Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung spreche ich unserem Kollegen Herrn Abgeordneten Bewerunge die herzlichsten Glückwünsche des Hauses zu seinem 60. Geburtstag aus,
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den er allerdings schon am 20. Januar gefeiert hat.
Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre, Seine Exzellenz den Präsidenten der Französischen Nationalversammlung, Herrn Peretti, und seine Begleitung zu begrüßen.
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Es ist uns eine besondere Freude, den Präsidenten der Französischen Nationalversammlung gerade in diesen Tagen, da sich die Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages zum zehnten Male jährt, als Gast in unserem Lande und im Deutschen Bundestag willkommen zu heißen.
Folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 20. Dezember 1972 beschlossen, zum Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1972 ({2}) einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung gibt die Bundesregierung eine Erklärung ab. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern mittag haben die Unterhändler Washingtons und Hanois in der französischen Hauptstadt das Waffenstillstandsabkommen über Vietnam paraphiert. In der vergangenen Nacht hat der Präsident der Vereinigten Staaten bekanntgegeben, daß ab Sonnabend die Waffen schweigen werden.
Dies ist eine Nachricht, zu der es nach Meinung der Bundesregierung einige Feststellungen zu treffen gilt, bevor wir in die Debatte über die Regierungserklärung eintreten.
Die befreiende Wirkung für Millionen direkt betroffener Menschen empfinden wir mit. Unser Volk weiß aus seinen eigenen bitteren Erfahrungen, was ein langjähriger grausamer Krieg bedeutet und was es besagen will, wenn sinnlose Zerstörung durch die Chance zum Wiederaufbau abgelöst wird.
Die unglücklichen Menschen in Vietnam haben fast eine Generation lang unter Krieg und Bürgerkrieg schwer leiden müssen. Sie haben Anspruch darauf, daß ihnen Unterstützung bei der Linderung der Not und beim Wiederaufbau zuteil wird, und wir wollen dabei nicht abseits stehen. Die Bundesregierung wird in den nächsten Tagen unseren deutschen Beitrag, der beiden Seiten zugute kommen soll, festlegen. Dabei wird mancher, zumal der Älteren, sich auch der Hilfen erinnern, die uns selbst nach dem zweiten Weltkrieg zuteil geworden sind.
Der gestern in Vertragsform gebrachte Entschluß, den wir in diesm Augenblick würdigen, hat über die direkt Betroffenen hinaus eine tiefgreifende Bedeutung. Die Bundesregierung weiß, welcher Anstrengungen aller beteiligten Regierungen es bedurfte, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Bedingungen für den Weltfrieden sind dadurch günstiger geworden.
Mit unseren französischen Nachbarn haben wir in den letzten Tagen in Paris natürlich auch über Südostasien gesprochen, so wie wir in der zurückliegenden Zeit, gerade in den letzten Wochen, mit unseren europäischen Partnern und anderen in einem engen Informations- und Meinungsaustausch gestanden haben.
Mit unseren europäischen Partnern sind wir uns darüber einig, daß neben multilateralen humanitären Maßnahmen auch unmittelbare Hilfe von Land zu Land in Betracht kommt. Die Bundesregierung ist dabei freilich der Meinung, daß dies eine Situation ist, in der die vielen einzelnen Bürger bei uns aufgerufen sind, ihre persönliche Hilfsbereitschaft zu zeigen und nicht nur darauf zu vertrauen, daß der Staat schon etwas tun wird.
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Dies ist nicht der Tag, an dem darüber zu rechten wäre, wer sich in der hinter uns liegenden Zeit am meisten um Vietnam gesorgt hat - wer die begrenzten Möglichkeiten, die ihm gegeben waren, am besten zugunsten des Friedens genutzt hat.
Unsere Hoffnung geht dahin, daß aus der Waffenruhe wirklicher Frieden werden möge. Und weiter: daß aus dem Krieg in Vietnam Lehren gezogen werden, die dem gedeihlichen Verhältnis zwischen den Staaten und dem Frieden in der Welt zugute kommen.
Möge aus dem Schweigen der Waffen ein neuer Anfang werden!
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Das Wort zu dieser Erklärung der Bundesregierung wird nicht gewünscht.
Wir treten nunmehr in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen! Meine Herren! Der Herr Bundeskanzler ist zusammen mit seiner Delegation heute früh von den deutsch-französischen Konsultationen in Paris zurückgekehrt. Das Hohe Haus erwartet sicherlich, daß die Bundesregierung ihm sogleich etwas über diese Gespräche mitteilt. Das gibt mir außerdem eine willkommene Gelegenheit, ein paar Bemerkungen über einige wesentliche Fragen unserer Außenpolitik, die Gegenstand der Konsultationen gewesen sind, zu machen.
Zunächst zum Stand der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Der Bundeskanzler hat diese Partnerschaft in seiner Regierungserklärung als „Entente Élémentaire" bezeichnet. Sie ist in der Tat unabdingbare Voraussetzung des europäischen Einigungswerkes, dem sie nach dem Willen der beiden Partner dienen soll. Die Konsultationen, die ja im Zeichen des zehnjährigen Bestehens des deutschfranzösischen Vertrages standen, haben das auch wieder in eindrucksvoller Form bestätigt.
Auch Präsident Pompidou hat unterstrichen, wie sehr die Verständigung zwischen unseren beiden Ländern zu einem der Grundelemente der europäischen Politik und zu einem Beispiel für die Beziehungen zwischen den Völkern geworden ist. So konnten wir bei dem sehr intensiven und sehr vertrauensvoll geführten Gedankenaustausch feststellen, daß unsere Auffassungen in den wesentlichen Fragen der Außenpolitik übereinstimmen. Dort, wo noch unterschiedliche Meinungen bestehen, kommt man sich in den Grundpositionen näher.
Im Mittelpunkt der Gespräche stand der feste Wille beider Partner, ihren Beitrag zur Verwirklichung der Beschlüsse der europäischen Gipfelkonferenz vom Oktober 1972 zu leisten. Uns liegt zusammen mit unseren französischen Freunden daran, diese Beschlüsse mit Leben zu erfüllen und sie außerdem termingerecht in die Tat umzusetzen. Das gilt für alle Bereiche der europäischen Zusammenarbeit.
Die Konsultationen waren nun eine erste Gelegenheit, die in der Regierungserklärung aufgestellten Leitlinien der deutschen Europapolitik mit der französischen Regierung zu erörtern. Ziel war es dabei, zu gemeinschaftlichem Handeln auch mit den anderen Partnern innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu kommen. Mit unseren französischen Gesprächspartnern waren wir uns über die Notwendigkeit energischer Schritte gegen die Preissteigerungen in der Gemeinschaft mehr denn je einig; denn leider drücken uns dieselben Sorgen. Die Wiedergewinnung größerer Stabilität wird uns auch bei der Durchführung der Wirtschafts- und Währungsunion, die ja am 1. Januar 1974 in die zweite Etappe eintreten soll, helfen; ja, sie ist sogar eine Voraussetzung für eine zügige Durchführung dieser Wirtschafts- und Währungsunion.
Beide Regierungen haben erneut betont, daß die Weiterentwicklung der Gemeinschaft mehr als bisher in den Dienst der Menschen gestellt werden soll, und zu diesem Zweck soll das sozialpolitische Aktionsprogramm, das weitgehend Initiativen auch der deutschen Regierung entspringt, entsprechend den von der Gipfelkonferenz gesetzten Terminen aufgestellt und verwirklicht werden.
Die Bundesregierung mißt in Übereinstimmung mit der französischen Regierung der politischen Zusammenarbeit der Neun einen hohen Stellenwert bei. Diese Zusammenarbeit hat, vielfach unbemerkt von der Öffentlichkeit, bereits einen hohen Wirkungsgrad erreicht. Wir haben dieses Mal konkrete Anregungen unterbreitet, wie die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet ausgebaut werden kann, etwa durch das Zusammentreffen weiterer Regional- und anderer Experten neben den politischen Direktoren, die sich schon heute regelmäßig sehen, sowie durch die Intensivierung der Zusammenarbeit in Drittländern und auch in internationalen Organisationen. Ich habe eine gewisse Arbeitsteilung zur Diskussion gestellt - eine Arbeitsteilung unter den beteiligten Partnern nach Sachgebieten -, um der Zusammenarbeit jetzt einmal unabhängig von dem alle sechs Monate erfolgenden Wechsel im Vorsitz der Gemeinschaft mehr Kontinuität zu geben. Das ist etwas, was uns im Augenblick noch Sorge macht.
Wir sind im übrigen der Überzeugung, daß die politische Zusammenarbeit und die wirtschaftliche Integration sich ergänzen und gegenseitig durchdringen müssen. Beides sind wesentliche Elemente der europäischen Union, die bis 1980 zu erreichen die Gipfelkonferenz des vorigen Jahres beschlossen hat. Das Europa der Neun muß mit fortschreitender Einigung im Innern auch nach außen zunehmend mit einer Stimme sprechen.
Der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident waren sich in diesen Konsultationen darin einig, daß ein gutes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten für das sich einigende Europa unerläßlich ist. Es ist so, daß die zunehmende westeuropäische Integration eine zunehmende Interessenidentität zur Folge hat und daß diese zunehmende Interessenidentität auch nach außen wahrgenommen werden soll und sichtbar gemacht werden soll. Dazu muß zwischen Europa und den Vereinigten Staaten als
dem wichtigsten Partner in der Welt ein ständiger konstruktiver Dialog geführt werden, für den die geeigneten Formen zu entwickeln sein werden. Die Bundesregierung tritt in diesem Zusammenhang z. B. für ein Zusammentreffen des amerikanischen Präsidenten bei seiner bevorstehenden Europareise mit dem Ministerrat und der Kommission der Gemeinschaft ein.
Bei den Konsultationen haben wir unterstrichen, daß Grundlage unserer Sicherheit die Atlantische Allianz ist. Sie gibt uns den Rückhalt, den wir für unsere Friedens- und Entspannungspolitik gegenüber dem Osten benötigen. Die fortdauernde Präsenz der amerikanischen Truppen in Europa halten beide Seiten für unerläßlich.
Und nun zur Ost-West-Politik, deren Abstimmung bei den Konsultationen jeweils einen weiten Raum einnimmt. Wir haben darauf hingewiesen, daß nach einer ersten - notwendigerweise bilateralen - Phase unsere Ost-West-Politik nunmehr in die Phase multilateraler Natur eintritt. Dabei kommt der Abstimmung im Kreise der neun Gemeinschaftsländer, aber auch der Abstimmung im Kreise des Atlantischen Bündnisses ganz entscheidende Bedeutung zu.
In den Fragen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa haben wir eine fast nahtlose Übereinstimmung der Auffassungen erreicht, vor allem dank der sehr sorgfältigen und effektiven Harmonisierung im Rahmen der politischen Zusammenarbeit der Neun und der Harmonisierung auch imAtlantischen Bündnis. Beide Regierungen haben noch einmal ihre konstruktive Einstellung gegenüber der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterstrichen und die Hoffnung auf deren Erfolg zum Wohle aller Menschen in Europa zum Ausdruck gebracht. Wir haben erneut klargestellt, daß den zügigen Fortschritten des europäischen Einigungswerks gerade auch im Hinblick auf die mit der Konferenz verfolgten Ziele des Friedens und der Entspannung erhebliches Gewicht zukommt.
Meine Damen und Herren, über den schwierigen Komplex der beiderseitigen ausgewogenen Verminderung von Streitkräften haben wir mit unseren französischen Freunden in einem vertrauensvollen Meinungsaustausch gestanden. Sie wissen, daß hier die Meinungen der beiden Partner in Nuancen noch nicht vollkommen übereinstimmen. Wir meinen, daß die MBFR-Gespräche eine Chance bieten, die auf der Verteidigungsbereitschaft der Verbündeten beruhende Stabilität in Europa durch stabilisierende OstWest-Vereinbarungen zu ergänzen. Auch über die nächsten vom Westen zu verfolgenden Schritte stehen wir in engen Konsultationen mit den an den MBFR-Explorationen interessierten Partnern und auch mit Frankreich.
Meine sehr verehrten Kollegen, wie stets boten die Konsultationen Gelegenheit, auch wichtige Einzelfragen aus dem breiten Spektrum der deutschfranzösischen Zusammenarbeit, wie sie sich auf Grund unseres Vertrages ergeben haben, durch den Bundeskanzler und die beteiligten Minister zu besprechen und Schritte abzustimmen, um bilaterale
Fragen in einer angemessenen Form zu erledigen. Auch dabei hat sich gezeigt: wenn sich die Verantwortlichen beider Länder treffen, dann ist das nahezu wie die Zusammenkunft eines nationalen Kabinetts. Beide Partner stellen ihre Kooperation auch in solchen Zusammenkünften ganz bewußt in den Dienst der Einigung Europas.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schröder.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne den vereinbarten Ablauf der Aussprache etwa verändern zu wollen, haben wir den Wunsch, doch zwei Bemerkungen zu dem zu machen, was eingangs gesagt wurde.
Erlauben Sie mir, zunächst ein Wort zu Vietnam zu sagen. Auch wir sind froh darüber, daß ab Sonntag die Waffen schweigen werden. Wir unterstützen und begrüßen, was der Bundeskanzler über die Bereitschaft der Bundesregierung gesagt hat, im geeigneten Augenblick Hilfe zu leisten, und wir unterstützen auch den Appell, der an eine breite Öffentlichkeit gerichtet worden ist, die private Liebestätigkeit dabei zur Wirkung kommen zu lassen.
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Nun ein paar Bemerkungen zu dem, was der Herr Bundesminister des Auswärtigen über die Konsultationen in Paris gesagt hat. Wir sind dankbar für diesen Bericht, begrüßen ihn und freuen uns um so mehr, daß er in Anwesenheit des Herrn Präsidenten der französischen Nationalversammlung erstattet werden konnte, der uns gestern und heute hier besucht.
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Wir sind den Berichten über die Pariser Zusammenkunft mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Wir haben dabei gesehen, daß vielleicht das Beste an dem Vertrag, den dieses Hohe Haus vor ungefähr zehn Jahren ratifiziert hat, die Institutionalisierung der Zusammenkünfte ist, die Gewöhnung an das gemeinsame Arbeiten. Ich glaube, das sollte man nachdrücklich herausstellen.
Dies war - je nachdem, wie man zählt - die zwanzigste oder einundzwanzigste Konsultation auf Regierungsebene. Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat gesagt, das sei wie eine nationale Regierung gewesen. Das mag sicher die Atmosphäre gewesen sein, die dort geherrscht hat. Wir begrüßen das.
Das Hauptziel des Vertrages - und dafür behält er weiterhin seine Bedeutsamkeit - ist die Bewährung in der Aufgabe gewesen, dem Ziel Europa näherzukommen.
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Wir sind froh darüber, daß in diesem Punkt von allen Seiten eine positive Bilanz gezogen werden konnte. Sicher ist der entscheidende Anlaß, der entscheidende Impuls zu diesem Vertrag die staats160
Dr. Schröder ({3})
männische Vision von Bundeskanzler Adenauer und von Staatspräsident de Gaulle gewesen. Aber ich glaube, der Bundestag kann sich mit Genugtuung daran erinnern, daß er dem Vertrag beinahe einmütig zugestimmt hat, der jetzt sein zehnjähriges Jubiläum feiert.
Die Frage ist aufgeworfen worden, ob der Vertrag etwa sein Ziel schon erreicht habe und überholt sei. Ich möchte darauf eine klare Antwort geben. Ich bin der Meinung, daß gerade die Institutionalisierung der Zusammenarbeit ihre segensreiche Wirkung weiter behalten wird und daß die beiden größten Nachbarn in Europa weiter in diesen Formen auf das engste zusammenarbeiten müssen und zusammenarbeiten werden. Diese Zusammenarbeit ist vorbildlich und beispielhaft genannt worden. Ich glaube, das ist absolut zutreffend. Hier wollen wir nicht Schwierigkeiten leugnen, die es gegeben hat und die es weiter geben wird. Aber diese Schwierigkeiten werden von Freunden unter Freunden behandelt. Sie werden offen und mit wachsendem Erfolg behandelt.
Ein Augenblick wie dieser und diese in Paris und hier stattgefundene Erinnerung an den zehnjährig geltenden Vertrag ist gleichzeitig eine Besinnung und ein starker Impuls zur selben Zeit. Ich möchte sagen: wenn die Bundesregierung das Vertragsinstrument in diesem Sinne handhabt, dann kann sie auch in Zukunft der Unterstützung der Opposition gewiß sein.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist sehr froh darüber, daß wir heute morgen den Bericht des Herrn Bundesaußenministers entgegennehmen durften. Wir stellen mit Genugtuung fest, daß die schwierigen Aufgaben, die in diesem Jahre vor uns allen liegen - die Aufträge der Gipfelkonferenz zu erfüllen und mit Leben zu erfüllen -, dank der Zusammenkunft in Paris ein Stück vorangekommen sind. Wir unterstreichen, daß die Basis, daß ein Grundstein der europäischen Integration das deutsch-französische Verhältnis und seine Weiterentwicklung ist. Wir haben in diesem Hause, wenn wir einmal von Marginalien absehen, in den Europa-Fragen grundsätzlich Einigkeit gefunden und gehabt. Das haben auch die Ausführungen des Sprechers der Opposition soeben deutlich gemacht. Wir denken, daß wir in diesem Sinne dank der Initiative, die die sozialliberale Koalition in den letzten drei Jahren ergriffen hat und die wir auf Grund der Regierungserklärung von Herrn Brandt auch in den nächsten vier Jahren vor uns sehen werden, weiterkommen werden.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Strauß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Regierungserklärung angehört und dann noch genau nachgelesen hat, mußte von einem zwiespältigen Gefühl erfüllt sein; und das nicht nur vom Standpunkt der Opposition, sondern vom Standpunkt jedes kritischen Beobachters aus, und zwar unter mehreren Gesichtspunkten.
Sie war mit vielen schönen Reden und spannungserzeugenden Sondermeldungen angekündigt worden. So wurden wir am 18. Januar morgens im Rundfunk unterrichtet, in drei Stunden sei es so weit; eine Stunde später hieß es, in zwei Stunden sei es so weit.
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Sie sehen, wie sehr der Bayerische Rundfunk nach wie vor für sämtliche Strömungen offen ist.
({1})
Man wußte nicht: war es die Vorbereitung für die Bescherung der Kinder zu Weihnachten oder der Count down der Regierungsrakete. Man erwartete demgemäß einen großen Entwurf, in Gemeinschaftsarbeit auf Stromlinienform gebracht, wie es der in der Zwischenzeit in die Wüste geschickte ehemalige Regierungssprecher Conrad Ahlers seinerzeit so greifbar und anspruchsvoll formuliert hatte.
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- Sie sind jedenfalls von der Wüste an die Küste gewandert,
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und Herr Ahlers kommt sich von der Oase in die Wüste geschickt vor.
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Sonst wäre doch bei Ihnen der Andrang zu so vielen Regierungsämtern nicht in diesem Ausmaße vorhanden, wobei die Zahl der Bewerber wesentlich größer war als in diesem Falle die Zahl der vermehrten Pfründe.
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Man erwartete also ein Regierungsprogramm, das mit der Bestandsaufnahme beginnen sollte, d. h. von der nüchternen Feststellung dessen, was ist auf allen Gebieten, z. B. was es mit der Lage der Nation im geteilten Deutschland auf sich hat, ungeschminkt und wahrheitsbeflissen, realistisch, wie man sich gern in Regierungskreisen zu geben und zu bezeichnen pflegt, bis hin zu der Darstellung der Probleme, Belastungen und Herausforderungen des nicht nur durch Not, sondern auch im „guten Leben" entstandenen Krisenzustandes unserer Gesellschaft. So gesehen hätte man ein Sachprogramm erwarten dürfen, d. h. ein in sich geschlossenes Werk von beabsichtigten Sachentscheidungen - wo erforderlich mit Zahlen - und mit erkennbarer Rangfolge geordnet, wo die Dinge sich hart im Raume stoßen. Wir haben also nicht nur die Aufzählung von Fragen, sondern auch Antworten erwartet.
({6})
Statt dessen haben wir eine lange Abfolge von unverbindlichen Ankündigungen, vagen Absichtserklärungen, Zielbeschreibungen und Leitlinien vernommen, dazu ein wohlgerüttelt Maß an hochstehenden sittlichen Forderungen, die plakatmäßig formuliert worden sind, sich durchaus auch als Aufschriften für Spruchbänder eignen würden.
Ein kritischer, und zwar sonst regierungsfreundlicher Kommentator hat mit Recht vermerkt, das sei ein Warenhauskatalog ohne Maße, Preise und Liefertermine und, wie ich hinzufüge, auch ohne klare Angabe darüber, ob überhaupt eine Liefermöglichkeit besteht.
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Es war das offensichtliche Bemühen des Autors und der zahlreichen helfenden Hände, Formulierungen zu finden, zu denen man nicht nein sagen kann, Begriffe zu prägen, die gut ankommen, Aussichten zu bieten, die jedermanns Herz erfreuen müssen, psychologische oder vielleicht sogar psychagogische Wirkungen zu erzielen, die tief in das Herz der noch vorhandenen politischen Zweifler und Widersacher stoßen sollten.
Hier ist selbstverständlich die Handschrift des Bundeskanzlers zu lesen, der auch nicht leicht etwas so haßt wie klare Begriffe und verbindliche Festlegungen. Seiner Unentbehrlichkeit in der Linken seiner Partei gewiß, setzte er sich hier offensichtlich zum Ziel, mit dieser so formulierten Regierungserklärung neue Schichten des Wählervolkes zu erschließen. Hier sind allerdings Zutaten aus dem Freiburger Kochbuch des FDP-Vorsitzenden und Außenministers zu riechen. Hier ist die auf Gemüt und Gefühl abgestimmte Lyrik einiger literarischer Helfer zu spüren, die --- jedenfalls nach Presseberichten - vom Hofschreiber bis zum Kabarettisten gereicht haben sollen.
({8}) - In einigen Zeitungen stand: Sammy Drechsel.
All das setzt neue Maßstäbe einer Regierungserklärung, bei denen man nicht weiß, ob der Traum ein Leben oder das Leben ein Traum ist.
({9})
Nicht nur meines Erachtens wäre es besser gewesen und würde es in Zukunft besser sein, wenn man bei Regierungserklärungen - ich gebrauche hier regierungserklärungseigene Formulierungen wiederum zum täglichen Brot der Politik, zur Wirklichkeit des Alltags zurückkehrt, nämlich nach dem von dem Herrn Bundeskanzler gewählten weisheitsvollen, aus der Bibel stammenden Wort, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebe.
Hier liegt doch die wirkliche Qualität des Lebens, mit dem wir es zu tun haben, die wirkliche Qualität des Lebens, von der man so gern spricht. Das hätte man um so mehr erwarten dürfen, als es in der Regierungserklärung heißt:
Das Regierungsprogramm, das ich heute darlege, ist die präzise Konsequenz dessen, was
Sozialdemokraten und Freie Demokraten in der
Regierungserklärung vom Oktober 1969 gemeinsam vertreten haben.
Weiter heißt es:
Das Programm, das wir uns setzten, haben wir trotz der Verkürzung der Legislaturperiode in seinen wesentlichen Punkten erfüllt.
Das stimmt, schlicht gesagt, doch nicht. Erstens ist die Regierungserklärung überhaupt kein Regierungsprogramm. Zweitens beweist doch die Tatsache, daß in diesem sogenannten Regierungsprogramm fast alle ungelösten Fragen und unerfüllten Versprechungen der Erklärung vom Oktober 1969 als alte Bekannte wiederkehren, wie Herr Barzel letzte Woche sagte, daß das alte Programm in seinen wesentlichen Punkten durchaus nicht erfüllt worden ist.
({10})
Ich wiederhole, was ich früher gesagt habe: Es gibt eine normative Kraft des Faktischen. Sie ist mächtig und unter Umständen gefährlich. Aber es gibt keine faktenersetzende Kraft des Phraseologischen.
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In der Regierungserklärung vom Oktober 1969 handelte es sich um angeblich 423 Versprechen, Ankündigungen, Anregungen, die meistens mit dem anspruchsvollen, in der Zwischenzeit leider abgegriffenen Wort „Reform" in die Welt gesetzt wurden. Diesmal ist es eine Mischung von Problemkatalog, allgemein ethischen Imperativen und losen Absichtsbekundungen.
Dazu seien zwei Feststellungen erlaubt:
Erstens. Es handelt sich in so gut wie keinem Fall um neue, in der Zwischenzeit entstandene Probleme und Aufgaben, an die man sich erst tastend hätte heranarbeiten müssen.
Zweitens. Die gleiche Koalition der SPD und der FDP ist wieder in der Regierung, so wie sie es wollten und gemeinsam betrieben haben. Das heißt, sie brauchen sich doch nicht erst wieder aneinander zu gewöhnen. Oder müssen die veränderten Wahlergebnisse auf beiden Seiten diesen Prozeß doch erst herbeiführen? Das heißt doch, daß diese Parteien, die beisammen geblieben sind und ihre alten Probleme wieder vorlegen, ihrem Regierungschef hätten erlauben oder auftragen müssen, klare und konkrete Aussagen zu machen, vor allen Dingen dort, wo es sich zum Teil um Probleme handelt, die es ohne diese Regierung überhaupt nicht oder nicht in dieser Form geben würde.
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Gerade die klare Mehrheit, über die diese Regierung verfügt und auf die sie bei jeder Gelegenheit mit Stolz hinweist, hätte doch tragender und ausreichender Grund sein müssen, ein echtes Regierungsprogramm, ein wirkliches Regierungsprogramm vorzulegen. So sind wir in der unguten Lage, über eine Regierungserklärung debattieren zu sollen, die gar keine ist, die es gar nicht gibt, und uns jeweils mit dem Hinweis vertrösten zu lassen, daß Lösungen
für die einzelnen Sachprobleme nur bei jeweiligen Sonderanlässen von der Regierung zur Diskussion gestellt werden. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder hat die Regierung bisher selbst keine Vorstellungen oder die Regierung verschweigt ihre Absichten.
Es hat keinen Sinn, hohe moralische Forderungen aufzustellen - denen wir übrigens fast durchweg zustimmen können -, aber weder den Willen zu ihrer Durchsetzung zu zeigen noch den Weg zu ihrer Verwirklichung zu weisen. Denn gerade das ist doch die Aufgabe der Politik - wie es in der Regierungserklärung so schön heißt -: „Politik ist immer das Produkt geistiger und moralischer Entscheidungen". Frage an den Bundeskanzler: Wenn Politik aus Entscheidungen besteht und die Regierungserklärung darauf Anspruch erhebt, formulierte Politik zu sein, - welche Entscheidungen sind denn nun wirklich getroffen worden.
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oder welche Entscheidungen sollen demnächst getroffen werden.
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Gerade weil aber dem so ist, müssen Worte und Wahrheiten, Begriffe und politische Wirklichkeit, Theorie und Praxis, Erkenntnis und Tat aneinander gemessen werden. Daraus ergeben sich Hinweise und Fragestellungen. Ich folge dabei dem gedanklichen Duktus der Regierungserklärung.
1. Was heißt es, wenn der Bundeskanzler sagt: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein ... im Innern und nach außen"? Zitat aus der letzten Regierungserklärung. Wer wollte dem widersprechen! Man hört förmlich das Signal: Hallo Nachbarn, drinnen und draußen!
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Eine einprägsame und einschmeichelnde Formulierung! Aber wie verträgt sich damit die Tatsache, daß nach einem Bericht von Frau Professor NoelleNeumann die Bereitschaft zum Klassenkampf gestiegen sei? Das ist sicherlich nicht nur eine Folge der offiziellen Politik, auch nicht eine Folge feudalistischer Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik.
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Wohl aber hat die Propaganda der SPD/FDP-Regierung und ihrer Parteien mit ihren Reizwörtern und die von unverantwortlicher - ich meine also damit nicht: von politischer - Seite betriebene informationelle Vergiftung, wie Professor Steinbuch es nannte - - Den Namen hören Sie nicht gern; aber Sie haben ihn früher sehr gern gehört!
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- Wenn Sie früher Professor Steinbuch genannt haben und jemand von uns hätte „Buh" gerufen, hätten Sie das als ein Zeichen CDU-typischer Intoleranz aufgefaßt.
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Wir dürfen das Kompliment heute zurückgeben. Diese informationelle Vergiftung hat eine Stimmungslage geschaffen, in der die Bereitschaft zum Klassenkampf weit über die normale und unvermeidliche soziale Auseinandersetzung hinaus in gewissen Kreisen gediehen und immer stärker gestiegen ist. Gute Nachbarschaft und steigende Bereitschaft zum Klassenkampf sind miteinander unverträglich, gehören nicht zueinander.
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Selbstverständlich war unsere ganze Politik nach der Gründung der Bundesrepublik darauf angelegt, gute Nachbarn nach allen Himmelsrichtungen zu sein; aber zu einer guten Nachbarschaft gehören immer zwei. Es ist halt keine gute Nachbarschaft, wenn beim Nachbarnbesuch außerhalb der staatlich kontrollierten Kanäle gleich geschossen und getötet wird. Außerdem sollten wir uns darin einig sein, daß guter Nachbar nicht in allen Fällen auch bequemer und gefügiger Nachbar ist.
2. Wenn davon die Rede ist, daß der Wille zur Erneuerung den klaren Blick dafür verlangt, wie das Notwendige möglich gemacht werden kann - eine Formulierung, die im übrigen von Carlo Schmid in der Aussprache über die erste Regierungserklärung im Jahre 1949 hier sinngemäß gebraucht worden ist -, dann hätten wir gern vom Bundeskanzler gehört, was er für notwendig hält und nach welchen Maßstäben und nach welchen Prioritäten er den Begriff „notwendig" definiert hat. Sicherlich ist Politik die Kunst des Möglichen, auch die Kunst, das Notwendige möglich zu machen, aber auch die Kunst der Beschränkung, die Kunst, sich die Maßstäbe für das Notwendige nicht von einem wirklichkeitsfernen, popularitätsgetriebenen Ehrgeiz vorschreiben zu lassen, der unerfüllbare Forderungen und unstillbare Erwartungen erweckt, wie es - nicht nur durch die Regierungserklärung von 1969 - geschehen ist. Ein guter Teil des in unserer Gesellschaft bestehenden, künstlich erzeugten Reizzustandes rührt doch daher, daß unerfüllbare Hoffnungen erweckt und unstillbare Forderungen in die Welt gesetzt worden sind.
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3. Wenn es dann heißt: „Es bleibt trotzdem viel zu tun, damit die Bundesrepublik Deutschland sich im friedlichen Wettbewerb gut behaupten und damit sie als demokratischer und sozialer Bundesstaat weiter ausgebaut werden kann", so fragen wir: Was muß nach Meinung der Bundesregierung dafür getan werden? Wir sind ja einverstanden mit ihr, daß vieles getan werden muß. Wir würden aber gern hören - und es ist die Aufgabe der Bundesregierung, das zu sagen -, was dafür getan werden muß. Ich hoffe, es kommt noch. Hier kommt man nicht darum herum, als Motor des Fortschritts die soziale Marktwirtschaft mit dem Zwang zur Leistung und zum Wettbewerb in vollem Umfange arbeitsfähig zu erhalten,
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und das im Bewußtsein, daß soziale Marktwirtschaft
auch staatliche Vorsorge für den geistigen und materiellen Überbau und Unterbau unserer Gesellschaft
einschließt, für das, was man - für viele unverständlich - Infrastruktur nennt.
4. Im Zusammenhang mit den Problemen der Europäischen Gemeinschaft wird es als dringende Aufgabe bezeichnet, wieder mehr Preisstabilität zu gewinnen. Wir bestätigen mit Zufriedenheit, daß der Bundeskanzler die Wiedergewinnung der Preisstabilität nicht nur als eine Gemeinschaftsaufgabe, sondern auch als eine nationale Aufgabe anerkennt. Wir hätten ebenso wie Herr Wehner gewünscht, daß in der Regierungserklärung das 15-Punke-Programm zur Inflationsbekämpfung vom Oktober letzten Jahres aufgeführt und wenigstens in großen Zügen gesagt worden wäre, was daraus geworden ist, was durchgeführt worden ist und mit welchem Ergebnis.
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Auch hier hätte sich ein aufschlußreicher Beitrag zum Thema „Dichtung und Wahrheit" ergeben. Leider stecken die Ausführungen der Regierungserklärung zur nationalen Stabilitätspolitik voller Ungereimtheiten.
Die Aufgabe, wieder mehr Preisstabilität zu gewinnen, weist der Kanzler in seiner Regierungserklärung an erster Stelle der Geld- und Kreditpolitik, an zweiter Stelle der Gestaltung der öffentlichen Gesamthaushalte und an dritter Stelle den Unternehmern, dem Handel und den Tarifpartnern zu. Es ist bezeichnend, daß wir hier den einzigen Abschnitt der Regierungserklärung vor uns haben, in dem Prioritäten aufgestellt werden. Und gerade hier sind die Prioritäten falsch; denn eines der genannten Instrumente kann ohne die anderen nicht ordnungsgemäß funktionieren.
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Die Geldpolitik kann weder allein noch an erster Stelle die Probleme der Inflation lösen. Dreht die Bundesbank die Zinsschraube zu sehr an, locken die hohen Zinsen auf diesem oder jenem Wege neues Auslandskapital herein. Anderseits ist die inflationsfördernde explosive Geldvermehrung nicht ausschließlich -- wie der flüchtige Zuhörer der Regierungserklärung entnehmen könnte - ein Problem des Weltwährungssystems, das erst mit seiner Reform gelöst werden könnte. Wie der kräftige Anstieg der Geldmenge in den letzten Monaten beweist - Ende November fast 16 % mehr als im Vorjahr -, kann es nach den Feststellungen der Bundesbank nicht der internationale Kapitalverkehr sein - der laut Bundesbank sogar verknappend auf die Geldbestände bei uns eingewirkt hat -, sondern es muß die Entwicklung in unserem Lande gewesen sein, und zwar die wesentlich verstärkten Kredite der Banken an Unternehmen und Private und nicht zuletzt der außerordentlich starke Abbau der Guthaben des Bundes und der Länder bei der Bundesbank um 3,3 Milliarden DM im Monat November zum Zwecke der Ausgabenfinanzierung.
Geld- und Kreditpolitik muß durch den gleichzeitigen Einsatz der Finanzpolitik unterstützt werden. Deshalb darf diese nicht an die zweite Stelle gerückt werden. Ihr kommt vielmehr für die Wirksamkeit von Geld- und Kreditpolitik eine entscheidende Bedeutung zu. Was hat die Bundesrepublik auf diesem Gebiete vor? Welche Mittel des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes will die Bundesregierung anwenden? Will sie das Gesetz ändern? Wenn ja, wie? Soll das Bundesbankgesetz geändert werden, wie seinerzeit angekündigt? Wenn ja, wie, wozu, mit welcher Verschiebung der Vollmachten oder Erweiterung nach dieser oder jener Richtung? Soll durch die Änderung eines der beiden oder beider Gesetze das Instrumentarium zur Wiederherstellung der Preisstabilität ergänzt werden?
Die Regierungserklärung begnügt sich mit dem Hinweis, die Bundesregierung werde prüfen, welche gesetzlichen Maßnahmen notwendig sind, um das konjunkturpolitische Instrumentarium zu ergänzen und zu verfeinern. Daß die Bundesregierung diese Frage prüfen werde, haben wir eigentlich sowieso angenommen. Die Öffentlichkeit hätte aber genauso wie wir gern gewußt, zu welchen Ergebnissen sie bei dieser Prüfung gekommen ist.
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Es sind doch die gleichen Akteure auf der gleichen Bühne in der gleichen Zusammensetzung. Daraus spricht weder Einsicht in die Notwendigkeiten noch erkennbare Entschlossenheit zum Handeln. Lehrbuchhafte, zum Teil falsche Hinweise genügen hier wirklich nicht mehr.
Die Tarifpartner, denen der Kanzler die dritte Stelle zuweist, bemühen sich derzeit - und wir müssen das hier feststellen, auch wenn da oder dort andere Meinungen zu hören sind - ernsthaft um stabilitätsgerechte und sozial vertretbare Lohnabschlüsse. Sie täten sich leichter, wenn die Bundesregierung das Problem der Stabilität ernster und das Problem ihrer eigenen Popularität etwas weniger ernst genommen hätte.
({25})
Die 8,5 °/o der Metallindustrie, von mancher Seite kritisiert, so schwer sie von der Wirtschaft verkraftet werden können und so wenig sie preisneutral bleiben werden, bringen den Arbeitern und Angestellten nur knapp einen Ausgleich für die gestiegenen Preise, aber keinen echten Kaufkraftzuwachs.
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Bei qualifizierten Facharbeitern, die damit der direkten und der indirekten Progression der Steuer um so stärker unterliegen, ist es eher weniger als ein Kaufkraftausgleich.
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Man kann von den Gewerkschaften nicht erwarten, daß sie vor den von ihnen betreuten Personenkreis, für den sie verantwortlich sind, hintreten und mit weniger nach Hause kommen als mit einem Lohnabschluß, der wenigstens den Status quo für ein Jahr einigermaßen erhält.
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Sicher ist richtig, daß den Tarifpartnern eine besondere Bedeutung zukommt. Ihr Bemühen ist jedoch
wenig erfolgreich, wenn der Staat nicht durch eine wirklich konjunkturgerechte Finanz- und Geldpolitik das Seine zur Preisstabilität beiträgt.
5. Glaubt der Kanzler wirklich, daß das soziale Klima stabil sei, wie er sagt? Wir wünschen es ihm und uns, aber wir können nur hoffen, daß es ihm nicht ebenso geht wie dem IG-Metall-Chef Eugen Loderer, der zuerst seiner sicheren Zuversicht Ausdruck gab, daß der ausgehandelte Lohnkompromiß eine große Mehrheit in der Stahlarbeiterschaft Nordrhein-Westfalens finden werde, der aber dann von einer erheblichen Fehleinschätzung der Empfindungen unter den Arbeitern sprechen mußte, als über die Hälfte der Betroffenen das ausgehandelte Ergebnis ablehnte und für Streik stimmte.
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So stabil kann das soziale Klima in der Bundesrepublik dann wohl kaum sein, wenn regierungsnahe Blätter wie die „Frankfurter Rundschau" von unzufriedenen Arbeitnehmern, die ebenfalls regierungstreue „Süddeutsche Zeitung" - auch das gibt's in München - von einer alarmierenden Urabstimmung und die Gewerkschaftszeitung „Welt der Arbeit" vom Unbehagen in den Betrieben sprechen, und das unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung. Selbst wenn man einen Teil dieser unerfreulichen, zum Teil unterirdischen Vorgänge der bis heute offiziell verharmlosten kommunistischen Agitation zuschreibt, so ist das sicherlich nicht der einzige oder gar ausschlaggebende Grund. Die Gewerkschaften sind überfordert, wenn ihnen allein die Aufgabe überlassen wird, die Erwartungen der Arbeitnehmer in richtige Bahnen zu lenken und innerhalb der Grenzen der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten zu halten. Es wäre eine wirksame Hilfe, wenn die Bundesregierung sich nachdrücklich von den während des Wahlkampfes verbreiteten Klassenkampfparolen - und deren Appell an den Neidkomplex, nebenbei gesagt - einmal absetzen würde.
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Wir haben bisher vergeblich darauf gewartet.
6. Große Unruhe - gerade unter der Arbeitnehmerschaft - ruft die Frage hervor, ob und inwieweit ihre Einkommen durch abermalige Steuererhöhungen oder durch einen neuen Konjunkturzuschlag gemindert werden sollen. Was meint der Bundeskanzler, wenn er sagt, daß der öffentlichen Finanzwirtschaft eine besondere Bedeutung für den Wirtschaftsablauf zukomme - ohne Zweifel richtig - und man dabei nicht nur auf die Ausgabenseite, sondern in Zukunft auch mehr auf die Einnahmeseite sehen müsse?
Hier erheben sich mehrere Fragen; denn unter Einnahmeseite müssen doch in erster Linie Steuererhöhungen verstanden werden. Oder was denn sonst? Diese Steuererhöhung, z. B. in Gestalt eines nicht rückzahlbaren Konjunkturzuschlags - das große Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel: kommt er, kommt er nicht, in dem Jahr nicht, vielleicht im nächsten Jahr, ja, er kommt, nein, er kommt nicht, ja, nein; das war etwa das Vorspiel auf diesem Gebiete -, dieser 10 %ige Zuschlag auf Lohn-,
Einkommen- und Körperschaftsteuer wirkt naturgemäß konjunkturdämpfend, weil er nicht ausgegeben werden darf, rechtfertigt aber die in der „Süddeutschen Zeitung" gestellte Frage, weshalb unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung -ich zitiere wörtlich - „ausschließlich die Arbeitnehmer für den Versuch der Preisdämpfung Opfer bringen mußten".
Diese Frage wird der Bundeskanzler bei Fortsetzung der bisherigen Ausgabenpolitik, die von Bundesbank und Sachverständigenrat übereinstimmend als eindeutig expansiv und damit inflationsfördernd bezeichnet worden ist, nicht überzeugend beantworten können. Er hat das in der Regierungserklärung überhaupt nicht getan. Andererseits weiß die Bundesregierung sicher, daß beabsichtigte Steuererhöhungen, die zur Deckung der zum Teil inflationär bedingten Mehrausgaben verwendet werden, nicht stabilitätsfördernd wirken, weil es konjunkturpolitisch gesehen irrelevant ist, ob sie von privaten oder öffentlichen Ausgebern in den Wirtschafts- und Finanzkreislauf eingespeist werden.
({31})
Zu all diesen Fragen schweigt sich die Regierungserklärung aus. Eine Politik, die ausgezogen ist, dem Bürger mehr Information, mehr Durchsichtigkeit der Regierungsvorgänge und Regierungsabsichten zu bieten, führt sich durch Verweigerung der Antwort auf diese Frage ad absurdum.
({32})
7. Was hat die Regierung mit der Ausgabenpolitik vor? Der erneute Entschuldigungsversuch, daß der Bund über die Gestaltung des öffentlichen Gesamthaushalts nur zu einem Teil entscheiden könne, ist kein gutes Zeugnis; denn der Bund ist für mehr als für seinen Teil verantwortlich. Der Haushalt des Bundes umfaßt etwa die Hälfte der öffentlichen Gesamthaushalte. Aber - und diesen Tatbestand hat die Bundesregierung in diesem Hause immer verschwiegen, und sie will seine Schlußfolgerungen und Konsequenzen nicht in der Öffentlichkeit zugeben - die Gesetze und Programme des Bundes sind weitgehend von Ländern und Gemeinden auszuführen. Es handelt sich oft um Gesetze mit milliardenschweren Folgen, durch die für den Bund keine Kosten entstehen, aber für Länder und Gemeinden. Der Bund hat nach den Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes hier für die Finanzplanung der gesamten öffentlichen Hand zumindest die Signalführerschaft und damit ein hohes Maß an Verantwortung.
({33})
Die Höhe der Ausgaben von Ländern und Gemeinden wird durch den Bund entscheidend mitbestimmt. Die Bundesregierung hat die gesetzliche Pflicht, im Finanzplanungsrat auf die Ermittlung von einheitlichen yolks- und finanzwirtschaftlichen Annahmen für die Finanzplanungen und von Schwerpunkten für die Erfüllung von öffentlichen Aufgaben hinzuwirken. Wir vermissen seit Jahr und Tag, daß dieser gesetzliche Auftrag erfüllt wird. Für das Jahr 1973 und für die Fortschreibung der mehrjährigen Finanzplanung ist das ebenfalls unterlassen worden.
Will die Bundesregierung im Interesse wirklicher Reformen und im Dienste des sozialen Friedens auch in der Finanzpolitik ihre Pflicht zur Wiederherstellung der Preisstabilität dadurch wieder ernst nehmen, daß sie der Finanzpolitik in der Praxis den gleichen Rang einräumt wie der Geld- und Kreditpolitik und daß sie im Rahmen der finanzpolitischen Maßnahmen keine einseitige Verlagerung der Schwerpunkte auf die Einnahmeseite - sprich Steuererhöhungen und Konjunkturzuschlag - vornimmt? Nochmals die Frage: Was hat die Bundesregierung auf diesem Gebiete denn vor?
8. Der Bundeskanzler kann unserer Zustimmung gewiß sein, wenn er Sätze wie diese formuliert: „Wer nur Forderungen stellt, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein ...", oder: „wer den soliden Fortschritt will, der muß im Zuwachs des persönlichen Verbrauchs auch einmal langsamer treten".
Solche Sätze erinnern mehr an seine Vorgänger Konrad Adenauer und Ludwig Erhard als an die Diktion sozialdemokratischer Parteitagsbeschlüsse
({34})
oder an den Jargon jungsozialistischer Postulate. Als ich diese Worte aus seinem Munde vernahm, habe ich auf mein unkorrigiertes Exemplar seiner Ausführungen geschrieben: Antrag auf Aufnahme in die CDU zustellen!
({35})
Ich halte diese Meinung natürlich aufrecht, und ich bitte, mir eine ironische Bemerkung zu erlauben: Sollte aber sein Eintritt in die CDU wegen dieser von manchen schon reaktionär gewerteten Bemerkungen auf Schwierigkeiten stoßen, dann steht ja immer noch die Türe zur CSU offen.
({36})
Aber diese Gemeinsamkeit in Worten täuscht über die Wirklichkeit hinweg; denn in welchem Lager stehen denn gewisse Pädagogen und Systemänderer, die der Jugend von heute systematisch Mißtrauen und Abneigung gegen das Leistungsprinzip einzureden suchen?
({37})
und dieses als Attribut einer inhumanen Gesellschaft verteufeln? Ihre Partei, Herr Bundeskanzler, weiß, daß sie Ihnen persönlich sehr viel verdankt. Aber immer größere Kreise der Partei versagen Ihnen die Gefolgschaft, wenn Sie Leistung und Verzicht als Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt verlangen.
({38})
Dieser Auseinandersetzung müssen Sie sich stellen; denn es sind Feinde unserer Gesellschaft - aus Unwissenheit oder Absicht -, die durch Zerstörung des Leistungsprinzips den alten Menschen von morgen den Lebensunterhalt beschneiden werden
({39})
und die durch Propaganda für Leistungsverzicht die
öffentliche Armut fördern. Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sowie der
Grundlagen unseres privaten und öffentlichen Lebens sind hier in Frage gestellt. Sie wissen doch, Herr Bundeskanzler,
({40})
was hier getrieben wird und wie weit die Dinge mancherorts schon gediehen sind.
({41})
9. Was heißt es - auch das ist ein Beitrag zu dieser Diskussion -, daß der Schutz des Eigentums, aber auch die Beachtung seiner Sozialbindung bei dieser Regierung in guten Händen sind? Ist der Bundeskanzler bereit, verbindlich zu erklären, daß er entgegen den Forderungen namhafter Bereiche seiner eigenen Partei eine staatliche Kontrolle und damit öffentliche Lenkung privater Investitionen für jetzt und in der Zukunft eindeutig ablehnt und ausschließt? Was heißt es, daß auf der Grundlage der Eckwertbeschlüsse vom Juni 1971 zur Steuerreform und zur Vermögensbildung die Bundesregierung einen Vorschlag ausarbeiten werde, durch den breitere Schichten der Bevölkerung am Zuwachs des Produktivvermögens der Großunternehmen beteiligt werden sollen? Die Eckwertbeschlüsse vom Juni 1971 sind doch bereits im Oktober 1971 erheblich berichtigt worden, weil sie zu schweren Beanstandungen wegen der Benachteiligung ganzer Schichten Anlaß gegeben haben. Außerdem sind die Eckwerte und der Vermögensbildungsplan doch nicht aufeinander abgestimmt worden. Es wird doch kein Mensch behaupten, daß die Reform der Körperschaftsteuer, wie sie beabsichtigt war - was jetzt beabsichtigt ist, weiß ja kein Mensch , und die geplanten Vermögensbildungspläne in der damals vorgelegten Form miteinander vereinbar sind.
({42})
Die in der Regierungserklärung gewählten Formulierungen sind ebenso unklar wie widerspruchsvoll. Gelten noch die Beschlüsse vom 11. Juni 1971 zur Vermögensbildung im Sinne wenigstens von Grundsätzen? Der damals in Auftrag gegebene Gesetzentwurf ist doch bis heute nicht erstellt worden. Oder wird er geheimgehalten wie das dritte Steuerreformgesetz? Sollen die Großunternehmen - nach der Regierungserklärung sind verschiedene Deutungen möglich - allein zur Vermögensbildung beitragen? Sollen breitere Schichten der Bevölkerung auf Grund der vermögenswirksamen Leistungen der Großunternehmen nur am Zuwachs von deren Produktivvermögen beteiligt werden oder über Beteiligungsfonds am Vermögenszuwachs auch anderer Unternehmungen? Was ist die Bemessungsgrundlage für die Aufbringung? Ist es der Umsatz, ist es der Gewinn, sind es die Investitionen? Außer einer Absichtserklärung liegt doch hier nichts vor. Wir verweisen auf die seit geraumer Zeit vorliegenden Pläne der CDU/CSU zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, die vom letzten Bundestag nicht mehr behandelt wurden.
({43})
Sie hätten in Ergänzung zum 624-Mark-Gesetz und
in Weiterentwicklung desselben seit geraumer Zeit
die von früheren CDU/CSU-Regierungen in Gang gesetzten Sparförderungs- und Vermögensbildungspläne auf breiterer Grundlage fortführen können. Voraussetzung ist aber Wiederherstellung einer hohen Geldwertstabilität.
10. CDU und CSU stimmen mit der Bundesregierung darin überein, daß ein wirksamer Wettbewerb eine unerläßliche Voraussetzung funktionierender Marktwirtschaft und damit einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist. Die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit auch unser Wohlstand und die öffentliche Leistungsfähigkeit hängen davon ab, daß unsere Unternehmen sich auf den Weltmärkten behaupten können.
Auch die Kartellgesetzgebung muß sich an diesem Ziel orientieren. Eine nationale Fusionskontrolle bei Fusionen geringeren Umfangs würde auch die Mißbrauchsaufsicht genügen - kann als Übergang zu einer europäischen Regelung geeignet sein, Wettbewerb und Marktwirtschaft auch für die Zukunft zu sichern. Erleichterungen für die Zusammenarbeit der kleinen und mittleren Unternehmen sind zu begrüßen, weil damit nicht nur ihre wichtige, ja, unentbehrliche Funktion in unserer Wirtschaftsordnung als Motoren des Fortschritts erfüllt werden kann, sondern weil auch dadurch ihr Überleben in dem rasch sich vollziehenden Konzentrationsprozeß erleichtert wird.
Da die Regierungserklärung sonst aber an keiner Stelle das Problem des selbständigen Mittelstandes anspricht, muß hier die Frage gestellt werden, ob sich die Bundesregierung der Notwendigkeit bewußt ist, auch außerhalb des Kartellbereiches Lebenswillen und Lebensfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmer zu unterstützen. Es ist das allgemeine politische und soziale Klima, die bereits erwähnten klassenkämpferischen Anzeichen, die Furcht vor immer größeren steuerlichen und sonstigen Belastungen, Zukunftssorgen und Existenzangst, die hier den Konzentrationsprozeß weit über das von der technischen Entwicklung und ihren finanziellen Größenordnungen her gebotene Maß hinaus beeinflußt und beflügelt haben,
({44})
und das ist ungesund. Was hat die Bundesregierung dazu noch konkret zu sagen?
11. Daß für eine gesunde Weiterentwicklung unserer Volkswirtschaft die Energieversorgung langfristig gesichert sein muß, weiß jedermann. Die Frage aber ist: Welche Vorstellungen und Pläne hat die Bundesregierung dazu? Wir geben dem neuen Bundeswirtschaftsminister sicherlich Zeit, sich das eingehend zu überlegen, nachdem in der Vorzeit auf diesem Gebiet seit der Gründung der Ruhrkohle AG und der Deminex nicht mehr viel geschehen zu sein scheint.
Wir stehen hier doch von schwerstwiegenden Problemen schon auf mittlere Frist - und auf längere Frist sowieso -: dem Steinkohleproblem, dem nicht übersehbaren Ausmaß der Erdgasversorgung, den politischen Schwierigkeiten einer gesicherten Erdölversorgung, der technisch noch nicht weit genug gediehenen Entwicklung des schnellen Brüters oder der Fusionsenergie. Wir haben früher falsche technische Angaben bekommen und deshalb mit falschen Fristen gerechnet. Wir müssen in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts und sicherlich im nächsten Jahrzehnt mit echten Störungen und mit echten Engpässen in der Energieversorgung rechnen. Hier muß jetzt ein Konzept vorgelegt werden, in dem die verschiedenen Energieträger aufeinander abgestimmt sind und langfristig geplant wird.
({45})
12. Es ist bezeichnend, daß die Bundesregierung im Anschluß an die schlagwortartig erwähnte angemessene Finanzausstattung von Bund, Ländern und Gemeinden auf die Steuerreform zu sprechen kommt. In der Regierungserklärung von 1969, deren politische Ziele jetzt bestätigt werden, wurde folgendes angekündigt:
... die in der vorigen Legislaturperiode angekündigte Steuerreform wird die Bundesregierung verwirklichen. Wir erfüllen damit auch das Verfassungsgebot zur Schaffung des sozialen Rechtsstaates. ...
Unser Ziel ist es, ein gerechtes, einfaches und überschaubares Steuersystem zu schaffen.
In der neuen Regierungserklärung heißt es:
Die in der vergangenen Legislaturperiode begonnene Arbeit an der Steuerreform,
- das stimmt doch gar nicht -({46})
die früher schon so oft angekündigt worden war, wird nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Vereinfachung des Steuersystems zügig fortgesetzt. Die Grundkonzeption ist in den Eckwertbeschlüssen vom Juni und Oktober 1971 festgelegt worden. Unter Beachtung der Ausgewogenheit soll das Ziel verfolgt werden, die Belastungs- und Entlastungswirkungen insgesamt zeitlich nicht auseinanderfallen zu lassen.
Bei Verkündigung der Eckwerte der Bundesregierung vom 11. Januar 1971 wurde die Steuerreform als das größte Reformvorhaben der deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet. Ende Oktober 1971 mußten die Eckwerte geändert werden, da ihre Fragwürdigkeit offenbar geworden war. Auch diese geänderten Eckwerte wurden vom damaligen Regierungssprecher in der Pressekonferenz am 1. April 1972 dahin gehend charakterisiert, daß sie noch voller Absurditäten und Ungereimtheiten steckten. Genau auf diese - ich meine nicht die Absurditäten, sondern die Eckwerte - beruft sich aber jetzt der Bundeskanzler.
Wenn diese Eckwertbeschlüsse nunmehr als eine verbindliche Grundkonzeption bezeichnet werden, so müssen wir heute schon unsere Bedenken anmelden. Ich möchte darauf im einzelnen nicht zu sprechen kommen, aber darauf hinweisen, daß die Tarifgestaltung als unbefriedigend angesehen werden muß, weil sie gerade für die unteren Einkommen
eine starke direkte und indirekte Steuerprogression enthält.
({47})
Die Lohn- und Einkommensteuer in den untersten Einkommensbereichen packt jetzt bei jeder Lohnerhöhung angesichts der starken Erhöhung der Nominaleinkommen mit besonderer Ungerechtigkeit und sozial einseitiger Belastung zu.
({48})
Das muß hier korrigiert werden.
Es heißt in der neuen Regierungserklärung:
Im Zusammenhang mit der Steuerreform wird der Familienlastenausgleich neu geregelt werden.
Es folgen weitere Sätze. Die Eckwertbeschlüsse enthalten gerade zum Familienlastenausgleich stärkste Ungereimtheiten und Absurditäten. Familien mit Kindern, die sich in der Ausbildung befinden, werden äußerst ungerecht behandelt, je nachdem ob sie unter Ausbildungsförderungsprogramme fallen oder nicht. Steuerreform und Prämiengesetze müssen hier als eine Einheit gesehen werden.
({49})
Gerade in den unteren und mittleren Einkommensbereichen haben die Eckwerte eine starke familienfeindliche Tendenz.
Auf dem Bundesparteitag der FDP in Freiburg und auch später in Ausführungen führender FDP-Politiker ist erklärt worden: „Die FDP setzt sich dafür ein, daß die Steuerreform aufkommensneutral durchgeführt wird." So auch Generalsekretär Flach. In der Regierungserklärung ist von Aufkommensneutralität der Steuerreform - wie auch früher vom Bundestag anerkannt - überhaupt nicht mehr die Rede. Es heißt lediglich, daß Belastungen und Entlastungen „zeitlich nicht auseinanderfallen" sollen. Wie sich aber Belastungen und Entlastungen zueinander verhalten werden, wäre viel interessanter als das Moment der zeitlichen Koinzidenz.
({50})
Im Zusammenhang damit ist der Bundeskanzler leider jede Auskunft schuldig geblieben, wie sich diese seine Regierung die von seiner eigenen Partei verlangte Erhöhung der Steuerlastquote und damit die Erhöhung der Staatsquote am Sozialprodukt von 38 auf 48 °/o innerhalb eines Zeitraums von zwölf Jahren denn vorstellt. Das zu wissen ist für die langfristigen Absichten der Bürger und der Wirtschaft von unentbehrlicher Bedeutung. Dabei ist auch noch diese Erhöhung der Steuerlastquote von gewissen Kreisen seiner Partei als völlig unzureichend dargestellt worden: Das müsse noch erheblich gesteigert werden.
13. Wir stimmen der Auffassung des Bundeskanzlers zu, daß Lebensqualität mit Lebensstandard schlechterdings nicht gleichgesetzt werden kann. Wenn aber der Bundeskanzler betont, daß Umweltschutz, Raumordnung, Stadtentwicklung und Verkehrsausbau in einem engen sachlichen Zusammenhang gesehen werden müssen, warum ist dann nach der Neuorganisation der Bundesregierung die Raumordnung aus dem Innenministerium herausgelöst und vom Umweltschutz getrennt worden, der in weiten Teilen doch nur mit den Mitteln der Raumordnung verwirklicht werden kann? Außerdem ist der Umweltschutz auch weiterhin auf mehrere Ressorts verteilt. Wenn man die abwechselnden Lageberichte über Ressort- und Zuständigkeitsverteilung gelesen hatte, glaubte man, Akten des Wiener Kongresses in Neuauflage zu studieren, wo sich damals die regierenden Fürsten um die Zahl der ihnen anvertrauten Seelen und damit verbundenen Größenordnungen ihrer Flächen lange unterhalten haben.
({51})
Warum wurden in der Gesetzgebung die im Umweltprogramm als dringlich angekündigten Initiativen bisher nur unzureichend erfüllt? Hier habe ich, gerade weil wir auf diesem Gebiet unseren guten Willen zur Zusammenarbeit nochmals anbieten, den dringenden Wunsch, nicht unnötig Zeit mit sinnlosen Kompetenzstreitigkeiten durch Forderung nach voller Übertragung der Gesetzgebungskompetenz verstreichen zu lassen. Gerade bei Landschaftsschutz, Naturschutz, Gewässerschutz soll sich der Bund darauf beschränken, ein Rahmengesetz zu erlassen, mit deren Hilfe dann die Länder auf Grund ihrer regionalen Sonderbedingungen das tun können, was für sie in ihren Bereichen zweckmäßig und notwendig ist.
({52})
Es ist doch so, daß sich der Bund bei der Vorbereitung von Gesetzgebungsvorhaben immer noch die Experten von den Ländern zur Leihe nehmen muß, weil er mit seinem Expertenbestand gar nicht in der Lage ist, die hier gegebenen, für das Bundesgebiet ja sehr vielseitigen Probleme auch nur annähernd überblicken zu können.
Bezeichnend für die mangelnde Ernsthaftigkeit in der Finanzierung ist das vorher schon erwähnte Moment: Kosten für den Bund keine, aber für die Länder und Gemeinden entstehen sie in Milliardenhöhe. Es liegt auf der gleichen Linie, wenn in der Regierungserklärung Umweltschutz, Raumordnung, Stadtentwicklung, Verkehrsausbau und damit die Verbesserung der Lebens-, Arbeits-, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten in einen engen Zusammenhang gestellt werden. Aber hier werden doch Milliardenprojekte so mit leichter Hand im Vorbeigehen erwähnt ohne Angabe einer Rangfolge. Gerade auf diesem Gebiet erfordert doch eine solide Regierungserklärung auch eine Erklärung darüber, in welcher Reihenfolge man diese Vorhaben anzupacken beabsichtigt.
Es hat keinen Sinn, die alten Gesetze ohne Abstimmung mit den Ländern einfach wieder vorzulegen. Gerade auf diesem Gebiet bitten wir dringend darum, daß Sachplanung und Finanzplanung zur Deckung gebracht werden. Hier dürfen nicht unerfüllbare Forderungen oder Erwartungen erweckt werden. Hier dürfen auch nicht unterschiedliche Prioritäten, einmal so, einmal so, sei es zeitlich, sei es sachlich, genannt werden. Die Kürze der Zeit verbietet es mir, hier die konkreten Angaben aus
Interviews und Stellungnahmen der Bundesregierung zu bieten, die man hier anführen müßte.
Ich möchte keinen Zweifel lassen, daß wir unter Verbesserung der Lebensqualität aber nicht gesellschaftliche Strukturveränderungen verstehen. Professor Roegele schreibt in diesem Zusammenhang in seiner „Anatomie politischer Schlagworte" :
Hier eröffnet sich einem Regime, das über ... Planziele und die Mittel verfügt, durchaus die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern, wenn es nur gelingt, die Leute glauben zu machen, daß diese Verbesserung der Lebensqualität dienlich sei. Nicht der einzelne hat dann zu wählen, worin er die „Qualität" seines Lebens erblickt, ({53}) die Gesellschaft bestimmt darüber ...
Der Staat hat zwar mit Hilfe der Bürger freundliche Umweltbedingungen zu schaffen. Aber er kann, wie der letzte Vizepräsident der Europäischen Kommission, Raymond Barre, es ausführte, die Probleme nicht durch die Einführung eines „Bruttonationalglückes" lösen. Vor allen Dingen wird dieses Vorhaben nur die Forderung nach immer neuen Steuererhöhungen auslösen.
Der Bundeskanzler spricht davon, daß er schon im Oktober 1969 die Bildungsreform an die Spitze der notwendigen Reformen gestellt habe. Hoffentlich wird das nicht eine zur jeweiligen Wiederholung bestimmte Dauerformel. Denn diese Bildungsreform hätte mit weniger Ideologie und mit mehr wirklichkeitsbezogener und lebensnaher Ausrichtung längst verwirklicht werden können.
({54})
Statt dessen ist noch nicht einmal das schon damals angekündigte nationale Bildungsbudget für einen Zeitraum von fünf bis fünfzehn Jahren aufgestellt worden.
Wir stimmen mit manchem überein, was hier an grundsätzlichen Bemerkungen geäußert worden ist, mit der Feststellung, daß die Chancengleichheit für die berufliche Bildung den gleichen Rang verlangt, wie ihn andere Bildungsbereiche haben. Wenn man aber mit Recht in allen staatlichen Bereichen eine langfristige Planung für einen rational-ökonomischen Einsatz der knappen Mittel verlangt, dann kann man in diesem Bereiche nicht völlig auf eine Bedarfsplanung verzichten und sozusagen einen bildungspolitischen Null-Tarif als einklagbaren Anspruch gewähren.
Was der Bundeskanzler zur Freiheit wissenschaftlicher Arbeit gesagt hat, daß die Stätten von Lehre und Forschung nicht in politische Kampfstätten umfunktioniert werden dürfen, findet unsere volle Billigung. Aber diese des Beifalls aller Vernünftigen sichere Feststellung geht doch an der Tatsache vorbei, daß diese Umfunktionierung größtenteils schon erfolgt ist und daß sich ihre Urheber und geistigen Väter heute der Folgen des Tuns nicht mehr bewußt sein wollen. Was sich auf diesem Gebiet in unseren Landen tut, entzieht sich der Kenntnis der meisten Staatsbürger. Hier sollte der Bundeskanzler ein ernsthaftes Wort mit seinen Kultusministern reden und im eigenen Hause für Ordnung sorgen.
({55})
Des Bundeskanzlers Worte verlieren sich in nebelhafter Ferne, wenn er Demokratisierung der Hochschulen schlechthin mit ihrer Reform identifiziert. Hier liegt doch die Wurzel des Übels, daß man das Gestaltungsprinzip des Staates, nämlich die Demokratie mit gleichem Stimmrecht für alle, automatisch auf alle Bereiche der Gesellschaft zu übertragen versucht. Während aber im Staate das Prinzip der Demokratie die Freiheit gewährleistet, ist unter dem Stichwort Demokratisierung die Freiheit in gewissen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen immer mehr gefährdet worden.
({56})
Gerade der Staat muß verhindern, daß sich in der Gesellschaft durch Demokratisierung wieder neue Klassen bilden und dann rechtlich von neuem privilegiert werden. Es ist die Aufgabe des Staates, in der Gesellschaft die Freiheit zu gewährleisten und nicht durch seine Selbstabschaffung die Unfreiheit dieser Gesellschaft unter dem Stichwort „Demokratisierung" abermals aufkommen zu lassen.
({57})
So ist es durchaus in sich logisch, daß die gleichen, die eine staatsfreie, i. e. demokratische Universität verlangen, dort bereits seit Jahren die Abschaffung der Freiheit mit wachsendem Erfolg praktizieren.
Ernst Forsthoff schreibt in seiner Einleitung zu „Lorenz vom Stein":
So erklärt es sich, daß man den gegenwärtigen unübersehbaren Verfall der Staatlichkeit gelassen hinnimmt und in gebetsmühlenhafter Monotonie das hohe Lied rechtsstaatlicher Freiheit erklingen läßt, ohne zu merken, daß mit dem Staat auch die Freiheit entwurzelt wird, wofür das tägliche Leben ständig anschauliche Beweise liefert.
Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß mit der Vergesellschaftung des demokratischen Staates ebenso wie mit der Verstaatlichung der Gesellschaft die Freiheit bedroht und abgeschafft wird. Deshalb verlangt Forsthoff mit Recht, daß jeder, der den Dualismus von Staat und Gesellschaft ablehnt, sich genötigt sehen sollte, offen anzugeben, unter welchen Bedingungen statt dessen die Freiheit als gesichert bezeichnet und gesichert werden kann.
({58})
Dieser Widerspruch kann nur beseitigt werden, wenn die Hochschulreform eindeutig von dem Ziel, die heutigen beruflichen Erfordernisse in den Vordergrund der Ausbildung zu stellen, bestimmt ist. Das setzt aber aktive Bejahung der demokratischen Grundordnung voraus und nicht aktive Bejahung der Prinzipien der DDR und laue Gelassenheit gegenüber dem Grundgesetz und seinen Erfordernissen.
({59})
Die Mahnung des Bundeskanzlers muß als Forderung an alle verstanden werden, die für die geStrauß
genwärtige Hochschulsituation verantwortlich sind, aber Aussagen wie diese: „Der Staat wagt es nicht mehr, seine Gesetze durchzuführen und seine Bürger zu schützen; er hat vor seinen Feinden, die ihn zerstören wollen, anscheinend bereits kapituliert" - so Professor Dr. Koenigs, Berliner Morgenpost -sind leider nicht unbegründet. Zeugnisse dieser Art haben wir doch im Laufe der letzten Jahre zum Überdruß in allen Veröffentlichungen wöchentlich und manchmal täglich zu lesen bekommen. Dort liegt doch die Problematik, und dort liegt die Wirklichkeit, nicht in Parolen, sondern in der aktiven Tat, diese Zustände zum Guten zu wenden und diesem Treiben nicht ohne es zu hindern zuzusehen und durch Duldung noch Vorschub zu leisten.
({60})
Als absurd muß ich leider die Meinung des Bundeskanzlers bezeichnen, daß auf Grund des Wahlergebnisses der eigentliche politische Extremismus bei uns keine Chancen mehr hat. Was ist der Unterschied zwischen eigentlichem und nicht eigentlichem politischem Extremismus?
({61})
Gerade bestimmte Wahlkampfformulierungen wie „Das große Geld", „die Bosse", „Der Klassenfeind", haben, wenn ich den stellvertretenden Vorsitzenden Ihrer Langzeitkommission, Jochen Steffen, zitieren darf - das stammt also nicht von mir, was ich jetzt sage; Sie haben beim Falschen Protest angemeldet, das müssen Sie innerparteilich erledigen -, mehr zur Weckung des Klassenbewußtseins getan als die SPD seit 1945. Das steht in „Konkret" vom 21. Dezember 1972. Für Steffen ist der Marsch zum Sozialismus nicht mehr zu stoppen, auch nicht durch diese Regierungserklärung, denn „wer auf dem Tiger reitet, wird aufgefressen, wenn er absteigt".
({62})
Herr Bundeskanzler, haben Sie sich mit ihrem Freund Steffen schon über den Tigerritt unterhalten?
({63})
- Nein, das war ein liebenswürdiges Bild vom sonnengebräunten Bundeskanzler, auf einer atlantischen Insel auf einem Esel reitend.
({64})
Das ist eine viel liebenswürdigere Vorstellung als die vom Tigerritt entsprechend den martialischen Ankündigungen des Herrn Jochen Steffen.
({65})
Aber, Herr Bundeskanzler, haben Sie nicht den Tigerritt begonnen, als Sie die Warnungen über die Entwicklung in Ihrer Partei auch durch prominente Mitglieder der SPD in den Wind schlugen, sich der Radikalen bedienten und nicht in der Lage waren und sind, sich heute von ihnen ganz klar und nachhaltig zu trennen? Sie haben es hier vor
diesem Forum getan, aber andere Foren wären geeigneter dafür, die gleichen Bekenntnisse zu praktizieren.
({66})
Was ist von den Worten eines Bundeskanzlers zu halten, der nicht in der Lage ist, als Parteivorsitzender die Beschlüsse seiner eigenen Partei durchzusetzen? Was halten Sie von der Tatsache, daß einer Ihrer neuen Bundesminister - ich meine damit meinen bayerischen Wahllandsmann Hans-Jochen Vogel - vor zwei Jahren zu einem großen Kampf gegen die Systemveränderer und Linksradikalen in München - heute sitzen sie zum Teil hier ({67})
ausgeholt hat? Herbert Wehner meinte schon damals in seiner Funktion als innerparteilicher Zuchtmeister: „Der wollt' ja nur was werden, das legt sich schon wieder" ; so hat er im „Stern" gesagt.
({68})
Nun, es hat sich in der Zwischenzeit auch gelegt. Mit einem Ministeramt legt sich manches.
Aber wenn nun derselbe mitsamt dem bayrischen SPD-Präsidium völlig auf die amerikafeindliche Linie des Münchener Unterbezirksvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Schöfberger eingeschwenkt ist, wenn Schöfberger und seine Gesinnungsgenossen - nunmehr Präsident Nixon des Völkermords bezichtigen, ihn als Kriegsverbrecher abstempeln, wenn das Landespräsidium der SPD, unter der Führung von Hans-Jochen Vogel stehend, mit der Verurteilung der amerikanischen Bombenangriffe den amerikanischen Präsidenten aufs schärfste attackiert, dann haben sich beide damit doch der kommunistischen Sprachregelung vom „Kriegsverbrecher Nixon", wenn auch in differenzierten Tönen, angeschlossen. Wir wollen doch die Dinge nennen, wie sie sind.
({69})
Wir teilen Ihre Freude und Ihre Genugtuung, daß der Krieg zu Ende ist. Damit ja kein Mißverständnis, ja keine neue Legende entsteht - ich bin schon viele gewohnt, Sie auch, Herr Kollege Wehner, wenn auch die Legenden unterschiedlichen Wahrheitsgehalt haben -, füge ich hinzu: es ist nicht unsere Aufgabe, die Kriegsführung des amerikanischen Präsidenten zu billigen oder zu verdammen,
({70})
am allerwenigsten von unserer Seite aus. Wir verdammen gemeinsam den Krieg als Mittel der Politik.
({71})
Wer den Bombenkrieg im zweiten Weltkrieg in seiner gesteigerten Brutalität persönlich kennengelernt hat ({72})
und ich darf das wie Millionen leider auch für mich in Anspruch nehmen -, der wird sich hüten, hier dem Zeitgeist so oder so zu huldigen. Bomben auf Hamburg, Köln, Dresden, München und Berlin sind moralisch nicht anders zu beurteilen als Bomben auf Hanoi und Haiphong. Ich weiß, daß manche das nicht
gerne hören. Aber Bomben sind Bomben, wenn sie auf Frauen und Kinder geworfen werden.
({73})
Aber man muß auch wissen - und hören Sie auch den folgenden Satz an -, welche kriegerischen Akte und blutigen Greueltaten auf der anderen Seite diesen Bombenkrieg sowohl damals wie jetzt hier in diesem Fall ausgelöst haben. Dann hat man erst die ganze Wahrheit.
({74})
Darum frage ich Sie, Herr Bundeskanzler, was von den Beschlüssen einer Partei zu halten ist, die einen Trennungsstrich zu den Kommunisten zieht, aber gleichzeitig gemeinsame Aktionen - siehe München, siehe Bonn, siehe Dortmund, siehe Frankfurt usw. - in steigender Zahl duldet und mit der Duldung billigt. Da hörte man bei den Vietnam-Demonstrationen in München, es gehe gar nicht allein um den Frieden in Vietnam - den wolle schließlich Präsident Nixon auch, wurde zugegeben -, es gehe um ein rotes Vietnam, denn nur ein rotes Vietnam sei ein freies Vietnam.
({75})
Der Münchener SPD-Staatsrat Geiselberger als Festredner stimmte die Internationale an. Die Jungsozialisten haben den Liedertext verteilt. Der anwesende DKP-Bezirksvorsitzende hat sich den Spott erlaubt, den Jungsozialisten zu sagen, seine Mitglieder bräuchten keine Textexemplare, sie würden den Text schon auswendig kennen.
({76})
Sie sagten in Ihrer Regierungserklärung, Präsenz und Kampfkraft der Bundeswehr müßten erhalten bleiben. In einem von Jungsozialisten herausgegebenen und in der von der SPD finanzierten Bundeszeitschrift „Juso" empfohlenen Taschenbuch liest man als Kontrastprogramm dazu: „Wer die Schlagkraft der Bundeswehr gefährdet, der gefährdet auch deren Aggressionskraft". Hier die Worte der Regierungserklärung, dort die Realitäten in nicht unwesentlichen Bereichen der größten Regierungspartei. Die Glaubwürdigkeit ist erst dann hergestellt, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Partei dazu bringen, sich von diesen Radikalen, die sich über Linie und Beschlüsse der Partei unaufhörlich hinwegsetzen, nun einmal endgültig zu trennen.
({77})
Man hat aber leider das Gefühl, daß die Kraft dazu nicht mehr vorhanden ist.
Ich darf Ihnen versichern, daß wir, die Unionsparteien, den aufrechten Demokraten in der SPD nicht schadenfroh und hämisch in den Rücken fallen werden, wenn sie den Kampf gegen die Radikalen aufnehmen.
({78})
- Hier ist zu Gelächter kein Anlaß; in solchen Fällen lachen manchmal nur die Dummen.
({79})
Sie können hier auf unsere Solidarität rechnen. Sie können aber nicht von uns verlangen, daß wir Ihre Bemerkungen über das Nichtvorhandensein des eigentlichen politischen Extremismus ernst nehmen, wenn wir lesen, was z. B. der Chefredakteur der kommunistischen Jugendzeitschrift „Elan" in einem Gespräch mit dem Bonner Korrespondenten des DDR-Rundfunks laut „Nachrichtenspiegel" des Bundespresseamts erklärt hat - wörtlich :
Man muß natürlich sehen, daß die wesentlichen Wahlziele für die SDAJIer erreicht worden sind und daß es jetzt darauf ankommt, mit dem vorhandenen Dampf weiterzumachen nach den Wahlen.
Das Bild Herrn Jochen Steffens vom „Tigerritt"; nur in anderer Form!
Der Wahltag ist ja kein Abschluß einer bestimmten Aktivität, sondern er muß jetzt weiterführen in der Richtung, daß diese Regierung, die auch mit den Stimmen der Jungwähler gewählt worden ist, unter Druck gesetzt wird, die Forderungen der Jugend
- natürlich so, wie er sie versteht - zu realisieren!
Daran, um welche Forderungen es sich hier handelt, braucht man wohl nicht zu erinnern.
Ich möchte - ich sage es in vollem Ernst - es nicht erleben oder daran schuldig werden, daß sich eines Tages nach dem Muster von Vietnam-Demonstrationen Aktionsgemeinschaften bilden, die den formell noch freien Teil unserer Nation mit dem Rufe überziehen: „Freies Deutschland, rotes Deutschland!" und damit schrittweise einer Bewegung Vorschub leisten, bei der dann die im Westen praktisch aufgegebene Wiedervereinigung aus der kommunistischen Garnisonsstadt Potsdam in die Bundesrepublik hereingetragen wird.
({80}) Entwicklungen in ersten Ansätzen dazu gibt es.
Ich will damit nicht die Grundsatzdebatte über die Ostpolitik von neuem aufgreifen. Aber vielleicht interessiert es allgemein, unseren Standpunkt dazu zu hören, weil wir nicht den Streit, sondern die Zusammenarbeit dort wollen, wo es im Dienst der Menschen erfreulich ist und wo es Möglichkeiten zu Fortschritten gibt.
Die Verträge mit Moskau und Warschau sind völkerrechtlich einwandfrei gültig. Zu ihnen gibt es jetzt keine Alternative mehr: Pacta sunt servanda. Wir müssen uns jetzt im Sinn der gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972 an sie halten und versuchen, das Beste aus ihnen zu machen.
({81})
Die Konsequenzen dieser Verträge - Verkehrsvertrag und Grundvertrag, der eindeutig gegen das Wiedervereinigungsgebot verstößt - sind, wenn Begriffe noch einen Sinn haben und nicht das Gegenteil dessen ausdrücken, was ihr Sinn sein soll, nun einmal die unvermeidlichen Folgerungen auf dieser Bahn.
Es ist auch unser ehrlicher Wunsch und unser ernstes Bestreben, Spannungen abzubauen und zu einem geregelten Nebeneinander zu kommen, aber wir können uns nichts unter dem von Ihnen, Herr Bundeskanzler, empfohlenen Miteinander mit einem kommunistischen Zwangsstaat vorstellen. Wir schätzen menschliche Erleichterungen und menschliche Begegnungen, auch wenn sie ein kanalisiertes und kontrolliertes Rinnsal darstellen, sehr hoch ein, sind aber nicht bereit, den Preis zu unterschätzen, den wir dafür bezahlen, den Ernst der Lage zu verkennen, in die wir hineinsteuern, und - ich nehme an, auch Sie nicht - das kommunistische System für etwas anderes zu halten, als was es ist.
Wir dürfen nicht die Begriffe verlieren und dem Austausch der Bezeichnungen für Tatbestände zustimmen, die durch selbsttäuschende Deutung sich nicht ändern. Wir dürfen auch nicht in der Darstellung der Ursachen, Zusammenhänge und Tatbestände eine Wertneutralität praktizieren, die nicht der Freiheit dienen kann. Daß Hitler das Reich aufs Spiel gesetzt und seine Kriegspolitik die Zertrümmerung verschuldet hat, wissen wir. Damit ist aber weder das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verspielt noch ist das eine Rechtfertigung für die widernatürliche Teilung Deutschlands und Europas.
({82})
Wer Europa zusammenführen will, muß auf Herrschaft und Hegemonie verzichten, darf sich nicht abgrenzen, sondern muß Menschen, Informationen und Meinungen Freiheit geben. Angesichts der großen Veränderungen, die in der Konstellation der bestehenden und sich bildenden Weltmächte eingetreten sind, ist das Selbstbestimmungsrecht der Europäer und ihre Hoffnung auf echte Entspannung nur begründet, wenn sie den Prozeß der politischen Einigung der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft über die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus konsequent fortsetzen.
Für jeden, der Entwicklungen sehen, Absichten spüren, strategische Linien deuten kann, muß es offen zutage liegen, daß die Sowjetunion in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit auch eine Möglichkeit sieht, diesen politischen Einigungsprozeß der Westeuropäer zu unterlaufen und an die Stelle ihres Staatenbundes, der sich zum Bundesstaat entwickeln soll, die für manchen verführerische Idee eines amerikafreien, nationalstaatlich zersplitterten und auf das Kraftzentrum Moskau orientierten europäischen Teilkontinents zu setzen.
Wir sollten alles tun, was auf dieser Konferenz illusionslos für Entspannung, kontrollierte Abrüstung und Zusammenarbeit auf geeigneten Gebieten erreicht werden kann. Wir sollten uns aber durch nichts, weder durch Drohung noch durch Hoffnung und Lockerung, davon abhalten lassen, den Prozeß der westeuropäischen Einigung zu vollziehen.
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Gerade jetzt, wo sich die Bundesregierung darauf beruft, sich mit ihrer Ostpolitik Rückenfreiheit und Bewegungsspielraum verschafft zu haben, sollte sie die außenpolitische Priorität der jetzt beginnenden
Epoche in Wort und Tat unmißverständlich, klar und konsequent auf Fortsetzung und Vollendung des europäischen Einigungswerks legen.
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Darum sollte man jetzt auch aufhören, die politische Zukunft Westeuropas in vagen Formulierungen verschwimmen zu lassen und sich in der Hauptsache mit Steuertarifen, Abschöpfungssätzen, Maßen und Gewichten zu beschäftigen. Wir sollten an der Staatswerdung Europas aktiv mitarbeiten. Wir sollten unseren Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Gesellschaft leisten, die im Zeichen der Freiheit steht, in der sich das Leitbild vom europäischen Bürger entwickelt, dem Freiheit durch Bildung und Eigentum, dem Aufstieg und Mitbestimmung durch Leistung und Selbstverantwortung gesichert sind.
Wenn diese europäische Gemeinschaft den Prozeß der Entspannung aus eigener Kraft und durch glaubwürdige Friedfertigkeit weiterhin fördern kann, dann mag daraus eine gesamteuropäische Friedensordnung erwachsen, in der sich die Kräfte der Freiheit in gesellschaftlichem Ringen mit den Kräften der kommunistischen Ordnung messen können. Wenn die Kommunisten an einen vorbestimmten Ablauf der Geschichte mit weltrevolutionärem Ende glauben, dann glauben wir an den Sieg der Freiheit als das natürliche Ziel des geschichtlichen Prozesses. Davon ist mehr zu halten als von dem vagen gesamteuropäischen Wollen, europäischer Friedensordnung, europäischem Friedenspakt oder europäischem Friedensbund und wie all diese schönen Dinge heißen mögen.
Das freie Europa muß von Humanität und Maß geprägt sein. Deshalb, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen abschließend eines als unsere Meinung sagen, damit hier weder Mißdeutung noch Mißbrauch erfolgen kann: Wir können Ihnen nicht erlauben, die politischen Begriffe und Koordinatensysteme beliebig zu verschieben. Wir verstehen völlig, daß Sie sich um die Aufnahme in die Mitte bemühen. Aber wir erlauben Ihnen nicht, die jeweilige Mitte durch ein ambulantes Koordinatensystem zu bestimmen.
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Wir verstehen es, daß Image-Berater und PublicRelations-Experten Ihnen den Begriff der neuen Mitte an die Hand gegeben haben, und wir glauben, daß Sie auf dem Wege zur Mitte sind und sich in Ihrem Leben auf dem Weg zur Mitte entwickelt haben. Aber Klassenkampfparolen und Mitte schließen sich gegenseitig aus;
({86})
denn Mitte setzt doch eine bestimmte geistige Einstellung und eine bestimmte Verhaltensweise voraus. Die dabei gestellten Anforderungen erlauben es nicht, das Treiben der Radikalen zu dulden, und erfordern es, sich von ihren Aktionen tatkräftig zu distanzieren. Ich weiß, daß Sie nicht verlegen wären, schlagwortartige Formulierungen für den Unterschied von alter und neuer Mitte zu finden. Aber die alte Mitte, die Sie attackieren, sind nicht wir, sondern das ist der Popanz ,gewisser Propagandamacher.
Die neue Mitte, die Sie darstellen wollen, gibt es gar nicht. Entweder ist es die alte Mitte - dann ist es auch die neue Mitte -, oder es ist keine Mitte.
({87})
Es mag eine neue Rechte oder eine neue Linke geben, aber ist gibt keine neue Mitte, die nicht auch die alte Mitte wäre. Darum möchte ich Ihnen die Definition für die Mitte geben, an die wir glauben.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Jawohl, ich bin gleich fertig. Ich brauche noch zwei Minuten.
Diese Mitte, die wir sind und aus der wir uns nicht vertreiben lassen,
({0})
wird durch folgende Grundsätze und Verhaltensweisen bestimmt:
1. vom christlichen Sittengesetz in der weitesten Auslegung des Wortes und der darauf gegründeten Verantwortung für den Menschen als ein Individuum, aber nicht als ein Baustein eines zum Selbstzweck erhobenen gesellschaftlichen Gefüges;
({1})
2. von der Tradition des abendländischen Humanismus, seines Menschheits-, Wissenschafts- und Fortschrittsbegriffes;
({2})
3. von der Ablehnung eines zum Selbstzweck erhobenen kapitalistischen Systems;
({3})
- ja, Sie haben nur keine Ahnung von uns; Sie müssen noch lernen ({4})
4. von der Ablehnung kollektivistischer Organisationsformen, wie sie vom Marxismus-Leninismus verwirklicht werden;
({5})
5. von dem Ja zum Ordnungssystem der sozialen Marktwirtschaft, das weder im Dienst des Kapitals noch des Kollektivs, sondern im Dienst der wirtschaftlichen und geistigen Freiheit des Menschen zu stehen hat;
({6})
6. von der Treue zum demokratischen Staat, der die Freiheit garantiert, und von der Mitarbeit in der Gesellschaft, die der Verwirklichung des individuellen Lebenszieles dient;
7. von der Ablehnung jedes Absolutheitsgedankens und der Bereitschaft zur Toleranz für Andersdenkende;
({7})
8. - merken Sie sich das sehr genau - von der bedingungslosen Ablehnung der Strategie diffamierter Negativgruppen in der Gesellschaft,
({8})
die ein Ausdruck intoleranten, inhumanen und totalitären Denkens ist;
({9})
9. von der Bereitschaft, unsere gesellschaftliche Ordnung zu verbessern, ohne sie zu sprengen;
({10})
10. von der Fähigkeit, ein geläutertes Nationalbewußtsein mit der europäischen Gemeinschaftsaufgabe geistig, moralisch und faktisch zu verbinden.
({11})
Wir messen Sie nicht an Ihren Worten, Herr Bundeskanzler, von denen wir manche billigen, manche nicht mit letzter Klarheit deuten können, über manche auch den Kopf schütteln; wir messen Sie nicht an den Begriffen, die Sie verwenden, von denen viele unsere eigenen sind; wir messen Sie an der Ernsthaftigkeit, mit der Sie Worte und Begriffe, die Sie hier verwendet haben, in die Wirklichkeit umsetzen werden.
Wir werden sorgsam darüber wachen, wie Sie diese Regierungserklärung in die Tat umsetzen. Dieser Prozeß wird das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition bestimmen, wie wir wünschen und wozu wir bereit sind: zum Besten unseres Volkes.
({12})
Meine Damen und Herren! Die Redezeit des Herrn Abgeordneten Strauß betrug 71 Minuten.
({0})
Das Wort hat nunmehr Herr Abgeordneter Dr. Möller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte gewünscht, daß von den 71 Minuten Redezeit des Herrn Kollegen Strauß die ersten 11 Minuten gefehlt hätten. Ich finde, daß seine Bemerkungen zur Regierungserklärung nicht der Würde einer solchen Debatte entsprochen haben.
({0})
Ich meine, eine Kombination des Barzelschen „So nicht!"
({1})
mit Straußschen Rastelli-Kunststückchen ergibt noch
keine Alternative zu diesem Regierungsprogramm!
({2})
Vorsichtig ausgedrückt: Der Opposition fehlt immer noch die politische Wetterfühligkeit.
({3})
Die Politik der Opposition muß, insbesondere dann, wenn sie etwas zu einer Regierungserklärung aussagen will, konkret sein, muß eigene Vorstellungen entwickeln,
({4})
darf nicht auf negativer Kritik verharren, muß die Voraussetzungen für die eigenen Vorstellungen entwickeln - falls vorhanden -- und muß politischpraktisches Tun auf Wirksamkeit und Durchführbarkeit prüfen. Ich finde, daß der Wahlausgang die Arthritis der Opposition leider nicht hat kurieren können. Ihre Gelenke sind heute immer noch so unbeweglich wie vor drei Jahren.
({5})
Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis für die Nervosität, mit der Sie zur Regierungserklärung Stellung genommen haben, insbesondere im letzten Teil der Ausführungen des Herrn Kollegen Strauß. Ich hatte schon befürchtet, eine Stellungnahme zu dem neuen Begriff der „neuen Mitte" würde fehlen. Ich kann nur sagen: Es gibt keinen alten Strauß und keinen neuen Strauß; es ist immer derselbe Strauß,
({6})
und gelernt hat er gar nichts, noch nicht einmal aus den Stellungnahmen seines eigenen Organs „Bayernkurier" vom 20. Januar 1973. Es wirkt sicher für ihn überzeugender, wenn ich daraus zitiere, als wenn ich selbst dazu einige ergänzende Ausführungen machen würde. Da liest man in dem Artikel des Herrn Horlacher, daß er sagen will, daß sich die Probleme nicht in einem sinnvollen Neuanfang auflösen, wenn kaum ernsthaft die Absicht zu erkennen ist,
({7})
aus den alten Fehlern zu lernen. Über die alten Fehler, so meint Herr Horlacher, könnte ein langer Katalog aufgestellt werden, der nicht nur die letzten drei Monate, nicht nur die Jahre zwischen 1969 und 1972, nicht die Zeit von Adenauer allein umfasse. In Klammern, sagt er nach einer Bemerkung über die Unfähigkeit im Umgang mit der vierten Gewalt, manches habe dazu geführt, daß die Opposition heute einer längst formierten Phalanx linker Publizistik fast hoffnungslos ausgesetzt sei. Dann spricht er über die geistige Verfettung und über die in allen ihres eigenen Erfolges überdrüssig gewordenen Systemen erkennbare Abneigung gegenüber führenden Talenten - einfach deshalb, weil nichts bequemer ist als das unverbindliche Mittelmaß, das sich „in Phrasen absterbender Macht personifiziert".
({8}) Die Schlußfolgerung lautet:
Wenn man sich nicht entschließt, statt purer Taktik und falscher Kosmetik mit rotem Puder endlich Politik zu treiben, die einleuchtet und überzeugt, dann kann Brandt - um es auf einen Nenner zu bringen - ein- oder ausladen,
wann und wen er will; er wird immer Hausherr sein!
Ich kann diese Prophetie des „Bayernkurier" und
diese Stellungnahme nur begrüßen und anerkennen.
Wenn Sie das, was der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht hat und auch mit dem Begriff „neue Mitte" sagen wollte, werten wollen, dann könnten wir uns des Urteils von Herbert Kremp bedienen, der sich in zwei beachtlichen Artikeln der „Welt" dazu geäußert hat. Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß die „Welt" - ich meine die „Welt" des Herrn Springer - mit ihrem Chefredakteur Herbert Kremp dieser Koalition nicht nahesteht und im verflossenen Wahlkampf den anderen mehr als vertretbare Wahlhilfe geleistet hat. In zwei Artikeln nimmt Herbert Kremp zu der Regierungserklärung und der Situation, in der wir uns befinden, Stellung, und zwar zunächst in der Nummer vom 22. Januar unter der Überschrift „Brandts neue Mitte bringt die Union in eine Existenzkrise -Jetzt droht der CDU der Hinauswurf aus der Epoche". Wenn ich das in den Überschriften sehe und die Beweisführung zur Kenntnis nehme, habe ich zwar für die Bemerkungen des Herrn Kollegen Strauß Verständnis, doch muß ich sagen: in seiner Darstellung und in seinen Behauptungen fehlt eine echte Alternative.
({9})
Das hat Herbert Kremp in seinem zweiten Artikel vorausgesehen und deshalb die Überschrift gewählt: „Anpassung an Brandts neue Mitte ist für die Union kein Weg". In dem Artikel behandelt er dann den unpräzisen Umgang der CDU mit Prinzipien. Ich finde, das sind erhebliche Vorwürfe, die sich die CDU/CSU gefallen lassen muß, die berechtigt sind und die man auch nicht durch Lautstärke überwinden kann.
({10})
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, was sich Herr Strauß unter einer Regierungserklärung vorstellt. Nach dem, was er ausgeführt hat, nach dem, was er an dieser Regierungserklärung vermißt hat, meint er, eine Regierungserklärung müsse alles enthalten, was in einer Legislaturperiode vom Deutschen Bundestag an Gesetzen und an sonstigen Vorhaben verabschiedet werden soll, und zwar bis in alle Einzelheiten dargestellt. Das kann doch nicht der Sinn einer Regierungserklärung sein. In einer Regierungserklärung kann man nur zum Ausdruck bringen, was man in der kommenden Legislaturperiode zu tun gewillt ist, und das muß man in entsprechenden Erklärungen formulieren. Die Ausführung dieser Erklärungen ist dann eine Sache der Arbeit der Bundesregierung und der Koalition in vier Jahren. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß die Bundesregierung in den nächsten Wochen über den Haushalt 1973 und die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung beraten wird und daß vorher die Verabschiedung des Jahreswirtschaftsberichts erfolgt, dann ist doch nicht zu erwarten, daß in der Regierungserklärung das, was im Jahres174
wirtschaftsbericht über die Konjunkturlage und die Möglichkeiten des Einsatzes des Instrumentariums des Stabilitätsgesetzes ausgeführt wird, vorweggenommen wird, weil das eine Frage der Beratung im Kabinett sein muß. Mit dem Jahreswirtschaftsbericht, der in Kürze vorgelegt wird, werden wir eine Konjunkturdebatte erhalten und werden wir auch zu dem näher Stellung nehmen, was das Jahr 1973 konjunkturpolitisch bringt. Daß man dabei sehr vorsichtig zu Werke gehen muß, ist selbstverständlich. Ehe ein solcher Jahreswirtschaftsbericht nicht vorliegt, kann in einer Regierungserklärung nicht ausgeführt werden, ob z. B. die Erhebung eines Konjunkturzuschlages erforderlich wird. Wie vorsichtig man mit Voraussagen auf diesem Gebiete sein muß, haben uns ja insbesondere die Unternehmer mit ihrem November-Inserat aus dem Jahre 1971 bewiesen, in dem es hieß: Wir können nicht länger schweigen.
({11})
In diesem Inserat wurde angekündigt, daß das Jahr 1972 ein Jahr der Rezession werden würde. Dies wurde in aller Eindeutigkeit mit dem Hinweis angekündigt, daß sich die Wirtschaft noch nie in einer solch ernsten Situation befunden hätte wie zum Zeitpunkt der Abfassung des Inserats im November 1971. Daß das Jahr 1972 völlig anders verlaufen ist, hat man in der Wirtschaft zwar zur Kenntnis genommen, soweit man sich mit den Bilanzen, mit der Frage der Gewinnausschüttung und mit der Festsetzung der Dividenden beschäftigen mußte; aber man hat nicht zur Kenntnis genommen, wie das Jahr 1972 wirklich verläuft, als es sich um den Wahlkampf handelte. Hier erfolgte doch eine sehr massive Unterstützung der Opposition, und der Wille großer Teile der Unternehmerschaft war klar erkennbar, nämlich zu verhindern, daß die Regierung Brandt/Scheel eine Mehrheit erhalten würde, die die Fortsetzung ihrer Politik ermöglichte. Das Eingehen eines solchen Risikos der deutschen Unternehmerschaft im Wahlkampf gehört eigentlich nicht zu den von ihr zu vertretenden Risiken und zeigt im übrigen auch eine beachtliche Instinktlosigkeit.
({12})
Wenn Herr Strauß meint, daß die Regierungserklärung des Jahres 1969 in wesentlichen Punkten nicht erfüllt worden sei, so kann ich nur feststellen, daß er damit in einer nicht sehr seriösen Form zu den Ergebnissen der Regierungsarbeit Stellung nimmt, sondern in dem Zustand der Beurteilung verharrt, der allenfalls im Wahlkampf noch erklärbar war.
Daß sich in diesen drei Jahren einiges getan hat, meine Damen und Herren, hat der Bundeskanzler in der Regierungserklärung vom 18. Januar dieses Jahres sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, indem er feststellte:
Unseren Bürgern - so sehen wir es - geht es besser. Das System der sozialen Sicherung wurde gestärkt. Unsere Wirtschaft blüht, trotz der Sorgen um die Preise. Das ist die Ausgangslage.
- Das ist die Ausgangslage, die wir in der dreijährigen Regierungsarbeit der Vergangenheit geschaffen haben, füge ich hinzu. Es bleibt trotzdem viel zu tun, damit die Bundesrepublik Deutschland sich im friedlichen Wettbewerb gut behaupten und damit sie als demokratischer und sozialer Bundesstaat weiter ausgebaut werden kann.
Wir können feststellen:
- so sagt der Bundeskanzler Der europäische Friede wurde gefestigt, auch durch unsere Arbeit. Dieser Friede ist heute wie gestern der klare Wille unseres Volkes und das Grundelement unserer Interessen. Man darf sogar sagen: Niemals lebte ein deutscher Staat in einer vergleichbar guten Übereinstimmung mit dem freien Geist seiner Bürger, mit seinen Nachbarn und den weltpolitischen Partnern.
({13})
Ich meine, das ist in wenigen Sätzen eine beachtliche Erfolgsbilanz, die anzeigt, daß mit der Regierung Brandt/Scheel nun tatsächlich eine Wende in der deutschen Politik eingetreten ist, daß wir die Freundschaft zu den westlichen Partnern gefestigt haben, daß sich aber auch die Erkenntnis, daß wir ohne eine Verständigung mit dem Osten Frieden in Europa und in Deutschland nicht erreichen werden, in politische Praxis umgesetzt hat.
({14})
Hier haben wir eine mutige Politik in Angriff genommen, und ich kann nur wiederholen, was unser Fraktionsvorsitzender in der Debatte am 18. Januar sagte: Wir können hoffen, daß in zehn Jahren diese Ostverträge eine ähnlich positive Bewertung erfahren, weil sie sich in der Praxis bewährt haben, wie das beim deutsch-französischen Vertrag der Fall ist. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen das Interview sehen und hören können, das Pompidou vor Beginn der Besprechungen in Paris einem deutschen Journalisten im Zweiten Deutschen Fernsehen gegeben hat und dabei auch die Erklärung zur Kenntnis genommen, daß unsere französischen Freunde in voller Übereinstimmung mit uns diese Entspannungspolitik gegenüber dem Osten begrüßen und unterstützen. Das sollten wir auch im Hinblick auf die ersten beiden Tage dieser Woche des Gipfeltreffens in Paris feststellen.
Nun meint Herr Strauß, in der Regierungserklärung sei in wesentlichen Punkten nichts Neues gegenüber 1969 gesagt, seien keine neuen Probleme dargestellt worden, aber es handle sich ja auch um dieselbe Koalition. Wir dürfen doch wohl nicht übersehen, daß wir eine Unterbrechung der Legislaturperiode hatten, daß wir aus einer Pattsituation heraus gezwungen gewesen sind, nach dreijähriger Arbeit Neuwahlen auszuschreiben, daß diese Neuwahlen diese Regierung bestätigt haben, überzeugend bestätigt haben, und daß es sich deswegen ganz natürlicherweise um die Fortsetzung der Regierungsarbeit handelt, so wie sie in der Regierungserklärung vom 30. Oktober 1969 programmiert
worden ist, und daß man in der jetzigen Regierung aus dem neuen Erkenntnisstand die Aufgaben aufgezeigt hat, die wir für die nächsten vier Jahre in Angriff nehmen.
Herr Strauß fragt: Welche Entscheidungen sind denn nun eigentlich erfolgt? Außenpolitisch habe ich schon auf die veränderte Situation hingewiesen. Innenpolitisch haben wir, meine ich, einiges in Bewegung gebracht, was man bereits in den Jahren hätte bewegen sollen, die im Zeichen der Devise standen: Nur keine Experimente! Da waren wir in einer besseren Situation, mit Reformarbeiten zu beginnen, als im Oktober 1969, wo wir mit verschiedenen Hypotheken belastet waren, nicht zuletzt mit der Hypothek der notwendigen Aufwertung der D-Mark mit allen Konsequenzen, die sich dabei auch für unseren Etat ergaben.
Herr Strauß hat von der Preisstabilität gesprochen und anerkannt, daß der Bundeskanzler festgehalten hat, daß selbstverständlich Bemühungen um Preisstabilität auch eine nationale Aufgabe sind. Daß der Bundeskanzler die anderen Elemente, die man beachten muß, wenn man von Preisstabilität spricht, mit aufgeführt hat, ist eine Selbstverständlichkeit,
({15})
weil sich die Verhältnisse nicht zuletzt auch wegen der Römischen Verträge in den vergangenen Jahren währungspolitisch verändert haben und weil eben erwiesen ist, daß das Weltwährungssystem den neuen Aufgaben dieser Gesellschaft nicht mehr gewachsen sein kann.
Herr Strauß hat nach dem 15-Punkte-Programm gefragt. Ich finde, dieses 15-Punkte-Programm, das Maßnahmen gegen Preissteigerungen enthält und das die Bundesregierung bereits am 27. Oktober 1972 verabschiedet hat, hat leider - vielleicht wegen des Wahlkampfes - nicht die Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden, die dieses Programm verdient.
Ich möchte aus der Präambel des Programms einen Absatz zitieren:
Der Kampf gegen die Preissteigerungen muß gegenwärtig vor allem darauf gerichtet sein, den noch immer zu großen monetären Spielraum schrittweise weiter einzugrenzen, expansive Impulse der öffentlichen Haushalte zu vermeiden, das Warenangebot zu erweitern sowie die Wettbewerbsordnung und die Markttransparenz zu verbessern.
Das sind die Grundsätze, von denen das 15-PunkteProgramm ausgeht. Auf Grund dieser Erwägungen hat die Bundesregierung dann die Maßnahmen beschlossen, die in dem 15-Punkte-Programm enthalten sind.
Sie hat beschlossen, vor allen Dingen den vorhandenen und sich weiter abzeichnenden außenwirtschaftlichen Spielraum der Kreditpolitik entsprechend den stabilitäts- und konjunkturpolitischen Erfordernissen zu nutzen. Sie hat festgestellt, daß sie es im Einklang mit ,der Bundesbank stabilitätspolitisch für angebracht hält, die Zunahme der Geldmenge auf die für 1973 zu erwartende Zuwachsrate des nominalen Bruttosozialprodukts zu reduzieren. Herr Kollege Strauß, hätten Sie diese Erklärung der Bundesregierung gelesen, so hätten Sie die Frage hinsichtlich der Zunahme der Geldmenge nicht zu stellen brauchen, denn hier ist eine ganz klare Richtlinie gegeben.
In dem zweiten Punkt ist festgestellt, daß unverzüglich ein Gesetzentwurf zur Verbesserung des kreditpolitischen Instrumentariums der Bundesbank vorbereitet wird. Diesen Gesetzentwurf sollen wir hier im 7. Deutschen Bundestag in Kürze beraten. Es soll insbesondere die Voraussetzung für eine wirksamere Gestaltung der Mindestreservepolitik geschaffen werden.
Drittens ist festgelegt worden, daß anfallende Steuermehreinnahmen zur weiteren Reduzierung der Nettokreditaufnahme Verwendung finden sollen. Das war ein Punkt, der bei den Haushaltsberatungen 1972 eine erhebliche Rolle spielte. Sie wissen, daß wir damals von einem Betrag von 7,2 Milliarden DM ausgingen. Ich kenne den Abschluß nicht, schätze aber, daß er unter 4 Milliarden DM geblieben ist, so daß der Bund hier für die Länder mit gutem Beispiel vorangegangen ist. Ein Appell an Länder und Gemeinden, sich so zu verhalten, wie es der Bund für sich festgelegt hat, ist in ,dem 15-Punkte-Programm ausdrücklich enthalten.
Es werden dann Richtlinien für die Arbeit zum Bundeshaushalt 1973 aufgestellt. Ich will das nur festhalten und darauf verweisen, daß wir uns mit diesen Richtlinien dann befassen können, wenn der Haushalt 1973 vorliegt.
Im fünften Punkt geht es um Erleichterungen der Wareneinfuhr aus Drittländern.
Im sechsten Punkt handelt es sich um nationale Maßnahmen im Bereich der Handels- und Agrarpolitik.
Im siebenten Punkt wird folgendes erklärt:
Im Bereich der Wettbewerbspolitik wird der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen beauftragt, das Bundeskartellamt anzuweisen, die Möglichkeiten des geltenden Kartellrechts besonders hinsichtlich der Preisstabilisierung voll auszuschöpfen. Dazu gehört insbesondere die systematische Überprüfung aller Preisbindungen und Preisempfehlungen mit dem Ziel, mißbräuchlich überhöhte Preise zu beseitigen.
Im achten Punkt wird angeschlossen, daß die Kartellgesetznovelle im neuen Bundestag unverzüglich eingebracht wird - das wird durch die Koalitionsfraktionen geschehen - und daß man bei den Beratungen neue Schwerpunkte setzten will, nämlich die Einführung einer vorbeugenden Fusionskontrolle, die Verschärfung der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und Kooperationserleichterungen für kleinere und mittlere Unternehmen.
Ich darf hinzufügen, daß manche dieser Punkte - es soll bei dieser Aufzählung bleiben; ich will auf
das Zitieren der weiteren sieben Punkte verzichten - dann auch Eingang gefunden haben in die Entschließung des Rates über die zur Inflationsbekämpfung zu ergreifenden Maßnahmen. Wenn ich nur an diesen letzten Punkt anknüpfe, darf ich sagen, daß in der einige Tage später stattgefundenen Sitzung der Finanz- und Wirtschaftsminister und der Kommission folgendes festgestellt worden ist:
Die Mitgliedstaaten werden gebeten, die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften streng anzuwenden, die folgendes betreffen: das Verbot oder die Kontrolle von Preisbindungen der zweiten Hand sowie von Absprachen oder Praktiken über Verkaufsverweigerung.
Es folgen noch andere Angaben, die sich an diese Beschlüsse der Bundesregierung vom 27. Oktober 1972 anlehnen, woraus sich ergibt, daß mit dieser Beschlußfassung ein ganz klares Programm zur Bekämpfung der weiteren nach oben gerichteten Preisentwicklung festgelegt worden ist. Ich kann also die Frage „Was hat die Regierung vor?", die Herr Strauß gestellt hat, zunächst mit dem Hinweis auf das 15-Punkte-Programm beantworten, so wie das auch in der Regierungserklärung geschehen ist.
Ich war etwas überrascht, daß Herr Strauß in seiner Rede über die Situation der Tarifpartner in einer Weise gesprochen hat, die ungewöhnlich war.
({16})
Es muß schon außerordentlich verwundern, wenn gerade Herr Strauß dieser Bundesregierung und dieser Koalition unterstellt, daß die Tarifpartner einfach überfordert würden, wenn man ihnen zumute, lediglich den Status quo zu halten, und daß man das insbesondere den Gewerkschaften nicht zumuten könne. Er hat auf den Abschluß und die Urabstimmung in der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen verwiesen und behauptet, die Gewerkschaftsführung habe die Stimmung an der Basis falsch beurteilt, das sei eine sehr alarmierende Abstimmung und man könne nun wirklich nicht von einem stabilen Klima sprechen.
Was ergibt sich daraus? Daraus ergibt sich doch, daß man nachträglich das Verhalten der Bundesregierung in den vergangenen Jahren bejahen und anerkennen muß, die immer darauf hingewiesen hat, man könne die soziale Marktwirtschaft nicht so verstehen, daß in einer Rezession die Arbeitnehmer auf Erhöhungen ihrer Bezüge verzichten müssen, weil es erst wieder darauf ankommt, die Wirtschaft in Gang zu bringen, die Arbeitsplätze zu sichern, und im Zeichen des Booms ihnen vorgehalten wird: Ihr könnt eure Forderungen nicht in dieser Höhe erheben, weil sie auf die Preise durchschlagen und damit eine schädliche Preisentwicklung unterstützen.
Wir haben für das Jahr 1970 doch den Standpunkt zu Recht eingenommen, daß ein Nachholbedarf befriedigt werden muß, und haben in der Folgezeit mit dafür gesorgt, daß die Tarifpartner den Versuch unternahmen, zu Abschlüssen zu kommen, die sich auch mit den Erfordernissen der Preisstabilität in Übereinstimmung bringen lassen. Wir wissen, daß die Tarifabschlüsse für das Jahr 1973 und die weitere Entwicklung eine ganz besondere
Bedeutung haben. Deswegen ist es nicht böser Wille, wenn die öffentlichen Arbeitgeber Bund, Länder und Gemeinden jetzt in den Tarifverhandlungen auf Schwierigkeiten bei den Tarifpartnern stoßen, sondern es ist, wie Herr Genscher gestern richtig erklärt hat, einfach die Konjunktursituation, die Haushaltslage, die uns zwingt, ein Verhalten an den Tag zu legen, das geeignet ist, zur Erfüllung der Aufgaben beizutragen, die wir uns für das Jahr 1973 gestellt haben.
Nun hat sich Herr Strauß auch mit dem vorsichtigen Hinweis des Herrn Bundeskanzlers bezüglich der Einnahmeseite beschäftigt. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung hierzu lediglich gesagt:
Die Bundesregierung meint, daß man dabei nicht nur auf die Ausgabenseite, sondern in Zukunft auch mehr auf die Einnahmeseite sehen muß.
Ein solcher Hinweis kann doch nun wirklich nicht Gegenstand einer Kritik sein. Der Bundeskanzler und die Bundesregierung können heute noch keine Auskunft darüber geben, welche Veränderungen auf der Einnahmeseite eintreten, weil sich das aus den Beratungen des Bundeshaushalts 1973 und der Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung ergibt sowie aus den Überlegungen und Festlegungen hinsichtlich der Prioritäten, die wir uns in der Aufgabenerfüllung für die nächste Zeit stellen; Steuererhöhungen dann, wenn es notwendig ist, ein Reformprogramm durchzuführen, das sich ohne Steuererhöhungen nicht realisieren läßt.
Man muß sich in Zukunft bei jedem Gesetz, das man einbringen will, auch von seiten des Hohen Hauses eben doch sehr sorgfältig überlegen, ob es mit der finanzwirtschaftlichen Lage des Bundes zu vereinbaren ist. Man kann nicht nur Forderungen erheben und Gesetze vorlegen, die Geld kosten, sondern man muß sich auch überlegen, woher das Geld kommt.
Da haben wir ein sehr klares Beispiel. Herr Kollege Strauß hat einige mich überraschende Ausführungen über die Situation der Länder hinsichtlich der Bundesgesetzgebung gemacht. Ich möchte im Hinblick auf die Bedeutung dieser Frage (loch darauf hinweisen, daß der Bund von seinen Gesamtausgaben rund 15 % Zahlungen an Länder leistet, daß wir also ohne diese Zahlungen an Länder im Jahre 1972 keine Gesamtausgaben von rund 109 Milliarden DM mit einer Steigerung von rund 11 % hätten, sondern nur 92,8 Milliarden DM mit einer Steigerung von 9 N. Wir haben im Jahr 1972 folgende Zahlungen an die Länder geleistet, immer in runden Zahlen: laufende Zuweisungen 9 Milliarden DM, Zuweisungen für Investitionen 5,8 Milliarden DM, Vermögensübertragungen - das ist eine geringe Summe - von 160 Millionen DM und Darlehensgewährungen von rund 1,1 Milliarden DM.
Man muß also, wenn man zu der Situation der Länder Stellung nimmt, auch diese Zahlen berücksichtigen, und man kann nicht ohne weiteres von seiten der Länder so operieren, daß man jetzt schon wieder erklärt: Wir brauchen ab 1. Januar 1974 einen Anteil an der Mehrwertsteuer in Höhe von 40 %.
Das wird insbesondere von Herrn Stoltenberg angekündigt. Eine solche Erhöhung um 5 % würde bedeuten, daß der Bund im Jahre 1974 2,7 Milliarden DM weniger Einnahmen hat und die Länder 2,7 Milliarden DM Einnahmen mehr. Dabei entsteht dann bei uns selbstverständlich eine Deckungslücke, entsteht bei uns ein Loch. Wenn man so verfahren will und dabei die ganze Verantwortung einfach auf den Bund überträgt, stellt sich die Frage nach Steuererhöhungen ganz von selbst. Wenn die Länder darauf hinweisen, daß bei uns auch die Kompetenz dafür vorhanden ist, so muß ein ernsthaftes Gespräch mit den Ländern auch klären, inwieweit eine beim Bund entstehende Deckungslücke geschlossen werden kann, weil sonst der Bund eben in Höhe eines solchen Betrages, z. B. von 2,7 Milliarden DM, eigene Aufgaben nicht erfüllen kann. Das muß man wissen und in der Beurteilung berücksichtigen.
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Wenn von verschiedenen Seiten einfach eine Verdoppelung der Ergänzungsabgabe von 3 auf 6 % vorgeschlagen worden ist, so muß ich sagen, diese 3 % würden eine Mehreinnahme von 1,7 Milliarden DM ergeben. Es fehlte also immer noch 1 Milliarde DM. Nach meiner Auffassung ist damit wirklich keine Lösung gefunden. Ich persönlich bin der Meinung, daß es verfassungsrechtlich nicht möglich ist, die Ergänzungsabgabe einfach bis ins Unendliche fortlaufen zu lassen und sie auch noch zu erhöhen. Im Grundgesetz war früher festgelegt, daß eine Ergänzungsabgabe für eine Ausnahmesituation und für eine begrenzte Zeit erhoben werden kann. Ich glaube daher, daß es sich hier nicht um eine mögliche Lösung handelt.
Ich gebe zu, daß mit der Finanzplanung, wie Herr Kollege Strauß gesagt hat, eine Signalwirkung eintritt, die auch Länder und Gemeinden berührt. Mit dieser Finanzplanung werden wir aber zu gleicher Zeit feststellen können, welche Reformvorhaben sich finanzwirtschaftlich vertreten lassen.
Nun noch ein Wort zur Frage der Steuerreform. Die Regierungserklärung weist darauf hin, daß wir uns für eine zügige Fortsetzung der Reformbemühungen einsetzen werden. Ich meine, was bisher auf diesem Gebiete geleistet worden ist, kann sich durchaus sehen lassen. Herr Kollege Strauß, vergessen Sie doch bitte nicht, daß Sie auch für die Einsetzung der Steuerreformkommission ein ganzes Jahr gebraucht haben. Wenn Sie berücksichtigen, daß die Steuerreformkommission am 30. März 1971 ihr Gutachten vorgelegt hat und was dem vorangegangenen Bundestag inzwischen an Gesetzentwürfen, an \Torlagen zur Steuerreform zugeleitet wurde und wieweit die anderen Arbeiten fortgeschritten sind, dann, meine ich, ist das eine Leistung, auf die man sich im Hinblick auf die Kompliziertheit der ganzen Materie durchaus berufen kann, eine Leistung, die sich sehen läßt.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode das Steueroasengesetz veabschiedet, wir haben den Entwurf einer Abgabenordnung vorgelegt und hoffen, daß der neue Bundestag die bereits geleisteten Arbeiten würdigt, so daß die Abgabenordnung bald
verabschiedet werden kann. Wir haben ein weiteres Steueränderungsgesetz eingebracht, das insbesondere mit der Einheitsbewertung und den hierfür in Frage kommenden Steuern zu tun hat. Wir werden es dem Bundestag neu vorlegen.
Ich gebe gern zu, daß bei einigen Eckwerten auf Grund von Nachprüfungen neue Überlegungen notwendig werden, aber darin liegt kein Vorwurf, kann kein Vorwurf für unsere Tätigkeit und für unsere Arbeit liegen. Wenn wir feststellen, daß z. B. das Anrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer neue soziale Ungerechtigkeiten auslöst, müssen wir darangehen, zu prüfen, wie diese zu unterbinden sind.
Wir müssen auch Rücksicht nehmen auf die Harmonisierungsbestrebungen in der EWG, weil feststeht, daß in den nächsten Monaten Richtlinien von der EWG für die Körperschaftsteuer verabschiedet werden; wir müssen uns also hier EWG-konform verhalten.
Nun zum Kindergeld. Ihnen ist bekannt, welche Konsequenzen eintreten, daß insbesondere auch die Kirchen diese Konsequenzen nicht vertreten können und daß wir einfach gezwungen sind, auf Grund dieses Tatbestandes eine Überprüfung vorzunehmen, und gezwungen sind, bei dieser Überprüfung dann eine Lösung zu finden, die unseren gemeinsamen Vorstellungen gerecht wird.
Ich darf zum Schluß noch einige grundsätzliche Ausführungen machen, auch im Hinblick auf die Ausführungen des Herrn Strauß zu einigen politischen Vorgängen in der Bundesrepublik. Es ist ja so wie im Wahlkampf: wenn man mit der Erörterung von Programmpunkten fertig war, dann blieb immer noch ein Problem übrig, das waren die Jusos. Wenn man sich nicht mehr helfen konnte mit irgendeinem Angriff oder irgendeiner Diffamierung, dann mußten die Jusos herhalten. So war das auch heute bei Herrn Strauß. Es ist eine Sache, die uralt ist. Es ist schon zu Bismarcks Zeiten so gewesen. Es ist, Herr Barzel, ganz interessant: wenn man sich da an den 18. Januar erinnert, dann müßte man ja auch an die Zeit des Sozialistengesetzes denken,
({18})
dann müßte man auch an das denken, was in dieser Zeit gegenüber den Katholiken geschehen ist; das war auch für sie eine beachtliche Kampfperiode. Man könnte an das denken, was Bismarck über die Bedeutung der Sozialdemokraten, hinsichtlich der Sozialgesetzgebung im Bismarckschen Reich, ausführte. Und wegen des Geschichtsbewußtseins: heute haben wir den 24. Januar, also vor 261 Jahren wurde Friedrich der Große geboren.
({19})
- Er wird in der Geschichte so bezeichnet, und ich würde meinen: wenn er in der Geschichte so bezeichnet wird, kann man eine solche Bezeichnung im allgemeinen Sprachgebrauch übernehmen. Aber ich will mit Ihnen gar nicht streiten. Wenn Sie meinen,
er müsse „Friedrich der Kleine" heißen, so soll das Ihre Auffassung sein.
Herr Strauß hat recht, wenn er sinngemäß gesagt hat, daß von uns Deutschen einige Unruhe ausgeht. Aber die Freiheit, unruhig zu sein - das sage ich nicht zuletzt im Hinblick auf den ganzen Komplex der jungen Generation -, verdanken wir doch der neuen staatlichen demokratischen Ordnung. Freiheit ist ein vielschichtiges Phänomen. Sie bedeutet in ihrer letzten Konsequenz die schärfste Herausforderung des einzelnen in der Gemeinschaft. Das ist der Grund, weshalb der freiheitliche Zustand fortwährend in Gefahr schwebt, sich in sein Gegenteil zu verkehren, in Reglementierung oder unnachsichtige Bevormundung. Dazu bedarf es nicht zwangsläufig der offenen, der totalitären Gewalt.
Die Mittel der modernen Zeiten sind subtiler. Alexander Mitscherlich hat in seiner Ansprache anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 1969 folgendes ausgeführt:
Die Zielvorstellung aller Kultur, sobald das nackte physische Elend überwunden ist, besteht in der Milderung der feindseligen und zerstörerischen Formen von Aggression durch die Förderung ausgleichender seelischer Kräfte wie Mitgefühl und Verständnis für Motive des anderen und ähnliches. Dieser Förderung steht die Dummheit im Weg. Ich meine damit nicht die Begabungsdummheit, sondern die anerzogene Dummheit, die sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeigeführte Dummheit. Im Erfolgsfall solcher Erziehung - und er tritt leider massenhaft ein - ersetzt dann bei dem Versuch einer Konfliktlösung mit steigender Erregung das Vorurteil die Arbeit kritischer Reflexion. Vor allem zeigt sich eine verstärkte Unfähigkeit, eigene Probleme unbestechlich zu betrachten. Gerade darin weiß sich das Individuum in seiner Gesellschaft beschützt. Denn der Auftrag lautet dann nicht: Denke, beobachte, wäge ab, sondern: Handle in Konformität so, wie alle handeln! Das kann zu heroischen Leistungen beflügeln, aber auch zu ungeheuerlichen Selbsttäuschungen.
All diese Gefahren und Strömungen konnten auf politischem Gebiet natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Die Institutionen, auf die man sich im Wege der demokratischen Willensbildung einmal geeinigt hat, werden ebenso als vorgegeben hingenommen wie der eigene Standort als Glied im Staat. Der Neuordnung unserer staatlichen Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg ist vielfach nicht ein neues demokratisches Selbstverständnis des Bürgers gefolgt. Hier wird es Zeit, nicht mehr nur vom Verantwortungsprinzip im Staat, sondern ganz klar auch von der Verantwortung des Staates selbst zu sprechen, die darin besteht, die Selbstverantwortung des einzelnen zu stärken oder für diese Selbstverantwortung den notwendigen Raum zu schaffen. Ein solches Ziel läßt sich durch Förderung der politischen Aufklärung und Bildung erreichen, durch Auflösung der repressiven Formen und Vorstellungen von
Recht und Verwaltung, die sich aus dem Obrigkeitsstaat noch in unsere Zeit hinüberretten konnten.
Der Staat, wer immer ihn repräsentieren mag, darf es nicht bei verfassungstreuen Lippenbekenntnissen bewenden lassen. Wenn wir allenthalben an Grenzen in unserer demokratischen Selbstverwirklichung stoßen, so müssen wir uns davor hüten, diese Grenzen als unüberschreitbar, als in irgendeiner Weise der Demokratie vorgegeben anzusehen. In je engerem Rahmen man sie nämlich zu akzeptieren beginnt, desto weiter wird das Feld, in dem sich destruktive Kräfte aller Art von jeder Form der Kontrolle frei fühlen. Deutlich ausgesprochen: wer Demokratie nur in dem Maße bejaht, in dem er mit ihr fertig wird, gibt seine Hand erst zu ihrer Verwässerung, dann zu ihrer Zerstörung. Hier setzt die ungeteilte Verantwortung eines um Glaubwürdigkeit ringenden Staates ein, der Demokratie nicht bloß dekretieren, sondern sie von Grund auf schaffen und bewahren will. Hier zeigt sich, daß man den Bürger noch lange nicht zur Selbstverantwortung führt, indem man sie einfach anempfiehlt oder abfordert und davon ausgeht jedenfalls aber ihn glauben macht -, er sei ohne weiteres fähig und ohne Bedingung verpflichtet, selbstverantwortlich zu handeln.
Das alles trifft nämlich nur unter zwei Prämissen zu, die untereinander eng verbunden sind: erstens, daß der Staat seine vom Volk delegierte eigene Verantwortung vorbildlich erfüllt, und zweitens, daß er dem einzelnen wirklich den Raum zu schöpferischer, existentieller wie politischer Selbstverwirklichung öffnet und energisch offenhält. Das ist - darüber müssen wir uns klar sein - eine Forderung, mit der nicht nur der moderne Verwaltungsstaat, sondern ebenso die hoch- und nachindustrielle Gesellschaft unter dem Einfluß der manipulierten Bedürfnisse fast zwangsläufig in Konflikt geraten. Das stellt jeden, der Verantwortung für das Ganze trägt - und dieser Kreis kann nicht weit genug gezogen werden -, vor eine sehr schwere, ,die Zukunft der Demokratie wesentlich mitentscheidende und eben darum nach dem Einsatz unserer besten Kräfte verlangende Aufgabe.
Diese Bundesregierung - das ist unsere Überzeugung - wird sie lösen helfen.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Flach. - Sie können die Redezeit von 40 Minuten voll ausnutzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die, wie ich gern einräume, teilweise ganz amüsanten, feuilletonistischen Anmerkungen des Herrn Kollegen Strauß zur Regierungserklärung ebenso wie die daraus folgende, leider ein wenig zu lang geratene Vorlesung ausgewählter Kapitel aus den besten Wahlkampfreden des Jahres 1972, sowie die dann anschließende Verkündung der zehn Gebote der CDU /CSU zeigen nur, daß die Opposition dieses Hauses noch keine richtige Einstellung zu dem Ereignis des 19. November 1972, zu ihrer
eigenen Rolle und zu dieser neuen Bundesregierung gefunden hat;
({0})
das - Herr Kollege Katzer - kommt ja auch darin zum Ausdruck, daß die Oppositionsbildung wesentlich schwieriger war als die Regierungsbildung.
({1})
Ich sagte, daß diese etwas glossenhaften Anmerkungen sicherlich zur Belebung der Stimmung in diesem Hause beigetragen haben. Nur in einem Punkt halte ich sie nicht für gut. Ich glaube, das Wort von den guten Nachbarn verträgt eine solche heitere Glossierung nicht. Dafür waren wir zu lange schlechte Nachbarn in Europa,
({2})
und dafür haben wir einen zu langen und schmerzhaften Kampf in der Bundesrepublik ausgetragen, um endlich einmal Übereinstimmung mit den Nachbarn auf allen Seiten zu erzielen und zu einer Mindestübereinstimmung mit den Erfordernissen der Weltpolitik zu kommen.
Weiter habe ich die Randbemerkung nicht verstanden, daß Sie die Gewerkschaftsführung der IC Metall mehr oder minder deswegen tadeln, weil sie wegen der Gesamtverantwortung für die Stabilität in diesem Lande auch Schwierigkeiten mit der Basis riskiert hat. Meine Damen und Herren, wir sollten ihr dafür dankbar sein, daß hier selbst Schwierigkeiten in Kauf genommen werden, um das Ganze über Partikularinteressen und in einer bestimmten Situation auch einmal über die eine oder andere Stimmung in den eigenen Kreisen zu stellen.
({3})
Herr Kollege Strauß warnte denn davor, gesellschaftliche Strukturen in diesem Land zu verändern. Meine Damen und Herren, es kommt nicht darauf an, die gesellschaftlichen Strukturen starr zu halten, sondern darauf, sie so zu verändern, daß der Freiheitsgehalt unseres Systems gewahrt und ausgebaut werden kann.
({4})
Gesellschaftspolitischer Stillstand würde bedeuten, daß wir auf lange Sicht eben jene Klassenkämpfe und Gesellschaftskonflikte erhalten würden, die dieses Land genauso in Unordnung bringen würden, wie es leider auch in einer Reihe anderer Länder ist. Sozialliberale Reformpolitik ist doch die eigentliche Alternative zum Klassenkampf in dieser Gesellschaft, zum Klassenkampf von oben und von unten.
({5})
Es fehlte natürlich auch nicht der Griff in die Gruselkammer des Wahlkampfes, an der Beschwörung der Konflikte mit der Jugend, die wir hier, wie ich gern zugebe, sogar in beiden Koalitionsparteien haben. Meine Damen und Herren, bitte schlachten Sie das nicht aus, und bitte tadeln Sie nicht, daß wir uns hier dem Versuch, ja, unserer Pflicht stellen, die rebellierende und protestierende Jugend, soweit das möglich ist, in diesen Staat und seine Parteien zu integrieren.
({6})
Dieses ist eine schwierige Aufgabe, dieses ist ein teilweise widerspruchsvoller Prozeß, wie ich gern zugebe; aber wir würden vor dem Auftrag, der uns gestellt ist, versagen, wenn wir uns diesem Prozeß nicht stellen würden.
({7})
Nun, meine Damen und Herren, eine Bemerkung zu unserem politischen Koordinatensystem. Sie erscheint mir eigentlich die ganze Tiefe der letzten und der gegenwärtigen Auseinandersetzung deutlich zu machen. Die Mitte dieser Gesellschaft hat sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts gewandelt. Und wer in der alten Mitte stehengeblieben ist, der steht heute auf der konservativen Seite.
({8})
Es war notwendig, dieser neuen gesellschaftlichen Mitte sozusagen politischen Ausdruck zu verleihen, ihr sozusagen eine politische Heimat zu geben. Wenn das nicht möglich gewesen wäre, würden wir uns noch in ganz anderen politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten befinden.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Barzel hat zu Beginn der Aussprache in der letzten Woche den Versuch gemacht, dieser Debatte eine historische Dimension zu geben.
({9})
Dieser Versuch ist, glaube ich, nicht ganz geglückt, weil es ja sicher gerade im Interesse der beschworenen guten Nachbarschaft nicht möglich gewesen wäre, am Vorabend des Besuches in Paris hier eine kleine Reichsgründungsfeier abzuhalten, meine Damen und Herren.
({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Barzel?
Herr Kollege Flach, vielleicht können wir das durch eine Zwischenfrage erledigen. Es gab da auch eine Polemik. Darf ich Sie fragen, ob ihnen bekannt ist, daß Konrad Adenauer dieses Vertragswerk, die Aussöhnung und die Freundschaft mit Frankreich, auf einer Basis begründet hat, die vom Fortbestand des Deutschen Reiches ausgeht, daß also hier ein Widerspruch nicht existiert?
Ich bestreite überhaupt nicht, daß Konrad Adenauer diesen Vertrag begründet und abgeschlossen hat; aber ganz sicher mit dem not180
wendigen europäischen Taktgefühl, das wir in jeder Situation wahren sollten.
({0})
Ich möchte mich dieser historischen Diskussion durchaus stellen. Die Vorväter der politischen Kräfte, die dieses Haus im wesentlichen bestimmen und diese Regierung tragen, haben ja bereits ihren Frieden mit dem Bismarck-Reich gemacht, Herr Kollege Barzel.
({1})
Ich scheue mich nicht auszusprechen, daß die politischen Kräfte, die diese Regierung tragen, ihre historischen Wurzeln aber etwas stärker im Jahre 1848 als im Jahre 1871 sehen.
({2})
Wir müssen doch die Reichsgründung in ihrer ganzen Problematik auch für die innere Entwicklung unseres Volkes sehen.
({3})
In einem Punkte allerdings würde ich wünschen, daß Sie etwas stärker an Bismarck anknüpften, nämlich an sein Beispiel, mit dem er nach der Reichsgründung gezeigt hat, wie man eine Friedens-und Ausgleichs- und europäische Entspannungspolitik aus konservativer Grundhaltung heraus durchaus betreiben kann.
({4})
Wir müssen dann natürlich auch jenes Reich sehen, in dem die Sozialisten verfolgt wurden - Kollege Möller hat das angeschnitten -, in dem der Kulturkampf vom Zaun gebrochen wurde und in dem die Liberalen zerbrochen wurden, wie ich hinzufügen möchte. In dem Augenblick, in dem Bismarck das Bündnis mit den Nationalliberalen aufkündigte, entstand in Deutschland als bestimmendes Element jene gesellschaftliche Machtkonzentration konservativer Kräfte, die die Dinge bis beinnahe vor einigen Jahren in diesem Land bestimmt haben - nicht immer zum Nutzen unseres Volkes.
({5})
Die einzige gesellschaftliche und politische Alternative zu diesen Kräfteverhältnissen hat Friedrich Naumann schon vor einem halben Jahrhundert aufgezeigt, nämlich in dem Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Liberalen. Wenn wir dieser Alternative - spät - gefolgt sind, erfüllen wir damit auch ein Vermächtnis dieses großen Liberalen.
Der Vorwurf der Geschichtslosigkeit wurde erhoben; aber Geschichte bedeutet nicht nur Nationalgeschichte, nicht nur deutsche Geschichte, sondern auch Geschichte der Deutschen, und in der deutschen historischen Tradition nimmt - so glaube ich - die Geschichte des deutschen Liberalismus als eines Bürgerkampfes um Freiheitsrechte einen ebenso hervorragenden Platz ein wie die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Insofern befinden wir uns hier nicht in einer Periode der Geschichtslosigkeit, sondern gerade in einer konsequenten Erfüllung historischer Kräfte, die Gott sei dank auch in unserem Volke angelegt waren, das sich nicht nur mit Blut und Eisen historisch in die europäische Landschaft eingegraben hat.
({6})
So ist vermutlich auch zu erklären, daß „sozialliberal" in den letzten Jahren zu einer Art politischen Markenzeichens geworden ist, und, meine Damen und Herren, wir bekennen uns hier zu der Dialektik einer solchen Koalition, die - wie im Grunde die Dialektik aller Koalitionen - darin besteht, daß man fairer Partner und Konkurrent gleichzeitig sein muß und sein kann. Die Aufgabe dieser Koalition wird darin bestehen, die gemeinsamen Leistungen so zu vollbringen, daß beides möglich ist; denn das Jahr 1972 hat etwas bisher in der Geschichte unserer Parteien Ungewöhnliches gezeigt, daß nämlich beide Partner einer Koalition am Ende beim Wähler von dieser gemeinsamen Leistung profitieren können. Das ist eine bisher nicht dagewesene Erscheinung; bisher ist immer einer auf Kosten des anderen zum Zuge gekommen.
Diese Notwendigkeit der gemeinsamen Leistung schafft die Verpflichtung, daß man - jeder einzelne - die Grenzen dessen erkennt, was durchsetzbar ist, und daß man eben das gemeinsam durchsetzt, wofür man gemeinsame Grundlagen findet. Das ist wesentlich mehr, als es manchmal aussieht, meine Damen und Herren. Die spezifische liberale Rolle in einem solchen Bündnis besteht darin, daß die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen in einer Form erfolgen, durch die der Grad an persönlicher Freiheit, den der Liberalismus unserer Gesellschaft erkämpft hat, nicht - auch nicht für eine Zwischenzeit - abnimmt, sondern weiter ausgebaut werden kann.
Nun darf ich einmal den Versuch unternehmen - ich bitte, mir das nicht übelzunehmen -, einen Beitrag zur Rolle der Opposition, wie sie sich entwickelt hat, zu leisten. Ich glaube -- ich meine das nicht polemisch -, daß das Ergebnis vom 19. November am Ende darin begründet liegt, daß Sie Ihre Identität als christliche Partei verloren haben, meine Damen und Herren.
({7})
Ich will mir erlauben, das in wenigen Punkten zu begründen. Es ist nicht möglich, daß die christliche Partei in einem Land den Hauptwiderstand gegen eine Friedens- und Versöhnungspolitik trägt und leistet.
({8})
Es ist selbstverständlich legitim, gegen eine solche Politik Argumente und Einwände vorzubringen. Da gibt es machtpolitische Argumente, da gibt es nationalpolitische Argumente, da gibt es vielleicht auch sicherheitspolitische Argumente. Alle diese sind zweitrangig gegenüber dem christlichen Versöhnungsgebot, meine Damen und Herren!
({9})
- Ich bin überhaupt kein Theologe. - Sie werden aus dieser Situation nur herauskommen, wenn Sie an die Wurzel Ihrer Probleme herangehen. Ich will Ihnen ja nur Lebenshilfe geben
({10})
aus der Erfahrung eines Mannes, der ein wenig Erfahrung darin hat, Parteien, die am Boden liegen, wieder aufzurichten.
({11})
Das zweite ist - wohl auch in Übereinstimmung mit Ihrer theologischen Auffassung -: Es kann doch nicht die christliche Partei in einem Lande Motor der Verschärfung innerer Auseinandersetzungen sein. Sie muß doch immer wieder versuchen, das Versöhnende und Überbrückende herbeizuführen. Sie kann doch nicht in Verfolg einer Geisteshaltung, die die Angst aus dem Leben verdrängen will, Wahlkämpfe und politische Auseinandersetzungen durch Beschwörung von Angst führen.
({12})
Ich darf noch einen dritten Punkt nennen. Das war die beinahe erschreckende Erfahrung dieses Wahlkampfes: Hier wurde geredet von Deutschland, von den Menschen, von der Gerechtigkeit, von dem Versuch, wieder zueinander zu kommen; die
christliche Partei in diesem Lande redete vorwiegend vom Geld.
({13})
Das ist eine Entfernung von den Grundlagen einer solchen Politik, und darin liegt Ihre eigentliche Misere. Sie sollten sich zu dem bekennen, was Sie sind: die konservative Kraft in diesem Lande.
({14}) Das meine ich nicht abwertend.
({15})
Alle großen Demokratien haben starke konservative Kräfte mit der ganzen Palette einer solchen Politik. Es gibt ja Erzkonservative, es gibt auch SozialKonservative und Freikonservative.
({16})
Dann würden alle drei Parteien auch den historischen Überlieferungen in diesem Lande wieder entsprechen.
Auf jeden Fall sehe ich eine Gefahr darin, wenn Sie nicht, wie Herbert Kremp in der „Welt" glaubt, aus der Epoche verdrängt werden, sondern aus der Epoche freiwillig hinausmarschieren. Die ersten Frontstellungen, die jetzt hier wieder auftauchen,
({17})
und die ersten Bemerkungen zum Grundvertrag zeigen doch, daß Sie auf dem besten Wege dazu sind.
Ich sage das ehrlich aus einer Sorge: Es könnte eines Tages dadurch zu einer derartigen Ungleichgewichtigkeit im deutschen Parteiengefüge kommen, die auch uns, selbst wenn wir dabei weiter gewinnen würden, keine Freude bereiten würde.
({18})
- Ich fürchte, Sie werden sich noch oft unangenehme Wahrheiten anhören müssen, wenn Sie aus der Lage herauskommen wollen, in der Sie sich im Augenblick befinden, und wenn das ganze deutsche Parteiengefüge wieder freier und offener werden soll.
({19})
Ich will zum Schluß kommen. Wir haben eine klare Pflicht gegenüber dem Wählerwillen vom 19. November. Wir haben eine klare Mehrheit, und wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß hier zum Ausdruck kommt, daß gesamtpolitische Entscheidungen gefallen sind und daß man die einzelnen und Partikularinteressen diesen gesamtpolitischen Entscheidungen unterordnen muß. Wenn ich manchmal höre, wie Verbände und Interessenten gegenüber den gewählten Vertretern der Politik sprechen, dann glaube ich, das ist nicht ganz der richtige Ton. Wir sollten auch zum Ausdruck bringen, daß jede Forderung an den Staat am Ende ein Griff in die Tasche des Nachbarn ist. Wir müssen also den Versuch machen, die 1969 begonnene sozialliberale Reformpolitik nach innen und nach außen um weitere Etappen vorwärtszubringen. Dies ist mangels einer Alternative, die bisher nicht geboten worden ist, die einzige Möglichkeit, dieses Land im Sinne einer gesellschaftlichen, friedlichen Entwicklung vorwärtszubringen. Wir Freien Demokraten werden der Bundesregierung ein guter Partner sein, in guten und in schlechten Tagen.
({20})
Ich gratuliere dem Herrn Abgeordneten Flach zu seiner Jungfernrede.
({0})
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Vogel.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Strauß ist ein vielseitiger Mann. Wenn er etwas sagt oder tut, verfolgt er meistens mehrere Zwecke. Auch bei seinem heutigen Diskussionsbeitrag hat er sicherlich eine ganze Reihe von Zwecken verfolgt.
Er wollte zunächst einmal zeigen, wie ein Oppositionsführer zu einer Regierungserklärung eigentlich Stellung nehmen sollte.
({0})
Er wollte deutlich machen - und Herr Strauß versteckt so etwas nicht -, wie man so etwas eigentlich macht.
Dann gab es eine Passage, in der er der IG Metall Mut zugesprochen hat und sie zu einer härteren Gangart bewegen wollte. Das war eindrucksvoll.
({1})
Sie haben, Herr Strauß, von Ihren Beitrittsformularen gesprochen. Ich bin im Zweifel, ob Herr Loderer Ihnen sein Beitrittsformular jetzt schon offeriert.
({2})
Schließlich sollte bei dieser Rede sicherlich auch noch etwas für Bayern abfallen, für den Hausgebrauch sozusagen. Nun, Herr Strauß, es ist eine Frage des Stils und des Geschmacks, ob wir künftig die bayerischen Auseinandersetzungen in diesem Hause führen wollen.
({3})
Ich meine, es wäre besser - ({4})
- Meine Damen und Herren, es hat ja noch gar nicht begonnen!
({5})
Ich meine, es wäre besser, wenn wir bayerische Auseinandersetzungen in Bayern führten.
({6})
Aber wenn Sie sie hier führen wollen, Herr Strauß, bin ich jederzeit dazu bereit. Es ist ein Gebot der Höflichkeit - und insbesondere ein Gebot der bayerischen Höflichkeit , keine Antwort schuldig zu bleiben,
({7})
etwa nach dem Motto, Herr Strauß: Will der Herr Strauß ein Tänzchen wohl wagen, soll er's nur sagen.
Im übrigen - wie die Reaktion zeigt - kann ein bißchen Farbe ja nicht schaden.
Erstens. Ich freue mich, Herr Strauß, daß Sie mich jetzt zur Kenntnis nehmen. Noch im Oktober letzten Jahres haben Sie es abgelehnt, im Fernsehen mit mir zu diskutieren,
({8})
da ich ein weisungsgebundener Funktionär einer nachgeordneten Parteigliederung sei.
({9})
Da ich nicht annehme, Herr Strauß, daß Sie inzwischen auf diese Ebene hinabgestiegen sind, habe ich mich offenbar entwickelt.
({10})
Im übrigen lassen Sie sich ja in letzter Zeit sogar
gelegentlich mit mir für die Zeitungen fotografieren.
Sie reden von Wahllandsmann oder Wahlbayer. Dazu kann ich nur sagen, daß das zum einen schon
verhältnismäßig lange her ist und daß es zum anderen noch andere angesehene Bayern geben soll, die außerhalb Bayerns geboren sind.
({11})
Zweitens. Ihr Interesse an innerparteilichen Auseinandersetzungen ist bekannt und verständlich. Man saugt überall Honig, wo dazu die Möglichkeit besteht. Das Interesse, das Sie an den Münchener Auseinandersetzungen zeigen, geht allerdings weit über das übliche Maß hinaus. Sie lassen sich das Interesse ja etwas kosten, z. B. einen sicheren Listenplatz für einen angeblichen Sachverständigen auf diesem Gebiet, mit dem Sie noch viel Freude haben werden.
({12})
- Deswegen, Herr Kollege Strauß, kann ich Ihnen ja so viel Glück wünschen.
({13})
Aber ich will Sie nicht hindern, nach mir Erfahrungen zu machen, die ich schon habe. Das gibt es auch auf anderen Gebieten.
Aber auch gesteigertes Interesse, Herr Strauß, entbindet nicht von der Pflicht zur Wahrheit. Warum verschweigen Sie bei Ihrer Vietnam-Darstellung, daß ich schon am 29. Dezember den Krieg in Südostasien als solchen verurteilt habe? Warum erwähnen Sie nicht, daß dies auch Herr Schöfberger auf der Kundgebung getan hat? Sehen Sie, was Sie für eine ungeheuer solidarisierende Wirkung haben, daß ich diese Äußerung von Herrn Schöfberger hier mitteile und unterstreiche.
({14})
Zur Verurteilung des Bombenkrieges bekenne ich mich im übrigen ausdrücklich auch hier, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Unverhältnismäßigkeit. Ich bin mit dieser Verurteilung in bester Gesellschaft, etwa in der des Kardinals Alfrink. Aber Berufung auf kirchliche Persönlichkeiten und Äußerungen überzeugen Sie wahrscheinlich in jüngster Zeit weniger als vor 10 oder 15 Jahren.
({15})
Was im übrigen meine Haltung in meiner Partei angeht, so habe ich mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen. Diese Haltung -- ({16})
Ich bitte um Ruhe für den Redner.
Meine Damen und Herren, ich scheine mich nach dieser Reaktion ja auf
der richtigen Schiene zu bewegen. Was meine Haltung in meiner Partei angeht, so habe ich mich vor Ihnen, Herr Strauß, nicht zu rechtfertigen.
({0})
Sie ist unverändert, liegt völlig auf der Linie des Wahlprogramms und der Regierungserklärung und wird von einer stabilen und breiten Mehrheit meines Landesverbandes getragen.
({1})
Drittens. Noch ein ernstes Wort, Herr Strauß: Sie brauchen mich über die Gefahren des Extremismus nicht zu belehren. Ich habe mich gegen das gedankliche Spiel mit der Gewalt mit Wort und Tat zur Wehr gesetzt, als andere noch schwiegen, weil sie sich von dieser Debatte eine Schwächung der fortschrittlichen Kräfte erhofften. Aber eines muß ich Ihnen sagen: Allzu oft waren Sie ein Alibi der Extremisten,
({2})
allzu oft waren Sie - und jetzt zitiere ich nicht Lenin, sondern ich sage: - ein nützlicher Lieferant von Argumenten, nicht so sehr mit Ihren Reden hier in Bonn, aber mit den Reden in Vilshofen und in Tuntenhausen und mit Ihren Artikeln in einem Wochenblatt, das ich nicht zu nennen brauche.
({3})
Herr Strauß, es gibt Feuerwehrleute, sagt man bei uns in Bayern, die zündeln, um dann zu zeigen, was sie für famose Feuerwehrleute sind.
({4})
Dabei wollen wir es für heute bewenden lassen.
({5})
- Das glaube ich schon, daß Ihnen das angenehm ist. Die nächste Runde findet dann bei der Verabschiedung des Rundfunkartikels der bayerischen Verfassung statt, die ja gezeigt hat, daß Sie, Herr Strauß, auch anders können,
({6})
nämlich das akzeptieren, wogegen Sie zunächst bitter polemisiert haben, und sich einer Auffassung anschließen, die ich schon lange vertreten habe.
({7})
Das gibt mir Hoffnung in all den Fragen, die heute noch kontrovers geblieben sind.
({8})
Der Jungfernreden von Bundesministern wird üblicherweise nicht gedacht.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich habe es, als ich hier meine erste Rede zu halten hatte, als sehr freundlich, wohltuend und als guten Stil empfunden, daß man für seine Jungfernrede belobigt wurde. Ein solches Lob würde ich auch dem Kollegen Flach gegenüber gerne aussprechen. Ich wäre gern dazu bereit, über das Geschichtsverständnis und andere Dinge zu sprechen. Eines muß ich allerdings bei dieser Freude über Ihre Jungfernrede gleich hinzufügen, Herr Flach. Wir, eine Reihe von Politikern, professionellen und Amateurpolitikern, haben uns in den letzten Jahren immer wieder darum bemüht, uns auf dem Boden der gemeinsamen Zielsetzung für Frieden und Versöhnung darüber auseinanderzusetzen, welches denn der richtige Weg für dieses unzweifelbar gemeinsame Ziel sei. Ich wünschte mir, Herr Flach, daß Sie solchen Gesprächen einmal als Gast oder als Teilnehmer beiwohnten. Dann wäre ich bereit, mich mit Ihnen über die Bemerkung auseinanderzusetzen, die Sie in diesem Zusammenhang an die Adresse der CDU/CSU gemacht haben. So bin ich aber nicht dazu bereit, denn das, was Sie hier gesagt haben, hat mich allzusehr an jene Anzeige im baden-württembergischen Wahlkampf erinnert, in der es hieß, Christ sein und gegen Brandt sein seien zwei unvereinbare Größen.
So können wir uns nicht miteinander unterhalten.
({0})
Zur Einstandsrede des Ministers Vogel brauche ich nicht viel zu sagen.
({1})
Erstens steht es mir von der Form her nicht zu, denn ich bin kein Bayer, und zweitens habe ich von der Sache her keine Kompetenz, denn ich habe ja hier die Aufgabe, über die Regierungserklärung zu sprechen.
({2})
Nun also zur Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler. Manches in dieser Erklärung klingt gut. Wir werden auch gar nicht zögern, Ihnen und der Öffentlichkeit deutlich zu sagen, in welchen Punkten wir mit Ihnen übereinstimmen. Lassen Sie mich zunächst auf eine Ihrer speziellen, scheinbar mehr am Rande liegenden Anregungen eingehen, die bisher wenig beachtet worden ist und die ich persönlich für sehr gut halte. Ich meine die Deutsche Nationalstiftung. Damit könnte in der Tat die großartige und lebendige Sammlung von Kunst und Wissenschaft, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, endlich geistig und materiell auf einen breiteren Boden gestellt werden, worum wir uns in der letzten Legislaturperiode in einem Ausschuß dieses Hauses ja auch intensiv und gemeinsam bemüht haben. Die Deutsche Nationalstiftung kann nach innen und außen, nach Ost und West Impulse geben. Sie kann in der neuen Dimension deutscher Politik, von der Sie, Herr Bundeskanzler etwa im Zusammenhang mit einem Eintritt in die Vereinten Nationen gesprochen haben, von großer Bedeutung sein. Sie kann einen deutschen Beitrag und Standort für
jenes Europa bezeichnen, welches politisch eines Tages über die Vaterländer hinauswachsen muß.
Nun sagten Sie im Zusammenhang mit der Stiftung, für alle Kunst sei der Weg in die Politik kürzer geworden. Das ist auch eine wohlklingende Formel. Aber natürlich kann sie richtig oder falsch sein, je nachdem, was damit gemeint ist. Ich bin mit Ihnen davon überzeugt, daß wir die Kunst als kritische Begleiterin brauchen. Noch wichtiger ist, wie ich meine, ihre positive Aufgabe, dem Gültigen, dem Schönen, dem Menschlichen in einer Zeit Ausdruck zu verleihen, in der sich die Frage nach den Werten immer wieder so unüberhörbar stellt - eine Frage, die wir ja mit den Mitteln unseres Verstandes und mit den Fortschritten unserer Wissenschaft eben nicht zu beantworten in der Lage sind. Mit einem Wort: Wir brauchen die Kunst dort, wo sie uns mit ihren eigenen Gaben hilft.
Natürlich kann ihr geistiger Beitrag in hohem Maß auch politische Bedeutung haben. Freilich, wo Künstler in einem engeren Sinn parteipolitisches Engagement suchen - und warum sollten sie das nicht tun? -, gelten für sie und für ihre Wirkungen keine Startvorteile gegenüber irgendeinem anderen Bürger. Denn einfach das Prestige, das man durch Namen und durch Kunst erworben hat, für Wählerstimmen einzusetzen, kann auf die Dauer weder der Kunst noch der Politik guttun.
({3})
Noch eine Anmerkung am Rande, Herr Bundeskanzler. Da Sie Kunst und Medien in einem Atem, sogar in einem Satz zusammengefaßt haben, muß ich hinzufügen: Es gibt namhafte Vertreter dieser Sparte, für die, wie ich meine, Sie den Weg in die Politik allzusehr abkürzen. Es ist kein Trost, sondern eher eine Bestätigung meiner Sorge, daß inzwischen für andere Vertreter derselben Sparte der Weg wieder aus der Politik heraus noch kürzer geworden ist.
({4})
Nicht wahr, „rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln" - aber Politik und Kartoffeln, das ist zweierlei.
({5})
Aber ich komme nun zu den eigentlichen Leitlinien der Regierungserklärung: Bewährung und Freiheit im Alltag, Lebensqualität als Ziel der Reformpolitik, Frieden als Lebenshaltung, nicht als Zustand. Wieder geniere ich mich gar nicht, Herr Bundeskanzler, zu sagen: das klingt mir gut. Nur interessiere ich mich leidenschaftlich für die Frage: Was bedeutet das konkret?
({6})
Welche Vorstellungswelt steht dahinter, und welche Konsequenzen werden Sie für Ihre Politik daraus zu ziehen bereit und in der Lage sein?
Das erinnert mich zunächst an Ihre Regierungserklärung von 1969. Damals haben Sie den Beginn eines Zeitalters der Reformen angekündigt. Auch damals sprachen Sie von Freiheit und vom Menschen. Aber bei näherem Hinsehen zeigte sich doch
eines sehr deutlich: Ihre Reformmaßnahmen zielten auf Reformmaßnahmen der öffentlichen Hand, auf ein Reformverhalten des Kollektivs. Dem Bürger blieben dabei nur zwei Rollen: Er durfte einerseits die Ansprüche für höhere Leistungen an die öffentliche Hand stellen, und er war zweitens gedacht als ein Objekt kollektiver Beglückungsmaßnahmen. Aber sein eigenes Bewußtsein, sein Verhalten, seine eigene Verantwortung kamen als Gegenstand des neuen Reformdenkens damals gar nicht vor.
Nun haben Sie in der neuen Regierungserklärung ein paar Begriffe eingeführt. Wir hören etwas vom citizen, von der Solidarität mit den Schwachen, vom Mitleiden und vorn vitalen Bürgergeist. Dafür sind Sie nun, Herr Bundeskanzler, von einigen Publizisten ein wenig kritisiert worden: Das sei Politphilosophie oder Zuckerguß, das seien aber keine politischen Richtlinien. So ähnlich war das zu lesen.
Nein, ich teile diese kritischen Bedenken gegenüber Ihren Vokabeln durchaus nicht. Ich begrüße es ganz im Gegenteil, wenn ein Regierungschef ausdrücklich über menschliche Werte dieser Art spricht. Das habe ich, wie Sie wissen, Ihnen ja auch schon nach Ihrer Dortmunder Parteitagsrede geschrieben. Ich finde es auch viel besser, wir sprechen im Bundestag darüber miteinander als nur jeder für sich in seinen Parteigremien. Denn hier müssen dann ja auch die Karten auf den Tisch. Wer es hier als verantwortlicher Politiker unternimmt, über solche Dinge zu reden, muß dem bloßen Wunsch die politische Konsequenz, muß dem Wort die Tat folgen lassen. Denn über konkrete Streitpunkte im Parlament mögen wir Politiker immer wieder mit der einen oder anderen Gummiformel hinwegkommen. Aber eines dürfen wir alle miteinander nicht werden, nämlich Laienprediger für Leerformeln.
({7})
Das wäre schlimm für uns, das wäre schlimm für das Parlament, und am schlimmsten wäre es für die menschlichen Werte, über die wir sprechen wollen. Über die Kraft einer Regierung jedenfalls wird nicht der Wohlklang ihrer moralischen Appelle entscheiden, sondern die politische Wirkung, die sie bewußt und gewollt erzielen.
Ich nenne einige Beispiele. Sie wollen Freiheit im Alltag bewähren. Kampf und Freiheit - es war heute schon mehrfach davon die Rede - war in der Geschichte der Demokratie bisher vor allem ein Kampf gegen menschenunwürdige Abhängigkeit und gegen Ungerechtigkeit. Insoweit hatten Freiheit und Gleichheit dasselbe Ziel. Heute aber heißt Freiheit im Alltag vor allem, Spielraum gewinnen, wählen und entscheiden können, verantworten. Das aber bedeutet, daß oft vermehrte Gleichheit nicht mehr, sondern gerade weniger Freiheit bedeutet.
({8})
Freiheit wird insofern zu einem Kampf gegen die Gleichmacherei. Sind Sie dazu bereit, Herr Bundeskanzler? Meine Frage stelle ich deshalb, weil ich meine, bei der flexiblen Altersgrenze waren Sie es nicht;
({9})
denn Ihre Lösung führte eben nicht zur Flexibilität, zur Freiheit der Wahl zwischen vorgezogener Rente und honorierter Weiterarbeit in einer Bandbreite von mehreren Jahren,
({10})
sondern wir werden es alle miteinander erleben, daß diese Lösung im praktischen Ergebnis einfach nur das Rentenalter herabsetzt. Das aber ist nicht Freiheit, sondern Gleichheit im Alter,
({11})
und zwar Gleichheit unter Verzicht auf eine sehr wohl mögliche und eine sozial sehr bedeutsame Freiheit.
Ein anderes Beispiel der Freiheitsbewährung; ich meine die Mitverantwortung an den Hochschulen. Auch ,darüber ist hier schon mehrfach gesprochen worden. Heute sprechen Sie, Herr Bundeskanzler, von der Freiheit der Wissenschaft und von den Gefahren falscher Demokratisierung an der Universität. Nun, Ihre Regierung hatte die klare Verankerung dieser Grundsätze im Hochschulrahmengesetz in der letzten Legislaturperiode noch nicht fertiggebracht. Heute bitten Sie die Kräfte der Reform an den Universitäten um Mut. Wissen Sie, Herr Bundeskanzler, wie viele Politikerbitten in den Ohren gerade der Reformkräfte nur noch wie Hohn klingen? Denn es war nicht der mangelnde Mut der Reformkräfte, der zur Radikalisierung weiter Hochschulbereiche geführt hat, sondern es waren weit eher fehlende Initiative und Courage der Politik, und von der Mitverantwortung dafür kann sich keiner von uns ausschließen. Denn wir haben auf überlebte Universitätsstrukturen zu spät und dann oft in einer Kombination von Hast und Angst mit demokratischen Irrwegen reagiert, und dann fehlte den Politikern viel eher als den anderen Beteiligten der Mut, Fehler einzugestehen und sie entschlossen zu korrigieren.
({12})
Heute gilt es, u. a. dafür zu sorgen, daß nur derjenige mitbestimmt, der auch mitverantwortet, und das heißt: Wer die Folgen seiner Entscheidungen nicht mehr mittragen muß, weil er nämlich längst davon ist, ehe sie eintreten, der kann eben auch nur entsprechend seiner geringeren Verantwortung mitbestimmen. Es geht mit einem Wort um unseren Mut und nicht um den Mut derer, die wir in eine oft hoffnungslose Lage gebracht haben.
({13})
Und ein dritter Punkt. Er betrifft die Leistung. Heinrich Böll sagt, unser Leistungsprinzip sei mörderisch, wir müßten 'die Produktion reduzieren und weniger arbeiten. Sie, Herr Bundeskanzler, betonen in Ihrer Regierungserklärung wiederholt und unüberhörbar, Leistung und härtere Arbeit seien nötig. Wir stimmen Ihnen zu. Aber welche Konsequenzen wir damit meinen und nach welchen Maßstäben wir eine Regierungspolitik an dieser Sache messen wollen, Idas möchte ich noch etwas näher erklären. Sie sagen: Keine neuen Forderungen ohne neue Leistungen, keine höheren Erwartungen an ,die Leistungen der öffentlichen Hand, ohne daß wir sie durch unsere
Leistungen ermöglichen. Gewiß, die Lebensbedingungen des einzelnen sind in einem hohen, in einem noch immer wachsenden Maß von Gemeinschaftsleistungen abhängig, wir alle müssen zu ihnen beitragen, und der Staat kann natürlich nicht mehr ausgeben, als wir ihm geben. Aber der Kern der Sache ist das nicht. Wenn wir das Leistungsprinzip bejahen, dann gibt es dafür tiefere Gründe als den, von der öffentlichen Hand als Dienstleistungsmaschine mehr fordern zu können: es ist die Freiheit selbst, die das Bekenntnis zur Leistung erfordert,
({14})
es ist die Freiheit als Selbstbestimmung und Verantwortung. Der Mensch ist keine Maschine, er hat - ich habe es schon öfter gesagt - sein Recht und seine Würde auch schon vor jeder Leistung. Dennoch bleibt für jeden Menschen mit allen seinen eigenen, seinen individuellen Stärken und Schwächen die ihm jeweils mögliche Form von Leistung ein wesentliches Lebensmotiv. Die eigene Leistung ist für den Menschen die wichtigste Quelle seiner Erfahrung und Kraft, und wer Leistung verteufelt und dort, wo sie möglich ist, immer mehr mit der Nichtleistung gleichsetzt, der handelt eben unmenschlich und verhindert gerade die freiheitliche Selbstverwirklichung.
({15})
Und weiter: Es ist doch die eigene, die persönliche, die in Freiheit erbrachte Leistung, woraus sich das andere große Stichwort ergibt, das auch bei Ihnen vorkommt, die Solidarität. Solidarität besteht eben gerade nicht in der Sozialleistung des Staates an seine Bürger als Beglückungsobjekte, sondern sie beruht auf der persönlichen Leistung, sie gibt dieser persönlichen Leistung ihren sozialen Sinn, und der Mensch erfährt und praktiziert sie nicht in der anonymen Gesellschaft, sondern er erfährt sie in seiner eigenen persönlichen Nachbarschaft und Umwelt.
Lebensqualität, wenn sie ihren Sinn in der Freiheit des Alltags haben soll, kann eben nicht abgepackt und kollektiv zugeteilt werden; vielmehr entscheidet über sie letztlich der Mensch selbst als soziales Wesen mit der ihm möglichen Leistung und Solidarität. Ihm dabei zu helfen, ist Aufgabe der Politik, die sich zu Leistung und Solidarität bekennt.
({16})
Ich nenne in diesem Zusammenhang ein Thema, dem wir uns, wie ich meine und hoffe, hier noch mit großer Intensität werden zuwenden müssen: die sozialen Dienste. Sie, Herr Bundeskanzler, haben etwas über karitative Organisationen und die freie Wohlfahrtspflege gesagt, was ich sehr begrüße. Aber wir müssen viel weiter kommen. Die Zahl der Menschen, die der persönlichen Hilfe und Zuwendung bedürfen, wächst ständig. Ich will die Fälle gar nicht alle nennen. Sie selbst haben eine Reihe solcher Fälle genannt. Ich will nur darauf hinweisen - was wir ja alle wissen -, daß die Entwicklung von Medizin und Technik, der Wirtschaft und in den Familien dazu beigetragen hat. Hier wartet eine der großen Aufgaben für den Alltag, hier brauchen wir die freie und solidarische Leistung und Initiative
des Bürgers, und dazu muß die Politik nicht in erster Linie durch Appelle, sondern durch politische Maßnahmen beitragen. Dazu gehören Information und Bildung, vor allem Unterricht und Praxis in der Schule. Wir können ferner Mittel und Wege finden, um das Sozialprestige unter den Dienstleistungen gerade für die sozialen Dienste zu heben. Wir müssen überhaupt den Lebenszusammenhang von Arbeit und Freiheit wiederfinden und ihn nicht immer weiter auseinanderrücken. Wir müssen durch den Gesetzgeber Rahmenbedingungen finden, die manche herkömmliche Vorstellung verändern. Dazu gehören z. B. neue Überlegungen und Wahlmöglichkeiten bei der Arbeitszeitregelung und möglichst auch beim Ladenschluß.
In diesem Zusamenhang nenne ich auch die Chancengleichheit in der Bildung. Wenn wir über diese Chancengleichheit sprechen, dann geschieht es meistens im Zusammenhang mit schulischen oder vorschulischen Fragen, mit Fragen der Erziehung und der Einrichtungen, die die öffentliche Hand zur Verfügung stellt. Nun haben wir im Zeichen emanzipatorischer Errungenschaften aber zu immer mehr Abwesenheit der Eltern, vor allem der Mutter, vom Hause beigetragen, und die Folge davon ist, daß immer mehr Kinder zur Chancenungleichheit deformiert, ja daß sie körperlich und geistig behindert werden, ehe sie die ersten Stufen unserer Bildungseinrichtungen erreichen,
({17})
weil nämlich ihre Umwelt wechselt und weil die Eltern fehlen, vor allem die Mutter fehlt. Wir müssen also auch hier zu einem etwas anderen Zusammenspiel von privater Leistung und Solidarität einerseits und von öffentlicher Leistung andererseits kommen, wenn es uns mit der Chancengleichheit ernst ist.
Als letztes, Herr Bundeskanzler, nenne ich die Steuerreform. Dort wollen Sie soziale Gerechtigkeit und Vereinfachung erreichen. Solchen Zielen wird natürlich niemand widersprechen. Aber sind Sie auch bereit, mit steuerlichen Maßnahmen die Arbeit der sozialen Dienste, die Arbeit anderer privater Initiativen und andere Zeichen mit- und selbstverantworteter Freiheit des Bürgers zu unterstützen? Hier wartet eine weitere große Bewährungsprobe der Freiheit im Alltag.
({18})
Herr Bundeskanzler, durch Ihre ganze Regierungserklärung - und damit komme ich zum Schluß - zieht sich zwar nicht mehr jene Stimmung des Aufbruchs zu neuen Ufern wie 1969, dafür aber ein Gefühl der Harmonie und der Machbarkeit der Dinge. Wie besteht dieses Gefühl vor der Wirklichkeit, die unsere Herausforderungen kennzeichnet? Hätten Sie z. B. in den Tagen vor der Abgabe der Regierungserklärung Zeit gehabt, einmal die Auslagen einer Universitätsbuchhandlung durchzublättern, dann hätten Sie jenen Satz Ihrer Regierungserklärung, den Sie mit besonderem Nachdruck gesprochen haben und den der Kollege Möller hier vorhin wiederholt hat, den Satz nämlich, daß niemals ein deutscher Staat in einer vergleichbar guten
Übereinstimmung mit dem freien Geist seiner Bürger lebte, doch noch einmal überdacht.
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Denn allzu viele dieser Publikationen haben ja gerade zu Ziel, diesen Staat nicht hinzunehmen, ihm zu widersprechen; und Verleger pflegen zu wissen, was verkaufsfähig ist. Ja, Herr Bundeskanzler, es ist unsere tiefe Überzeugung, daß es die Kraft unserer geistigen und moralischen Entscheidung sein wird, die über unsere Politik das Urteil sprechen wird. Das Ziel unserer Verfassung ist die Freiheit für den Menschen. Frei aber ist nur der Verantwortliche, und nur der Verantwortliche kann sich wirklich frei nennen. Unser politisches Ziel ist es, den Bürger im Alltag zur verantwortungsvollen Nutzung seiner Freiheit zu motivieren und durch die Rahmenbedingungen, für die wir verantwortlich sind, auch tatsächlich zu befähigen. Darüber suchen wir, Herr Bundeskanzler, mit allen demokratischen Kräften unseres Landes den Wettbewerb, der dem Ganzen zu dienen bestimmt ist. Sein Erfolg wird über unser aller Zukunft entscheiden. Maßstab aber für unsere Aufgabe als Opposition in diesem Hause wird es sein, zu prüfen und zu erproben, ob Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung mit den Worten Ihrer Regierungserklärung zu diesem konstruktiven Wettbewerb bereit und mit welchen Taten Sie dazu auch in der Lage sein werden.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bangemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicher richtig, daß der Erfolg der Politik dieser Regierung sowohl nach innen als auch nach außen davon abhängen wird, welche konkreten Maßnahmen die Regierung im Laufe dieser Legislaturperiode ergreifen wird, um das Notwendige zu tun. Dieser Maßstab rechtfertigt es aber natürlich nicht, nun in der Debatte über die Regierungserklärung bereits diese konkreten Maßnahmen zu verlangen. Umgekehrt muß sich auch die Opposition diesen Maßstab gefallen lassen, wenn sie im Laufe dieser Legislaturperiode mit ihrer Politik Erfolg haben will. Wir werden jedenfalls im Bereich der Gesellschafts- und Außenpolitik - und diese Bereiche sind nicht zu trennen - diese klaren Maßnahmen ergreifen, soweit wir sie nicht schon programmatisch viel klarer vorgeschlagen haben, als die Opposition es bis jetzt getan hat, Denn Sie müssen sich ja im Augenblick daran messen lassen, was Sie z. B. zu der Frage der Mitbestimmung im Sinne einer Mitverantwortung des einzelnen diesem unserem Volk bis jetzt vorgelegt haben.
({0})
- Sie haben 7 : 5 vorgeschlagen, und da helfen die großen Worte von Mitverantwortung überhaupt nichts.
({1})
Das Verhältnis von 7 : 5, meine Damen und Herren der Opposition, kennzeichnet Sie als das, was
Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode - B. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1973 187
Sie nicht sein wollen: als die Prätorianergarde morscher Gebäude.
({2})
- Nein! Wenn wir in diesem Punkte in den Koalitionsfraktionen eine klare Vorstellung haben, wenn auch unterschiedlicher Art, dann haben wir wenigstens unsere Aufgabe vor Abgabe dieser Regierungserklärung schon erfüllt, Sie dagegen noch nicht.
Was soll denn der Hinweis darauf, daß die Hochschulen nicht befriedet sind, wenn Ihre eigenen Kultusminister durch Polizeieinsatz dazu beitragen, daß die Unruhe an den Hochschulen noch größer wird?
({3})
Was sollen Worte wie Leistung, Leistungsgesellschaft, wenn man nicht gleich inhaltlich dazu sagt, wozu die Leistung erbracht werden soll?! Das ist genau dasselbe, wie wenn man immer von Pflicht, Fleiß und Ordnung als primären Tugenden redet, ohne zu sagen, daß diese Tugenden inhaltlich erfüllt werden müssen, wenn sie einen Sinn bekommen sollen. Es gibt die Pflicht, es gibt den Fleiß, die Demut für ganz andere Zwecke, als wahrscheinlich auch Sie sie für richtig halten würden. Deswegen müssen Sie beim Begriff „Leistungsgesellschaft" auch immer hinzusetzen, wozu Sie Leistung erbringen wollen, und nicht die Leistungsgesellschaft um ihrer selbst willen fordern.
Dieser Unterschied besteht auch sicher in dem Punkt, der heute morgen bei Ihnen großen Anlaß zur Geisterbeschwörung bot, nämlich hinsichtlich der Frage, wie sich das zukünftige Verhältnis unseres Landes zu den Staaten gestalten soll, mit denen wir auch dann gutnachbarliche Beziehungen eingehen wollen, wenn sie ganz anderen Gesellschaftssystemen anhängen. Das ist ein Punkt, bei dem das, was Herr Strauß als die Macht der Phraseologie bezeichnet hat, die schönsten Blüten getrieben hat - allerdings bei Ihnen. All das, was Sie haben aufmarschieren lassen angefangen etwa von der Frage des Klassenkampfes bis hin zur Mißinterpretation auch des Wortes „Wandel durch Annäherung" oder auch des Wortes „Der Vietkong ist für uns ein innerpolitisches Problem" -, ist die Ersetzung des Faktischen durch eine Geisterbeschwörung und nichts anderes.
({4})
Ich will Ihnen dazu ein Urteil eines Mannes vorlesen, den Sie sicher nicht in Verdacht haben werden, einer regierungsfreundlichen oder, wie Sie gesagt haben, einer regierungsnahen Zeitung anzugehören, das ist erstens faktisch nicht der Fall und trifft zweitens auch von seinem geistigen Standort her nicht zu. Dieser Mann schrieb, und zwar nicht mit Bezug auf die Regierungserklärung - das will ich gleich sagen , sondern mit Bezug auf die Erklärung des jetzigen Oppositionsführers:
Für eine sichere Orientierung des Bürgers sind
diese zu weit gefaßten Prinzipien der CDU
kaum von Nutzen. Das Fatale an dieser Politiker-Sprache
- der Opposition ist, daß sie nichts und niemanden präzise bezeichnet.
Und er - Herbert Kremp in der „Welt" - stellt die Frage mit Bezug auf die Prinzipien der Opposition: „Was ist ein Emmentaler, der nur noch aus einem hauchdünnen Rand besteht?" Das ist das Echo in der Presse nicht auf die Regierungserklärung, sondern auf den Angriff, den Sie auf diese Regierungserklärung gestartet haben.
Lassen Sie mich nun etwas zu dem Verhältnis zwischen uns und anderen Staaten sagen, die in einem anderen System leben. Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gemeinhin als Konvergenztheorie bezeichnet worden ist. Ich glaube, auch in diesem Bereich wird der Schwerpunkt der Auseinandersetzung zwischen uns liegen.
Es gibt in dieser Theorie im großen ganzen drei Hauptströmungen. Zwei Strömungen davon möchte ich, wenn Sie gestatten, einmal als rechts und links einordnen, obwohl der Streit um die Mitte heute vormittag große Ausmaße angenommen hat; eine Richtung hat eine pragmatische Mitte-Funktion. Das Erstaunliche dabei ist - aber das ist eigentlich immer so -, daß sich die Rechten und die Linken in dieser Theorie ganz hervorragend verstehen. Die Linken sagen nämlich: Wir müssen im Wege des Zusammenlebens mit den kapitalistischen Staaten versuchen, unser sozialistisches System, das sowieso schon aus einer historischen Notwendigkeit das kapitalistische System überwinden wird, in dieses System hineinzutragen, um es dort zu einer revolutionären Bewegung werden zu lassen. Sie verstehen also Konvergenz als eine Einbahnstraße zum Sozialismus.
Dagegen verstehen die Rechten die ideologische Auseinandersetzung zwischen uns und dem, was sich jetzt in den sozialistischen Staaten abspielt, als den Versuch - ich will es einmal so sagen - eines geistigen Roll-back. Nachdem das militärische Roll-back nicht funktioniert hat, will man jetzt versuchen, durch die Kraft unserer Argumente den Sozialismus in diesen Ländern zurückzudrängen und das System dort von innen her aufzusprengen.
Meine Damen und Herren, jeder, der eine dieser beiden Theorien vertritt, befindet sich nicht auf dem Boden der Politik, die diese Regierung zu vertreten haben wird.
({5})
Es ist, glaube ich, selbstverständlich, daß ich dem, was zu diesen linken Konvergenztheoretikern zu sagen ist, nicht mehr viel hinzufüge.
Deswegen lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was rechte Konvergenztheoretiker vertreten, nämlich zu der Frage, ob es uns im Lauf dieser Politik möglich sein wird, den Sozialismus in diesen Ländern von innen her zurückzudrängen. Wer mit die188
ser Zielsetzung Politik betreibt, wird weder das Hauptziel dieser Politik, ein friedliches Nebeneinander, noch sein Ziel erreichen, weil nämlich in dem Moment das Mißtrauen, das dort jetzt schon vorhanden und durch eine falsche Politik der letzten 20 Jahre, für die Sie verantwortlich sind, genährt worden ist, jegliche Annäherung überhaupt zunichte macht und nicht weitertreiben wird.
({6})
- Sie wissen es ganz genau. Herr Flach hat da
schon auf etwas hingewiesen. Ich rede sonst nur ungern lobend über die FDP,
({7})
weil das ja Selbstlob ist, wie Sie wissen. Sie können der FDP viele Vorwürfe machen, aber einen können Sie ihr nicht machen: daß sie nicht als erste Partei, lange bevor Sie in dieser Frage Nutzen und Wert einer solchen Politik überhaupt erkannt hatten, für eine solche Politik eingetreten ist, zu einer Zeit, als man noch Prügel dafür bekam, wenn man in diesen Beziehungen überhaupt von einem friedlichen Nebeneinander gesprochen hat.
({8})
Herr Flach hat Ihnen schon einiges an Lebenshilfe geboten. Ich will das nicht fortsetzen, damit es nicht zu schlimm wird.
({9})
Ich möchte aber, wenn Sie gestatten, ein Gebot aus dem Dekalog des Kollegen Strauß einmal herausgreifen.
({10})
- Da liegt mit ein Grund dafür, warum Sie gescheitert sind. Es ist nämlich, schlicht gesagt, der Grund dafür, daß Sie mit dem, was Sie vorgeschlagen haben, so gut Sie es auch gemeint haben, unglaubwürdig waren. Herr Strauß, Sie sagen in Ihrem Dekalog, zu Ihren Grundsätzen der Mitte gehöre die Ablehnung einer Strategie der Diffarmierung von Gruppen in der Gesellschaft. Damit, Herr Strauß, haben Sie sicher diejenigen gemeint, die sich wie Tiere benehmen, so daß die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze auf sie nicht möglich ist.
({11})
Um diese Mitte - Herr Strauß, da brauchen Sie keine Angst zu haben -, werden wir uns nicht streiten. Dort können Sie allein sitzenbleiben.
({12})
Aber auch die Konvergenztheorie, die eine MittePosition einnimmt und die heute in unserer Diskussion nach meinem Dafürhalten eigentlich breiteren Raum beansprucht als die linken und rechten Theorien, ist gefährlich und von uns nicht zu akzeptieren. Es ist die Theorie, daß beide Systeme die Fehler, die sie jeweils haben, ausmerzen werden - sei es durch einen eigenen inneren Prozeß, sei es durch Hilfestellung von außen - und sich danach sozusagen auf einer mittleren Linie treffen und ein neues Gesellschaftssystem begründen werden, welches das Paradies auf Erden ist. Das, meine Damen und Herren, sind Träume von Idealisten. Das sind Illusionen, die mit der politischen Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Wir müssen ganz klar sehen, daß wir unsere eigenen Probleme haben, deren Bewältigung uns auf einen ganz anderen Weg bringen kann, als wenn etwa die sozialistischen Staaten ihre Probleme angehen, um sie zu bewältigen. Das heißt also: Wir können nur nach unseren eigenen Grundsätzen leben.
Wir müssen unsere eigenen Fehler zu beheben versuchen und uns bemühen, in ein Verhältnis zu kommen, das uns bei dieser Arbeit nicht in die Gefahr versetzt, in eine kriegerische Auseinandersetzung zu geraten. Ich weiß, Sie hören nicht gern diesen grundsätzlichen Zug unserer Politik, weil Sie vermuten, daß darin etwa der Vorwurf steckte, wir vermuteten diese Absicht bei Ihnen nicht.
({13})
- Nein, ich darf das hier sagen. Niemand, glaube ich, wird hier ernsthaft bestreiten, daß Sie in dieser Zielsetzung des friedlichen Nebeneinanderlebens nicht die gleichen Absichten wie wir alle auch hätten.
Aber - das ist natürlich nun das Entscheidende - wenn Sie diese Absicht haben, müssen Sie sie auch verwirklichen, was Herr von Weizsäcker ganz richtig gesagt hat; dann nutzen eben Appelle und Beschwörungen nichts, sondern Sie müssen auch etwas tun, um dieses friedliche Nebeneinander zu gewährleisten. Vor dieser Frage werden Sie immer wieder stehen.
({14})
Das gilt ganz besonders, da wir - wie wir ja alle auch wieder übereinstimmend feststellen werden - heute vor dem Krieg in einer anderen Form stehen, als er uns noch im 19. Jahrhundert begegnete.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas zu der Frage Vietnam sagen. Es hat darüber heute hier schon eine Debatte gegeben - ebenso wie auch in der Öffentlichkeit -, weil die Parteien und einzelne Abgeordnete sich zu ?diesem Problem öffentlich erklärt haben. Wenn man diese Erklärungen richtig werten will, muß man, glaube ich, von vornherein eines sagen: Alle diese Erklärungen sind nicht in dem Sinne gemeint, als wollten wir uns als eine Art Richter über Verhältnisse und Parteien aufspielen, die in einem Konflikt stehen, den wir nur am Rande erleben.
Es hat eine böse Formulierung gegeben, die etwa lautet, wir würden damit den Maßstab fortsetzen, am deutschen Wesen solle die Welt genesen. Das ist eine in diesem Zusammenhang ganz besonders böse Formulierung; wir alle sollten zusammen zunächst einmal zurückweisen, daß unsere Äußerungen - ganz gleich, wer sie gemacht hat - in diesem Sinne zu verstehen seien.
Wir müssen hinzusetzen, daß es natürlich nicht genügt, einfach zu sagen: Wir haben uns alle auf
die Plattform begeben, den Krieg zu verurteilen. Das genügt deswegen nicht, weil das für einen Politiker, für einen politisch handelnden Menschen eine solche Selbstverständlichkeit ist, daß mit ;dieser Erklärung eine politische Wirkung überhaupt nicht zu erzielen ist. Sie müssen sich also in jedem Fall über dieses Bekenntnis zur Verurteilung des Krieges hinausbegeben.
Dabei taucht nun die Frage auf: An wen sollen Sie sich wenden? Sollen Sie sich an alle an dem Konflikt Beteiligten wenden oder nur - wie das einige in diesen Erklärungen getan haben - an die Vereinigten Staaten von Amerika? Dazu muß ich sagen: ich habe Verständnis 'dafür, daß die Bundesregierung ihrerseits die notwendigen. Schritte unternommen und die öffentlich abgegebenen Erklärungen auf ein Mindestmaß beschränkt hat. Ich habe auch Verständnis dafür, daß sich sehr viele in dieser Angelegenheit gerade an die Vereinigten Staaten gewandt haben - nicht etwa, weil sie der Meinung sind, daß dort der Hauptschuldige zu finden sei, sondern weil sie die Hoffnung hatten, daß mit einer solchen Erklärung in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten etwas bewirkt werden könnte. Sie können sich nicht mit einer Erklärung an den Vietkong wenden und die Hoffnung hegen - ({15})
- Weil, Herr Zoglmann, der Vietkong entgegen der Äußerung Ihres Fraktionsvorsitzenden kein innenpolitisches Problem ist, sondern eine nichtdemokratische, nicht der Öffentlichkeit verantwortliche Organisation, die Sie über die Öffentlichkeit nicht erreichen können.
({16})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter? Kroll-Schlüter ({0}) : Herr Bangemann, ich möchte Sie fragen, ob mit diesen Appellen nicht auch das Bewußtsein des Friedens angesprochen ist; und gehört dazu nicht auch die scharfe Verurteilung des kommunistischen Gemetzels?
Es gehört dazu, Herr Kollege, die Verurteilung eines Gemetzels, ganz gleich, wer dafür verantwortlich ist.
({0})
Das ist auch geschehen. Wenn Sie diese Erklärungen lesen, dann werden Sie feststellen, daß das geschehen ist.
Ich muß allerdings an dieser Stelle und veranlaßt durch Ihren Zwischenruf eines hinzusetzen: Die Schärfe mancher Erklärungen ist darauf zurückzuführen, daß insbesondere die Vereinigten Staaten aus Gründen, die ich nicht näher untersuchen will, bei der Darstellung ihres Standpunktes in dieser kriegerischen Auseinandersetzung selbst eine Sprache gebraucht haben, ;die uns heute unangemessen zu sein scheint. Ich will das deutlich machen. Wenn Sie sich überlegen, wie wir heute zu dem Problem des Krieges stehen, dann werden Sie sicher alle mit mir einer Meinung sein, daß, wer eine Formulierung wie die „auf ;dem Felde der Ehre bleiben", die im 19. Jahrhundert gang und gäbe war und keinerlei Mißfallen erregte, heute in diesem Zusammenhang als eine adäquate Äußerung ansehen würde, an dem Problem des Krieges im 20. Jahrhundert vorbeigehen würde. Wenn man in diesem Zusammenhang dann von „ehrenhaftem Frieden" spricht, dann drängt sich natürlich die Schärfe dieser Erklärungen auf, weil diese Sprache nicht mehr angemessen zu sein scheint. Ein ehrenhafter Friede, meine Damen und Herren, ist nur ein Friede, in dem Menschen nicht mehr ums Leben kommen, und sonst gar nichts!
({1})
Diese Friedenspolitik, die wir betreiben, wird sicherlich nur dann Erfolg haben, wenn wir sie in den europäischen Rahmen stellen, in den sie gehört. Wir haben schon von der Bundesregierung einleuchtende und befriedigende Erklärungen gehört, und die Opposition ist mit mir in diesem Punkte sicher der Meinung, daß die Entwicklung, die Integration und die Schaffung eines institutionell neuen Rahmens in unserer Umwelt in Europa notwendig sind, um diese Friedenspolitik zu verankern.
Ich möchte dazu aber noch eines sagen, gerade weil es im Zusammenhang mit der Gesellschaftspolitik steht, die Herr von Weizsäcker angesprochen hat. Wir müssen auch erkennen, daß einiges von dem, was heute Außenpolitik der Mitgliedsländer der Gemeinschaft ist, zur Innen- und zur Gesellschaftspolitik dieser Gemeinschaft werden wird und einiges in die außenpolitische Verantwortung der Gemeinschaft insgesamt übergehen wird.
Das wird bedeuten, daß wir uns - etwa in der Frage der Mitbestimmung, etwa in der Frage der Vermögensbildung - auch in der Debatte in diesem Hause viel stärker, als das in der Vergangenheit der Fall war, um diesen europäischen Rahmen kümmern müssen, weil es nicht angeht, daß wir etwa auf dem Gebiet der Mitbestimmung oder der Vermögensbildung eine Lösung finden, die uns hier zwar befriedigt und für die wir eine Mehrheit gewinnen können, die dann aber im europäischen Rahmen nicht durchsetzbar ist. Umgekehrt müssen wir natürlich auch darauf achten, daß der europäische Rahmen uns keine Daten setzt, die etwa die Mitbestimmungsvorstellungen der CDU als die einzige, minimale Lösung zulassen.
Hierher gehört auch die Frage, wie sich die Gemeinschaft gegenüber den Drittländern außerhalb ihrer selbst verhält. Es wäre ganz verhängnisvoll, wenn die europäische Politik dazu führen würde, daß im Zuge einer stärkeren Integration als quasi notwendige Folge eine Isolation nach außen eintreten würde. Das müssen wir auf alle Fälle verhindern.
Wir müssen in all diesen Fragen zu einer gemeinschaftlichen Politik kommen, zu einer nachbarschaftlichen Politik, wenn Sie so wollen. Lassen Sie mich damit schließen: Ich kann nicht verstehen, was es an dem Begriff des Nachbarn eigentlich herumzudeuteln gibt und warum gerade dieser Begriff so undeutlich sein muß; denn das ist ein Begriff, der in der urmenschlichen Nähe dessen liegt, was man tagtäglich erlebt.
({2})
- Herr Strauß, das darf ich gerade Ihnen sagen, Nachbarschaft heißt für uns und für die Regierung und vielleicht auch für Sie: friedliches Zusammenleben!
({3})
Meine Damen und Herren! Wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
({0})
Die Sitzung ist wieder eröffnet. Wir fahren in der Aussprache über die Regierungserklärung fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Arndt ({0}).
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dr. Barzel, hat in seiner Rede am vorigen Donnerstag, dem 18. Januar, Erklärungen zu den Prioritäten der CDU/CSU-Fraktion abgegeben. Ich darf zitieren:
Wir haben unsere Interessen und unsere Wirtschaftskraft endgültig in die Gemeinsamkeit mit unseren europäischen Nachbarn eingeordnet. Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat.
Wir haben - und wir sagen dies erneut - unsere Zukunft endgültig auf den Vorrang der Politik der Vereinigung des freien Europa gesetzt.
Dieser Absatz enthielt auch eine Aufforderung, daß sich hier möglicherweise ein Gespräch über das Verhältnis von Regierung und Opposition hinaus andeutet.
({0})
Dies wurde vom Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Herbert Wehner, umgehend aufgegriffen. Er sagte, auch am vorigen Donnerstag, was mit den 15 Punkten des Stabilitätsprogramms der Bundesregierung auf der Luxemburger Tagung der Wirtschafts- und Finanzminister vom Oktober vorigen Jahres geschehen sei. Bei diesen Punkten ging es um Schritte zur Stabilität, die in Ihrer Rede, Herr Barzel, selbstverständlich ebenfalls eine große Rolle spielte. Sie sagten:
Wir haben immer wieder aufgefordert, der Rückgewinnung der Stabilität Priorität einzuräumen.
Beides hat also für Sie Vorrang: die Vereinigung des freien Europa und die Preisstabilität. Doch leider ergänzen sich diese Prioritäten nicht. Leider stehen sie nicht einmal so nebeneinander, daß man für einige Zeit dies und für die nächste Runde jenes anstreben könnte. Leider stehen die von Ihnen geforderten Prioritäten der Vereinigung Europas und der Rückgewinnung der Stabilität sich im Wege.
Es ist doch nicht das erste Mal - das ist das Problem der 15 Punkte, daran läßt sich das exemplifizieren -, daß Mitglieder der deutschen Regierung sich ihren europäischen Kollegen - ich meine jetzt die Wirtschafts- und Finanzminister, ich meine nicht andere Ausschüsse des Ministerrats - mit einem Stabilitätsprogramm genähert haben. „Sich genähert haben" steht hier für viele Formen der politischen Sprache, steht hier für „bittend", für „werbend", für „fordernd", für alles, wie man es halt versuchen kann. Doch das Schicksal dieser früheren Programme ähnelt dem der 15 Punkte oder genauer derer von den 15 Punkten, die communautär, die europäisch zu entscheiden gewesen wären.
Vor allem gilt das von dem Kernstück, den handelspolitischen Reformen: gemeinsame Zollsenkungen nach Art. 28 des EWG-Vertrages, die man einstimmig autonom oder die man vorübergehend mit Mehrheitsentscheidungen bis zu 20 % vornehmen kann. Das wurde abgelehnt. Ja, es wurde sogar eine Verbesserung der Zollpräferenzen für die Entwicklungsländer abgelehnt, obwohl beides auch von der Kommission vorgeschlagen worden war.
Die Gründe für die Ablehnung differierten. Ich kann mir vorstellen, daß in dem einen Fall gesagt wurde, die europäische Verhandlungsposition im GATT mit den Amerikanern und Japanern würde erschwert werden, und daß andere sagten, die strukturschwachen Industrien in unserem sowieso schon schwierigen Teil Europas würden das nicht aushalten. Ich glaube, von einer Stelle kam sogar der Hinweis: Zollsenkungen bedeuten weniger Einnahmen für den Fiskus.
Deswegen kamen sie nicht zustande. Statt dessen wurde eine Zielsetzung für den Anstieg der Verbraucherpreise in Europa von Dezember 1972 bis Dezember 1973 beschlossen: nicht mehr als 4 %. Das ist zwar mehr als im mittelfristigen Programm steht, doch auch diese 4 % sind nur eine Hoffnung. Im November und Dezember hat sich nämlich der Preisanstieg in Europa beschleunigt, nicht nur bei uns, sondern in allen anderen Ländern. Wir sind nach wie vor das Schlußlicht; aber das ist ein geringer Trost.
Es wurde beschlossen, in den Mitgliedsländern eine konzertierte Aktion mit den Sozialpartnern zu versuchen. Man wolle die Geldschwemme bis Ende 1974 eindämmen, wobei die Länder, in denen Vollbeschäftigung herrsche, die Hälfte der Wegstrecke bis Ende dieses Jahres zurücklegen müßten; für die anderen gelte es halt, Rücksicht auf den Stand ihrer Arbeitslosigkeit zu nehmen. Für die öffentlichen Etats 1973 solle etwa das gleiche Wachstum wie das des nominalen Sozialproduktes eintreten. Ferner wurde gesagt, man müsse die BerufsDr. Arndt ({1})
ausbildung und Umschulung verbessern; dazu könne man den europäischen Sozialfonds heranziehen. Das ist sicher eine Sache, die gemacht werden muß. Aber es ist doch kein Stabilitätsprogramm.
Das war jedoch das Ergebnis. Es bedeutet, so meine ich, daß wir Ihr Wort, Herr Dr. Barzel, unsere Interessen und unsere Wirtschaftskraft seien endgültig in die Gemeinsamkeit mit unseren europäischen Nachbarn eingeordnet, voll auf uns wirken lassen. Aber es bedeutet nicht Stabilität - das nicht! Davon ist man um Jahre entfernt. Dennoch stellen Sie es so dar - auch dem mündigen Volk, wie Sie sagen, also einem skeptischen Volk -, als ob beides gleich machbar wäre.
Machbar ist es aber nur, wenn wir den Gedanken wie folgt weiterspinnen, nämlich: erstens, die anderen sollen gefälligst so denken lernen wie wir, zweitens, wenn sie nicht hören wollen, dann ... Aber es folgt nichts auf das „dann", und es kann gar nichts folgen, weil man Europa so nicht bauen kann, auch früher nicht bauen konnte.
Nehemen wir Frankreich als Beispiel. Die französische Regierung ist wachstumsbewußt - sie hat das oft genug erklärt -, der französische Bürger anscheinend auch - entgegen allem, was man von ihm sagt -, wenn man den Annahmen der frischen Wachstumsstudie des Hudson-Instituts, Niederlassung Paris, folgt. Die Autoren sehen Frankreich für 1985 ganz weit vorn, weiter als Deutschland, weiter als alle übrigen EWG-Länder und einige Jahre später auch weiter als Schweden, weil in Frankreich hart gearbeitet wird. Ich würde unserem französischen Nachbarn die Erreichung dieses Zieles für 1985 nur wünschen; vielleicht erleichtert dies das eine oder andere. Denn wer ist denn schon wirklich Wachstumsfetischist, daß er Wachstum über alles stellen würde?
Dennoch: Wir brauchen wirtschaftliche Entwicklung, um Vollbeschäftigung zu sichern. Vollbeschäftigung ist nichts anderes als das Recht auf Arbeit, und zwar das reale Recht, nicht ausgeschlossen zu sein vom Arbeiten und vom Leisten für sich, für seine Angehörigen, für eine Aufgabe. Ich glaube, Sie, Herr von Weizsäcker, hatten heute vormittag gesagt, Tätigwerden muß motiviert sein.
Profit allein - so hat Heinrich Böll in seinem Newsweek-Interview gesagt - genügt nicht, um eine Gesellschaft zu fundieren; sie wäre dann unhuman. Damit hat er völlig recht. Aber wer tut das schon: auf Profit allein zu fundieren? Der Homo oeconomicus, diese Denkfigur der Nationalökonomen, ist lange tot; auch für die Volkswirte ist er schon sehr lange tot. Und die Attacke von Heinrich Böll gegen das Leistungsprinzip Sie haben es zitiert -, gegen Erfolg und für weniger Arbeit, na, sollte man doch dem sehr hart arbeitenden Bürger Böll nachsehen, mit compassione nachsehen, wie auch denen im Lande, die unter härtester eigener Anspannung gegen das Leistungsprinzip agitieren, die uns arme andere in eigener 60-Stunden-Woche davon überzeugen wollen, nicht so viel zu leisten.
Auch ihre Motivation ist in Ordnung, ihre Eigenleistung nicht minder, und deshalb wird es auch das von ihnen an sich gewollte Ergebnis nicht geben, oder nur so weit geben, wie das notwendig ist und wie es bisher notwendig war, um Schritt für Schritt die sogenannte Arbeitszeit eines Lebens zu verringern. Und das haben wir, nicht zuletzt wir Sozialdemokraten, in den letzten 100 Jahren zu einem beträchtlichen Teil schon erreicht: längere Ausbildung, geringere Wochenarbeitszeit, längerer Urlaub. Und auch die kürzliche Reform der Rentenreform, die eben das Ausscheiden zum 62. Lebensjahr nicht durch Profiterwägungen verzerren lassen will, gehört dazu.
({2})
Aber ich bin etwas von meinem Thema - Frankreich und Wachstumspriorität - abgekommen. Und für wirtschaftliche Entwicklung sprach das Recht auf Arbeit, aber spricht auch die Not in der Welt, die wir im Mitleisten mindern, ja vielleicht sogar beseitigen können, wenn wir uns noch mehr anstrengen, als das bisher der Fall war.
Und dann: Drittens sollte man sich auch die Wachstumsgegner genau anschauen. Sind es Menschen, die eben nicht mehr als das Wenige wollen, mit dem sie auskommen können. Kein Fernseher? Kein Auto? Keine neuen Schallplatten? Oder sind es jene Gegner des Wachstums, die bereits genug von allem haben und vor allem, die mehr als alle übrigen haben, und dann finden, daß es gut ist, wenn die Welt stille stände, mit ihnen oben und den anderen unten?
Aber ich will diese Motive nicht der Regierung des mit uns freundschaftlich verbundenen Nachbarlandes unterstellen, obwohl sie sie sicher auch haben mag; denn ganz sicher gibt es für Frankreich noch ein viertes Motiv. Die französische Regierung hat an der Rezession in Deutschland gesehen, was einer Regierung passiert, die im eigenen Fett lebend andere zur Arbeitslosigkeit verdammt, und die Franzosen haben an der italienischen Rezession 1964 gesehen, was aus einem Land der politischen Stabilität - man sprach damals von einem Wirtschaftswunder - seit dieser Rezession geworden ist, einer Rezession, gemacht wegen der Zahlungsbilanz, um die Lira stabil zu halten. Seit 1949 bis vorgestern galt dies dort als Zeichen überdurchschnittlicher Klugheit. Das sind die Probleme einer Preisstabilität in Europa. Was diese Regierung tun kann und was sie später tun müßte, ist, unermüdlich darauf hinzuwirken, daß europäische Dezisionen zustande kommen. Sie kann aber nicht versprechen, daß sie wirklich zustande kommen. Sicherlich darf Europa kein Alibi für fehlende binnenwirtschaftliche Anstrengungen - solche Anstrengungen hat es gegeben - sein, aber umgekehrt darf binnenwirtschaftliche Restriktion auch nicht als Alibi für fehlende außenwirtschaftliche Absicherungen und für fehlende kommunitäre Maßnahmen hingestellt werden.
({3})
Und das ist halt Ihr alter Pferdefuß. Sobald man auf Währung zu sprechen kommt, sobald das Wort „Weltwährungsreform" fällt, ist für Sie die Debatte beendet. Herr Dr. Barzel, dann können Sie diese beiden Dinge nicht nebeneinanderstellen und unse192
Dr. Arndt ({4})
rer Bevölkerung sagen: Hinein nach Europa, endgültig hinein nach Europa und Stabilität. Für die nächsten Jahre geht das nicht.
Es wäre gut, wenn wir uns alle darauf einrichteten, ein Maximum an einer gewissen Handlungsfreiheit und ein Maximum an Einsatzbereitschaft für europäische Aktionen zu behalten und dennoch die eigenen Staatsaufgaben und die Einkommenssteigerungen der eigenen Bürger nicht zu vernachlässigen. So stark sind wir Deutschen in der Welt wirtschaftlich ja nun auch nicht geschweige denn in anderer Beziehung -, um die Zerrüttung der gegenwärtigen Währungspolitik in der Welt aufzufangen, sie unseren Arbeitnehmern und unseren Bürgern, die an schlechten öffentlichen Diensten leiden, aufzuladen. Das ist das Problem, in dem sich die Regierung immer wieder von neuem zu entscheiden hat. Sie sollte sich nach Möglichkeit für europäische Aktionen entscheiden. Wenn dies aber nichts bringt, sollte sie keine unsinnigen und unerfüllbaren Stabilitätsversprechen gegenüber diesem Volk und Stabilitätsaktionen mit diesem Volk versuchen.
So stelle ich mir eine ehrliche Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung vor, und so ist sie in der Regierungserklärung umrissen worden: nicht mehr und nicht weniger. Die CDU/CSU wird Gelegenheit haben, sich an der einen oder anderen sinnvollen Stabilitätsaktion zu beteiligen. Diese Gelegenheit hatten Sie auch im vorigen Bundestag. Damals konnten Sie sich aber nicht entscheiden.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Mikat.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab noch eine Klarstellung zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Bangemann von heute morgen. Herr Dr. Barzel hat in seiner Rede vom 18. Januar in der Vietnam-Frage Hanoi und den Vietkong keineswegs als mögliche Adressaten deutscher Proteste ausgeschlossen. Ich meine, Sie sollen exakt und redlich zitieren, Herr Bangemann. Herr Barzel hat wörtlich erklärt - ich zitiere jetzt -:
Wir begrüßen mit Dank und mit Erleichterung und mit Genugtuung die Aussichten auf Frieden in Vietnam. Wir verurteilen Unfreiheit, Terror und Unrecht überall in der Welt und überall nach denselben Grundsätzen. Für uns - und dies ist eine innenpolitische Bemerkung - ist der Vietkong kein Vorbild.
Zwischen Vorbild und möglichem Adressaten besteht ja doch wohl ein erheblicher Unterschied. Dies sich einmal zu Gemüte geführt, eröffnet weite Möglichkeiten für Ihre politische Handlungsfähigkeit nach innen und nach außen.
({0})
Ich meine- damit will ich diese Sache abschließen -, daß dieses Zitat des Oppositionsführers doch
in der Tat so klar und eindeutig ist, daß es schon
eine besondere Leistung darstellt, so etwas überhaupt mißdeuten zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es für begrüßenswert, daß sich die Debatte, die wir bis jetzt im Hohen Hause führten, mit den prinzipiellen Standortbestimmungen der politischen Kräfte unseres Parlamentes beschäftigte. Ich halte es auch durchaus für begrüßenswert, daß bei allen Differenzen in entscheidenden Fragen - das ist deutlich geworden - auch Übereinstimmung herrschte. Nur blinder parteipolitischer Egoismus könnte in einer parlamentarischen Demokratie den Wert solcher Übereinstimmungen verachten. Ja, es wäre eine Perversion des Politischen, wären nicht das Hohe Haus, Regierung und Opposition in der permanenten Bemühung um Übereinstimmung.
Das festzustellen bedeutet sicherlich nicht, Konfrontationen auszuweichen. Nur, meine ich, muß die Konfrontation in der jeweiligen Sache wurzeln und nicht um ihrer selbst als Zielwert angenommen werden. Von dieser Aussage her bestimmt sich, wie ich meine, nicht nur die Rolle der Opposition, sondern die jeder demokratischen Partei im freiheitlichen Verfassungsstaat. Weder die Regierung, noch die Opposition, noch irgendeine Partei haben in unserem Staat einen Selbstzweck. Sie sind nicht - und dürfen es niemals werden - Ziel unseres politischen Handelns, sondern sie sind immer nur von instrumentalem Charakter, sie sind immer nur Mittel. Allein diese Erkenntnis ermöglicht die Handlungssolidarität verschiedener politischer Kräfte zum Wohle des Ganzen.
In der Regierungserklärung sagten Sie nun, Herr Bundeskanzler - ich darf zitieren -:
Wenn wir uns über Ziel und Aufgabe einig sind, wird der Streit um den besten Weg dorthin seine ätzende oder verletzende Schärfe verlieren.
Sie sagten das im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Ostpolitik. Aber ich glaube, daß dieses Wort generelle Geltung für sich beanspruchen kann. Ich teile diese Ihre Ansicht mit Ihrer Hoffnung, meine aber, daß es dann auch geboten ist, in jeder Phase der Diskussion deutlich zu machen, welches Ziel - auf verschiedenen Wegen vielleicht
- jeweils angestrebt wird, und daß darauf verzichtet wird, schon den anderen Weg als falsches Ziel zu markieren.
({1})
- Was meinen Sie, Herr Kollege Schäfer?
({2})
- Nein, das haben wir mit unserem Fraktionsbeschluß durchaus nicht getan. Um - gerade weil Sie den Einwurf machen, Herr Kollege Schäfer - an einem Beispiel, das ich für fundamental für die deutsche Politik halte, klarzustellen, was damit gemeint ist: Damit ist z. B. gemeint, daß Friede, Entspannung, Freiheit und Sicherheit in diesem Hohen
Hause unstreitige Wert- und Zielvorstellungen sind. Das heißt dann aber auch, um nun präzise die Konsequenz zu ziehen, daß es auch nicht so ist, als gäbe es in diesem Hause irgendeine Seite, die Friedenspolitik treibt, während die andere Seite keine Friedenspolitik treibt, Wir müssen in unserer Diskussion um unseres Volkes willen festhalten, daß diese gemeinsame Zielvorstellung zu den unaufgebbaren Gütern der deutschen parlamentarisch-freiheitlichen Demokratie gehört.
({3})
Ich sage das, weil auch wir im Wahlkampf von Anhängern der Koalitionsregierung oftmals Äußerungen gehört haben, als gebe es hie eine Friedensseite, hie keine Friedensseite, als seien da welche, die wollen Entspannung, als seien da welche, die wollen nicht Entspannung. Nein, lassen wir uns in diesem Hohem Hause um unseres eigenen Interesses und um unseres Volkes willen in diesen fundamentalen Dingen nicht auseinanderdividieren!
({4})
Es gehört zum Wesen des Parlamentarischen, daß wir um den jeweilig notwendigen Konsens ringen, den es soweit wie möglich in der Innen- und Außenpolitik anzustreben gilt.
Herr Kollege Arndt, Sie haben soeben in Ihrem Beitrag ein klassisches Beispiel für die Problematik geliefert. In der politischen Zielsetzung „Europa" - so habe ich Sie verstanden - ist zwischen uns kein Dissens, und ich hoffe auf ein starkes Zusammengehen aller Kräfte dieses Hauses in der europäischen Politik, in der Politik hin zur politischen Einigung Europas. Aber wenn Sie nun eine Alternative aufbauen, „hie Stabilitätspolitik" und „hie europäische Zielsetzung", dann sage ich: eine solche Alternative existiert für mich nicht. Sie haben den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU insofern ganz richtig verstanden: für uns ist das keine alternative Fragestellung, die Sie hier berührt haben, sondern für uns ist es ein Ineinander. Ich sage sogar: bei der hohen Bedeutung, die der nationalen Preisstabilitätspolitik auch im Hinblick auf die europäische Integration zukommt, ist die Frage der Preisstabilität unter diesem Gesichtspunkt eine der Bedingungen, daß wir mit der notwendigen Stärke zu dem auch von Ihnen und mir gemeinsam akzeptierten Zielpunkt finden. Hier soll man nicht so tun, als würde die Lehre von der Priorität bedeuten, daß es überhaupt nur eine Priorität gebe und alles andere gleichsam subsumierbar sei. Von politischen Prioritäten kann man jeweils nur dann sinnvoll sprechen, wenn man die einzelnen Handlungsfelder und ihre gegenseitige Verschränkung sieht. Diese Differenz - vielleicht ist dort eine Differenz zwischen uns, Herr Kollege Arndt - ist vielleicht eine Differenz in der Bewertung der Stelle und des Weges, ändert aber nichts an unserem gemeinsamen Ziel. Ich habe das nur als Beispiel gebracht, weil ich glaube, daß wir in diesem Hohen Hause - das sei an die Adresse aller gerichtet, auch an unsere eigene -einmal fragen sollten; wie wir überhaupt politisch miteinander sprechen.
Um einen weiteren Punkt anzugehen: das gilt auch für das Problem des Reformwillens. Herr Flach und auch Herr Bangemann haben, wenn ich sie recht verstanden habe, wieder einmal versucht, das altbekannte Schema, „hie konservativ", „hie progressiv", auf die Situation in diesem Hause anzuwenden. Ich weiß nicht, ob das überhaupt noch einer abnimmt; jedenfalls ist es falsch, selbst wenn es noch einer irgendwo abnehmen sollte.
({5})
Lassen Sie mich dazu eins sagen: Diese Alternative, „hie progressiv", „hie konservativ", ist im Grunde genommen zur totalen Sterilität verurteilt. Der „Nur-Progressive" ist für mich genauso eine politische Verkümmerungserscheinung wie der „NurKonservative".
({6})
Ich kann mir einen „Nur-Progressiven" überhaupt nicht anders vorstellen als ein besonders neurotisches Exemplar.
({7})
Er würde es auch gar nicht aushalten. Gerade derjenige, der in verantwortungsbewußter Weise Reformen will oder der sich hier oder dort - das Feld mußte jeweils einzeln bestimmt werden - zur Progressivität bekennt - wir müssen klären, was das heißt -, wird es mit Dauer und geschichtlicher Mächtigkeit, Herr Flach, ohne Verwurzelung in seiner eigenen Geschichte und ohne Beherzigung auch der traditionellen Strukturen, die uns noch bestimmen, nicht tun können. Das bedeutet nicht die Heiligsprechung der Vergangenheit, aber soviel, Herr Flach, sollten wir doch von der modernen Kultursoziologie gelernt haben -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bangemann?
Ja, aber darf ich den Satz eben zu Ende führen?
({0})
Bitte!
... aber soviel sollten wir doch von der modernen Kultursoziologie gelernt haben, Herr Kollege Flach, daß das Absterben gegenüber dem Geschichtlichen, das, wie ich sagen möchte, dann auch auf den konservativen Bezug Verzichtende, zur Ohnmächtigkeit verurteilt.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja, gerne, Herr Kollege Bangemann.
Herr Kollege, ich habe meine Ausführungen zu der Frage progressiv und
konservativ gar nicht so grundsätzlich gemeint, auch nicht medizinisch. Gestatten Sie deshalb eine einfache pragmatische Frage: Halten Sie Ihr Mitbestimmungskonzept mit der Lösung 7 : 5 für progressiv?
Ja, natürlich.
({0})
Herr Kollege Bangemann, sehen Sie, hier sind wir jetzt wieder an jenem Punkt: Ich bin etwas erstaunt, daß ausgerechnet ein Liberaler, gleichsam als hätte er ein Monopol, in der Lage ist, die Kriterien dafür, was konservativ und was progressiv ist, aus dem Hut zu zaubern.
({1})
Ich meine das nicht medizinisch, denn ich bin kein Mediziner, aber ich nehme an, Herr Kollege Bangemann, das sind Sie auch nicht.
({2})
Es ist auch keine medizinische Frage, sondern eine einfache Frage, die wir hier erörtern können: Herr Kollege Bangemann, wären Sie geneigt, mir diejenige Stelle in Deutschland oder sonstwo auf der Welt anzugeben, die mir erklärt, warum diese oder jene Aussage progressiv, fortschrittsbezogen ist? „Nur-Anders" heißt doch noch nicht progressiv. Ich erfahre täglich in der rechtspolitischen Diskussion, daß jemand hingeht, Rückgriffe auf Rechtsformen von vor zweitausend oder anderthalbtausend Jahren macht und sie mir als progressiv verkauft. Das ist schon eine ulkige Angelegenheit. Nein, es muß schon in der Sache selbst wurzeln.
({3})
Ich halte durchaus auch andere Lösungsmodelle für diskutabel. Ich halte Ihr Freiburger Modell genauso wie das Modell des Deutschen Gewerkschaftsbundes für diskutabel. Das lehne ich ja auch nicht von vornherein ab, sondern prüfe es auf seine Funktionalität in diesem geschichtlichen Augenblick. Wo käme ich hin, wenn ich sagte, nur weil das von der SPD ist, schaue ich mir das gar nicht erst an. Wenn mir die SPD etwas Gutes auf den Tisch des Hauses legt und ich finde das gut, werde ich das selbstverständlich auch sagen.
({4})
Ich habe aber etwas dagegen, daß man mir sagt, weil es von Herrn Bangemann kommt - ich will gar nicht Ihre ganze Fraktion damit ansprechen -, ist es progressiv. Wo kämen wir denn da hin?
({5})
Herr Bangemann, Sie waren damals noch nicht im Hause, und ich darf Ihnen daher sagen: Die einzige wirkliche Erklärung zum Stellenwert und zur hohen Bedeutung von Utopien für die Gestaltung der Realität ist bisher, soweit ich gehört habe, in diesem Hohen Hause von der CDU/CSU-Fraktion gekommen.
({6})
- Ich trage Ihnen nicht nach, wenn Sie es vergessen haben. Ich darf Ihnen das einmal vorlesen. In der Diskussion um das Eherecht habe ich für meine Fraktion und mit Zustimmung meiner Fraktion folgendes ausgeführt:
Regierung und Gesetzgeber sind stets dazu aufgerufen, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verbessern, ja, zu verändern, wobei sie freilich wissen müssen, daß es dabei um die Herstellung eines schlechthin idealen Zustandes nicht gehen kann. Andererseits gilt, daß für den Gesetzgeber die Orientierung an idealtypischen Vorstellungen notwendig ist auch und gerade, wenn er weiß, daß er sie nicht in vollem Umfang Wirklichkeit werden lassen kann. Wer die Geschichte der Utopien kennt, der weiß, daß in ihnen die alte Sehnsucht der Menschen nach vollkommenem Glück, nach absoluter Gleichheit und absoluter Freiheit lebt. Solche Utopien sollten wir nicht verachten. Sie haben einen hohen Wert für unsere kritische Haltung gegenüber dem Bestehenden.
Ich möchte das auch hier noch einmal bekräftigen und sagen: wer möchte in diesem Hause denn behaupten, hier gäbe es einen Teil, der wolle Reformen, und einen anderen Teil, der wolle keine Reformen.
({7})
Darf ich diese Frage doch einmal stellen?
({8})
- Ich bedaure es außerordentlich, daß Sie an diesem Punkte nun lachen; ich will Ihnen sagen, warum. Ich bedaure es um der Reformen selbst willen.
({9})
- Jawohl, ich will Ihnen sagen, warum. Der Gesetzgeber, der einem modernen Verhältnis von Staat und Gesellschaft Rechnung tragen will, wird bestrebt sein, auch die unter Umständen entgegenstehende Reformvorstellung der Opposition so breit wie möglich in die dann zur Norm werdende Gesetzgebung einfließen zu lassen, um einem möglichst großen Teil seiner Bürger zu ermöglichen, nach seiner Meinung und nach seiner Freiheit damit leben zu können. Dieses Wort stammt von keinem Geringeren als von Ihrem Kollegen Adolf Arndt, unserem verehrten Kollegen Adolf Arndt. Er hat einmal - ich glaube, es war nicht in diesem Hohen Hause, sondern an einem anderen Ort - gesagt: Die parlamentarische Demokratie baut nicht auf Rousseaus Lehre von der volonté générale auf. Sie setzt nicht - gleich, wer die Mehrheit stellt - den Willen der Mehrheit absolut, sondern sie bemüht sich, die Vorstellungen der Opposition, ja auch anderer, nichtparlamentarischer, freier Kräfte der Gesellschaft in die politische Willensbildung einfließen zu lassen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung etwas über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Bürger gesagt. Ich hoffe, ich interpretiere Sie richtig, wenn ich diese Passagen so verstehe - ich würde mich freuen, wenn dem so ist, und ich glaube es ja auch -, daß Sie eine
Absage an jegliche Identifikation von Staat und Gesellschaft getroffen haben.
({10})
Ausgerechnet ich sage das. ({11})
Ich habe niemals etwas anderes gesagt, und ich habe genau das ich bin bereit, Ihnen die entsprechenden Beiträge einmal zuzuschicken, wenn Sie sie lesen wollen - für das Kennzeichen des modernen Staatsdenkens gehalten, daß an die Stelle der alten Antinomie zwischen Staat und Gesellschaft, die im 19. Jahrhundert galt und die tief noch in das deutsche Verfassungsverständnis des 20. Jahrhunderts hineinwirkte, nicht etwa jetzt die Identität von Staat und Gesellschaft getreten ist, die übrigens das Merkmal aller Diktaturen von rechts und links ist,
({12})
wo eine gesellschaftliche Gruppe glaubt, ihr Gruppenverständnis sei dann identisch mit dem Staatsverständnis. Vielmehr ist an die Stelle der alten schroffen Antinomie ein Verhältnis mannigfacher Verflechtungen getreten, aber nicht die Identität. Nur unter einem solchen Staatsverständnis wird der Staat überhaupt seiner Ordnungsfunktion und seiner dienenden Funktion gerecht.
({13})
In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, habe ich Ihre Ausführungen über das Verhältnis von Staat, Bürger und Gesellschaft verstanden.
Wenn dem aber so ist - Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig, ich muß abkürzen , dann wird man erkennen müssen - und das ist zugleich auch ein Appell an uns alle , daß es entscheidend darauf ankommt, daß wir aus diesem unserem Staats- und Gesellschaftsverständnis heraus hier auch um den Konsens möglichst hart, sachlich, fair und offen ringen. Die Art und Weise, wie es uns gelingt, möglichst viel Konsens herzustellen, hat dann nichts mit dem Suchen nach einem „faulen Kompromiß" zu tun; übrigens ein typisch deutsches Wort.
({14})
Und sollte etwa jemand von Ihnen dort drüben - ich weiß nicht, wer es war - gesagt haben, wir hätten hier Grundwerte aus der christlichen Ordnung in Frage gestellt, so antworte ich: Nein, die haben wir nicht in Frage gestellt, aber wir haben gefragt: Lassen sie sich verantwortungsethisch denn überhaupt mit den uns angebotenen Mitteln erreichen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, wenn die Zeit dafür nicht von meiner Redezeit abgezogen wird.
Nein, sie wird nicht abgezogen.
Herr Kollege Mikat, zu Ihren vorhin ausgeführten Gedanken möchte ich Sie ganz konkret folgendes fragen. Sind Sie mit mir der Auffassung, daß die CDU lange Zeit der Gefahr, die Sie soeben gekennzeichnet haben, ausgesetzt war und daß es im Interesse des demokratischen Staates war, daß heute eine andere Regierung regiert?
({0})
Dazu kann ich Ihnen folgendes sagen. Erstens. Herr Kollege Schäfer, ich nehme an, daß Sie als Vertreter des Staats- und Verwaltungsrechts genauso gut wie ich wissen, daß dieser Gefahr, die ja eine 'strukturelle ist, natürlich jede Regierung, eine CDU-geführte Regierung ebenso wie eine SPD-geführte, ausgesetzt ist. Wir könnten uns höchstens über eine mehr oder weniger große Anfälligkeit im Ausgesetztsein unterhalten; das wollen wir hier nicht vertiefen. Sie sind der Gefahr genauso ausgesetzt wie wir, und ich kann nur hoffen, daß Sie der Gefahr der Identifikation von Staat und Gesellschaft genauso mannhaft begegnen, wie wir es getan haben in den Zeiten, als wir die Regierung stellten.
({0})
Zweitens. Auf die Frage, ob ich der Auffassung bin, daß ein Wechsel gut ist, möchte ich antworten, daß ich im Kräftespiel der parlamentarischen Demokratie den Wechsel grundsätzlich bejahe,
({1})
was nicht heißt, 'daß ich damit sie selbst bejahe, d. h. die jetzige Regierung.
({2})
Das ist doch selbstverständlich. Natürlich bemühen auch wir uns, hier wiederum die Regierung zu stellen; das ist ganz klar. Wenn wir dann wieder einmal 'die Regierung stellen, werden wir dieser eben beschriebenen Gefahr ebenfalls ausgesetzt sein. Das ist eine strukturelle Gefahr, um die die Inhaber von Amt und Macht wissen müssen.
({3})
In diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler - 'damit darf ich abschließen -, begrüße ich in der Tat 'das und da werden wir dann auch wieder fragen, wie sich Wort und Tat zueinander verhalten , was Sie über die freien gesellschaftlichen Kräfte gesagt haben. Denn auch sie tragen zu den Handlungsvollzügen und zur Konsensbildung bei. Konsensbildung in der parlamentarischen Demokratie ist Verzicht auf Durchsetzung einseitiger Gruppeninteressen, ist Absage an jeden Radikalismus rechts oder links, ist die Hoffnung, daß wir - Sie von der SPD, Sie von 'der FDP und wir von der CDU/CSU, unabhängig davon, welche Funktionen wir in diesem Hause auch innehaben, uns nicht nur menschlich, das setze ich voraus -, sondern auch sachlich-politisch näher sind als den Extremen, näher sind als den Radikalen. Wenn wir das immer wissen, daß wir uns näher sind, dann wird das Be196
mühen um den Weg, auch wenn wir nicht jede Strecke dieses Weges teilen, in der Einigkeit des Zieles ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie in diesem unserem Lande sein.
({4})
Das Wort hat Herr Minister Eppler.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich glaube, es ist gut, daß wir heute, vor allem durch die Beiträge von Herrn von Weizsäcker und Herrn Mikat, auch über einige grundsätzliche Dinge reden. Ich möchte zu diesen beiden Reden zuerst sagen, was Herr von Weizsäcker zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gesagt hat, nämlich: Manches klingt gut.
Aber, verehrter Herr Kollege Mikat, wir sind uns wahrscheinlich auch darin einig - wenn wir schon einmal dabei sind, auch das zu registrieren, worin wir einig sind -, daß die Gefahr nicht nur darin besteht, daß man Staat und Gesellschaft identifiziert, sondern gelegentlich auch darin, daß man sie zu weit auseinanderdividiert.
({0}) - Augenblick!
Ich frage mich, ob nicht eben dies heute bei dem Beitrag des Kollegen von Weizsäcker streckenweise der Fall war. War es denn nicht so, daß Sie den Staat - vielleicht war das gar nicht Ihre Absicht, aber so kam es für den Hörer heraus - eher und vor allem als eine Gefahr für die Freiheit und den Entfaltungsspielraum, von dem Sie sprachen, gesehen haben und viel weniger als eine Chance und einen Motor dafür? Wenn wir hier ein Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet haben - leider gegen die meisten Ihrer Stimmen -, dann doch deshalb, um diesen Spielraum der Freiheit und der eigenen Verantwortung zu vergrößern und nicht zu verkleinern,
({1})
d. h. es bedurfte der Organe des Staates, nämlich dieses Hauses z. B., um hier größeren Spielraum zu schaffen. Dies wird bei der Mitbestimmung dasselbe sein. Denken Sie auch an einen Bereich, für den ich direkt zuständig bin: unsere Zusammenarbeit mit den Kirchen in der Entwicklungshilfe. Wenn wir hier miteinander den kirchlichen Zentralstellen Geld geben, dann doch deswegen, weil der Staat den Freiheitsspielraum, den Aktionsspielraum dieser Kirchen in der Entwicklungshilfe nicht vermindern, sondern vergrößern will. Darin sind wir uns, wie ich sehe, einig.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte.
Herr Bundesminister, ist Ihnen nicht geläufig, daß das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 gegen alle Stimmen der SPD
verabschiedet wurde? War das eine andere Situation, als Sie sie jetzt hier darzustellen versuchen?
Herr Kollege, merken Sie denn nicht, daß es im Augenblick um etwas völlig anderes geht als um die Frage, wer 1952 für welches Gesetz gestimmt hat? Mir geht es darum, Sie daran zu erinnern, daß für uns der Staat der Bürger, der citoyens, von dem der Bundeskanzler gesprochen hat, auch ein Instrument dafür ist, den Freiheitsspielraum des Bürgers zu erweitern.
({0})
Für uns ist dieser Staat des „citoyen" selber Träger und Ausdruck der Freiheit. Deshalb bitte ich Sie, Staat und Gesellschaft nicht zu weit auseinanderzudividieren.
Herr von Weizsäcker, Sie haben heute einmal - ich habe einige Zeit darüber nachdenken müssen - vom Leistungsprinzip gesprochen und gesagt: „Es ist die Freiheit selbst, die das Leistungsprinzip fordert." Darüber müßte man einmal einen ganzen Abend wohl unter einigen Augen sprechen. Nur, ich habe gestutzt, weil jeder von uns weiß, daß es auch andere Systeme gibt, die wir in diesem Hause alle leidenschaftlich ablehnen, wo das Leistungsprinzip bis in den letzten Exzeß durchgesetzt wird und wo Leistung und Freiheit, Herr Kollege, in einem völlig anderen Verhältnis zueinander stehen.
Vielleicht verständigen wir uns doch auf folgendes.
({1})
- Bitte, regen Sie sich nicht darüber auf! Mir ging es nur darum, festzustellen, daß aus dem Begriff „Leistung" allein noch lange nicht die Freiheit kommt; so einfach ist das nicht.
({2})
Ich halte es überhaupt für wenig sinnvoll, in diesem Hause - anderswo mag es sinnvoll sein - darüber zu diskutieren, ob Leistung gut oder böse ist. Vielmehr sollten wir, Herr von Weizsäcker, einmal darüber diskutieren, was eigentlich Leistung ist. Dazu haben Sie heute einige sehr wichtige Bemerkungen gemacht, die wahrscheinlich noch genauer interpretiert werden müssen. Was führt denn dazu, daß manche in diesem Land leistungsunwillig geworden sind? Es könnte ja sein, daß es in der jungen Generation - und ich habe Beispiele dafür - viele gibt, die auf der einen Seite jede Leistung verweigern, auf der anderen Seite aber in dem Augenblick Unglaubliches leisten, in dem sie ein vernünftiges Motiv für diese Leistung finden.
({3})
In diesem Hause wäre es doch unsere Aufgabe, einmal darüber nachzudenken, wie wir ein Ziel, ein Motiv finden, das auch für kritische junge Menschen Leistung rechtfertigt. Das ist viel besser, als uns hier gegenseitig vorzuwerfen, wir seien für oder gegen die Leistung.
Herr Kollege von Weizsäcker, in dein Zusammenhang haben Sie auch über einen Begriff gesproBundesminister Dr. Eppler
chen, der in der sozialdemokratischen Tradition ebenso wichtig ist wie etwa in der christlichen - der katholischen oder protestantischen - Soziallehre, nämlich den Begriff der Solidarität.
Es heißt bei Ihnen: „Solidarität besteht nicht in der Leistung des Staates an seine Bürger als Beglükkungsobjekte." Hier ist wieder dieses Auseinanderdividieren, von dem ich vorhin gesprochen habe. Es ist aber doch umgekehrt so - auch wenn dieser Satz so stehenbleiben kann -, daß ohne die Forderung der Arbeiterbewegung nach mehr Solidarität das System der sozialen Sicherung nie entstanden wäre. Darum geht es doch.
({4})
Hinter diesem System steckt doch der Wille zur Solidarität. Dieses System bedeutet doch, daß der jeweils Junge für den jeweils Alten eintritt, daß der jeweils Gesunde für den jeweils Kranken einzutreten hat und der Heimatverbliebene für den Heimatvertriebenen. Was gibt es denn für einen anderen Grundgedanken dieses gesamten Systems als den der Solidarität! Deshalb sollten wir jetzt nicht so tun, als habe die soziale Sicherung mit Solidarität nichts zu tun, sondern etwas mit staatlichen Leistungen.
({5})
- Gut, meine verehrten Herren Kollegen von der Opposition, wenn Sie jetzt sagen: So war es gar nicht gemeint - ({6})
- Es ist gesagt worden: „Solidarität besteht nicht in der Leistung des Staates an seine Bürger als Beglückungsobjekte." Dies ist gesagt worden. Damit daraus kein Mißverständnis entsteht, habe ich hier einiges dazu ausgeführt. Wenn Sie meinen, daß das anders gemeint war, sind wir uns ja in diesem Punkte einig.
Nebenbei, Herr Kollege von Weizsäcker, wenn Sie das Thema Freiheit an der flexiblen Altersgrenze exemplifizieren, dann wäre ja wohl auch dazu noch etwas zu sagen. Alle miteinander in diesem Hause wollten durch die flexible Altersgrenze mehr freien Entfaltungsspielraum, Entscheidungsspielraum für unsere älteren Menschen. Alle wollten das.
({7})
- Nein! Wir wollten die Entscheidung zwischen
- wenn Sie so wollen - mehr Geld auf der einen und mehr Ruhe, mehr Erholung, vielleicht auch mehr Gesundheit auf der anderen Seite,
({8})
während Sie die Anreize für das Weiterarbeiten
und gleichzeitige Rente-Beziehen so hochgeschraubt
haben, daß der Entscheidungsspielraum dadurch nicht größer, sondern kleiner geworden ist.
({9})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Nein, im Augenblick nicht, Herr Kollege.
Wie dem immer sei: Sie müssen uns mindestens zugestehen, daß wir genau das wollten,
({0})
nämlich den Entfaltungs- und Entscheidungsspielraum der älteren Mitbürger vergrößern.
({1})
Meine Damen und Herren, es steckt in manchen von Ihnen immer noch die Vorstellung, daß soziale Sicherung etwas sei, was der Freiheit widerspräche. Für uns Sozialdemokraten
({2})
Lassen Sie mich das dann etwas vorsichtiger sagen.
({3})
Es gibt bei Ihnen Kollegen, die meinen, daß soziale Sicherung in einem bestimmten Stadium Freiheit gefährden könne. Ist das jetzt exakter ausgedrückt? - O. k.
({4})
Wir sind der Meinung - und dieser Meinung war schon ein Mann, der heute schon einmal zitiert worden ist, vor über 60 Jahren -, daß wirkliche Freiheit - nicht nur formale Freiheit - davon abhängt, ob jemand weiß, wovon er in den nächsten vier Wochen leben kann, oder ob er dies nicht weiß.
({5})
Dieses Zitat stammt von Friedrich Naumann; dies nur nebenbei.
Für uns ist soziale Sicherung ein Weg zu mehr Entscheidungs- und Entfaltungsfreiheit und nicht das Gegenteil. Deshalb, meine Damen und Herren, will ich noch etwas zum Begriff der Gleichmacherei sagen. Es gibt in Ihrer Fraktion einen Kollegen, der vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen erklärt hat, daß durch vielerlei Gesetze, die die CDU zu verantworten habe, die Vermögensverteilung in dieser Republik skandalös geworden sei. Wenn Sie jeden Versuch, daran auch nur ein bißchen etwas zu verändern, jedesmal als Gleichmacherei hinstellen, dann wundern Sie sich bitte nicht, wenn Ihnen die Arbeiter davonlaufen.
({6})
In diesem Lande geht es vorläufig überhaupt nicht um Gleichmacherei, sondern um ein bißchen mehr gleiche Chancen und ein bißchen mehr Gerechtigkeit.
({7})
Nun, meine Damen und Herren, hat Herr Kollege von Weizsäcker das Stichwort Lebensqualität ins Spiel gebracht. Ich bin sehr dankbar gerade ihm sehr dankbar -, daß dieses Stichwort jetzt auch von Ihrer Seite ohne jeden Spott gebraucht werden kann. Das war vor einem halben Jahr noch anders. Aber dann hat Herr von Weizsäcker heute gesagt, Lebensqualität könne nicht abgepackt und kollektiv zugeteilt werden. Meine Damen und Herren! Gerade hat jemand von Ihnen gesagt, hier würden Pappkameraden aufgebaut. Dies ist ein solcher Pappkamerad; denn in dem Wahlprogramm der Sozialdemokraten steht folgender Satz: „Die Verantwortung für die Qualität seines Lebens kann niemandem abgenommen werden; aber es liegt in der Verantwortung der Politik, positive Bedingungen für die Lebensqualität zu schaffen." Wozu also dieser Vorwurf, wir wollten dem Bürger Lebensqualität abgepackt ins Haus liefern?
Deshalb glauben wir auch, daß öffentliche Leistungen den Freiheitsspielraum der Menschen nicht einengen, sondern vergrößern. Wenn in einer Gemeinde ein Jugendzentrum gebaut wird, dann erhöht sich der Spielraum der Entscheidung eines jungen Menschen, wo er abends hingehen soll, über die Möglichkeit hinaus, die er heute schon hat, nämlich entweder zu Hause zu bleiben oder im Wirtshaus zu sitzen.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu dem, was Herr Mikat über die Begriffe progressiv und konservativ gesagt hat. Ich bin mit Ihnen einig, daß in jedem vernünftigen demokratischen Staat progressive und konservative Kräfte sein müssen und daß manchmal in einer Seele beides beieinander ist. Nur, was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist folgendes: Wir haben einen Punkt unserer geschichtlichen Entwicklung erreicht, an dem sogar derjenige, Herr Professor Mikat, der gewisse Dinge bewahren will, eine ganze Menge verändern muß. Das ist das Neue.
({8})
Wer nur unsere Städte als das bewahren will, was seit Jahrtausenden eine Stadt genannt wird, muß heute schon eine Menge verändern - vom Bodenrecht bis zur Verkehrspolitik.
({9})
Wer in diesem Lande nur noch bewahren will - also vielleicht aus einer altmodisch-konservativen Haltung heraus, die ich Ihnen gar nicht unterstelle -, der wird nicht bewahren, sondern der wird zerstören,
({10})
und zwar nicht nur unsere Städte. Das ist das Neue, und ich wollte das nur zu ihren Bemerkungen hinzufügen.
Schließlich noch ein Wort zum „C".
({11})
- Bitte werden Sie nicht gleich unruhig, ich will das gar nicht bösartig machen. Herr von Weizsäcker, Sie haben heute Herrn Flach kritisiert, weil er nach Ihrer Meinung die Verbindungen zwischen christlichem Glauben und Friedenspolitik zu einfach gesehen habe. Ich glaube, das war Ihre Kritik. Ich stehe nicht an, hier zu sagen, daß ich in jedem Falle mißtrauisch werde, wenn irgend jemand sagt: Der Christ muß, er muß Brandt wählen oder muß CDU wählen. Er muß überhaupt nicht, er kann nur; das gehört zur Freiheit eines Christenmenschen. Bitte, kehren wir jeder vor unserer eigenen Tür. Was die Anzeigen in Baden-Württemberg angeht, habe ich in meiner Partei sehr deutlich gesagt, was ich dazu denke, und deshalb hat es in der Bundestagswahl solche Anzeigen nicht wieder gegeben. Aber so einfach, wie Sie es sagen, Herr von Weizsäcker, ist es nun auch wieder nicht. Kein Mensch in diesem Hause zweifelt an dem Friedenswillen irgendeiner Fraktion oder irgendeines Abgeordneten in diesem Hause, weil jeder Zweifel am Friedenswillen ein Zweifel am gesunden Verstande wäre. Dies ist selbstverständlich. Worum es in diesem Zusammenhang geht, ist nicht, ob wir für den Frieden sind, sondern es geht darum, wer mehr für den Frieden einzusetzen, und ich sage es ausdrücklich: auch einmal zu riskieren bereit ist. Darum geht es bei dieser Auseinandersetzung.
({12})
Dieser Bundeskanzler hat immerhin seine Mehrheit, seine Regierung riskiert um der Friedenspolitik willen, die er für richtig gehalten hat, und Sie haben dafür gesorgt, daß er seine Mehrheit und seine Regierung deshalb riskieren mußte.
Was ich Ihnen vorwerfe, Herr von Weizsäcker, ist, daß Sie in der Diskussion immer wieder gesagt haben - auch Sie selbst -: Dieser Bundeskanzler mag es ja ganz gut meinen, er hat gute moralische Absichten; aber wir kennen ja die Realität, und deshalb ist das, was er tut, politisch nicht legitim. Ganz abgesehen davon, daß alle übrigen konservativen Politiker Europas anderer Meinung waren als Sie: Wenn eine christliche Partei einem sozialdemokratischen Bundeskanzler vorwirft, sein Friedenswille komme zu unmittelbar zum Ausdruck - das war doch der Vorwurf - ({13})
- Ich kann. Herr Barzel, ich erinnere mich an eine Fernsehdiskussion, die ich mit Herrn von Weizsäcker geführt habe. Ich habe jetzt leider nicht das Manuskript da. Da hat Herr von Weizsäcker neben vielem Klugem auch folgendes gesagt: Ich bezweifle gar nicht, daß dieser Bundeskanzler Frieden will und daß die Absichten richtig sind. Aber er bringt da Moral ins Spiel, wo eigentlich politisches Kalkül sein müßte. Das ist meine freie Übersetzung; ich glaube, Sie werden das nicht bestreiten. Eben dies hätte ich lieber von jemand anderem gehört als von
einem Mitglied einer christlichen Partei. Das ist der entscheidende Punkt.
({14})
- Wenn Sie das nicht glauben, dann will ich Ihnen etwas vorlesen, was ein früheres Mitglied der CDU Ihnen zu diesem Thema gesagt hat, und zwar in der Januar-Nummer der „Evangelischen Kommentare". Darüber sollten Sie einmal nachdenken, wenn Sie jetzt über Grundsätze nachdenken, nicht nur über das, wo ich vielleicht unrecht haben könnte. Da heißt es:
Was dagegen in der modernen Theologie, in der ökumenischen Diskussion, in den kirchlichen Reformbewegungen an Denkprozessen vor sich ging, wurde entweder - von der CDU/CSU - mit Argwohn abgewehrt oder aber überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.
Das ist genau das, was ich in diesem Zusammenhang meine.
Ein Letztes. Herr Flach hat heute von der Angst gesprochen. Lassen Sie mich das einmal ein bißchen anders ausdrücken. In der Bundesrepublik steigen jeden Sonntag Zehntausende von Pastoren und Priestern auf die Kanzel, um den Menschen die Angst zu nehmen, die sie mit sich herumtragen. Nun haben wir einen Wahlkampf erlebt, in dem eine Partei, die sich christlich nennt, genau von der Angst zu leben versuchte, mit der die Kirchen leider nicht ganz fertigwerden.
({15})
Dies ist einer der Gründe, warum ich mich der Anregung Eberhard Stammlers anschließen möchte, daß Sie sich das „C" doch noch einmal gründlich überlegen sollten.
({16})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Marx.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Regierungserklärung des Jahres 1973 mit jener von 1969 vergleicht, wird in der Deutschland- und Außenpolitik manche jener Grundsätze nicht mehr vorfinden, die lange Jahre gegolten haben und gemeinsam in diesem Hause formuliert worden sind. Die damalige Ankündigung eines Bruches mit diesen gemeinsamen Überzeugungen hat in knapp drei Jahren dazu geführt, daß unser Land wichtige Interessen aufgegeben und zeitlich nicht begrenzte, eine Revision ausschließende Verträge unterzeichnet hat, die als Beitrag zur Normalisierung und Entspannung bezeichnet werden. Darüber, meine Damen und Herren, wird noch oft in diesem Hause zu sprechen sein. Denn die Auswirkungen der neuen Bindungen, die laut gehegten Hoffnungen auf bessere Zeiten und die Bewährung dessen, was hier oft unter Verbiegung der Begriffe „Normalität" und „Frieden" genannt wird, sind unausweichliche Themen des politischen Kampfes und der Auseinandersetzung, und zwar - wie uns Kollege Eppler in seiner Reden eben sagte - nicht nur
der kommenden Jahre, sondern auch dieser Debatte.
Der Bundeskanzler hat diesmal die außenpolitischen Dinge relativ knapp behandelt. Seine Aussagen gingen selten über das Allgemeine hinaus. Diese Kargheit der Aussage hat uns nach all den pompösen Ankündigungen überrascht. In Osteuropa wird dies sogar vielerorts sogar als enttäuschend empfunden. Ob die Amerikaner nicht darüber verblüfft sind, daß ihre politische und militärische Präsenz in Europa lediglich „für die Bewahrung eines ausgeglichenen Kräfteverhältnisses" unerläßlich sein soll, wird sich zeigen.
({0})
Meine Damen und Herren, es kann keinen Zweifel darüber geben, daß auch in den vor uns liegenden Jahren die Entwicklung unserer Außenbeziehungen von großer Wichtigkeit ist. Stichworte wie die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft, der Freihandelszone mit den Rest-EFTA-Staaten, Bündnispolitik, Verhältnis zu den USA, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, Verhandlungen über ausgewogenen Truppenabzug, Verbesserung unseres Verhältnisses zu China, solche Stichworte markieren einige wichtige Felder unseres gemeinsamen politischen Wirkens.
Generell aber bewegt uns, die CDU/CSU-Fraktion, der Gedanke, nicht noch stärker dem Sog sowjetischer Politik ausgesetzt zu werden, mit all den jetzt bei uns fühlbaren Begleiterscheinungen des Abwiegelns, des Herunterspielens und des Kaschierens, die wir gegenwärtig Tag um Tag gegenüber den Vorgängen in der DDR und der jetzt Staatsgrenze genannten Demarkationslinie erleben.
Wir beurteilen die Absichten und Taten der Bundesregierung danach, wieweit sie dem Frieden und der Freiheit dienen, wieweit sie den Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen, und auch danach, ob diese Regierung mutig genug ist, auf verletztes Recht, auf gequälte Menschen, auf eingeschränkte Menschlichkeit nicht nur hinzuweisen, sondern dazu ihre Meinung zu sagen.
({1})
Denn, meine Freunde, Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg hat in seiner letzten Rede hier an dieser Stelle gesagt: „Die Demokratie lebt davon, daß die Demokraten die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit!"
Uns ist es in den letzten Monaten öfters begegnet, und zwar hier und draußen, daß Fragen von uns, zum Beispiel nach Schikanen in der DDR und nach der Situation an der Demarkationslinie, nach Schießereien, nach nicht eingelösten Versprechungen, nach Umsiedlerzahlen, nach Häftlingen als Störung empfunden und auch so bezeichnet wurden. Um es einmal ganz klar zu sagen: Wenn die Fraktion der CDU/CSU oder einzelne ihrer Mitglieder solche Probleme aufwerfen, Fragen stellen, sich dazu zu Wort melden, dann tun sie das, weil immer noch gegen Menschen- und Grundrechte gehandelt, weil immer noch die Charta der Vereinten Nationen ver200
letzt, weil immer noch in einem Teil unseres Landes die Menschlichkeit mit Füßen getreten wird.
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Wir fragen und mahnen nicht, weil wir etwa gerne querulieren, sondern weil wir in der Wirklichkeit ,der DDR vieles anders sehen, als es uns offiziell gesagt wird. Wir können uns nicht - w i r nicht - von unserer Pflicht als einer wachsamen Opposition abdrängen lassen, denn wir sind und bleiben allen Deutschen verpflichtet, dem ganzen Volk, und an Verharmlosungen und - ich sage das auch an Leisetreterei und an eifrigem Verständnis für die schwierige Lage der Regierung der DDR, auf die man doch Rücksicht nehmen müsse, werden wir uns in der hier geübten Form nicht beteiligen.
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Herr Bundeskanzler, wir mahnen deshalb erneut einen Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland an;
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denn das, Herr Bundeskanzler, was Sie in Ihrer Erklärung ankündigten, nämlich einen Bericht über die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur DDR, ist etwas anderes. „Beziehungen" ist ein Wort aus der diplomatischen Sprache. Natürlich interessiert uns das Verhältnis zwischen hier und dort und umgekehrt, sozusagen die offizielle Schiene. Uns interessiert auch, was diese unsere Regierung mit dem großen Apparat, der ihr zur Verfügung steht, dem Parlament und dem Volk zu sagen weiß über die Lebensverhältnisse der Menschen drüben, auch über ihre Fortschritte, natürlich, auch über das Ausmaß und das Fehlen ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten. Wir wollen, Herr Bundeskanzler, die Lebensqualität unserer deutschen Mitbürger in der DDR kennen und die Wirklichkeit ihres Alltags, die bei ihnen bitterer schmeckt als bei uns.
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Herr Bundeskanzler, wir möchten auch nicht mehr gern die hier jetzt eingeführte Formel hören, die unserer Überzeugung nach die Wirklichkeit verhüllt und die sagt: Im gemeinsamen Vaterland gebe es zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme, die sich seit dem Kriege so entwickelt hätten. Automatisch hat sich da gar nichts entwickelt, sondern bewußt,
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zielstrebig ist die Einheit zerstört und ist Unmenschlichkeit erzwungen worden und gegen den Willen der Deutschen ein totalitärer Staat errichtet worden, der sich fundamental von unserer Rechtsordnung, unserem Rechtsverständnis und unseren Herrschafts- und Machtverhältnissen unterscheidet.
Unsere Politik soll dem Frieden und der Freiheit dienen. Ich erinnere daran, daß Kurt Georg Kiesinger in seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 ganz ausdrücklich hervorgehoben hat -ich zitiere -, daß der Wille zum Frieden und zur Verständigung der Völker „das erste Wort und Grundanliegen der Außenpolitik" seiner Regierung sei.
Unser großes Ziel - das ist hier wiederholt angesprochen worden - ist die europäische Einigung. Wir, die CDU/CSU, werden nicht nur mit dabeisein, wenn es gilt, die politsche Union Europas zu entwickeln, sondern wir werden sie auch tatkräftig fördern. Es bedarf dazu der Entschlossenheit des ganzen Hohen Hauses; denn ,die Sache, um die es dabei geht, ist viel komplizierter und braucht viel mehr Zeit, als es in mancher Festrede dargestellt wird. Ich sage: Wir werden sie fördern, denn von Anbeginn an, sozusagen in der Geburtsstunde der Christlich-Demokratischen Union wurde der starke Wille entwickelt, Europa endlich zu einigen. Es war die Lehre aus der jüngsten Geschichte und aus dem schrecklichen Krieg, daß wir die ökonomischen und politischen, die kulturellen und sozialen Kräfte des Kontinents zusammenbinden, damit die Hoffnung seiner Jugend sich erfüllt, daß der alte Erdteil in seiner Vielfalt seine Einheit findet und daß er seine schöpferischen Kräfte reich entfaltet und seinen Menschen eine höhere, bessere Stufe ihres Daseins ermöglicht. Die Partei Konrad Adenauers kann, wird und will nicht vergessen, daß es ihr oberstes außenpolitsches Ziel war und natürlich bleiben wird, ein Europa der freien Völker zu schaffen.
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Meine Damen und Herren, ich füge aber auch gleich hinzu: Europa ist für uns mehr als bloß sein westlicher Teil. Das geographische und geschichtliche Europa weist über die Linie hinaus, die Ost und West trennt. Wir vergessen nicht, daß, abgesehen von unseren Landsleute drüben, die Polen und die Ungarn, die Tschechen, die Slowaken und die Ukrainer, die Letten, die Esten, die Litauer - ich nenne damit fast vergessene Namen -, die Bulgaren, die Rumänen und die Russen alle europäische Völker sind und daß in ihnen der Drang nach Freiheit als unverwechselbarer europäischer Auftrag lebt.
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Jenes Europa, die Menschen dort, ihre kulturelle und geschichtliche Leistung werden wir in unserer politischen Alltagsarbeit keinen Augenblick vergessen dürfen. Wir wissen, daß sie schweigen müssen, daß sie eingepfercht sind von den Doktrinen des Eroberers, von seinen Soldaten und Waffen. Wir wissen, daß viele von ihnen mit uns zusammensein wollen, dies aber nicht dürfen.
Meine Damen und Herren, der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Kühn, hat vor wenigen Tagen einer spanischen Zeitung ein Interview gegeben,
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von dem er wohl annahm, daß wir es nicht zu Gesicht bekommen würden. Er sagte, man müsse in Zukunft - ich zitiere - mehr an ein völlig vereintes Europa als an ein teilweise vereintes Europa denken und er hat seine Vision in die Formel „ein einziges Europa von Madrid bis Moskau" gekleidet. Natürlich wollen wir alle ein ganzes, ein nicht zersplittertes Europa. Aber es muß frei sein. Dies ist die grundsätzliche Voraussetzung.
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Wir hoffen nicht, daß Herr Kühn in seiner Bemerkung jenem anderen Europakonzept eine Reverenz erweisen wollte, das uns zuerst in homöopathischen Dosen und dann in etwas grober Manier von den Sowjets eingebleut werden soll, unter anderem auch auf dem Wege über eine sogenannte europäische Sicherheitskonferenz. Es gibt dialektisch geschulte Leute, die auf die Formel „von Madrid bis Moskau" gern mit der Formel von „Moskau bis Madrid" antworten. So steht denn auch die Konferenz von Helsinki für manchen Propagandisten unter der geographischen Losung „vom Ural bis zum Atlantik".
Meine Damen und Herren, seit dem 22. November beraten die europäischen Botschafter sowie die Botschafter der Amerikaner und Kanadier in Helsinki darüber, wie man eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zustande bringen könne. Für uns gibt es dabei, um das gleich zu sagen, keinen Automatismus, etwa eine unmittelbare Folge von den Besprechungen der Botschafter über eine Vorkonferenz hin zu einer Hauptkonferenz. Wir wollen sehen und abwarten, was sich von Beginn her entwickelt.
Die Sowjets haben diese Konferenz mit großer Beharrlichkeit seit vielen Jahren gefordert. Wenn man sich in die Reden ihrer Führer und in ihre offenliegende Literatur vertieft, muß man vermuten, daß die östliche Seite mit dieser Konferenz folgende Ziele anstrebt: erstens die multilaterale Bestätigung ihrer Eroberungen in Ostmitteleuropa, zweitens Störung und schließlich Zerstörung des europäischen Einigungswerkes, drittens den Versuch, die Amerikaner hinauszudrängen und viertens die Errichtung einer sowjetischen hegemonialen Stellung über ganz Europa. Insoweit soll in diesen sowjetischen Vorstellungen die Sicherheitskonferenz ein Instrument ihrer Westpolitik werden. Ich füge hinzu, daß es sehr auf die Haltung und Solidarität der westlichen Länder ankommt, ob die Konferenz von Helsinki tatsächliche Sicherheit und Zusammenarbeit, Durchlässigkeit der Grenzen und freie Bahn für Menschen, Informationen und Meinungen bringt oder mehr Abhängigkeit, mehr Furcht und mehr Unfreiheit.
Heute kann niemand mehr behaupten - so wie Sie, Herr Außenminister, das von diesem Platz aus nach Ihrer Rückkunft aus Moskau getan haben -, daß sich die sowjetischen Führer mit der Europäischen Gemeinschaft abgefunden hätten. Wer heute in die Presse des Ostens hineinsieht, stellt fest, daß dieses Europa als eine kleineuropäische Basis der aggressiven NATO diffamiert wird. Und man erfindet die tolle Geschichte von einem Kleineuropa, das sich unter dem unheilvollen Einfluß der Amerikaner von dem Zwei-Drittel-Europa getrennt habe, und jetzt gehe es darum, diese seit Ende des zweiten Weltkrieges falsch, verkehrt gelaufene Geschichte zu korrigieren und das, was man Großeuropa nennt, zu schaffen.
Dafür gibt es eine Reihe von organisatorischen Plänen. Ich möchte gern sagen, daß wir keine neuen gesamteuropäischen Gremien wollen, auch nicht ein exekutives Büro zwischen den Konferenzen, wie das
zunächst der polnische Ministerpräsident gefordert hat. Wir wollen dort keine neuen gesamteuropäischen Einrichtungen, die nach der Konferenz über die Köpfe der legitimen Regierungen hinweg dafür sorgen, daß die Konferenzbeschlüsse ausgeführt werden.
Heute ist nicht die Zeit, um gründlich und eingehend diese wichtige auf unser künftiges Schicksal kräftig einwirkende Konferenz zu besprechen. Aber ich denke, daß es dazu noch viele Möglichkeiten geben wird. Wir verbinden aber mit ihr einige generelle Fragen, die unsere deutsche Außenpolitik unmittelbar betreffen.
Erstens. Was heißt eigentlich europäische Sicherheit? Wir kennen keinen Staat auf diesem Kontinent, der die Sicherheit seiner Nachbarn gefährden könnte oder wollte. Dazu ist nur einer in der Lage, nämlich die Sowjetunion. Diese allerdings ist gerade der nachdrückliche Förderer der Sicherheitskonferenz. Zugleich verfügt sie über eine gewaltige militärische Übermacht.
Der Bundeskanzler hat mit Recht in seiner Erklärung darauf hingewiesen, daß der Warschauer Pakt seine Rüstung steigere und damit das „östliche Gesamtpotential" - wie es heißt - wesentlich erhöht werde. Die NATO und auch das Verteidigungsministerium - das ist im Weißbuch nachzulesen - zeigen sich beunruhigt, daß die sowjetische Rüstung weit über das für Verteidigung notwendig Maß hinausgehe. Ich frage mich, warum die Sowjetunion das in der Phase der Entspannung tut. Sie weiß genau, daß niemand im Westen sie angreift. Sie kennt auch genau die Sehnsucht der Völker nach Abrüstung und Frieden, aber sie handelt nicht danach, sondern sie benutzt diese Sehnsucht für ihre Zwecke.
Wir können diese Widersprüche doch nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen, in eine Mappe legen und dann abheften. Wir müssen also fragen: Was sagt die Erklärung der Bundesregierung dazu? Der Bundeskanzler meinte - ich glaube, das ist merkwürdig genug -, die Bundesregierung wolle aus ihrer Erkenntnis über die steigende Rüstung im Osten „keine voreiligen Schlüsse" ziehen. Lassen wir einmal das Wort „voreilig" beiseite, bleibt immer noch die Frage, von der ich hoffe, daß die Regierung sie beantwortet, welche Schlüsse die Regierung eigentlich zieht.
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Meine Damen und Herren, es müßte doch möglich sein, zu erfahren, ob der Bundeskanzler im September 1971 bei den Gesprächen in Oreanda oder vielleicht der Bundesminister Bahr bei seinem Vier-Stunden- und Vier-Augen-Gespräch mit Leonid Breschnew im vergangenen Herbst etwas über die Gründe haben erfahren können, welche die Sowjetunion veranlassen, eine solch exorbitante Rüstung zur gleichen Zeit, da sie die Entspannung propagiert, zu betreiben. Dies ist in der Tat eine Rüstung - das sagen alle NATO-Dokumente, die dazu Stellung nehmen -, welche die Europäer um ihre Sicherheit fürchten läßt.
Zweitens. Was heißt Zusammenarbeit? Bedarf es hierzu einer aufwendigen Konferenz? Ich glaube,
daß der diplomatische übliche Verkehr unbeschränkt viele Formen der Zusammenarbeit bereithält. Nur müssen die großen und starken Länder den kleineren dies auch erlauben. Wir sind nicht dagegen, daß Zusammenarbeit auf einer europäischen Konferenz besprochen wird. Wir wollen jede Chance nutzen, um die einseitig durch den Willen der östlichen Parteiführer durchschnittenen europäischen Blut- und Nervenbahnen neu zu beleben. Darüber hinaus müssen wir zusätzliche, neue Chancen für Zusammenarbeit schaffen. Aber dieser unser Wille muß auf der anderen Seite auch eine Bereitschaft finden. Seit Jahren machen wir Vorschläge und Angebote in Fülle, und sie werden oft nur sehr zurückhaltend beantwortet. Auch die letzte und die gegenwärtige Regierung haben erleben müssen, daß vieles von dem, was im Überschwang der neuen Ostpolitik erwartet wurde, sich im harten Alltag nicht einstellte. Ich denke nur an den einen Halbsatz in der Regierungserklärung, der Bundeskanzler hoffe, in den Ost-West-Dialog auch Sofia und Budapest einbeziehen zu können. Ich erinnere mich, daß vor fünf und sechs Jahren und in der Zeit seither immer wieder davon die Rede war, es würde nun in Kürze der Weg frei sein, um diplomatische Beziehungen mit Bulgarien und Ungarn aufzunehmen. Aber offensichtlich hat man immer neue Hürden aufgebaut und macht jetzt die Aufnahme dieser Beziehungen abhängig von einer Formel zum deutsch-tschechoslowakischen Verhältnis und zum Münchener Abkommen, von der ich noch nicht sehe, wie sie aussehen soll, und nach dem Hinweis des Bundeskanzlers in seiner Erklärung erst recht nicht sehe, was er sich dabei denkt.
Meine Damen und Herren, wir sind zur Zusammenarbeit, und zwar in ganz konkreten Formen, bereit: zur Ausdehnung und Vertiefung der wissenschaftlichen Kontakte, der technischen, der wirtschaftlichen und der Handelsbeziehungen, zu einem breit gefächerten Austausch im kulturellen Bereich, beim Sport, bei der Jugend und der Touristik. Wir haben keine Furcht davor, daß möglichst viele Berührungen zwischen West und Ost unser Denken, unser politisches System umwerfen könnten. Aber ich sage: wir wollen auch keine staatliche Reglementierung dieser notwendigen Gespräche, sondern eine Öffnung der Grenzen und eine freie, nicht manipulierte Diskussion.
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Natürlich wissen wir auch, daß die technische Lücke - um nur einmal dieses für die östliche Seite sehr wichtige Thema anzusprechen - zwischen Ost und West zuungunsten der östlichen Staaten größer wird. Hier liegt ein besonderes Interesse, das wir von dorther kennen, Know-how des Westens zu erhalten und Vorteile unseres Wirtschaftssystems für sich nutzbar zu machen. Aber auch hier muß hinzugefügt werden: Zusammenarbeit in Europa kann nicht eine Einbahnstraße sein, dies muß von West nach Ost und von Ost nach West gehen.
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Drittens. Beide Seiten, der Osten und die westlichen Länder, haben, wenn man das richtig sieht, von den langfristigen politischen Zielen dieser Konferenz offenbar grundverschiedene Auffassungen. Die Diskussionen gerade der letzten Tage in Helsinki zeigen, wie sehr der Westen auf Mißtrauen und sogar auf Ablehnung stößt, wenn er verlangt, daß für Ideen, Informationen, Meinungen und Menschen Freiheit herrschen soll. Ich denke daran, Dr. Barzel, daß dieser Gedanke in diesem Hause als eines der zentralen Probleme unserer Politik angesprochen worden ist, und wir denken auch daran, daß - ich glaube, es war in Lissabon - die NATO damals diese Formulierung als gemeinsamen Wunsch des Westens in ihr Dokument übernommen hat.
Meine Damen und Herren, unserer Überzeugung nach können Sicherheit und Zusammenarbeit auf die Dauer nur erreicht werden, wenn sie nicht auf staatliche Institutionen und hin- und herreisende, ausgesuchte Funktionäre beschränkt werden, sondern wenn sie natürlich und zuerst den normalen Menschen berühren.
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Wir können daher gar nicht bereit sein, dem reaktionären Verständnis von Grenzen als nahezu unübersteigbaren Scheidelinien zwischen den Völkern zu folgen. Grenzen in einem Europa des wirklichen Fortschritts, der wirklichen Sicherheit, der wirklichen Zusammenarbeit können, das ist meine Überzeugung, in Zukunft nicht viel mehr sein als Markierungslinien für Verwaltungen. Sie dürfen Handel und Wandel und den Austausch - ich wiederhole das - von Menschen und Ideen nicht hemmen.
Meine Damen und Herren, in der Regierungserklärung heißt es, es komme der Regierung „vor allem auf praktische Ergebnisse an", und es wird hinzugefügt: „für die Menschen in Europa und Deutschland". Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Aber, Herr Bundesaußenminister, wir erinnern wieder und wieder daran, daß die sowjetische Seite sehr genau und gründlich mit Worten, Begriffen und Rechtstiteln umgeht, weil dies alles für die Sowjets kein Formelkram ist.
Viertens. Meine Damen und Herren, Entspannung ist nicht eine Sache der Worte, Entspannung ist eine Sache der Menschen. Sie muß den Menschen dienen und muß von ihnen gefühlt und erlebt sein. Der Bundeskanzler hat mit der Formulierung in seiner Erklärung „Die Entspannung produziert ihre eigenen Probleme" angedeutet, daß wir wohl mit kräftiger Gegenwehr aus Moskau und Berlin rechnen müssen. Ich denke daran, daß unser Besucher aus der Sowjetunion vom Herbst 1970, Juri Schukow, vor wenigen Tagen in der „Prawda" einen aufgeregten Artikel über die westlichen „Diversionsabsichten" geschrieben hat. Wir sehen ferner, daß die Propagandisten des tschechoslowakischen Husak-Regimes vor wenigen Tagen gemeint haben, man müsse sehr aufpassen, daß über die Konferenz von Helsinki nicht, wie sie sagen, „ideologische Konterbande" eingeschmuggelt werde. Wie schwach, meine Damen und Herren, muß ein System sein, das den Wettstreit der Systeme dauernd verkündet, wenn der Wettstreit aber offen beginnen soll, ihn dann nicht aushält und zurückweicht!
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Meine Damen und Herren, die Sowjets beziehen sich in der Außenpolitik ständig auf das Prinzip der friedlichen Koexistenz. Dies gelte überall, aber nicht auf dem Gebiete der Ideen. Wir nehmen sie beim Wort. Ich sage: Koexistenz zwischen allen Staaten, nicht nur zwischen Ost und West in ihrem Außenverhältnis, sondern zwischen allen Staaten, also auch zwischen den Staaten des Ostens. Dies aber schließt Intervention und militärische Besetzung aus.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, die Ergebnisse der Wahlen zum Fraktionsvorstand der SPD sind mittlerweile bekanntgeworden. Ich habe Verständnis dafür, möchte auch, ohne zu wissen, wer gewählt worden ist, herzlich gratulieren, möchte aber um die Freundlichkeit bitten, daß sich die Kollegen bei einer Auseinandersetzung über die Regierungserklärung ihres Parteivorsitzenden darum kümmern, daß man hier in einer Weise miteinander umgehen kann, wie dies vorhin Herr Eppler mit Recht vom ganzen Hause verlangt hat.
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Meine Damen und Herren, bei der wahrscheinlich bevorstehenden Konferenz werden wohl auch Fragen der Souveränität aufgeworfen. Nach allem, was wir an negativen Entwicklungen in den letzten Jahren in der deutschen Frage erlebt haben, ist das für uns fast so etwas wie ein Reizwort geworden. Darum frage ich, Herr Bundesaußenminister: Warum hat sich die deutsche Delegation in Helsinki nicht in jene Debatte eingeschaltet und nicht eindeutig votiert, die durch das kommunistische Rumänien ausgelöst worden ist, als es die Respektierung der vollen Souveränität jedes europäischen Landes unabhängig von dem militärischen Bündnis, dem es angehört, verlangt hat? Wir sollten die Argumente, die dort vorgetragen worden sind, nicht überhören. Es wird dort - ich zitiere - vom „heiligen Recht der Länder auf freie, souveräne und unabhängige Existenz" gesprochen. Die kommunistischen Rumänen wenden sich gegen jegliche Einmischung, gegen jegliche Gewaltandrohung und Gewaltanwendung. Meine Damen und Herren, hier hat jedes Wort seine Bedeutung, und wir sollten diese Bedeutung nicht durch Handlungen oder Unterlassungen einengen.
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Der Bundeskanzler sagt in der Regierungserklärung, daß es trotz der „ideologischen Gegensätze" möglich sein werde, einen „gemeinsamen Willen" bei dieser Konferenz herauszubilden. Diese Hoffnung kann man haben. Aber so einfach habe ich sie nicht. Denn ein gemeinsamer politischer Wille muß auf gemeinsamen Einsichten und Prinzipien beruhen. Gut, wird die Regierung sagen, die gibt es; z. B. wollen alle in Ost und West den Frieden, weil beide den Krieg ablehnen. Ober ohne dies jetzt und hier weiter vertiefen zu wollen, füge ich hinzu: Frieden und auch Krieg, wie sie auf der anderen Seite verstanden werden, und Frieden und Krieg, wie wir sie alle in diesem Hause verstehen, sind nicht identisch.
Fünftens. Die Helsinki-Konferenz soll natürlich auch die politischen Aspekte der Abrüstung diskutieren. Es muß gewährleistet sein, daß jene andere, wahrscheinlich noch länger dauernde, noch schwierigere Konferenz über eine beiderseitige ausgewogene Truppenreduktion in Ost und West mit der Sicherheitskonferenz sowohl zeitlich als auch sachlich verbunden bleibt. Wie zwei Zahnräder sollten beide ineinander greifen. Fortschritte bei der einen, sollten Fortschritte bei der anderen stimulieren können. Auch darüber, Herr Bundesaußenminister, hätten wir gerne konkret Meinungsäußerungen der Bundesregierung gehört, jedenfalls konkretere, als sie in der Regierungserklärung stehen oder uns heute vormittag hier angeboten worden sind.
Zum Schluß, meine Damen und Herren! Wir, die CDU/CSU, stellen uns mit großem Nachdruck dem Versuch entgegen, daß auf dem Umweg über solche Konferenzen unser wichtiger Verbündeter, die Vereinigten Staaten, aus Europa hinausgedrängt wird.
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Mit der psychologischen Vorbereitung dieses Hinausdrängens beschäftigen sich - wenn ich die Zeitungen recht gelesen habe, sogar Kollegen aus diesem Saale eine ganze Anzahl von Gruppen, Kreisen und Aktionskomitees. Unter dem Vorwand, für eine Beendigung des Krieges in Vietnam zu demonstrieren, hat sich der Antiamerikanismus in den letzten Wochen wie ein Buschfeuer ausgebreitet. Da gibt es so etwas wie eine innenpolitische Dimension der Ostverträge, die ihrerseits wieder eine außenpolitische, diesmal aber antiwestliche Wirkung erzeugen soll.
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Ich denke, wir alle haben guten Grund, das Verbleiben der amerikanischen Verbündeten auf dem europäischen Kontinent zu wünschen und nichts zu tun, was uns des amerikanischen Schutzes entkleiden würde.
Wir in diesem Hause sind von unseren Wählern nach Bonn geschickt worden, um in kleinen und großen Dingen für unser Volk und für seine Zukunft zu arbeiten. Die Regierung nimmt ihre Aufgabe wahr, das Parlament die seine und die CDU/CSU als Opposition die ihre. Wir werden unsere Gegensätze offen austragen. Wir möchten, daß die Bürger draußen im Lande dies alles erleben und mitdenken und Stellung nehmen und daß sie Vertrauen zu diesem Haus gewinnen. Keiner von uns kann sagen - keiner! -, daß er die ganze Wahrheit kennt, daß seine Meinung ausschließlich die einzige, die richtige sei. Aber jeder von uns sollte sich bemühen, jeder auf seiner Seite, auf der Grundlage seiner politischen Bekenntnisse; er sollte rastlos tätig sein, mit Leidenschaft seinen Willen dafür einsetzen, damit unser Land frei bleibt und damit diejenigen, denen das Mitwirken hier versagt ist, in ihren Hoffnungen auf uns nicht verzagen.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Scheel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es wird für die Debatte nützlich sein, wenn man zu den einzelnen Aspekten der Außenpolitik jeweils einen Dialog führt, um dabei auf die konkreten Fragen besser eingehen zu können.
Herr Kollege Marx, ich habe mich soeben gewundert, daß Sie nicht selber die Widersprüchlichkeit Ihrer Bemerkungen gefühlt haben. Mit einem außergewöhnlichen Pessimismus begannen Sie - z. B. Möglichkeiten und Erfolge einer europäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit -, führten die, in Einzelpunkten gegliedert, düsteren politischen Ziele der Sowjetunion auf, wie Sie sie uns dargestellt haben. Im zweiten Teil Ihrer Darlegungen haben Sie uns geschildert, welche Möglichkeiten sich offenbar schon jetzt für die Länder Osteuropas in diesen Konferenzvorbereitungen ergeben haben. Sie haben der Bundesregierung sozusagen den Vorwurf machen wollen, sie habe diese Möglichkeiten der freieren Bewegung, z. B. durch die rumänischen Vorschläge in Helsinki, nicht genutzt, um nachzustoßen und dadurch die zuständigen Persönlichkeiten endlich einmal kräftig in Fahrt zu bringen.
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Diese Art von Außenpolitik, verehrter Herr Kollege Marx, würde nicht zu dem Erfolg führen, den wir gemeinsam mit der Europapolitik verbinden, so, wie wir sie entwickelt haben, eine Europapolitik, die auf der Integration Westeuropas basiert, aber genau dasselbe Ziel ansteuert, das auch Sie hier soeben genannt haben, nämlich ein möglichst großes Maß an Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Osteuropa zu entwickeln.
Herr Marx, ich glaube, nun sollten wir uns doch hier unter erfahrenen Männern - ich bitte um Entschuldigung wegen des Mangels an emanzipatorischem Bewußtsein: unter erfahrenen Parlamentariern - darüber einig sein, daß z. B. die Forderung nach der Offnung der Grenzen in Europa, um Kontakte zwischen den Menschen zu schaffen und um zu konkreter Zusammenarbeit und zu konkreten Begegnungen zu kommen, in der heutigen Zeit natürlich noch keine Realität ist. Wer wollte heute behaupten, es wäre in einem Zuge möglich, die Grenzen zwischen West- und Osteuropa zu öffen!
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Die Politik, die wir heute treiben, Herr Marx, ist ja doch darauf gerichtet, die Zustände allmählich zu ändern. Man kann eben nicht aus dem Stand in einem Schritt die Freiheit in Europa erreichen, die wir doch alle gemeinsam wollen. Sie tun immer so, als ob nur ein Teil dieses Parlaments der Freiheit anhängen würde
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und die Freiheit für alle Menschen erreichen wollte.
Das ist unsere gemeinsame Überzeugung im Deutschen Bundestag; wir sollten uns das gegenseitig bescheinigen. Aber es kommt darauf an, welche politischen Wege man geht, um der Freiheit der Menschen in unserem eigenen Lande, in den beiden Staaten in Deutschland und in ganz Europa zu dienen. Wir glauben, daß wir in den letzten drei Jahren Erhebliches für die Freiheit der Menschen, auch in Europa, getan haben, was auch im Einzelfall sichtbar geworden ist.
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Sie, Herr Kollege Marx, haben ein paar konkrete Fragen gestellt, auf die ich gerne Antwort geben möchte. Ich fange dabei mit Ihren Schlußbemerkungen an; ich meine die Verbindung zwischen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und dem, was wir MBFR nennen. Aus der Feststellung, so wie Sie sie vorgetragen haben, glaube ich zu erkennen, daß unsere Meinungen identisch sind. Für uns gibt es einen unauflösbaren inneren Sachzusammenhang zwischen den beiden Bereichen. Aber es besteht die Notwendigkeit, daß die Verhandlungen über eine ausgewogene beiderseitige Reduzierung der Streitkräfte in Europa wegen des besonderen Stoffes gesondert geführt werden. Der Sachzusammenhang ist unauflösbar, und auch ein zeitlicher Zusammenhang in der Abwicklung der Phasen beider Konferenzen ist unverkennbar. Anders ausgedrückt, man muß auf einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gewiß nicht nur über Sicherheit in dem Sinne sprechen, wie es mancher in den Staaten des Warschauer Pakts möchte, nämlich über Verhaltensregeln der Staaten untereinander. Vielmehr wollen wir, wenn wir über Sicherheit sprechen, auch über militärische Sicherheit in Europa sprechen.
In dem, was wir KSZE nennen, wird man sicher über Prinzipien in diesem Bereich sprechen, vor allem auch sehr konkret über sogenannte vertrauensbildende und vertrauensstärkende Maßnahmen. Damit sind z. B. ein Informationsaustausch über die Dislozierung bestimmter Truppen und Waffensysteme, über beabsichtigte Manöver und ähnliches gemeint. Es könnte sogar vereinbart werden, daß gegenseitige Manöverbeobachtung erfolgt. All das würde helfen das Vertrauen zu schaffen, das die Voraussetzung für konkrete Schritte der zahlenmäßigen Verminderung der Streitkräfte in Europa sein wird. Denn das muß man wissen: Es ist gänzlich Illusion, anzunehmen, man könne jetzt, am Anfang der MBFR-Verhandlungen, schon über Zahlen bei der Verminderung von Streitkräften sprechen.
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Das ist die erste Frage.
Die zweite Frage wäre vielleicht noch aktueller: Wie stehen wir zu dem Beginn der Vorverhandlungen zur MBFR, über die gerade im Augenblick gesprochen wird? Wir sind sehr zufrieden damit gewesen, daß der Meinung der Mitgliedstaaten der NATO entsprochen wurde und ein fester Termin ins Auge gefaßt worden ist, zu dem die MBFR-Vorverhandlungen beginnen können. Das soll der 31. Januar sein. Wir hatten ursprünglich vorgeseBundesminister Scheel
hen, daß diese Vorverhandlungen in Genf stattfinden. Genf hat auch jetzt unsere Präferenz, weil wir einfach die Zuversicht haben, daß dort die rein technischen Vorbereitungen so weit gediehen sind, daß der Termin 31. Januar eingehalten werden kann. Aber wir haben auch nichts gegen Wien als Verhandlungsort. Wir finden Wien als Verhandlungsort durchaus geeignet. Wenn sich alle Beteiligten auf Wien einigen können und dort der Termin eingehalten werden kann, würden wir sicherlich nicht widersprechen. Es kommt also stärker auf den Zeitpunkt als auf den Ort an, zumal der zweite vorgeschlagene Ort von uns akzeptiert werden könnte.
Dann müssen wir uns natürlich darüber unterhalten, wie zweckmäßig der Vorschlag gewesen ist, den Teilnehmerkreis für MBFR auszuweiten. Wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, muß man feststellen, daß solche Verhandlungen mit Nutzen naturgemäß nur von denjenigen geführt werden können, die in dem geographischen Bereich, über den wir sprechen wollen, Truppen und Waffensysteme unterhalten. Das sind auf der Seite des Westens die Bundesrepublik, die Benelux-Länder, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada und auf der anderen Seite Polen, die DDR, die CSSR, Ungarn und die Sowjetunion. Hier ist der Teilnehmerkreis, glaube ich, von der Sache her umrissen worden.
Sicherlich - das unterliegt keinem Zweifel haben sowohl die nördlichen Anrainerstaaten dieses zentralen europäischen Bereiches als auch die südlichen
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ein ungewöhnlich großes Interesse daran, was dort geschieht; denn es ist ja nicht das Ziel einer solchen Verhandlung, daß durch eine Verdünnung der Truppenstärken und möglicherweise des Waffenpotentials in Zentraleuropa der Druck auf die Nord- und Südflanken verstärkt wird.
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Sie sehen, deswegen ist eben ein politischer Zusammenhang zwischen MBFR und KSZE gegeben, weil man gerade diese politischen Grundsätze auf dieser Konferenz mit denen besprechen muß, die daran interessiert sind und die natürlich auch ihrerseits Teilnehmer der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit sind.
Wir haben von seiten der NATO-Länder, und zwar derjenigen im NATO-Bereich, die selbst betroffen sind - den Vorschlag gemacht, daß man Beobachter zu den Vorbereitungen von MBFR zulassen könne, Beobachter sowohl der nördlichen als auch der südlichen Anrainerstaaten, so daß also Dänemark und Norwegen - wechselweise vielleicht - ebenso wie Griechenland, die Türkei und Italien, die an diesen Dingen interessiert sind, durch ihren Beobachter vertreten werden können.
Nun ist ein überraschender Gedanke hineingekommen, Herr Marx, bei dem man untersuchen muß: Wofür soll das eigentlich gut sein?
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Von der Sache her ist er, glaube ich, nicht gerechtfertigt. Wir werden kein abschließendes Urteil abgeben; denn dazu ist die Materie zu kompliziert. Wir werden uns in der NATO über diese Fragen noch einmal unterhalten und gemeinsam nachher den von uns angeschriebenen Mitgliedern des Warschauer Paktes unsere Meinung dazu sagen.
Zur KSZE selbst, Herr Marx, und zu der Frage eines ständigen Organs, das etwa zwischen in Aussicht genommenen Konferenzen als eine Dauereinrichtung geschaffen werden sollte: Auch hier gehen unsere Meinungen nicht sehr weit auseinander; das heißt, wir möchten nicht die bestehenden europäischen Einrichtungen, die sowohl Westeuropa als auch Osteuropa betreffen und sich immerhin bewährt haben - wie z. B. die europäische Wirtschaftskommission der UNO , aushöhlen. Ich sehe gar nicht ein, warum man durch ein ständiges Organ für alle europäischen Staaten diese wertvollen Arbeiten für die Zukunft unnötig machen sollte. Hier stehen wir in gewisser Weise den vorgetragenen Gedanken skeptisch gegenüber. Wir möchten zunächst einmal die Konferenz selbst in ihrem Ablauf beobachten und sehen, ob die Konferenz die Erfolge hat, die wir uns gemeinsam von ihr versprechen: Die Konferenz soll sich nicht darin erschöpfen, noch so schöne Grundsätze aufzustellen, Ziele zu weisen und Deklarationen für eine ideale europäische Politik zu verabschieden, sondern die Konferenz wird nur dann einen Erfolg gehabt haben, wenn an ihrem Ende praktische Entscheidungen stehen, die die Verbindungen zwischen West- und Osteuropa intensivieren und verbessern und mehr Möglichkeiten für die Menschen schaffen. Deswegen sind die Punkte: Verbesserung von Kommunikation, Verbesserung von Informationsaustausch, Verbesserung des Reiseverkehrs in Europa in unsere Tagesordnung aufgenommen worden. Wir sind ganz froh, daß dieser Punkt von den Ländern des Warschauer Paktes aufgenommen worden ist, wie wir gerade jüngst auch von unseren französischen Partnern wieder gehört haben, die in ihren Gesprächen mit der sowjetischen Seite von Herrn Breschnew erfahren hatten, daß man bereit ist, darüber zu sprechen. Das ist natürlich ein Vorteil.
Herr Kollege Marx, Sie haben soeben - etwas süffisant, schien mir, wenn ich das einmal einflechten darf - den Bundeskanzler und Herrn Bahr gefragt, ob sie nicht in Oreanda bei ihren Gesprächen, möglicherweise während der langen Unterhaltung in geheimem Rahmen, etwas von den wirklichen Absichten der Sowjetunion verspürt hätten.
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Ich darf nur, um die Dinge etwas zu objektivieren, sagen, daß Sie diese Frage möglicherweise auch an Herrn Pompidou hätten richten können,
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der in jüngerer Zeit - nicht in Oreanda, sondern
in der Nähe von Minsk - eine ähnliche Unterhaltung mit der sowjetischen Führungsspitze gehabt hat. Ich bin davon überzeugt, daß auch Herr Pompidou in dieser seiner Unterhaltung mit Herrn
206 Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Bundesminister Scheel
Breschnew ebensowenig Aufklärung über die sicherheitspolitische Zielsetzung bekommen hat, es sei denn, man hat ihm das gleiche erklärt, was Herr Breschnew nicht müde wird aller Welt zu sagen, daß nämlich die Sowjetunion den Frieden will. Dies ist ein Ziel, in dem wir uns mit ihm völlig einig sind, und wenn die in Gang gekommene Konferenzserie in Europa diesem Ziele wirklich dient, dann sollten wir froh sein, daß diese politische Entwicklung in Europa eingeleitet worden ist.
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Aber ich darf noch einmal erwähnen, daß wir nicht etwa mit dem von Ihnen möglicherweise vermuteten Leichtsinn in diese Politik hineinzugehen bereit wären.
Diese Politik, die in diesem Jahre zu dem praktischen Beginn von Konferenzen und Konferenzserien führen wird, an deren Ende hoffentlich für alle Menschen in Europa eine bessere Lage entstanden sein wird, ist von uns nicht nur auf der Sicherheit aufgebaut worden, die sich auf die Zusammenarbeit im Atlantischen Bündnis gründet, sondern sie ist auf der Überzeugung aufgebaut worden, daß die Integration Westeuropas nicht etwa ein Hindernis für die Zusammenarbeit zwischen West und Ost ist, sondern die notwendige Voraussetzung für alle westeuropäischen Länder, diese Zusammenarbeit mit Aussicht auf Gewinn zu beginnen.
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Aber umgekehrt zeigen unsere Erfahrungen bis heute, Herr Kollege Marx, daß diese Konferenzserie oder schon die multilaterale Vorbereitung der ersten Konferenz die Integrationsbereitschaft oder den Integrationswillen in Westeuropa nicht etwa geschwächt haben,
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sondern im Gegenteil, durch die Forderung und durch die Aufgabe, die sich uns gemeinsam bei einer solchen Konferenz stellen, ist der Wille zur Zusammenarbeit bisher sichtbar gestärkt worden, und ich meine, das ist ein gutes Ergebnis gewesen.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Franke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, bevor die Debatte zur Regierungserklärung weitergeführt wird, zu einigen Vorwürfen Stellung zu nehmen, die die Opposition gegen die Deutschlandpolitik der Bundesregierung erhoben hat.
Zunächst einige Bemerkungen zum Thema „Bericht zur Lage der Nation" : Erstens möchte ich klarstellen - weil das immer wieder durcheinandergebracht wird -: Der Bericht zur Lage der Nation und die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation sind zweierlei.
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Während der Bericht zur Lage der Nation auf einen Beschluß des Bundestages vom 28. Juni 1967 zurückgeht, bilden die Materialien eine selbständige und zusätzliche Arbeitshilfe, die die Bundesregierung seit 1969/70 zur Verfügung stellt, und zwar aus den Erfahrungen, die gemacht wurden, daß der Bericht zur Lage der Nation mit solchen Materialien angereichert werden könnte.
Zweitens. In den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation vom 14. Januar 1970 hat die damals neugebildete Bundesregierung festgestellt:
Für die wissenschaftlich-systematische Beobachtung der Entwicklung im anderen Teil Deutschlands herrscht in der Bundesrepublik noch ein Nachholbedarf. Das trifft noch mehr für fundierte Vergleiche zu.
Um diesem Nachholbedarf abzuhelfen, hat die Bundesregierung seinerzeit eine Gruppe von anerkannten und unabhängigen Wissenschaftlern mit der Erarbeitung von vergleichenden Darstellungen zu bestimmten Sachgebieten beauftragt. Erste Ergebnisse dieser Arbeit wurden als Materialien 1971 und ergänzend 1972 vorgelegt. Diese wissenschaftlichen Systemvergleiche werden fortgeschrieben, die Arbeiten daran gehen weiter. Gegenwärtig konzentriert sich die Wissenschaftlergruppe unter Leitung von Professor Dr. Lutz u. a. auf das Problem der Nation, eine Frage, die uns hier in diesem Haus sicherlich noch häufig bewegen wird.
Drittens. Bei dem 1972 erstatteten Bericht zur Lage der Nation hat die Bundesregierung die Auffassung vertreten, daß das Erscheinen der Materialien nicht mit der Abgabe des Berichts zusammenzufallen braucht. Dieser Auffassung wurde nicht widersprochen.
Viertens. Die Bundesregierung hat sich bereits im Sommer letzten Jahres entschlossen, im Zusammenhang mit der parlamentarischen Behandlung des Grundvertrages einen dokumentierten Bericht über den Entwicklungsstand der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten vorzulegen. Die Dokumentation wird damit u. a. eine Bestandsaufnahme unserer Deutschlandpolitik seit 1969 bieten, die letztlich zu dein Grundvertrag geführt hat. Eine solche Zusammenstellung erachten wir gerade im Hinblick auf den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen als logisch und für alle Beteiligten nützlich. Die Dokumentation wird vorgelegt werden, so daß sie dann zur Debatte über den Grundlagenvertrag mit benutzt werden kann.
Fünftens. Auf Grund der besonderen Umstände dieses Jahres wurden grundlegende Feststellungen zur Lage der Nation im Rahmen der Regierungserklärung getroffen. Für die nächsten Wochen sieht der Terminplan des Bundestages die Behandlung des Grundlagenvertrags vor, und damit steht die eingehende Beschäftigung mit der Gesamthematik auf der Tagesordnung.
Sechstens. Die Lageberichte der Jahre 1970, 1971 und 1972 waren sehr stark konzentriert - man kann auch sagen: verengt auf den Aspekt unseres Verhältnisses zur DDR. Das ergab sich aus der aktuellen politischen Lage. Die 1969 gebildete Bundesregierung unternahm nach der Großen Koalition erneut und ernsthaft den Versuch, mit der DDR zu sprechen und geregelte Beziehungen anzuknüpfen. Das war kein leichtes Unterfangen und hat an die drei Jahre intensiver Bemühungen gekostet. Mit dem Abschluß des Grundlagenvertrags ist diese Einstiegsphase - ich betone ausdrücklich: diese Einstiegsphase - unserer Verhandlungspolitik beendet. Die weiteren Verhandlungen werden auf dem geschaffenen Fundament aufbauen.
Es wäre Schematismus, ja, geradezu törichter Schematismus, wenn künftige Jahresberichte von der veränderten Lage keine Notiz nähmen, und es wäre ebenso Schematismus, wenn wir die thematische Engführung beibehielten, die in den letzten drei Jahren von der politischen Priorität her gut und richtig war. Das Thema „Lage der Nation" umfaßt weitaus mehr als lediglich unsere Beziehungen zur DDR. Es hat auch mit der inneren Lage der Bundesrepublik und ihrer Stellung in der Welt zu tun; denn erst dann ist dieses Thema vollauf erfaßt. Wer uns jetzt auf Stil und Anlage der früheren Jahre festnageln will, dem müssen wohl die beiden ersten Berichte in Erinnerung gebracht werden, die 1968 und 1969 von dem damaligen Bundeskanzler Kiesinger erstattet wurden. Sie beschäftigten sich fast ausschließlich mit der inneren und äußeren Lage der Bundesrepublik Deutschland; jedenfalls stand diese eindeutig im Mittelpunkt.
Wir halten nichts davon, die Berichte zur Lage der Nation als Klagemauer zu benutzen. Weder Auftrumpfen noch Selbstmitleid führt weiter. Das haben wir lange genug gesehen. Auch weltgeschichtliche Betrachtungen in jährlicher Fortsetzung versprechen wenig. Wir werden immer wieder in aller Nüchternheit und mit dem nötigen Augenmaß unsere Auffassungen und konkreten Absichten vor dem Deutschen Bundestag darlegen.
Nun ein Wort zu dem, was Sie, Herr Dr. Barzel, in bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen Beschwichtigungspolitik nannten. Sie berufen sich auf ein einziges konkretes Indiz, indem Sie behaupten: Das Taschenbuch über die DDR erscheint nicht mehr. Da kann ich Sie, beruhigen. Interessenten können das Taschenbuch auch heute noch beziehen; denn von der 1969 erschienenen Auflage sind noch immer genügend Exemplare bei der Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben verfügbar, wo sie auf Bestellungen warten,
({1})
nicht zuletzt deshalb, weil sich das Interesse verständlicherweise auf das aktuelle Material konzentriert hat, das in meinem Auftrage erarbeitet und vertrieben wurde. Dazu nur eine Zahl. In den letzten zwei Jahren hat sich die Nachfrage nach Informationen und Publikationen des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen nahezu vervierfacht. Das zeigt doch wohl, daß die Aufgabe, die diesem
Haus gestellt wurde, in verstärktem Maße auch zur Kontaktnahme mit der Bevölkerung geführt hat. Das war ja letztlich die Aufgabe.
Meine Damen und Herren, der Nation ist heute einzig und allein mit einer praktischen Politik gedient, die ihr weiteres Auseinanderleben verhindert, und für eine solche Politik war es allerhöchste Zeit. Schon Bundeskanzler Kiesinger wußte, daß die Zeit nicht für uns wirkt und daß wir nicht warten können, „bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt". Das ist das wörtliche Zitat aus einer Regierungserklärung, die er 1967 hier abgegeben hat. Mit weiterem Zeitablauf wird das ja nicht besser, sondern dieses Problem bleibt nach wie vor bestehen.
Wer die deutsche Frage offenhalten will, muß in erster Linie die Trennung zwischen den Menschen abzubauen versuchen, muß dafür sorgen, daß die Menschen der Nation einander wieder mehr sehen und begegnen.
({2})
Diese Notwendigkeit fordert nicht nur nüchternes Augenmaß für den gebotenen Weg; sie fordert Geduld und ein rechtes Verhältnis zu dem, was machbar ist und was man kann.
Daran hat es einigen in diesem Hause stets gemangelt, gerade unter denjenigen, die der Bundesregierung die angebliche Aufgabe von Positionen vorwerfen. Solange man z. B. die „Position" hielt, die DDR sei kein Staat, so lange mußte man tatenlos hinnehmen, daß die Verbindungen zwischen den Menschen mehr und mehr eingeschränkt und erschwert wurden. Dagegen ließ sich trefflich protestieren; aber dagegen machen - etwa durch Verhandlungen - ließ sich nichts. Die „Position" verbot es. Das war eben die Kehrseite jener Politik, Herr Dr. Barzel, von der Sie sagen, daß sie die deutsche Frage in der Substanz offenhielt.
({3})
Mir scheint eher, daß sie - je länger, desto mehr - gerade die Substanz gefährdete, sofern man unter Substanz das Bewußtsein der menschlichen Verbundenheit versteht.
An diesem Punkt werfen Sie nun das Wort von dem „Rinnsal an Freizügigkeit" in die Debatte, und außerhalb dieses Hauses war gar von „Brotkrumen" die Rede.
({4})
Sie werden uns doch wohl nicht unterstellen, daß nicht auch wir mehr Verbindungs- und Kontaktmöglichkeiten wünschen, als bisher erreicht werden konnten.
({5})
Es muß erneut mit allem Ernst und allem Nachdruck
gesagt werden - ob uns das gefällt oder nicht -:
({6})
was wir zugunsten ,der Menschen der Nation anstreben, das prüft auch die Regierung der DDR unter
dem Gesichtspunkt ihrer Interessen. - Auch für
sie ist das bestimmt, Herr Katzer; Sie sollten nicht so tun, als ob nur Sie immer wüßten, was Sie sagen. Das gilt auch für andere, die hier sprechen.
({7})
Ich finde, Sie haben überhaupt darunter gelitten, daß Sie mit einer anmaßenden Beurteilung des politischen Geschehens die letzten 20 Jahre nicht genutzt haben, und dann müssen Sie sich daran gewöhnen, daß auch andere etwas dazu sagen.
({8})
Jene, mit denen wir zu Verhandlungen und Ergebnissen kommen müssen, führen auch ihre Interessen ins Gespräch. Daran kann man sie nicht hindern, und wer dennoch glaubt oder so tut, er vermöchte es, der schwindelt einfach.
({9})
Hier helfen nur zähe Geduld, Beharrlichkeit und ein Sichvortasten Schritt für Schritt. Die Probleme, die die Entspannung aufwirft, dürfen die Chancen der Entspannung nicht zunichte machen.
Erlauben Sie mir hier noch ein persönliches Wort: Wer mehr für die Menschlichkeit getan hat, Sie in Ihrer 20jährigen Regierungszeit oder wir in den letzten drei Jahren, das liegt klar zutage. Während Sie fortwährend die Menschenrechte proklamieren, placken wir uns Zentimeter um Zentimeter für ein Mehr an Menschlichkeit ab.
({10})
Wir scheuen uns auch nicht - ich sage das hier mit vollem Bedacht -, uns falschen Verdächtigungen und bequemen Unterstellungen auszusetzen. Uns geht es darum, mehr Menschlichkeit zu erwirken und zu erreichen, und das erfordert jene Politik, die wir betreiben.
Und was nun das zitierte Rinnsal betrifft, so dazu einige Zahlen:
Zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil Berlins bestand bis zum 31. Januar 1971 keine einzige direkte Telefonverbindung. Das muß immer wieder gesagt werden, weil man darüber hinweggeht. Jetzt werden dort im Durchschnitt täglich 7800 Gespräche geführt. 1970 wurden zwischen WestBerlin und der DDR pro Tag zirka 150 Telefongespräche gezählt; jetzt sind es 1500, also das Zehnfache. Seit 1970 stieg die Zahl der Telefonleitungen von und nach Ost-Berlin und in die DDR - innerhalb Berlins stand man, wie gesagt, bei Null - von 34 auf 383, ebenfalls ein Anstieg auf mehr als das Zehnfache. Die Zahl 383 gliedert sich auf: 201 Telefonleitungen zwischen Berlin ({11}) und Berlin ({12}) sowie der DDR; und 182 zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Nun die Zahl der täglichen Telefongespräche zwischen der Bundesrepublik und der DDR plus Ost-Berlin: 1970 waren es 1250, seit Mitte 1972 sind es 4700, also eine sehr beachtliche Steigerung. Das ist nicht aus sich und aus gutem Willen anderer entstanden, sondern das Ergebnis zäher und schwieriger Bemühungen, und es wird keinen anderen Weg geben, zu weiteren Ergebnissen zu kommen.
Der Paketversand in die DDR hat 1972 gegenüber dem Vorjahr eine beträchtliche Zunahme erfahren. Da die statistisch ermittelten Zahlen für November und Dezember noch nicht vorliegen, ist lediglich eine Schätzung möglich; sie bewegt sich bei über 17 °/o.
Der Handel zwischen der Bundesrepublik und der DDR lag 1972 um 54,3 % über dem Niveau des Jahres 1969. 1972 sind es 5,2 Milliarden Verrechnungseinheiten gewesen, 1969 waren es 3,37 Milliarden Verrechnungseinheiten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wohlrabe?
Bitte!
Herr Bundesminister, es wäre, glaube ich, auch sehr gut, wenn Sie an dieser Stelle die Summe der zinslosen Darlehen mitteilen könnten, die der DDR im Rahmen des Interzonenhandels gewährt werden. Erst dann kann man die Zahlen nämlich richtig beurteilen. So, wie Sie sie nennen, ist es nicht richtig.
Herr Kollege, das ist keine Frage.
Herr Kollege Wohlrabe, wir werden noch Gelegenheit haben, auch darüber zu sprechen. Ich habe hier in dieser Debatte versucht, in Stichworten und im Telegrammstil auch das positive Ergebnis unseres Wirkens herauszustellen. Ich bin verwundert über Ihre Frage. Ich bin froh über jede Maßnahme, die wir veranlassen und die die Verbundenheit zwischen der Bundesrepublik und der DDR - auch auf den von mir genannten Gebieten - stärkt.
({0})
- Die Öffentlichkeit wird von uns informiert, und zwar nicht nur halb,
({1})
allerdings so, wie wir es für richtig halten.
({2})
- Meine Damen und Herren, Ihre Bemühungen -wir können ja doch nichts anderes darstellen als das, was wirklich ist; dafür sorgen Sie doch schon -, Ihre Versuche, tendenziös etwas Unrichtiges darzustellen, sind doch am 19. November entsprechend honoriert worden.
({3})
Meine Damen und Herren, nun noch einige Bemerkungen zum Reiseverkehr. Zwischen 1,5 und 1,6 Millionen Westdeutsche haben 1972 die DDR besucht. Auf das ganze Jahr 1971 umgerechnet, ergibt sich eine Zunahme um über 20 %. Das sind zirka 300 000 Reisende mehr. Für jeden einzelnen Beteiligten ist das ein Vielfaches gegenüber dem, was vorher überhaupt denkbar war. Meine Damen und Herren, wenn das nun als Rinnsal bezeichnet wird, so frage ich, wer hier dabei ist, die Ergebnisse dieser Politik zu schmälern, soweit es um das Wohl der Menschen geht. Hier, so meine ich, können wir gut bestehen,
({4})
wenn man die Zeitspanne in Betracht zieht, um die es geht.
Insbesondere seit dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages am 17. Oktober 1972 zeigt sich eine stark ansteigende Kurve.
({5})
Der Weihnachtsverkehr aus der Bundesrepublik in die DDR brachte eine Steigerung um über 114 %. 186 223 Menschen besuchten Verwandte und Bekannte in der DDR. 1971 waren es dagegen nur rund 87 000. Ist das eine Verbesserung der Kommunikation, der unmittelbaren Begegnung der Menschen, ja oder nein? Ich meine, es ist eine Erfolgsbilanz, die sich nach dieser kurzen Zeitspanne sehr gut sehen lassen kann.
({6})
Die Zunahme des Reiseverkehrs in der umgekehrten Richtung, aus der DDR in die Bundesrepublik, war zu Weihnachten und Neujahr sogar noch größer. Sie betrug 130 0/o gegenüber der Vergleichszeit des Vorjahres, in absoluten Zahlen ausgedrückt: 104 000 Reisende gegenüber 45 000 im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Anzahl der Rentnerbesuche aus der DDR in die Bundesrepublik und nach Berlin ({7}) ist von 1 040 000 im Jahr 1971 rund 1 060 000 im Jahr 1972 gestiegen, also um etwa 20 000. Also auch im Bereich derer, die bisher schon Reisemöglichkeiten hatten, ist eine Steigerung zu verzeichnen. Hinzu kamen 3700 Besuche von sogenannten Frührentnern in das Bundesgebiet ohne Berlin ({8}).
Doch der Vergleich auf Jahresebene ist insofern müßig, als die an den Verkehrsvertrag geknüpften Regelungen erst in der zweiten Oktoberhälfte 1972 in Kraft traten. Diese Regelungen lassen bekanntlich Genehmigungen für Reisen in dringenden Familienangelegenheiten zu - ein Bereich, in dem es in der Tat zuvor kaum ein Rinnsal gab. Meine Damen und Herren, die betreffenden Zahlen für Berlin ({9}) liegen noch nicht vor.
({10})
Nach Westdeutschland - ohne Berlin also - sind
in der Zeit vom 17. Oktober bis zum Jahresende
1972 etwa 11 800 Menschen in dringenden Familienangelegenheiten gereist. Das ist eine beachtliche Zahl verglichen mit dem, was zuvor war.
({11})
- Von dem Bemühen zuvor, von der Situation zuvor, bevor wir zu dieser Regelung kamen, daß in dringenden Familienangelegenheiten solche Reisen möglich sind.
({12})
Meine Damen und Herren, wer vom Reiseverkehr in Deutschland spricht, darf die Berliner Zahlen nicht vergessen.
({13})
Seit dem Inkrafttreten des Viermächteabkommens am 3. Juni 1972 haben bis zum Jahresende etwa 21/2 Millionen Einwohner von Berlin ({14}) Besuche im anderen Teil der Stadt und in der DDR abgestattet. Im ganzen Jahr 1972 waren es zirka 31/2 Millionen Besuche gegenüber knapp 85 000 im Jahr davor. Das halten wir für ein gutes Ergebnis, obwohl wir immer mehr anstreben.
An diesen Zahlen kommt keiner vorbei. Sie drücken aus, daß im Jahre 1972 etwas Entscheidendes in Deutschland passiert ist. Ich möchte es die Umkehr nennen, die Umkehrung der jahrzehntelangen ruinösen Verfallsentwicklung im Bereich der menschlichen Beziehungen. Das läßt sich an diesen konkreten Zahlen ablesen, und jeder, der sachlich bemüht und guten Willens ist, muß das bestätigen.
Die Nation ist kein unverwitterbarer Rechtstitel, sondern wie alles Lebendige dem Einfluß der Zeit und der Umstände ausgesetzt. Nicht das juristische, das historische Denken muß in erster Linie unsere Politik bestimmen. Die Menschen können die Nation wieder in ihre Obhut nehmen. Das ist der Sinn unserer Politik, wie wir sie in den Jahren hinter uns verstanden haben und wie wir sie methodisch weiterentwickeln werden.
({15})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mattick. Seine Fraktion hat für ihn eine Redezeit von 40 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redezeit ist beantragt worden, bevor die beiden Herren Minister gesprochen haben. Ich kann mich jetzt wesentlich kürzer fassen.
Ich möchte zunächst einmal meine Überraschung ausdrücken. Ich hatte schon geglaubt, daß bei den Höhenflügen von Herrn Dr. Weizsäcker und bei Herrn Dr. Mikat eine neue Linie der CDU-Politik herauskäme. Man hatte den Eindruck, es gebe Brücken der Zusammenarbeit. Aber Herr Dr. Marx hat uns ganz realistisch deutlich gemacht, daß die CDU mindestens auf diesem Gebiet eine Änderung ihrer Politik nicht vorhat. Das heißt also, wir werden unsere Außen- und Deutschlandpolitik auch in Zu210
kunft ohne Unterstützung der Opposition durchführen müssen.
({0})
Zwei Bemerkungen noch, Herr Dr. Marx. Auf das andere komme ich im Laufe meiner Darstellungen zurück. Ich möchte von Ihnen wirklich einmal wissen, wie das zu verstehen ist: Sie möchten nicht noch stärker in den Sog sowjetischer Politik hineingeraten oder ihr ausgeliefert sein. Gibt es dafür wirklich eine Erklärung, wieso wir irgendwann in den letzten Jahren in den sowjetischen Sog hineingeraten sind? Das schleudern Sie hier so in den Raum, als wenn sich schon irgendwo die Türen öffnen, sich ein Spalt öffnet. Diese ewige Angst der CDU vor der Sowjetunion und vor den Kommunisten macht Sie ja völlig bewegungslos.
({1})
Ferner haben Sie eine Bemerkung gemacht, die ähnlich ist, Sie sprachen von dem Überschwang der Ostpolitik und meinen damit wahrscheinlich die Tatsache, daß wir unsere Politik systematisch aufgebaut und entwickelt haben. Ich kenne keinen Überschwang. Bei uns ist alles sehr realistisch eingeschätzt, und so wird das auch bleiben. Aber zur Frage, wieso wir uns in einem Sog befinden, würde ich von Ihnen gerne einmal etwas hören.
Eine zweite Bemerkung, die ich vorweg machen möchte, ist folgende. Ich glaube, wir alle sind erfreut, daß der Krieg in Vietnam zu Ende geht. Nur sollten wir nicht außer acht lassen, daß wir noch keine Sicherheit darüber haben, wie es in Kambodscha, wie es in Laos aussieht, und daß wir in der Nahostkrise mitten drinstecken und täglich damit rechnen müssen, daß neue Brandherde entstehen. Insofern, glaube ich, ist das zwar ein Lichtblick, den wir in Vietnam erleben, aber das bedeutet noch lange nicht die Sicherheit des Friedens in allen Teilen der Welt. Wir müssen an dem Frieden sehr fleißig weiterarbeiten.
Wenn man auf die letzten drei Jahre der Auseinandersetzung inner- und außerhalb des Bundestages auf dem Gebiete der Außenpolitik zurückblickt, so kann man ohne weiteres sagen, daß der wichtigste Beitrag der Opposition, den sie hierzu geleistet hat, leider in einem ständigen Störfeuer bestanden hat. Den gemeinsamen Weg, den wir in der Zeit der Großen Koalition begonnen hatten, hatte die CDU/ CSU bereits während dieser Zeit wieder verlassen, um in die Schützengräben ihrer Politik der 50er Jahre zurückzukehren. Die Gruppen innerhalb der Union, die schon während der Großen Koalition versucht hatten, die ersten Ansätze einer konstruktiven Ostpolitik zu stören, hatten sich im Unionslager schließlich durchgesetzt. Dieses war wohl auch die Schlußfolgerung für die Kleine Koalition nach der Wahl 1969.
Es gibt doch wirklich wenig konstruktive Beiträge, die die Opposition in dieser Zeitspanne von drei Jahren zur Außenpolitik geleistet hat. Ihre Weigerung, die Rolle, die einer Opposition im demokratisch-parlamentarischen System zukommt, anzunehmen, wirkte sich außenpolitisch meiner Auffassung
nach ganz besonders nachteilig aus. Statt in Fragen nationaler Bedeutung die Politik der Regierung grundsätzlich mitzutragen und ihre Durchschlagskraft durch kritische Forderungen zu vergrößern,
({2})
scheute sich die Opposition nicht, Herr Dr. Barzel, Aktionen, die die Verhandlungsposition der Regierung schwächten - ich denke hier an mehrmalige Veröffentlichungen geheimer Dokumente - unverhohlen Beifall zu zollen und auszunutzen.
({3})
Der Grund für diese Haltung lag wohl in erster Linie in der Tatsache, daß die CDU/CSU in diesem Zeitraum mehr als zuvor zu einem Sammelbecken konservativer Kräfte in unserem Lande geworden ist.
({4})
Das war es wohl, was Franz Josef Strauß mit seiner Sammlungsbewegung zur Rettung unseres Vaterlandes gemeint hat. Die Unterwerfung unter den Einfluß von Interessengruppen, deren Bedeutung von der Opposition, wie das Wahlergebnis vom 19. November 1972 gezeigt hat, weit überschätzt worden ist, hat meiner Ansicht nach zu der Flucht in das deutsch-nationale Pathos geführt, von der Jürgen Tern in diesen Tagen in den Frankfurter Heften geschrieben hat.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaeger?
Herr Kollege Mattick, teilen Sie nicht die Auffassung, daß eine rechtzeitige Unterrichtung der Opposition über die durch verschiedene Indiskretionen veröffentlichten Dokumente zur Behebung des Mangels, den Sie soeben gerügt haben, wesentlich mehr beigetragen hätte als die jetzt von Ihnen der Opposition erteilte Rüge?
Nein, die Auffassung teile ich nicht; denn ich gehöre zu dem engeren Kreis, der dabei war, wenn die Spitze der Opposition wiederholt unterrichtet worden ist. Wir sind hier in allen wesentlichen Auseinandersetzungen, die es gab, auf dem laufenden gewesen.
Wenn Herr Dr. Barzel glaubte, uns eine bedrückende Geschichtslosigkeit vorwerfen zu müssen, so muß man sich wohl fragen, von welchem Geschichtsbewußtsein er denn ausgeht. Es muß wohl dies sein, was Herr Freiherr von Kühlmann-Stumm im Pressedienst der CDU/CSU-Fraktion zum Ausdruck gebracht hat, wo dieser davon schreibt, daß 1871 der Fürst von Bismarck in Versailles unser Vaterland gegründet hat.
Meine Damen und Herren, in einer Berliner Zeitung, über die die Sozialdemokraten in Berlin sich noch des öfteren freuen können, da es keine andere in dieser Richtung mehr gibt, hat der Chefredakteur diesen Vorgang wie folgt gekennzeichnet - kürzer kann man es gar nicht fassen :
Gegen Ende seiner Regierungserklärung zeichnete Willy Brandt sein politisches Leitmotiv: „Es geht uns darum, daß die vielen einzelnen ihre Heimat in dem Staat finden, den eine schmale Schicht von Mächtigen früher und lange wie ihren Besitz behandelt hat. Wir wollen den Staat zum Besitz aller machen." Danach
- so schreibt Herr Höppner trat Rainer Barzel ans Mikrophon und rügte zuerst den Verzicht auf die Erinnerung an 1871. Noch plastischer konnte nicht werden, daß zwischen den beiden großen Gruppen der Gegenwart, den Sozialdemokraten und Liberalen hier und den Christlich-Konservativen dort Welten liegen. Wo Brandt die Identität zwischen Bürger und Staat zu schaffen sucht, beschwört Barzel die Erinnerungen an Kaiser Wilhelm.
({0})
Sie werden wohl kaum erwarten, daß sich eine Partei wie die unsrige, die zur Zeit der Reichsgründung bereits einige Jahre bestand und von demselben Herrn von Bismarck mit dem Sozialistengesetz verfolgt wurde, einer solch begrenzten, von Herrn Barzel dargestellten, zutiefst unhistorischen Geschichtsauffassung anschließt.
Hier wurde schon im Zusammenhang mit dem heutigen Tage der „Alte Fritz" genannt. Auch diese Zeit gehört zur Geschichte unseres Vaterlandes, das weder von Bismarck begonnen wurde noch mit der Entstehung von zwei deutschen Staaten aufgehört hat.
Meine Damen und Herren, wir stellen uns auf den Boden der Tatsachen, die Sie durch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und den Abschluß der Pariser Verträge mitgeschaffen haben. Die deutsche Geschichte unserer Zeit sehen wir als einen Vorgang, der sich zwar aus der Politik der Vergangenheit entwickelt hat, der aber durch einen Rückgriff auf die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann. Die Nachkriegsgeschichte ist im wesentlichen von unseren Kriegsgegnern geschrieben worden, die zum Teil unsere Partner wurden, aber logischerweise ihre eigenen Interessen nicht hinter unsere zurückstellten. Daß sie dabei die Bundesrepublik in ihren Schutz und ihre Zusammenarbeit einbezogen haben, müssen wir ihnen hoch anrechnen. An diesen Eigeninteressen gingen allerdings die deutschlandpolitischen Vorstellungen der Adenauer-Politik in ihrem Kern vorbei. So konnte es zum 13. August 1961 kommen, dem Tag, vor dem die SPD am 30. Juni 1960 vergeblich gewarnt hatte.
Wir, verehrte Anwesende, konnten aus diesem für alle sichtbaren Scheitern der Politik der Stärke nur eine Konsequenz ziehen: mit unseren Partnern gemeinsam eine neue Entwicklung einzuleiten. Zu dieser neuen Entwicklung gehörte zunächst einmal die Prüfung der Frage, ob zur Sowjetunion eine Brücke zu einer gemeinsamen Friedenspolitik geschlagen werden konnte, die uns in der Bundesrepublik nach allen Seiten aktionsfähig macht,
({1})
um aktiv an der Gestaltung Europas teilzunehmen. Es galt, das Verhältnis zur Sowjetunion und zu den Ostblockländern von dem der Konfrontation und der ständigen Spannung zu einem Verhältnis überzuleiten, das, wie wir sagten, den Frieden sicherer macht und die menschlichen Beziehungen, die sich durch die Spaltung Europas in der Nachkriegszeit insbesondere zum anderen Teil Deutschlands so trostlos entwickelt hatten, verbessert.
({2})
Hierzu ein grundsätzliches Wort. Sie haben die Ostverträge von Anfang an mit allen Mitteln bekämpft. Als Sie dann vor der Entscheidung standen, konnten Sie die Einheit Ihrer Fraktion nur durch die Flucht in die Enthaltung retten. Heute machen Sie den Versuch, die Schwierigkeiten, die logischerweise mit dem Übergang zu einer anderen Politik beim politisch-wirtschaftlichen Zustand des Ostblocks unvermeidbar waren, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Gerade Sie, Herr Dr. Marx, tun das immer wieder. Im Grunde genommen steckt in jeder Ihrer Bemerkungen dazu der Widerstand gegen die Vertragspolitik überhaupt, steckt immer noch der Gedanke des Herrn Dr. Schröder darin - ich zitiere -: „Ich bin der Meinung, daß die Interessen Deutschlands besser ohne die Verträge wahrgenommen werden können."
({3})
Wir haben mit diesen Schwierigkeiten gerechnet und rechnen weiter damit in der Überzeugung, daß unsere Politik schrittweise zu ihrer Überwindung führt. Sie haben den Grundvertrag bereits vor der ersten Aussprache in diesem Hause verworfen mit der Begründung, daß nach Ihrem Urteil zu viel ungeklärt geblieben ist. Gehen Sie denn wirklich davon aus, daß die Verhältnisse zwischen Ost und West, zwischen beiden Teilen Deutschlands mit einem Schlage geklärt werden können?
({4})
Nein! Wir haben die Grenzen abgetastet, die in dieser Phase erreichbar sind, und einen Vertrag abgeschlossen, der zwar für beide Teile unvollständig, aber als Instrument tragbar ist.
Ich komme noch einmal auf Herrn Dr. Schröder zurück. Ohne die Verträge gäbe es jetzt nur eine Klarheit: daß wir zwischen allen Stühlen säßen und erleben müßten, daß auch unsere Verbündeten nicht mehr bereit wären, sich von uns davon abhalten zu lassen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um ein neues Verhältnis mit Osteuropa einschließlich der DDR einzuleiten.
Unseren Verbündeten gegenüber hat die Opposition während der letzten drei Jahre im Grunde
genommen eine konsequente Vogel-Strauß-Politik betrieben. Sie hat sich schlechthin geweigert, die umfassende Unterstützung zur Kenntnis zu nehmen, die unsere Außenpolitik bei unseren Verbündeten fand. Es genügt jetzt nicht, wenn Herr Dr. Barzel feststellt: „Wir haben Freunde und Verbündete in der Welt gewonnen, zu denen wir stehen und mit denen wir zusammenwirken." Es gibt in diesem Hause wohl niemand, der dem nicht zustimmen würde.
Was Herr Dr. Barzel nach wie vor offensichtlich nicht erkennt: daß sich die Politik der früheren und der kommenden Bundesregierungen in voller Übereinstimmung mit der Politik der drei westlichen Verbündeten und der NATO-Partner befindet, wie es Herr Kiep vor einigen Wochen in der „Zeit" ausdrückte. Da stehen wir völlig in Übereinstimmung. Herr Kiep forderte in einem Interview mit der „Entscheidung", dem Organ der „Jungen Union", zu Recht von seiner Partei eine realistische Haltung, d. h. auch die zur Kenntnisnahme der tatsächlichen Lage in der Welt, wie sie heute ist und die wirklich nicht eine Erfindung von Egon Bahr ist, einer Wirklichkeit, die längst auch Grundlage der Politik unserer westlichen Verbündeten ist, insbesondere der USA geworden sind. - Soweit das Zitat des Herrn Kiep. Ich glaube, es ist für Sie eine Warnung. Sie sollten sich diese Fragen überlegen.
Wir hätten aber nicht erwarten können, daß unsere Verbündeten gegen ihre eigenen Interessen sich von einer versteiften Politik der Bundesrepublik gängeln lassen. Sie sagten, mit dieser unserer Politik graulten wir die Amerikaner aus Europa raus. Das hat Herr Dr. Marx heute wieder gesagt.
({5})
- Das haben Sie oft gesagt, und heute haben Sie gesagt: über die KSZE wollen die Russen dieses erreichen.
({6})
- Ich empfehle Ihnen, Herr Dr. Marx, die Rede zu lesen, die Präsident Nixon vor wenigen Tagen gehalten hat, um zu erkennen, daß es höchste Zeit war
- auch dem amerikanischen Partner gegenüber höchste Zeit war -, das zu tun, was Nixon hier empfiehlt, nämlich daß jedes Land Sorge für die Sicherung seiner eigenen Zukunft tragen soll.
Lassen Sie mich hier eine zusätzliche Bemerkung machen. Sie haben uns einreden wollen - das hat wiederum besonders Herr Dr. Marx heute wiederholt -, daß die Politik der Sowjetunion im Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung über KSZE und MBFR das Ziel habe, die Amerikaner aus Europa zu verdrängen. Anscheinend fehlt Ihnen hier jede Einsicht in das Verhältnis, das sich zwischen den USA und der Sowjetunion bereits entwickelt hat.
({7})
- Ich habe meine Meinung hier zu sagen. Wenn die Regierung hier anderer Meinung ist als ich, wird sie ihre Auffassung schon darlegen.
({8})
Die Partnerschaft zwischen der Sowjetunion und den Amerikanern wird für längere Zeit auf den Versuch eingestellt sein, gemeinsam weltpolitische Sicherheitsfunktionen auszuüben. Deshalb, Herr Dr. Marx, kann die Sowjetunion gar nicht daran interessiert sein - und sie ist auch nicht mehr daran interessiert -, daß sich Amerika aus Europa zurückzieht, weil die dadurch entstehende Instabilität das auch von der Sowjetunion angestrebte Gleichgewicht empfindlich stören würde
({9})
und weil der Abzug der Amerikaner aus Europa die Europäer zu einer eigenen gesonderten Verteidigungsgemeinschaft zwänge und damit eine Störung des militärischen Gleichgewichts mit sich bringt, die die Sowjetunion auf Grund der internationalen Lage, in der wir uns befinden, gar nicht mehr will.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Wort zu China sagen. Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß auch China daran vorläufig nichts ändern wird. Natürlich zeigt die Entwicklung an, daß China auf dem Wege zu einer Weltmacht ist. Aber die materiellen Grundlagen, die eine Weltmacht ausmachen, werden noch eine Zeitlang auf sich warten lassen. Wohin sich China dann wendet, wissen wir noch nicht.
Aber für den Beobachter ist es doch ganz interessant, daran zu erinnern, welche Differenz auf der Seite der Opposition zwischen dem Schreckensruf Dr. Kiesingers vor zweieinhalb Jahren: „Ich sage: China, China, China!" und dem Hosianna des Kollegen Dr. Schröder an der Chinesischen Mauer besteht, wo er so glücklich schien, wie wir nie geglaubt hätten, daß CDU-Politiker sich in einem kommunistischen Land glücklich fühlen können.
({10})
- Herr Reddemann, ich weiß, daß Sie jede Rede gern mit Zwischenrufen stören; mich aber können Sie damit nicht stören.
Insofern fand ich es auch gut, daß der Herr Kollege Dr. Schröder vor dem deutschen Außenminister China besuchte. Wurde doch dadurch die Reise Scheels nicht von dem Kassandraruf Kiesingers, sondern von dem good will der Schröderschen Mission in der Bundesrepublik begleitet.
Ich möchte an dieser Stelle ein Wort zu den Vereinigten Staaten sagen. In unseren Reihen gärte es wegen der bisherigen Vietnam-Politik der USA weit mehr als in Ihren. Ich bekenne hier, meine Damen und Herren: ohne unser Bündnis mit den Amerikanern hätte uns jeder Rückhalt für die von uns eingeleitete Verständigungspolitik gefehlt; ohne das Bündnis mit den Amerikanern wäre eine erfolgreiche Fortsetzung dieser Politik nicht möglich. Unabhängig davon haben wir das Recht und, wie wir glauben, sogar die Freundespflicht, dem Partner geDeutscher Bundestag - 7. Wahlperiode
genüber die Sorgen auszudrücken, die wir angesichts unverständlicher militärischer Aktionen empfunden haben. Dies haben wir getan. Es wird sicher ein neues Blatt der Geschichte in bezug auf Vietnam und Asien aufgeschlagen, und ich glaube, es war auch richtig, daß wir unsere Meinung zu dieser Entwicklung gesagt haben.
Sie, meine Damen und Herren, von der CDU, sagen wieder nein zum Grundvertrag. Sie wünschen volle Klarheit der Dinge und behaupten, die Klarheit zeige dieser Vertrag nicht auf. Sie lassen dabei wieder außer acht, daß der Grundvertrag ein wichtiger Schritt auf dem Weg ist, den wir verfolgen, nämlich die Beziehungen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands schrittweise zu verbessern. Für sie stellt sich das als ein „Rinnsal von Brotkrumen" dar, womit ich Herrn Barzels und Herrn Kiesingers Worte in einem Bild zusammenfasse. Herr Dr. Marx zieht immer wieder durch die Lande auch wegen des Grundvertrags und spricht davon, daß diesem Vertrag die Klarheit fehle und deswegen der Vertrag abzulehnen sei.
Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gradl?
Herr Kollege Mattick, da jetzt auch Sie wieder das Wort von dem „Rinnsal" aufgreifen, das dem Hern Bundesminister Gelegenheit gegeben hat, hier seine Informationen darzulegen, frage ich: Ist Ihnen denn nicht bekannt, daß das Wort „Rinnsal" nur in bezug auf die minimalen Verbesserungen im Reiseverkehr von Ost nach West gebraucht worden ist? Ist Ihnen das nicht bewußt?
Erstens ist das Wort in diesem Zusammenhang und auch in allen anderen Betrachtungen eingepackt gewesen. Zweitens würde ich auch hier davor warnen, mit „Rinnsal" einen Begriff in diese Auseinandersetzung hineinzubringen, der den Eindruck erwecken kann,
({0})
als ob die Steigerung von 100 auf 12 000 in den letzten Wochen dem Verhältnis nach nicht doch von großer Bedeutung ist. Nach meiner Meinung ist sie von Bedeutung. Daher sollten wir mit solchen Formulierungen vorsichtig sein.
({1})
Herr Dr. Marx, vor den Verträgen war für Sie alles ganz klar. Mauer und Stacheldraht waren undurchdringlich. Es gab keine Begegnung mehr zwischen Ost und West. Es gab keine Hoffnung. Es war alles klar. Im anderen Teil Deutschlands war die DDR-Führung dabei, ungestört hinter Mauer und Stacheldraht ein sozialistisches Nationalbewußtsein in der DDR zur Denkgrundlage der Bevölkerung zu entwickeln. Auf unserer Seite konnte man sich damit begnügen, Rechtsstandpunkte zu vertreten und Forderungen zu stellen.
Nun leben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in der tiefen Sorge, daß unsere Politik
die Tore für kommunistische Infiltration in der Bundesrepublik und Westeuropa öffnet. Das ist grotesk. Die SED lebt wiederum in der tiefen Sorge, daß unsere Politik die Tore für den Sozialdemokratismus in der DDR öffnet. Eine phantastische Parallele, die sich hier zwischen Ihren und den Sorgen der SED aufzeigt.
({2})
Nur hat die DDR in der Tat wirkliche Sorgen und auch Grund dazu. Da wir Frieden wollen und nicht im Zustand des Wartens auf den Tag X leben wollen, sondern Bedingungen entwickeln wollen, die menschliche Erleichterungen bringen, sage ich Ihnen ganz offen: Da bringen wir für die Sorgen der DDR sogar so viel Verständnis auf - was hier von Herrn Marx ausdrücklich abgelehnt wurde -, daß wir in dem Streben, das wir haben, keinesfalls das Kind mit dem Bade ausschütten, sondern alles, was wir tun, auch in dieser Beziehung in eine internationale Entwicklung einbauen, die wir mit vorantreiben und die uns helfen wird.
Ich möchte Ihnen einmal ein Beispiel für die Wandlungsfähkigeit auch der DDR nennen. Einige von Ihnen - sicher nicht viele - nehmen Gelegenheit, das „Neue Deutschland" zu lesen. Ihnen ist sicher bekannt, daß die DDR dabei ist, mit Spanien Handelsverträge abzuschließen und auch diplomatische Beziehungen vorzubereiten. Darüber wurde in den letzten Tagen im „Neuen Deutschland" von dem Ihnen nicht unbekannten Dr. Klaus Steiniger etwas geschrieben. Er leitet - wenn ich das einmal kurz mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren darf - den Artikel so ein:
Ein Volk von alter Kultur und Zivilisation, haben Spanier die Schatzkammer der Menschheit seit Jahrhunderten um große Werke der Architektur, Malerei, Literatur und Musik bereichert. ... Spanien - einst eine der Großmächte Europas - hat eine wechselvolle Geschichte durchlaufen. Auch in diesem Jahrhundert.
In Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg ({3})
- ohne Kommentar erlebte das spanische Volk schwere Jahre; in den zweiten Weltkrieg, der unmittelbar darauf begann, wurde Spanien nicht direkt hineingezogen.
Nach 1945 vollzog sich die mit fortschreitender Industrialisierung verbundene Entwicklung der Wirtschaft . . .
usw. Nach einer weiteren Darstellung über die Beziehungen auch zu anderen Ländern - zu Rußland - kommt dann:
Die Normalisierung des zwischenstaatlichen Verhältnisses DDR-Spanien - zweier Länder, die gegensätzlichen sozialen und politischen Systemen zugehörig sind - wird im Sinne der Prinzipien der friedlichen Koexistenz dem Ziel dienen, Sicherheit und Frieden in Europa zu fördern.
Rechts oberhalb des Artikels befindet sich ein Bild des Generalissimus, überschrieben mit „Staatschef Francisco Franco". Der Bildtext lautet:
Francisco Paulino Hermenigildo Téodolo Franco y Bahamonde Salgado Pardo wurde am 4. Dezember 1892 als Sohn eines Marineoffiziers geboren. Er absolvierte 1910 die spanische Infanterie-Akademie, folgte der Offizierslaufbahn und stieg später in die Generalität auf. Im März 1939 trat er offiziell das Amt des Staatschefs an. Später wurde geregelt, ,daß Franco dieses Amt auf Lebenszeit
behält usw.
Sehen Sie, ich habe unter den Artikel geschrieben: „Wandlung durch Annäherung!". Dieser Begriff wird noch einmal interessant werden. Kein Wort von der Diktatur; kein Wort von der Auseinandersetzung im spanischen Bürgerkrieg;
({4})
kein Wort vom Faschismus. Sehen Sie, daraus kann man lernen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß wir es in der weiteren Entwicklung unserer Politik ohne Zweifel noch mit vielen Schwierigkeiten zu tun haben werden. Wer diese nicht erwartet, ist kein Realist. Um sie aber zu überwinden, bedarf es eben eines langen Prozesses; dazu gehört auch der Beitritt zur UNO und vielleicht später die Überlegung, wieweit die UNO in der Lage ist, ihrer Charta der Menschenrechte, die in vielen ihrer Mitgliedstaaten leider keine Beachtung findet, schrittweise mehr Achtung zu verschaffen.
Zunächst befinden wir uns in der Vorbereitung der KSZE. Mein Gott, Herr Dr. Marx, was haben Sie alles erzählt: Wie die Sowjetunion ,die KSZE ausschöpfen wird, um die Amerikaner zu verdrängen, um in Westeuropa Einfluß zu gewinnen, um den Ostblock noch fester zusammenzuschweißen. Ihre heutige Bemerkung: Wir wollen nicht noch mehr in den Sog der Sowjetunion geraten, muß ja wohl Ihre Vorstellung andeuten, daß wir uns im Sog der Sowjetunion befinden.
Ich denke, auch in diesem Punkt war unsere Einschätzung wesentlich richtiger. Sie beobachten das ja sehr genau. Die Schwierigkeiten der Sowjetunion vor ,der Konferenz sind doch keinesfalls geringer als unsere; was im wesentlichen auch auf die volle Übereinstimmung zurückzuführen ist, die wir im westlichen Lager nicht zuletzt durch unsere Politik auch in bezug auf die KSZE erreicht haben. Ich brauche wohl nicht wörtlich zu zitieren, mit welcher Wärme der französische Staatspräsident in diesen Tagen von dem noch nie so guten Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Frankreich gesprochen hat.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind doch offensichtlich eifrig dabei, ein gespaltenes Verhältnis zu unseren Verbündeten allen voran zu Frankreich - zu entwickeln. Oder was soll denn das bedeuten, wenn Herr von Kühlmann-Stumm in Ihrem Pressedienst davon schreibt, Frankreich habe dem Beitritt Großbritanniens zur EWG deshalb zugestimmt - ich zitiere, Herr von Kühlmann-Stumm -, „um eine Neuauflage der Entente cordiale gegen Deutschland einzuleiten"? Ist das nun Ihre Politik? Oder was ist Ihre Politik in bezug auf Frankreich? Dies jedenfalls hat Herr Kühlmann-Stumm in diesen Tagen geschrieben.
({6})
Welche Vorstellungen haben Sie denn von der Position der Bundesrepublik? Herr Schröder behauptet, ohne die Verträge ließen sich die Interessen Deutschlands besser vertreten. Jeder soll sich einmal überlegen, wo wir angesichts der weltpolitischen Entwicklung ohne die Verträge heute ständen.
Herr Barzel sagte hier: „Berlin ist eine Probe auf unsere Haltung!" Wohlan denn: Prüfen wir doch einmal den Wandel in Berlin seit dem letzten Jahr. Nach dem ersten Ansturm hat sich die Begegnung der Westberliner mit ihren Freunden und Verwandten im anderen Teil der Stadt und in der DDR weitgehend normalisiert. Der Verkehr zwischen Berlin-West und der Bundesrepublik auf der Landstraße läuft wie am Schnürchen, und der Harz, die Lüneburger Heide sowie die Ostsee werden mehr und mehr Wochenendziele der Berliner Bürger.
Der Anteil der Sondergenehmigungen für Bürger der DDR unter der Rentenaltersgrenze nimmt langsam zu. Ich habe eben Zahlen genannt. Vielleicht nimmt die Furcht der DDR-Führung auch in dieser Beziehung allmählich ab in Wechselwirkung mit dem Druck der DDR-Bevölkerung, die größere Freizügigkeit will.
Die Legalisierung unserer westlichen Stadt durch die Sowjetunion und die DDR hat die Atmosphäre in Berlin entscheidend verändert. Das ist ein Prozeß, der erst am Anfang steht. Wenn man dies sieht, dann kann man über die Stimmung, die Herr Lummer immer wieder einmal gern erzeugen möchte, nur den Kopf schütteln.
Wir jedenfalls wissen, daß die Probe auf unsere Haltung in Berlin, Herr Dr. Barzel, durch uns bestanden wurde. Berlin ist seit der Berlin-Vereinbarung und seit dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages in einer neuen Qualität des Lebens und in einer neuen Position hinsichtlich der Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschland. Dies war ein entscheidender Auftakt in bezug auf unsere deutsche Politik, unsere Ostpolitik und unser Bemühen, Friedenspolitik mit dem Streben zu entwickeln - da die Nation nur durch Begegnung der Menschen und im Gedanken der Menschen erhalten bleiben kann , den Menschen die Voraussetzungen für diese Bewegungen und Begegnungen zu schaffen. Dies hat heute niemand mehr bestritten.
Details, Schwierigkeiten - kleine Schwierigkeiten, große Schwierigkeiten - sind unvermeidbar, gerade für die andere Seite bei einer Umstellung, die sie vornehmen muß. Wir gehen davon aus, daß die Schwierigkeiten noch eine ganze Weile anhalten werden und wir es damit zu tun haben werden.
Aber dies ist für mich ein sicherer Schluß: Die Schwierigkeiten in einer Bewegung der Politik, die in unserem Interesse nach vorn führt, sind unvermeidbar. Ohne diese Bewegung hätten wir diese Schwierigkeiten nicht, sondern die Erstarrung der deutschen Situation in einem Europa, das an uns vorbei internationale und Ost-West-Politik entwickelt hätte.
({7})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Windelen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Hier und draußen wurde in diesen Tagen sehr viel von Chancengleichheit gesprochen. Davon hat die Opposition heute nicht sehr viel gemerkt. Nach drei Rednern der Koalition folgt nun wieder einer der Opposition, und so ging es den ganzen Tag. Aber vielleicht liegt das auch daran, daß wir als Opposition Ihrer Vorstellung nicht ganz folgen und deswegen gestraft werden sollen.
Herr Kollege Mattick hat soeben das ständige Störfeuer der Opposition gerügt. Nun, Herr Kollege Mattick, erwarten Sie denn Zustimmung der Opposition? Ich glaube, wir hätten dann wohl unsere Aufgabe verfehlt. Vielleicht darf ich Sie an Ihren Stil der Opposition in den 50er .Jahren erinnern. Vielleicht darf ich Sie auch daran erinnern, daß diese Opposition ihre Zusammenarbeit schon in der letzten Legislaturperiode angeboten hat und daß es der Kollege Wehner war, der uns damals zugerufen hat, er brauche die Opposition nicht.
({0})
Herr Kollege Mattick hat der Opposition vorgeworfen, sie habe einen Kurswechsel vorgenommen, sie sei von der gemeinsamen Politik der Großen Koalition abgerückt. Das ist ein sehr interessanter Vorwurf. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner vorigen, nicht in dieser, Regierungserklärung ausdrücklich gesagt, er wolle die Politik der Großen Koalition kontinuierlich weiterentwickeln. Er nannte auch die Elemente einer solchen Politik. Er erwähnte die Friedensnote von Kanzler Erhard vom März 1966. Das heißt: Gewaltverzicht war schon vor der Großen Koalition gemeinsame Politik. Und er nannte die Regierungserklärung der Großen Koalition, in der die gemeinsamen deutschland- und ostpolitischen Positionen noch völlig intakt waren. Zu dieser Politik gehörte auch die gemeinsame Entschließung vom 25. September 1968, in der wir noch einstimmig der Meinung waren, daß die Anerkennung eines zweiten deutschen Staates nicht in Betracht komme. In der gleichen Regierungserklärung, in der noch von kontinuierlicher Weiterentwicklung die Rede war, gab es den elementaren Bruch dieser Gemeinsamkeit in der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir haben damals die Frage gestellt, was sich denn geändert habe, daß diese Position, die wir bis zum Wahltag noch gemeinsam bezogen hatten, nun aufgegeben worden sei. Wir bekamen damals vom Bundeskanzler als Antwort die von mir als zynisch empfundene Gegenfrage, ob es uns denn entgangen wäre, daß inzwischen Wahlen stattgefunden hätten. Natürlich haben Sie das Recht, natürlich hat jeder Politiker und jeder Bundeskanzler das Recht auf einen Kurswechsel. Aber dann möge man uns hier bitte nicht vorwerfen, wir hätten die gemeinsame Basis der Großen Koalition verlassen; denn das ist doch nachprüfbar unzutreffend.
({1})
Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers enthält eine Reihe von guten Formulierungen, von begrüßenswerten Feststellungen und Zielvorstellungen. Aber das gilt sicher nicht für den Bereich der Deutschlandpolitik, nicht für die Fragen zur Lage der Nation. Die Aussagen dazu sind an Dürftigkeit kaum zu übertreffen, und auch die Ergänzungen von Minister Franke haben diesen Zustand nicht wesentlich verbessern können. Aus dem Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland soll künftig, wie es in der Regierungserklärung heißt, ein „Bericht über die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" werden. Herr Minister Franke, Sie haben das hier noch einmal ausdrücklich bestätigt. Das aber wird dem Auftrag der einzigen frei gewählten deutschen Regierung nicht gerecht. Ein Bericht über die staatlichen Beziehungen mag interessant sein, aber er sagt doch wenig über die Lage der Menschen in jenem anderen Staat in Deutschland aus.
({2})
Wer spricht also künftig für sie, wenn die Bundesregierung das nicht mehr tun will und die Menschen drüben das selbst ja nicht können? Wer spricht über die Situation der 1 Million deutscher Staatsbürger jenseits von Oder und Neiße, über deren Rechte die Bundesregierung im Warschauer Vertrag nichts festgelegt hat, obschon das sicher ihre grundgesetzliche Pflicht gewesen wäre?
({3})
Wenn die Bundesregierung darüber weiter schweigt, dann wird sich die Opposition dieser Frage um so mehr annehmen müssen. Das entspricht nicht nur unserer Vorstellung von den Pflichten aller Demokraten, sondern auch der besonderen Aufgabe einer Opposition, wie wir sie sehen. Wir bitten die kritische Publizistik sehr herzlich um ihre Unterstützung bei dieser unserer Aufgabe.
({4})
Natürlich billigen wir der Bundesregierung im zwischenstaatlichen Bereich durchaus ein gewisses Maß an Zurückhaltung zu. Sie hat dabei aber die Grenzen zu beachten, die uns unser gemeinsamer Auftrag als Demokraten setzt. Das bedeutet - um zwei gute Worte aus der Regierungserklärung aufgreifen -: sie hat „tätige Barmherzigkeit" und „Solidarität gegenüber den Nächsten" zu üben. Wem aber, meine Damen und Herren, wären wir mehr zur Solidarität verpflichtet als unseren Landsleuten, denen Menschenrechte und Demokratie vorenthalten werden!
({5})
Aus dieser Sicht - und dafür, Herr Kollege Mattick, bitte ich um Verständnis - müssen wir die Zurückhaltung der Regierung hier kritisieren. Von den Leiden der Menschen in Nordirland, dem Elend in der Dritten Welt, vom Krieg in Vietnam ist die Rede, und ich begrüße das ausdrücklich. Aber andererseits ist es doch erschreckend, wie wenig zu der bitteren Wirklichkeit in unserem eigenen Lande gesagt wird.
({6})
Wenn es dazu nur heißt, man bemühe sich um die Linderung - nicht etwa um die Beseitigung - humanitärer Probleme bei der Umsiedlung und Familienzusammenführung und um einen Zustand, in dem nicht mehr geschossen werde - über die Selbstschußanlagen wird geschwiegen -, dann spricht daraus doch nicht nur Resignation. Auch das Verschweigen kann eine Form der Verharmlosung sein.
({7}) Es ist gewiß das gute - ({8})
- Warten Sie doch erst ab, was ich sagen will. Ich schätze, Sie stimmen mir diesmal wirklich zu.
Es ist gewiß das gute Recht der Regierung, auf erreichte Verbesserungen hinzuweisen. Das hat sie getan. Minister Franke hat das in vielen Einzelheiten eben noch einmal belegt. Wir bestreiten doch gar nicht, daß es Verbesserungen gegeben hat. Ich bedaure allerdings, daß die doch berechtigte Zwischenfrage des Kollegen Wohlrabe hier so ungnädig behandelt wurde. Ist es nicht mehr erlaubt, zu fragen, welche Gegenleistungen erbracht worden sind?
({9})
Aber ich meine, neben dem Recht der Regierung, ihre Leistungen und Erfolge hervorzuheben, hat sie gleichermaßen die Pflicht, die tiefen Schatten der Unfreiheit und der Unmenschlichkeit auszuleuchten, die noch immer über einem Teil unseres Volkes liegen. Das Stirnrunzeln seiner kommunistischen Unterdrücker darf uns nicht daran hindern, auch heute noch Unfreiheit Unfreiheit und Unmenschlichkeit Unmenschlichkeit zu nennen.
({10})
Herr Außenminister, ich frage Sie - und ich hätte gern eine Antwort darauf -, wann das vom SPD-Kollegen Dr. Mommer am 29. März 1968 angeregte, vom damaligen Minister Wischnewski dankbar begrüßte und wenig später auch vom Bundesaußenminister Brandt zugesagte Memorandum an die Vereinten Nationen über die Menschenrechte in Deutschland überreicht wird.
({11})
Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes war es bereits am 15. Juli 1969 so weit vorbereitet, daß sich ein erster Gesamtentwurf in Arbeit befand. Am 10. März 1970 wies Ihr damaliger Parlamentarischer Staatssekretär Dahrendorf auf die begonnenen Gespräche in Pankow und Warschau hin. Heute ist nun klar, daß weder in Mitteldeutschland noch jenseits der Oder-Neiße eine grundsätzliche Veränderung im
Sinne der Menschenrechte bewirkt werden konnte. Und deswegen frage ich noch einmal: Wird die Bundesregierung spätestens bei Aufnahme in die Vereinen Nationen das zugesagte Weißbuch der UNO oder doch wenigstens der 'Öffentlichkeit vorlegen? Die Opposition wird Sie bei jedem neuen Mord an der Mauer und dem Minengürtel danach fragen und auch künftig das Schicksal unserer Landsleute jenseits von Oder und Neiße im Auge behalten.
Die Regierungserklärung enthält den für mich rätselhaften Satz:
Die Erhaltung des Friedens rangiert noch vor der Frage der Nation.
Nun, das Grundgesetz verbietet uns ausdrücklich Angriffskriege, und niemand - ich bin dankbar, daß das heute in diesem Hause noch einmal bestätigt wurde - will Gewalt zur Lösung unserer nationalen Frage einsetzen. Durch uns also wurde und durch uns wird der Friede nicht gefährdet. Was soll also dieser Satz? Ich fürchte, der Verdacht ist nicht unbegründet, daß er der Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf ungenügender Vertretung nationaler Interessen dienen könnte. Darauf deuten jedenfalls Äußerungen aus den Reihen der Koalition hin, die Bedenken wegen der Verfassungsmäßigkeit der Ostverträge mit der Feststellung zurückweisen, die Erhaltung des Friedens stelle auch im Sinne des Grundgesetzes ein höherwertiges Rechtsgut dar als das Gebot der Wiedervereinigung. Deswegen möchte ich hier ganz deutlich feststellen, daß der Frieden durch die widerrechtliche Teilung Deutschlands belastet wird und nicht dadurch, daß wir mit friedlichen Mitteln an der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts festhalten.
({12})
Der Frieden ist mit diesen Verträgen so sicher oder so unsicher, wie er auch vorher gewesen ist. Deswegen bedarf, glaube ich, der Satz des Herrn Bundeskanzlers einer Interpretation. Sollte mit Frieden etwa nur weniger Feindseligkeit von Kommunisten gegenüber Demokraten gemeint sein? Das allerdings wäre dann eine folgenschwere Selbsttäuschung. Honecker sagte vor wenigen Wochen, am 7. Dezember 1972, wörtlich, „daß der ideologische Kampf an Umfang und Intensität zunimmt, und zwar nicht trotz der Politik der friedlichen Koexistenz, sondern gerade in ihrem Gefolge".
Mit der Anerkennung der DDR wird die Unfreiheit ein mit der Freiheit gleichberechtigtes Prinzip in Deutschland. Dies wird besonders deutlich an der zunehmenden Zahl von Anhängern einer Konföderation zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Wir kennen diese Idee ja bereits von Walter Ulbricht und aus dem anscheinend zu neuem Leben erwachten Deutschland-Plan der SPD von 1959. Auch jüngere Äußerungen von namhaften Politikern, auch des Bundeskanzlers, weisen in eine ähnliche Richtung. Bei nüchterner Prüfung kann ein solcher Plan des „vom Nebeneinander zum Miteinander" nur bei einer weitgehenden Annäherung unserer Ordnung an jene der DDR realistisch sein. Aber auch das ist uns aus den 50er Jahren bekannt, als Herbert Wehner die Wiedervereinigung zu
einem gesellschaftspolitischen Prozeß im Zeichen des Sozialismus erklärte. Sind wir schon auf diesem Weg? Erleben wir nicht, wie der Osten mit immer größerem Erfolg Menschen als Mittel der Pression und die Ostverträge als Mittel zu immer weitergehenden Einmischungsversuchen in unsere innere Ordnung benutzt? Was ist es denn anders, wenn wir von Journalisten hören, Warschau mache eine zügige Abwicklung der versprochenen Familienzusammenführung von der Erfüllung weiterer finanzieller Forderungen abhängig? Warum schweigt die Bundesregierung zu den fast unerträglichen Kosten, mit denen die Aussiedlung von Deutschen aus verschiedenen Ländern des Ostblocks verbunden ist, während Israel sich an die Öffentlichkeit wendet und wegen des von der Sowjetunion geforderten Kopfgeldes an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen wenden will?
({13})
Honecker versucht, mit Spitzelmethoden, mit Fragebogen und mit Druck die Begegnungsmöglichkeiten von Deutschen aus Ost und West einzuschränken oder zu unterbinden, und die Bundesregierung äußert sich nur zurückhaltend dazu. Herr Sonderminister Bahr übernimmt gar die Rechtfertigung der anderen Seite, indem er nach Entschuldigrundsgründen sucht und verharmlosend von Anfangsschwierigkeiten spricht.
Kommunisten verlangen Sanktionen gegenüber angeblich revanchistischen Organisationen, und der nordrhein-westfälische Parteitag der SPD beeilt sich, diese Forderungen zu erfüllen.
({14})
Wer die Ostpolitik dieser Regierung für falsch hält und dies in aller Offenheit begründet, soll mit dem Entzug von Fördermitteln bestraft werden, die doch auch von den Gegnern dieser Politik durch Steuerzahlungen mit aufgebracht werden.
({15})
Es ist doch ein besorgniserregendes Demokratieverständnis, das sich hier offenbart.
Bulgarien verweigert Maschinen aus West-Berlin die Landeerlaubnis. Bürgermeister Schütz bittet die Bundesregierung um entsprechende Maßnahmen. Vergeblich.
In der Regierungserklärung, die ja den Bericht zur Lage der Nation mit umfassen soll, sucht man vergeblich nach Zahlen über Flüchtlinge, die ihr Leben einsetzen, um die Freiheit zu gewinnen. Es werden immer mehr; es sind über 100 in jedem Monat.
({16})
Kein Wort, Herr Kollege Marx, über die Zahl der Toten und Verwundeten an Mauer und Stacheldraht; nichts über die Zahl derjenigen, die noch immer in Deutschland oder anderswo gegen ihren Willen widerrechtlich festgehalten werden; nichts über die Probleme derjenigen, die hier als Spätaussiedler noch eingegliedert werden müssen oder deren Eingliederung als Vertriebene und Flüchtlinge nach
harten Jahren der Arbeit an den Folgen der inflationären Entwicklung zu scheitern droht; kein Wort über den bereits in der Regierungserklärung von 1969 angekündigten Abschluß der Kriegsfolgengesetzgebung. Diese Wirklichkeit mag nicht opportun sein. Deswegen fehlt das wohl auch in den Berichten der Bundesregierung.
Sind wir also schon auf dem Wege zur Anpassung? Bieten nicht die Auswirkungen dieser Politik auf viele Jungsozialisten und Jungdemokraten, aber auch weit darüber hinaus, Anlaß zu Sorge für uns alle? Zwölfeinhalb Jahre nach der Rede von Herbert Wehner am 30. Juni 1960 in diesem Hause sind Neutralitätsdenken und NATO-Gegnerschaft zu neuem Leben erwacht. Auch das gehört zur Lage der Nation. Es kann bittere Folgen für die ganze Nation haben, wenn solche Strömungen nicht rechtzeitig und entschlossen abgewehrt werden.
({17})
Sie sind eine Folge der Entspannungsillusion, die diese Ostpolitik ausgelöst hat. Diese Tendenzen sollten von uns gemeinsam abgewehrt werden.
Seit der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 weiß niemand mehr, was diese Regierung eigentlich unter „Deutschland" versteht, in welcher Beziehung die beiden Staaten in Deutschland zu diesem ganzen „Deutschland" stehen. Die Bundesregierung geht zwar von der Existenz zweier Staaten in Deutschland aus, spricht aber zunehmend von den zwei deutschen Staaten. Versteht sie darunter zwei deutsche Staaten an der Stelle Deutschlands, eines Deutschlands, das untergegangen sei und nur noch als alliierter Rechtsvorbehalt ein zeitlich begrenztes Dasein friste? Zu diesem Thema gibt es aus den Reihen der Koalition Widersprüchliches zu hören, und wir registrieren das sehr wohl. Angesichts der entscheidenden Konsequenzen dieser Frage wäre es aber an der Zeit, endlich eine eindeutige und verbindliche Definition zu bekommen, was die Bundesregierung unter „Deutschland" heute versteht. Für uns ist Deutschland nach Geist und nach Inhalt des Grundgesetzes mehr als nur ein zeitlich begrenzter alliierter Vorbehalt.
({18})
Sie sagen, sie wollten die Teilung erträglicher machen. Wir glauben Ihnen das. Wer wollte das nicht? Aber müssen wir dann nicht, anstatt zu schweigen, verstärkt dem Mißverständnis begegnen, wir begännen uns auf Dauer mit dieser Teilung und mit der Unfreiheit auf deutschem Boden einzurichten? Anderenfalls hören Teilung und Unfreiheit doch auf, aktuelle und drängende Probleme zu sein. Nach meiner Überzeugung würde das den Maßstäben der Moral und unserer Pflichten gegenüber jenen, die in Unfreiheit leben müssen, nicht gerecht. Ja, lassen Sie mich fragen: Ist ein solches Sich-Abfinden nicht letztlich eine amoralische und zugleich apolitische Haltung?
Was antworten wir auf den Vorwurf des sowjetischen Atomphysikers Sacharow, der nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 12. Januar 1973 feststellte - so wörtlich :
Unsere Behörden scheinen frecher zu werden, weil sie fühlen, daß sie angesichts der Entspannung die öffentliche Meinung im Westen, die sich nicht mehr so stark für die Situation der inneren Meinungsfreiheit in der Sowjetunion interessiert, jetzt ignorieren können.
Ausgesprochen oder insgeheim wissen wir oder spüren wir doch alle, daß Sacharow mit dieser Feststellung recht hat. Sind wir nicht in der Gefahr einer opportunistischen Anpassung? Auch das Schweigen kann eine Form des Opportunismus sein.
({19})
Mit Hilfe der Bundesregierung soll ein Staat Mitglied der Vereinten Nationen werden, der die Charta der Vereinten Nationen und das in ihr verbriefte Recht täglich bricht. Trotzdem soll Honecker nach weltweiter Anerkennung seines Staates auch diese Forderung erfüllt werden. Womit wollen wir dann aber noch Einfluß ausüben, wenn Ost-Berlin all unseren Forderungen nach Freizügigkeit für Menschen, Meinungen und Informationen wegen der vorhersehbaren Folgen auf seine innere Ordnung nur mit verstärkter Abgrenzung begegnet? Was hätten wir denn dann noch zu bieten außer Geld? Damit wären wir doch genau wieder dort, wo wir vor den Verträgen bereits waren.
({20})
- Ich nehme jetzt zur Regierungserklärung Stellung. Dazu sind wir aufgerufen; das ist meines Amtes.
({21})
In den Wahlkämpfen hat die Regierung hohe Erwartungen genährt. Hier ist keiner, der nicht wünschte, daß diese Hoffnungen nicht erfüllt würden. Aber die Wirklichkeit ist doch anders, und die Regierung weiß das doch schließlich auch. Sie ist ja nicht blind. Sie weiß, daß die bewußt geweckten Hoffnungen und Wünsche der Menschen nur sehr begrenzt - wenn überhaupt - auf Dauer zu verwirklichen sind. Das Regime drüben wird jede Gefahr für sein System ohne Rücksicht auf Verträge und Versprechungen rigoros bekämpfen, wie wir das doch noch vom Prager Frühling her in Erinnerung haben, der trotz Verträgen über Nacht im stalinistischen Winter endete. Wir sollten spätestens damals gelernt haben, daß jede Begegnung mit der Freiheit eine tödliche Gefahr für die Unfreiheit darstellt.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, diesen Weg weitergehen wollen, dann müssen Sie ihn allein weitergehen. Sie haben die Mehrheit dazu. Wir werden diese Politik sicher nicht mit Haß oder Feindschaft bekämpfen, aber in kritischer und entschiedener Gegnerschaft begleiten. Die Zukunft mag lehren, ob dieser Ihr Weg im Sinne der Ziele unseres Grundgesetzes richtig war. Ich hoffe es aufrichtig, ich fürchte allerdings, das Gegenteil trifft ein. Unser Angebot zur Gemeinsamkeit in den Lebensfragen der Nation gilt für die Gegenwart, aber es gilt besonders für den Zeitpunkt einer Krise, die niemand wünschen kann und die wir dennoch befürchten müssen.
({22})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Windelen hat seine Rede soeben mit einem Angebot der Zusammenarbeit abgeschlossen. Was mich gerade als einen Neuling in diesem Hause noch mehr beeindruckt hat, waren die Ausführungen von Herrn Professor Mikat, der gefordert hat, die Fraktionen dieses Hauses sollten sich leiten lassen von dem Willen zur prinzipiellen Übereinstimmung, von dem Bemühen, das Übereinstimmende festzustellen. Wenn ich aber, Herr Professor Mikat, die Debatte des heutigen Tages noch einmal in meiner Erinnerung vorbeigleiten lasse, frage ich mich allerdings, ob in den Äußerungen der Opposition dieser Wille zur Zusammenarbeit und dieser Wille zur Feststellung des Gemeinsamen immer sichtbar geworden ist. Ich will dabei gar nicht noch einmal auf die Rede unseres Kollegen Herrn Dr. Strauß von heute morgen Bezug nehmen, obwohl nach meiner Überzeugung gerade von dieser Rede der Zwang ausgegangen ist, nicht zur Berichtigung von Sachdarstellungen, sondern zum Ausräumen von Unterstellungen beizutragen. Das ist eine Tatsache, die an einigen Punkten von Ihnen, meine Damen und Herren in der Opposition, nur mit Widerwillen zur Kenntnis genommen worden ist. Ich möchte aber zusätzlich zu dem, was ich über die Worte von Herrn Mikat gesagt habe, hierbei auf die Rede von Herrn von Weizsäcker hinweisen. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn Herr von Weizsäcker als erster Redner der Opposition heute die Aussprache über die Regierungserklärung eröffnet hätte, ein anderes Klima in dieser Auseinandersetzung geherrscht hätte, als es tatsächlich der Fall war.
Bei unbestrittenen Divergenzen in persönlichen Auffassungen zu Herrn von Weizsäcker habe ich doch das Gefühl gehabt, daß er das praktiziert hat, was Herr Professor Mikat gefordert hat, nämlich die Feststellung von Gemeinsamkeiten.
({0})
- Ich glaube, daß das wohl auch von Ihrer Seite, Herr Leisler Kiep, nicht bestritten werden wird. Ich würde mich allerdings gerne mit Herrn von Weizsäcker speziell über gewisse Fragen einer Politik aus christlicher Motivation oder christlicher Politik an sich einmal unterhalten, und ich hoffe, daß ich dazu in anderen Gremien noch Gelegenheit haben werde.
Aber was in den Ausführungen von Herrn von Weizsäcker auch zum Ausdruck kam, war eine gewisse Besorgnis in der Abwehr von radikalen Strömungen und in der Furcht, daß wir die Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaftssystemen nicht mit den richtigen Mitteln und nicht energisch genug
ausführen würden. Gerade an diesem Punkte unterscheide ich mich und unterscheiden sich, wie ich glaube, meine Freunde in der FDP-Fraktion ebenfalls von diesen Ausführungen. Wir haben ein anderes Verständnis, eine andere demokratische Selbstgewißheit und eine größere Überzeugung, Herr von Weizsäcker, von der Gewichtigkeit der eigenen Argumente unserer demokratischen freiheitlichen Ordnung.
({1})
Aus dieser Überzeugung heraus sind manche der Argumente, die heute gegen die Deutschland- und Ostpolitik gebracht worden sind, uns, den Freien Demokraten dieses Hauses, nicht verständlich; denn wir sind der Meinung, daß wir eine Auseinandersetzung, auf welcher Ebene auch immer, mit den Vertretern eines nicht freiheitlichen Systems nicht zu befürchten brauchen, daß wir nicht diejenigen sind, die hier in einer Verteidigungsstellung sind, sondern daß diese Verteidigungsstellung gerade die andere Seite innehat. Allerdings sollten wir aus dieser Position heraus bereit sein, jede Möglichkeit der Annäherung wahrzunehmen, worauf ich nachher noch in einigen Punkten zurückkomme. Über eines sollten wir uns doch wohl gemeinsam im klaren sein: es geht bei der Ost- und Deutschlandpolitik nicht um die Anerkennung oder gar um die Aufwertung eines Systems, dessen demokratische Legitimation nicht unserer Auffassung entspricht.
Herr Windelen, ich darf Sie ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß wir mit dieser Ost- und Deutschlandpolitik nicht etwa Freiheit und Unfreiheit als vergleichbare oder gleichwertige Positionen in dieser Auseinandersetzung der verschiedenen Systeme gleichsetzen. Freiheit und Unfreiheit sind gerade für uns ganz konträr unterschiedene Dinge. Aber darum geht es bei dieser Politik nicht.
Noch viel weniger dürfte unterstellt werden, daß auch nur ein Gedanke an eine Übernahme dieses Systems auf unseren Staat oder unsere Gesellschaft in dieser Politik der Annäherung, in dieser Politik des geregelten Nebeneinanders und Miteinanders zu suchen sei.
Genauso unverständlich und verfehlt scheint mir, Herr Dr. Strauß, Ihr Hinweis von heute morgen, der auch außerhalb dieses Hauses einige Male gehört wurde, auf die Grundgesetzwidrigkeit des Grundvertrages. Hier ist zu fragen, um noch einmal Ihre Worte zu gebrauchen, Herr Dr. Strauß, wie man verhindern kann, daß Wiedervereinigung zu einer unerfüllbaren Forderung oder einer unstillbaren Hoffnung wird. Der Weg, den wir zu diesem Ziel der Wiedervereinigung beschreiten wollen, steht in Frage. Es steht aber nicht in Frage, für uns nicht in Frage - ich betone das jetzt auch einmal so, wie es von der anderen Seite gelegentlich oder auch wiederholt geschehen ist , daß auch diese Deutschland- und Ostpolitik ein Schritt auf dem Wege zur Wiedervereinigung ist, deren Zeitpunkt allerdings auch wir Ihnen mit Sicherheit nicht nennen können.
Meine Damen und Herren, wenn hier von Gemeinsamkeit die Rede ist, dann sollten wir, wie ich meine, einige der hier gemachten Äußerungen noch einmal überprüfen. Wenn Herr Dr. Marx z. B. gesagt hat: „Wir von der Opposition werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um die Amerikaner in Deutschland zu halten" oder „Wir von der CDU/ CSU sehen Europa nicht nur bis zum Eisernen Vorhang, wir sehen das ganze Europa bis zum Ural, aber frei muß es sein", wenn so etwas hier einseitig festgestellt wird, muß ich fragen, Herr Dr. Marx: Was heißt das denn eigentlich? Ist das nicht die Unterstellung - ({2})
- Ich wäre Ihnen dafür dankbar, Herr Dr. Marx. Ich habe Sie so verstanden, aber wenn es anders gemeint war, wird dieser Einwurf von mir gern zurückgenommen. Ich bin immer froh, wenn wir zu mehr Gemeinsamkeit und nicht zu mehr Divergenzen kommen. Ich bin gern bereit, vielleicht nachher, mit Ihnen das Protokoll einmal gemeinsam durchzugehen.
Fragen wir uns an dieser Stelle doch einmal
- Sie haben die Frage noch einmal sehr betont aufgeworfen, Herr Windelen -: Was beinhaltet der Begriff der „Nation", was ist „Deutschland" eigentlich? Was ist eigentlich die „Nation"? Wir haben immer wieder den Versuch einer Formulierung gemacht. Wenn wir sagen, die Nation wird auf Grund von gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Kultur, Tradition und Geschichte gebildet, wäre es einmal interessant zu untersuchen, ob nicht das Geschichtsbewußtsein jenseits des Eisernen Vorhangs im anderen Teil Deutschlands, wenn auch mit anderem Vorzeichen, energischer und viel intensiver geformt und erhalten wird als etwa auf unserer Seite. Das wäre eine interessante Untersuchung. Aber für mich, Herr Windelen, kommt als notwendiges Argument zu Sprache, Kultur, Tradition, Geschichte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die anderen Werte sagen alle nichts aus, wenn die verschiedenen Teile der Nation nicht das Gefühl haben, zueinander zu gehören. Eben dieses Gefühl war im Begriff unterzugehen. Es wurde höchste Zeit - höchste Zeit, sage ich -, daß nach einer langen Periode des Auseinanderlebens und des Voneinanderweggehens das Zusammenkommen der Menschen wieder eintrat und damit gerettet wurde, was bereits verlorenzugehen schien: das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Nation.
({3})
Auch für uns, Herr Windelen, ist Deutschland mehr, weiß Gott mehr als ein zeitweiser alliierter Vorbehalt. Aber weil es das ist, sind wir bereit, eine Politik zu treiben, von der wir glauben, daß sie der einzige Weg ist, die Hoffnung auf Wiedervereinigung nicht zu einer Utopie werden zu lassen.
({4})
Wir sind mehr dafür, daß ein Zustand geschaffen
wird, in dem kleine Schritte aufeinander zu getan
werden können, als ein Zustand, in dem. die Mauer
ständig wächst und immer weniger übersteigbar und die Grenze undurchdringlich wird.
Hier ist mit Recht von verschiedenen Seiten auf das alles hingewiesen worden, was wir im anderen Teil Deutschlands für die Menschen, die dort leben, nicht für gut halten und was wir um ihretwillen beklagen und bedauern. Aber ich frage Sie doch, meine Damen und Herren: was nützen wir diesen unseren Landsleuten drüben, wenn wir immer nur klagen über das, was sie nicht haben, oder klagen über das, was ihnen zugefügt wird, und wenn wir nicht handeln, um ihre Situation schrittweise, langsam, zäh und ausdauernd zu verbessern?
({5})
Denn - ich wiederhole das noch einmal, weil auch dieses Wort hier gefallen ist - der Grundvertrag ist kein Schlußstrich unter die Teilung, sondern er ist die notwendige Folgerung aus einer berechtigten Situation, in der nun einfach heute die Frage nicht mehr berechtigt ist: Wer berichtet uns denn von der Lage unserer Landsleute drüben? Wir haben ja heute in stärkerem Maße als früher die Möglichkeit, sie selbst zu fragen, die Besucher hier oder wenn wir nach drüben fahren. In diesen vielerlei Gesprächen
- ich will gar keine Zahlen wiederholen -, die jetzt geführt werden können, kann der Bericht über die Lage drüben besser gegeben werden, als er hier in diesem Hause mit noch so vielen Zahlen oder Unterlagen Ihnen vorgelegt werden könnte.
({6})
Wer von Ihnen in den letzten Wochen einmal drüben in der DDR gewesen ist, wird erlebt haben, wie offen und frei unsere Landsleute dort - ({7})
- Ich habe auch nichts dagegen, daß dieser Bericht vorgelegt wird. Ich betone nur, daß es neben dem Bericht in diesem Hause eine weit intensivere und informativere Möglichkeit gibt, als so ein Bericht sie darstellen kann.
({8})
- Ich glaube, daß das für jede Regierung gilt, Herr Dr. Marx. Denn der direkte, persönliche Kontakt - und das ist es ja, worum es uns geht - ist immer noch besser gewesen als das ausführlichste und mit größter Mühe hergestellte Papier.
Ich möchte noch einmal auf die Frage der besseren Nachbarn und der guten Nachbarn zurückkommen. Ich bin tatsächlich der Meinung, daß wir mit dieser Politik bessere Nachbarn geworden sind. Wir sind es im Westen auf dem Wege in ein vereinigtes Europa geworden, da wir ohne die Hypotheken in das vereinigte Europa hineinzugehen in der Lage sind, die uns vorher belastet haben, und wir sind es gegenüber dem Osten und gegenüber unseren Landsleuten, da wir um der Menschen willen real und nüchtern handeln. Insofern ist, normal und klar gesehen, diese Ostpolitik, diese Deutschland- und
Osteuropa-Politik, die wir treiben, eine andere, aber eine notwendige Form der Europapolitik.
Dies alles, meine Damen und Herren, gilt auch angesichts der Restriktionen in der DDR, mit denen dieser Staat versucht, den Kreis der Begünstigten drüben soweit wie möglich einzuschränken.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?
Herr Kollege, wie läßt es sich vereinbaren, daß Sie auf der einen Seite sagen, wir hätten durch diese neue Politik der Bundesregierung bei unserem Eintritt nach Europa eine Hypothek abgebaut, während Sie auf der anderen Seite davon sprechen, daß unser Standpunkt im Hinblick auf die Wiedervereinigung Deutschlands durch diese Vertragspolitik nicht berührt sei? Bedeutet das denn nicht einen Widerspruch, wenn Sie das in dieser Form miteinander in Einklang bringen wollen?
Herr Kollege, sehen Sie nicht, daß wir im Osten bereit sind, uns mit den Realitäten des Tages auseinanderzusetzen, aber zu einer Entspannung beizutragen, und damit auch im Westen den Weg nach Europa öffnen?
({0})
Ich halte es, wenn ich noch einmal auf die einschränkenden Maßnahmen in der DDR zurückkommen darf, für notwendig, jeden solchen Versuch deutlich beim Namen zu nennen.
({1})
Und ich halte es für notwendig, daß wir der Regierung der DDR gegenüber sehr deutlich sagen, was wir von solchen Versuchen halten. Denn ich glaube, wir können davon ausgehen, daß auch die Regierung der DDR gegenüber solchen Äußerungen in unserer Öffentlichkeit nicht unempfindlich sein wird. Insofern wollen wir zwar bessere odergute Nachbarn auch zum Osten hin sein, aber sicherlich keine bequemen und 'gefügigen Nachbarn. Wenn aber von daher die Frage gestellt wird, ob etwa diese Restriktionen nicht ein Dauerzustand sein würden, dann sage ich Ihnen, daß es uns um die Herbeiführung eines Zustandes geht, in dem für die DDR ,selbst solche einschränkenden Bemühungen bei einer allgemeinen Entspannungstendenz schädlich werden, ja, in dem ihre Versuche der Abgrenzung ihre Glaubwürdigkeit und internationale Reputation beeinträchtigen.
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß auf diesem Wege sichergestellt sein kann und sichergestellt sein wird, daß diese Verträge tatsächlich nach Buchstaben und Geist eingehalten werden. Es wird sicherlich auch auf diesem Wege - einen anderen Weg sehen wir nicht - die Wiedervereinigung nicht die plötzliche Erfüllung eines Traumes am Tage X sein, sondern ein langwieriger und mühsamer Prozeß, wie Herr Dr. Leverenz - um nur einen der frühen Zeugen aus der Geschichte der FDP hier zu zitieren - es schon 1957 beschrieben hat.
Völlig verfehlt aber wäre es nun allerdings, dieser Deutschland- und Ostpolitik anzulasten, was Folge einer 20jährigen Entwicklung ist, die auch auf unserer Seite ich glaube, meine Damen und Herren, das sollten wir nicht verkennen - durch Abgrenzung und nicht durch das Bemühen um ein geregeltes Nebeneinander oder gar Miteinander geprägt war.
({2})
Denn daß auch wir in diesen 20 Jahren gezögert haben oder gar überhaupt nicht bereit waren, Schritte in diese Richtung zu tun, wird im Grunde genommen niemand von uns innerhalb und außerhalb dieses Hauses abstreiten können. Es geht uns - um Herrn Dr. Marx noch einmal zu antworten nicht um das Herunterspielen oder Kaschieren irgendwelcher Dinge. Es geht uns, Herr Windelen, nicht darum, zu verschweigen, was nach unserer Meinung nicht gut ist. Aber es geht uns darum, in einem Klima der Entspannung das aufrechtzuerhalten, was ich die Hoffnung und reale Aussicht auf Wiedervereinigung nennen möchte.
Ja, Herr Dr. Marx, Demokratie lebt von der Wahrheit. Aber das ist eine Forderung an jeden von uns in diesem Hause, und ich würde es mit aller Entschiedenheit zurückweisen, daß dieser Satz etwa als eine spezielle Forderung an die Koalition oder an die Regierung hier in den Raum gestellt wird; denn wenn wir nicht in Wahrheit miteinander umgehen, wenn wir nicht mit ehrlichen Argumenten miteinander den besten Weg suchen, dann werden wir allerdings nicht zu der Zusammenarbeit kommen, zu der wir von unseren Wählern an sich beauftragt sind.
Ich komme zum Schluß. Sicherlich haben wir noch keinen Idealzustand erreicht. Das ist aus vielen Äußerungen deutlich geworden. Wir haben im Verhältnis zur DDR noch nicht einmal einen normalen Zustand erreicht. Aber das hat auch weder die Regierung noch irgendein Vertreter der Koalitionsfraktionen je behauptet. Wenn wir jedoch einmal vom Punkt Null ausgehen, so werden Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht bestreiten können, daß manches besser geworden ist, als es war. Diesen Weg mit Entschiedenheit weiterzugehen, ich meine, das ist eine Aufforderung an jeden von uns in diesem Hause, Schritt um Schritt, mühsam, für die Menschen und eine immer größere Durchlässigkeit der Grenzen, die so lange nicht erreichbar sein wird, wie wir diese Grenzen etwa täglich in Frage stellen.
Lassen Sie mich zum Schluß Sie, meine Damen und Herren, an einen Vorgang erinnern, der von Ihnen sehr oft zitiert worden ist, nämlich den Besuch Adenauers in Moskau 1955, und an ein Wort, das Molotow damals Bundeskanzler Adenauer mit auf den Weg gegeben hat, als er ihm nämlich sagte, daß jetzt, nach den Abmachungen, die dort getroffen worden seien, die Wiedervereinigung eine Sache der Deutschen selbst sei. Ich appelliere an die Opposition: Meine Damen und Herren, stellen Sie sich
nun nicht gegen den Versuch, die Deutschen zueinanderkommen zu lassen!
({3})
Machen Sie den Willen zur Wiedervereinigung des deutschen Volkes nicht dadurch zur hoffnungslosen Illusion, daß - ({4})
- Ich rede dabei speziell vom Grundvertrag, Herr
Dr. Marx.
({5})
Machen Sie den Willen zur Wiedervereinigung des deutschen Volkes nicht dadurch zur hoffnungslosen illusion, daß Sie das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit in den Gliedern der deutschen Nation ersterben lassen!
Herr Dr. Strauß, Sie haben heute morgen Humanität und Maß gefordert. Hier, in diesem Punkt, kann Ihre Forderung erfüllt werden.
({6}))
Meine Damen und Herren, daß war die erste Rede unseres Kollegen Ronneburger in diesem Hause. Ich darf ihn im Namen des Hauses dazu sehr herzlich beglückwünschen.
({0})
Ich erteile das Wort nunmehr Herrn Bundesminister Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann es, glaube ich, sehr kurz machen; denn nach den Ausführungen des Herrn Kollegen Ronneburger hat sich vieles von dem erledigt, was ich zu den Bemerkungen von Herrn Windelen hatte sagen wollen. Deshalb nur einige kurze Bemerkungen.
Zunächst einmal ist beklagt worden, es habe ein gewisser Zynismus darin gelegen, wenn der Bundeskanzler gesagt habe, es habe an den Wahlen gelegen, daß man vor den Wahlen anders als danach von der DDR als Staat gesprochen habe. Nun, hier muß festgestellt werden: Nach den Wahlen war eine politische Entscheidung gefallen, die es ermöglichte, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung zu tragen, daß, wenn möglich, in der Demokratie und in der Politik die Wahrheit gesagt werden soll.
({0})
Denn die Mehrheiten waren nicht so, daß sie es zugelassen hätten, die Wahrheit zu sagen, die Sie selbst auch gesehen haben.
({1})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx?
Eine kleine Sekunde noch. Ich bin gern bereit, das noch einmal zu wiederholen, damit Sie es ganz genau wissen. Ich bleibe nämlich bei dem, was ich gesagt habe.
({0})
- Sie selbst haben gewußt, daß die DDR ein Staat ist. Sie haben nicht gewagt, es zuzugeben. Sie hatten nicht den Mut, es zuzugeben.
({1})
Sie haben sich aber de facto danach verhalten.
({2})
Und Sie hatten eine Mehrheit, die das ermöglichte.
({3})
- Ich bitte sehr um Entschuldigung. Wir können die Sache gern fortsetzen. Bloß, nach den Wahlen hat eine kleine Mehrheit - die allerdings anders zusammengesetzt war - den Mut gehabt, auch die Wahrheit zu sagen: daß die DDR nämlich ein Staat ist.
({4})
Herr Marx, bitte sehr!
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, in diese Ihre uns alle überraschende Feststellung auch den Gedanken einzubeziehen, daß - wenn ich recht weiß - im September 1968
({0})
dieses Haus - auch Ihre Fraktion - eine sehr ausführliche und klare Entschließung zu den ost- und deutschlandpolitischen Fragen gefaßt hat, in der wir uns alle einig waren, und wir also annehmen müssen, daß Sie jetzt uns und der Öffentlichkeit sagen, Sie hätten mit uns damals nur deshalb unterschrieben - also die Unwahrheit fixiert -, weil wir zahlenmäßig stärker gewesen sind und etwas anderes nicht zugelassen hätten?
({1})
Herr Dr. Marx, würden Sie so nett sein zu sagen, welchen Passus Sie in dieser Entschließung meinen.
({0})
- Nein, Entschuldigung, es kann sich doch nur darum handeln, festzustellen, ob die DDR ein Staat ist oder nicht. Es gibt viele Passagen in dieser Entschließung, die wir sicher auch heute noch sagen würden.
({1})
Bitte sehr, Herr Dr. Marx. - Meine Damen und Herren, ich bitte dem Kollegen Marx die Möglichkeit zu einer weiteren Zwischenfrage zu geben.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit - ich frage, nachdem Ihre Fraktion nach der Wahl 1969 nicht mehr dazu bereit war -, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in diesem Hause an Hand der ganzen Entschließung und aller feierlichen Versuche, die gelungen waren, dort eine gemeinsame Ostpolitik zu formulieren, noch einmal Punkt für Punkt durchzusprechen und uns und der Öffentlichkeit zu sagen, wo Sie sich damals von uns bedrückt gefühlt haben, die Ihnen innewohnende Wahrheit zu unterdrücken?
({0})
Ich bin gern bereit, einen solchen Versuch mit Ihnen zu machen. Bloß muß ich folgendes sagen: Das, was zu dieser Entschließung und zu dem zu sagen war, was die sozialdemokratische Fraktion dazu heute sagt, hat der Fraktionsvorsitzende vor einiger Zeit getan. Ich bitte das nachzulesen. Dem ist nichts hinzufügen.
({0})
Im übrigen muß ich sagen: Wir sind ja alle sehr leicht bereit, Bekenntnisse zugunsten der Gemeinsamkeit abzugeben. Wer nicht! Ich muß Ihnen sagen, mir ist sehr zweifelhaft, ob es Sinn hat, sich mit Leuten über Gemeinsamkeit zu unterhalten, die über die ungenügende Vertretung nationaler Interessen hier so reden, als ob sie damit Mitglieder dieses Hauses meinen.
({1})
- Gut, gern. Lesen Sie sich bitte das Manuskript von Herrn Windelen durch. Dann werden Sie feststellen, daß er eben über die ungenügende Vertretung nationaler Interessen so geredet hat, als ob hier Mitglieder dieses Hauses damit gemeint seien.
({2})
Ja, so ist das. Und wieso dann über Gemeinsamkeiten reden? Denn mit solchen Leuten lohnt nicht zu reden.
({3})
- Das kann ich Ihnen genau sagen. Mit der DDR zu reden ist eine Pflicht des Grundgesetzes; es ist aber keine Pflicht des Grundgesetzes, mit jedem Abgeordneten zu reden.
({4})
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesminister wird sicher seine Ausführungen hier noch einmal interpretieren.
({0})
Selbstverständlich hat er die Möglichkeit dazu. Bitte, Herr Minister, fahren Sie fort!
({1})
Herr Präsident, ich möchte - ({0})
Ich bitte um Ruhe!
({0})
- Meine Damen und Herren! Ich bitte um Verständnis. Niemand kann doch annehmen, daß der Minister sagen wollte, er wolle keinem Abgeordneten Rede und Antwort stehen.
({1})
Meine Damen und Herren! Ich bitte um Ruhe! Der Minister hat das Wort.
Ich möchte gern dazu beitragen, daß Sie Ihre Erregung ein bißchen dämpfen.
({0})
Das kann ich natürlich nur, wenn Sie mir die Möglichkeit geben, das zu tun. Ich habe folgendes gesagt - ich werde es ein bißchen ausführen -: Ich halte es im Interesse des Auftrages des Grundgesetzes - das heißt im nationalen Interesse - für eine unausweichliche Pflicht, mit der DDR zu reden. Das Grundgesetz gibt mir nicht dieselbe unausweichliche Pflicht, mit jedem Abgeordneten dieses Hauses zu reden.
({1})
Einen Augenblick! Aber amtlich selbstverständlich!
({2})
Aber ich bin doch nicht gezwungen, auf alles einzugehen, was Herr Windelen gesagt hat.
({3})
Ich bin nicht gezwungen, auf alles einzugehen, was Herr Windelen gesagt hat. Im Gegenteil, ich lehne es ab.
({4})
Nein, ich lehne es ab.
({5})
Darf ich zum nächsten Punkt kommen. Sie haben gefragt, ob man denn noch fragen dürfe, wie es denn mit den an die DDR gezahlten Geldern sei, ob sich in diesen Geldern ein Entgelt für eine politische Leistung verberge. Meine Damen und Herren, in dem Bericht zur Lage der Nation, den Herr Dr. Kiesinger 1969 abgegeben hat, heißt es dazu folgendermaßen - ich zitiere -:
Auf dem Gebiet des Interzonenhandels und des Postverkehrs sind einige begrenzte Fortschritte gemacht worden; aber im ganzen genommen hat sich die Lage eher verschärft. Die innerdeutschen Beziehungen sind durch die Machthaber in Ost-Berlin mit einer Reihe von Schikanen im Berlin- und Interzonenverkehr belastet worden, wie Sie wissen. Am 12. Juni 1968 wurde die Paß- und Visapflicht im Reise- und Transitverkehr eingeführt.
Meine Damen und Herren, das war damals die Realität. Hinter diesen nüchternen Sätzen - wobei ich die Reihenfolge zu beachten bitte - verbirgt sich a) die Erhöhung des Interzonenhandels mit einem zinslosen Kredit, wie Herr Dr. Marx das genannt hat, und niemand von Ihnen hat damals die damalige Bundesregierung etwa dafür kritisiert. b) Niemand hat damals die Aufffassung vertreten, daß diese Verbesserungen im Interzonenhandel etwa rückgängig gemacht werden sollten, weil die DDR die bekannten und hier genannten Schikanen auf den Zugangswegen eingerichtet hat. Das war die Realität, und davon wollen Sie heute offenbar nichts mehr wissen. Das ist der Punkt, wo Sie mit verschiedenen Maßen messen, Herr Dr. Marx, und dies geht natürlich nicht.
Letzter Punkt. Herr Windelen hat über die Frage gesprochen, ob denn Deutschland für die Bundesregierung mehr sei als ein zeitlich begrenzter alliierter Vorbehalt. Er hat eine Antwort gegeben, der ich mich voll anschließe. Mehr ist dazu heute jedenfalls nicht zu sagen. Sie haben selbst die Antwort gegeben: Für uns ist Deutschland mehr als ein zeitlich begrenzter alliierter Vorbehalt.
({6})
- Sie haben diese Antwort klassischerweise gegegeben: Für uns ist es mehr. Für uns auch.
({7})
- Nein, nein. Aber Kinder! Zunächst einmal: Wir haben ein Situation, in der die juristische Klam224
mer in der Tat in den Vorbehalten der Vier Mächte existiert. Und dann haben wir einen Auftrag des Grundgesetzes. Und dann haben wir von Deutschland Geschichte, und zwar eine Geschichte sehr verschiedener Art, wie wir wissen. Und dann ist Deutschland das, was in den Menschen hier und drüben an Willen lebendig gehalten werden kann; hier hat die Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren mehr geleistet, als ihre Vorgänger leisten konnten und geleistet haben.
({8})
Ich bin davon überzeugt, daß Ihre Sorge, die Sie sich zum Schluß gemacht haben, ebenso unberechtigt sein wird wie die Sorge, die Sie früher ausgesprochen haben.
({9})
Herr Minister, einen Augenblick. Nachdem mir der genaue Wortlaut Ihrer Ausführungen vorhin durch die Verwaltung noch einmal bekanntgeworden ist und die Erregung im Hause abgeklungen ist, würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie hier noch einmal deutlich machten, daß Sie jederzeit mit allen Mitgliedern des Hauses über die anstehenden Probleme sprechen. Das hielt ich für sehr gut.
In meiner amtlichen Eigenschaft selbstverständlich.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Jungfernrede des Kollegen Bahr ist für jeden, der diesen Kollegen kennt, nicht extemporiert, sondern gewollt. Dies ist eine Provokation. Bringen Sie dies in Ordnung, Herr Kollege Bahr!
({0})
- Ist er, hier im Hause. - Diese Erklärung trägt Züge - ich muß das sagen des Autoritären, des Von-oben-herab. In dieser Weise läßt sich gute Nachbarschaft in diesem Hause, in einer parlamentarischen Demokratie, nicht in Ordnung bringen.
({1})
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort an die Adresse des Kollegen Mattick. Er hat dem Sinne nach gefragt, wie es denn mit den Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition und umgekehrt stünde. Ich will auf diese Frage eine ganz klare Antwort geben, nämlich die: Überall dort, wo wir überzeugt sind, daß diese Zusammenarbeit zur Wahrnehmung der deutschen Interessen notwendig ist, werden wir diese Zusammenarbeit prästieren.
({0})
Ich gehe in meiner Rede darauf gleich noch etwas weiter ein.
Die zweite Bemerkung ist etwas scherzhafter. Herr Kollege Mattick meinte, daß ich an der großen Mauer in der Volksrepublik China in Hosianna-Rufe ausgebrochen sei. Herr Kollege Mattick, das Wort „Hosianna" gehört überhaupt nicht zu meinem Sprachschatz. Sie sind also offensichtlich einer Ente aufgesessen. Das war aber keine Peking-Ente.
Nun möchte ich zunächst an eine Bemerkung anknüpfen, die Kollege Wehner in seinen Ausführungen am vergangenen Donnerstag gemacht hat. Herr Kollege Wehner hat auf das positive Urteil über den deutsch-französischen Vertrag anläßlich seines zehnjährigen Bestehens hingewiesen und dabei den Wunsch ausgesprochen, es möge in zehn Jahren ebenso positiv über den jetzt noch umstrittenen Grundvertrag und über die Ostverträge geurteilt werden. Ich bin skeptischer. Ich gehe aber über seinen Wunsch insoweit hinaus, als ich es für gut hielte, wenn wir nicht zehn Jahre warten müßten, um in diesem oder jenem Bereich deutscher Außenpolitik zu einem höheren Maß an gemeinsamer Beurteilung zu kommen, als wir es in den letzten drei Jahren hatten.
In diesem Sinne möchte ich den Appell des Bundeskanzlers an die gemeinsame Verantwortung von Regierung und Opposition gegenüber dem Staat und seinen Bürgern verstanden wissen. Ich möchte diesen Appell gleichzeitig konkretisieren, indem ich an ein besonders wichtiges Stück außenpolitischer Gemeinsamkeit erinnere, zu dem wir in der vergangenen Legislaturperiode gefunden haben. Ich meine die gemeinsame Entschließung dieses Hohen Hauses zu den Verträgen von Moskau und Warschau.
({1})
Hier komme ich nun auf den Wunsch des Kollegen Wehner zurück und erwidere ihm so: Voraussetzung dafür, daß in zehn Jahren ein positives Urteil über die Ostverträge möglich ist, wird ihre entschlossene Handhabung und Ausfüllung im Sinne der gemeinsamen Entschließung sein.
({2})
Verantwortung dafür tragen alle in diesem Hause,
in besonderer Weise aber - das ist die Entsprechung zu ihrer außenpolitischen Handlungsvollmacht
die Bundesregierung selbst.
Lassen Sie mich meine Bemerkung zu den außenpolitischen Themen der Regierungserklärung des
Dr. Schröder ({3})
Bundeskanzlers mit einem kurzen Rückblick auf die Außenpolitik der Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren beginnen. Während Bündnis- und Europapolitik in den Grundsätzen nicht umstritten waren, wurde das eigentlich neue, bewegende Element dieser Außenpolitik, die Ostpolitik, und verbunden mit ihr die Deutschlandpolitik, Gegenstand harter Kontroversen zwischen der Bundesregierung und der Opposition. Die Gründe sind hier oft und ausführlich dargelegt worden. Die Auseinandersetzungen gingen nicht um die Ziele, die die Bundesregierung verkündet hat, nämlich Gewaltverzicht, Sicherung des Friedens, Zusammenarbeit, Abbau der Spannungen, Erleichterungen für die Menschen; sie gingen vielmehr - ich wiederhole es - um den Weg, der zu diesen Zielen führen soll.
Der Weg, den zu gehen sich die Bundesregierung 1969 entschieden hat, ist gekennzeichnet durch die Aufgabe von Positionen, an denen wir bis dahin festgehalten hatten. Das war ein Nachgeben gegenüber Forderungen der östlichen Seite, denen wir 20 Jahre lang widerstanden hatten, ein Nachgeben in vertraglicher Form wohlgemerkt, ohne daß Gegenleistungen der Vertragspartner in adäquater Weise zugesichert worden wären.
Die Bundesregierung hat bei dieser Politik von ihrem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch gemacht. Wir haben unsere Pflicht als Opposition erfüllt, indem wir unsere Sorgen und Bedenken äußerten und uns gegen eine Politik wandten, die wir für gefährlich und den deutschen Interessen abträglich ansahen. Naturgemäß konnte und kann keine der beiden Seiten beweisen, exakt beweisen, daß ihre politische Linie richtig ist, denn dies kann erst die zukünftige Entwicklung zeigen. Beweispflichtig jedoch - und das gilt es festzuhalten - bleibt die Bundesregierung dafür, daß ihre Politik das bringt, was sie selbst an Erwartungen und Hoffnungen mit ihr verbindet.
({4})
Einstweilen - und ich möchte meinen, daß die Regierung es sieht - sprechen mehr Indizien für die Berechtigung unserer Sorgen als für die der Regierungshoffnungen. Ich trete der Bundesregierung sicherlich nicht zu nahe, wenn ich warnend sage: Die Tatsache der Wahlentscheidung zugunsten der Regierungskoalition sagt nichts über die Richtigkeit der Ostpolitik.
({5}) Das Wahlergebnis vom 19. November 1972
({6})
enthebt die Regierung nicht der Pflicht, die Risiken ihres ostpolitischen Weges immer wieder zu prüfen und jeden Meter sorgfältig abzuklopfen, damit sie nicht ins Rutschen kommt. Sie darf dabei des kritischen Beistandes der Opposition sicher sein.
({7})
Die Entwicklung unserer Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn und zur Sowjetunion birgt Chancen, enthält aber auch unverkennbare Risiken. Regierung und Opposition sollten zusammenarbeiten bei dem Bemühen, die Chancen zum Nutzen aller Beteiligten und zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens der Völker wahrzunehmen, ohne den Risiken zu erliegen. Es gibt einstweilen keine sicheren Anhaltspunkte dafür, daß die sowjetische Politik ihre Ziele geändert hat, Ziele, die wir auch heute noch als Gefahr für eine freiheitliche Entwicklung Europas ansehen. Frieden und Freiheit gehören für uns untrennbar zusammen.
({8})
Beide müssen wir bewahren. Es wäre schändlich, wollten wir nicht mehr von der Forderung nach Freiheit, nach Selbstbestimmung für alle Deutschen sprechen, weil dieses Wort Freiheit ein Reizwort für die Regierung in Ost-Berlin ist. Wir müssen jeder Versuchung widerstehen, der Macht nach dem Munde zu reden.
({9})
Dies wäre der Anfang eines verhängnisvollen Prozesses, an dessen Ende leicht die Unfreiheit für alle Deutschen stehen könnte. Kein Land in Europa befindet sich in so gefährdeter Lage wie wir. Eine klare Sprache, eine klare Haltung in den Lebensfragen der Deutschen wird eine bessere Voraussetzung für Vereinbarungen mit der anderen Seite sein als das ängstliche Verbergen der eigenen Grundsätze. Diese klare Haltung erwarten wir von der Bundesregierung. Zu dieser Haltung werden wir sie immer wieder drängen.
({10})
Meine Damen und Herren, eine Vermeidung der Risiken, von denen ich gesprochen habe, wird nur gelingen, wenn unsere Sicherheit gewährleistet bleibt. Die nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft ist der Garant dieser Sicherheit. Wir haben es begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler dies klar ausgesprochen hat. Bei den notwendigen und schwierigen Bemühungen, die Funktionsfähigkeit der Allianz aufrechtzuerhalten und zu stärken, wird die Bundesregierung die Unterstützung der Opposition finden.
Dies gilt in gleicher Weise für die Erhaltung und Vertiefung unserer vertrauensvollen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, ohne deren Mitwirkung das atlantische Bündnis keine politische und keine militärische Kraft hätte. Eine enge Verbindung zu den Vereinigten Staaten ist daher für die Bundesrepublik Deutschland lebensnotwendig.
({11})
Diese Verbindung geht gewiß über die gemeinsame Wahrnehmung von Sicherheitsinteressen hinaus. Die hier wie dort freiheitlich-demokratische Ordnung begründet tiefere Bande, als es ein bloßes Sicherheitsbündnis vermöchte. Aber dennoch muß man sich davor hüten, die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika als eine bare Selbstverständlichkeit anzusehen. Jede Freundschaft muß sorgfältig gepflegt werden.
({12})
Dr. Schröder ({13})
Von unserer Seite muß das vor allem im Verständnis für Probleme und Schwierigkeiten des anderen zum Ausdruck kommen, in der Bereitschaft, Hilfe und Unterstützung zu geben, wo dies möglich ist. Wer in diesem Bewußtsein die Rede Präsident Nixons zu seinem Amtsantritt am 20. Januar aufmerksam liest, empfindet den Appell, den er an die europäischen Partner des Nordatlantischen Bündnisses richtet.
Wir Deutschen erwarten das politische Engagement der Vereinigten Staaten im Bündnis für europäische Interessen und eine glaubwürdige militärische Präsenz der Amerikaner in Europa auch für die Zukunft. Dann darf man aber auch nicht die Augen vor der Notwendigkeit verschließen, daß die europäischen Mitglieder der NATO mehr Verantwortung, mehr Pflichten, d. h. mehr Lasten im Bündnis übernehmen.
Meine Damen und Herren, der Hinweis des Bundeskanzlers, daß der europäische Pfeiler des Bündnisses gestärkt werden soll, ist richtig. Ich möchte ihn mit allem Nachdruck unterstreichen. Es kommt darauf an, daß alle europäischen Bündnispartner dies nicht nur sehen, sondern auch entsprechend handeln. Die Bundesrepublik als das Land, das die amerikanische Präsenz am nötigsten braucht, sollte praktische Vorschläge zur Lösung dieses dringlichen Problems machen. Wie dringlich dieses Problem ist, zeigt ein Blick auf das stetig wachsende Potential der Streitkräfte des Warschauer Paktes, eine Tatsache, die der Herr Bundeskanzler hervorgehoben hat und die ohne Zweifel Anlaß zur Beunruhigung gibt. Diese Entwicklung, meine Damen und Herren, ist ein wenig vertrauenerweckender Kontrast zu den Bemühungen um Abrüstung und Truppenverminderung, die demnächst in Europa in ein aktuelleres Stadium treten sollen. Wir nehmen diese Bemühungen ernst. Wir hoffen, daß sie einen wirksamen Beitrag zur Entspannung in Europa leisten werden.
Ebenso aufmerksam verfolgen wir die Vorbereitungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Auch dieses Projekt birgt Chancen und Risiken. Eine realistische Politik wird mit der Bereitschaft zur Mitwirkung einen gesunden Schuß Skeptizismus und Vorsicht verbinden.
Ich möchte in Erinnerung bringen, daß das Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz von der Sowjetunion seit 1954 mit Beharrlichkeit verfolgt worden ist, bis sie nun dieses Ziel vor sich sieht. Das allein - täuschen wir uns darüber nicht - ist sicher schon ein großer Erfolg der Sowjetunion. Die westlichen Teilnehmerstaaten sollten nun um so mehr darauf achten, daß die sowjetische Politik nicht auch ihre mit dem Konferenzprojekt verbundenen Ziele erreicht; denn diese Ziele sind nicht die unseren.
({14})
Eines unserer Ziele, das wir seit mehr als 20 Jahren verfolgen und dessen Gefährdung wir auf keinen Fall zulassen dürfen, ist die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur politischen Union. Wir wissen, daß das kein leichter Weg ist. Wir wissen auch, daß der Erfolg nicht nur vom guten Willen der Beteiligten abhängt. Wir wissen aber auch, daß der Wille zur europäischen Union nur dann erfolgreich sein wird, wenn er immer wieder ermutigt wird, wenn er immer wieder Anstöße und Impulse erhält. Es sollte daher als natürlich und nützlich verstanden werden, wenn gerade hier die Opposition die Bundesregierung immer wieder drängen wird. Wir haben jedenfalls die Absicht, das bei jeder Gelegenheit zu tun.
Europa wird seine Verantwortung in der Welt, seine Verantwortung gegenüber den Ländern der Dritten Welt in der Zusammenarbeit mit Osteuropa nur ausfüllen können, wenn es seine Kräfte zusammenfaßt und gemeinsam entwickelt. Die Aufgaben und Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind - lassen Sie mich einmal ein großes Wort verwenden - faszinierend.
Ich habe von den Schwierigkeiten gesprochen, die wir auf dem Weg zur europäischen Union sicher zu bewältigen haben werden. Gerade deshalb möchte ich zwei Punkte erwähnen, die hier ermutigend sind. Der eine ist der Blick auf den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, von dem schon eingangs der Debatte die Rede war. Die Bewährung dieses Vertrages liegt eben darin, daß er bei allen Rückschlägen die imponierende europäische Entwicklung entscheidend mit ermöglicht hat. Die durch den Vertrag bewirkte Zusammenarbeit der Deutschen und der Franzosen war, so hat es Staatspräsident Pompidou ausgedrückt, eine Vorbedingung für die Fortschritte, die in der Europäischen Gemeinschaft seitdem erzielt werden konnten. Ich kann dieser Feststellung des französischen Staatspräsidenten nachdrücklich beipflichten.
Als einer der fünf Mitunterzeichner des Vertrages freue ich mich aufrichtig über die positive Bilanz, die anläßlich des Jubiläums auf allen Seiten gezogen werden konnte. Eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit wird auch in den nächsten zehn Jahren - ich meine: noch darüber hinaus - eine unerläßliche Komponente in der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft sein.
({15})
Nun, meine Damen und Herren, das zweite ermutigende Element ist die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft der Sechs um die drei Staaten Großbritannien, Irland und Dänemark. Der Weg zu dieser Erweiterung war, wie wir alle wissen, nicht leicht. Der Erfolg der Bemühungen zeigt aber, daß sich auch in schwierigem Gelände gute Fortschritte erzielen lassen, wenn mit Geduld, Zähigkeit und Zielstrebigkeit darum gerungen wird.
Im übrigen bin ich überzeugt, daß besonders die Mitarbeit Großbritanniens mit seiner politisch begabten, intelligenten und fleißigen Bevölkerung der Europäischen Gemeinschaft neue und zusätzliche Antriebskräfte vermittelt, die der europäischen Entwicklung und Leistungsfähigkeit sehr zustatten kommen werden. Wir jedenfalls versprechen uns viel von der wachsenden Gemeinschaft der Neun.
Meine Damen und Herren, diese Bemerkung zum Schluß. Wir alle wollen, daß die Europäische Gemeinschaft nicht introvertiert, ausschließlich oder
Dr. Schröder ({16})
überwiegend mit sich selbst beschäftigt ist, sondern daß sie weltoffen ist und kooperationsbereit mit unseren Verbündeten in Amerika, gegenüber den Völkern Osteuropas, gegenüber der Dritten Welt. Die gleiche Forderung der Weltoffenheit gilt für die deutsche Außenpolitik. Eine Einengung unseres Blickfeldes in dieser oder jener Richtung würde unseren Interessen nicht dienen.
({17})
Daher streben wir gute Beziehungen, freundschaftliche Beziehungen zu allen Staaten an, die dies wünschen. Besonders begrüßt haben wir daher die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China, deren Gewicht in der sich multipolar entwickelnden Weltkonstellation zunimmt und deren positive Einstellung zur Europäischen Gemeinschaft diesen Beziehungen eine besondere Bedeutung gibt. Die Rolle Japans und unsere Beziehungen zu ihm verdienen ebenfalls unsere Aufmerksamkeit. Dies sind einige Anmerkungen zur Außenpolitik.
Lassen Sie mich nun noch einen Punkt unterstreichen, in dem wir wohl alle übereinstimmen. Die Entwicklung guter Beziehungen zu allen wichtigen Faktoren der Weltpolitik dient nicht nur den Interessen unseres Landes, sie dient ebenso dem Frieden in der Welt. Wir, die Opposition in diesem Hohen Hause, werden unseren Beitrag zu Frieden und Freiheit entschieden und tatkräftig leisten.
({18})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Scheel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es empfiehlt sich wieder, Ihnen mit einigen Worten auf das zu antworten, was Herr Kollege -({0})
- Herr Dr. Barzel, bei allem guten Verhältnis, das wir immer zueinander haben,
({1})
wissen Sie, daß ich gewöhnt bin, hier das zu sagen, was ich mir vorgenommen habe. Wenn ich mir etwas anderes vorgenommen hätte, hätte ich das sicherlich getan und zwar in diesem Augenblick.
({2})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole also, daß es nützlich ist, auf das, was Herr Dr. Schröder gesagt hat, ein paar Bemerkungen zu machen. Herr Dr. Schröder hat zu Beginn seiner Rede darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzungen der vergangenen Monate, und zwar der Monate vor der Wahl, möglicherweise bei diesem oder jenem den Eindruck haben entstehen lassen, es ginge um unterschiedliche Ziele. Er hat ausdrücklich gesagt, es waren keine Auseinandersetzungen um die Zielsetzungen in der Politik, sondern es waren Auseinandersetzungen um den Weg zu Zielen, die wir gemeinsam anstreben.
Aber nun ist es in der Politik so, daß es Wege gibt, die zu Zielen führen, und es gibt Wege, die nie zu einem Ziel führen, und es gibt Entwicklungen in der Politik, in denen man erkennen muß, daß ein Weg, den man sich vorgenommen hat, durch die Ereignisse in der Politik ungeeignet erscheint, zum Ziele zu führen. Die Kritik an der Haltung der Opposition, auch an der Haltung meines Kollegen Dr. Schröder, geht ja gerade darauf hin. Ich sage, daß die Opposition es versäumt hat, sich zum rechten Augenblick einen anderen, besseren Weg zu überlegen, um zu dem gemeinsamen Ziel zu kommen. Wir sind einen anderen Weg gegangen. Das erforderte Mut und war unpopulär.
({3})
Niemand wird bestreiten, daß wir bereits sichtbare
Fortschritte auf dem Wege zum Ziel gemacht haben.
({4})
Herr Dr. Schröder hat gesagt, daß die Opposition uns dabei mit kritischem Beistand helfen wird, auf diesem Wege nicht ins Rutschen zu kommen. Darin liegt schon etwas.
({5})
Ich meine, meine Damen und Herren, aus allem, was die Kollegen der Opposition heute gesagt haben, sowohl Dr. Schröder als auch Dr. Marx, klang eigentlich die Resignation darüber durch, keinen eigenen Weg entwickelt zu haben, der in unserer Außenpolitik erfolgversprechend erscheint. Diese Resignation formt auch die Sprache
({6})
und läßt die Risiken übergroß erscheinen. Manchmal und je nach dem Temperament des Sprechers glaubt man sogar nur noch panikartige Entwicklungstendenzen vor sich zu erkennen. Wenn Herr Dr. Schröder davon spricht, daß es in nahezu allen politischen Vorhaben Risiken und Chancen gibt,
({7})
so darf man, glaube ich, auch nach der heutigen Diskussion feststellen, vielleicht hat die Opposition die Risiken durch ihre Optik so überbewertet, daß sie keinen Zugang mehr zu den Chancen gefunden hat.
({8})
Dies gilt z. B. für Ihre Beurteilung der politischen Ziele der Sowjetunion. Glauben Sie doch nicht, daß die Bundesrepublik, etwa leichtgläubig
({9})
das Vordergründige betrachtend, zu der Überzeugung gekommen wäre, die Sowjetunion habe möglicherweise jetzt schon - ich sage es einmal sehr zurückhaltend - ihre politischen Ziele, die sie über Jahre mit Deutlichkeit der Weltöffentlichkeit mitgeteilt hat, aufgegeben. Nein! Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es richtig ist, in Europa eine Politik einzuleiten, die auch ,die Zielsetzung der Sowjetunion möglicherweise beeinflussen kann. Auch hier sieht die Opposition lauter Gefahren und Fährnisse und vergißt dabei vollständig, daß sich die Bundesregierung bei allem, was sie in der europäischen Politik und in der Politik zwischen West- und Osteuropa in Gang ,gesetzt hat, zu jeder Zeit in vollkommener Übereinstimmung mit allen ihren westlichen Verbündeten befunden hat. Sie hat diese Übereinstimmung gesucht. Man wird doch wohl nicht sagen können, daß sich die westlichen Verbündeten in Europa und die Vereinigten Staaten mutwilig in eine politische Entwicklung hineinbegeben würden, an deren Ende nur noch ein Verlust an Substanz für die westlichen Länder stehen könnte;
({10})
das wird man sicherlich nicht sagen können.
Herr Dr. Schröder hat in seiner Rede wie auch schon bei früheren Reden sehr wohlklingende, kräftige Formulierungen gebraucht, die den Beifall der CDU/CSU-Fraktion gefunden haben, wie ich überhaupt heute im Laufe des Tages, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, manchmal geradezu den etwas beklemmenden Gedanken hatte, vor allen Dingen durch den optischen und akustischen Eindruck genährt, die Opposition könnte die Mehrheit wieder zurückgewonnen haben; denn eine Mehrheit hat sie ganz bestimmt, das ist die Mehrheit der Applausspender in diesem Saal. Meine Anerkennung für das Maß an Disziplin,
({11})
das Maß an Disziplin und an Selbstverleugnung,
wenn ich einzelne Mitglieder der Opposition sehe!
({12})
Der kräftige und wohlklingende Satz, daß Freiheit und Friede untrennbar zueinander gehören,
({13})
der wird doch sicherlich von niemandem bestritten. Aber bei allem Wohlwollen, Herr Dr. Schröder, ich würde doch sagen: er ist in dieser Form zu allgemein, um nicht zu sagen, er ist ein Allgemeinplatz.
({14})
Denn damit können Sie ,die Gefühle Ihrer Parteifreunde zweifellos heben,
({15})
aber damit allein kann man keine praktische Politik machen, und um die geht es ja.
Nun haben Sie einzelne Punkte erwähnt, die ich in der Beantwortung der Rede von Herrn Dr. Marx zu diskutieren oder zu erwähnen noch nicht Gelegenheit hatte, z. B. die wesentliche Forderung, daß die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten für uns heute immer noch das wichtigste Element unserer Außenpolitik ist. Ich habe nicht erst jetzt diese Überzeugung gewonnen. Sie wissen wie andere Kollegen auch, daß ich sie immer gehabt habe, ohne jemals meine Meinung zu ändern oder ändern zu müssen. Ich will Ihnen zum Zeichen dessen noch einmal die Überschrift eines Interviews zeigen, das ich am vorigen Wochenende einer deutschen Zeitung gegeben habe. Diese Überschrift lautete: „Scheel: USA bleiben unser Partner Nummer eins". Ich habe das nicht unbewußt getan, auch vor unserem Besuch in Frankreich.
Denn eines ergibt sich durch die Entwicklung der europäischen Politik: wenn die Vereinigten Staaten bis jetzt für uns, die Bundesrepublik Deutschland, der Partner Nummer eins gewesen sind, dann werden sie es jetzt in immer stärkerem Maße für die Europäische Gemeinschaft als Ganzes sein und werden müssen.
({16})
Das ist ein Problem, das innerhalb der Gemeinschaft heftig diskutiert wird. Die Bundesregierung hat sich für den sogenannten konstruktiven Dialog zwischen der Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten ausgesprochen. Wir haben das getan, weil wir nicht Gefahr laufen wollen, daß durch Mißverständnisse, die aus Mangel an Information und aus Mangel an Gesprächen entstehen, zwischen der Wirtschaftsgemeinschaft und den Vereinigten Staaten ein politischer Mißklang sich entwickeln könnte.
Wenn Sie heute mit Politikern der Vereinigten Staaten z. B. über die Wirkung sprechen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf die Handelsinteressen der Vereinigten Staaten ausübt, dann sind Sie immer wieder überrascht, wie wenig selbst Politiker, die einen bekannten Namen haben, über die Wirklichkeit wissen. Die Wirklichkeit ist die, daß der Gemeinsame Markt für die Vereinigten Staaten keine Nachteile gebracht hat auf dem Gebiete ihrer Handelsinteressen, sondern Vorteile sowohl im industriellen Bereich als auch - was kaum jemand glaubt - im Bereich ihrer Agrarexporte. Denn sie haben auch die Agrarexporte auf unseren Markt erhöhen können. Nun wird man einwenden: Ja, aber nicht in allen Produkten. Das stimmt. Aber es ist ja das Wesen einer sich entwickelnden Weltwirtschaft, daß sich die Strukturen ändern. Ich kann nicht verlangen, daß, wenn ich einmal Hähnchen exportiert habe, ich immer Hähnchen exportieren können muß; sicherlich können es andere Produkte sein. Aber was entscheidend ist: die Interessen der Vereinigten Staaten sind nicht geschädigt, sondern gefördert worden, und wir wollen auch alles tun, daß das so bleibt. Denn die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrer Politik nach eine Gemeinschaft, die weltoffen ist und weltoffen sein will und ihre Dynamik den Mitgliedern nicht nur leihen will - etwa in der Form eines InteressenBundesminister Scheel
verbandes auf Gegenseitigkeit - sondern sie auch
zum Vorteil des Welthandels insgesamt zur Verfügung stellt. Deswegen ist es so wichtig, daß diese Gemeinschaft mit ihren wesentlichen Partnern auf dem Weltmarkt, in erster Linie mit den Vereinigten Staaten, einen Dialog entwickelt, der eines Tages auch einmal institutionalisiert werden muß. Im Augenblick mag man das noch nicht als die aktuellste Frage ansehen. Aber schon dann, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte dieses Jahres nach Europa kommt, wird man sich, so denken wir, fragen müssen, mit wem er hier in Europa spricht. Und ich bin nun einmal der Meinung, daß dieser Besuch des amerikanischen Präsidenten in Europa nicht darauf beschränkt sein sollte, bilaterale Gespräche zu führen, natürlich auch der NATO einen Besuch abzustatten, deren Mitglied die Vereinigten Staaten sind, sondern der amerikanische Präsident wird auch Kontakt mit der Gemeinschaft haben müssen.
({17})
Meiner Ansicht nach ist es kein abwegiger Gedanke, daß der Präsident der Vereinigten Staaten die Gemeinschaft besucht und hier an einer zu diesem Zwecke einzuberufenden Sitzung des Ministerrates mit der Kommission teilnimmt.
({18})
- Dies habe ich im Zusammenhang mit unseren Konsultationen in Paris heute morgen schon erwähnt, und zwar aus ganz bestimmter Absicht, wie Sie sich denken können.
Nun hat der Kollege Schröder noch über die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gesprochen und auch hier den pessimistischen Unterton zu stark in den Vordergrund gestellt, indem er sagte, die Konferenz an sich sei schon ein großer politischer Erfolg der Sowjetunion. Ich glaube nicht, daß man das sagen kann; nicht etwa, weil Herr Breschnew in mehreren seiner Reden das bestritten und den Stand der Europapolitik für alle Beteiligten als vorteilhaft bezeichnet hat, sondern weil man zu dem augenblicklichen Stadium der Vorbereitung dieser Konferenz in der Tat erst nach einer Periode von mehreren Jahren der Fühlungnahmen, Besprechungen und Vorbereitungen gekommen ist. Wenn Sie sich einmal ansehen, wie diese Dinge in Helsinki heute laufen, können Sie nicht sagen, daß dies der Erfolg der einen oder anderen Seite sei, sondern dies ist, so meine ich, der Versuch beider Seiten, über die ideologischen Grenzen hinweg zu besseren Beziehungen in Europa zu kommen. Wer in diesem Hause als Europäer denkt und wer Europa geographisch weiter auffaßt, als es die Europäische Gemeinschaft ist, der muß diese Entwicklung mit einer positiven Erwartung verfolgen, ja, der muß geradezu leidenschaftlich an ihr Anteil nehmen. Denn nur diese Entwicklung wird dazu führen, daß dieses Europa in einem möglicherweise langen Prozeß für sich selbst die Stellung in der Welt zurückerobern wird, die ihm um der Geschichte, der kulturellen Entwicklung sowie der kulturellen und politischen Leistungen willen zukommt.
Aber ich habe schon heute nachmittag in meiner Antwort auf das, was Herr Dr. Marx sagte, erwähnt, daß eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik eines Mehr an Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa die Integration des Westens ist, hier die Union Europas, die errfeulicherweise in den letzten Monaten auch von unseren französischen Partnern nicht nur europäische Union genannt wird, sondern manchmal mit dem Synonym politische Union. Ich glaube, jeder in diesem Hause ist mit mir einig, daß das Ziel der europäischen Integrationspolitik ein handlungsfähiges Europa sein muß, d. h. ein Europa, das eine Regierung hat, die für einen wichtigen Teil der Politik in Europa für uns gemeinsam sprechen kann, wiewohl wir alle wissen, daß große Teile der Politik in Europa noch auf lange Zeit in der souveränen Verantwortung der Staaten bleiben werden.
Die Einigung Europas und der Frieden in Europa werden diesen Kontinent befähigen, zur Lösung der großen Probleme unserer Welt einen Beitrag zu leisten, und zwar n u r die Einigung und der Frieden in Europa. Die wahre Führungsrolle in unserer zerstrittenen und gefährdeten Welt fällt nicht jenen zu, die die meisten Zerstörungsmittel einsetzen können, sondern denjenigen, die eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit bereithalten. Daran werden wir Europäer gemessen werden.
Daran werden wir auch denken müssen, wenn die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr den Vereinten Nationen beitritt. Die neue Dimension unserer auswärtigen Politik, die sich dadurch eröffnet, wird uns in stärkerem Maße als bisher an die weltpolitischen Probleme und die hinter ihnen wirksamen Kräfte hinführen. Das gilt auch für unsere engen und vielfachen freundschaftlichen Beziehungen mit der Dritten Welt. Weniger als bisher werden wir es uns ersparen können, Interessenkonflikte anderer Glieder der Staatengemeinschaft nüchtern zu analysieren und dazu Stellung zu nehmen. Die Bundesregierung wird sich ehrlich bemühen, auf dem so wichtigen Gebiet der Friedenssicherung als ein zuverlässiges Mitglied der Vereinten Nationen mitzuwirken.
Jedermann, meine sehr verehrten Kollegen, der unseren Kontinent auch nur für wenige Tage verläßt, kann sich davon überzeugen, wie sehr die nichteuropäische Welt darauf wartet, daß das Europa der Neun als ein geschlossenes Ganzes sein Gewicht für Ordnung und Frieden in der Völkergemeinschaft einsetzt. Dies ist nicht ohne zielstrebige Einübung in gemeinsames politisches Handeln möglich. Die Einfügung Großbritanniens in die Gemeinschaft wird diese Politik mit einer Fülle weiter Erfahrungen und neuer Impulse bereichern.
In keinem dieser Bereiche wird unsere auswärtige Politik das besondere Verhältnis zu diesem anderen Staat in Deutschland verleugnen. Wir Deutschen werden nicht mehr in den Hauptstädten der Welt aneinander vorbeisehen, wenn wir uns dort begegnen. Das in Jahrhunderten gewachsene Selbstverständnis der Nation wird unser Verhalten natür230
licher und besser bestimmen als ein amtlicher Katalog von Verhaltensnormen.
({19})
Alexander Solschenizyn hat kürzlich die Literatur eines Volkes die Erinnerung der Nation genannt.
Sprache, Kultur und Geschichte - das ist die unzerstörbare Gemeinsamkeit der Nation, auf die sich der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung berufen hat. In der Außenpolitik - meine Damen und Herren, wenn ich diese Bemerkung zum Schluß auf den Tenor machen darf, der gerade von Herrn Schröder hier angeschlagen wurde - geht es um die Gesamtinteressen unseres Landes. Diese Gesamtinteressen werden um so wirkungsvoller vertreten werden können, je geschlossener sie vom gesamten Willen der im Bundestag vertretenen Parteien getragen werden. Die Außenpolitik, so meine ich, verträgt es nicht - und sie verdient es nicht -, zum Prügelknaben des innenpolitischen Kampfes gemacht zu werden.
({20})
Die Gemeinsamkeit in der Außenpolitik, zu der ich alle Parteien dieses Parlaments einlade, ist nicht dazu da, der Regierung das Geschäft zu erleichtern. Sie verfügt sowohl über die Zielstrebigkeit als auch über die ausreichende Mehrheit, um ihr außenpolitisches Programm zu verwirklichen. Durch die Gemeinsamkeit soll unser aller Interesse nach außen besser gewahrt werden. Aber, meine sehr verehrten Kollegen, Zusammenarbeit erfordert ihrer Natur nach Leistungen beider Seiten. Die Opposition kann nicht nur der nehmende Teil sein. Das Angebot von Unterrichtung z. B. muß zu Konsultationen führen, die auch gemeinsame Entscheidungen tragen können.
Wir müssen deshalb vernünftige Methoden der gegenseitigen Information, aber auch der gegenseitigen Abstimmung finden. Die Opposition muß in der Lage sein, in diesen Abstimmungsprozeß von Anfang bis zu Ende jenes Maß an Verbindlichkeit und Verantwortung einzubringen, das uns alle vor bösen Überraschungen bewahrt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Bundestag und die Bundesregierung werden eine volle Agenda von großen und neuartigen Aufgaben in der Weltpolitik zu bewältigen haben. Auf fast allen Gebieten wird damit die praktische Einübung in das gemeinsame Handeln der entstehenden europäischen Union Hand in Hand gehen müssen. Ich gebe hier der Erwartung Ausdruck, daß unsere Zusammenarbeit unter gemeinsamen Zielen sich an diesen Fragen bewähren wird.
({21})
Vizepräsident von Hassel: Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Geßner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren. Vom Kollegen Schröder hatten wir vorhin gehört, daß sich ja erst noch herausstellen müsse, welcher Weg der richtige sei, der
unsrige oder der von der CDU/CSU vorgeschlagene. Ich glaube, daß in dieser Erklärung ein beachtliches Maß an Ignoranz steckt, nämlich deswegen, weil Geschichte und Entwicklung über die CDU-Politik in Sachen Deutschland- und Europa- sowie der gesamten Außenpolitik längst ihr Wort gesprochen haben. Längst hat sich herausgestellt, daß die Politik, die 20 Jahre lang gemacht worden ist, nicht zum Erfolg geführt hat. Deswegen glaube ich, ist es müßig, davon zu reden, die Geschichte müsse darüber erst noch ihr Urteil abgeben. Dieses Urteil ist gefällt, und zwar gegen Sie!
({0})
Wenn ich es richtig betrachte, meine Damen und Herren, und richtig bewerte, was ich hier gehört habe, Idann komme ich zu dem Ergebnis, daß auch in Zukunft die Bevölkerung in Deutschland von der Ost- und Außenpolitik der Opposition nichts aber
auch nichts zu erwarten hat, im Gegenteil!
({1})
Wenn ich die Sache ein wenig unter dem taktischen Gesichtspunkt betrachte, muß ich sagen, 'daß, vom rein Parteitaktischen her, ,die Reden von Herrn Windelen und Herrn Marx ,gar nicht so schlecht waren; denn soweit sie ,draußen in der Bevölkerung ankommen, wird die Bevölkerung - dessen bin ich ganz sicher - wieder spüren, daß Sie mit Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik nicht die Interessen der Mehrheit unserer Bevölkerung vertreten.
({2})
Es ist davon gesprochen worden, daß Schweigen eine Form des Opportunismus sei. So hat es Herr Kollege Windelen gesagt. Das kann so sein; das muß aber nicht so sein. Ich sage Ihnen aber: Ihre Politik der fortgesetzten Proklamationen ist auch der Ausdruck eines schlechten Gewissens, nicht das verhindert zu haben, was sich in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg an Verschlechterungen ereignet hat. Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, daß Ihre Politik der Deklamationen gescheitert ist. Wenn es eines Beweises bedürfte, wäre es ,der, daß man einmal Revue passieren läßt, was sich in den letzten 20 Jahren unter Ihrer Herrschaft verschlechtert hat. Und nirgendwo nirgendwo - ist auch nur der geringste Beweis erspürbar, daß dieser Prozeß der Verschlechterung von allein aufgehört hätte, sondern im Gegenteil: Wenn Sie Ihre Politik weiterbetrieben hätten, dann hätte sich dieser Prozeß der Verschlechterung der Beziehungen der Menschen in Deutschland fortgesetzt, und es wäre schlechter geworden. Ich stelle jedenfalls fest: als Sie
({3})
- So empfindlich sind doch Ihre Ohren wirklich nicht!
({4})
Als Sie regierten, wurden ,die Telefonleitungen gekappt; als Sie regierten, wurde der Reiseverkehr in Deutschland unterbrochen. Das soll jetzt mühsam überwunden und aufgebaut werden. Deshalb verstehe ich nicht, meine Damen und Herren, warum Sie Idiese Politik mit der Vehemenz bekämpfen, mit der Sie das zur Zeit noch tun.
Wir hören ständig, man habe gemeinsame Zielsetzungen verlassen. Aber, meine Damen und Herren, wer sich erinnert, wird wissen, daß Sie, als wir noch Opposition waren, geradezu versucht haben, diese sozialdemokratische Opposition bewußt in die falsche Ecke zu stellen.
({5})
Damals haben Sie nicht von Gemeinsamkeit gesprochen, sondern versucht, diese Opposition unglaubhaft zu machen, und heute sprechen Sie davon, wir hätten Idas gemeinsame Schiff verlassen. Dies ist falsch, und dies weisen wir zurück.
({6})
Wir haben mit großem Interesse auch gehört - so ist es in der Rede ides Kollegen Barzel zum Ausdruck gekommen -, daß nicht genügend erreicht worden sei. Er fragt nach der Freizügigkeit. Ich verstehe nicht, wie ein solcher Vorwurf erhoben werden kann - angesichts eines anderen Vorwurfes, ,den Sie erheben, nämlich ,des Vorwurfes, wir gingen zu hektisch vor. Auf der einen Seite sagen Sie, wir seien zu hektisch; auf der anderen Seite sagen Sie, es sei nicht genug erreicht worden. Sie müssen endlich einmal sagen, was Sie eigentlich wollen.
({7})
Im übrigen, meine Damen und Herren, wenn Sie der Bevölkerung glaubhaft zu machen versuchen, daß Sie in der Lage seien, es besser zu machen als wir, dann würde ich das schon deshalb bestreiten müssen, weil Sie davon ausgehen, daß die DDR ein Phänomen sei, und sich in die Vorstellung verkrampfen, daß die DDR als Phänomen bereit sei, auch nur eine Verhandlungsrunde zu führen. Solange Sie davon ausgehen, daß die DDR ein Nullum ist, werden Sie auch keinen Verhandlungspartner auf der Gegenseite vorfinden. Das heißt mit anderen Worten: Von einer Politik der Ignoranz sind keine menschlichen Erleichterungen zu erwarten. Das Gegenteil ist ,der Fall.
({8})
Nun, wir kommen gleich zu einem anderen Punkt, der auch in diese Richtung führt.
({9})
Ich finde das höchst interessant, meine Damen und Herren: Sie haben dem Verkehrsvertrag zugestimmt und sagen gleichzeitig, diejenigen, die den Verkehrsvertrag mit unterzeichnet haben, die DDR, seien für Sie nicht existent. Ich komme zu dem Schluß: Angesichts der Tatsache, daß Sie diesem Vertrag zugestimmt haben, haben Sie - jedenfalls nach meinem Verständnis - die DDR auch als Staat anerkannt. Aber es wäre nun einmal an der Zeit, daß die Damen und Herren der CDU-Opposition
das der Bevölkerung offen sagen, damit man weiß, woran man überhaupt bei Ihnen ist.
({10})
In Kürze steht der Grundvertrag zur Beratung an. Gestatten Sie mir, meine Verwunderung auszudrücken, daß Sie den Grundvertrag bereits heute ablehnen, obwohl es über ihn noch nicht eine einzige Verhandlungsrunde in diesem Parlament gegeben hat. Wir sind ganz sicher, daß die Opposition fragen wird: Wo bleiben denn die vielen Informationen der Regierung? - Sie fällen Entscheidungen, obwohl im Ausschuß darüber noch gar nicht verhandelt worden ist. Ich sage Ihnen: Das sieht so aus, als seien Sie an einer redlichen Auseinandersetzung über dieses Problem überhaupt nicht interessiert.
({11})
Es ist eine höchst unersprießliche Sache, mit einer Opposition diskutieren zu müssen, für die Nichtverstehen-Wollen unerschütterliches Prinzip und die Hoffnung auf eine taktische Meisterleistung ist.
({12})
- Ich bin sehr froh über Ihre Aufmerksamkeit, die durch Ihre Zwischenrufe zum Ausdruck kommt. Vielleicht können wir das noch bis zum Schluß durchhalten.
Es gibt keinen Zweifel darüber, daß in einem Staat mehrere Nationen vereint sein können. Dafür gibt es viele Beispiele. Aber auch umgekehrt gibt es genügend Beispiele, daß sich zwei Staaten unter dem Dach einer Nation befinden können; das ist historisch nichts Neues. Es verwundert, daß Sie den Eindruck zu erwecken versuchen, als hätten wir hier etwas völlig Neuartiges erfunden. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß wir lediglich die Situation in Deutschland beschrieben haben. Wer sich weigert, die Situation zu beschreiben, so wie sie ist, von dem kann nicht erwartet werden, daß er eine solide Politik zustande bringt.
Damit es keinen Irrtum gibt: Im übrigen werden wir - das haben wir schon in der Vergangenheit getan - in der Zukunft weiterhin den Nationenbegriff der SED ablehnen. Man kann einen Staat spalten, man kann ein Volk in zwei Teile spalten. Aber man kann nach meiner Auffassung eine Nation nicht spalten, wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl vorhanden ist. Mir scheint, es ist das Dilemma der SED, daß dieses Gefühl vorhanden ist. Mir scheint außerdem, die Art und Weise, wie zum Teil Behörden der DDR versuchen, sich gegenüber den neuen Regelungen zu benehmen, ist offensichtlich der Beweis dafür, daß die drüben auch von der Existenz einer
deutschen Nation ausgehen; sonst würden sie sich nämlich wesentlich anders verhalten, als sie das wirklich tun.
Die Politik, die von uns gemacht worden ist, geht davon aus, daß Deutschland als Völkerrechtssubjekt vorhanden ist, existiert. Wir haben das im Brief zur deutschen Einheit deutlich gemacht, der von Ihnen als Groteske hingestellt worden ist, so wie das der Kollege Barzel einmal in einem „Spiegel"-Interview
gesagt hat. Wir haben im Grundvertrag deutlich gemacht: Es wird keine Botschafter geben, es wird Bevollmächtigte geben. Wir haben damit zum Ausdruck gebracht, daß die völkerrechtliche Anerkennung der DDR für uns nicht in Betracht kommt. Sie ignorieren das und arbeiten damit jenen in die Hände, die eines Tages vielleicht einmal auf die Idee kommen könnten, zu sagen, dieser Grundvertrag sei einer völkerrechtlichen Anerkennung vielleicht doch gleichzusetzen. Ich kann nur sagen: Wenn es da wirklich unterschiedliche Auffassungen in der Literatur oder wo sonst immer geben sollte, dann müßte von Ihnen erwartet werden, daß Sie den Standpunkt übernehmen, den die Bundesregierung öffentlich und wo auch immer zum Ausdruck gebracht hat. Statt dessen vertreten Sie Standpunkte, die nicht geeignet sind, den Interessen dieses Staates und dieses Volkes zu dienen. Erst in den vergangenen Tagen ist in Paris offenkundig geworden, daß die Bundesregierung am Fortbestand des innerdeutschen Handels, so wie er ist, festhalten wird. Damit ist deutlich geworden, daß wir die DDR nicht als Ausland betrachten. Aber, meine Damen und Herren, in all Ihrer Kritik kommt dies in keiner Weise zum Ausdruck.
Wenn wir von innerdeutschen Beziehungen sprechen, tun Sie immer so, als hätten wir damit etwas verraten; wir hätten Deutschland verraten, sagen Sie. Ich kann dazu nur sagen: wir gehen gerade bei der Feststellung, daß es hier um innerdeutsche Beziehungen geht, die Beziehungen besonderer Art sind, davon aus, daß es Deutschland als Völkerrechtssubjekt gibt, und zwar deswegen, weil wir uns schlicht die Frage stellen: Wo liegt die Bundesrepublik? Da sagen wir: in Deutschland. Wir stellen weiter die Frage: Wo liegt die DDR? Da sagen wir auch: sie liegt in Deutschland. Da Bundesrepublik und DDR in Deutschland liegen, können sie folglich füreinander nicht Ausland sein.
Nun könnte pfiffigerweise jemand sagen - und das paßt an sich ganz gut zur Opposition -: Weil sie nicht Ausland sind, sind sie Inland. Das sagt übrigens auch die SED drüben. Aber jeder von Ihnen weiß, daß die Hoheitsgewalt der Bundesrepublik an ihren Grenzen endet, so wie auch die Hoheitsgewalt der DDR an ihrer Grenze endet. Folglich sind sie füreinander nicht Inland, sondern die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg hat eben dazu geführt, daß sie weder Ausland noch Inland füreinander sind.
({13})
- Sie stehen zueinander in Beziehungen besonderer Art,
({14})
was historisch nichts Neues ist - nur für Sie. Da
zeigt sich auch ein bißchen der Bildungsnotstand in
unserem Volke. Verzeihen Sie, wenn ich das sage.
Der Kollege Windelen hat soeben noch davon gesprochen, daß der Beitritt der Bundesrepublik und der DDR zu den Vereinten Nationen unseren Interessen widerspreche.
({15})
- Aber das haben wir hundertmal von Ihnen hier gehört, von Ihrer Partei.
({16})
- Ja, natürlich; Sie haben gesagt: Wenn das vollzogen worden ist und die andere Seite eine Kehrtwendung macht, was hat man dann eigentlich von dieser Politik gehabt?
({17})
Damit kein Irrtum entsteht, möchte ich folgendes sagen: Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Trygve Lie, hat im Juli 1950 ein Gutachten erstellen lassen, in dem es heißt, daß Staaten, aus einer Nation kommend, durch ihren Beitritt zu den Vereinten Nationen nicht a priori füreinander Ausland zu sein hätten. Er hat darauf hingewiesen, daß damit auch nicht von vornherein eine völkerrechtliche Anerkennung verbunden sei. Er hat gesagt, daß das Beispiel Sowjetunion-Jemen dies deutlich zum Ausdruck bringe. Seinerzeit hat die Sowjetunion zwar der Aufnahme des Jemen zugestimmt, aber gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß damit eine völkerrechtliche Anerkennung des Jemen nicht verbunden ist. Das zeigt ganz deutlich, daß die Interpretation, die jedenfalls von einem Teil Ihrer Seite erfolgt, nicht zutrifft.
Ich denke in diesem Zusammenhang ferner daran, daß z. B. Weißrußland, ein Gliedstaat der UdSSR, in den Vereinten Nationen ist. Keiner kommt auf die Idee, zu sagen, weil Weißrußland Mitglied der Vereinten Nationen ist, sei es für den Rest der Sowjetunion oder sonstwie Ausland. Hier wird vielmehr deutlich gemacht, daß selbst ein Gliedstaat Mitglied der Vereinten Nationen sein kann, ohne daß dies bedingt, daß er deshalb gegenüber dem Gesamtstaat Ausland ist.
({18})
Im übrigen muß man auch daran denken - so sehe ich das jedenfalls -, daß der Beitritt der DDR zu den Vereinten Nationen längst vollzogen worden wäre, wenn die Bundesrepublik nicht diese Politik betrieben hätte. Es besteht kein Zweifel darüber, daß gerade unsere Verbündeten in den letzten Monaten darauf gedrängt haben, auch von uns aus das Verhältnis zur DDR zu normalisieren. Unsere Seite hat gesagt: Jetzt wollen wir erst diesen Prozeß, der eingeleitet worden ist, zu einem bestimmten Ende führen. Wer kann dann noch daran zweifeln, daß die DDR längst in die Vereinten Nationen aufgenommen worden wäre, wenn von seiten der Bundesrepublik nicht diese Politik betrieben worden wäre! Insofern geht Ihre Kritik ins Leere und trifft nicht zu.
Wenn die Opposition heute Forderungen stellt, so erinnert mich das an die Politik, die wir in den vergangenen Jahren in diesem Hause erlebt haben. Ich erinnere mich besonders an das Jahr 1952. Als es damals darum ging, über bestimmte Möglichkeiten zu sprechen und zu verhandeln, hat Ihre Seite zusätzlich neue Forderungen gestellt. 1952 hat Adenauer z. B. gesagt, auch Polen müsse jetzt in den Bereinigungsprozeß einbezogen werden, wobei klar war, daß damit die Verhandlungen von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Und so machen Sie
das auch. Sie versuchen immer, die Schwelle höher
anzuheben, um dann ein Alibi für die Ablehnung
dieser Politik zu haben. Das ist der ganze Grund.
({19})
Sie versuchen, das Kunststück fertigzubringen, mit
viertklassigen Argumenten erstklassige Politik zu
machen. Und das wird scheitern, sage ich Ihnen.
({20})
Wer jahrelang auch im Bereich der Ost- und Deutschlandpolitik sitzengeblieben ist, hat längst den Anspruch verloren, Klassenerster in der deutschen Politik zu sein.
({21})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat Herr Abgeordneter Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde Ihre Zeit nur wenige Minuten in Anspruch nehmen,
({0})
aber ich halte es für notwendig, auch schon aus Höflichkeit, dem Kollegen Dr. Schröder in ein paar Fragen zu antworten.
Eine Frage, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, habe ich an Sie alle. Der herr Bundesaußenminister hat hier über die Fragen der Zusammenarbeit in der Außenpolitik gesprochen. Ich möchte sagen: Ich teile seine Meinung in vollem Umfang. Ich wäre dankbar, wenn wir von der Opposition im Laufe des morgigen Tages oder vielleicht übermorgen erfahren könnten, wie sie über diese Frage denkt, da von vier Rednern der Opposition sehr unterschiedliche Auffassungen zum Thema Außenpolitik, Deutschlandpolitik, Berlin vertreten worden sind. Herr Kollege Dr. Barzel hat am Sonntag in einem Zeitungsinterview in diesem Aufgabenbereich eigentlich nur von Berlin gesprochen. Herr Windelen hat die Zusammenarbeit angeboten, wenn wir in der Krise seien. Das würde bedeuten, daß wir in den nächsten vier Jahren bestimmt keine Zusammenarbeit bekommen, und das würde ich außerordentlich bedauern. Herr Dr. Marx hat diese Frage überhaupt nicht angesprochen, und Herr Dr. Schröder hat gesagt: Dort, wo es die Wahrnehmung der deutschen Interessen notwendig macht. Es ist also eine sehr, sehr unterschiedliche Skala, und es wäre im Interesse der Zusammenarbeit gut, wenn wir so bald wie möglich Bescheid wüßten, wie man sich in dieser Frage zu verhalten beabsichtigt.
({1})
Ich sage: Wir sollten uns darum bemühen, ohne vor den Wählern unser Gesicht zu verlieren, im Interesse unseres Landes ein Höchstmaß der Zusammenarbeit in allen Fragen der Außenpolitik, der Deutschlandpolitik und Berlins zu erreichen.
({2})
Herr Kollege Dr. Schröder hat gesagt, die Wahlentscheidung war keine Entscheidung über die Ostpolitik der Bundesregierung. Da bin ich etwas anderer Meinung als er.
({3})
- Na gut, über die Richtigkeit. Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß die absolute Mehrheit der Bevölkerung weiß, was richtig ist. Der verehrte Kollege Dr. Hupka hat zu einem Volksentscheid über die Verträge aufgerufen. Sie haben Wert darauf gelegt, daß das in ganz besonders deutlicher Weise herausgestellt wird. Sie werden ja in den nächsten Tagen in eine Klausursitzung gehen. Ich habe den Eindruck, wenn das, was der Kollege Dr. Marx heute in bezug auf die Außenpolitik vorgetragen hat, während der nächsten vier Jahre Ihr Konzept ist, dann werden Sie langsam, aber. sicher auf die 30-%-Grenze zukommen.
({4})
- Wir sind da schon einmal gewesen, Herr Kollege Strauß; ich weiß, wie das ist; es ist kein guter Platz.
Und nun zu einigen politischen Fragen: Herr Kollege Dr. Schröder hat über das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gesprochen. Ich glaube, über diese Frage sollte es in diesem Hause keinen Streit geben. Auf Grund vieler Gespräche und Kontakte bin ich der Überzeugung, daß das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika noch niemals so gut gewesen ist, wie es zu dieser Zeit ist.
({5})
Der Kollege Dr. Schröder muß eigentlich aus eigener Erfahrung wissen - er war zu einem Zeitpunkt Außenminister, wo es sehr kritische Situationen zwischen Präsidenten der Vereinigten Staaten und Bundeskanzlern der Bundesrepublik gegeben hat -, daß wir jetzt kein solches Verhältnis haben. Die Zusammenarbeit ist hervorragend. Allerdings glaube ich, man sollte auch nicht gleich mit dem Wort „Antiamerikanismus" kommen - das gilt jetzt nicht für den Kollegen Dr. Schröder , wenn man in einer bestimmten Frage anderer Meinung ist. Gerade wenn man ein außerordentlich gutes Verhältnis zueinander hat, hat man auch die Möglichkeit, eine andere Meinung in aller Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen.
({6})
Was unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und unsere Ostpolitik anbetrifft, so möchte ich folgendes sagen. Ich bin dem Kollegen Dr. Schröder sehr dankbar, daß er den Präsidenten der Vereinigten Staaten aus seiner Antrittsrede zitiert hat. Ich möchte dem ein Zitat hinzufügen und bitte sehr herzlich darum, über dieses Zitat nachzudenken. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat anläßlich seines Amtsantritts gesagt:
So wie auf die Rolle Amerikas bei der Erhaltung des Weltfriedens nicht verzichtet werden
kann, genauso wenig kann auf die Rolle jedes
einzelnen Landes bei der Erhaltung seines eigenen Friedens verzichtet werden.
Dies ist die Politik, die die Bundesrepublik in den letzten drei Jahren in aller Deutlichkeit betrieben hat.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch eine kurze Bemerkung, eigentlich mehr eine Frage zu einem anderen Problem. Wir haben heute zwei Beiträge zur Frage der europäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gehört. Kollege Dr. Marx hat das ganz besonders schwarz ausgemalt, in ähnlicher Weise, wie ich es - ich glaube, im November - in einem Beitrag gelesen habe, den der Kollege Strauß geschrieben hat. Aber das, was der Kollege Marx gesagt hat, war eine ganz besonders schwarze Aufzeichnung der sowjetischen Ziele. Der Kollege Dr. Schröder hat gesagt, allein die Tatsache des Zustandekommens dieser Konferenz sei schon ein großer Erfolg der Sowjetunion. Der Oppositionsführer hat dazu folgendes gesagt ich wäre dankbar, zu erfahren, was nun gilt; auch dies ist ja von großer Bedeutung, wenn man sich über Fragen der Zusammenarbeit zu unterhalten hat -:
Wir hoffen, daß es auf diese Weise zu Verständigung und Zusammenarbeit im Interesse des europäischen Friedens kommt, und wir sind bereit - dies gehört in diese Erklärung -,
- so hat er ausdrücklich gesagt die internationalen Vorhaben einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie eine Konferenz über die ausgewogene gegenseitige Truppenverdünnung in Europa in dem Maße zu unterstützen, in dem auf diesem Wege zur Entspannung nicht nur mit Worten, sondern in Realitäten beigetragen werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zwischen dieser Formel und dem, was von Herrn Dr. Marx gesagt worden ist der Kollege Dr. Schröder befindet sich in einer mittleren Position; er ist immer ein bißchen mehr in der Mitte, wenn es um solche Auseinandersetzungen geht -,
({8})
gibt es erhebliche und entscheidende Differenzen. Es wäre gut, wenn wir, wenn es um die Zusammenarbeit geht, wüßten, wie wir in dieser Frage miteinander dran sind.
Lassen Sie mich eines sagen. Ich verstehe die Furcht nicht ganz.
({9})
- Ich glaube, wir beide werden ja morgen in Helsinki die Möglichkeit haben, selbst ein paar Bemerkungen dazu zu machen. Aber eines - das muß ich ganz ehrlich sagen - verstehe ich nicht. An der europäischen Sicherheitskonferenz nehmen 15 NATO-Länder teil. Wir haben festgestellt, daß die Zusammenarbeit der NATO-Länder und der EWG-Länder auf der Konferenz hervorragend war. Ich möchte den Mitarbeitern des Auswärtigen Amts,
die bisher die Interessen der Bundesrepublik dort vertreten haben, ausdrücklich bestätigen, daß sie sich hervorragende Mühe gegeben haben.
Auf der anderen Seite stehen sieben Länder des Warschauer Pakts. Ein Großteil der Neutralen ist in weit stärkerem Maße geneigt, unsere Auffassung zu vertreten. Wir sollten keine unnötige Angst haben, sondern wir sollten im Interesse des Friedens in Europa und im Interesse der Menschen in Europa unsere Meinungen dort offensiv vertreten. Ich bin sicher, wir werden dann zu einem guten Ergebnis kommen.
({10})
Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Leisler Kiep.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, Sie zu dieser späten Stunde in der notwendigen Kürze noch mit zwei Themenkreisen zu beschäftigen, die in eine solche Debatte wie unserer heutigen hineingehören. Ich muß es mir leider versagen, auf das zu antworten, was Herr Wischnewski hier soeben zum Schluß noch beigetragen hat. Ich bitte ihn nur, morgen in aller Ruhe das Protokoll der heutigen Sitzung einmal durchzulesen und dann abzuwägen und abzumessen, mit welch unterschiedlichem Erfolg, mit welch unterschiedlicher Intensität und Wärme sich die Mitglieder der Bundesregierung in dieser Debatte heute nachmittag um Gemeinsamkeit mit der Opposition bemüht haben.
({0})
Der Bundesaußenminister hat in seinem zweiten Beitrag heute abend in bemerkenswerter Weise noch einmal ,die Bedeutung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses unterstrichen. Der Bundeskanzler hat in seiner Erklärung davon gesprochen, daß Europa und die Vereinigten Staaten gemeinsame Sicherheitsinteressen haben. Für die Christlich Demokratische Union geht das deutsch-amerikanische Bündnis weit über Sicherheitsinteressen hinaus.
Unter amerikanischem Schutz entstand in der Bundesrepublik eine Demokratie, eine soziale und freiheitliche Ordnung, deren gesellschaftliche Entwicklung in weiten Teilen mit amerikanischen Modellen in einem engen Zusammenhang stehen. Wer sich in der Bundesrepublik nach Maßstäben für die eigene Entwicklung in anderen Ländern umsieht, ist deshalb noch immer auch darauf angewiesen, amerikanische Modelle mit in Betracht zu ziehen, ohne sich dabei den Blick durch die gegenwärtigen Probleme der Vereinigten Staaten trüben zu lassen. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten hat uns so in vieler Hinsicht Freiheit und Fortschritt garantiert. Ich meine, es ist in übertragenem Sinne ein zweites Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben in diesen Tagen die deutsch-französische Aussöhnung gefeiert. Sie ist in der Tat ein bemerkenswertes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Doch sie ist nicht der einzige neuartige Versuch deutscher Politik geblieben. Ich meine, das
deutsch-amerikanische Bündnis gehört ebenso zu den revolutionären Neuerungen der deutschen Geschichte und Außenpolitik in der Nachkriegszeit wie die besonderen Beziehungen zu Frankreich.
Wir müssen auch jene an die Bedeutung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses in diesen Tagen erinnern, die gegen die Vietnam-Politik der Amerikaner protestiert haben. Es ist wichtig, das in einer Zeit zu betonen, wo wir bei aller Energie für die Entspannungspolitik in Europa die Grundlagen unserer politischen Existenz in der Bundesrepublik Deutschland nicht vergessen dürfen.
Ich meine - ich glaube, diese Bemerkung gehört in eine Debatte in diesen Tagen -, daß wir es hier im wesentlichen mit drei Gruppen zu tun haben. Da ist zunächst die erste Gruppe, für die ich eine Sympathie nicht verhehlen möchte. Es sind junge Menschen in unserem Lande, die den Krieg schlechterdings für einen Anachronismus in unserer Zeit halten und die besonders hart mit denjenigen Staaten in der Welt ins Gericht gehen, deren politische Ordnung Freiheit und Würde des Menschen bereits in einem respektablen Umfang ermöglichen. Deshalb legen sie einen härteren Maßstab an die Demokratien des Westens als an die revolutionären Kommunisten, die den Volkskrieg propagieren. Für viele junge Menschen war dieser Vietnam-Krieg eine Einführung in die internationale Politik unserer Tage, aus der sie einseitige Schlüsse gegen den Verteidigungsgedanken gezogen haben. Wir müssen mit ihnen diskutieren und sie auf manche Grundtatsachen der internationalen Politik hinweisen, die sich in den letzten 20 und 30 Jahren entwickelt haben. Wir müssen verhindern, daß sie sich in eine politische Realitätsferne hineinsteigern lassen, in der sie nicht mehr erkennen, daß für die Konflikte in dieser Welt nicht Amerika, sondern ursächlich noch immer ein kommunistischer Herrschaftsanspruch verantwortlich ist.
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Antikriegsdemonstrationen gegen das eigene Land gibt es nur in demokratischen und nur in freiheitlichen Staaten, wo immer stärker das Bedürfnis nach einer engen Synthese zwischen Demokratie einerseits und Frieden andererseits gesucht wird. In kommunistischen Staaten hat es nicht einmal den Ansatz einer Kritik gegen die Kriegsführung Hanois gegeben, während im Gegensatz dazu in den Vereinigten Staaten mitten in dieser Verwicklung Kriegsverbrecherprozesse geführt wurden. Ich kann daher diesen jungen Menschen - ich meine, wir sollten dies gemeinsam tun nur raten, hier einen langen Atem zu beweisen und das Geschehen in Vietnam auch nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstandes weiter zu verfolgen. Dann wird sich nämlich zeigen, ob die Kommunisten dort in der Lage sind, einen Kompromiß zur friedlichen Entwicklung in einem Land einzuhalten, oder ob nach dem Abzug der Amerikaner ein Zustand eintritt, der dazu führen wird, daß Menschen neues unsägliches Leid hinnehmen müssen. Wir haben viele Beispiele in der Welt für solche Ereignisse. Ein kurzatmiger Protest aber, der diese Entwicklung nicht im
Auge behält, halbiert nach meiner Überzeugung seine Menschlichkeit.
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Meine Damen und Herren, die zweite Gruppe bilden jene, die sich erlauben, den modernen und modischen Antiamerikanismus in Europa mitzumachen. Wir wollen uns dabei nicht lange bei denjenigen aufhalten -- auch sie sind zahlreich vertreten , die aus einer Art Schadenfreude über den amerikanischen Sündenfall in den Protest mit eingestimmt haben. Hier taucht manches Ressentiment wieder auf, das aus Zeiten deutscher Geschichte stammt und nicht in unsere heutige geschichtliche Kontinuität gehört. Wichtiger scheint mir allerdings, daß es Politiker gibt, die sich diesem modischen Antiamerikanismus angeschlossen haben. Im Gegensatz zur ersten Gruppe, die ich erwähnt habe, nämlich den jungen Mitläufern des Protestes aus moralischer Empörung, versuchen sie nun direkt politisches Kapital aus dem Vietnam-Problem der Amerikaner zu schlagen. Sie fördern einen Antiamerikanismus und nehmen es offenbar hin, daß daraus langsam, aber sicher eine generelle Ablehnung der deutschamerikanischen Bundesgenossenschaft erwachsen kann, die wiederum an die Grundlagen unserer Außenpolitik rührt.
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Abgeordnete und Träger höherer Ämter in der Kommunalpolitik spielen hier ein gefährliches Spiel. Wollen sie mit ihrem modischen Antiamerikanismus der Ostpolitik noch mehr „drive" geben, oder wollen sie sich einfach als die besten Protagonisten der neuen Linken profilieren? Wie auch immer, man hat uns, den Unionsparteien, hier, in dieser Debatte und auch draußen im Lande vorgeworfen, daß es uns schwerfalle, in diese Oppositionsrolle, die uns jetzt zugeteilt worden ist, hineinzuwachsen. Daran ist sicher einiges richtig. Aber ich möchte meinerseits auch einmal die Sozialdemokraten auffordern zu begreifen, daß sie ihre Rolle als Regierungspartei nunmehr ernster nehmen müssen. Es kann auf die Dauer nicht angehen, daß Bundeskanzler und Außenminister über diplomatische Kanäle außenpolitisches Porzellan kitten müssen, das die Mitglieder der Fraktion des Bundeskanzlers öffentlich auf den Straßen der Bundesrepublik Deutschland zerschlagen.
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Mir liegt es dabei völlig fern, SPD-Mitglieder mit Kommunisten in einen Topf zu werfen. Aber ich verlange bei den Mitgliedern einer Regierungspartei etwas mehr intellektuelle Anstrengung, wenn sie sich zum Vietnam-Problem öffentlich äußern. Ebenso ist es auch bei einem moralischen Protest notwendig, daß die Trennungslinie zwischen Demokraten und Kommunisten in unserem Lande deutlich bleibt. Auch in Sachen Vietnam darf es nach unserer Meinung keinerlei Aktionsgemeinschaften mit den Kommunisten geben.
Damit komme ich zur dritten Gruppe, die den Antiamerikanismus zur Methode gemacht hat. Es sind jene neuen Linken, für die ein rotes Vietnam eben auch ein freies Vietnam ist und die unbedenk236
lich bereit sind, sich die Sache der Kommunisten in Vietnam zu eigen zu machen. Für sie ist der moralische Protest vieler junger Menschen in unserem Lande nur ein Instrument für ihre politischen Ziele. zu denen sicherlich nicht der Frieden gehört. Wer noch vor Jahren gefordert hat: „Schaffen wir ein, zwei, drei oder vier Vietnam", hat keinen Anspruch, das Gewissen der Menschen für den Frieden zu mobilisieren.
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Dies gilt insbesondere, so finde ich, für die kommunistische Agitation in unserem Lande. Hier erkennt man am deutlichsten die Absicht, über die Kritik an den USA die westlichen Demokratien insgesamt so zu diskreditieren, daß die östlichen Volksdemokratien automatisch in einem besseren Licht erscheinen können. Für die Kommunisten ist der Antiamerikanismus eine Methode ihrer Agitation. Das ist eine Begleitmusik zur Entspannungspolitik in Europa, die wir sehr genau beachten müssen und die wir ernst nehmen sollten.
Für die Regierung der Bundesrepublik wie für unser Parlament wird es deshalb eine vorrangige Aufgabe sein, die Menschen in unserem Lande vor einem undifferenzierten Antiamerikanismus zu warnen. Dieser Antiamerikanismus - Herr Dr. Schröder hat darauf schon hingewiesen - könnte sehr leicht die Brücke zu einem außenpolitischen Neutralitätsdenken in der Bundesrepublik Deutschland werden, was dann wiederum unsere freiheitliche und soziale Ordnung und deren Weiterentwicklung gefährden müßte.
Ohne Amerika - der Bundesaußenminister hat das vorhin sehr deutlich gesagt - werden wir auch keine Entspannungspolitik machen können; denn in den kommenden Jahren müssen wir in dieser Übergangszeit auf beides gefaßt und eingestellt sein: auf Entspannung ebenso wie auf die Möglichkeiten neuer Spannungen. Noch befindet sich die sowjetische Westpolitik in einem Lernprozeß. Sie muß einsehen lernen, daß die Entspannungspolitik kein Mittel einer sowjetischen Westpolitik sein kann, bei der schließlich unser Bündnis gelockert wird, die Amerikaner aus Europa zurückgedrängt werden und die Bundesrepublik ihrerseits in eine gewisse Einflußsphäre der Sowjetunion geraten kann. Nicht nur unsere Ostpolitik, sondern vor allem auch die sowjetische Westpolitik muß auf der Basis des Status quo stattfinden. Dazu brauchen wir amerikanische Präsenz in Europa.
Wenn die Jungsozialisten verlangen, wegen der amerikanischen Politik in Vietnam keinen Devisenausgleich mehr für die Stationierung der US-Truppen zu leisten, dann steht dies in direktem Gegensatz zur Entspannungspolitik dieser Bundesregierung. Wer den Sowjets Hoffnungen auf den Zusammenbruch der westlichen Solidarität macht, hemmt die Chancen unserer Entspannungspolitik. Es wäre gut, wenn der Bundeskanzler dies in seiner Eigenschaft als Parteivorsitzender auch einmal seiner Partei und den dort Agierenden ganz deutlich klarmachen würde.
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Mit dem Waffenstillstand in Vietnam sind die Voraussetzungen für die Hilfe beim Wiederaufbau der vom Krieg betroffenen Länder gegeben. Wir begrüßen die Ankündigung des Bundeskanzlers für ein Hilfsprogramm. Ein solches Programm muß aber, wie wir meinen, alle Länder Indochinas - auch Laos und Kambodscha - einschließen. Wir glauben, daß die Bundesrepublik Deutschland auf diese Weise einen Beitrag leisten könnte zur politischen Stabilisierung in Südostasien.
Der Entwicklungspolitik, die in einem Zusammenhang mit den Fragen des Wiederaufbaus Südostasiens steht, hat der Bundeskanzler und die Bundesregierung nur einige wenige Sätze in dieser Regierungserklärung gewidmet. Der zuständige Minister für Entwicklungspolitik oder für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Dr. Eppler, hat es wahrscheinlich aus diesem Grunde auch vorgezogen, in der heutigen Debatte zwar aufzutreten, aber nicht zu seinem Thema zu sprechen, ebenso wie einer seiner Kollegen, der hier heute als Jungfernminister ohne Erwähnung seiner Zuständigkeiten einen Diskussionsbeitrag geleistet hat.
Nachdem Herr Eppler zu den entwicklungspolitischen Fragen nicht Stellung genommen hat, bitte ich um Ihr Verständnis, wenn ich nur eine kurze Bemerkung zu Ihrer Einlassung, Herr Minister Eppler, mache, die Sie im Zusammenhang mit dem Beitrag meines Kollegen Richard von Weizsäcker hier gemacht haben. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren. daß Ihre Einlassung, Herr Dr. Eppler, sicherlich kein Versuch war, zusätzliche Gemeinsamkeiten zwischen Opposition und Regierung zu entdecken und möglichst schnell festzuschreiben. Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, daß Sie an einem ernsthaften Dialog über christliche Motive in der Politik überhaupt nicht interessiert sind,
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sondern daß es Ihnen eher darauf ankommt, eben einfach nicht zuzulassen, ,daß die Union hier in diesem Hohen Hause und anderswo ihr ernsthaftes Verhältnis zu dem Wort „christlich" in ihrem Namen überhaupt darlegen kann. Wenn es Ihnen, Herr Dr. Eppler, in dieser Frage ernst gewesen wäre und wenn es Ihnen bezüglich des Beitrags von Richard von Weizsäcker ernst gewesen wäre, dann hätten Sie sicherlich seine Aussagen, die er hier und anderswo gemacht hat, in anderer Form wiedergegeben, als Sie dies hier getan haben.
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Erlauben Sie mir, diese Wiedergabe der Äußerungen von Richard von Weizsäcker durch Sie heute in maßvoller Weise als nicht ganz redlich zu bezeichnen.
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Sie haben von der Moral in der Außenpolitik gesprochen und Herrn von Weizsäcker unterstellt, er habe in einer Diskussion vor dieser Wahl gegenüber dem Bundeskanzler oder gegenüber Ihnen sozusagen kritisiert, daß ,der Bundeskanzler sich in seiner Außenpolitik auf Moral stütze. Dies trifft überhaupt nicht zu. Ich erinnere mich sehr wohl an
die Äußerung. Herr von Weizsäcker hat davon gesprochen, daß ein Bundeskanzler, der sich in einem Wahlkampf bei der Darstellung seiner Außenpolitik im wesentlichen auf moralische Motivationen stützt und sie in den Vordergrund seiner Argumentation stellt, es seinen politischen, in der Sache anders denkenden Gegnern außerordentlich schwer macht, diese Debatte zu bestreiten. 'Daher müsse die ausschließlich moralische Motivation in der Außenpolitik zu schwierigen Situationen in der Diskussion führen. Zur moralischen Motivation müsse auch die notwendige Nüchternheit in der Beurteilung der Lage und in der Bemessung der Interessen des eigenen Volkes, um das Außenpolitik ja schließlich geführt wird, hinzukommen.
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Die Entwicklungspolitik, die in der Regierungserklärung sehr kurz gekommen ist, hat aber immerhin zunächst in den ersten Tagen der neuen Regierung ein erfreuliches Ereignis gebracht, auf das es hinzuweisen gilt: die Bundesregierung, der Bundeskanzler hat eine Maßnahme ergriffen, die dafür Sorge trägt, daß die Zuständigkeit für die Kapitalhilfe im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit nunmehr endlich eine Entwicklungspolitik aus einem Guß ermöglicht.
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Wir haben uns für diese Zusammenführung seit Jahren eingesetzt. Wir hätten sie durchgeführt für den Fall, daß aus diesen Wahlen eine CDU/CSU-Regierung hervorgegangen wäre. Wir begrüßen diese Entscheidung und hoffen, daß der Minister in der Durchführung der Entwicklungspolitik seine gesamte Energie auf die Steigerung der Effizienz verwenden wird. Wir hoffen, daß die Grundsätze für die Kapitalhilfe, so, wie sie früher im Bundeswirtschaftsministerium galten, auch in dem neuen Bereich gewahrt werden - ausgewogene Förderung sozialer und ökonomischer Aufgaben - und daß diese Grundsätze auch in Zukunft gelten.
Zum intellektuellen Handwerkszeug, Herr Minister, gehört auch der Sinn für die praktische Durchführung. Der Bundesrechnungshof hat Ihnen in seinem jüngsten Bericht ungenügende Überwachung beim Deutschen Entwicklungsdienst vorgeworfen.
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Dem Bericht zufolge haben Sie sich nicht ausreichend um die rechtliche, die persönliche Sicherung der freiwilligen Helfer im Ausland gekümmert, und einzelne Freiwillige haben durch ihr politisches Engagement, oft unter Vernachlässigung ihrer fachbezogenen Aufgaben, dem Ansehen der Bundesrepublik geschadet und die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik gefährdet. Der Bundesrechnungshof gebraucht hier eine wesentlich härtere Sprache, Herr Minister Eppler, als ich sie jemals in den Diskussionen, die wir früher geführt haben, gebraucht habe. Ich meine, es wäre gut, wenn hierzu im Ausschuß und bei einer passenden Gelegenheit auch einmal im Plenum gesprochen würde.
Die Europapolitik - das ist heute in den Äußerungen des Außenministers sehr deutlich geworden
- wird in den kommenden Jahren eine besondere Bedeutung haben. Wir sind der Meinung, daß die Entwicklungspolitik dabei unter gar keinen Umständen in einen stillen Winkel geraten darf. Wir vermissen in Ihrer Regierungserklärung ein klares Bekenntnis zu den entwicklungspolitischen Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft. Der Auftrag der europäischen Gipfelkonferenz an die Kommission, Vorstellungen über die künftige Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik 'zu erarbeiten, sollte die Bundesregierung veranlassen, eigene Vorstellungen zu entwickeln und Initiativen zu ergreifen. Nur so haben wir die Möglichkeit, auf die Entwicklung Einfluß zu nehmen; unsere Vorstellungen dazu sind Ihnen seit Monaten bekannt.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute Friedenspolitik machen, dann dürfen wir nicht allein den Ost-West-Gegensatz und seine Überwindung im Auge behalten; denn der Weltfriede ist auch durch den Nord-Süd-Gegensatz gefährdet. Wir von der Union sehen deshalb in der Entwicklungspolitik ein Instrument langfristiger Friedenspolitik im Weltmaßstab.
Ich habe versucht, in der gebotenen Kürze eine Reihe von Fragen anzusprechen. Wir suchen in diesen Fragen, die ich hier angesprochen habe, nicht die Konfrontation mit Ihnen. Wenn die Absichten der Bundesregierung so, wie sie in der Regierungserklärung zu diesen Punkten skizziert worden sind, nicht durch ganz bestimmte ideologische Strömungen verwässert, wenn sie nicht verfälscht, wenn sie wirkliche Politik dieser Regierung werden, dann können Sie in diesen hier angeschnittenen Fragen auf die Unterstützung der Opposition rechnen.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kiep, wir werden in den vor uns liegenden vier Jahren überprüfen können, wie ernst es Ihnen mit diesem Angebot der Zusammenarbeit ist. Ich hoffe, daß wir gut zusammenarbeiten werden. Sie haben die Länge der Passage über Entwicklungspolitik in der Regierungserklärung angesprochen. Wenn Sie von der Quantität reden, dann muß ich sagen, daß die Passage über Entwicklungshilfe, die der Vorsitzende der Opposition in seinem Referat hatte, viel, viel kürzer war.
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Ich gebe zu, daß wir nicht davon gesprochen haben, dies sei eine Herzensangelegenheit, weil wir auch nicht der Meinung sind, daß, wenn wir jetzt in Vietnam helfen, dies eine Liebestätigkeit ist, wie es der Kollege Schröder gesagt hat. Dies hat so einen Beigeschmack von Almosen, daß die Menschen dort dankbar sein müssen, wenn wir ihnen helfen.
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- Das Wort Liebestätigkeit ist vom Kollegen Schröder so gebraucht worden.
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Sie können davon ausgehen, daß wir, auch wenn die Passage nicht so lang war, unsere Aufgabe in der Entwicklungshilfe sehen, zumal wir auch in der Zukunft in unserer Entwicklungshilfe freier sein werden, freier durch den Abschluß des Grundvertrags, weil wir nicht mehr darauf Rücksicht nehmen müssen, ob irgendein Land in der Dritten Welt die DDR nun anerkannt hat, anerkennen wird oder nur einmal mit dem Gedanken spielt.
Wir haben in den letzten Jahren die HallsteinDoktrin in der Entwicklungshilfe mehr und mehr abgebaut. Aber wenn wir offen und ehrlich zu uns sind, auch gegenüber der eigenen Regierung, dann müssen wir sagen, daß es immer noch Reste der Hallstein-Doktrin gegeben hat. Dies ist am Beispiel Chiles deutlich geworden. Wenn ein Land die DDR anerkannt hat, haben wir nicht mehr in dem Maße Hilfe geleistet wie sonst. Wir werden in Zukunft unsere Entwicklungshilfe nach den Notwendigkeiten in einem Entwicklungsland ausrichten.
Wir werden auch den Wettbewerb mit der DDR aufnehmen. Dabei muß ich aber sagen, daß dies nicht eine neue Doktrin werden kann, die Doktrin des Wettbewerbs, wonach wir überall, wo die DDR auftritt, mehr und bessere Entwicklungshilfe leisten müßten. Dies würde, glaube ich, zu einem Wettbewerb führen, der nicht im Interesse der Entwicklungsländer liegt.
Meine Damen und Herren, wir werden mit der DDR einen Wettbewerb aufnehmen müssen, und zwar in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Ich zähle nicht zu denen, die sagen, dies sei die einzige Ursache für die Unterentwicklung der Länder. Aber ich meine, er ist eine der Ursachen für die Unterentwicklung der ehemaligen Kolonialstaaten. Wenn wir diesen Wettbewerb aufnehmen, haben wir das größere moralische Recht, auch für die Freiheit der Länder in der Dritten Welt einzutreten.
In diesem Zusammenhang muß noch ein Wort zu Vietnam gesagt werden. Herr Kollege Kiep hat begrüßt, daß wir unsere Hilfe dann, wenn der Krieg zu Ende ist, leisten werden. Ich freue mich, daß wir auch hier die Unterstützung der Opposition haben. Dies darf sich aber nicht auf humanitäre Hilfe beschränken, so notwendig, so wichtig sie jetzt am Ende des Krieges auch ist, um die erste Not zu überwinden. Dies muß auch beinhalten, daß wir wieder die Entwicklungshilfe für Vietnam und - da stimme ich Ihnen zu - alle Länder in der ehemaligen französischen Kolonie Indochina aufnehmen.
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- Da bin ich mir nicht ganz sicher, was die bessere
Methode gerade in diesem schwierigen Gebiet ist,
ob es nicht besser ist, dies über die Vereinten Nationen zu tun.
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Ich will es jetzt nicht so absolut sagen, aber, ich glaube, wir müssen uns überlegen, was in der Situation dort besser ist.
Herr Kollege Kiep, Sie haben auch von der Europäisierung der Entwicklungshilfe gesprochen, und eben ist ja auch etwas von multilateraler Hilfe angedeutet worden. Natürlich brauchen wir eine verstärkte Europäisierung der Entwicklungshilfe. Was wir zuerst brauchen, ist eine Koordination zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Wie wir wissen, ist sie nicht so ganz einfach. Wir wissen das auch von anderen Gebieten. Aber ich hoffe, daß wir über die Koordination hinaus zu einer besseren Kooperation kommen werden.
Dies aber - machen wir uns keine Illusionen! -ist auch von dem Fortschritt abhängig, den die Gemeinschaft in anderen Bereichen aufzuweisen hat, von dem Fortschritt in der politischen und in der Wirtschaftsunion. Ich sage hier ganz offen: Ich glaube nicht, daß es gut ist, noch mehr Rechte an die Gemeinschaft zu übertragen, wenn diese nur von der Bürokratie gehandhabt werden. Ich meine, es ist gut, wenn wir auch dafür sorgen, daß hier das Europäische Parlament mehr Rechte erhält.
Die Europäische Gemeinschaft hat den Entwicklungsländern Zollpräferenzen gewährt. Dies war eine gute Sache. Aber ich meine, daß das so, wie es jetzt ist, nicht ausreicht; denn wir haben für einige Produkte Sonderregelungen getroffen, nämlich für solche, die im härtesten unter der Konkurrenz aus den Entwicklungsländern zu leiden haben.
Wir sollten nicht allzu stolz sein auf das, was wir den Entwicklungsländern gewährt haben. Es ist ganz einfach, die Einfuhr beispielsweise von Computern aus der Zentralafrikanischen Republik freizugeben; denn solche werden dort nicht gebaut. Es ist schwieriger, manche anderen Produkte, die bei uns produziert werden, für die Einfuhr freizugeben. Wir sollten, um die Situation der Entwicklungsländer zu erleichtern, uns Gedanken machen, wie wir die Rohstoffpreise stabilisieren können, ohne daß wir zu Erdnußbergen kommen, wie wir Butterberge haben.
Wir haben in diesem Jahr im Bereich der Entwicklungshilfe ein Gesetz zu erneuern: das Entwicklungshilfesteuergesetz. Sie wissen, daß wir es kurz vor dem Ende der letzten Legislaturperiode in einem interfraktionellen Antrag für ein Jahr verlängert haben. Ich mache keinen Hehl daraus, daß uns die jetzige Fassung dieses Gesetzes nicht gefällt. Ich meine, daß wir einen neuen Länderkatalog fassen müssen, weil ich nicht glaube, daß es in manchen Bereichen, die heute noch begünstigt sind, notwendig ist, besondere Förderungen zu leisten, da Investitionen dort so und so getätigt werden. Damit wir uns nicht mißverstehen: bei der Änderung des Gesetzes geht es nicht darum, Privatinvestitionen zu behindern; es geht nur darum, Geld zu sparen und an anderer Stelle sinnvoller einzusetzen, als das bisher der Fall war.
Nun, Herr Kollege Kiep, zum Schluß: Sie haben im Zusammenhang mit der Kritik des Bundesrechnungshofes Kritik an der Regierung geübt. Ich will hier mit aller Deutlichkeit sagen: Ich habe den gleichen Eindruck wie der Minister, daß der Bundesrechnungshof seine Kompetenzen in diesem Fall überschritten hat.
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Er hat nämlich Äußerungen zu den Problemen abgegeben, die - wie ich meine - in die politische Entscheidung der Bundesregierung oder dieses Hauses gehören. Über unsere Entwicklungshelfer ist viel diskutiert worden. Ich bin auch nicht der Auffassung, daß das, was manche draußen tun, sinnvoll ist; aber ich muß hier auch sagen: Was erwarten wir eigentlich von jungen Menschen, die wir hinausschicken, um den Menschen dort zu helfen, und die politische Systeme antreffen, die ihren Vorstellungen nicht im geringsten entsprechen, auch nicht unseren? Erwarten wir von ihnen, daß sie immer still sind? Oder erwarten wir nicht doch von ihnen, daß sie ein Engagement haben?
Ich muß nur sagen: Dies hat natürlich eine Grenze, wo die Arbeit der Entwicklungshelfer gefährdet ist. Aber wir können doch nicht erwarten, daß sie politisch völlig neutral bleiben.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir brauchen mehr als bisher in unserer Entwicklungspolitik die Sozialbindung. Wir müssen noch mehr als bisher überprüfen, ob die Hilfe, die wir den Ländern der Dritten Welt leisten, auch wirklich den Menschen in diesen Ländern zugute kommt; denn Ziel unserer Politik ist es, den Menschen zu helfen.
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Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren! Die Geschäftslage sieht folgendermaßen aus: Es haben sich zu diesem Thema noch zwei Kollegen und der zuständige Herr Minister gemeldet. Wir werden diese Redner morgen früh aufrufen, und zwar in der Reihenfolge: zunächst der Herr Kollege Opitz, danach Herr Wulff, dann der Entwicklungsminister, Herr Minister Eppler.
Ich gebe jetzt noch das Wort Herrn Minister Bahr, der im Zusammenhang mit den Ausführungen, die vor etwa zweieinhalb Stunden gemacht worden sind, darum gebeten hat. Es gibt die Möglichkeit der Abgabe einer Erklärung nach § 36 oder nach § 35. Diese könnte er erst zum Ende der Tagesordnung abgeben; es geht jetzt also nicht.
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Deshalb hat der Minister um das Wort gebeten. Damit wird theoretisch die Möglichkeit eröffnet, daß noch einmal darüber gesprochen wird. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen.
Das Wort hat der Minister Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach § 35 der Geschäftsordnung ist eine persönliche Bemerkung erst nach Schluß der Debatte möglich. Ich
habe mich daher zu Wort gemeldet, weil mir daran liegt, noch heute abend meine früheren Ausführungen richtigzustellen.
Die Ausführungen von Herrn Abgeordneten Windelen, wonach ein Satz der Regierungserklärung den Verdacht begründe, er könnte den Vorwurf ungenügender Vertretung nationaler Interessen rechtfertigen, hat mich zu der Äußerung des Zweifels veranlaßt, ob es mit solchen Leuten über Gemeinsamkeiten zu reden lohne. Es ist selbstverständlich Pflicht eines Bundesminister, jedem Abgeordneten Rede und Antwort zu stehen.
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Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen im Hinblick auf die Tatsache, daß hier eine Erklärung eines Ministers der Regierung vorlag - was schon dadurch deutlich wird, daß er von seinem Vorrecht, jederzeit das Wort zu nehmen, Gebrauch machte , den ungewöhnlichen geschäftsordnungsmäßigen Bezug des Ministers - trotz der Belehrung des Präsidenten - auf § 35, obwohl die Debatte gar nicht beendet ist, nicht rügen, da es sich um eine Jungfernrede handelt. Wir behalten uns vor, auf die Sache selbst morgen früh in Anwesenheit des Herrn Bundeskanzlers zurückzukommen ({0})
auf die Sache selbst, Herr Mattick -, und wollen auf die persönliche Entgleisung von uns aus nicht mehr zurückkommen.
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand, verehrter Herr Dr. Barzel, kann und wird Sie hindern, auf diesen Vorfall zurückzukommen. Ich sage deshalb nur einen Satz dazu: Sie haben hier erklärt, wer Herrn Bahr kenne, der wisse, daß dies eine Provokation sei. Das sollten Sie sich in aller Ruhe überlegen. Daraus muß man keine Prestigefrage machen, ob der eine oder andere recht hat oder den anderen richtig kennt. Ich habe anders gehört, wie es anfing. Ich will das von mir aus nicht nachvollziehen. Das, was hier zu korrigieren war, hat Herr Bahr versucht zu korrigieren, und das sollte man beim weiteren Überlegen immerhin beachten.
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Vizepräsident von Hassel: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Donnerstag, den 25. Januar 1973, 9.00 Uhr ein und schließe die heutige Sitzung.