderung, einmal jene Grundgesetzänderung hier verabschieden, ohne uns vorher genau klar darüber zu werden, wohin denn die Gesamtreise gehen soll.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung die Verfassungsreform und insbesondere die Weiterentwicklung des Bund-Länder-Verhältnisses angesprochen und hat einiges zur Neugliederung des Bundesgebietes gesagt. Es ist der Auffassung zuzustimmen, daß kein Anlaß zu einer Gesamtrevision des bewährten grundgesetzlichen Rahmens für unser staatliches Leben besteht. Aber eine Gestaltungsaufgabe für die Zukunft, und zwar vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Freiheitssicherung, meine Damen und Herren, ist die Ausgewogenheit des föderativen Staatsaufbaues der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Dr. Barzel hat darauf hingewiesen, daß die Einbahnstraße der Kompetenzverlagerung von den Ländern auf den Bund im Begriff ist, das von der Verfassung gewollte Gleichgewichtssystem der Kräfte zu stören. Wir haben in den hinter uns liegenden Jahren einen umfangreichen Katalog von früheren Länderaufgaben gehabt, die auf den Bund übertragen worden sind. Meine Damen und Herren, wir meinen es ernst mit dem Hinweis, daß es vor Abschluß der Arbeiten der Enquete-Kommission -deren Wiedereinsetzung wir für erforderlich halten - möglichst keine weiteren Einzeländerungen des Grundgesetzes mehr geben sollte. Hier werden wir sehen müssen, wie wir ein Gesamtkonzept für die Gestaltung des Verhältnisses der Länder zum Bund, für unsere föderative Ordnung in der Bundesrepublik finden.
Wir sehen einen engen Zusammenhang zwischen der Verfassungsreform und der Neugliederung des Bundesgebietes. Die Schaffung gleich leistungsfähiger Länder ermöglicht ein Neudurchdenken der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Ein auf Teile des Bundesgebietes beschränkter erster Schritt zur Neugliederung, wie ihn Herr Kollege Mischnick als diskutabel angesprochen hat, würde das unmöglich machen. Hier kann es nur die Verwirklichung einer das gesamte Bundesgebiet erfassenden Neugliederung geben. Wir werden darüber zu sprechen haben, sobald Neugliederungskommission und Enquete-Kommission ihre Arbeitsergebnisse vorgelegt haben.
Mit Recht hat die Regierungserklärung Regelungen im Bereich des öffentlichen Dienstes als einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung angesprochen, wenn auch nur sehr kurz und in sehr allgemein gehaltenen Wendungen. Zur immer neuen Verwirklichung des sozialen und freiheitlichen Rechtsstaates und zur immer neuen Durchsetzung der bürgerlichen Freiheiten im Alltag gehört eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, gehört ein leistungsfähiger und unparteilicher öffentlicher Dienst. Es braucht in jeder Legislaturperiode neue AnstrengunVogel ({5})
gen, um Leistungsfähigkeit und Unparteilichkeit der Verwaltung zu erhalten und fortzuentwickeln.
Das, was in der Regierungserklärung dazu gesagt worden ist, ist wenig.
Wir sehen eine Gefährdung der Leistungsfähigkeit und Objektivität der Verwaltung darin, 'daß sich in den Spitzen der Bundesverwaltung, in den Ministerien, die klare Trennung der demokratischen Gewalten Parlament und Exekutive zu vermischen beginnt. Gerade auch dort müssen im Interesse aller Bürger Sachverstand und Sachgesichtspunkte ihre eigenständige Rolle gegenüber der politischen Führung spielen.
Die Inflation der Parlamentarischen Staatssekretäre - seit der Großen Koalition hat sich ihre Zahl von 7 auf 19, also um rund 150 % erhöht - macht die Situation deutlich, zumal auch die Besetzung der Stellen der beamteten Spitzenpositionen zunehmend politisiert worden ist. Meine Damen und Herren, gestern noch haben wir hier erlebt, daß nach einer Rede des Bundesaußenministers einer seiner beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an dieses Rednerpult trat,
({6})
um in seiner Eigenschaft als Abgeordneter Zustimmung und Unterstützung für die Ausführungen seines Ministers vorzutragen.
({7})
Das höhlt die parlamentarische Kontrolle der Regierung zum bloßen Scheingefecht aus.
({8})
Die politisch nichtgebundenen Fachleute, die nach wie vor den wesentlichen Anteil an sachlicher Arbeit leisten müssen, werden ins dritte, vierte oder fünfte Glied zurückgedrängt. Die Staatssekretäre sehen sich praktisch heute auf Grund der Inflationierung ihrer Zahl in die Rolle von Oberabteilungsleitern degradiert. Der Aufstieg eines tüchtigen Fachbeamten in die Position des Staatssekretärs wird immer seltener gemacht.
Lassen Sie mich auf den Zusammenhang von Leistungsprinzip und Personalpraxis in der Verwaltung noch etwas allgemeiner eingehen. Wir beobachten mit Sorge, daß die Politisierung im Zeichen neuer Heilslehren das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst immer mehr aushöhlt, obwohl man immer stramm die Fahne des Leistungsprinzips vor sich herträgt.
Dem Kollegen Börner, Bundesgeschäftsführer der SPD, wird die Bemerkung anläßlich des Rücktritts des Staatssekretärs Wetzel zugeschrieben: Er verdankt der Partei alles, was er bisher in seinem Leben geworden ist". - Eben um die Frage aber geht es, ob die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ihr Fortkommen der persönlichen Tüchtigkeit und fachlichen Leistung oder aber ihrem Parteibuch verdanken sollen.
({9})
Nicht nur die Leistungsfähigkeit der Verwaltung, sondern vor allem auch die Glaubwürdigkeit des
Rechtsstaates fordert aber auch, daß der Staat seine Mitarbeiter leistungsgerecht besoldet und versorgt. Dazu hat die Regierungserklärung alle drängenden Fragen offengelassen.
Wir fragen: Wie stellt sich die Bundesregierung die Okjektivierung der jährlichen Besoldungsanpassung nach dem neugeschaffenen § 60 des Bundesbesoldungsgesetzes vor? Wie will sie der nachträglichen Entwertung der Versorgungsbezüge derer begegnen, die an Höherstufungen im aktiven Dienst nicht teilnehmen? Was geschieht mit dem einstimmigen Beschluß des Bundestages vom 3. März 1971? Ich glaube, diese Frage ist nach der Zwischendiskussion, die wir gestern und heute vormittag hier gehabt haben, um so berechtigter, als es hier um ein Stück Vertrauen des öffentlichen Dienstes in einstimmige Beschlüsse dieses Bundestages geht.
({10})
Recht nebulös klingt der Satz in der Regierungserklärung, nicht gerechtfertigte Differenzierungen im Status müßten abgebaut werden.
({11})
Über solche Gemeinplätze - Herr Kollege Liedtke - ist die Diskussion doch längst hinaus. Es geht darum, welche Differenzierungen nicht gerechtfertigt sind und w i e sie abgebaut werden sollen. Durch konsequenten Ausbau des verfassungsmäßig gesicherten Berufsbeamtentums oder durch seine Aushöhlung und letztliche Abschaffung? Das ist die Frage, um die es geht. Die Bundesregierung hat sich früher durch den Mund ihres Innenministers schon sehr viel klarer ausgedrückt. Wir wüßten gern, ob die unklare Aussage der Regierungserklärung daran etwas ändern soll.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas zur Medienpolitik ausführen, die mit einigen bemerkenswerten Akzenten in der Regierungserklärung angesprochen ist. Wir begrüßen es nachdrücklich, daß der Bundeskanzler die Notwendigkeit einer umfassenden Information des Bürgers und der Vielfalt der Meinungen in den Massenmedien so stark hervorgehoben hat.
({12})
Wir hoffen, daß die Bundesregierung ihre durch den Mund des Bundeskanzlers verkündete Absicht, an der Meinungsfreiheit nicht rütteln zu lassen, ohne Abstriche verwirklicht - vor allem im Alltag.
({13})
Wir werden hierauf um so mehr zu achten haben, als eine die Politik der Regierung kritisch begleitende öffentliche Meinung eine notwendige Ergänzung der Arbeit der parlamentarischen Opposition darstellt.
Aber etwas mehr Aufschluß hätten wir gern zu dem Satz:
Zur Pressefreiheit und Medienfreiheit gehört
die Freiheit i n der Presse und i n den Medien.
({14})
Statt eines Kommentars zu diesem Satz will ich lediglich einen Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung"
Vogel ({15})
vom 7. April 1970 zu Reformen des Pressewesens durch das Militärregime in Peru wiedergeben. Dort wird auf eine weitgehende Aushöhlung der Pressefreiheit durch eine neue Regelung hingewiesen, die es jedem Journalisen gestatten soll, in seiner Zeitung Meinungen über alle möglichen politischen und sonstigen Angelegenheiten zu veröffentlichen, ohne daß die Chefredaktion oder der Verlag ihn daran hindern kann. „Auf diese Weise", so heißt es in dem Bericht weiter, „will man es den Zeitungen offenbar unmöglich machen, einen konsequenten Standpunkt zu vertreten, insbesondere solchen, die dem Regime nicht genehm sind." - So weit der Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung" zu diesem Modell.
Meine Damen und Herren, dem Entwurf des Presserechtsrahmengesetzes sehen wir darum mit gespannter Aufmerksamkeit entgegen.
({16})
Nur nebenbei: Neben einer Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts in Presse und Funk erwarten wir einen Ausbau des Gegendarstellungsanspruchs im Interesse des einzelnen, der sich den Angriffen der Presse oft schutzlos ausgesetzt sieht.
({17})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesinnenminister hat versucht, diese Debatte um den innen-und rechtspolitischen Teil der Regierungserklärung auf das Thema Umweltschutz zu verengen. Er hat das mit sehr viel Emphase getan. Wir lesen einiges an Grundsätzen in der Regierungserklärung zu diesem Bereich. Wenn ich die Grundsätze der Regierungserklärung zum Umweltschutz mit denen unseres Parteiprogramms und unseres Konzeptes für Umweltvorsorge vergleiche, sehe ich kaum Widersprüche, jedenfalls nicht solche Widersprüche, die künftige unausräumbare Kontroversen andeuten würden. Wozu also der ganze Sturm im Wasserglas, der hier entfacht worden ist, - angesichts ja auch einer bewahrten Praxis der Kooperation in den Fragen des Umweltschutzes in der vergangenen Legislaturperiode in diesem Hause?
({18})
Aber wir dürfen doch fragen, welche konkreten Maßnahmen hinter diesen Grundsätzen stehen. Es heißt dort lapidar:
Wir werden unser Umweltprogramm verwirklichen und weiterentwickeln.
Wir fragen: Wie wollen Sie beispielsweise das Verursacherprinzip verwirklichen? Sollen etwa durch ein Abwasserabgabengesetz dem Staat neue Einnahmen erschlossen werden, oder sollen die Abgabepflichtigen selbst, nach genossenschaftlichen Grundsätzen etwa, die aufgebrachten Mittel verwalten können? Was soll getan werden, damit mehr umweltfreundliche Produkte hergestellt werden? Welche konkreten Absichten stehen hinter der im Wahlkampf angekündigten Besteuerung umweltfeindlicher Produkte? Mir geht es nicht darum, hier und heute fertige Antworten zu bekommen. Aber ich wüßte gern, wie Sie bei der Vielzahl der Umweltprobleme die Prioritäten setzen wollen. Herr Kollere Strauß hat diese Frage gestern hier gestellt.
Ich halte es für interessant und nachdenkenswert, wenn in der Regierungserklärung gesagt wird:
Die Menschen insgesamt haben ein elementares Recht auf eine menschenwürdige Umwelt, dem Verfassungsrang zukommen sollte...
Aber ich meine, wenn hier vernünftig nachgedacht, wenn nicht auch nur eine Platzpatrone abgeschossen werden soll, dann eignet sich zum Nachdenken sicher am ehesten die Enquete-Kommission für Verfassungsreform. Wenn Sie heute konkret etwas tun wollen, dann könnten Sie dem Vorschlag in dem von uns vorgelegten Entwurf eines Naturschutz-und Landschaftspflegegesetzes folgen, in dem geeigneten Einrichtungen ein Beteiligungsrecht an staatlichen Maßnahmen für Naturschutz und Landschaftspflege eingeräumt wird.
Die Regierungserklärung wiederholt auch die stereotype Plattheit des Innenministers, Umweltschädigungen seien keine Kavaliersdelikte. Wir stimmen dem zu. Aber wir fragen: Haben Sie die Absicht, einen Abschnitt „Umweltstrafrecht" in das allgemeine Strafgesetzbuch aufzunehmen? Nur dann bekämen wir ja konkrete Antwort durch die Regierungserklärung.
Auf die allen eigenen Erkenntnisse der Bundesregierung widersprechende Ungereimtheit, bei der Verteilung der Ressortkompetenzen Umweltschutz und Raumordnung sachwidrig auseinanderzureißen, damit einem neuen Minister Gelegenheit gegeben werden kann, sich noch rechtzeitig für den nächsten Landtagswahlkampf zu profilieren, hat Herr Kollege Strauß schon hingewiesen.
Was wird angesichts solcher Entscheidungen, so fragen wir, aus dem überfälligen, zuletzt für Ende 1972 versprochenen Bundesraumordnungsprogramm? Die Bundesregierung wird auf einen raschen Abschluß drängen, sagt der Bundeskanzler. Sein Minister wurde konkreter; er hofft, im Jahre 1974 fertig zu sein. Meine Damen und Herren, eine solche unerträgliche Verzögerung ist wohl nicht allein die Folge des Zuständigkeitshandelns; dahinter wird man auch den Versuch einer weitgehenden Umrüstung und Umorientierung zu sehen haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte an sich noch einiges zu den Fragen der Rechtspolitik ausführen. Ich sehe, Frau Präsidentin, daß meine Redezeit zu Ende ist. Deshalb werden wir die Fragen der Rechtspolitik in dieser Runde nicht behandeln können. Ich glaube aber, daß es notwendig sein wird, auch hier angesichts der sehr allgemein gehaltenen Ausführungen in der Regierungserklärung noch konkreter zu werden, dazu einiges mehr zu hören. Wir werden sehr bald dazu Gelegenheit haben, uns hierüber in diesem Hohen Hause näher zu unterhalten und unsere Standpunkte darzulegen.
Meine Damen und Herren, mir ist es nur möglich gewesen, einige Punkte aus dem sehr umfangreichen rechts- und innenpolitischen Themenkatalog hier anzusprechen. Ich glaube, daß es unzulässig wäre, die Fragen der Rechts- und Innenpolitik auf die wenigen
Vogel ({19})
Themen zu beschränken, die heute hier angesprochen worden sind. Ich hoffe, daß wir Gelegenheit haben werden, die anderen Punkte auch in diesem Hause ausführlich genug, so wie sie es verdienen, zu behandeln.
({20})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Quality of life, dieses Wort hat als „Qualität des Lebens" - für meine Ohren eher wörtlich als schön übersetzt - eine beachtliche Umlaufgeschwindigkeit erreicht. Es kommt darauf an, diese Formel zu konkretisieren. Im Bereich des Umweltschutzes kehren wir zum eigentlichen Wortsinn zurück, nämlich zu der schlichten Erkenntnis, daß die Menschenwürdigkeit unseres Lebens nicht allein von wirtschaftlichem Wachstum oder von Produktionszahlen der Unternehmen oder vom Bruttosozialprodukt abhängt, sondern vom Zustand und den Zielen unserer Gesellschaft und davon, ob es uns gelingt, unter den Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft die biologischen Grundlagen unserer Existenz zu erhalten, und zwar nicht nur für einige wenige Auserwählte, denen materielle Mittel eine eigene Umweltgestaltung gestatten, sondern für jedermann.
({0})
Es ist eine liberale Aufgabe, dieses Ziel zu erreichen, ohne individuelle Freiheitsrechte mehr als nötig zu beschneiden. Es ist eine liberale Aufgabe, das im System der sozialen Marktwirtschaft zu erreichen. Es ist eine liberale Aufgabe, das zu tun, ohne im internationalen Bereich durch mangelnde Harmonisierung spürbare Wettbewerbsverzerrungen oder Handelshemmnisse aufzubaren.
Es ist immer wieder dargelegt worden - es braucht daher hier im einzelnen nicht wiederholt zu werden -, daß die Bevölkerungszunahme, die Verstädterung, die Zersiedlung und der wachsende Wohlstand zu einer Übernutzung und Zerstörung der Naturgrundlagen geführt haben, daß die Immissionen unsere Existenz beeinträchtigen und daß die Chemikalien beginnen, nicht nur die Insekten zu vernichten, sondern uns selbst zu vergiften. Einig sind wir uns darin, daß diese Probleme nicht der Staat allein lösen kann, sondern daß ein gemeinsames Umweltbewußtsein im täglichen Leben geschaffen werden muß, von dem wir noch weit entfernt sind.
Drei Grundpositionen: Wir sind mit der Bundesregierung der Meinung, daß ein Grundrecht auf menschenwürdige Umwelt geschaffen werden muß und in den Grundrechtskatalog einzuführen ist. Es kommt uns nicht etwa darauf an, mit einem solchen Grundrecht eine Fülle von Individualklagen zu provozieren und Hoffnungen zu erwecken, die nicht - oder zumindest nicht jetzt - erfüllt werden können. Aber es kommt darauf an, für staatliche Aktivitäten einen Verfassungsauftrag und ein soziales Grundrecht zu formulieren, das gesetzliche Regelungen für konkrete Leistungsansprüche vorbehält.
Ich halte es auch für denkbar - das ist eine persönliche Bemerkung -, die Möglichkeit zu prüfen, Verbandsklagen zu schaffen, die sich in den Vereinigten Staaten und der Schweiz als Mittel der Umweltkontrolle bewährt haben. Ich bin der Überzeugung, daß wir nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an individuellem Rechtsschutz in diesem Bereich haben.
({1})
Gerade mit dem Institut der Verbandsklagen kann dem Bürger selbst die Möglichkeit gegeben werden, Aktivrechte auszuüben. Das Ziel ist nicht - um das zu wiederholen -, Querköpfen Gelegenheit zu geben, überflüssige Energien auszutoben, sondern das Ziel ist, zu sichern, daß die Betroffenen vorbeugend bei Planungsentscheidungen in angemessenem Rahmen beteiligt werden.
Im bundesstaatlichen Bereich müssen wir bereit sein, dem Bund die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zu geben, über eine einheitliche Materie auch einheitlich zu entscheiden. Wir meinen in erster Linie die volle konkurrierende Gesetzgebung auf dem Gebiet des Wasserhaushaltsrechts, aber auch im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege. Das ist hier im einzelnen schon wiederholt angesprochen worden.
Davon losgelöst ist das Problem zu betrachten, daß die Finanzausstattung der Länder und Gemeinden natürlich den Aufgaben entsprechen muß, die ihnen auf diesen Gebieten im Interesse der Allgemeinheit auferlegt werden.
Wir haben mit Erstaunen die etwas vielfältigen und nicht einheitlichen Bemerkungen der Opposition über den Zusammenhang zwischen den Verfassungsänderungen, die dazu notwendig sind, und den Arbeiten der Enquete-Kommission zur Kenntnis genommen. Ich will das in dieser Debatte nicht wiederholen; wir werden ja darauf zurückkommen, sobald die einzelnen Gesetze und Verfassungsänderungen hier auf dem Tisch liegen. Es wäre eine dankbare Gelegenheit, hinsichtlich dieser Frage auch etwas über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern überhaupt zu sagen, und zwar gerade wenn man an den historischen Anknüpfungspunkt denkt, der hier verschiedentlich als Reichsgründungstag apostrophiert worden ist. Man hätte ja genausogut an die Kaiserkrönung zu Versailles denken können. Aber diese Formulierung entspricht nicht mehr ganz unserem heutigen Verständnis und zeigt nämlich, was sich und wieviel sich seit damals geändert hat.
Die Funktionen der Länder im modernen Parteienstaat bewähren sich eben nicht im Besitz einzelner Rechte, sondern bewähren sich als Element der Gewaltenteilung. Heute wie damals geht es primär nicht um die Ausübung von Herrschaftsgewalt kraft eigenen Rechtes - wie man das so schön formulierte -, sondern es geht um die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei einer Dienstleistungsaufgabe in der dafür zweckmäßigsten Organisation. Das darf eben nicht an Zuständigkeitsregelungen scheitern.
({2})
Die zweite Feststellung: Wir wollen das Verursacherprinzip durchführen, dessen systematische Grundlagen weitgehend entwickelt sind. Es wird sich erweisen, wieweit sich die grundlegende Zustimmung aller Fraktionen dieses Hauses bei der Beratung der Einzelprobleme bewahrheitet. Es muß klar sein, daß wir in der Verwirklichung des Verursacherprinzips die Bewährung unserer Überzeugung sehen, daß der Umweltschutz in einem marktwirtschaftlichen System zu verwirklichen ist. Wir wollen das, weil keine Zweifel darin bestehen kann, daß wirtschaftliche Interessen zurücktreten müssen, wenn sie mit den zwingenden Erfordernissen des Umweltschutzes nicht zu vereinbaren wären.
Unser Appell geht daher auch an die Wirtschaft, die Qualitätsziele für Luft und Wasser, also die Reinheitserfordernisse, nicht deshalb in Frage zu stellen, weil sie bei der Anerkennung des Verursacherprinzips zu einem wesentlichen Kostenfaktor werden müssen. Wir werden genau diese Haltung der Wirtschaft bei der Beratung der Abwasserabgabe erproben.
Die dritte Feststellung: Wir wollen die gesetzgeberische Arbeit, die durch die vorzeitige Auflösung des Bundestages verzögert wurde, beschleunigt fortsetzen. Dazu gehören u. a. die Novellen zum Wasserhaushaltsgesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz und die Schaffung der notwendigen Instrumentarien für Umweltstatistik, Umweltverträglichkeitsprüfung und Umweltforschung. Die Entwicklung langfristiger Planungen und Konzeptionen ist auf allen diesen Gebieten unausweichlich. Mit Tageserfolgen allein ist hier nichts zu erreichen.
Damit stellt sich ein anderes Verfassungsproblem, das hier bisher nicht erwähnt worden ist, nämlich das Problem des Verhältnisses von Regierung und Parlament bei langfristigen staatlichen Aufgabenplanungen, ein Gewaltenteilungsproblem, das es bei Bismarck auch noch nicht gegeben hat. Ich darf Ihnen statt eigener Ausführungen dazu dringend empfehlen, die sehr lesenswerten Ausführungen der Enquete-Kommission über staatliche Aufgabenplanung im parlamentarischen Regierungssystem ausnahmsweise selbst zu lesen und nicht nur lesen zu lassen.
Wir begrüßen die erklärte Absicht der Bundesregierung, mit Entschiedenheit ihre Aktivität auf dem Gebiet des Umweltschutzes fortzusetzen, und zwar im nationalen Bereich ebenso wie im übernationalen Bereich. Sie wird weiter dafür eintreten müssen, daß unsere Nachbarn erkennen, daß eine Wirtschafts- und Finanzunion auch eine Harmonisierung der Umweltnormen voraussetzt, und zwar nicht auf ihrem kleinsten Nenner. Wir werden die Bundesregierung bei allen diesen Aufgaben nach Kräften unterstützen.
Nun noch ein paar Bemerkungen zur inneren Sicherheit. Herr Kollege Dregger hat ja den erwarteten Ruf nach law and order mit aller Ausführlichkeit erklingen lassen und dabei das ganze Gruselkabinett Ihres Wahlkampfes wieder vorgeführt.
({3})
Law and order, eine verlockende Formel, nicht wahr. Recht und Ordnung, wer wollte das eigentlich nicht? Aber leider, Herr Kollege Dregger, kann diese Formel leicht dazu benutzt werden, zur schlichten Beharrung auf gegebenen Verhältnissen aufzurufen und damit einen Mangel an intensivem Nachdenken zu verbergen.
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Nachdenken heißt hier zunächst einmal, die Ursachen zu prüfen, warum es zur Forderung nach Veränderungen in solcher Heftigkeit gekommen war und warum das nach dem Antritt der sozialliberalen Koalition auf den Straßen aufgehört und sich in den Bereich der Universitäten verlagert hat, in denen wir in der Tat - aber nicht durch eigenes Verschulden - nicht weitergekommen sind. Wir sind ja nicht der Meinung, wie es bei Ihnen vielleicht anklingt, wenn Sie das in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnen, daß die Hochschulreform durch den Innenminister zu machen und eine Angelegenheit der Polizei ist.
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Nachdenken heißt dann aber auch, zwischen der Kriminalität im klassischen Sinn und Erscheinungen des politischen Lebens zu differenzieren, die von friedlichen Straßendemonstrationen bis in der Tat zur kriminellen Gewaltanwendung durch politische Terroristen reichen.
Darum ein ganz klares Wort: Gewalt ist und kann kein legales und kein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein, und zwar weder gegen Menschen noch gegen Sachen, wenn man diese etwas ominöse Unterscheidung überhaupt machen will. Gewalt ist kriminelles Unrecht.
Es kommt darauf an, alle rechtsstaatlichen Mittel einzusetzen, um die Anwendung der Gewalt zu bekämpfen, ohne politische Konflikte durch Maßnahmen staatlicher Herrschaftsgewalt unterdrücken zu wollen.
({6})
Es kommt aber auch darauf an, bei der Bekämpfung kriminellen Unrechts ausschließlich rechtsstaatliche Mittel im Konflikt zwischen der wirksamen Verbrechensbekämpfung einerseits und der Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger dieses Landes andererseits einzusetzen.
Ein paar Bemerkungen zur klassischen Kriminalität. Ich will hier gar nicht mit Zahlen hantieren, aber es besteht gar kein Anlaß, die Entwicklung der Kriminalität in diesem Lande zu dramatisieren. Es gibt ein gewisses Ansteigen der Gesamtkriminalität, aber sie ist im Vergleich zu den Raten des Vorjahres niedriger, und zwar bei unverändert hoher Aufklärungsrate gerade bei den Kapitaldelikten.
Die Bundesregierung hat auf diesem Gebiet alles getan, was erforderlich ist. Sie hat einen Kampf gegen die Kriminalität ohne Beispiel geführt. Ich erinnere an das „Sofortprogramm Verbrechensbekämpfung" und das „Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit". Es ist dem Bundesinnenminister zum erstenmal gelungen, ein gemeinsames Programm des Innenministers des Bundes und der InnenminiDr. Hirsch
ster der Länder vorzulegen - ein Programm, das zeigt, daß es möglich ist, einheitliche und der Entwicklun g angepaßte Grundsätze zu formulieren.
Diese Bundesregierung hat umfassende personelle und technische Verbesserungen in den Bereichen ihrer Zuständigkeit bewirkt: im Bundeskriminalamt, im Bundesamt für Verfassungsschutz, beim Ausländerzentralregister und beim Bundesgrenzschutz.
Es ist auch alles getan worden im Hinblick auf neue Formen der Kriminalität. Hierunter fällt die Luftpiraterie, die sich bekanntlich nicht nur in der Bundesrepublik abspielt und bei der wir in besonderem Maße auf vorbeugende und internationale Maßnahmen angewiesen sind. Hier stellt sich das Problem der Verquickung schlicht Krimineller mit politischen Überzeugungstätern, deren moralische Wertung vom eigenen politischen Standpunkt nicht immer unabhängig ist.
Der Bundesinnenminister und die Innenminister der Länder sind sich darin einig, daß es keinen - jedenfalls keinen absoluten - Schutz gegen Terroristen gibt, die das eigene Leben nicht achten. Daraus ergibt sich die besondere Verpflichtung zur Vorbeugung, zur stärkeren Kontrolle und Überwachung der Angehörigen jener Länder, die sich nicht davor scheuen, ihren Krieg in unser Land hereintragen zu lassen. Es liegt auch nicht in deren eigenem wohlverstandenem Interesse, Konflikte zu vermeiden, die unsere auswärtigen und wirtschaftlichen Beziehungen zu ihnen in hohem Maße belasten müßten. Wir billigen daher das Verbot solcher Organisationen, die ihre Tätigkeit vor deutschen Behörden verschleiern und in Wirklichkeit die Anwendung von Gewalt begünstigen oder gar vorbereiten.
Das eigentliche Problem der inneren Sicherheit liegt in der Differenzierung zwischen kriminellem politischem Terror und erlaubten politischen Aktionen auch von Randgruppen, also in der Bestimmung der Grenze zwischen politischem Radikalismus und demokratischem Reformwillen. Nicht alle, Herr Kollege Dregger, die auf der Straße demonstrieren, sind potentielle Baader-Meinhofs.
({7})
Es ist auch nicht unser Weg, politische Extremisten mit Mitteln zu bekämpfen, die nicht rechtsstaatlich wären und damit die moralische Qualität unseres Staates zu verändern, sondern im Gegenteil, es ist unser Weg, durch die Bewahrung rechtsstaatlicher Formen der Verbrechensbekämpfung den Bürger immun zu machen gegen die Verketzerung unseres Staates als eine blinde Herrschafts- und Manipulationsmaschine, die er nicht ist. Das ist übrigens auch der Grund dafür, daß wir die Regelung des Artikels 10 des Grundgesetzes, also die rechtsstaatliche Struktur des Abhörgesetzes, überprüfen wollen.
Ich meine, daß es zu einer neuen Einstellung gegenüber den Formen der politischen Willensbildung kommen muß. Die Bevölkerung dieses Landes ist in hohem Maße politisiert. Wir glauben, daß die subjektive politische Kompetenz des Bürgers, also seine
Mündigkeit und sein Wunsch, auf politische Entscheidungen unmittelbar Einfluß zu nehmen, so zugenommen hat, daß der Bürger sich nicht mehr damit begnügen will - wie es Ihnen vielleicht vorschwebt -, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen, die Zeitung zu lesen und Briefe an seine Abgeordneten zu schreiben, sondern er will selbst politische Entscheidungen artikulieren und sicher sein, daß sie öffentlich zur Kenntnis genommen werden. Das ist für mich keine Krise der Autorität, sondern eine Ausweitung des öffentlichen Engagements, die zu begrüßen ist.
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Ich rede weder von der Betätigung radikaler Ideologen noch von den Nachahmungstätern, die sich unter dem Eindruck des öffentlichen Aufsehens einreden möchten, daß auch ihre Ziele die Mittel heiligen könnten. Aber es ist keine Frage, daß die vielfältigen Formen gewaltloser Bürgerinitiativen und gewaltloser Demonstrationen demokratisch, legitim und legal sind und daß der schlichte Ruf nach law and order nicht mißbraucht werden sollte, das politische Engagement dieser kritischen Bürger zu politischem Radikalismus zu verfälschen.
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Sie würden mit diesem Mißverständnis unabsehbare Folgen gerade für die demokratische Solidarität und die staatliche Autorität heraufbeschwören, die Sie zu erhalten vorgeben.
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Innere Sicherheit, Herr Kollege Dregger, ist nicht nur das Problem von Polizei und Justiz, und darf es nicht sein. Innere Sicherheit heißt, die Interessenkonflikte unserer Gesellschaft zu erkennen und mit friedlichen Mitteln zu lösen. Law and order heißt in unserer Übersetzung: demokratische Rechte und liberale Ordnung. Das ist unser Ziel, und darum werden wir uns bemühen.
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Herr Abgeordneter Dr. Hirsch hat seine erste Rede gehalten. Ich habe mich vorhin offensichtlich mißverständlich ausgedrückt. Ich gratuliere ihm - das Hohe Haus ebenfalls - und nachträglich auch noch Herrn Dregger herzlich.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar für die Ausführungen, die Kollege Vogel am Beginn gemacht hat, als er sagte: Wir wollen bei Verfassungsänderungen vorher wissen, wohin die Reise geht. Das ist im Grunde die Bestätigung der Praxis der letzten Legislaturperiode. Wir hoffen, daß wir auf diesem Wege, in der geübten Weise weiterkommen und doch noch auf Ihre Zustimmung zu den notwendigen Grundgesetzänderungen rechnen können.
Herr Kollege Vogel, Sie haben nähere Ausführungen zur Umweltpolitik vermißt. Der Verweis auf das Umweltprogramm, das konkret ist, Ihre Zustimmung gefunden hat, Prioritäten setzt, die Gesetze nennt die ich hier noch einmal erwähnt habe, erspart uns eine ausführliche Darlegung dieser Punkte.
Sie werden zur Neugliederung ebenso wie zur Dienstrechtsreform nach Vorliegen der Gutachten die Vorstellungen der Bundesregierung erfahren.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Dregger hat in seinen Ausführungen ein Wort gesprochen, das der Zurückweisung bedarf. Er hat mich ermahnt, mich in den kommenden Jahren, wie er sagt, nicht auf die technische Seite der Verbrechensbekämpfung zu beschränken, sondern vor allem die politischen Führungsaufgaben wahrzunehmen, die meines Amtes seien. Und dann hat er in diesem Zusammenhang erklärt:
Sie sind aufgerufen, gegen modische Torheiten auch in Ihrer eigenen Partei und der Koalition anzugehen und gegen die Unterhöhlung des rechtsstaatlichen Bewußtseins in der Auseinandersetzung immer wieder neu Front zu machen.
Herr Dregger, ich nehme Ihnen nicht übel, wenn Sie zu vielen Fragen andere Vorstellungen haben als Angehörige meiner Partei oder der SPD. Ich weise aber zurück, daß Sie diese Auffassungen im Zusammenhang mit Fragen der Verbrechensbekämpfung erwähnen.
({0}) Das ist eine unerträgliche Diffamierung!
Diese Koalition braucht in Fragen des Rechtsstaats wahrhaftig keine Belehrung. Wenn Sie meinen, daß der Bundesinnenminister sozusagen nur mit Hilfe der Opposition seine Vorstellungen habe durchsetzen können, dann will ich Ihnen eins sagen, Herr Dregger: Wenn Sie sich den Zustand des Bundeskriminalamtes früher und nicht erst zu dem Zeitpunkt angesehen hätten, als Herr Kollege Barzel Sie im Sommer dieses Jahres schon als meinen Nachfolger vorgestellt hat,
({1})
hätten Sie festgestellt, wie es dort aussah. Ich sage Ihnen, frühere Innenminister wären froh gewesen, einmal im Kabinett eine solche Unterstützung für die Bereitstellung von Finanzmitteln für den Ausbau der Sicherheitsorgane unseres Staates zu haben.
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- Im Bundestag natürlich auch, Herr Kollege Schäfer, das kommt noch dazu.
Herr Kollege Dregger, Sie haben Ihr Kolossalgemälde der Fragen der inneren Sicherheit und der Fragen, die uns alle bewegen, nämlich der Fragen unseres Staates und des Verhältnisses zum Staat, gezeichnet. Ich meine nur, wer zu diesem Thema spricht, hätte die Pflicht und Verantwortung gehabt, ein Wort zu der Tatsache zu sagen, daß die extremen Parteien bei der letzten Bundestagswahl die vernichtendste Niederlage in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erlitten haben.
({3})
Hätten Sie dieses Problem untersucht, hätten Sie vielleicht auch festgestellt, daß das nicht von ungefähr kommt.
Meine Damen und Herren, es wäre auch notwendig gewesen, nicht nur ein Wort dazu zu sagen, wie man die Gegner dieses Staates bekämpfen soll, sondern auch zu der vordringlichen Frage, wie man verhindert, daß Menschen überhaupt Gegner dieses Staates und dieser Gesellschaft werden,
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ein Wort zu der Frage, wie wir z. B. die Jugend für diesen Staat gewinnen können.
Eine Ursache für die Beschränkung der Wirkungsmöglichkeiten, und zwar ohne Verbot der Extremparteien, liegt doch nicht zuletzt darin, daß Parteien - möglicherweise nicht alle - die Bereitschaft gezeigt haben, sich für die Diskussion aller Probleme zu öffnen, die unsere Gesellschaft bewegen. Ich meine, wenn wir in der letzten Legislaturperiode durch eine gemeinsame Verfassungsänderung, nämlich die Herabsetzung des Wahlalters, durch Appelle an die Jugend, nun in die Parteien zu kommen, erreicht haben, daß sie kommt, haben wir doch von vornherein gewußt, daß das nicht immer bequem sein wird, daß wir uns mit den Fragen auseinandersetzen müssen, die uns dort gestellt werden.
Deshalb scheint mir hier die Feststellung wichtig, daß die Integration der jungen Generation ebenso wie die Integration der Kräfte an den Flügeln unseres Parteiensystems eine der wichtigsten Aufgaben aller demokratischen Parteien ist. Jeder Politiker in diesem Hause sollte sich deshalb zu schade sein, innere Schwierigkeiten zu schelten, die anderen Parteien bei der Erfüllung dieser staatspolitisch wichtigen Aufgabe entstehen.
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Das Wort hat dei Abgeordnete Dr. Meinecke ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu der Situation an unseren deutschen Hochschulen hat doch der Bundeskanzler sehr deutlich gesagt, daß „die Stätten der Lehre und Forschung nicht in politische Kampfstätten umfunktioniert werden dürfen". Ich verstehe nicht ganz, inwiefern die Sprecher der CDU/CSU diese Aussage für unzureichend hielten.
In dieser schwierigen Auseinandersetzung um diE Lage an unseren Universitäten und um die Bewältigung der weltweiten Unruhe in fast allen Industrienationen an den Hochschulen waren wir vor drei Jahren in diesem Haus schon einmal sehr viel wei ter, als der Ausdruck damals hier gefallen ist „Land. graf, werde hart" und wir damals begriffen haben daß es mit dem „Landgraf, werde hart" nicht getan ist und daß wir die Kausalitäten und die Motivatio
Dr. Meinecke ({0})
nen für die schreckliche Entwicklung aufspüren müssen, die wir alle gemeinsam bedauern, die aber weder mit Ordnungsrecht noch mit harter Gesetzesanwendung noch mit dem Aufmarsch von Polizeibataillonen zu meistern sind; damit eben nicht.
Ich möchte ganz kurz noch einmal auf die Diskussion über die Versuche zurückkommen, die Be-. griffe „Leistung" und „Leistungsgesellschaft" zu deuten und zu definieren im Zusammenhang mit den Grundsatzfragen der Politik für Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung. Ich hoffe, Sie nur ganz kurz damit zu strapazieren.
Die Opposition hat ja dem Bundeskanzler immer dann Beifall gezollt, wenn er an die Leistungsbereitschaft unserer Bevölkerung appellierte. Aber wenn es darum ging, die Bedingungen darzustellen, die diesen Anspruch der Gesellschaft erst rechtfertigen, dann schwieg sie, ja, dann ist ihr unheimlich geworden, und sie bezichtigt uns der nebulösen Ideologie.
Wenn wir von Mitbestimmung, Mitwirkung und Demokratisierung sprechen, dann erkennt Herr Strauß die Wurzeln des Übels darin, daß man das Gestaltungsprinzip des Staates, nämlich Demokratie, mit gleichem Stimmrecht automatisch auf die Gesellschaft zu übertragen versucht. Aber Demokratie ist doch kein Zustand, gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Radikalismus, sondern ein Prozeß, der alle Betroffenen und Beteiligten jeweils an den Entscheidungen partizipieren läßt.
Das gilt doch auch für eine der wichtigsten Einrichtungen unserer Gesellschaft, nämlich für die Hochschulen. Wir sollten hier nicht so tun, als wäre Mitentscheidung eine so einfache Sache, wie sich das aus der Honoratiorenperspektive des Herrn Strauß darstellt. Vielmehr muß der verantwortlich Mitentscheidende die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben. Das ist auch ein Teil der Leistung, die jeder zu erbringen hat. Von hier aus sollten vielleicht CDU und CSU noch einmal über den Leistungsbegriff und das Verhältnis zur Demokratie nachdenken. Dann würden sie hoffentlich zu anderen Ergebnissen kommen.
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Wenn wir durch Strukturreformen Chancengerechtigkeit herstellen wollen, dann reden Sie, Herr Strauß, vom bildungspolitischen Nulltarif.
Das Gruseln jedoch lerne ich, wenn ich an den Satz des Herrn Barzel von vergangener Woche denke, der da lautet: „Wir halten nichts davon, den Faulen und den Fleißigen über einen Leisten zu schlagen, und gar nichts halten wir von einer bürokratischen Zuteilung von Lebenschancen." Und da haben Sie, meine Damen und Herren, noch sehr lebhaft Beifall gespendet. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?
Es ging doch in der Bildungspolitik bisher nicht um eine bürokratische Zuteilung von Lebenschancen, sondern um die Beseitigung von bürokratisch verordneter Chancenungleichheit, von Chancenungerechtigkeit.
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Hierin sind sich doch alle Beteiligten, alle Gutachter und alle Beobachter unseres bisherigen Bildungssystems einig; das reicht vom Deutschen Bildungsrat bis zu den Gutachtern der OECD.
Wir möchten vor der einseitigen und ausschließlichen Betonung des Leistungsbegriffs warnen und halten unseren Anspruch nur dann für vertretbar, wenn Leistung zum gleichwertigen Ton in einem Dreiklang wird, der Demokratisierung und Humanität mitklingen läßt. So deutet es auch das Godesberger Programm bereits vor dreizehn Jahren mit einer Passage, die so eingeleitet wird: „Alle Vorrechte im Zugang zu Bildungseinrichtungen müssen beseitigt werden; nur Begabung und Leistung sollen jedem den Aufstieg ermöglichen." Wenn man böse wäre, könnte man sagen: Die Sozialdemokraten waren es ja, die damals den Begriff der Leistungsgesellschaft geprägt haben. Ja, damals haben wir diesen Begriff aus der bitteren Notwendigkeit prägen müssen, die Strukturen einer Privilegiengesellschaft zu verändern, und dies vorrangig im Bildungssystem! Denn dieses System ist nun einmal der Schnittpunkt unserer Bemühungen, Leistungsfähigkeit auf der einen Seite und Demokratisierung auf der anderen Seite als Kategorien des Handelns und des Verhaltens zu vermitteln. Deshalb geht es auch nicht darum, eine humane Leistungsgesellschaft quasi als staatlich bestimmtes Ordnungsprinzip zu schaffen, sondern darum, eine leistungsbereite Humanität zu vermitteln.
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Vor einigen Wochen gab es in einer großen deutschen Zeitung - ich glaube, es war die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" - einen sehr interessanten Artikel: „Die zerredete Leistung". Der Artikel versucht darzustellen, daß wir uns hier heute in der öffentlichen Diskussion anscheinend in einer Kollektivneurose befinden, und beginnt zu zeigen, wie Leistungsverfall an einigen Stellen unserer Gesellschaft, in Betrieben usw., zunehmend weiter beobachtet wird, und wagt Vorschläge zu machen, wie man dem entgegentreten könne. Aber dieser sehr differenzierte Artikel - meine Damen und Herren, das mag für uns alle interessant sein - endet mit der Passage:
Im Hinblick auf die Leistung muß unsere Gesellschaft sich selber davor bewahren, ihr Prinzip als alleinigen Maßstab zu verankern. Sie gerät dadurch in Gefahr, die Leistungsunfähigen zu opfern und sich selbst als inhuman zu diskreditieren.
Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bezüglich dieser Thematik befinden. Darum warnen wir natürlich auf der anderen Seite auch vor der einseitigen Abwertung des Leistungsbegriffs durch dogmatische Pauschalurteile neomarxistischer Prägung, die nichts dazu beitragen, die Frage zu beantworten, auf welche Leistungsmaße verzichtet werden kann und welche Forderungen vorausgesetzt werden müssen, um unseren sozialen Rechtsstaat zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Jedoch bleibt die Formel des Herrn Kollegen Weizsäcker - Herr Minister Eppler hat es gestern
Dr. Meinecke ({4})
hier schon gesagt -: „Es ist die Freiheit selbst, die
das Bekenntnis zur Leistung erfordert" völlig unklar und in diesem Zusammenhang genauso nutzlos.
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Die Opposition hat der Regierung nun vorgeworfen, die in der Regierungserklärung vom Oktober 1969 angekündigte Priorität für Bildung und Wissenschaft nicht realisiert zu haben. Dem muß hier widersprochen werden. Zweifellos hat die damalige Regierungserklärung wesentlich dazu beigetragen, in diesem Land ein Signal zu setzen und zu erreichen, daß Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam für dieses gesamte politische Gebiet im Jahre 1969 27 Milliarden DM und 1972 bereits über 43 Milliarden DM aufgewendet haben, daß der Bund seine Ausgaben von 4 auf 8,4 Milliarden DM steigern konnte und damit der Anteil der Ausgaben am Gesamtbruttosozialprodukt von 4,1 im Jahre 1972 auf 5,2 % gestiegen ist. Wenn Sie sich, meine Damen und Herren, noch einmal die Graphik Nr. 3 im Bildungsbericht 1970 ansehen, die eine vergleichende Darstellung der Aufwendungen mehrerer größerer Industrienationen für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Erziehung enthält, dann stellen Sie fest, daß wir in den letzten vier bis fünf Jahren einen wesentlichen Rückstand aufgeholt haben. Wenn es uns gelingen sollte, gewisse Beschlüsse des Finanzplanungsrats vielleicht noch korrektiv zu verändern,
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werden wir 1975 bei 6 % angelangt sein. Das alles kann man doch nicht einfach damit widerlegen, daß man sagt: Hier sind ,die Prioritäten falsch gesetzt worden.
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- Natürlich gibt es solche! Die Probleme einer langfristigen Finanzplanung für 15 Jahre kennen Sie, Herr Kollege Barzel. Aber die Festlegung der Summen für 1975 ist in Arbeit. Jetzt müssen Alternativen entwickelt werden, ,die man nach den verschiedenen Vorstellungen des Finanzplanungsrats finanzieren kann. Das hat ,die Konsequenz, daß hier oder dort etwas beschränkt werden muß und an anderen Stellen etwas rascher vorangeschritten werden kann.
Die Opposition hat sich - dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege Barzel - zu einem Katalog bildungspolitischer Prioritäten bekannt, dessen Elemente Sie aufgezählt haben. Wir betreten damit wohl endlich den Boden einer gewissen Übereinstimmung; denn dieser Katalog nennt fast wörtlich die in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung beschlossenen vordringlichen Maßnahmen - man kann das vergleichen -, auf die sich Bund und Länder gemeinsam geeinigt haben.
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Gewiß, Herr Pfeifer. Aber dieser Katalog konnte doch nur deshalb so 'definiert werden, weil der durch die Bundesregierung 1970 eingebrachte Bildungsbericht hierfür die Vorarbeiten geleistet hat, und das ein Jahr nach der Regierungserklärung.
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Wir beurteilen die Zusammenarbeit von Bund und Ländern - hören Sie zu, Herr Kollege Pfeifer - durchaus positiv. Wir halten sie für ausbaufähig, und wir bekräftigen unsererseits den Willen der Regierung, die Kompetenzen ganz zu nutzen.
Wenig nützlich sind allerdings in diesem Zusammenhang Kommentare, die bereits abgesicherte Zuständigkeiten, zum Beispiel für die berufliche Bildung, gerade dann und in dem Augenblick in Frage stellen, wenn diese Aufgaben in Angriff genommen werden sollen. So müssen wir auch heute die Opposition fragen: Was wollen Sie eigentlich, und wie beurteilen Sie die Versäumnisse von 15 Jahren, die Sie zumindest wesentlich mitzuverantworten haben?
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Herr Filbinger beispielsweise bekennt, es habe in der Vergangenheit unstrittig Fehler gegeben: in der Bildungsdiskussion der frühen 60er Jahre, die sich vornehmlich um eine Erhöhung der Abiturientenzahlen und um „eine Restauration von Bildungsideen des 19. Jahrhunderts gedreht habe" - ich bitte, das einmal ganz genau anzuhören -, und es sei die Welt der Arbeit, der Geschäfte und der Berufe beinahe vergessen worden. So weit, so gut und sehr einsichtig. Aber dann sagt er etwas, was meiner Auffassung nach diametral den Bemühungen des Bildungsrats und auch der Bund-Länder-Planungskommission entgegen- und zuwiderläuft, nämlich: „Die Landesregierung sehe es nunmehr als untunlich an, jährlich einen immer größeren Anteil junger Menschen aus dem berufsbildenden in das allgemeinbildende Schulwesen zu verlagern; es komme vielmehr darauf an, das berufsbildende Schulwesen, das verbessert werden müsse, zu einer wirklichen Konkurrenz für das allgemeinbildende Schulwesen umzugestalten."
Nun sagen Sie doch einmal: Was wollen Sie? Wollen Sie das berufliche Schulwesen auslagern, oder wollen Sie, wie es Reformbestimmungen und Reformbestrebungen verlangen, integrieren - wenn Sie mir das Reizwort heute abend ausnahmsweise einmal verzeihen mögen -?
Herr Kollege Barzel spricht etwas salbungsvoll davon, daß wir es den jungen Menschen schuldig sind, die Chancen auf Mitarbeit und Mitverantwortung zu verbessern, und verbindet damit die Forderung, das Alter der Geschäftsfähigkeit herabzusetzen. Wie verträgt es sich aber damit, dann den soeben mündig Gewordenen das Recht wieder streitig zu machen, in ihren Einrichtungen des Bildungswesens selbst als mündige und mitbestimmende Bürger aufzutreten? In dem Papier über die „Bildungspolitik auf klaren Wegen" enthält das Kapitel über die Hochschulen nicht ein einziges Wort darüber, wie Sie Fragen der Mitwirkung und Mitbestimmung im Hochschulbereich regeln wollen, nicht ein Wort. Mitbestimmung und Mitwirkung finden bei Ihnen nicht statt!
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Wir sind deshalb der Meinung, daß man, bevor man einseitig auch von uns zu verurteilende Radikalisierungstendenzen an den Hochschulen hier anklagt, einmal die Alternative überlegen sollte, ob man
Dr. Meinecke ({12})
durch sachlich gerechtfertigte Mitwirkungsbestimmungen, die auch erst erlernt werden müssen, der Unruhe nicht auf eine vernünftige Weise in einiger Zeit vielleicht Herr wird.
Wir begrüßen auch dankbar die Aussagen des Herrn Bundeskanzlers über die Bemühungen, Zulassungsbeschränkungen abzubauen. Wir wissen, daß ein neuer Anlauf zu einem Hochschulrahmengesetz es ermöglichen muß, Studienreformen rasch zu verwirklichen. Wir entnehmen der Reihenfolge der Gedankengänge in den Äußerungen des Kanzlers allerdings, daß Studienreform und inhaltliche Bestimmung der Studiengänge vor den Bemühungen stehen, die Studienzeiten zu verkürzen.
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Die Einführung des Studienjahres ist, wie wir vielen öffentlichen Reaktionen entnommen haben, nicht ganz unumstritten. Ich wäre der Bundesregierung für eine ausführliche Darstellung der Pro- und KontraArgumente sehr dankbar. Denn nur bei überzeugender Begründung läßt sich der Verdacht abweisen, daß die Bundesregierung Folgekosten auf dem Gebiet des Ausbaus und des Neubaus in Form von Personalkosten auf die Länder abwälzen will. Hier bedarf es einer sehr gründlichen alternativen Diskussion.
Außerdem würden wir es begrüßen, wenn im Zusammenhang mit der Einführung des Studienjahres geprüft würde, ob sich hieraus nicht vielleicht doch Konsequenzen für das Ausbildungsförderungsgesetz ergeben. Denn der Kreis derjenigen, die zusätzliche Einnahmequellen benötigen und hierfür dann keine Möglichkeit mehr sehen, ist nicht ganz klein.
Bezüglich der Verkürzung der Studienzeiten appellieren wir an die Studenten und Studierenden in unserem Land, einzusehen und zu erkennen, daß diejenigen, die in einem überfüllten Zug bereits Platz genommen haben, durch ein zeitlich angemessenes Aussteigen die Voraussetzung auch dafür schaffen, daß Neue hinzusteigen können.
Übrigens sollten die von der Bundesregierung bereits vor Jahren eingeleiteten Maßnahmen zur sachlichen Kapazitätsberechnung fortgesetzt werden. Ich bin überzeugt, daß an vielen Hochschulen mehr Studienbewerber einen Platz bekommen können, als man bisher anzunehmen bereit war.
Meine Damen und Herren, betrachten wir die knapp formulierten Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zu den Fragen von Bildung und Ausbildung, der Wissenschaft und der Forschung, so sehen wir sie als das Bekenntnis, die bereits in der Regierungserklärung des Jahres 1969 angekündigten Reformen und Maßnahmen fortzusetzen und zu verwirklichen. Niemand hat jemals vermuten können, daß sich eine um Jahrzehnte verzögerte Reform - eine auch durch Sie mit um Jahrzehnte verzögerte Reform - in wenigen Jahren verwirklichen läßt. Gehen wir an die Arbeit und versuchen wir, zumindest am Anfang von einer gewissen gemeinsamen Ausgangsbasis auszugehen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Martin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde gern auf die Ausführungen von Herrn Meinecke eingehen; erlauben Sie mir aber bitte, mich zunächst zur Regierungserklärung selbst zu äußern.
Es gibt nicht Reizvolleres, als den kulturpolitischen Teil der Regierungserklärung von 1969 und den von heute zu lesen. Damals gab es eine ausgezeichnete Situation für Bildungsreform, vielleicht sogar eine Sternstunde. Es lagen vor die Gutachten von Bildungsrat und Wissenschaftsrat, es wurden der neuen Regierung übergeben geordnete Finanzen, eine stabile Währung, eine intakte Wirtschaft.
({0})
Das waren die Voraussetzungen, die damals vorlagen. Heute ist zu fragen: Was ist aus alledem geworden? Damals, meine Damen und Herren, herrschte Aufbruchstimmung nach dem Motto: „Mit uns zieht die neue Zeit." 50 0/o eines Jahrgangs sollten das Abitur bekommen, es sollten die Ausgaben bis in die 80er Jahre von 25 Milliarden auf 100 Milliarden DM gesteigert werden. Hier klang der Ausruf: „Zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublikt gibt es eine Gesamtvorstellung, die vom Kindergarten bis zur Universität reicht." Das war die Ausgangssituation.
Wir haben uns damals konstruktiv auf die Regierungserklärung und auf den späteren Bildungsbericht eingelassen, müssen aber sehen, daß die Regierung selber heute das Scheitern ihrer großen Reform dargelegt und dargetan hat.
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Der Rückzug ist diplomatisch und geplant, aber deutlich. Bildung ist, wie die meisten von uns wissen, ein langer und teurer Prozeß. Das hätte man auch 1969 wissen müssen und wissen können. Damals aber ist bei einer entsprechenden Bemerkung von uns gesagt worden: „So sprechen nur Reaktionäre, die sagen, ein Bildungssystem ist ein gewachsener Organismus, der sich auch nur organisch weiterbilden läßt, und alle Reißbrettunternehmungen müssen da scheitern." Dann kommt die Apologie zu diesem Rückzug: „Es war allerdings sehr schwierig, zwischen Bund und Ländern eine gemeinsame Grundlage zu finden. Wir müssen einen neuen Anfang nehmen. Dazu ist eine größere Kooperation aller Länder erforderlich."
Meine Damen und Herren, hier liegt gegenwärtig der springende Punkt der Bildungspolitik. Die Prämisse der Bildungspolitik von 1969 und unserer Zustimmung dazu war die, daß der Bundeskanzler sagte: „Wir werden die Länder in den Stand setzen, ihre großen Aufgaben durchzuführen." Eben das, meine Damen und Herren, ist nicht geschehen.
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Wer weiß, wie die finanzielle Situation der Länder ist, wird hier nicht frei von der Leber weg über Bildungsplanung und Bildungsreform reden können.
Es ist erstaunlich und unverzeihlich, daß die Bundesregierung in einem Augenblick, in dem die Reformen selbst in Frage stehen, dazu hier nicht Stellung nimmt, nachdem der Finanzplanungsrat im Sommer vorigen Jahres gesagt hat, er habe nur 53 Milliarden DM für die Bildungsreform, und nachdem vorher die Bund-Länder-Kommission gesagt hatte, das reiche gerade eben aus, um den Status quo zu finanzieren und erlaube keine Reformen.
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Die Bundesregierung muß dazu Stellung nehmen. Es hilft auch gar nichts, wenn man sich hier der Stimme enthält und sich abstinent verhält. Die Bundesregierung muß darauf antworten, ob sie die 60 Milliarden DM - wie hier noch einmal von Herrn Meinecke angedeutet worden ist - zur Verfügung stellen kann oder nicht; denn verantwortlich für die Reform der Bildung ist die Bundesregierung, die sie in Gang gesetzt hat. Die Länder können sie in dem Maße exekutieren, wie der Bund ihnen dafür die Mittel zur Verfügung stellt.
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Da Herr Meinecke die Freundlichkeit hatte, zum 178. Male von den berühmten Versäumnissen der Vergangenheit zu reden, möchte ich einmal Beispiele aus einem Lande nennen, in dem die SPD in vollem Besitz der Kulturhoheit regiert und alles hätte tun können, was sie wollte. Ich meine das Land Hessen.
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Bezüglich der diesjährigen Finanzgestaltung hat der Präsident der Frankfurter Universität, der es wissen muß und der Mitglied der SPD ist und bestimmt nicht die Absicht hatte, Ihnen wehzutun, folgendes geschrieben:
Die völlig unzureichenden Finanzzuweisungen an die Universität Frankfurt im Regierungsentwurf für den Haushaltsplan 1973/74 sehe ich als das Ergebnis einer Finanzkrise an, die ihre Ursachen überwiegend in der Konjunkturentwicklung und der verfehlten Finanzpolitik dieser Bundesregierung hat.
Hier liegt die Wurzel des Übels. Es ist interessanter, über die gegenwärtige Impotenz einer hessischen Landesregierung zu reden als über unsere angeblichen Schwächen in der Vergangenheit.
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Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel sagen. Am 30. Juni 1972 wurde den Präsidenten der hessischen Hochschulen der Haushaltsentwurf mit folgenden Mitteilungen übermittelt:
Erstens. Mit Ausnahme des Klinikums Marburg keinerlei Neubeginn von Bauvorhaben.
Zweitens. Keinerlei Stellenzuwachs im wissenschaftlichen Dienst.
Drittens. Keinerlei Zuwachs in der Sachmittelzuweisung.
Der Kommentar der Präsidenten aller hessischen Hochschulen lautet:
Der von der Landesregierung vorgelegte Haushalt bedeutet den Zusammenbruch der bildungspolitischen Konzeption im Lande Hessen. Es muß der Landesregierung vorgeworfen werden, daß sie zwar Pläne für 1980 schmiedet, aber nicht weiß, was im Jahre 1973 geschehen soll.
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Meine Damen und Herren, das war genau die Kritik, die ich in den Jahren 1969 und 1970 hier vorgetragen habe. Die hessische Landesregierung ist heute noch nicht einmal in der Lage, ihr eigenes Hochschulgesetz auszuführen. Sie ernennt an einer Universität ohne jede Mindestausstattung und Sachmittel 220 Professoren. Diese Universität hat sich jetzt aus anderen Etats beholfen: die Naturwissenschaftler erhalten 1500 DM, die Geisteswissenschaftler - natürlich entsprechend dem Rang - 1000 DM, die Dozenten 750 DM. Die Rückfrage ergibt: Man könne sich nicht leisten, wegen Anträgen auf Bleistift und Papier auch noch administrativ tätig zu wrerden. Meine Damen und Herren, das ist der Zustand. Ich kann diesen Beispielkatalog beliebig erweitern.
Man muß die Wunden einmal aufdecken, um der Euphorie ein Ende zu bereiten und dem Realismus in der Politik wieder Bahn zu brechen.
({8})
Gehen wir nun zum Lande Niedersachsen über. Es gibt in Hannover eine Pädagogische Hochschule, die 3024 Studenten und 124 Lehrpersonen hat. Das bedeutet ein Ausbildungsdefizit von 100 bis 200 % - diese Angaben stammen alle von sozialdemokratisch orientierten Regierungen. An der Universität Göttingen sieht es genauso aus. Diesen Tatsachen, meine Damen und Herren, muß man sich stellen. Dann erst versteht man den Satz des Herrn Bundeskanzlers, daß die Bildungsreform ein langwieriger und ein teurer Prozeß ist.
({9}) Das war die äußere Ausstattung.
Nun zu Punkt 2. Herr Meinecke hat gesagt: Wozu eigentlich die Aufregung? Es gibt doch die weltweite Unruhe an den Universitäten und in der Jugend der Welt überhaupt. - Herr Meinecke, eben das trifft so nicht zu. Wenn Sie den Satz 1968 ausgesprochen hätten, wäre er wahr gewesen.
Es wäre gut gewesen, wenn Sie die letzte Nummer der „Deutschen Universitätszeitung" zur Vorbereitung auf die Debatte gelesen hätten. Sie hätten das Vergnügen gehabt, von Ihrem Parteifreund Löwenthal gerade zu dieser Frage das Allerrichtigste zu hören. Er sagt: „Das Auffällige ist, daß die weltweite Protestbewegung fast überall zu Ende gegangen ist - außer in der Bundesrepublik Deutschland." Das ist der Zustand. Frankreich hat ein Hochschulgesetz geschaffen und hat wieder funktionierende Universitäten. Die englischen waren nie ernstlich bedroht. Wer amerikanische Zeitungen liest, weiß, daß in den amerikanischen Universitäten wieder gearbeitet wird; fast - ich möchte sagen - in beunruhigend konventioneller Weise.
Meine Damen und Herren, die zweite These, die hier zu nennen ist, ist die: Es wäre falsch, zu sagen, die deutschen Universitäten sind funktionsunfähig.
Das ist pauschal. Es gibt Universitäten, die hart arbeiten, die funktionsfähig sind, die Stätten der Wissenschaft und Forschung sind. Es gibt andere, von denen Löwenthal sagt - ich zitiere so gern -, daß man eine Reihe von ihnen abschreiben müsse. Er nennt sie auch. Er sagt: Das ist Berlin, das ist Bremen und das ist Marburg.
Nun, meine Damen und Herren, muß man dem Übel ein bißchen auf den Grund gehen. Herr Meinecke - Ihr Punkt 2 -, Sie plädieren für die Partizipation der Jugend an dem politischen Entscheidungsprozeß. Meine Damen und Herren, die ewige Verwechslung von Demokratisierung und Partizipation muß einfach einmal beendet werden.
({10})
Was an den Universitäten vor sich geht, ist genau dasselbe, was in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft vor sich gehen muß, nämlich die Teilung der Arbeit nach Verantwortung und Leistung.
({11})
Das ist Mitbestimmung an den Universitäten und nichts anderes.
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Wenn der Bundeskanzler gesagt hat, über Wissenschaft usf. könne man nicht abstimmen, so hat er natürlich goldene Worte gesprochen und gezeigt, daß er zu unterscheiden vermag zwischen den demokratischen Regeln, die im Staate herrschen müssen, und zwischen dem autonomen Gesetz eines wissenschaftlichen Betriebs, sprich: einer Universität, deren Regeln sich eigentlich von Sokrates bis heute, weil es sich um das Wesen der Wissenschaft handelt, nicht geändert haben.
Löwenthal sagt - und mit ihm eigentlich die meisten Leute, die Erfahrung haben -: Der Versuch Partizipation ist deshalb gescheitert, weil die Drittelparität die Öffnung für den Einbruch von solchen Kräften war, denen es nicht um Wissenschaft ging, sondern darum, einen Begriff von Wissenschaft zu entwickeln, der es erlaubt, dem freiheitlichen Rechtsstaat an den Kragen zu gehen. Das ist der Punkt um den es geht.
Meine Damen und Herren, die Gesetzgebung muß sich an diesem Punkt klar aussprechen. Wir haben vom Herrn Bundeskanzler nichts gehört, wie er über das Hochschulrahmengesetz denkt. Was der Herr Bundeskanzler ausgeführt hat, steht sicherlich im Gegensatz zu dem, was in den Hochschulgesetzentwürfen von München und Kiel gegenwärtig produziert wird.
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Ich kann nur sagen: man muß wissen, daß weder Dramatisierung noch Verharmlosung die richtige Methode ist; aber es muß klar sein, daß alle politisch Verantwortlichen wissen, welche Gefahren drohen. Es drohen folgende Gefahren:
Erstens. An den Universitäten oder in gewissen Teilen werden Gruppen indoktriniert, die dem freiheitlich-rechtlichen Staat nicht wohlwollen, um das milde auszudrücken. Das können wir nicht hinnehmen.
Das Zweite ist, daß die Lehrinhalte an den Universitäten verlorengehen und der Pluralismus der Wissenschaft leidet.
Der dritte Punkt ist, daß die Leistungsfähigkeit leidet. Ich weiß auch, daß das nicht pauschal ausgesprochen werden darf, aber, meine Damen und Herren, die Verwirklichung von Humanität hängt heute ab von der Leistung, der Wissenschaft, der Produktion und von nichts anderem.
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Herr Meinecke, Sie brauchten uns eigentlich nicht darüber zu belehren, daß der Begriff „Leistung" im Bereich der Bildung - im Kindergarten, in der Schule, in der Universität - eine andere Tinktur, eine andere Nuance hat als sonstwo. Es handelt sich primär darum, Herr Meinecke, im Bildungsbereich den Willen zu wecken, sich selbst zu verwirklichen und sich die Mittel zu beschaffen, um eine Funktion in der Gesellschaft zu übernehmen. Das meinen wir mit „Leistung".
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Meine Damen und Herren, worum geht es denn? Es geht um den Widerspruch gegen eine ganz bestimmte Weise des heutigen Unterrichts. Die CDU hat heute in der Debatte drei-, viermal auf Erziehung hingewiesen, weil der Begriff fast aus der pädagogischen Diskussion - geschweige denn aus der kulturpolitischen Diskussion - verschwunden ist. Hier muß man den Mut haben zu einem schlichten und elementaren Denken. Man erzieht für das Leben. Man erzieht dafür, daß man in diesem Staat eine Funktion übernehmen kann und daß man sich selbst zu verwirklichen vermag. Und dazu gehört eine Wertordnung. Kritisches Bewußtsein ist wichtig, aber das genügt nicht. Eine Industriegesellschaft braucht mehr Bildung als eine agrarsoziale Gesellschaft, weil die Gefährdung des Menschen größer geworden ist. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, sich von Manipulationen innerlich freizuhalten und dem Person-Sein Selbst-Sein entgegenzusetzen. Insofern hat sich an den klassischen Ideen und Zielen der Erziehung überhaupt nichts geändert, sondern sie sind heute noch dringender geworden, als sie je waren.
Gewundert haben wir uns darüber, daß in der Regierungserklärung von dem vorschulischen Bereich nicht mehr die Rede ist. Ich nehme an, daß Herr von Dohnanyi das berücksichtigen oder korrigieren wird. Das ist ja gerade der Bereich, in dem wir uns alle einig waren. Der ist durchdiskutiert. Wir waren uns darin einig, daß hier Chancengleichheit - besser noch: Chancengerechtigkeit - .angegangen werden muß, daß hier die Bildungsbarrieren liegen. Ich muß doch einfach feststellen, daß außer den Kindergartengesetzen, die in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern gemacht worden sind, auf diesem Gebiet von der Bundesregierung weder ideelle noch ökonomische noch finanzielle Impulse ausgegangen sind. Es sind drei Jahre vertan worden bei einem Problem, das wissenschaftlich und politisch ausdiskutiert worden ist.
Wir möchten auch gern hören, wie das weitergeht. Wir haben Ihnen hier vorgetragen, daß dieser
Bereich, wenn er voll ausgeschöpft werden soll, 40 000 Lehrer braucht, daß das 6 bis 7 Milliarden DM kosten wird, daß wir Curricula brauchen für die Vorschule, eine neue Ausbildung für Kindergärtnerinnen und dergleichen Dinge mehr. Es wäre hilfreich, wenn wir zu dieser Sache etwas hören könnten.
Nächster Punkt, meine Damen und Herren: An Stelle der Betonung von Abitur und Universität erscheint in dieser Erklärung - Frister wird am nächsten Montag sagen: saisonal bedingt - die Berufsbildung. Meine Damen und Herren, wir haben seit eh und je in dieser Debatte ausgeführt, daß das Recht auf Bildung nicht das Recht des Abiturienten und Studenten ist, sondern das Recht der deutschen Jugend.
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Wir haben in der Debatte im Juni 1970, glaube ich, hier ausgeführt, daß dieses Programm der Akademisierung breiter Schichten mit Sicherheit eine Verschärfung des Numerus clausus herbeiführen wird, und wir haben in Anträgen und in Formulierungen hier gefordert, gleichrangige Berufsausbildungsgänge zu etablieren; wir haben in der Legislaturperiode auch einen Antrag zur Berufsbildung eingebracht, den Sie sicher alle kennen. 1970 noch konnte Herr Leussink, angesprochen auf den Numerus clausus, hier sagen, 1975 werde es ihn bestenfalls noch in der Medizin geben. Dieser Satz, meine Damen und Herren, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Realitätsbewußtsein der damaligen Bildungspolitik.
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Was die Ausführungen zur Berufsbildung angeht, so bejahen wir, wie Sie wissen, diese Initiative, die hier eröffnet worden ist, müssen uns aber freilich näher einlassen können. Die Regierungserklärung gibt wenig her; schon etwas mehr gibt das Interview von Herrn von Dohnanyi - ich glaube, von vorgestern - her. In der Regierungserklärung fällt auf, daß das Wort „duales System" vermieden wird. Nun braucht man kein Wortfetischist zu sein. Die Frage ist, ob die Sache vorhanden ist oder nicht. Bei Herrn von Dohnanyi wird vielleicht ein deutlicher Zug zur Verschulung sichtbar. Gegenwärtig liegt ja das Übel darin, daß der Staat weniger seine Verpflichtungen erfüllt als die Wirtschaft ihre. Man muß wissen, daß 15 000 Berufsschullehrer nicht vorhanden sind, daß von zwölf Wochenstunden in der Regel nur vier bis fünf gegeben werden. Dies muß man wissen, wenn der Staat sich stark macht, um in die Reform einzusteigen, und er muß wissen, was er will.
Dazu, meine Damen und Herren, möchte ich folgendes sagen. Ich glaube, daß die beiden sogenannten Lernorte, wie Herr von Dohnanyi formuliert, Betrieb und Schule, im Gleichgewicht sein oder erst ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Ich meine auch, man muß daran erinnern, daß die vergangene Bundesregierung uns, dem deutschen Volk, gesagt hat, es bleibe beim dualen System, es habe
sich bewährt. Heute haben wir die Situation, daß sowohl die Vorschläge der GEW, des Deutschen Gewerkschaftsbundes als auch der Entwurf Nordrhein-Westfalens die deutliche Tendenz in die Verschulung und Verstaatlichung aufweisen; das muß hier ausdiskutiert werden. Eines jedoch möchte ich einem unvorsichtigen Finanzminister mit auf den Weg geben: wenn man die Berufsbildung im vollen Sinne des Wortes in die Schulen hineinnehmen will, muß er sich darüber im klaren sein, daß ein Ausgabe von 30 Milliarden DM auf diesen Staat zukommt; denn eine solenne Berufsausbildung ist nicht weniger teuer als eine akademische Ausbildung; das muß man einfach wissen. Und man muß auch wissen, meine Damen und Herren, daß in den sozialistischen Staaten wie auch in Amerika und Frankreich, die Experten, also diejenigen, die die Folgen ihres Tuns zu tragen haben, wie auch die von der Regierung eingesetzte Kommission für Berufsbildung die Zweigleisigkeit sehr betonen und sich für ihre Aufrechterhaltung einsetzen. In den sozialistischen Ländern nennt man das polytechnischen Unterricht, den Gleichklang von Schule und Betrieb.
Meine Damen und Herren, noch eine letzte Anmerkung. Es ist mehr als verwunderlich, daß das Hauptübel der gegenwärtigen kulturpolitischen Situation nicht genannt wird. Kulturpolitik, Erziehung ist ein dialogischer Vorgang. Der Lehrermangel ist der Schlüssel zur Verbesserung der Situation in unseren Schulen zugunsten der Kinder, zusammen mit einer Steigerung der Effizienz der Erziehung selbst. Daß die Bundesregierung auch darüber nichts sagt - Herr Frisier würde nächsten Montag darauf zu sprechen kommen -, daß es noch 2000 Klassen gibt, die mit 50 Kindern vollgestopft sind, daß die Regelklasse mehr als 30 Kinder hat, ist doch wirklich sehr verwunderlich. Und wer einmal in Schulen gewesen ist, weiß, daß man bei der heute sehr differenzierten und sehr anspruchsvollen jungen Generation schon eine gewichtige pädagogische Kraft mitbringen muß, und der weiß auch, daß hier der Schlüssel zur Verbesserung der Dinge liegt.
Soeben noch, meine Damen und Herren, hat Herr Meinecke sozusagen etwas herablassend gesagt, wir nennten untentwegt unsere Prioritäten. Herr Meinecke, das war ja der Erfolg der CDU/CSU, daß die SPD-regierten Länder und die Bundesregierung unter dem erdrückenden Gewicht der Tatsachen den Katalog der CDU/CSU übernommen haben.
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Für heute wäre nur interessant zu wissen, ob die Bundesregierung in der Lage ist, zusammen mit den Ländern wenigstens diesen Katalog durchzuführen. Ich nenne ihn noch einmal: Das erste ist die vorschulische Bildung wegen der Chancengleichheit, das zweite ist der Numerus clausus, das dritte ist die Berufsbildung, das vierte ist die Beseitigung des Lehrermangels und die Verkleinerung der Klassen. Wir sind bereit, über die Reihenfolge zu reden. Aber das ist das Mindestprogramm, das sich heute eine Regierung, das sich heute der Gesamtstaat stellen muß. Solange die vorschulische Bildung nicht etabliert ist, bleibt das Wort von der ChancenDr. Martin
gleichheit eine politische Phrase, an der wir uns nicht beteiligen werden.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Schuchardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Martin hat uns soeben ein eindrucksvolles Bild davon gegeben, daß nicht alles, was Geld kostet, Reformen sind. Er ist zwar sehr bereit, viel Geld auszugeben, will aber dafür überhaupt keine Reformen einführen.
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Ich möchte nur einen ganz kurzen Ausflug zurück in das machen, was uns Herr Dregger geboten hat. Da möchte ich mich eines Arguments von Professor Maihofer bedienen. Herr Dregger hat uns gezeigt, wie man Ordnung statt Reformen macht. Hier allerdings trennen uns Welten. Wir wollen Ordnung durch Reformen.
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Es ist uns heute klargeworden, weshalb Herr Strauß gestern so von der Mitte sprach. Jetzt wissen wir, daß er in dieser Fraktion dahingerutscht ist.
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Herr Dr. Martin hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Länder zur Zeit sicherlich nicht imstande sind, das zu finanzieren, auch das nicht, was nach seiner Meinung alles durchgeführt werden müßte. Nur können wir ja wohl nicht "davon ausgehen, daß, wenn die Länder jetzt über größere Finanzmittel verfügen, diese auch in den Prioritätsbereich hineinfließen. Das ist der Grund, weshalb wir uns so stark für die Bundeskompetenz auch in diesen Bereich einsetzen.
Es gehört inzwischen im Bund wie in den Ländern zur Pflichtübung, daß in jeder Regierungserklärung die Bildungspolitik an die Spitze der Reformen gesetzt wird. Dem wird sich natürlich auch keine Fraktion widersetzen. Wie muß es in der interessierten Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang eigentlich wirken, wenn die bisher bereitgestellten Mittel in Bund und Ländern im wesentlichen nur ausreichen, die steigenden Schüler- und Studentenzahlen sowie die längere Verweildauer in den Bildungseinrichtungen aufzufangen? Deutlich wahrnehmbare Strukturveränderungen der Bildungseinrichtungen sind hingegen nicht eingetreten. Wie muß der Satz des Vorsitzenden der Oppositionsfraktion „Wir wollen den freien und mündigen Burger; dafür wollen wir die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen" wirken, wenn gerade die Vertreter der von Ihnen geführten Länder Reformen im Bildungsbereich zu hindern suchen?
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Sicherlich haben die Bildungspolitiker selbst dazu beigetragen, daß das breite Interesse an dieser Reform einschläft,
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indem sie die Auseinandersetzungen zeitweise ideologisch geführt und andererseits selbst den Eindruck vermittelt haben, als ob es nur die Reformen wären, die das Geld kosten. Für uns ist die politische Entscheidung für die integrierte Gesamtschule unter Einbeziehung der Grundstufe sowie des beruflichen Schulwesens keine Ideologie, sondern die Lösung von einer Gesellschaftsstruktur des letzten Jahrhunderts. Sie ist das Bildungssystem, das allein die individuelle Förderung entsprechend der Begabung und der Neigung ermöglicht und seine effiziente Durchführung sichert.
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Wir waren uns von Anfang an darüber einig, daß die Bildungsreform einen besonders langen Atem erfordert, um die Vernachlässigung so vieler Jahre aufzuholen. Dieses kann man gar nicht häufig genug sagen; da kann ich Herrn Dr. Meinecke nur unterstützen. Insoweit bedauern wir die Kurzatmigkeit derer, die noch vor wenigen Jahren von der Bildungskatastrophe sprachen und ihr heute bereits ihre Aufmerksamkeit entziehen, wohlwissend, daß wir bisher immer noch nicht aus der Mängelverwaltung herausgekommen sind. Wir werden die Resignation unter den Interessierten in der Offentlichkeit zu verhindern suchen. Wir richten gleichzeitig den Appell an diese, alle reformerischen Kräfte zu unterstützen.
Der Herr Bundeskanzler sprach von der Bildungsreform als langem und teurem Prozeß. Ich sagte bereits, daß leider der Fehler begangen wird, den errechneten Bedarf den Reformen zuzuschreiben. Der weitaus größte Teil des errechneten Finanzbedarfs dient allein der Erfüllung der bestehenden gesetzlichen Verpflichtungen des Staates.
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So sind z. B. 1975 allein 53 Milliarden DM erforderlich, um den Stand zu halten. Das mühsam auszuhandelnde Bildungsbudget für 1975 setzt nur wenig höher an. Dies sind im Hinblick auf Reformen wohl keine maßlosen Mittel.
Bei der Aufstellung des Bildungsbudgets ist folgendes klargeworden. Eine langfristige realistische Finanzierung bei qualitativer Verbesserung ist nur möglich, wenn grundlegende strukturelle Veränderungen unseres Bildungssystems eingeleitet werden. Das sture Festhalten an unserem derzeit viergliedrigen Schulsystem wird die beste Garantie dafür bieten, die Katastrophe zu vervollkommnen.
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Zum Beispiel kostet ein Gymnasiast jährlich zirka 2500 DM. Von den derzeit etwa 10 010 eines Jahrgangs, die das Abitur schaffen, gelingt dies aber nur 3 % in den vorgeschriebenen 13 Schuljahren. Wenn der Unsinn des Sitzenbleibens endlich durch ein offenes Schulsystem, wie wir es fordern, abgeschafft
und die Schulzeit auf ein international übliches Maß von 12 Jahren reduziert würde, wie es der Bundeskanzler bereits angesprochen hat, könnten allein durch diese Maßnahme Hunderte von Millionen DM sinnvoll eingespart werden. Man könnte noch ähnliche Punkte aufzählen. Dies setzt aber grundlegende Reformen voraus.
Herr Barzel hat als Prioritäten der CDU im Bildungsbereich die berufliche Bildung und die Vorschule genannt. Angesichts der ungeheuren Aufgabe, die vor uns liegt, kann man dies wohl kaum als hinreichend empfinden. Da gerade dieses vom Oppositionsvorsitzenden aufgenommen wurde, kann man annehmen, daß es auch das einzig Durchsetzbare ist. Von dem, was Bildungspolitiker hier sagen, muß man ja viel abstreichen, wenn man es nicht gleichzeitig auch vom Fraktionsvorsitzenden hört.
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Deswegen bezieht Herr Mischnick auch so sehr häufig in seine Ausführungen genau den Bereich der Bildungspolitik ein.
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Die Vorschule wird bei der CDU lediglich als Alibi für fehlende Reformvorstellungen angeboten,
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und zwar mit dem Hinweis - das ist heute durch Herrn Dr. Martin auch wieder geschehen -, dadurch wolle man die Chancengleichheit erreichen. Wenn Sie dann aber anschließend diese Kinder in eine vollgefüllte erste Klasse bringen, erreichen Sie damit eher Chancenungleichheit als Chancengleichheit.
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Trotzdem haben Sie das hier wieder als erste Priorität angesehen. Daß die Reformen ineinandergreifen müssen, scheinen Sie immer noch nicht erkannt zu haben.
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Wenn sich heute wiederum alle politischen Parteien dahin gehend einig sind, daß der beruflichen Bildung stärkere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, dann doch deshalb, weil hier der Nachholbedarf am größten ist. Es ist allerseits bekannt, die Berufsschulen können bisher nicht die erforderliche Anzahl der Unterrichtsstunden anbieten. Herr Dr. Martin sprach von durchschnittlich vier bis fünf Stunden von den eigentlichen zwölf Stunden. Das kann wohl nur der Durchschnitt der CDU-Länder sein. Die Betriebe bieten daher zum Teil zwangsläufig interne Schulungskurse an, was zu einer unglaublichen Chancenungleichheit der Auszubildenden von Betrieb zu Betrieb führt.
In diesem Zusammenhang ist die von Bayern angekündigte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Kompetenzwechsels der Planung für das berufliche Bildungswesen zum Bildungsministerium eine unglaubliche Ironie. Für uns ist und bleibt auch die
berufliche Bildung eine öffentliche Aufgabe. Die Reform der beruflichen Bildung kann nur im Zusammenhang mit der Reform des allgemeinen Bildungswesens gesehen werden. Unsere Aufgabe sehen wir darin, die berufliche Bildung so aufzuwerten, daß für Lehrer wie für Schüler ein solcher Berufsweg attraktiv genug ist. Es darf nicht auch weiterhin der Eindruck bei den Berufssuchenden aufrechterhalten werden, als ob lediglich der Weg über die Hochschulen zu qualifizierten Berufen und damit zu Aufstiegschancen führe.
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Dies alles zeigt auf eine Reform hin, das allgemeinbildende und berufsbildende Schulwesen gleichzusetzen und in der Sekundarstufe II der integrierten Gesamtschule zusammenzufassen. Dabei kann auch in Zukunft auf eine parallele betriebliche Ausbildung nicht verzichtet werden. Wir werden auch sehr aufmerksam beobachten, wie diese Reform in den SPD-geführten Ländern vor sich geht.
Herr Strauß forderte in seiner Rede eine Bedarfsplanung im beruflichen Bildungswesen. Nun ist diese Forderung keineswegs neu. Leider fehlt aber von seiten der Länder auf diesem Gebiet noch jegliches vergleichbare Material, um einen Plan sowie dessen Finanzierung verbindlich aufzustellen. Wenn man die Aufgabe der Bildungspolitik in ihrer ganzen Tragweite erfaßt, so wird man um die Notwendigkeit einer Gesamtplanung nicht herumkommen. Diese Planung darf aber nicht, wie es Wolfgang Mischnick bereits gesagt hat, von elf Bildungspolitikern bestimmt sein, wobei die Geschwindigkeit vom Langsamsten abhängt, sondern hier kann nur ein wirklicher Erfolg eintreten, wenn die Planungskompetenz in einer Hand, nämlich beim Bund, liegt.
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Welche Auswüchse unsere derzeitige Kompetenzverteilung hat, kann am besten am Beispiel der beruflichen Bildung veranschaulichen. Die Kompetenz für die betriebliche Bildung liegt beim Bund, die für die schulische bei den Ländern. Wir Freien Demokraten müssen unter diesen Umständen leider zugeben, daß unsere Skepsis sehr groß ist, was die Erfolge auf diesem Gebiet in der nächsten Zukunft betrifft. Wir geben die Hoffnung aber nicht auf, daß auch die beiden großen Fraktionen zuzulernen bereit sind.
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- Das erfordert übrigens auch, daß man zuhört.
Das nach unserer Meinung wichtige Instrument der Planungsreserve wurde in der letzten Legislaturperiode gestrichen, weil Bundeskanzler und Ministerpräsidenten die pauschale Erhöhung der Steuersätze für die Länder beschlossen, ohne daß damit politische Prioritäten verbunden waren. Hier ist genau der Witz, daß Dr. Martin genau dieses nicht gleichzeitig betont, daß dann auch von jedem einzelnen Bundesland erklärt werden muß, daß es bereit ist, mittelfristig und langfristig die Zuwächse genau in diesem Sektor beizubehalten.
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Will man die Priorität der Bildungspolitik, die wohl von keinem abgestritten wird, glaubhaft aufrechterhalten - so möchte ich zusammenfassen -, bedarf es umgehend folgender Maßnahmen: 1. Rahmenkompetenz des Bundes für Planung und Finanzierung,
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2. zügige Einführung der Integration der Bildungseinrichtungen in integrierter Gesamtschule und integrierter Gesamthochschule, 3. eine gesicherte Finanzierung, die dies gewährleistet. Wir sind uns darüber im klaren, daß auch das Engagement des Bundes entsprechend größer werden muß.
Meine Damen und Herren, wir sollten nicht, wie es wohl in den letzten Jahren in allen Parlamenten permanent passiert ist, nur den Mund spitzen, sondern wir sollten auch pfeifen.
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Meine Damen und Herren, wir gratulieren Frau Kollegin Schuchardt zu Ihrer Jungfernrede.
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Das Wort hat Herr Bundesminister von Dohnanyi.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst die Glückwünsche für Frau Schuchardt hier noch einmal ausdrücklich für mich wiederholen.
Meine Damen und Herren, Herr Dr. Martin hat wieder den Versuch gemacht zurückzuschauen und hat die Legende des Scheiterns der Bundesregierung in der Bildungsreform wieder aufgegriffen. Ich glaube, wir sollten den Versuch machen, diese Debatte zu schließen. Es hat wenig Sinn, über die Vergangenheit zu diskutieren. Wir sollten vielmehr nach vorn schauen und dabei sehen, auf wie viele Grundlagen der Arbeit der vergangenen Legislaturperiode wir uns in der Tat stützen können.
Wenn wir auf die vor uns liegenden vier Jahre schauen, so wird es darauf ankommen, Herr Dr. Martin, die Weichen in jenen Bereichen zu stellen, die in der vergangenen Legislaturperiode dafür vorbereitet worden sind: Bildungsgesamtplan, Hochschulpolitik, wo wir ja die Ausschußberatungen abgeschlossen hatten, und in der Berufsbildung, die hier bereits eine Rolle gespielt hat.
Der Bund hat dabei beschränkte Kompetenzen; das ist bekannt. Frau Schuchardt, wir werden natürlich in erster Linie diese Kompetenzen ausschöpfen. Die Bundesregierung ist aber selbstverständlich bereit, über Fragen einer sinnvollen Kompetenzerweiterung so zu diskutieren, daß dabei die Arbeit in dieser Legislaturperiode, die mit den bestehenden Kompetenzen bewältig werden kann, nicht gestört wird.
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Ich sagte, es komme darauf an, den Bildungsgesamtplan zu verabschieden. Hier ist schon über die Frage des Bildungsbudgets diskutiert worden.
Herr Barzel hat vorhin eingeworfen, es gebe gar kein Bildungsbudget. Lassen Sie mich zwei Feststelungen treffen: Zu den Inhalten haben wir einen Zwischenbericht bis 1985, der eine gemeinsame Grundlage geben kann. Ich verstehe nicht, Herr Dr. Martin, wie jemand sagen kann, die Politik der Bundesregierung, die ja diesen Zwischenbericht wesentlich mitgestaltet hat, sei unrealistisch; denn dieser Zwischenbericht mit seinen, ich gebe zu, beachtlichen Forderungen, wird doch von allen Ministerpräsidenten und dem Bundeskanzler ausdrücklich in einer Entschließung als eine geeignete Grundlage für die Bildungspolitik angesehen.
Was nun das Bildungsbudget angeht, so muß man doch zwei Dinge nüchtern sehen, Herr Dr. Martin. Daß die Länder in den vergangenen Jahren wie auch der Bund so beachtliche Aufwendungen zu machen hatten und in den kommenden Jahren zu machen haben werden, liegt entscheidend an den Versäumnissen der vergangenen zwei Jahrzehnte von 1949 bis 1969, in denen eben viel von dem, was im Bildungsbericht hätte getan werden müssen, als Folge der Gesamtentwicklung unserer Gesellschaft nicht getan worden ist. Daran kann doch gar kein Zweifel bestehen. Jetzt müssen wir unter schwierigen Umständen versuchen, den Nachholbedarf zu decken.
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- Ich will gleich etwas dazu sagen. - Sagen Sie
doch nicht, das Bildungsbudget sei nicht zu machen. Die Taktik der Opposition wie auch die der CDU/ CSU-regierten Länder hat doch in der vergangenen Legislaturperiode darin bestanden, den Versuch zu machen, überall ein Scheitern der Bundesregierung zu beweisen. Man hätte sich leicht darauf einigen können, ein Bildungsbudget so zu machen, wie es die Bundesregierung vorgeschlagen hat: anstatt nämlich von den Finanzministern und den Kabinetten im Jahre 1972 oder 1973 zu verlangen, daß sie alle Gelder des Jahres 1985 einschließlich der Gelder für das dann zu kaufende Kinderspielzeug für die Kindergärten heute schon finanziell einsegnen, nur diejenigen Entscheidungen der langfristigen Bildungsplanung gewissermaßen finanziell für verbindlich zu erklären, die Jahr für Jahr finanziell verbindlich gemacht werden müssen, damit das Ziel der Bildungsreform erreicht werden kann. Dieses wird die Bundesregierung am 12. Februar noch einmal in der Bund-Länder-Kommission vorbringen.
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- Herr Pfeifer, lassen Sie mich versichern, ich gehe davon aus, daß hierzu ein Beschluß gefaßt werden kann. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß die CDU-geführten Länder weiterhin die Entscheidungen zum Bildungsgesamtplan blockieren wollen.
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- Herr Pfeifer, können wir das ein andermal aufnehmen? Wir haben es nie anders gesagt. Ich würde Sie bitten, Ihre Behauptung zu beweisen. In der Regierungserklärung 1969 steht genau dies darin. Aber darüber können wir vielleicht an anderer Stelle
debattieren. Das Plenum hier, glaube ich, schaut auch auf die Uhr; es ist zehn nach Neun, am Ende der Debatte.
Herr Kollege Barzel hat am Donnerstag eine Bemerkung gemacht, die hier, glaube ich, interpretiert werden muß. Er hat ,gesagt, Politik müsse man für alle Bürger machen. Für uns heißt das: natürlich für alle Bürger, aber aktuell dort, wo es gilt, Benachteiligten zu helfen.
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Herr Dr. Martin, ich verstehe die Unterscheidung, die sich in der CDU/CSU jetzt einschleicht, zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit nicht. Ich verstehe auch nicht, was Herr Vogel, der Vorsitzende des kulturpolitischen Ausschusses der CDU, meint, wenn er sagt: Nicht jedem die gleiche Chance, sondern jedem seine Chance. Heißt das, daß einer, der mit schlechteren Chancen angetreten ist, diese seine Chance wahrnehmen kann, vielleicht mit einer verbesserten Berufsbildung, aber im übrigen die Chancen eben nicht gleich verteilt werden?
Herr Minister, gestatten. Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Martin.?
Herr Minister, sind Sie bereit, zu sehen, daß, wenn wir nicht nur Chancengleichheit, sondern dazu auch noch Chancengerechtigkeit sagen, wir folgendes meinen: daß für den Benachteiligten bedeutend mehr geschehen muß als für den Normalbegabten? Das ist der Sinn dieser Aussage, und das trifft tiefer als die Bemerkung, die Sie jetzt gemacht haben.
Herr Martin, wenn das so interpretiert wird, vielen Dank. Nur heißt es leider meistens bei Ihnen: „Nicht Chancengleichheit, sondern Chancengerechtigkeit". Aber gut, die Sache ist aufgeklärt.
Ein entscheidender Punkt - Frau Schuchardt hat ihn schon angeschnitten ist der folgende. Über die Vorschule, Herr Martin, besteht kein Streit, wohl aber darüber, ob das genügt, damit Chancengleichheit und, wie Sie jetzt hinzufügen, Chancengerechtigkeit verwirklicht werden kann. Die Gesamtschule, die es inzwischen in praktisch allen Industrieländern in West und Ost gibt und die dort das akzeptierte Instrument zur besseren Verteilung der Bildungschancen ist, ist eben keine Ideologie. Wenn Sie sich dazu nicht entscheiden ich kann dem, was von seiten der FDP hier gesagt worden ist, nur zustimmen -, wird die ganze Bildungsreform nicht möglich sein. Die Schulreform bleibt der Schlüssel zur Bildungsreform, und ohne die Gesamtschule wird es eine wirkliche Schulreform nicht geben.
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Herr Dr. Martin, dieses Ausweichen in der Frage muß man aber auch von einer praktischen Seite her sehen, auf die ebenfalls aufmerksam gemacht worden ist. Wenn man die Chancen für die weiterführenden Bildungswege so eng an das Gymnasium bindet und das Gymnasium nicht integriert mit den übrigen Teilen der Schule - Hauptschule und Realschule -, dann kann man sich ja nicht wundern, wenn alle ins Gymnasium drängen. Wenn die Weichen für die Zehnjährigen gestellt werden müssen, sagen natürlich die Eltern: ins Gymnasium. Und dann passiert das, was heute leider in Bayern schon wieder anfängt: dann beginnt man beim Eingang ins Gymnasium restriktiv zu werden und dort zusätzlich verschärfte Prüfungen einzuführen. Das ist das Ungerechteste, was man machen kann. Man könnte sagen: die Aufnahmeprüfung in die Sexta, so wie das dort jetzt wieder praktiziert wird, ist eine Art Hochschuleingangsprüfung für Zehnjährige, und das ist ein ausgesprochen ungerechtes Verfahren.
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Natürlich ist auch die Verbindung von Berufsbildung und allgemeine Schulbildung ein entscheidender Beitrag zur Chancengleichheit. Hier kann man nicht eine Konkurrenz der Berufsbildung, sondern man muß allein ihre Integration sehen. Herr Dr. Martin, bauen Sie nicht den Buhmann von der Verschulung auf! Ich habe klar gesagt: die Lernorte müssen beide erhalten bleiben. Wir werden parallel versuchen, beides zu tun: beschleunigt die Zustände, wie sie sind, zu verbessern und grundsätzliche Entscheidungen vorzubereiten, die - lassen Sie mich das sagen -, heute auch in Kreisen der Wirtschaft diskutiert werden. Nur, Herr Martin, wenn Sie für sich diese Pacht auf die Berufsbildung legen wollen muß ich Sie enttäuschen. Sehen Sie sich einmal die Regierungserklärung von 1963 an! Da hat Bundeskanzler Erhard gesagt, es gebe Probleme in der Bildung. Das Ganze waren sechs Zeilen. Dann kommt der Satz:
Dieser kritische Situationsüberblick darf uns nicht übersehen lassen, daß es auch vorbildliche Leistungen gibt. Ich erinnere nur an unser Berufsausbildungssystem, das als mustergültig bezeichnet werden kann.
Das hat dann Herr Schmücker im Jahre 1964 in diesem Hause wiederholt, indem er, als die SPD fragte, wie es mit dem Berufsausbildungsgesetz sei, sagte:
Aber ich möchte ausdrücklich das unterstreichen, was der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt hat: Das gewerbliche Ausbildungswesen in Deutschland ist vorbildlich.
Und dann kam: Bitte keine Gesetzgebung, die diese Zustände stört!
Das muß man sehen. Deswegen sollten Sie in der Berufsbildung schweigsam und vorsichtig werden. Der Vorwurf langer Versäumnisse trifft gerade Ihre früheren Minister.
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Wir werden, wenn wir an die Reform herangehen - das will ich unterstreichen -, nicht den Fehler machen, ein mögliches Übermorgen für ein besseres Heute und Morgen einzutauschen. Wir werden
Reformschritte nacheinander machen. Das wollen wir mit allen Betroffenen sorgfältig beraten.
Nun einige Sätze zur Hochschulpolitik. Meine Damen und Herren, jetzt kann nach langer Debatte in der letzten Legislaturperiode auf Grund der Erfahrungen, die wir haben - so scheint mir -, die Hochschulreform wirklich bald eingebracht werden. Die Bundesgesetzgebung muß erfolgen. Der vorliegende Entwurf zum Hochschulrahmengesetz muß aus mehreren Gründen überarbeitet werden: Einmal wegen neuer Tatbestände, wie Staatsvertrag und die Frage des Zugangs zu den Engpaßfächern. Zweitens wegen der unerträglichen Verlängerung von Studienzeiten, die in zunehmendem Umfang auf Studienfachwechsler zurückgeht. Und wegen der Frage einer Überwindung des sehr unsozialen Verhaltens mancher Studenten, die, weil sie Engpaßfächer studieren wollen, andere Fächer, die sie gar nicht abzuschließen beabsichtigen, besetzen und dadurch in diesen Fächern wieder Engpässe schaffen. Und die Erfahrungen, die wir mit der Praxis der Hochschulgesetze gemacht haben, wird eine Neufassung des Entwurfs notwendig machen. Ich hoffe, wir werden das bis zum Sommer schaffen.
Ich unterstreiche, daß wir die Absicht haben, ein Rahmengesetz als Ganzes vorzulegen, wenn uns nicht andere Umstände, z. B. im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil, zwingen, einen Teil vorzuziehen, weil andere Lösungen nicht schnell genug erfolgen. Das ist der einzige Grund, warum wir hier die Gesamtheit einmal in Frage gestellt haben.
Wenn wir aber denjenigen im Bildungswesen helfen wollen, die heute benachteiligt sind, dann müssen wir - das ist hier schon gesagt worden - gerade unsere teuren Hochschulen zweckmäßiger ausnutzen. Die Studienzeiten müssen verkürzt und die Leistungen der Hochschulen gestärkt werden. Daß dies nur durch eine Studienreform möglich ist, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Wir haben das auch immer so gesagt.
Regelstudienzeiten und Studienjahr setzen eine Studienreform voraus. Ausbildungsförderung und Forschungsfragen werden zusammen mit dem Studienjahr berücksichtigt werden. Auch das haben wir schon früher gesagt.
Ich will die Frage der Leistung, die heute wiederholt angeschnitten worden ist, nicht noch einmal aufnehmen. Ich sehe leider Herrn Dregger auch nicht mehr. Ich hätte ihm zu einigen Punkten gern noch etwas gesagt.
Zum Beispiel etwas zu der Unruhe unserer Jugend: Es waren doch keine sozialdemokratischen oder freien demokratischen Kanzler oder Innenminister, die bis 1969 in der Bundesrepublik regiert haben. Und Sie müssen doch bedenken, wann die großen Unruhen an den Hochschulen waren. Das war 1968 und nicht 1972 oder 1973. Also woher stammt die Unruhe? Sie stammt aus dem Widerspruch in der Entwicklung unserer Zeit: Armut in der Dritten Welt, Wohlstand bei uns; technische Entwicklung und die menschlichen Möglichkeiten, in dieser technischen Welt zu leben; Ungerechtigkeiten
in unserer eigenen Gesellschaft, die wir übersehen oder nicht beseitigen.
Ich gebe zu, daß die jungen Leute, die das bei uns aussprechen dürfen und es in den kommunistischen Ländern gern aussprechen würden, aber nicht dürfen, weil alle Systeme mit derartigen Problemen leben, daß die jungen Leute manchmal verlockt werden, zu glauben, weil es bei uns so schwer geht, könne ein anderes System es schneller und besser machen. Aber wenn da auch solche sind, die die Jungen zu verlocken versuchen, so muß man doch sagen: Der Weg, den Herr Dregger vorgeschlagen hat, nämlich die Anwendung einer Unterdrückung dieser Gegenmeinungen - so habe ich ihn verstanden - ({3})
- Gut: diesen Weg können wir nicht gehen. Meine Damen und Herren, der Unterschied zwischen uns ist hier der gleiche wie in der Sicherheitspolitik. Wir gehen davon aus, daß man versuchen muß, die Ursachen der Spannung und die Ursachen der Konflikte der Jugend zu verstehen und diese Ursachen zu beseitigen. Für uns ist Reformpolitik die schärfste Waffe gegen Extremisten und aktive Friedenspolitik die schärfste Waffe zur Verteidigung des Friedens.
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In diesem Zusammenhang muß man auch die Demokratisierung, die hier angeprangert worden ist, als Reform sehen. Ohne Teilhabe, ohne Demokratisierung wird die Hochschulreform, die Bildungsreform nicht gelingen. Heidelberg und Konstanz sind doch keine Musterbeispiele dafür, wie man Reformen macht, sondern das Gegenteil davon.
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Wir wollen Lehrer, Eltern, Hochschullehrer und Studenten bei der Demokratisierung der Entscheidungen einbeziehen. Herr Martin, wenn Sie vorhin den Bundeskanzler in der Frage der Wissenschaftspolitik und der Beteiligung an der Demokratisierung zitierten, so muß ich Sie korrigieren. Der Bundeskanzler hat gesagt: Über Erkenntnisse und Wahrheit kann man nicht mit Mehrheit beschließen. Aber man kann mit Mehrheit gelegentlich über Wissenschaft beschließen, nämlich dann, wenn es darum geht, Mittel zu verteilen. Das ist auch ein Gegenstand in den Hochschulen, an dem mehrere beteiligt werden müssen, damit diese Mittel sinnvoll verteilt werden können.
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sucht in allen Bereichen die Zusammenarbeit mit allen Gruppen, mit allen Fraktionen und mit allen Ländern. Aber, wie Bundeskanzler Brandt in der Regierungserklärung gesagt hat, die Bundesregierung weiß sich auch in ihrer Pflicht, die Einheitlichkeit in der Reform zu sichern. Es geht um die Einheitlichkeit in der Reform und nicht um die Einheitlichkeit um jeden Preis. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie sehr ein Verschleppen der Entscheidungen zum Beispiel in der Frage der Gesamtschule nahe an den Zusammenbruch des Bildungswesens führen kann. Eltern, Jugendliche und Lehrer müssen
dabei wissen, daß wir noch eine lange Durststrecke vor uns haben, ehe die Versäumnisse zweier Jahrzehnte geheilt werden können. Eines darf dabei nicht geschehen: Man darf diesen Zeitraum nicht bagatellisieren. Herr Strauß hat gestern in seinen Einlassungen gesagt: Mit weniger Ideologie und mit mehr wirklichkeitsbezogener und lebensnaher Ausrichtung wäre die Bildungsreform längst verwirklicht worden. - Das sind Äußerungen, die den Bürger irreführen und die ihm die harte Zeit, die bis zur Verwirklichung der Reform noch vor ihm liegt, nicht deutlich genug werden lassen.
Meine Damen und Herren, die Entscheidungen, vor denen wir stehen, werden nicht immer populär sein. Deswegen möchte ich hier ausdrücklich an die Opposition appellieren, und zwar an die CDU/CSU im Deutschen Bundestag und an die CDU/CSU in cien Ländern, statt Parteitaktik, die seit März 1972 die Bildungslandschaft beherrscht hat, sich endlich mutig zu einer zukunftsorientierten, sozialen Bildungspolitik zu entscheiden, den Bund zu stützen
und nicht den Bund zu unterlaufen und Länder gegen ihn auszuspielen, nur weil es hier im Haus nicht reicht. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Dies ist eine Offerte für die Reform.
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Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Aussprache.
Morgen früh setzen wir die Aussprache über die Regierungserklärung fort.
Ich berufe das Haus auf Freitag, den 26. Januar, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.