Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat mit Schreiben vom 8. Januar 1973 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Rollmann, Dr. Müller-Hermann, Orgaß, Frau Tübler, Eilers ({0}) und Genossen betr. Fischereiwirtschaft in den norddeutschen Küstenländern - Drucksache 720 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7,55 verteilt.
Der Staatssekretär ins Bundesministerium der Verteidigung hat mit Schreiben vom 12. Januar 1973 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Müller-Hermann, Lenzer, Rawe, Stücklen, Dr. Wörner, Damm und Genossen betr. Senkrechtstarter VAK 191 B - Drucksache 7/40 beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7 58 verteilt.
Punkt 1 der Tagesordnung:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Regierungsprogramm, das ich heute darlege, ist die präzise Konsequenz dessen, was Sozialdemokraten und Freie Demokraten in der Regierungserklärung vom Oktober 1969 gemeinsam vertreten haben. Die politischen Ziele von damals gelten, und wir können auf das Geleistete bauen. Das Programm, das wir uns setzten, haben wir trotz der Verkürzung der Legislaturperiode in seinen wesentlichen Punkten erfüllt.
Die neue Bundesregierung, die sich auf einen klaren Auftrag der Wähler stützen kann, hat ihre Arbeit mit der kurzen Erklärung aufgenommen, die ich hier am 15. Dezember 1972 abgegeben habe. Unser Programm für diese Legislaturperiode leite ich mit dem Satz ein, mit dem ich am 28. Oktober 1969 schloß:
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein ... im Innern und nach außen.
Darin sammelt sich das Vertrauen, auf das wir uns stützen. Darin erkennen wir auch die Summe der Pflichten, die uns an die Verantwortung für das Ganze des Volkes binden.
Meine Damen und Herren, das Wort von der guten Nachbarschaft zeigt unseren Willen zur Kontinuität an, den ich heute unterstreiche. Diese Kontinuität hat ihre eigene, unverwechselbare Prägung gewonnen. Sie ist bestimmt durch den Inhalt unserer Politik der aktiven Friedenssicherung und der gesellschaftlichen Reformen. Wir wissen auch, daß der Wille zur Erneuerung den klaren Blick dafür verlangt, wie das Notwendige möglich gemacht werden kann. Reformen in den Dimensionen, die wir für die Entwicklung in unserem Lande geöffnet haben, brauchen einen langen Atem.
Unseren Bürgern - so sehen wir es - geht es besser. Das System der sozialen Sicherung wurde gestärkt. Unsere Wirtschaft blüht, trotz der Sorgen um die Preise. Das ist die Ausgangslage. Es bleibt trotzdem viel zu tun, damit die Bundesrepublik Deutschland sich im friedlichen Wettbewerb gut behaupten und damit sie als demokratischer und sozialer Bundesstaat weiter ausgebaut werden kann.
Wir können feststellen: Der europäische Friede wurde gefestigt, auch durch unsere Arbeit. Dieser Friede ist heute wie gestern der klare Wille unseres Volkes und das Grundelement unserer Interessen. Man darf sogar sagen: Niemals lebte ein deutscher Staat in einer vergleichbar guten Übereinstimmung mit dem freien Geist seiner Bürger, mit seinen Nachbarn und den weltpolitischen Partnern.
({0})
Manche Beobachter meinen, die Nachkriegsepoche gehe zu Ende. Das darf uns nicht den Blick für Unfrieden, Gewalt und Leiden verschließen: Bürgerkriegsgleiche Spannungen im europäischen Umkreis, die Tag für Tag Menschenopfer fordern; Elend in weiten Teilen der Dritten Welt; in Südostasien ein schrecklicher Konflikt, der nun hoffentlich ein Ende findet. Die drängende Ungeduld, mit der die Menschen auch bei uns in Deutschland den Frieden für Vietnam erwarten, ist gut zu verstehen. Als Bundeskanzler habe ich es nicht für richtig gehalten, mich lautstarken Protesten anzuschließen, von denen manche auch einen falschen Klang hatten. Wir wählten andere Wege und andere Formen, um unseren Einfluß für Frieden und Menschlichkeit geltend zu machen.
Auf die Gefahr hin, von manchen noch immer mißverstanden zu werden, beschränke ich mich in diesem Augenblick auf eine Erklärung, die nach
vorn gerichtet ist. Wir sind darauf vorbereitet, in beiden Teilen Vietnams humanitären Beistand zu leisten und gemeinsam mit anderen beim Aufbau dieses gequälten und verwüsteten Landes zu helfen, wenn endlich die Waffen schweigen.
({1})
Im Nahen Osten, vor der Tür Europas also, schleppt sich noch immer ein Konflikt fort, der uns nicht gleichgültig läßt; auch deshalb gleichgültig lassen kann, weil in diesem Monat Januar vor 40 Jahren begann, was sich Drittes Reich nannte. Gerade vor diesem Hintergrund ist für uns das Lebensrecht des Staates Israel unanfechtbar.
({2})
In den arabischen Ländern wächst das Verständnis für unsere Haltung. In Kenntnis ihrer Probleme wünschen wir, die traditionelle Freundschaft zu allen arabischen Völkern zu pflegen.
({3})
Unsere Friedenspolitik in Europa hat sich als ein Faktor weltweiter Entspannung bewährt. Nicht nur Spannungen, auch Entspannungen übertragen sich. Nicht nur der Unfriede, auch der Friedenswille kann ansteckend sein. Wir wissen allerdings, daß die Entspannung auch ihre eigenen Probleme produziert.
Wir beobachten es täglich, auch bei der neuen Ordnung unserer Beziehungen mit der DDR, dem anderen deutschen Staat. Darüber sollte man nicht vergessen: Millionen unserer Landsleute haben in den vergangenen Wochen erfahren, daß Berlin-Abkommen, Verkehrsvertrag und Grundvertrag - über den wir hier erst noch zu beraten haben - insgesamt Ergebnisse einer Politik sind, die dem Menschen dienen will und die ihm auch konkret dient. Daß Familien und Freunde aus alten Tagen wieder zueinander finden, zählt viel für ,die Zusammengehörigkeit der Deutschen, die auch unter den Existenzbedingungen zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme e i n Volk bleiben wollen.
Der Grundvertrag - ich sagte es soeben - ist noch nicht in Kraft. Aber wir wollen schon heute keinen Zweifel daran lassen, daß wir mit geduldiger Bestimmtheit für weitere Verbesserungen im Interesse der Menschen wirken werden.
Meine Damen und Herren, entscheidende Voraussetzungen für die Politik der Entspannung und der Reformen sind geschaffen; nun muß sie beharrlich und zielbewußt in die Wirklichkeit des Alltags übersetzt werden.
Alltag ist kein schlechtes Wort: Es schmeckt nach täglichem Brot; es hat mit der Qualität des Lebens zu tun, in der sich unsere Reformen erfüllen müssen. Sie ist das Ziel unserer Arbeit.
So unterstelle ich die Aufgaben meiner Regierung bewußt der Forderung nach der Bewährung im Alltag.
({4})
Politik ist im Kern immer das Produkt geistiger und
moralischer Entscheidungen. Das gilt im Innern und
nach außen. In der täglichen Arbeit soll die geistige
Orientierung unseres Programms stets sichtbar bleiben.
Meine Damen und Herren, nach außen wird die Bundesregierung ihre Politik der guten Nachbarschaft konsequent fortsetzen. Ihre Außen- und Sicherheitspolitik dient ausschließlich dem Frieden.
An erster Stelle nenne ich das Ziel einer Europäischen Union, wie es die Pariser Gipfelkonferenz vom Herbst des vergangenen Jahres für dieses Jahrzehnt gesetzt hat. Die dort ins Auge gefaßte Europäische Union wird die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten umfassen. Eine verstärkte und immer enger werdende politische Zusammenarbeit soll dazu entscheidende Impulse geben. Das umfassende Arbeitsprogramm, das auf der Gipfelkonferenz beschlossen wurde, muß - vor allem in der Wirtschafts- und Währungspolitik - verwirklicht werden.
Das Werk der europäischen Einigung kann sich nur durch freundschaftliche Verbundenheit der beteiligten Völker vollziehen. Ein lebendiges Beispiel dafür ist die deutsch-französische Partnerschaft, die ich die „Entente Élémentaire" genannt habe und die vor fast genau zehn Jahren in einen Vertrag gegossen wurde. Ich bin sicher, daß die gute Zusammenarbeit mit Großbritannien, Dänemark und Irland sich ebenso bewähren wird wie die mit den bisherigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft.
({5})
Die Bürger in Europa erwarten schon jetzt eine Stärkung der sozialen Komponente und des demokratischen Elements in der Gemeinschaft. Wir möchten die Befugnisse des Europäischen Parlaments erweitert sehen.
({6})
Die Europäische Gemeinschaft wird sich dann eindeutig bewährt haben, wenn sie vor der Welt ein Beispiel gibt für die Dynamik des Fortschritts in Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.
Was die nordamerikanischen Staaten und Europa angeht, so gilt, daß sie weiterhin gemeinsame Sicherheitsinteressen haben. Sie tragen gemeinsam die Verantwortung für eine internationale Struktur des Friedens in Europa. Die Unterschiedlichkeiten auf diesem Gebiet ergeben sich aus der unumstößlichen Tatsache, daß sich unsere Interessen in erster Linie auf unseren Kontinent konzentrieren, während die amerikanischen Verpflichtungen weltweit sind.
Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit der Interessen sind in aller Offenheit festzustellen. Sie gelten für lange Fristen. Aber wir sollten festlegen, wie wir uns bei der Lösung unserer Probleme gegenseitig helfen können.
Dabei ist nicht zu erkennen, daß die wirtschaftlichen Beziehungen der Vereinigten Staaten mit Europa, soweit es sich in der Europäischen Gemeinschaft organisiert hat, Schaden gelitten hätten. Das Gegenteil trifft zu. Dennoch kann ein konstruktiver Dialog, den ich nach wie vor für geboten halte, daBundeskanzler Brandt
bei helfen, daß aus möglichen wirtschaftlichen Spannungen keine unnötige politische Belastung wird.
Für den Ausgleich in Europa, zwischen Ost und West, sind mit den Verträgen von Moskau und Warschau, dem Berlin-Abkommen der Vier Mächte, den dazu gehörenden Vereinbarungen auf der deutschen Ebene und dem Grundvertrag mit der DDR bessere Voraussetzungen geschaffen worden. Wir werden eine breite Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und auf kulturellem Gebiet mit den Staaten Osteuropas suchen.
Die Bundesregierung wird sich gleichzeitig weiterhin um die Linderung humanitärer Probleme bemühen, die bei der Umsiedlung und Familienzusammenführung noch ungelöst sind, und sie wird jede Möglichkeit zur Verbesserung der menschlichen Kontakte nutzen.
Das Gefüge unserer bilateralen Verträge zum Gewaltverzicht, der mit der Sowjetunion zuerst vereinbart wurde, verlangt nach einem Abschluß mit der benachbarten Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Die Bundesregierung hofft, in absehbarer Zeit eine Vereinbarung erreichen zu können, durch die das Münchener Abkommen aufhört, das Verhältnis der beiden Staaten zu belasten. Die Bundesregierung wird den politischen Dialog mit den Staaten des Warschauer Vertrages fortsetzen und hofft, Budapest und Sofia dabei einschließen zu können. Sie wird den Kontakt mit den bündnisfreien Staaten nicht vernachlässigen.
Meine Damen und Herren, mit der Vorbereitung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit tritt die Entwicklung der Beziehungen zu Ost-Europa jetzt in eine multilaterale Phase. Der Bundesregierung kommt es dabei vor allem auf praktische Ergebnisse an, die für die Menschen in Europa - und damit auch in Deutschland - spürbar werden. Sie ist entschlossen, trotz der ideologischen Gegensätze geduldig und illusionslos daran mitzuwirken, daß sich auf unserem Kontinent, und sei es auch nur in begrenzten Bereichen, nach und nach ein gemeinsamer Wille herausbildet. Meine Damen und Herren, wenn ich „europäische Sicherheit und Zusammenarbeit" sage, so bin ich dabei heute davon überzeugt, daß substantielle Fortschritte möglich sind.
Wenn der Bundestag das Zustimmungsgesetz billigt, werden wir den Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen stellen. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland wird damit eine neue Dimension gewinnen; wir werden bereit sein, mehr Mitverantwortung zu übernehmen, auch für die Minderung von Konflikten.
Zu den Staaten Asiens, nun auch zur Volksrepublik China, werden wir unsere Beziehungen ausbauen.
Die traditionelle Freundschaft mit den Ländern Lateinamerikas bedarf der Pflege.
Die Entwicklung der Partnerschaft mit den Staaten Afrikas soll der geographischen Nähe und der wirtschaftlichen Ergänzung entsprechen.
Öffentliche und private Leistungen für die Entwicklungshilfe werden wir - dem Vorgehen unserer europäischen Partner gemäß - zu steigern haben. Dabei wird die Bedeutung der multilateralen Organisationen wachsen. Durch die Zusammenfassung von technischer Hilfe und Kapitalhilfe wollen wir eine gebündelte Wirkung unserer Entwicklungshilfe erreichen.
Meine Damen und Herren, Grundlage unserer Sicherheit bleibt die Atlantische Allianz. Sie gibt uns auch den Rückhalt für unsere Politik der Entspannung nach Osten.
Die politische und militärische Präsenz der Vereinigten Staaten ist für die Bewahrung eines ausgeglichenen Kräfteverhältnisses in Europa unerläßlich. Die Bundesregierung wird gleichzeitig dafür wirken, daß der europäische Pfeiler des Bündnisses stärker wird; die „Euro-Gruppe" ist dafür der realistische Ausgangspunkt.
Die Freiheit, an Entspannung und Ausgleich mitzuwirken, wird uns nicht geschenkt. Wehrpflicht, Verteidigungshaushalt und Zivilverteidigung betrachten wir nicht nur als Notwendigkeiten, sondern als sinnvollen Dienst für die freie Gemeinschaft unserer Bürger; er hilft unserer Friedensarbeit. Präsenz und Kampfkraft der Bundeswehr müssen erhalten bleiben.
({7})
Wir werden - auch unter Berücksichtigung des Berichts der Wehrstrukturkommission und nach Konsultation mit unseren Bündnispartnern - eine Wehrstruktur zu finden haben, mit der die Bundeswehr ihre Aufgaben auch künftig erfüllen kann.
Die Bundesregierung hat sich für eine ausgewogene beiderseitige Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa eingesetzt und wird schon an den Vorverhandlungen zu diesem Problem, die demnächst beginnen, teilnehmen. Der Zusammenhang mit der zweiten Runde der Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die Begrenzung der strategischen Waffensysteme ist in jeder Phase auf seine Auswirkungen für Europa zu prüfen.
Auch hier darf es keine Illusionen geben. Es ist nicht zu übersehen, daß die Rüstungsentwicklung im Warschauer Pakt das östliche Gesamtpotential steigerte. Die Bundesregierung zieht daraus keine vorschnellen Schlüsse, aber sie stellt fest, daß es eine parallele Tendenz in Westeuropa nicht gibt.
({8})
Die Bundesregierung will die Gefahr der Konfrontation in Europa durch kontrollierbare Maßnahmen mindern helfen. Dabei muß der Anspruch aller Beteiligten auf Sicherheit jeweils gewahrt sein. Es ist vernünftig und es ist an der Zeit, in Mitteleuropa durch mehr Vernunft mehr Vertrauen zu schaffen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich denke, die in diesem Haus vertretenen Parteien werden - unabhängig von dem, was sonst trennt - der Feststellung zustimmen, die ich in der Regierungserklärung
vom Oktober 1969 getroffen hatte, der Feststellung nämlich,
daß die Fragen, die sich für das deutsche Volk aus dem zweiten Weltkrieg und aus dem nationalen Verrat durch das Hitlerregime ergeben haben, abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden können.
Ich fügte hinzu:
Niemand kann uns jedoch ausreden, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle anderen Völker auch.
({10})
Damals sagte ich weiter:
Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.
Ich möchte jetzt sagen: Wenn wir uns über Ziel und Aufgabe einig sind, wird der Streit um den besten Weg dorthin seine ätzende oder verletzende Schärfe verlieren.
Über das Berlin-Abkommen hinaus, das ohne unsere Mitwirkung nicht zustande gekommen wäre und das nur vor dem Hintergrund der voraufgegangenen Krisen richtig beurteilt werden kann, beginnen sich Verbesserungen im Verhältnis zwischen den beiden Staaten abzuzeichnen. Auch die Regierung in Ost-Berlin will heute - ich zitiere - „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander kommen", wie wir das in der Regierungserklärung 1969 formuliert und im Frühjahr 1970 in den 20 Punkten von Kassel konkretisiert hatten. Was in den vergangenen drei Jahren schon möglich wurde, wird man nicht geringachten können.
Wir wissen aber, dieser Weg ist lang und steinig. Die Menschen und die Regierenden in den beiden deutschen Staaten haben nach vielen Jahren der Nicht-Beziehungen und der Feindseligkeit den Umgang miteinander zu erfahren und zu lernen. Schwierigkeiten und Reibungen werden uns nicht erspart bleiben. Die Bundesregierung ist entschlossen, den Vertrag, der für die Entwicklung der Beziehungen zur DDR die Grundlagen legt, politisch und rechtlich konsequent durchzuführen und im Interesse der Menschen in beiden Staaten auszufüllen.
Meine Damen und Herren, wir wollen einen Zustand erreichen, in dem nicht mehr geschossen wird.
({11})
Die Regelung der staatlichen Beziehungen muß bei der Lösung der menschlichen Probleme helfen, die ein bitteres Erbe der Teilung sind.
Die Bundesregierung betrachtet, wie alle anderen Beteiligten, das Viermächteabkommen über Berlin als einen bedeutenden internationalen Erfolg. Er besteht nicht zuletzt in der Festlegung, daß die Bindungen zwischen Berlin ({12}) oder, wie wir auch sagen, dem Land Berlin, und dem Bund erhalten und entwickelt werden können. Alle Beteiligten sollten daran interessiert sein, den Erfolg von 1971/72 nicht zu zerreden, sondern dafür zu sorgen, daß seine Wirkung für die Entspannung im Zentrum Europas in den kommenden Jahren voll genutzt wird. Unser Berlin soll in der Entspannung seine bedeutende und natürliche Funktion finden. Dabei wird die Bundesregierung den Senat weiterhin nach Kräften unterstützen.
({13})
Das Regierungs- und das Gesellschaftssystem der DDR haben wir immer abgelehnt, und dabei bleibt es. Es ist auch nicht zu erwarten, daß sich an der Ablehnung unserer Verhältnisse durch die Regierung der DDR etwas ändern wird. Aber beide Regierungen haben durch Vertrag beschlossen, sich trotz dieser Gegensätze ihrer Verantwortung zu stellen und auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Beide müssen den Frieden höher stellen als alle Differenzen. Das bedeutet für uns: die Erhaltung des Friedens rangiert noch vor der Frage der Nation. Dies ist ein Dienst, den das deutsche Volk den europäischen Völkern leistet.
Nur der lange und mühsame Weg vom Nebeneinander zum Miteinander der beiden Staaten bietet der Nation ihre Chance. Ein schriftlicher Bericht über „Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" wird im Zusammenhang mit der parlamentarischen Behandlung des Grundvertrages unterbreitet werden. Die Lage der Nation und das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland werden uns in diesem Haus auch künftig regelmäßig beschäftigen.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dem Haushalt 1973 wird über manche Einzelheit unserer Politik im Innern zu sprechen sein, die ich heute nicht berühren kann. Noch vor dem Haushalt wird der Jahreswirtschaftsbericht vorliegen.
Heute möchte ich besonders hervorheben, wie sehr wir das europäische Einigungswerk, über das ich im politischen Zusammenhang bereits gesprochen habe, als eine Grundbedingung gerade auch unseres wirtschaftspolitischen Handelns zu verstehen haben. Wir stellen uns dieser Herausforderung, ihren großen Chancen, aber auch ihren Risiken, und wir sind uns bewußt, daß dieses gemeinsame Europa mehr als bisher auch unsere innenpolitischen Entscheidungen bestimmen wird.
Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Gemeinschaft der Stabilität, des Wohlstands und des sozialen Fortschritts können nur gelingen, wenn die nationalen Entscheidungen stärker als bisher aufeinander abgestimmt und gemeinschaftliche Befugnisse schrittweise ausgebaut werden. Der schwierige Prozeß des Hineinwachsens in den Gemeinsamen Markt hat - was nicht immer erkannt und anerkannt wird - den nationalen Entscheidungsraum schon jetzt erheblich eingeschränkt.
Wir sind uns bewußt, daß es nicht nur ein Europa der wirtschaftlichen Beziehungen zu schaffen gilt,
sondern mit ihm ein Europa der arbeitenden Menschen, ihrer sozialen Sicherheit und Qualität des Lebens. Der Beschluß zum gesellschaftlichen, zum gesellschaftspolitischen Ausbau der Gemeinschaft, für den wir auf der Pariser Gipfelkonferenz die Initiative gaben, ist deshalb für die europäische Integration besonders wichtig.
Doch die drängendste Aufgabe, die wir mit den europäischen Partnerstaaten meistern müssen, ist es, wieder mehr Preisstabilität zu gewinnen. Sie ist eine Bewährungsprobe für die Gemeinschaft, die von allen Mitgliedstaaten ein hohes Maß an Einsicht und Solidarität verlangt. Wir selbst haben im Oktober in Übereinstimmung mit den europäischen Zielen, die in Paris skizziert worden waren, unseren Beitrag in einem 15-Punkte-Programm vorgelegt.
An erster Stelle steht weiterhin die Geld- und Kreditpolitik. Dieses klassische Instrument zur Konjunktursteuerung war jahrelang kaum verwendbar, weil jede Verteuerung und Verknappung des Kredits durch Devisenzuflüsse wirkungslos gemacht wurde. Seit dem Sommer vergangenen Jahres hat sich die Situation verbessert, nicht zuletzt als Folge der damals von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen.
Die weltweite explosionsartige Geldvermehrung der letzten Jahre hat die Notwendigkeit, das Weltwährungssystem neu zu ordnen, allen aufmerksamen Bürgern vor Augen geführt. Bei den wichtigen internationalen Verhandlungen, vor denen wir jetzt stehen, wird sich die Bundesregierung wie bisher für eine Währungsordnung einsetzen, die flexibel genug ist, Währungskrisen nach Möglichkeit zu vermeiden, und in der die Ausweitung der Liquidität unter Kontrolle bleibt.
Das zweite Element unserer nationalen Stabilitätspolitik ist die Gestaltung des öffentlichen Gesamthaushalts, über den der Bund - wie wir wissen freilich nur zu einem Teil entscheiden kann. Außerdem wäre es wirklichkeitsfremd, so meine ich, den öffentlichen Ausgabeetats die Hauptlast aufbürden zu wollen, wenn die Bedürfnisse der Bürger nicht Schaden leiden sollen.
({14})
Trotz dieser Begrenzung kommt der öffentlichen Finanzwirtschaft eine besondere Verantwortung für den Wirtschaftsablauf zu. Die Bundesregierung meint, daß man dabei nicht nur auf die Ausgabenseite, sondern in Zukunft auch mehr auf die Einnahmeseite sehen muß.
({15})
Drittens schließlich haben alle eine besondere Verantwortung, die in der Praxis über Preise und Kosten entscheiden, nämlich die Unternehmer, der Handel und die Tarifvertragsparteien.
({16})
Die Bundesregierung steht zur Tarifautonomie. Sie erwartet, daß alle Beteiligten diese Freiheit verantwortungsbewußt nutzen. Im übrigen wird die Bundesregierung prüfen, welche gesetzlichen Maßnahmen notwendig sind, um das konjunkturpolitische Instrumentarium zu ergänzen und zu verfeinern.
Die Wirtschaft in unserer Bundesrepublik ist gegenwärtig in einer erfreulichen Aufwärtsentwicklung: Wir haben Vollbeschäftigung, das soziale Klima ist stabil, die Zahlungsbilanz ist ausgeglichen, die Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner, der Selbständigen nun auch der Landwirte - sind nicht unerheblich gestiegen. Das sind alles keine Selbstverständlichkeiten, wie ein Blick über unsere Grenzen zeigt.
({17})
Ich hoffe jedoch, die meisten werden es richtig verstehen, wenn ich hier gleich etwas hinzufüge, nämlich dies: Wer nur neue Forderungen stellt, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein, wird der Lage, auch der eigenen Interessenlage, nicht gerecht;
({18})
er kann nicht erwarten, ernst genommen zu werden.
({19})
Wem es wirklich am Herzen liegt, daß die Gemeinschaftsaufgaben vorangebracht werden, und wer den soliden Fortschritt will, der muß im Zuwachs des persönlichen Verbrauchs auch einmal langsamer treten.
({20})
Reformgerede, hinter dem sich nur Gehaltsforderungen tarnen, taugt wenig.
({21})
Niemand soll glauben - und ich sage dies keineswegs nur an eine Adresse -, wir könnten mit selbstverständlicher Automatik mehr verdienen, wenn wir weniger leisten.
({22})
Meine Damen und Herren, bei der Vermögensbildung können wir uns auf gute Erfolge mit der Sparförderung stützen. Auch hieran darf ich erinnern: Bereits zwei Drittel aller Arbeitnehmer nehmen an den Vergünstigungen nach dem 624-DMGesetz teil.
Der Schutz des Eigentums, aber auch die Beachtung seiner Sozialbindung sind bei dieser Regierung in guten Händen.
({23})
Auf der Grundlage der Eckwertbeschlüsse vom Juni 1971 zur Steuerreform und zur Vermögensbildung wird die Bundesregierung einen Vorschlag ausarbeiten,
({24})
durch den breitere Schichten der Bevölkerung am Zuwachs des Produktivvermögens der Großunternehmen beteiligt werden sollen. Außerdem werden wir den Erwerb von Wohneigentum im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms erleichtern.
Zu den dringenden Aufgaben dieser Legislaturperiode zählt die Sicherung eines funktionsfähigen Wettbewerbs. Dieser aber ist unerläßlich für die Produktivität der Wirtschaft und den sozialen Fortschritt. Die Verschärfung des Wettbewerbs dient dem Interesse der Bürger; wer den Wettbewerb einschränkt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die marktwirtschaftlichen Prinzipien in Mißkredit geraten.
({25})
Wir begrüßen es, daß die Koalitionsfraktionen den Kartellgesetzentwurf unverzüglich im Bundestag wieder einbringen wollen. Die Bundesregierung wird daran mitwirken, daß der Entwurf in den Ausschußberatungen ausgebaut und verbessert wird. Wir müssen dabei auch die Probleme berücksichtigen, die sich aus „abgestimmten Verhaltensweisen", der Preisbindung und dem Mißbrauch von Preisempfehlungen ergeben. Fusionskontrolle und Mißbrauchsaufsicht dienen vor allem der Erhaltung des Wettbewerbs der Großunternehmen. Mit Erleichterungen für die Kooperation wird den kleinen und mittleren Unternehmen geholfen, ihre wichtige Funktion in unserer Wirtschaftsordnung zu erfüllen.
Die Stärkung und Sicherung des Wettbewerbs sollen durch einen wirksamen Schutz des Verbrauchers flankiert werden, mit dem auch seine Marktposition verbessert wird. Durch die Neuordnung des Lebensmittel- und Arzneimittelrechts soll er vor Gesundheitsschäden bewahrt, durch andere Maßnahmen vor Täuschungen geschützt werden.
Die Wirtschaft muß sich, so meinen wir, nicht nur auf die Notwendigkeiten des Tages, sondern mehr noch auf die Forderungen der Zukunft vorbereiten, auch auf die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Unsere Strukturpolitik will helfen, dies zu erleichtern. Die Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung soll genutzt werden. Die Strukturpolitik soll sektorale und regionale Wandlungsprozesse einleiten und soziale Risiken vermindern, ohne die gesamtwirtschaftlich notwendigen Anpassungsvorgänge zu verhindern. Strukturelle Veränderungen, die rechtzeitig vorgenommen werden, verbessern auf längere Sicht auch die Voraussetzungen für die Stabilitätspolitik.
Die Bundesregierung wird sich - neben der Agrarpolitik, von der gleich noch zu reden sein wird - besonders der Energiepolitik annehmen. Wenn sich unsere Volkswirtschaft gesund weiterentwickeln soll, muß die Energieversorgung langfristig gesichert sein.
({26})
Bei der Strukturanpassung werden wir dafür sorgen, daß die deutsche Steinkohle als wichtigste heimische Energiequelle eine angemessene Aufgabe in der Energieversorgung unseres Landes behält.
({27})
Wir werden unsere Vorstellungen von einem
energiepolitischen Gesamtkonzept beiden gesetzgebenden Körperschaften noch in diesem Jahr vorlegen.
Im März wird die Bundesregierung den Haushalt 1973 einbringen und die Fortschreibung der Finanzplanung bis zum Jahre 1976 vorlegen. Einem großen Teil unserer Bürger ist es klar, daß der Staat die Leistungen, die sie in wachsendem Maße von ihm erwarten, nicht mit weniger Einnahmen erbringen kann, sondern daß die finanzielle Leistungskraft der öffentlichen Hand gesichert und gestärkt werden muß. Dazu gehört der schrittweise Abbau nicht mehr gerechtfertigter Steuervergünstigungen und Subventionen.
({28})
Steigende Forderungen an die Erfüllung öffentlicher Aufgaben können - im Rahmen der stabilitätspolitisch gebotenen Grenzen - nur bei einer angemessenen Finanzausstattung von Bund, Ländern und Gemeinden erfüllt werden. Die Bundesregierung bejaht - ich möchte das hier ausdrücklich betonen - die gesamt staatliche Verantwortung für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden.
Die in der vergangenen Legislaturperiode begonnene Arbeit an der Steuerreform, die früher schon so oft angekündigt worden war, wird nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Vereinfachung des Steuersystems zügig fortgesetzt.
({29})
Die Grundkonzeption ist in den Eckwertbeschlüssen vom Juni und Oktober 1971 festgelegt worden. Unter Beachtung der Ausgewogenheit soll das Ziel verfolgt werden, die Belastungs- und Entlastungswirkungen insgesamt zeitlich nicht auseinanderfallen zu lassen.
Im Zusammenhang mit der Steuerreform wird der Familienlastenausgleich neu geregelt werden. Die Bundesregierung strebt eine Lösung an, die alle Kinder berücksichtigt, die Entlastung der Familie gerechter regelt und eine einfache Verwaltung erlaubt.
Und auch dies noch, meine Damen und Herren: Zur Steuergerechtigkeit gehört natürlich auch: Von allen Bürgern muß erwartet werden, daß sie ihre Steuerpflicht erfüllen. Bürgergesinnung beweist sich auch in der Ehrlichkeit, mit der jeder nach seiner Fähigkeit seinen Beitrag für das Ganze leistet.
({30})
Meine Damen unid Herren, ich hatte eben, als ich von den Schwerpunkten der Strukturpolitik sprach, die Landwirtschaft für einen Augenblick ausgegliedert und will deshalb hinzufügen: Im Gemeinsamen Markt und im nationalen Bereich wird die Bundesregierung ihre Agrar- und Ernährungspolitik, die erfolgreich war, konsequent fortsetzen.
Der Ausbau und die stärkere Betonung der Agrarsozialpolitik haben den Anpassungsprozeß der Landwirtschaft erleichtert und soziale Härten vermieden. Die Neuorientierung der Agrarstrukturpolitik war
hier eine Hilfe. Sie gab die Richtung für die im vergangenen Jahr in Brüssel vom Ministerrat beschlossene Konzeption der landwirtschaftlichen Strukturpolitik in der Europäischen Gemeinschaft.
Unser Ziel wird es bleiben, die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen an ,der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilnehmen zu lassen. Die Landwirtschaft muß zu einem gleichrangigen Teil unserer modernen Volkswirtschaft werden.
({31})
Die Bundesregierung wird sich in der Europäischen Gemeinschaft im Interesse unserer Landwirte um bessere Wettbewerbsbedingungen bemühen. Fortschritte bei der Integration der Wirtschafts- und Währungspolitik sind dafür notwendig. Wir werden auch künftig Möglichkeiten für berufliche Alternativen und Einkommen aus anderen Tätigkeiten fördern. Die Sozialpolitik und die Strukturpolitik sollen in enger Verbindung mit der allgemeinen Regionalpolitik fortentwickelt werden.
Die Bundesregierung wird hier im Februar über ihre altrar- und ernährungspolitischen Maßnahmen berichten. Dabei wird natürlich auch die Kosten- und Preisentwicklung erneut zu prüfen sein. Lassen Sie mich jetzt nur hinzufügen: Agrarpolitik in unserer Zeit muß Politik für die Menschen im ländlichen Raum sein; sie muß sich auch an den Interessen der Verbraucher orientieren. Sie muß überdies Politik für die Menschen sein, die auf dem Lande Ruhe und Erholung suchen.
Meine Damen und Herren, ich möchte nun einige grundsätzliche Bemerkungen machen: Wirtschaftliches Wachstum und steigender Wohlstand haben seit dem Zweiten Weltkrieg den Lebensstandard unserer Bürger wesentlich verbessert. Mehr Produktion bedeutet aber noch nicht automatisch mehr Freiheit für den einzelnen. Lebensqualität ist mehr als Lebensstandard. Sie ist Bereicherung unseres Lebens über Einkommen und Konsum hinaus. Sie setzt ein neues Verständnis vom Allgemeininteresse voraus. Sie hängt immer mehr davon ab, wieviel gute Nachbarschaft es bei uns gibt und was die Gemeinschaftseinrichtungen zu leisten vermögen.
({32})
Weder die einzelnen noch die Gemeinschaft können auf die Dauer auf Kosten der Natur leben.
({33})
Sonst wird die Entwicklung unserer Umwelt inhuman, zumal dort, wo die Experten von „Verdichtungsräumen" sprechen.
Lärm, Luft- und Wasserverschmutzung und Störungen des Naturhaushaltes stellen in der Tat die Vorteile des wirtschaftlichen Wachstums in Frage. Doch ich warne zugleich vor dem gedanklichen Kurzschluß, den Ausweg etwa in einer generellen Einschränkung des Wachstums und der Produktivität zu sehen.
({34})
Es geht vielmehr um die Frage des Wo, Wie und Wofür des wirtschaftlichen Wachstums - und um die Einsicht, daß Wachstum und ökonomisches Prinzip im Dienste des Menschen stehen müssen.
({35})
Wenn die „Verhältnisse" nicht über uns herrschen sollen, sondern wenn wir sie beherrschen wollen, dann müssen wir ein wenig schärfer nachdenken, mitunter sogar härter arbeiten als bisher.
({36})
Umweltschutz, Raumordnung, Stadtentwicklung, Verkehrsausbau und damit die Verbesserung der Lebens-, Arbeits-, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten müssen in engem Zusammenhang gesehen werden. Wir werden unser Umweltprogramm verwirklichen und weiter entwickeln. Zunächst wollen wir die Gesetze, die wegen der Verkürzung der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet wurden, wieder vorlegen.
Im Alltag muß durchgesetzt werden, daß die Verursacher von Umweltschäden die Kosten für die Beseitigung zu tragen haben.
({37})
Und auch dies muß generelle Leitlinie sein: Schädigungen der Umwelt sind kein Kavaliersdelikt;
({38})
sie müssen als kriminelles Unrecht bestraft werden.
({39})
Wir dürfen uns - auch dies lassen Sie mich sagen - durch düstere, manchmal allzu düstere Prognosen nicht entmutigen lassen. Im Gegenteil, wir müssen sie als Herausforderung betrachten, mit den erkannten Gefahren fertig zu werden. In Zukunft kommt es stärker darauf an, eine Schädigung unserer Umwelt, wo immer es geht, zu vermeiden, sie nicht erst eintreten zu lassen.
({40})
Wir brauchen umweltfreundliche Produkte und neue Technologien, aber auch Siedlungsstrukturen, die das notwendige Gleichgewicht des Naturhaushalts beachten und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Die Menschen insgesamt haben ein elementares Recht auf eine menschenwürdige Umwelt, dem Verfassungsrang zukommen sollte.
Für unsere Gesellschaft ist manches lebenswichtig geworden, was uns einer natürlichen Existenz wieder näherbringen kann - auch Sport und Spiel. Die Olympischen Spiele 1972, über die am Schluß ein so tragischer Schatten fiel, haben dem Sport in unserem Lande neue Aufmerksamkeit verschafft. Wir wissen, daß gerade auch der Sport das Verlangen nach der Freude am Leben erfüllen kann. Das ist um so wichtiger, weil unsere tägliche Existenz eingepfercht ist in die Normen einer oft monotonen und überstrapaziösen Arbeitswelt. Bund und
Länder müssen das ihre tun, um neben dem Spitzensport auch dem Breitensport Auftrieb zu geben. Das sollte mit dem weithin vernachlässigten Schulsport anfangen.
({41})
Für alle Bürger in unserem Bundesstaat müssen gleichwertige Lebenschancen geschaffen und gesichert werden. Dazu wird eine Konzeption für die räumliche Entwicklung des Bundesgebietes ausgearbeitet, eine bessere regionale Abstimmung der Bundesmaßnahmen vorgenommen werden. Städtische Verdichtungsräume und ländliche Gebiete müssen sich in ihren Funktionen gegenseitig ergänzen. Bund und Länder haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode wesentliche Arbeiten am Bundesraumordnungsprogramm geleistet. Die Bundesregierung wird auf einen raschen Abschluß drängen.
Die regionale Strukturpolitik, wie sie von Bund und Ländern - mit der Konzentration auf räumliche und sachliche Schwerpunkte - gemeinsam entwickelt worden ist, darf erfolgreich genannt werden. Auf diesem Wege wollen wir fortfahren. Das Zonenrandgebiet werden wir nicht vernachlässigen. Dem Ausbau der. Infrastruktur geben wir Vorrang.
({42})
Es liegt auf der Hand, daß in unseren Städten und Gemeinden - und zwar mit erheblichen Anstrengungen - Einrichtungen und Dienste geschaffen werden müssen, die bisher zu kurz gekommen sind.
Ich will im übrigen sagen, daß unsere Wohnungsbaupolitik, die individuelle Wohngeldhilfe und die Modernisierung der Bautätigkeit fortgeführt werden sollen. Die Befristung des Kündigungsschutzes im sozialen Mietrecht werden wir überprüfen.
Als einen Schwerpunkt unserer Arbeit nenne ich die Reform des Bodenrechts und des gemeindlichen Planungsrechts.
({43})
Mit dem Städtebauförderungsgesetz verfügen die Gemeinden schon über bessere Möglichkeiten, im Zusammenwirken mit Eigentümern und Mietern die Innenstädte zu sanieren und Neubaugebiete so zu planen, daß sie dem Anspruch der Bürger auf eine menschenwürdige Umwelt besser dienen. 'Wir wollen diese Möglichkeiten in das allgemeine Baurecht übertragen. Die Steigerung im Kaufwert, die Grundstücken durch Planungen und Investitionen der öffentlichen Hand zufällt, soll zur Finanzierung herangezogen werden. Wir werden eine Bodenwertzuwachssteuer vorbereiten, die zur Bekämpfung des Preisanstiegs auf dem Bodenmarkt beiträgt und das Angebot an Bauland in städtischen Regionen größer werden läßt. Damit soll auch das Ärgernis der verantwortungslosen Bodenspekulation zurückgedrängt werden.
({44})
Um die Lebensbedingungen in den Städten zu verbessern, müssen zur Lösung der Probleme des Nahverkehrs neue Modelle erprobt werden. Der öffentliche Personennahverkehr hat Vorrang vor dem Individualverkehr.
({45})
Dabei hat es gar keinen Sinn, nicht gleich hinzuzufügen, daß die dafür erforderlichen Programme in dieser Legislaturperiode und über kommende Legislaturperioden hinweg sehr viel Geld kosten werden. Wir werden deshalb vorschlagen, die Verwendung des zweckgebundenen Anteils der Einnahmen aus der Mineralölsteuer auf weitere verkehrspolitische Ziele auszuweiten. Der Bau von Bundesfernstraßen wird selbstverständlich weitergehen.
Die Verkehrssicherheit verlangt unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich appelliere an die Industrie und an die Forschung, sich darum mehr zu kümmern; aber auch an die Verkehrsteilnehmer selbst, denn sie sind schließlich auf ihre Weise dafür verantwortlich, daß man sich auf unseren Straßen sicher fühlen kann. Die erschreckende Zahl der Verkehrstoten und -verletzten macht es notwendig, daß wir ein noch leistungsfähigeres Rettungswesen aufbauen.
Meine Damen und Herren, die Bedeutung des Schienenverkehrs wird wieder zunehmen. Er ist besser für die Umwelt, volkswirtschaftlich leistungsfähig und für die Gemeinschaft unentbehrlich. Die betriebswirtschaftliche Lage der Bundesbahn ist jedoch schlecht. Die Schere zwischen den Kosten und Erträgen hat sich - vor allem immer noch wegen der Kriegsfolgen, aber auch wegen der Personalkosten - in den letzten 20 Jahren trotz Rationalisierung nicht schließen lassen, sondern immer weiter geöffnet. Darum müssen alle Möglichkeiten zur Verbesserung der Ertragslage genutzt werden. Doch wir müssen wissen, daß auch dann, wenn wir diese Möglichkeiten zur Besserung der Ertragslage nutzen, die Erträge die Kosten nicht voll werden decken können. Die Bundesregierung wird der Bahn deshalb vor allem beim Ausbau und bei der Modernisierung des Schienennetzes zu helfen haben.
Auch die wirtschaftliche Lage der Deutschen Bundespost ist unbefriedigend. Das internationale Niveau der Post- und Fernmeldegebühren setzt Grenzen für eine Erhöhung der Tarife. Die Post wird sich auf ein Dienstleistungsangebot konzentrieren müssen, das sich stärker am Markt und an den Kosten orientiert. Diese Aufgabe wird sie - wie wir überzeugt sind nach Inkrafttreten des neuen Postverfassungsgesetzes mit größerer unternehmerischer Selbständigkeit leichter lösen können.
Meine Damen und Herren, die Qualität des Lebens - ich sprach davon schon ist zu einem zentralen Begriff unserer politischen Arbeit geworden. Sie darf nicht zur abstrakten Formel gerinnen. Sie heißt für uns: Freiheit, auch Freiheit von Angst und Not, Sicherheit auch durch menschliche Solidarität. Für mich geht es mit um die alte Wahrheit, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt.
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- Man wird ja wohl auch vor einer Christlich-Demokratischen Union noch auf die Bibel zurückgreifen dürfen.
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Diese technische Zivilisation, die der Mensch, auch aus der Freude an der Leistung geschaffen hat, soll er mit geistigen Werten durchdringen und damit menschlicher machen.
Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung habe ich in meiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 an die Spitze der notwendigen Reformen gestellt. Daran hat sich nichts geändert. Es war allerdings sehr schwierig, zwischen Ländern und Bund eine gemeinsame Grundlage zu finden. Wir müssen nun einen neuen Anlauf nehmen. Dazu ist eine größere Kooperation aller Länder erforderlich.
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Die Bundesregierung wird ihre Kompetenzen ganz nutzen, um die gesamtstaatliche Bildungsplanung mitzugestalten. Sie will das Ziel der Einheitlichkeit unseres Bildungswesens in der Reform sichern.
Die Bildungsreform ist - wie die meisten von uns wissen - ein langer und ein teurer Prozeß. Ihre Ziele, ihr Zeitverlauf und ihre Kosten sollten so schnell wie möglich in einem Gesamtplan und in einem Budget in diesem gemeinsamen Arbeitsprozeß von Bund und Ländern dargestellt werden, damit ein gemeinsames Gerüst für die Reform entsteht. Die Bürger sollen dadurch wissen können, bis wann welche Ziele erreicht sein können.
Zu oft wird Bildungsreform bei uns noch als bloße Verlängerung der Ausbildungsdauer verstanden. Chancengleichheit fördern wir jedoch nicht durch eine immer längere Ausbildung für wenige, sondern durch eine möglichst gute Ausbildung für viele, wenn nicht für alle, einschließlich der Förderung der besonders Begabten. Die Verkürzung der Jahre in der Oberstufe der Schule, also eine Schulzeit von insgesamt 12 Jahren, erscheint der Bundesregierung vernünftig und notwendig.
({49})
Die Chancengleichheit verlangt für die berufliche Bildung den gleichen Rang, wie ihn andere Bildungsbereiche haben. Diesem Ziel dient auch die Konzentration der Kompetenzen des Bundes an einer Stelle.
Berufliche und allgemeine schulische Bildung müssen stärker miteinander verflochten werden.
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Neben der Ausbildung für eine bestimmte berufliche Tätigkeit ist der Vermittlung allgemeiner Wissensgrundlagen größeres Gewicht zu geben.
Die Bundesregierung sucht bei der Reform der beruflichen Bildung die Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, mit den Gewerkschaften und mit den Verhänden der Wirtschaft. Sie kennt die Bedeutung der Betriebe als Ausbildungsstätten. Aber sie will dafür sorgen, daß die berufliche und die gesellschaftliche Entwicklung des einzelnen nicht durch das besondere wirtschaftliche Interesse eines Betriebes beeinträchtigt werden kann. Deshalb sind ergänzende überbetriebliche Ausbildungsstätten notwendig.
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Unsere Aufmerksamkeit gilt auch den Jugendlichen, die kein Ausbildungsverhältnis herkömmlicher Art eingehen. Das Berufsbildungsgesetz muß neu gefaßt werden.
Meine Damen und Herren, Bund und Länder haben in den vergangenen Jahren mehr Studienplätze geschaffen, sie haben den Ausbau und die Reform von Wissenschaft und Lehre an den Hochschulen gefördert. Das soll fortgesetzt werden. Durch die Hochschulrahmengesetzgebung wird die Bundesregierung darauf drängen, daß die Studienreform verwirklicht wird. Die Bundesregierung ist dafür, daß die Studienzeiten verkürzt, das Studienjahr eingeführt und der Numerus clausus abgebaut werden.
({52})
Die Vielfalt der Meinungen in Forschung und Lehre gehört zur Freiheit wissenschaftlicher Arbeit. Intoleranz schadet Wissenschaft und Lehre und auch dem Lernen.
({53})
Die Stätten der Lehre und Forschung dürfen nicht
in politische Kampfstätten umfunktioniert werden.
({54})
Über Erkenntnisse und Wahrheit kann übrigens nicht mit Mehrheit beschlossen werden.
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Die Anerkennung dieser Prinzipien entscheidet, ob die Demokratisierung der Hochschulen gelingen wird und ob sich in den Universitäten die Kräfte der Reform behaupten können. Sie, die Kräfte der Reform, möchte ich von dieser Stelle aus bitten, sich nicht entmutigen zu lassen und sich nicht zu zersplittern.
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Forschung und Technologie bestimmen die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend mit. Sie zu fördern ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Wirtschaft. Die hohen Aufwendungen in diesen Bereichen zwingen zu klaren Prioritäten und erfordern eine Abstimmung aller Forschungszweige. Große Forschungszentren werden ihre Zielsetzung teilweise ändern und sich neuen Aufgaben öffnen müssen.
Die Bundesregierung wird sich darum bemühen, die internationale Zusammenarbeit in Forschung und Technologie, auch mit den Ländern des Ostens, auszuweiten. In der erweiterten Europäischen Gemeinschaft werden wir noch stärker auf das Konzept einer gemeinsamen Forschungs- und Technologiepolitik drängen.
Die Bundesregierung wird darauf achten, daß nicht nur die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, sondern auch der Bedarf für solche Entwicklungen und daß außerdem die sozialen und gesellschaftlichen Folgen in die Forschung einbezogen werden. Dazu gehört, daß den Problemen der Gesundheit, des Umweltschutzes, der Stadtforschung, darüber hinaus aber auch der gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenforschung größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Technische Groß130
projekte - wie in den Bereichen der Weltraumforschung, der Luftfahrt, der neuen Verkehrstechnologie, der Kerntechnik und der Datenverarbeitung - werden in Zukunft stärker daran zu messen sein, was sie zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen beitragen.
Neuerungen auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung und Kommunikation beeinflussen mehr und mehr die technisch-wirtschaftliche Entwicklung, aber auch das Zusammenleben der Menschen. Für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems wird die Bundesregierung zusammen mit den Ländern, der Wissenschaft und der Wirtschaft ihre Vorschläge entwickeln. Bei der Entwicklung der Nachrichtentechnologie fällt der Bundespost eine besondere Rolle zu.
Meine Damen und Herren! Aus der Sicht und Verantwortung des Bundeskanzlers will ich einige andere kulturpolitische Aufgaben, wenn auch nur sehr kurz, erwähnen.
Zunächst weise ich darauf hin, daß die umfassende Information des Bürgers und die Meinungsvielfalt in den Massenmedien für unsere Demokratie lebenswichtig sind. An der Meinungsfreiheit läßt die Bundesregierung nicht rütteln.
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Die Verfügungsgewalt einzelner über wichtige Kommunikationsmittel darf nicht dazu führen, daß nur eine Meinung zu Wort kommt.
({58})
Das Wettbewerbsrecht wird auch eine Fusionskontrolle für Presse- und Medienunternehmen umfassen müssen.
({59})
Zur Pressefreiheit und Medienfreiheit gehört die Freiheit i n der Presse und in den Medien.
({60})
Die Arbeit am Entwurf des Presserechtsrahmengesetzes ist darum vordringlich. Eine einheitliche und klare Regelung soll das Zeugnisverweigerungsrecht in Presse und Funk garantieren. Der öffentlichrechtliche Charakter des Rundfunkwesens darf nicht ausgehöhlt werden.
({61})
Auch für die Medien ist richtig, was für die Kunst, die Künste wahr ist: zu ihrem Wesen gehört Freiheit. Die Kunst ist jeder Bevormundung - auch der des guten Willens - entzogen. Trotzdem können wir helfen, ein Klima zu schaffen, in dem die Aufgeschlossenheit für die Künste wächst: Die bildende Kunst - um nur sie als Beispiel zu nennen - kann sehr wohl die Qualität unserer Umwelt stärker bestimmen. Dafür wollen wir das Interesse staatlicher und privater Bauherren wecken. Die Literatur ist uns eine kritische Begleiterin geworden, die wir nicht entbehren wollen.
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Für alle Kunst ist der Weg in die Politik kürzer geworden, und das ist gut so.
Es würden sich, wie ich meine, meine Damen und Herren, viele Träume erfüllen, wenn eines Tages öffentliche und private Anstrengungen zur Förderung der Künste in eine Deutsche Nationalstiftung münden könnten.
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Ansätze dazu böte die „Stiftung preußischer Kulturbesitz", an der neben dem Bund Bundesländer beteiligt sind. In einer Nationalstiftung könnte auch das lebendige Erbe ostdeutscher Kultur eine Heimat finden.
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Die Welt hat im übrigen in den vergangenen Jahren beispielhafte Leistungen der jungen deutschen Künste, aber auch Wesentliches aus unserer kulturellen Tradition kennengelernt. Das soll intensiver geschehen.
Die Reform der auswärtigen Kulturpolitik wird fortgesetzt. Ich weiß, wie stark dieses Thema auch den vorigen Bundestag interessiert hat und diesen vermutlich interessieren wird. Die Reform unserer auswärtigen Kulturpolitik wird mit darüber entscheiden, ob unsere Sprache draußen lebt und welches Bild man sich künftig von unserer Gesellschaft machen wird.
Wenn ich die etwas scherzhafte Zwischenbemerkung einfügen darf: Der Wunsch, daß unsere Sprache draußen leben möge, sollte nicht dazu führen, sie im Innern verkümmern zu lassen. Ich sage das aus gegebenem Anlaß, nämlich aus der Beschäftigung mit Texten in den hinter mir liegenden Tagen.
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Meine Damen und Herren! Moderne Sozialpolitik handelt nicht mehr nur davon, die Furcht vor materieller Not und sozialem Abstieg zu beseitigen. Sie strebt nach mehr Gerechtigkeit, und sie will bewirken, daß in unserer Gesellschaft mehr reale Freiheit herrscht.
In den hinter uns liegenden Jahren ist die soziale Sicherung in unserem Lande wesentlich ausgebaut worden. In dieser Legislaturperiode werden wir uns noch mehr d e n Menschen zuwenden, die durch persönliches Schicksal am Rande der Gesellschaft leben. Ich meine hier vor allem die Eingliederung der vielen Behinderten und Schwerbeschädigten.
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Großer Einfallsreichtum ist nötig, wenn es um die Wiedereingliederung der Behinderten in den Arbeitsprozeß geht. Die Bundesregierung wird darauf hinwirken, daß einheitliche Leistungen für berufliche, schulische, medizinische und psychische Rehabilitation gewährt werden.
Wir denken hier, meine Damen und Herren, auch an die geistig Behinderten, vor allem an die Kinder. Es ist durch bewundernswerte und geduldige Arbeit bewiesen worden, wie viele von ihnen zur Rehabilitation fähig sind, wenn man sich ihrer nur annimmt. Diese Erfahrungen können auch Älteren zugute
kommen. Aber vergessen wir nicht: Die unheilbar Kranken brauchen unsere tätige Barmherzigkeit mehr als alle anderen.
Ich bin besonders dankbar, daß die Kirchen sich hier helfend bewähren; gerade in dieser Arbeit geben sie ein Beispiel. Die sozialen Einrichtungen der karitativen Organisationen und der freien Wohlfahrtspflege sollen vom Staat nicht angetastet werden; denn die Gemeinschaft braucht sie.
({67})
Auch bei den älteren Mitbürgern geht es nicht allein um die Sicherung der materiellen Existenz, sondern gleichzeitig um die Hilfe zur menschlichen Selbstbehauptung. Gelingen kann sie nur, wenn staatliche und private Kräfte über ihre Pflichten hinaus für die ältere Generation zusammenarbeiten. Ich zögere nicht, hier unmittelbar an den Familiensinn zu appellieren, der hier und dort zu verkümmern droht. Man muß es wieder lernen, Solidarität gegen-, über den Nächsten zu üben - es sind oft die Eltern, die Großeltern.
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Die Geschichte unserer modernen Zivilisation ist auch die Geschichte eines oft dramatischen Kampfes gegen die Krankheit. Der medizinische Fortschritt muß allen unseren Bürgern gleichermaßen zugute kommen. Das gilt besonders für die ärztliche Versorgung auf dem Lande.
Wir werden die gesundheitliche Aufklärung verstärken und das Arzneimittelrecht neu ordnen. Für die Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten muß - durch weiterentwickelte Krankenversicherung - mehr getan werden. Am Grundsatz der freien Arztwahl und einer freien Ausübung der Heilberufe wollen wir festhalten.
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Vor allem müssen wir - und dies ist ein weiterer Schwerpunkt - den Mißbrauch von Rauschmitteln verhindern helfen.
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Unser Aktionsprogramm gibt dazu die Richtpunkte. Wir können, wir dürfen es nicht hinnehmen, daß viele unserer jungen Menschen durch die Profitinteressen weniger Rauschgifthändler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit getrieben werden. Der Handel mit harten Drogen ist die Anstiftung zum Selbstmord auf Raten.
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Nun zu einem anderen, aus unserer Sicht wichtigen Gegenstand: In unserer Mitte arbeiten fast zweieinhalb Millionen Menschen aus anderen Nationen; mit ihren Angehörigen bilden sie eine starke Minderheit in unserem Land. Wir wissen, daß es allzuoft die Not ist, die sie zu uns führt. Wir wissen aber auch, wie sehr sie mit ihrem Fleiß zu unser aller Wohlstand beitragen, und das sollten wir anerkennen.
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Es ist aber, meine Damen und Herren, notwendig geworden, daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten. Wir dürfen das Problem nicht dem Gesetz des augenblicklichen Vorteils allein überlassen.
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Also wird es auch gelten, diese Dinge im Zusammenhang darzustellen und Lösungsvorschläge daraus abzuleiten.
Dies ist eine riesenhafte und komplexe Aufgabe für alle, vom Bund bis zu den Unternehmensleitungen. Sie verlangt den solidarischen Geist, den die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften vielfach schon bewiesen haben. Für alle Bürger wird die gute Nachbarschaft mit diesen Minderheiten die tägliche Toleranzprobe, eine Reifeprüfung ihres demokratischen Bewußtseins sein.
Weitere wichtige Aufgaben kann ich, bei aller Bedeutung, heute nur noch stichwortartig erwähnen: Ausgestaltung des Arbeitsrechts und des Arbeitsschutzes, vor allem auch Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz. Weiter: Überschaubare und verständliche Zusammenfassung des Arbeits- und des Sozialrechts.
Den Ausbau der Mitbestimmung sehen wir als eine unserer Hauptaufgaben. Mitbestimmung gehört zur Substanz des Demokratisierungsprozesses unserer Gesellschaft.
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In ihr erkennen wir die geschichtliche Voraussetzung für jene Reformen, die in ihrer Summe den freiheitlichen Sozialstaat möglich machen. Mitbestimmung - als Ordnungselement im Arbeitsleben, aber nicht nur dort - heißt natürlich auch: Mitverantwortung tragen; beides gehört zusammen.
Wir werden das Unternehmensrecht im Sinne der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode weiterentwickeln. Jedermann weiß - und es ist keine Schande, dies einzugestehen -, daß es zwischen ,den Regierungsparteien unterschiedliche Auffassungen gibt; aber genauso, wie wir uns beim Betriebsverfassungsgesetz verständigt haben, werden wir auch hier eine gemeinsame Lösung finden. Dabei gehen wir schon jetzt aus vom Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern.
({75})
Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer wird uns auch in der Europäischen Gemeinschaft mehr als bisher beschäftigen.
Nach der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes muß in Kürze das Personalvertretungsgesetz verabschiedet werden, das die Mitbestimmung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes in personellen, sozialen und sachlichen Angelegenheiten erweitert.
Außerdem wird die Bundesregierung in engem Kontakt mit den beteiligten Gruppen erörtern, ob und wieweit es sinnvoll ist, die Konzertierte Aktion
und die Sozialpolitische Gesprächsrunde zu einem
gemeinsamen Konsultativorgan weiterzuentwickeln.
Auch die jugendlichen Arbeitnehmer haben mit dem Betriebsverfassungsgesetz mehr Mitwirkung und Mitbestimmung erhalten. Nachdem wir die 18jährigen an der Verantwortung für Staat und Gesellschaft beteiligt haben, können und sollen sie mehr eigene Verantwortung auch im persönlichen Bereich durch volle Geschäftsfähigkeit und Ehemündigkeit bekommen.
Weiter soll das bisherige Jugendwohlfahrtsrecht durch ein partnerschaftliches Jugendhilferecht ersetzt werden.
Ich will aber auch bewußt an die Pflichten der jungen Menschen gegenüber dem Staat erinnern. Wir haben - um ein Beispiel zu nennen - die allgemeine Wehrpflicht; sie gilt es gerecht durchzusetzen. Dazu braucht es auch eine ausreichende Zahl von Ersatzdienstplätzen. Das ist nicht nur ein Gebot der Wehrgerechtigkeit. Das liegt auch im eigenen Interesse der Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, weil so der Anreiz geringer wird, ein Grundrecht durch Mißbrauch abzuwerten.
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Die Reform des Ersatzdienstes, den wir in einen Zivildienst umwandeln wollen, sollte vom Bundestag möglichst rasch wieder behandelt werden.
Was nun die Verwirklichung der im Grundgesetz verbürgten Gleichberechtigung der Frau in Staat und Gesellschaft angeht, so meinen wir, sie könne nicht allein durch den Abbau rechtlicher Benachteiligungen geschehen. Wir nissen das gesellschaftliche Klima in unserem Land verbessern - wie wir wohl auch noch aus der Vorbereitung der Bundestagswahlen und den Nominierungen wissen -, damit das neue Selbstbewußtsein und das politische Engagement der Frauen wirksamer werden können. Die Bundesregierung möchte mithelfen, Vorurteile abzutragen, um damit einem der großen Wandlungsprozesse unserer Zeit besser als bisher gerecht zu werden.
Zu unseren Aufgaben gehört die weitere Arbeit am neuen Ehe- und Familienrecht. Auch das Recht des Kindes ist neu und besser zu ordnen. Weiter beschäftigt uns, allerdings als langfristige Aufgabe, wie ich ausdrücklich hinzufüge, eine eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen. Die Öffnung der Rentenversicherung und die Berücksichtigung von Ausfallzeiten sind Schritte, wenn auch bescheidene Schritte in diese Richtung.
Neben einem Abbau kinderfeindlicher Tendenzen und dem Ausbau der Familienplanung bedarf es, so meinen wir, in dieser Legislaturperiode einer Reform des § 218. Die Bundesregierung geht nach ihren Gesprächen mit den Koalitionsfraktionen davon aus, daß diese Reform auf Grund von Vorschlägen aus der Mitte des Parlaments beraten und verabschiedet werden kann.
({77})
Meine Damen und Herren, der Staat braucht das lebendige Gespräch mit seinen Bürgern. Er kann nicht und soll nicht alles tun wollen. Deshalb begrüßen wir die Bereitschaft von Bürgerinitiativen - die sich nicht nur zu Wahlzeiten regen -, in der sozialen Landschaft der Städte und Dörfer gemeinsame Probleme selbst aufzugreifen, statt nur nach dem Staat zu rufen.
Die Wahlen haben unserer Meinung nach im übrigen bewiesen, daß der eigentliche politische Extremismus bei uns keine Chance hat. Aber wir bleiben wachsam, und die Feinde der Verfassung sind gut beraten, wenn sie heute wie morgen mit unserer entschlossenen Abwehr rechnen.
Ein Gegensatz zwischen unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung und dem berechtigten Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit darf nicht entstehen, denn Demokratie und innere Sicherheit gehören zusammen. 1972 haben wir notwendige Gesetze zur wirksameren Verbrechensbekämpfung und -verhütung verabschiedet. Auf der Grundlage des Programms, das von der Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder für die innere Sicherheit ausgearbeitet wurde, werden wir die zuständigen Organe, soweit der Bund für sie verantwortlich ist, weiter stärken.
Neue Formen des Verbrechens und des Terrors - nicht zuletzt die Luftpiraterie - verlangen internationale Zusammenarbeit, um die wir uns energisch bemühen.
Die Justizreform wird fortgesetzt. Die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten soll gesetzlich geregelt werden. Die Strafrechtsreform wird weitergeführt. Der Strafvollzug soll zum ersten Male auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt werden.
Die Wirtschaftskriminalität wird oft nicht ernst genug genommen. Wir betrachten die alarmierend wachsenden Wirtschaftsdelikte nicht als Sport wenig ehrenwerter Herren. Der Wirtschaftsverbrecher hat keinen Anspruch auf Nachsicht.
({78})
Damit der Staat die wachsenden Aufgaben im Interesse seiner Bürger erfüllen kann, müssen wir die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung mit Blick auf die langfristigen Notwendigkeiten verbessern. Bei uns im Bund sollen die Programme der Ressorts noch wirksamer miteinander abgestimmt werden; Fachplanung und Finanzplanung werden dadurch besser miteinander verknüpft.
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir begonnen, die verschiedenen Laufbahnen des öffentlichen Dienstes stärker nach der Leistung auszurichten und sie durchlässiger zu machen. Die Leistung muß gesteigert und nicht gerechtfertigte Differenzierungen im Status müssen abgebaut werden. Sicherlich müssen wir uns auch der Gefahren bewußt sein, die von der Bürokratisierung ausgehen. Unsere Mitarbeiter in der Verwaltung sollen sich als Bürger unter Bürgern verstehen.
Das Bund-Länder-Verhältnis wird die Bundesregierung im Rahmen unseres Grundgesetzes und an der Praxis orientiert weiterentwickeln. Auch den Fragen der Verfassungsreform wird sie ihre AufBundeskanzler Brandt
merksamkeit widmen. Sie sieht jedoch nach wie vor keinen Anlaß zu einer Gesamtrevision des bewährten grundgesetzlichen Rahmens für unser staatliches Leben.
Zur Neugliederung des Bundesgebietes wird in Kürze das Gutachten der Sachverständigen-Kommission vorliegen. Die Bundesregierung wird nach sorgfältiger Prüfung ihre Vorschläge dazu formulieren.
Gestützt auf eine wertvolle Erörterung im neuen Kabinett will ich noch dies sagen: Wir wissen sehr wohl, daß es einer engen Kooperation von Stadt, Land und Bund bedarf, damit Bonn seine Funktion als Bundeshauptstadt gut erfüllen kann.
Meine Damen und Herren, der Staat, der den Menschen in den Verwaltungen der Städte und Gemeinden, der Länder und des Bundes begegnet, soll den Forderungen nach der guten Nachbarschaft und der Qualität des Lebens unterworfen sein; denn ihre Wirklichkeit ist entscheidend von ihm bestimmt. In unserer Geschichte stand jedoch, wie wir alle wissen, der Staat dem Volk allzulang wie eine fremde Macht gegenüber.
Seit der Zeit der Gewaltherrschaft hat sich ein gewandelter Bürgertypus gebildet, der seine Freiheit auch im Geflecht der sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten behaupten will. In diesem Prozeß, der in die Tiefen unserer sozialen Existenz reicht, sammelt sich, neben anderem, die produktive Unruhe aus den Reihen der Jungen und die Einsicht der Älteren. Ihr politischer Wille strömt ein in das, was sich uns als die neue Mitte darstellt: die soziale und die liberale Mitte.
Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten; das sage ich heute wie 1969. Manches, was sich uns verzerrt zuweilen als „Polarisierung" anzeigte, ist oft genug nur - richtig verstanden - eine Schärfung des politischen Bewußtseins, die man begrüßen kann. Es ist der unpolitische Bürger, der dazu neigt, sich der Obrigkeit zu beugen. Wir wollen den Bürger, nicht den Bourgeois. Wir sind dem angelsächsischen Citizen, dem französischen Citoyen geistig nähergerückt. Und vielleicht kann man sagen, die Bundesrepublik sei insofern „westlicher" geworden - sogar in einer Zeit, die unter dem Zeichen der sogenannten „Ostpolitik" stand.
({79})
Es geht uns darum, daß die vielen einzelnen ihre Heimat in dem Staat finden, den eine schmale Schicht von Mächtigen früher und lange wie ihren Besitz behandelt hat. Wir wollen den Staat zum Besitz aller machen.
Aus der neuen, demokratischen Identität zwischen Bürger und Staat ergeben sich Forderungen. Der Bürgerstaat ist nicht bequem. Demokratie - ich sage es in dieser Regierungserklärung zum wiederholten Male - braucht Leistung. Unsere Aufgaben sind ohne harte Arbeit nicht zu erfüllen. Auch nicht ohne den Mut, unangenehme, manchmal sogar erschreckende Wahrheit zu akzeptieren. Dieser Mut hat sich in der Deutschlandpolitik bewiesen. Auch in anderen Bereichen unserer Existenz werden wir
es lernen müssen, neue Realitäten zur Kenntnis zu
nehmen und uns durch sie nicht beugen zu lassen.
Unser Staat kann dem einzelnen nicht wirklicher Besitz sein; wenn er seine Heimat nicht in der Geschichte wiedererkennt, die ihm durch die Katastrophen des Jahrhunderts ferngerückt ist. Denn in dieser Geschichte ist die Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes verwurzelt. In ihr - wie in der unzerstörbaren Gemeinsamkeit der Sprache, der Kunst, der Kultur des Alltags und des geistigen Erbes - lebt die Nation fort, auch in der Trennung. Der Sinn einer leidvollen Geschichte mündete für viele von uns nach dem Krieg darin ein, daß wir die nationale Identität nicht preisgaben, aber den Willen zu einem Europa entwickelten, in dem es für die Menschen ein neues Zuhause gibt und zunehmend geben soll.
Der vitale Bürgergeist, der in dem Bereich zu Hause ist, den ich die neue Mitte nenne, verfügt über eine exakte Witterung für die Notwendigkeit der Bewahrung von Grundwerten des Lebens. Er ist sensibel genug, die neuen Schnittlinien progressiver und bewahrender Interessen zu erkennen. Er fordert, daß in unserer Gesellschaft die Aufmerksamkeit für die Not des Nächsten nicht verkümmert. Die moralische Kraft eines Volkes beweist sich nicht so sehr in einer hohen Programmatik von Parteien, einer politischen Führung, einer geistigen Elite oder dem, was sich dafür hält, sondern in seiner Bereitschaft zum Mitleiden - in seiner Fähigkeit, denen zu helfen, die Hilfe brauchen - und in seiner Toleranz gegenüber dem anderen. Frieden ist, so verstanden, kein Zustand, sondern eine Lebenshaltung.
({80})
Das Gespräch mit den Kirchen, das in den vergangenen Jahren fruchtbar geführt wurde, ist gerade auf diesem Hintergrund sehr wichtig. Wir betrachten sie nicht als eine Gruppe unter den vielen der pluralistischen Gesellschaft und wollen ihren Repräsentanten darum auch nicht als Vertretern bloßer Gruppeninteressen begegnen. Wir meinen im Gegenteil, daß die Kirchen in ihrer notwendigen geistigen Wirkung um so stärker sind, je unabhängiger sie sich von überkommenen sozialen oder parteilichen Bindungen machen.
({81})
Im Zeichen deutlicher Freiheit wünschen wir die Partnerschaft.
Unsere Bürger suchen trotz des Streits der Interessen eine Heimat in der Gesellschaft, die allerdings nie mehr ein Idyll sein wird - wenn sie es je war -. Das Recht auf Geborgenheit und das Recht, frei atmen zu können, muß sich gegen die Maßlosigkeit der technischen Entwicklung behaupten, die unserer Kontrolle zu entgleiten droht.
Es geht - um das Wort aufzugreifen - um die Freiheit im Alltag. Dort fängt jene Selbstbestimmung des einzelnen an, die sich in der freien Existenz des Bürgers erfüllt und unter den Pflichten und den Rechten der Nachbarschaft steht. In ihr
soll der Bürger seine soziale und seine geistige Heimat finden.
Der Wille zur guten Nachbarschaft muß in der Konkurrenz geistiger Kräfte und bei allen realen Konflikten spürbar bleiben. Er sollte auch in den Auseinandersetzungen und in der Koexistenz der großen gesellschaftlichen Gruppen wirksam sein, zumal in der Verantwortungsbereitschaft der Gewerkschaften und der Unternehmer. Die modernen deutschen Einheitsgewerkschaften sind eine Institution, um die uns die Welt beneidet. Die Bundesregierung bittet um ihre kritische und konstruktive Mitarbeit wie um die der Unternehmer, die am fairen Dialog interessiert sind.
Das gilt für die Organisationen, in denen sich politischer Wille ausdrückt. Es gilt vor allem für die Partner, mit denen wir die Verantwortung für den Staat teilen: für die Vertreter der Länder und für die Städte und Gemeinden. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesrat muß jenseits aller parteipolitischen Differenzen durch Sachlichkeit und Sachverstand geprägt und von Vertrauen getragen sein.
Die Arbeit der Parteien aber mündet unmittelbar in dieses Haus. Hier soll sie fruchtbar werden. Das gilt für die Fraktionen der Koalition wie für die Opposition. Mein Angebot vom 15. Dezember 1972 gilt: „Ich will gern Brücken des Zueinander und des Miteinander betreten, wo immer dies sachlich möglich ist und im Interesse unseres Volkes Erfolg verspricht."
Regierung und Opposition haben gegenüber dem Staat und seinen Bürgern eine gemeinsame Verantwortung. Ihr müssen wir gerecht werden, jeder auf seinem Platz. Machen wir uns an die Arbeit, tun wir unsere Pflicht.
({82})
Meine Damen und Herren, Sie haben die Erklärung der Bundesregierung gehört. Wir kommen zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung.
Ich eröffne die Aussprache. - Das Wort hat Herr Dr. Barzel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute jährt sich ein für alle Deutschen nach wie vor wichtiges Ereignis: Am 18. Januar 1871 wurde das Deutsche Reich gegründet. Das ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vergangenheit, sondern auch unter dem der Zukunft wichtig. Heute hörten wir eine Regierungserklärung, die mit keinem Wort dieses Tages gedachte. Auch wer diese Terminplanung oder diese Unterlassung als einen Zufall oder als Flüchtigkeit entschuldigt, wird dies doch gleichwohl als ein Zeichen bedrückender Geschichtslosigkeit empfinden.
({0})
Meine Damen und Herren, dabei wäre es sehr wohl angebracht, gerade im Hinblick auf das, was der Herr Bundeskanzler in einer sehr verkürzten Form über den Zusammenhang von Frieden und Nation gesagt hat, noch einmal an folgende Sätze des Kanzlers Bismarck zu erinnern ich möchte dieses Zitat erneut in die Debatte einbeziehen, weil wir es für wichtig halten -:
Ich habe stets den Eindruck des Unnatürlichen von der Tatsache gehabt, daß die Grenze, welche den niedersächsischen Altmärker bei Salzwedel von dem kurbrandenburgischen Niedersachsen bei Lüchow, in Moor und Heide dem Auge unverkennbar, trennt, doch den zu beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an zwei verschiedene, einander unter Umständen feindliche völkerrechtliche Gebilde verweisen will, deren eines von Berlin und das andere früher von London, später von Hannover regiert wurde, ... und daß friedliche und gleichartige, im Konnubium verkehrende Bauern dieser Gegend der eine für welfisch-habsburgische, der andere für hohenzollernsche Interessen - aufeinander schießen sollten.
In diesem Zitat kommt doch als ein bleibendes Element jeder auf eine europäische Friedensordnung gerichteten deutschen Politik das Friedensmotiv der deutschen Einheit klar zum Ausdruck. Ich meine, allein dieser Bezug ist ein Anlaß, heute, wo ja angeblich die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland in die Regierungserklärung einbezogen sein soll, darüber nachzudenken.
({1})
Wir haben doch, Herr Bundeskanzler - die Väter der Verfassung, unterstützt von Historikern und Juristen , darum gekämpft, wirksam festzuhalten, daß das Deutsche Reich in der Niederlage Hitlers nicht untergegangen ist; daß dieses Reich fortbestehe; daß diese Bundesrepublik Deutschland im Interesse der Einheit der Rechtsnachfolger dieses Deutschen Reiches sei. Diesen Tatbestand hat unser höchstes Gericht bestätigt. Die deutsche Politik sah in dem Fortbestand des Reiches einen für die Zukunft so hohen Wert, daß die Bundesrepublik Deutschland z. B. viele, viele Milliarden Deutsche Mark für die Wiedergutmachung von Schäden geleistet hat, welche das Deutsche Reich unter Hitler anderen zugefügt hat.
Das Ganze - das ist eben an diesem Tag festzuhalten - war Bestandteil einer Politik, welche die Einheit wahrte, indem sie mit Erfolg die deutsche Frage in der Substanz offenhielt. Das war eine Politik, die für viele draußen nicht bequem war. Aber wir meinen, wer moralisch, politisch und historisch verpflichtet ist, die Menschenrechte von 17 Millionen Deutschen einzufordern, der kann nicht immer bequem sein.
({2})
Wer aufhört, diese Rechte einzufordern, wird sie hier im freien Teil Deutschlands verspielen. Wer aufhört, Unrecht und Unfreiheit beim Namen zu nennen, wird Recht und Freiheit hier nicht bewahDr. Barzel
ren. Dem Frieden dient das nicht, denn Frieden ist eine Sache der Menschenrechte.
({3})
Mit keinem Wort ist in dieser Regierungserklärung - was doch zu Beginn dieses 7. Bundestages wichtig gewesen wäre - Bezug genommen worden auf die völkerrechtlich relevante gemeinsame Entschließung des letzten Bundestages vom 17. Mai 1972. Wir haben sie damals beinahe einstimmig angenommen. Es wäre doch gut gewesen, Herr Bundeskanzler, zunächst einmal jene Gemeinsamkeiten festzuhalten, über die wir uns bereits verständigen konnten.
Vergleichen wir nämlich den deutschlandpolitischen Teil Ihrer Regierungserklärung z. B. mit dem letzten NATO-Kommuniqué oder mit dieser gemeinsamen Entschließung, wo doch sehr präzise die Rede ist von Deutschland, von dem einen deutschen Volk, von der fehlenden Einheit, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Friedensvertrag, so müssen wir diesen Teil der Regierungserklärung als unzureichend qualifizieren.
({4})
Statt dessen spricht die Regierung von den beiden deutschen Staaten und nicht mehr, wie noch anläßlich des Verkehrsvertrages gemeinsam verabredet, von den beiden Staaten in Deutschland. Dies letztere ist doch eine Aussage von hohem Wert für den, der an der Einheit der Nation nicht nur im Wort festzuhalten die Absicht hat.
Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, man wird uns dann wohl entgegenhalten: Kann nicht die Einheit der Nation weit besser dadurch bewahrt werden, daß man lebendige Kontakte hin und her ermöglicht? Nun, uns braucht keiner über Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen als einen Maßstab für Entspannung und als eine Möglichkeit, die Wirklichkeit der Nation lebendig zu halten, zu belehren! Das ist ja unsere eigene Politik, und wir haben dazu unseren konkreten Stufenplan vorgelegt.
Es ist doch aber leider wahr, daß es der Ostpolitik der Bundesregierung eben nicht gelungen ist, diese Freizügigkeit herzustellen. Wir stimmen dem Gedanken zu, daß durch mehr Freizügigkeit die Zusammengehörigkeit der Nation und der Wille, ein Volk zu bleiben, in praktischer Weise lebendig erhalten werden können. Aber was ist erreicht? Es ist erreicht, daß z. B. früher entstandene Verwandtschaften zu einer Einladung führen können und damit zu einer Begegnung. Es ist aber nicht erreicht, daß sich z. B. junge Menschen hin und her begegnen können, um neue Verwandtschaften zu begründen. Das allein würde doch für die Zukunft die Einheit der Nation eine lebendige Wirklichkeit werden lassen.
({5})
Für die Zukunft wird dieser Zusammenhang nicht
stärker. Dieses Rinnsal an Freizügigkeit, das nur in
einer Richtung fließt, kann zudem noch durch Manipulationen der anderen Seite jederzeit wieder abgeschnitten werden.
So haben wir für die Zukunft also nicht die lebendige Nation, die sich manche als Ergebnis dieser Politik erhofften. Der Bundeskanzler selbst hat diesen unseren Einwand eben bestätigt, indem er davon sprach, Familien und Freunde „aus alten Tagen", so seine Worte, fänden wieder zusammen. Was wird auf diesem Wege in zehn und in zwanzig Jahren sein, wenn diese Gründe „aus alten Tagen" für das Zusammenfinden nicht mehr bestehen.
Dabei war an diesem Punkt, Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik nicht nur der Unterstützung der Opposition sicher, sondern auch der nachdrücklichen Hilfe aller- NATO-Staaten. Die Kommuniqués der NATO bezeichnen seit vielen Jahren die Freizügigkeit als Inhalt und Maßstab wirksamer Entspannung zwischen Ost und West.
Die Koalition hat dies beides nicht genutzt. Und ich muß leider hinzufügen: Der deutsche Vertreter in Helsinki hat am 29. November 1972 anläßlich der Vorbereitung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit peinlicher Zaghaftigkeit dieses Thema eher als einen Merkposten denn als zentrale Forderung einer freiheitlichen und realen Entspannungspolitik behandelt. Und die Regierungserklärung dazu war eben mehr als dürftig.
Wir vermissen auch, Herr Bundeskanzler, jeweden Hinweis darauf, daß Sie entschlossen sind, die Ihnen gegebenen Zusagen auf dem humanitären Gebiet einzufordern. Denn diese Zusagen werden doch nicht sämtlich so eingehalten, wie sie uns hier mitgeteilt worden sind. Wir sehen - und das sollte debattiert werden -, daß sich z. B. die Zahl der Umsiedler aus der Sowjetunion kurz vor Bundestagswahl erhöhte; und nun ist diese Zahl rapide gesunken. Immerhin darf nicht in Vergessenheit geraten, daß vor den Verträgen und ohne sie, also von 1955 bis 1970, 22 568 Menschen aus der Sowjetunion kamen.
Dasselbe gilt für Polen. Die Zahl der Umsiedler verringerte sich 1972 gegenüber 1971; sie ging um fast die Hälfte zurück. Und so ließe sich auch über die Zahlen aus der DDR hier vieles sagen.
Inzwischen aber sehen wir, daß die Behörden der DDR die durch den Verkehrsvertrag, dem wir zugestimmt haben, verabredeten Reise- und Besuchsmöglichkeiten durch Druck und durch Drohung einengen, manipulieren, ja verhindern. Wann und wie werden Sie das, Herr Bundeskanzler, in Ordnung bringen, damit die Buchstaben dieses Vertrages so erfüllt werden, wie sie hier im Hause vorgetragen wurden?
Die Regierung und auch Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben vor dieser Debatte mitteilen lassen, Ihre Regierungserklärung werde zugleich die Lage der Nation behandeln. Nun, es ist die Pflicht der Bundesregierung, einem Parlamentsauftrag entsprechend, über die Lage der Nation im g e s p a 1136
tenen Deutschland zu berichten - so der Auftrag an die Regierung.
({6})
Schon 1971 haben Sie dem nicht entsprochen, indem Sie lediglich einen Bericht zur Lage der Nation vorlegten.
({7})
Seither haben wir immer wieder gerügt, daß Sie Mitteilungen über die Zahl der an der innerdeutschen Grenze Ermordeten und über die Fluchtversuche ebensowenig machten wie über die innere Lage und die menschenrechtswidrige Situation der Menschen in der DDR.
Auch Ihre heutige Regierungserklärung schweigt sich - entgegen den öffentlichen Ankündigungen - über die Wirklichkeit in der DDR aus und verzichtet darauf, den schuldigen Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland hier einzubeziehen.
Wie ist es dort - diese Frage muß man doch stellen und durch die Regierung auch beantworten - mit der Freiheit der Berufswahl, mit der Freiheit der Information, der Meinung, des Reisens? Wie ist es dort mit Mitbestimmung, mit Schülermitverantwortung, mit Betriebsräten? Wie ist es mit der Transparenz gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse? Wie ist es dort etwa mit Vermögensbildung, mit Renten, mit Wohnungen? Warum schweigt Ihre Regierung dazu, Herr Bundeskanzler?
So haben Sie meinen Vorwurf, erhoben vor dieser Debatte, erhärtet: Diese Bundesregierung enthält dem Parlament pflichtwidrig den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland vor.
({8})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen - der wird nicht gemildert durch Ihre Ankündigung, künftig jedes Jahr über den Stand der Beziehungen zwischen den Regierungen zu berichten -, daß Sie, indem Sie darzutun unterlassen, was drüben wirklich ist, dazu beitragen, daß die fundamentalen Unterschiede verwischt werden und die Wertvorstellungen unserer freiheitlichen Ordnung hier im Bewußtsein vieler an Strahlkraft verlieren.
({9})
Meine Damen und Herren, am Beginn dieser Politik stand die von dem jetzigen Minister Bahr begründete Forderung nach einem „Wandel durch Annäherung". Als man danach fragte, was dies heiße, antwortete man: Wandel in der DDR durch Annäherung an die DDR. Besteht inzwischen nicht die Gefahr, daß daraus ein Wandel in der Bundesrepublik Deutschland wird? Wenn, was viele hoffen, dieses Ergebnis nicht gewollt ist, stellen sich doch doppelt deutlich folgende Fragen:
Warum gab es z. B. auf dem Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von Nordrhein-Westfalen Anträge, die darauf abzielen, unsere heimatvertriebenen und geflüchteten Mit-burger zu diskreditieren, - Anträge, nach denen Steuergelder nicht zur Pflege von Kultur und Heimat, sondern nach Wohlverhalten gegenüber der Politik der Bundesregierung verteilt werden sollen?
({10})
Wir stehen - dies muß hier gesagt werden - gerade jetzt zur Meinungsfreiheit und zur Koalitionsfreiheit auch unserer vertriebenen und geflüchteten Mitbürger, die wir nicht in eine isolierte Ecke abdrängen lassen wollen. Was sie erlebt haben, ist schlimm genug.
({11})
Warum, Herr Bundeskanzler, geht die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", Ihnen doch in der Ostpolitik eher hilfreich, am 5. Januar 1973 mit der Mitteilung in die Öffentlichkeit, die journalistische Arbeit über die DDR sei erschwert? Da heißt es - ich zitiere dies, zumal Fritz Ullrich Fack mit seinem Namen dafür steht -:
Hier wird ein Stück jener Verstrickungen sichtbar, die sich als Ergebnis der forcierten Annäherungspolitik eingestellt haben. Das Wort vom „Wandel durch Annäherung" erfüllt sich auf unvorhergesehene Weise mit Sinn. Es gibt zahlreiche Indizien für diesen Wandel: Da sind die vielen „Geheim"-Stempel, die neuerdings in den Bonner Ministerien alle von drüben gemeldeten ({12}) Vorgänge versiegeln.
Das Taschenbuch über die DDR erscheint nicht mehr: alles keine opportunen Themen mehr.
Was es sonst noch an öffentlich verbreiteter Beschwichtigungspolitik gibt, kann der Staatsbürger in kurzen Abständen vor dem Fernsehschirm verfolgen, wenn die Rede auf die jeweils neuesten DDR-Schikanen kommt und ein Regierungsmann sich dazu äußert. Da mischen sich Bedauern, Entschuldigung und stilles Verständnis für die - wie immer - schwierige innenpolitische Lage der SED zu einem ungenießbaren Informationsbrei.
Diese Zeitung hat deshalb wohl recht, wenn sie daran die Frage knüpft: „Wird hier eine Latte im Gartenzaun morsch?" Wenn wir das Ganze im Zusammenhang sehen, ist dies wohl mehr als eine Latte.
Unserer Regierungspolitik von 1949 bis 1969 galt die politische Freiheit auch in diesen Fragen als oberstes Prinzip. Das machte uns selbst die getarnte Form der Anerkennung der DDR unmöglich. Die politische Freiheit - dies ist eine Antwort auf Ihre Bemerkung zur Nation, Herr Bundeskanzler ist für uns die unabdingbare Voraussetzung nationalstaatlicher Einheit. Daran werden wir festhalten, auch wenn etwa irgendwann mit Schalmeientönen der Einheit Konföderationspläne lanciert werden sollten, die nur zur Unfreiheit führen könnten.
({13})
Von Deutschland, so meinen wir, darf nicht nochmals der Geist der Unfreiheit und des Unrechtes ausgehen.
({14})
Wir haben nicht vergessen, daß im Laufe des Zweiten Weltkrieges vom Westen her immer wieder betont wurde, „daß eine freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland eine wesentliche Voraussetzung des Friedens in der Welt" sei ({15}). Wir haben von Anfang an daran geglaubt, und wir glauben daran. Die Union hat ihre Strategie des Friedens darauf ausgerichtet. Wir glauben daran, obwohl das zur Zeit selbst im Westen nicht überall und jeden Tag Mode ist; denn unser Ja zur Freiheit und zum Westen ist weder zeitweilig noch opportunistisch. Ich wünsche nur, daß alle, die nun Wettläufe nach Ost-Berlin antreten, dies eben auch nicht bei ihrer Überprüfung vergessen, nämlich die frühere uns mitgeteilte moralische und historische Kategorie des Friedens, „daß eine freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland eine wesentliche Voraussetzung des Friedens in der Welt sei".
In den letzten Wochen hat die Sache Berlins - ich kann nur sagen: als Folge von Geschwätzigkeit - eine überflüssige und folgenschwere Niederlage erlitten. Das Berliner Stimmrecht, das wir alle wollen, ist nun wohl nicht näher
({16})
- lesen Sie doch unser Programm, Herr Mattick! -, sondern eher weiter weg als vorher. Berlin ist keine Sache für politische Sandkastenspiele mit Schlagzeilenabsicht! Berlin ist eine Probe auf unsere Haltung: Wo bleiben, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihre Beratungen, die nach dem Abkommen möglich und legitim sind? Sie könnten als Fraktionen und Parteien häufiger in Berlin zusammentreten. Warum lassen so viele Minister Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, den Bundespräsidenten allein in Berlin amtieren?
({17})
Wir haben dort Rechte. Sie werden verkümmern, wenn wir sie nicht nutzen. Hinsichtlich Berlins sollten wir, wenn dies möglich ist und auch von anderen gewünscht wird, zum Zusammenwirken aller zurückkehren. Nur so wird mit Erfolg das möglich sein, was das Abkommen uns aufgibt, nämlich die Bindungen nicht nur zu halten, sondern zu entwikkeln.
({18})
Dazu gehört, daß wir dies hier aufwerfen.
Es war in diesen Tagen zu lesen, die Sowjetunion selbst habe diplomatische Hinweise über ihre Auffassungen zum Berliner Stimmrecht und zum Luftverkehr mit Bulgarien gegeben. Wir werden diese Interventionen in den vertraulichen Ausschüssen zur Sprache bringen und hoffen dabei auf volle Aufklärung. Wir hoffen, dabei auch nicht auf die geringste Spur einer Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten zu stoßen.
({19})
Wir begrüßen mit Dank und mit Erleichterung und mit Genugtuung die Aussichten auf Frieden in Vietnam. Wir verurteilen Unfreiheit, Terror und Unrecht überall in der Welt und überall nach denselben Grundsätzen.
({20})
Für uns - und dies ist eine innenpoliische Bemerkung - ist der Vietkong kein Vorbild. Wir sind zu humanitärer und sozialer Hilfe in Vietnam bereit und haben an dieser Stelle ja auch soeben sichtbar dem Bundeskanzler unsere Unterstützung gegeben.
Der Bundeskanzler hat einige Worte zum Problem Israel gefunden. Für uns sind die Aussöhnung und die Zusammenarbeit mit Israel und mit dem jüdischen Volk von Anfang an eine wesentliche Substanz unserer Politik gewesen. Und dies bleibt so.
({21})
Anders als 1969 enthält diese Regierungserklärung einen europäischen Akzent. Hier ist, so sieht es aus, die Handschrift des Herrn Außenministers unverkennbar. Wir werden diese Erklärung sorgsam prüfen. Wenn Sie bereit sind, den Worten Taten folgen zu lassen, und in diesen Fragen Zusammenarbeit suchen, so könnte sich auf diesem Gebiet Fortschritt einstellen.
Freilich, die Formulierung, die Sie für die europäische Union fanden, bedeutet nur ein Geflecht und nicht eine Gemeinschaft. Wir sind auf die Gemeinschaft angelegt, denn wir haben unsere Interessen und unsere Wirtschaftskraft endgültig in die Gemeinsamkeit mit unseren europäischen Nachbarn eingeordnet. Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat. Wir wollen, da sich hier möglicherweise ein Gespräch über das Verhältnis von Regierung und Opposition hinaus andeutet, doch einiges mehr zu unserer Auffassung dazu sagen. Wir wollen diesen europäischen Bundesstaat durch praktische Schritte erreichen, welche unwiderrufliche Tatsachen auf dem Wege zur Vereinigung Europas schaffen. Gleichzeitig mit den Schritten zur Wirtschafts- und Währungsunion wollen wir auch die politische Vereinigung Europas anstreben, und zwar, nacheinander, durch die Pflicht der Partner, einander über wichtige politische Fragen zu unterrichten und die Meinungen der anderen einzuholen, dann: durch die Zusammenarbeit und das Zusammenwirken in Bereichen der gemeinsamen Politik und schließlich durch die Bildung der politischen Union. Wir wollen die Gemeinschaft und ihre Organe, vor allem das Parlament, stärken und glauben, daß in den Fragen der Entwicklungshilfe, des Umweltschutzes und der modernen gesellschaftspolitischen Probleme die Gemeinschaft vermehrte Zuständigkeiten erhalten muß. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß dieses sich vereinigende Europa seine Beziehungen zu anderen ordnen sollte durch einen Konsultations- und Kooperationsvertrag zwischen den USA und der Gemeinschaft, durch einen Kontaktausschuß mit den Staaten Ost- und Mitteleuropas und durch eine abgestimmte Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt einschließlich der Entwicklungspolitik auf der Grundlage der internationalen Solidarität.
Wir haben - und wir sagen dies erneut - unsere Zukunft endgültig auf den Vorrang der Politik der Vereinigung des freien Europa gesetzt.
({22})
Indem wir diese einzige verwirklichte europäische
Friedensordnung ausbauen, dienen wir - durch
Friedfertigkeit, durch vermehrten Austausch und durch Offenheit auch noch Osten - einem Europa, das allen Europäern Frieden, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit bringt.
Wir haben - und dies muß gesagt werden - auch in unserer Außenpolitik einige grundsätzliche Wertentscheidungen getroffen. Wir sagen deshalb: Wir haben Freunde und Verbündete in der Welt gewonnen, zu denen wir stehen und mit denen wir zusammenwirken. Unser Platz ist endgültig an der Seite derer, die Selbstbestimmung und Freiheit so wollen wie wir; die mit uns entschlossen sind, durch gemeinsame Anstrengungen Frieden und Freiheit zu sichern; die mit uns bereit sind, Not und Armut in der Welt zu überwinden. Wir haben weder in unserer Wertordnung noch in unserer Außenpolitik Platz für wertfreien Neutralismus, meine Damen und meine Herren.
({23})
Wir betonen in die andere Himmelsrichtung und in alle Richtungen, daß Frieden und Zusammenarbeit die Hauptaufgaben dieser Zeit sind, daß dem Frieden, wie wir meinen, am besten der dient, der die Menschenrechte verwirklicht. Das gilt auch für jene Landsleute, denen Menschen- und Gruppenrechte vorenthalten werden.
Was die DDR betrifft, so werden wir das ja bald hier zu diskutieren haben. Wir betonen erneut: Es muß ihr zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Einheit Deutschlands zur Zeit nicht verwirklicht werden kann.
({24})
Wir sind - bei allen grundsätzlichen Unterschieden, die wir nicht verwischen - im Interesse der Menschen in dem Maße zum Miteinander mit der DDR bereit, in dem diese Schritt um Schritt den Weg für die Freizügigkeit freigibt.
({25})
Wir wollen gute Beziehungen mit allen Staaten Ost- und Mitteleuropas und die Vermehrung des wirtschaftlichen, kulturellen und wirtschaftichen Austausches. Wir hoffen, daß es auf diese Weise zu Verständigung und Zusammenarbeit im Interesse des europäischen Friedens kommt, und wir sind bereit - dies gehört in diese Erklärung -, die internationalen Vorhaben einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie eine Konferenz über die ausgewogene gegenseitige Truppenverdünnung in Europa in dem Maße zu unterstützen, in dem auf diesem Wege zur Entspannung nicht nur mit Worten, sondern in den Realitäten beigetragen werden kann.
({26})
Voraussetzung bleibt die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Ihre innere und äußere Freiheit werden wir zu schützen wissen, indem wir ohne Vorbehalt in der atlantischen Gemeinschaft zu Frieden und Sicherheit beitragen.
({27})
Wir wollen betonen, daß Entwicklungshilfe - die in der Debatte der kommenden Woche sicherlich eine Rolle spielen wird - für uns auch eine Sache des Herzens und der moralischen Verpflichtung ge-gegenüber dem Nächsten in Not ist.
Meine Damen und Herren, auch im innenpolitischen Bereich zeichnet die Regierungserklärung am meisten das aus, was fehlt.
So fehlt - auch das ist wohl kein Zufall - das
Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Das wundert uns um so mehr, als doch diese Regierungserklärung, wie verkündet worden ist, eine „liberale Handschrift" tragen sollte. An dieser Stelle ist das nicht zu finden. Wir greifen dies auf, weil nach unserem Eindruck - wenn er falsch ist, sollte das diese Debatte bestätigen - sich hier innerhalb der sozialdemokratischen Partei ein Wandel vollzieht. Ich zitiere den Vorsitzenden der SPD in seiner von uns als bedeutungsvoll empfundenen Rede vom 10. Dezember 1972:
Andererseits dürfen wir nicht glauben, der Klassenkampf habe schon deswegen aufgehört, weil wir ihn überwiegend anders nennen.
({28})
Noch werden wir gar auf diejenigen hereinfallen, die das Grundgesetz mit einem Festschreiben gegenwärtig bestehender Machtverhältnisse gleichsetzen möchten, die sie soziale Marktwirtschaft nennen.
({29})
- Gut, Herr Apel, wenn Sie sagen: „Na und?" und wenn Sie die Fragezeichen nicht spüren! Dies ist ein Punkt für die Debatte. Entweder ist dies so gemeint, wie er sagt, oder es ist so gemeint, wie wir hier befürchten müssen. Denn wir haben doch erlebt, wie mit der Veränderung von Worten durch diese Regierung am Schluß eine ganz andere Politik herauskommt.
({30})
Wir werden also diese Debatte gern aufnehmen und weichen ihr nicht aus, auch wenn es zu einer Konfrontation in den Fundamenten führen sollte. Wir wollen diese Ordnung mit dem Ziel auf mehr soziale Gerechtigkeit verbessern. Eine andere Ordnung oder eine Sprengung dieses Systems wollen wir nicht.
({31})
Auch mit dem guten Wort „Lebensqualität" - einem selbstverständlichen Ziel aller Parteien, einem in der internationalen politischen Welt üblichen Begriff - wird man von dieser fundamentalen Auseinandersetzung über Grundwerte und Zielvorstellungen unserer freiheitlichen Ordnung nicht ablenken können.
Im übrigen: es wäre redlich oder redlicher - gerade wenn man dieses Wort „Lebensqualität" so häufig benutzt -, z. B. die reale Lage einer kinderreichen Familie im dritten Jahr der durch die Politik der Bundesregierung verursachten trabenden Inflation zu erkennen, deren verschlechterte Lage
einzugestehen, konkret zu helfen und endlich das überfällige, notwendige und mögliche Signal zu geben, das Signal eines ernsthaften Stabilitätswillens der Bundesregierung.
({32})
Dieses Signal ist erneut ausgeblieben, und auch dieses Fehlen ist bedeutsamer als der Wortreichtum der Regierungserklärung.
Die lezten Tarifabschlüsse und die damit zusammenhängenden Urabstimmungen sprechen doch eine beredte Sprache, deren Ernst niemand übersehen sollte. Die Verniedlichung der Lage durch die Koalition stimmt eben z. B. weder für die Kohle noch für Stahl noch für die beschwichtigenden „Unter-demStrich-Rechnungen" dieser Koalition.
({33})
Das Ergebnis der letzten Lohnrunde offenbart diesen Zielkonflikt: für den einzelnen zu wenig - es ist ja nicht einmal der Status gehalten - und für die Stabilitätspolitik trotzdem zu viel. Das ist doch der Zielkonflikt, von dem hier zu sprechen ist
({34})
und der eine Folge ist vom Treibenlassen, vom Verharmlosen, vom Verschweigen, vom Verniedlichen durch diese Bundesregierung.
({35})
Wir haben immer wieder aufgefordert, der Rückgewinnung der Stabilität Priorität einzuräumen, und Sie werden noch sehen, Herr Bundeskanzler, daß Sie alle die Absichten, die Sie hier in schönen Worten verkündet haben, nur werden realisieren können - selbst wenn Sie die Steuerschraube anziehen -, wenn wir wieder Stabilität haben werden. Wir haben deshalb eine nüchterne wirtschaftliche und finanzpolitische Bestandsaufnahme angeregt. Wir haben gefordert, ein umfassendes Stabilitätsprogramm zu entwickeln, und dazu selbst eigene Vorschläge in den Wahlkampf eingeführt und darum gebeten, durch ein entschlossenes Handeln ein deutliches, für alle sichtbares Zeichen zu setzen. Dies ist ausgeblieben, obwohl das Gutachten des Sachverständigenrates auch insoweit doch verheerend über die bisherige Politik der Bundesregierung urteilt.
Warum lassen Sie erneut die Bundesbank in ihrem Kampf um eine Dämpfung des Preisauftriebs allein? Warum sprechen Sie von allen möglichen, die an der Preisfindung beteiligt sind, vergessen dabei aber völlig den Einfluß des Staates auf Konjunktur und Preise?
({36})
Wenn der Preisindex für die Lebenshaltung im Dezember den Rekord von 6,5 %, für Rentner und Kinderreiche sogar von 7,1 %, erreicht hat, dann ist das, was Sie, Herr Bundeskanzler, soeben dazu sagten, einfach völlig unzureichend;
({37})
das ist unzureichend, wenn die Preise weiter und
das seit nun mehr als zwei Jahren - deutlich stärker steigen als der Realzins auf der Sparkasse.
Wir sehen, daß Sie der klaren Verpflichtung des Stabilitätsgesetzes ausweichen, den Tarifpartnern Orientierungsdaten an die Hand zu geben. Sie haben dies bis zur Stunde nicht getan. Sie werden am 2. Februar die Konzertierte Aktion haben, aber dann sind durch wichtige Tarifrunden die Weichen bereits gestellt und die Züge abgefahren.
Von der Vermögensbildung, die ein wesentlicher Teil eines sozial ausgewogenen Stabilitätskonzepts sein müßte, ist bisher im Zusammenhang mit den aktuellen Tarifverhandlungen überhaupt nicht die Rede.
Was wir jetzt bei den öffentlichen Finanzen, bei Bahn, bei Post und beim Straßenverkehr erleben, das sind doch die ungedeckten Wechsel, die nun den Bürgern zur Einlösung präsentiert wurden.
({38})
Was alles hat man uns vorgeworfen, als wir es wagten, die wirkliche Lage z. B. von Bahn und Post darzutun!
Nun liegt die Regierungserklärung vor. Aber, Herr Bundeskanzler, die letzte mittelfristige Finanzplanung datiert vom Oktober 1971. Seit nunmehr anderthalb Jahren fehlt die finanzpolitische Leitlinie. Auch wenn Sie die finanzpolitische Lage des Bundes weiterhin kaschieren, so macht doch ein Blick auf die vorliegenden Etats von Ländern und Gemeinden deutlich, daß die Folgen der Inflation für die öffentlichen Haushalte bereits da sind.
Aus der Haushaltsexplosion z. B. des Etats von Nordrhein-Westfalen zieht deshalb eine große Tageszeitung mit Recht die Folgerung - ich zitiere -:
Jetzt rächt sich der Verzicht der alten und neuen Bundesregierung auf rechtzeitige Orientierungsdaten. Der Zug fährt bei den Ländern und Gemeinden praktisch ab, ehe Bonn überhaupt zum Kassensturz und zur mittelfristigen Finanzplanung gekommen ist.
Wir haben im Ohr, daß nach dem Urteil des Sachverständigenrates die öffentlichen Haushalte 1972 noch stärker expansiv, d. h. noch mehr mitverantwortlich für die Inflation sind. Wir haben die Zahlen gesehen und wissen, daß der Staat 1972 wegen der hohen Preissteigerungen trotz erneuter Ausgabenexpansion wiederum keinen Schritt auf dem Wege vorangekommen ist, mehr Leistung für die Bürger zu realisieren.
Von all diesen Wirklichkeiten redet die Regierung nicht. Die Regierungserklärung schweigt sich dazu aus - mit der Ausnahme, daß sie höhere Steuern ankündigt und auch hier die Ungewißheit vermehrt. Keiner weiß, wann, was, wie, zu welchen Bedingungen und zu welchen Prozentsätzen.
({39})
Dies alles ist - und ich sage dieses Wort bewußt - gefährlich, weil hier Gefahren für unsere Ordnung entstehen, die nicht allein wir sehen, sondern die der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten wie folgt formuliert hat:
Unmerklich zunächst, doch im Laufe der Zeit immer mehr und schon heute spürbar verdirbt die Inflation das Urteil der Menschen über wirtschaftliche Zusammenhänge. Es gibt wirtschaftliche Erscheinungen, die zu beklagen sind und die sich in der ökonomischen Analyse teilweise, wenn auch nicht vollständig, als Folgen der Inflation erweisen, die vom Bürger jedoch einem Versagen der marktwirtschaftlichen Ordnung zugerechnet werden und die ihn daher veranlassen, nach einer Einschränkung eben dieser Ordnung zu verlangen.
Das ist die Gefahr, die Sie durch Nichtstun deutlich beschleunigt heraufbeschwören.
Meine Damen und Herren, wir nehmen an, daß es in diesen Fragen in diesem 7. Bundestag kontrovers zugehen wird. Wir glauben, daß sich diese Kontroverse immer mehr dem grundsätzlichen Bereich zuwenden wird. Dies ist sicher gut so. Deshalb sind auch einige Erklärungen des Kanzlers, selbst wo wir ihm nicht zustimmen, für diese erste Aussprache angebracht.
Wir haben am 15. Dezember erklärt: Gesellschaftspolitik entscheidet über die Zukunft der Freiheit, und hinzugefügt, daß dazu unser Engagement für die humane Leistungsgesellschaft gehört. Wir sind sicher einig, daß der Wert eines Menschen nicht ausschließlich nach seiner Leistung oder gar nach dem Entgelt zu beurteilen ist, das er für diese Leistung erzielt; denn die Würde des Menschen ist unabhängig von der Leistung. Aber ebenso deutlich sagen wir, daß wir eine freiheitliche Gesellschaft wollen, in der es jedem möglich ist, sich durch eigene Leistung seinen Platz in dieser Gesellschaft zu erkämpfen. Wir halten nichts davon, den Faulen und den Fleißigen über einen Leisten zu schlagen, und gar nichts halten wir von einer bürokratischen Zuteilung von Lebenschancen.
({40})
Von allen Verteilungsprinzipien ist die Verteilung nach der Leistung immer noch die gerechteste. Unsere demokratische Ordnung konnte nach unserem Selbstverständnis jenen entscheidenden Vorsprung vor allen kollektivistisch organisierten Gesellschaften und Staaten nicht etwa durch trennenden Klassenkampf, sondern nur durch schöpferischen Geist und Produktivität, durch Leistung, soziale Partnerschaft und soziale Marktwirtschaft gewinnen und ausbauen.
Wir wollen daran festhalten und uns bemühen, noch hinzuzugewinnen: mehr Toleranz, mehr Rücksicht, mehr Solidarität, die Verstärkung der sozialen Dienste und in all dem mehr Menschlichkeit. Dies alles wird leichter gehen, wenn wir für die Kirchen, für die Kunst und die Künstler, für die Wissenschaft die Ohren offen haben und die Mitwirkung gestalten. Mit Freiheit und Verantwortung - dies beides ist untrennbar - und mit den sie tragenden ethischen Grundsätzen steht und fällt der Wille zur Selbstbehauptung unserer freiheitlichen Demokratie gegenüber ihren inneren und äußeren Feinden. Damit steht und fällt aber auch für jeden Bürger dieses Landes das Ausmaß an persönlicher Freiheit, an Selbstverwirklichung und Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen und diesem Staat.
Die Leitidee ,der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union, zweier zunächst der Freiheit verpflichteter Parteien der Mitte, ist: Für uns ist Fortschritt nur da, wo sich der Mensch mit seinen Rechten voller entfalten kann, wo diese Freiheit alltagswirksam in ihrer sozialen Basis so gestärkt wird, daß sie vom Papier der Verfassung zur realen Möglichkeit wird, und nur dort, wo der Mensch seine Verpflichtung für ,den andern erkennt, ernst nimmt und verantwortlich verwirklicht.
Dieser Maßstab, ,der reale Freiheitsraum des Menschen, bestimmt unser Urteil in allen Bereichen der Politik, in der Bildungs- wie in der Rentenpolitik, in der Entspannungs- wie in der Sicherheitspolitik. Wir meinen, nur auf dieser Basis werden wir ein leistungsfähigeres Gemeinwesen mit weniger Zwängen, Verfremdung und Verwaltung, aber dafür mit zufriedeneren Menschen schaffen können. Von diesem Bild geht die Opposition aus. Unsere Vorstellungen haben nichts mit Klassenkampf oder Verfestigung von Machtstrukturen gemeinsam.
({41})
Wir werden also weiterhin - auch in diesem Hause - mit den Fragen nach der besseren und leistungsfähigeren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung konfrontiert sein. Wir werden aber auch die Probleme, welche sich aus ,der sprunghaft entwickelnden Technik und Wissenschaft für ,die Politik und unser Bildungswesen stellen, zu lösen haben. Das gilt auch für die Probleme des vereinsamten Menschen in der Industriegesellschaft und für die verstärkte Mitwirkung ,der Bürger an Politik und Verwaltung.
Wir werden vor allem auch mit der jungen Generation in einem ständigen Gespräch über unsere Werte und Ordnungsvorstellungen stehen und die Jugend für diesen Staat, seine Ordnung und seine Wertvorstellungen noch stärker gewinnen. Es wird in den vor uns liegenden vier Jahren vielleicht mehr, als mancher ahnt, und sicher mehr als in ,den zurückliegenden Jahren um die Grundprobleme unserer Existenz gehen. Wir wollen den freien und mündigen Bürger; dafür wollen wir die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen. Wir kämpfen für eine Ordnung, die Chancengleichheit, persönliche Freiheit und sozialen Fortschritt garantiert.
Hierbei muß die Bildungspolitik endlich wieder die Priorität erhalten, die von .der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode zwar immer wieder versprochen, aber 'trotzdem nie wahrgemacht wurde. Für die CDU/CSU ist die Bildungspolitik ein zentraler Bestandteil der auf gesellschaftspolitischem Gebiet durchzuführenden Maßnahmen. Die Bildungspolitik muß dabei als ein dynamischer Prozeß verstanden werden, der den menschlichen, den sozialen und politischen Erfordernissen unerer Industriegesellschaft gerecht wird. Die Aufgabe der Bildungspolitik muß es dabei sein, die Leistungsbereitschaft des einzelnen zu wecken sowie ihn seiner Begabung und Neigung entsprechend zu fördern.
Das wird nur gehen, wenn wir innerhalb dieses Schwerpunktbereiches genau Prioritäten setzen. Für uns gilt es zunächst, die berufliche Bildung zu reformieren und auszubauen. Unser Antrag aus dem vorigen Bundestag ist sicher noch in Erinnerung. Es geht darum, den gezielten Abbau des Lehrermangels und der überfüllten Klassen sowie eine bessere Ausbildung der Lehrer zu erreichen, die Hochschul- und Studienreform durchzuführen und eine ausreichende Hochschulkapazität zur Milderung des Numerus clausus zu erreichen. Es geht darum, die Vorschulerziehung durch eine gezielte Förderung von Kindergärten und Vorschulplätzen im Zusammenwirken mit den freien Trägern auszubauen. Dies sind unsere Prioritäten innerhalb des Schwerpunkts „Bildung".
Wir glauben, daß wir diese Anstrengungen auch den jungen Menschen schuldig sind, deren Lebensgefühl in unserer Gesellschaft mehr Platz finden soll. Wir wollen die Chancen auf Mitarbeit und Mitverantwortung verbessern. In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, daß wir schon im letzten Bundestag die Herabsetzung des Alters der Geschäftsfähigkeit beantragt und die Reform des Jugendrechts gefordert haben.
Ein Schwerpunkt unserer Bemühungen für die Menschen muß darin bestehen, die Lebensbedingungen der Bevölkerung, insbesondere in den Ballungsräumen, zu verbessern und die Erschließung der ländlichen Gebiete voranzutreiben, damit die Menschen dort nicht schlechter gestellt sind.
In der Energiepolitik sind nun endlich nicht mehr Reden, sondern Entscheidungen dieser Regierung fällig.
({42})
Ich verzichte jetzt darauf, zu den Fragen der Bundeswehr, der regionalen Strukturpolitik, des Umweltschutzes, der Raumordnung, der Agrarpolitik, der Medienpolitik wie auch zu allen schichtenspezifischen Problemen zu sprechen. Dies wird in der Aussprache geschehen.
Wir wollen hier, weil dies wichtig ist, aber noch folgendes sagen: Dieser 7. Deutsche Bundestag soll und kann wesentliche Gesetze beschließen zur Verbesserung der Eigentumsbildung - hierzu gibt es bisher, wie schon seit drei Jahren, wiederum nur eine Ankündigung der Regierung -, zur Verbesserung der Bildung, vor allem der beruflichen Bildung, des Wettbewerbs, des Bodenrechts, der Steuergesetze und der Mitbestimmung.
Die Regierung Brandt hat in der 6. Legislaturperiode viele Fragen nicht lösen können, Das hat dazu geführt, daß wir in der neuen Regierungserklärung mehrere alte Bekannte wieder antreffen. Die ungelösten Fragen wie Steuerreform, Beteiligung am Produktivvermögen, Bildungsreform, energiepolitisches Konzept sowie Mitbestimmung sind auch von der erneuerten alten Bundesregierung nicht beantwortet worden.
({43})
Hier hat die Regierungserklärung - statt Klarheit
zu schaffen - wieder zusätzlich Fragezeichen produziert und wieder alle mit weitgehenden Absichtserklärungen vertröstet.
({44})
Dazu wird im Laufe der Debatte im einzelnen zu sprechen sein. Für den Beginn möchte ich hier aber noch zwei Punkte hinzufügen.
Wir wollen die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft stärken; das haben wir vor der Wahl gesagt, und so werden wir es auch halten. Gleicher Lohn bei gleicher Leistung muß auch für die Frauen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Wir wenden uns gegen ein staatlich verordnetes Leitbild der Rolle der Frau. Allen Frauen muß die Möglichkeit eröffnet werden, selbst zu entscheiden, welchen Platz sie ausfüllen wollen. Sie müssen frei entscheiden können, ob sie sich ausschließlich der Aufgabe in Familie und Haushalt zuwenden oder außerdem ganz oder teilweise berufstätig sein wollen. Es sollten mehr Teilzeitarbeitsplätze für Frauen geschaffen werden!
({45})
Wir werden unsere Vorstellungen über die soziale Sicherung der Frau in diese Debatte einführen.
Wir werden darüber zu wachen haben, daß über den großen Zukunftsaufgaben die sozial Schwachen und die Randgruppen in unserer Gesellschaft nicht vergessen werden. Ich denke dabei nicht nur an die Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber den älteren Menschen, den Behinderten und Kriegsbeschädigten, sondern auch an die Probleme der Gastarbeiter. Hier bessere Lösungen zu suchen und zu erarbeiten ist nicht nur ein Gebot der Solidarität, auf die wir alle angewiesen sind; es ist ein Gebot der Partnerschaft und, wie wir meinen, ein christlicher Anspruch.
({46})
Herr Bundeskanzler, wir begrüßen, daß Sie in Ihrer Regierungserklärung dem ständigen Drängen von Rat und Verwaltung der Stadt Bonn gefolgt sind und zum Ausbau der Bundeshauptstadt einen positiven Satz gesagt haben.
Meine Damen und Herren, die SPD steht nunmehr seit sechs Jahren in der Regierungsverantwortung; am Ende dieser Legislaturperiode werden es zehn Jahre sein. In einer solchen Zeitspanne kann viel bewegt werden. Wir werden Sie nicht zuletzt danach beurteilen, ob es Ihnen gelingt, eine Politik für a 11 e Bürger zu machen, statt etwa die Gegensätze zwischen den Gruppierungen unseres Volkes zu vertiefen oder gar neu aufzureißen.
Wichtig erscheint es uns vor allem - und dies ist eine gemeinsame Aufgabe -, uns darum zu bemühen, ein politisches Klima zu schaffen, in dem die großen gesellschaftspolitischen Probleme vorurteilslos - aber auf der Grundlage klarer Wert- und Zielvorstellungen - diskutiert werden können. Diese gesellschaftspolitischen Wert- und Zielvorstellungen sind für uns im System der sozialen Marktwirtschaft am ehesten verwirklicht. Wir sind uns dabei bewußt - und dies muß einmal Kritikern gesagt werden -, daß hier und da von interessierter Seite manche Verkrustungen und Unzuträglichkeiten in
unserer Wirtschaft und Gesellschaft, die auch wir sehen und beseitigen wollen, fälschlicherweise zu integralen Bestandteilen der sozialen Marktwirtschaft erklärt werden. In Wahrheit kann und muß manches im Interesse der Erhaltung unserer freiheitlichen Ordnung in Frage gestellt und neu überdacht werden. Wir stehen zu der ordnungspolitischen Verantwortung, die wir haben, und haben nicht die Absicht, Prätorianer etwa morscher Schlösser zu sein. ({47})
Wir hätten in der Regierungserklärung gern eine klare und vor allem eine konkrete Antwort auf unseren Appell vom 15. Dezember zur Solidarität der Demokraten erhalten. Wir haben sie nicht bekommen, obwohl hier Sorgen und Gefahren, hervorgerufen durch Extremisten, die unsere freiheitliche und soziale Ordnung überwinden wollen, auf der Hand liegen. Für uns gilt hierzu, was unser früherer Kollege Ernst Benda, den wir zum höchsten Richter unseres Landes gewählt haben, kürzlich schrieb:
Von Autorität und Glaubwürdigkeit der demokratischen Ordnung hängt entscheidend ab, ob es gelingt, mit der „Strategie der Systemüberwindung" fertig zu werden. Verfassungsschutz, strafrechtlicher Staatsschutz, rechtliche Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten, also Wahrung der inneren Sicherheit, sind unentbehrliche Notwendigkeiten. Aber die wirkliche Entscheidung fällt nicht hier, sondern in der Alltagsarbeit der Politik.
Dies ist ein wichtiger Punkt.
({48})
Ob alle diese Fragen hier künftig mehr im Streit behandelt oder mehr durch Zusammenarbeit gelöst werden sollen, das liegt allein bei der Bundesregierung.
Wir haben in der vergangenen Periode mit gemeinsamen Vorarbeiten zu einer Verfassungsreform begonnen. Meine Fraktion hatte seinerzeit die ersten Schritte zur Einsetzung einer entsprechenden Enquete-Kommission unternommen. Diese Kommission konnte verständlicherweise in den zwei Jahren ihrer Tätigkeit nur einen Zwischenbericht erarbeiten. Dieser liegt uns vor und enthält beachtliche Anregungen, auch für die künftige Regelung des Verhältnisses von Regierung und Parlament. Wir meinen, daß diese Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform neu konstituiert werden sollte. Sie sollte ihre Arbeiten fortführen mit dem Ziel, sie in dieser Periode zu beenden.
Ungeachtet dieser grundlegenden Vorarbeiten - Vorarbeiten zu einer Anpassung des Grundgesetzes an die Erfordernisse der Gegenwart - wurde mit unserer Zustimmung in den Jahren von 1969 bis 1972 eine Reihe von Änderungen des Grundgesetzes vorgenommen. Wir haben sie auch für notwendig und vordringlich gehalten. Für die Haltung der Union in verfassungspolitischen Fragen der nahen Zukunft gelten diese drei Grundsätze.
Erstens. Es sollten keine weiteren Einzeländerungen des Grundgesetzes mehr vorgenommen werden vor Abschluß der entsprechenden Arbeiten der Enquete-Kommission.
({49})
Zweitens. Eine weitere einseitige Verlagerung der Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund ist bedenklich. Die Einbahnstraße der Kompetenzverlagerung von den Ländern auf den Bund sollte so nicht weitergeführt werden, weil sonst die Grundlagen des bundesstaatlichen Aufbaus und der hierzu unabdingbaren Eigenstaatlichkeit der Länder gefährdet sein könnten. Die bundesstaatliche Ordnung gewährleistet ein Gleichgewicht der Kräfte nicht nur in der regionalen, sondern auch in der politischen Beziehung. An diesem von unserer Verfassung selbst gewollten Gleichgewichtssystem der Kräfte darf im Interesse des demokratischen Gemeinwesens nicht gerüttelt werden.
Drittens. Wir werden keiner Grundgesetzänderung zustimmen, die etwa verfassungsrechtliche Möglichkeiten zu einer auf Systemveränderung gerichteteten Politik eröffnet.
({50})
Was die Rechtspolitik betrifft, so sind wir wie in der vergangenen Wahlperiode zu einer grundsätzlichen Gemeinsamkeit bei den rechtspolitischen Reformvorhaben bereit, sei es auf dem Gebiet des Zivilrechts, des Strafrechts oder des Verfahrensrechts. Eine solche Gemeinsamkeit kann und wird es aber nur geben, wenn die Regierung die Mitwirkung der Opposition bei den Entscheidungen der Ausschüsse und des Plenums nicht etwa als eine Verpflichtung begreift, die Vorstellungen der Regierungsmehrheit ungeprüft und unverändert zu übernehmen.
({51})
Die Fragen - der Herr Bundeskanzler hat sie in die Debatte eingeführt -, die eine Reform des § 218 des Strafgesetzbuches aufwerfen, bedürfen sorgfältiger Prüfung und gewissenhafter Entscheidung. Wir wollen das geltende Recht verbessern. Das Grundgesetz gewährleistet ausdrücklich das Recht auf Leben. Hierzu gehört auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Der Bundesjustizminister hat auf dieses grundlegende verfassungsrechtliche Gebot in der früheren Diskussion um die Reform dieses Paragraphen schon vor längerer Zeit nachdrücklich hingewiesen. Bei der Entscheidung des Gesetzgebers in dieser Frage kommt der Vorschrift des Art. 38 des Grundgesetzes, nach der jeder Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, sondern nur seinem Gewissen unterworfen ist, eine ganz besondere Bedeutung zu.
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Die Entscheidung über die Neufassung des Abtreibungsparagraphen ist also, wie wir meinen, ir ganz besonderer Weise eine Gewissensentscheidung eines jeden einzelnen und nicht die Entscheidung von Fraktionsmehrheiten oder Parteitagen.
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Meine Damen und Herren, in der ersten Aussprache dieses Parlaments, am 15. Dezember 1972
haben wir erklärt, wie wir unserer Verantwortung als Opposition gerecht werden wollen. Wir wollen das nicht wiederholen. Wie werden Aktivitäten der Regierung, wo wir sie für falsch oder schädlich halten, Alternativen entgegenstellen. Diese werden stets an den hohen Maßstäben unseres Grundgesetzes - am Freiheitsraum des einzelnen, am Ziel größerer Gerechtigkeit und wachsender Wohlfahrt für alle - orientiert sein. Zunächst aber soll die Regierung ihre Aktivitäten entfalten.
Zu unserer Pflicht gehört es - wir sagen dies, obwohl es draußen nicht überall und immer voll verstanden wird -, den Nutzen unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft wo nötig, auch durch Kritik an der Regierung - zu mehren und die politischen Entwicklungen - wo nötig, auch durch Widerspruch - für den Bürger durchsichtig und verständlicher zu machen. Es wird unser vornehmstes Ziel sein, dem mündigen Bürger ein sachliches Urteil über die politischen Vorgänge zu ermöglichen. Wir hoffen dabei - die Opposition ist darauf besonders angewiesen - auf die kritische Partnerschaft, auf die Hilfe seitens der Presse, des Fernsehens und des Rundfunks,
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und wir vertrauen auf das kritische Verständnis und die Mitarbeit aller Kräfte in unserem Volk, denen die geistige Entwicklung unseres gesellschaftlichen Lebens erst den ganzen Sinn aller materiellen Wohlfahrt ausmacht.
Ich will zum Schluß, meine Damen und Herren, einer Stimme Gehör verschaffen, deren Ernst über jedem Zweifel steht. Der besondere Standort zwingt sie zu äußerster Wahrhaftigkeit. Was sie uns zu sagen hat, ist ebenso bitter wie eindringlich. Der russische Dichter Solschenizyn, dem die Annahme des ihm verliehenen Nobelpreises von der Sowjetregierung verboten wurde, hat in der von ihm für den Verleihungsakt vorgesehen gewesenen Rede zur geistig-politischen Situation in Europa dies gesagt - ich zitiere -:
Der Geist von München gehört keineswegs der Vergangenheit an. Er ist keine kurze Episode geblieben. Ich wage sogar zu behaupten, daß der Geist von München im 20. Jahrhundert vorherrscht. Die eingeschüchterte zivilisierte Welt findet dem Ansturm wiedererstandener Barbarei nichts entgegenzusetzen als Nachgiebigkeit und Lächeln. Der Geist von München ist die Willensschwäche von Menschen, denen es gut geht. Er ist der Alltag jener, die sich dem Verlangen nach Wohlstand um jeden Preis, dem materiellen Wohlbefinden als dem Hauptziel des Erdendaseins verschrieben haben. Solche Menschen ziehen das Nachgeben vor, bloß damit das gewohnte Leben weitergehe, damit man nicht schon heute der Härte ausgeliefert werde in der Hoffnung, morgen werde man solches schon umgehen können. Doch man wird es nie umgehen können. Die Sühne für die Feigheit wird nur schlimmer sein.
Dieses Wort betrachten wir als einen Appell an uns
alle, der hier geschilderten Feigheit zu widerstehen.
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Wir werden das tun, und wir sehen darin zugleich die Lehre aus unserer Geschichte, die uns an diesem Tage besonders verpflichtet. Das ist zugleich unsere Perspektive für die Zukunft: für mehr Freiheit und für mehr soziale Gerechtigkeit dem Bequemen zu widerstehen, das Gewohnte zu überprüfen und keine Mühe zu scheuen, das Bessere für die zu erreichen, die uns hierher entsandt haben, für unser Volk.
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Vizepräsident von Hassel: Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Sache, zu tadeln, daß durch Herrn Kollegen Barzels Verlangen !die Debatte über die Regierungserklärung sozusagen auseinandergebrochen wird in seine eigenen Ausführungen und in das, was er dann in deren Verlauf die Aussprache genannt hat. Ich habe es bei früheren Gelegenheiten, in vergangenen Legislaturperioden, immer als vorteilhaft für alle Seiten des Parlaments empfunden, daß ,die Debatte über die Erklärung der jeweiligen Bundesregierung zu Beginn eine wirkliche Generaldebatte war, die dann allmählich auf Spezialgebiete überging. Man verständigte sich darüber nicht nur oder etwa vorwiegend geschäftsordnungsmäßig, sondern im Plenum: Jetzt haben wir, was Allgemeingültiges zu sagen ist, wohl von allen Seiten gehört, jetzt wenden wir uns bestimmten Spezialgebieten zu. Bei allem, was auch dann noch mangelhaft sein mag, habe ich das immer als vorteilhaft für alle Seiten empfunden. Dies ist nun diesmal etwas anders geraten.
Ich möchte zunächst und heute zu der Regierungserklärung Bundeskanzler Brandts sagen, daß die Bundestagsfraktion sie im Ziel und in den Schwerpunkten für eine ausgewogene Regierungserklärung hält und insofern begrüßt.
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Von der Warte dieser Regierungserklärung aus gesehen, treten - ich halte das für einen Vorzug -Bedeutung und Sinn der Ergebnisse der Arbeit der ersten Regierung des Bundeskanzlers Brandt in den Jahren 1969 bis 1972 eindrucksvoll hervor, und das ist zugleich ein guter Boden, von dem aus weiter geschaut und gebaut werden kann und auch wird.
Wir Sozialdemokraten danken dem Bundeskanzler und dem Kabinett dafür, daß sie nach vorn schauen und mit Sinn für Maß und Wert planen unid anfangen.
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Wir wünschen uns und Ihnen dieselbe Ausgewogenheit in der Arbeit von Bundesregierung und Bundestag im Alltag.
Es möge mir erlaubt sein, hier auch einen Wunsch für die weitere Zukunft auszusprechen: So, wie heute hier durch den Bundeskanzler und entsprechend der Auffassung ides Kabinetts positiv über den seinerzeit umstrittenen deutsch-französischen Ver144
trag von 1963 gesprochen worden ist, gesprochen wird und wie mit ihm gehandelt wird, möge, meine Damen und Herren - obwohl das ja nicht Außenpolitik ist, aber doch auch ein Vertrag -, in zehn Jahren positiv über den jetzt noch umstrittenen Vertrag über die Grundlagen und über die ihm selbst als Grundlage dienenden Ostverträge gesprochen und möge auch positiv gehandelt werden.
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So wird es ja wohl auch im Fluß der Zeiten sein.
Damit allerdings erschöpft sich nicht das, was zu entsprechenden Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Barzel noch zu sagen ist, und einiges will ich dazu unmittelbar sagen. Zuerst, Herr Dr. Barzel, zu Ihrer Rüge, das Kalenderdatum betreffend - 1871 und so -. mit dem so eindrucksvollen Zitat des ersten Reichskanzlers von Bismarck: Bei allem Respekt, wir treten nicht in einen Wettbewerb über Geschichtsbewußtsein ein und lassen uns das unsere nicht streitig machen,
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schon gar nicht wegen verschiedenartiger Auffassungen darüber, wie man einen Kalenderanlaß begehen müsse.
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Übrigens, unsere Erinnerung an die Sozialdemokraten, an unsere Vorgänger im ersten Reichstag und ihre Stellung zu Deutschland zu Zeiten Bismarcks haben wir nicht bei einem Kalenderanlaß, sondern hier im Zusammenhang mit dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag
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in aller Korrektheit und in aller Unverbrämtheit dargelegt. Und das Angebot von mir aus ist, freundlicherweise nachschlagen zu lassen - ich sage nicht, Sie selbst müßten nachschlagen; ich sage, nachschlagen zu lassen
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in den Protokollen von 1963/64. Damals hat sich noch der Bundeskanzler Dr. Adenauer selbst in die Arena begeben und hat mit uns das Florett gekreuzt - falls man das „kreuzen" nennen kann.
Nun, in diesem Zusammenhang - und das war Ihre Überleitung, Herr Dr. Barzel, nämlich die Bemerkung, die ein Vorwurf gegen uns war, die wir diese Regierungserklärung positiv tragen und für die sie für die nächsten vier Jahre die Arbeitsrichtschnur darstellt haben Sie - und es war so zu verstehen, auch heute noch, daß es um das ging, was Sie im Verhältnis zu dem anderen Teil Deutschlands und in der Behandlung der damit verbundenen Problematik mit anderen, auch mit Verbündeten, für das eigentlich Richtige hielten - kokett gesagt, daß das damals auch oft als unbequem empfunden worden sei. Bleiben wir einmal bei dem Wort „bequem". Wer ist bequem, und wer macht sich's bequem? Wissen Sie, ich finde, derjenige macht sich's bequem, der diejenigen schilt, die aus der Tatsache der staatlichen Trennung die Pflicht zum Handeln für das Zueinanderkommen der Menschen ableiten, sich dieser Pflicht stellen und entsprechend handeln.
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Und insofern sage ich Ihnen, was zu diesem Stichwort zu sagen ist.
Ich halte es für unangemessen, von einem „Rinnsal an Freizügigkeit", das nur in einer Richtung fließe, zu sprechen, wenn Sie die Zahlen genau kennen, die sicher einseitig sind, aber auch wissen, daß die Menschen - wenn auch zunächst stockend; das ist noch lange kein Eistauwetter auch von drüben nach hüben - wenn auch in Grenzen - nicht fließen, aber kommen können. Ich bin damit einverstanden, das sollte man nicht beschönigen. Nur sollte man es sich nicht bequem machen und so tun, als sei man, weil man früher unbequem war und Verbündeten und Westlern auf die Nerven gefallen ist, nunmehr bei seiner eigenen Sache geblieben. Nein, nein, hier war doch ein ganzer Trümmerberg auf das Verhältnis zwischen den getrennten Teilen Deutschlands gewälzt und herabgebrochen. So war es, darüber sind wir uns wohl einig. Wir machen Ihnen ja nicht den Vorwurf, daß Sie ihn ausgelöst hätten; aber Sie möchten uns heute den Vorwurf machen, daß die, die versuchen, mit diesem Trümmerberg zum Nutzen der Menschen fertigzuwerden, soweit das menschenmöglich ist, es tun. Da fallen am Schluß in anderem Zusammenhang sogar das Wort „feige" und ähnliche Worte. Darüber müßte man dann - um bei Ihrer Einteilung zu bleiben - in der Aussprache noch einmal sprechen können.
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Zur Rüge bezüglich des Berichts über die Lage der Nation. Ich bin nicht kleinlich, Herr Dr. Barzel. Ich habe gelesen, daß das ein Punkt war, der Sie bei Gelegenheit dieses Parteitags in dem Ort beschäftigt hat, der sicher nicht nur deswegen gewählt worden ist, weil er den Imperativ „siegen!" enthält, den Sie natürlich brauchen; das ist ja klar.
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Wissen Sie, das kann ich gut verstehen. Ich hatte auch Opposition lernen und anderen dazu helfen müssen. In Siegen - ich glaube, dort war das - hatten Sie in einer ziemlich groben Form - andere haben sie noch gröber empfunden als ich selbst, ich habe es nicht so haarig gefunden wie mancher andere - die Sache mit dem Bericht zur Lage der Nation ins Treffen gebracht. Aber, Herr Dr. Barzel, wir haben 1965 - hier sitzt der damalige Bundeskanzler, Professor Erhard, er guckt gerade nicht - am Stil und an der Regierungserklärung von Herrn Professor Erhard Kritik geübt. Wir haben das sogar ziemlich schwergewichtig mit dem Vorwurf getan, daß die damalige Regierungserklärung und das, was damit vorgebracht wurde, nicht mit dem vergleichbar sei, was in Parlamenten anderer gewachsener demokratischer Staaten zu Beginn einer solchen Periode als eine Art Bericht über die Lage der Nation gegeben werde.
Herr Dr. Barzel, ich kenne die damaligen Erörterungen darüber, was daraus werden soll, wohl. Das
können Sie im Protokoll nachschlagen. Von unserer Seite kamen damals kritische Reden; denn wir waren Opposition, und Sie waren die Partei, die gesagt hat: Herr Professor Erhard ist, war und bleibt unser Bundeskanzler.
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Wir erinnern uns noch daran. Da haben wir gesagt, was wir darunter verstehen. Im Laufe der weiteren Behandlung ist das Ding so paniert worden, daß da sozusagen fortgesetzt eine Art Propagandabericht gegeben werden müsse, wie es bei uns und wie es bei denen drüben aussieht. Das steht alles in den Protokollen des Bundestages. Ich habe sie mir noch einmal angesehen, weil ich mir dachte, daß das heute bei Herrn Barzel eine Rolle spielen wird. Ich hatte - das sage ich für mich selbst - recht. Lesen Sie bitte nach oder - ich bitte Sie um Entschuldigung - lassen Sie nachlesen!
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Dann werden Sie finden, daß das etwas anderes ist, als Sie es heute sehen. Deswegen rate ich bei der Qualität einer Regierungserklärung, an der man noch soviel aussetzen kann, dazu.
Ich habe zwei frühere Bundeskanzler vor mir: Zum einen haben wir in Opposition, mit dem anderen, als er seine Regierungserklärung im Dezember 1966 abgab, in Koalition gestanden. Eine Regierungserklärung beansprucht mit Recht den Rang, daß man sie bei aller Gegensätzlichkeit als Ausdruck für die Arbeitsabsichten, Leistungsvorstellungen der verfassungsgemäß zustande gekommenen Regierung ernst nimmt. Da muß man sich eben etwas andersgewichtig mit einem solchen Dokument befassen, auch wenn man in wesentlichen Punkten
- und das ist ja Ihr Recht - ganz anderer Meinung ist über das, was die Regierung tun sollte oder was sie tut, und sogar das, was sie zu tun sich anschickt, sehr negativ bewertet.
Und da ist doch immerhin wohl heute nicht zu überhören gewesen, was der Bundeskanzler im Zusammenhang mit dem, was über das Stichwort „Friedensordnung" gesagt zu werden pflegt - wir erinnern uns noch, welche Streite über Friedensordnung sich in früheren Jahren daran angeknüpft hatten -, gesagt hat. Da war vom Selbstbestimmungsrecht auch unseres Volkes die Rede. Wenn es Ihnen aber nicht paßt, dann nehmen Sie das nicht zur Kenntnis, weil das bei der Zusammenzählung der Vorwürfe einen Vorwurf von Ihnen weniger erbringt.
Ich halte es auch für deplaciert, daß man sich auf ein Abkommen beruft, wie es das Viererabkommen zu Berlin ist, das ja, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, so gar nicht zustande gekommen wäre.
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- Ja, ja! Am 27. April stand hier die Frage, bevor es überhaupt dazu kommen konnte, diese Regierung kaputt zu machen, zu stürzen, damit es nicht zu diesen Ostverträgen kommen sollte. Es war doch wohl unerläßlich, das in Erinnerung zu bringen.
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Da sitzt doch Herr Strauß. Herr Strauß wollte sie doch nun bestimmt nicht. Aber ich verstehe, daß er heute solidarisch mit dem ist, der, wie er einmal gesagt hat, die „Klimmzüge" machen muß.
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- Nein, nein! Wenn ich Sie sehe, darf mir auch nichts Neues einfallen. Lassen Sie mich das ganz ernst sagen.
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Warum, Herr Kollege Barzel, tadeln Sie die anderen Fraktionen und die Regierung dafür, daß sie nicht genügend oft nach Berlin gehen? Sind Sie denn bereit, mit einem Mann wie dem, der hier steht, und meinem Kollegen Mischnick über solche Fragen zu reden? Wir sind immer dazu bereit. Nur, Sie haben sich inzwischen in Sphären begeben, in denen wir für Sie ganz unten sind. Das ist in Ordnung. Ich bin froh darüber, daß es noch solche Rangordnungen gibt, die einen anderen Menschen erhöhen.
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Aber man sollte nicht über das reden, was Fraktionen versäumt haben. Das muß man einmal zwischen ihnen ausmachen. Man darf es sich nicht aufsparen, bis man ihnen etwas anhängen kann. Sie wissen ja noch gar nicht Sie haben nie mit uns darüber gesprochen, und es hat bisher keine Gelegenheit gegeben, interfraktionell darüber zu reden -, was man im Rahmen des Berlin-Abkommens machen kann, was wir daraus zu machen gedenken und was nicht.
Ein anderes Gebiet. Ich finde es betrüblich, daß Sie sich - Stichwort Israel - nicht einmal imstande sehen, in diesem Fall - entschuldigen Sie das Wort - das Herummäkeln an der Bundesregierung zu unterlassen, obwohl Sie doch nicht leugnen können
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- dann nehmen wir Ihren Text, ich habe ihn ja nicht schriftlich; er wird ja wohl im Protokoll nicht völlig anders aussehen, als ich ihn gehört habe -,
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daß hier Übereinstimmung in der Sache und im Kern vorhanden ist. Und wenn diese vorhanden ist, muß man hier nicht zusätzlich einen Streitpunkt zu anderen Streitpunkten addieren.
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Sie haben das doch gemacht, und nicht ich habe zu verantworten, daß sogar in diesem Punkt - ({20})
Was soll das - ein nächster Punkt -, zu betonen: Unser Platz ist endgültig an der Seite derjenigen, die so wie wir für die Freiheit sind? Das wurde im Ton eines Vorwurfs gesagt. Unser Platz
auch, hören Sie mal! Wer hat denn daran gezweifelt? Warum muß denn dieser Eindruck erweckt werden? Vielleicht erst seit dem Frühjahr oder dem Sommer des vergangenen Jahres 1972, als gerade Sie wesentliche Dinge der Verbündeten und Vertragspartner des Westens völlig anders bewerteten als die Regierung und als diese selbst in bezug auf die Verständigung mit dem Osten?
Und was soll das eigentümliche Fragen nach dem, was der Bundeskanzler und Parteivorsitzende der SPD am 10. Dezember gesagt oder gemeint haben könnte? Sie sollten sich an das halten, was er z. B. heute hier über Wettbewerb, Wettbewerbssicherung, über Probleme der Marktwirtschaft, die wir lösen helfen wollen, gesagt hat. Das tun Sie nicht. Die sind Ihnen zu prosaisch. Es paßt Ihnen besser eine nicht direkte Beschuldigung, aber eine eine Beschuldigung enthaltende Frage: wie es denn eigentlich mit dem Verhältnis zu den Grundlagen der Wirtschaft und der Wirtschaftsweise bestellt sei.
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- Ja, und nehmen sich nicht einmal die Zeit, die Regierungserklärung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und der Partner zu lesen, weil Ihnen das andere ergiebiger erscheint. Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
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Wir sind hier nicht im Parteitag, hier sind wir im Deutschen Bundestag, dem einige lange angehören, andere noch nicht - was kein Vorwurf ist -, und hier reden wir über das, was hier Sache ist. Auch Sie, Herr Dregger, werden das noch lernen.
Zu dem mehrfachen „Warum?", Herr Barzel, bezüglich Maßnahmen der Bundesregierung z. B. für stabilere Preise: Ich hätte mich gefreut - und das wäre dann sogar auch eine fast komplizenhafte Freude gewesen, ich verrate Ihnen das mal -, wenn Sie sich mit den 15 Punkten befaßt hätten, die ich nämlich z. B. gern in der Regierungserklärung gesehen hätte, wenn ich darauf Einfluß gehabt hätte, mit den 15 Punkten des Kabinetts vor der Luxemburger Tagung der Wirtschafts- und Finanzminister über die von dieser Regierung vorgeschlagenen, ins Auge gefaßten und den auf communautaire Weise den Partnern in der Wirtschaftsgemeinschaft nahezubringenden Maßnahmen und was daraus geworden ist. Ich hätte sie gern zu einem Bestandteil dieser Diskussion gemacht gesehen, ob nun von Ihnen oder ob es nun von den bei uns in der Aussprache zu Worte Kommenden der Fall sein wird. Wenn sowohl hinsichtlich dessen, was in eigener Zuständigkeit der Bundesrepublik, als auch hinsichtlich dessen, was nur auf dem Wege gemeinsamen oder übereinstimmenden Handelns mit den Partnern in der EWG in dieser Richtung denkbar ist, wäre ja die Chance - ich habe nun Ihnen keinen Rat zu geben; wenn nicht für die Opposition, so für das Parlament -, der Regierung deutlich zu machen, daß wir in dieser Frage eben Sache sehen wollen, auch weiter hören wollen, z. B. bevor unsere Regierungsmitglieder mit denen in Paris in der nächsten Woche zusammenkommen, daß das auch dort ein
Gegenstand der Erörterung sein möge, obwohl die sicher nicht nur das zu tun haben. Aber nachdem man sich bei der Pariser Gipfelkonferenz glücklicherweise und verdienstvollerweise konkret mit gewissen Kernnotwendigkeiten befaßt hat und sie den Wirtschafts- und Finanzministern auch aufgetrahat hat zu erfüllen, ist es wohl angebracht, daß man darüber redet.
Herr Dr. Barzel, eine etwas wehmütige Berner-kung; entschuldigen Sie mir die. Sie haben heute so geredet, als stünden Sie - ich meine nicht Sie persönlich, sondern wir alle - vor einer Bundestagsneuwahl,
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obwohl Sie sich selber am Tage nach der vorigen Sitzung des Bundestages - sie war am 15. Dezember; auch da hatten Sie eine Rede gehalten zu der kurzen Erklärung des Bundeskanzlers -, am 16., einiges haben veröffentlichen lassen. Sie haben nämlich in einem Interwiev, im Text verbreitet vorn Pressereferat der CDU/CSU-Fraktion, erklärt:
Das Wahlergebnis gibt diesem VII. Deutschen Bundestag einen ganz anderen Charakter und verlangt von der Opposition eine andere Strategie und Taktik als im VI. Deutschen Bundestag. Wir sind nicht mehr verhinderte Regierungspartei, sondern wir sind klar Opposition und die anderen sollen regieren. Dies heißt, daß man der Regierung die Zeit lassen muß, jetzt mit ihren Vorlagen zu kommen. Dies heißt, daß wir nicht jeden Tag, wie wir dies im letzten Bundestag gemacht haben,
- also, ich sage dazu nichts mit Initiativen und Alternativen hervortreten müssen.
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Unsere Opposition darf nicht tagespolitisch sein. Sie muß gerichtet sein auf morgen, auf die bessere Alternative für 1976.
Nun, ich habe mir noch einmal das ganze Interview angesehen.
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- Moment, ich will es Ihnen gleich sagen. Da steht gleich hinterher, gleich im nächsten Satz - ich brauche gar nicht in die weiteren Sätze hineinzugehen -, daß der Interviewte hinzuzufügen begann - jetzt zitiere ich ihn wörtlich -, „daß wir Ende Januar/Anfang Februar eine Klausurtagung der Partei und eine der Fraktion in Berlin haben werden, wo wir im einzelnen über die Strategie und die Struktur der Opposition uns verständigen werden." Nun ist es Ihre Sache, sich darüber auseinanderzusetzen, ob das, was heute hier ex cathedra gesagt worden ist, noch Gegenstand dieser Klausurtagung sein kann oder ob damit vorher der Rahmen abgesteckt worden ist. Das ist Ihre Sache. Ich gehöre ja nicht dazu.
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- Sie werden es noch lernen, Herr, wissen Sie!
Nun zu dem verschiedentlichen Beklagen des Fehlens einer Antwort auf eine Forderung nach der
Solidarität der Demokraten, Herr Dr. Barzel. Solidarität beginnt dort und dann, wo auf die Verdächtigung und die Verunglimpfung dessen, den man zur Solidarität meint mahnen zu müssen, verzichtet wird.
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Ich möchte Ihnen da nur eine Bemerkung machen. Ich habe schon einmal öffentlich gesagt, daß ich nicht zu denen gehöre, die bei Beginn einer Periode Scherbengerichte mit anrichten wollen über das, was während des Wahlkampfes und vorher war. Das habe ich gesagt; ich habe auch nicht gesehen, daß mir das jemand hat widerlegen wollen. Es gibt andererseits einige, die den Verdacht haben, ich möchte einige der Dinge, die es verdienten, nachträglich noch deutlicher, greller beleuchtet zu werden, nicht beleuchtet sehen, vielleicht, weil man von mir annimmt, ich wüßte ja selber, daß das zu nichts führt. Ich möchte nur dies sagen: Über eine einzige Sache hätte ich gern, wenn nicht heute hier, so vorher - nachher wird es dann schon nicht mehr denselben Wert haben - ein paar Sätze gehört. Über eine einzige Sache: über die ungeheuerliche Unterstellung, die darin gelegen hat, daß man annoncierte, nur in einem von der Union regierten Deutschland könnten unsere jüdischen Mitbürger sicher leben und könnten die Beziehungen zu Israel gut sein, wie sie es verdienten. Dies war ungeheuerlich. Ich habe mich gefreut, daß, wenn auch ganz klein, in einigen ganz wenigen Zeitungen, auch in einer, die Sie vorhin so ausführlich zitiert haben, ganz winzig Notiz genommen wurde von einer Feststellung der Dachorganisation von 45 Vereinigungen für christlichjüdische Zusammenarbeit, die sich wegen das Hineinziehen dieses Problems in dieser Art in den Unions-Wahlkampfrausch gewehrt haben. Sehen Sie: dazu hätte ich, entweder vorher oder nun, gern etwas gehört, denn das geht weit über die Grenze dessen, was man sich bei noch so scharfer Gegensätzlichkeit in der Sache und in der Person sagen darf. Das kommt leider - und deswegen bin ich, ehrlich gesagt, traurig ({28})
doch sehr nahe an das heran - ich will es ja nicht umgekehrt sagen -, was Sie heute hier glaubten, auch in der Differenzierung zu unserer Stellung in bezug auf Israel sagen zu dürfen, indem Sie dem Bundeskanzler so großmütig zugestanden,
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er habe ja einige Worte dazu gefunden. ({30})
- Ja, reden Sie nicht von Solidarität, wenn Sie es vorziehen, so mit uns umzugehen!
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Eine vorletzte Bemerkung, meine Damen und Herren, betreffend Reform des § 218. Wenn Sie das so verstanden wissen wollen, wie es hier gesagt worden ist - das sei eine Gewissensentscheidung jedes einzelnen Abgeordneten und nicht- Sache von Fraktionen und Parteitagen -, so ist das auch meine
Auffassung - genauso wie bei dem Thema „Todesstrafe", um es deutlichzumachen. Nur bitte ich, dann nicht außer Zitat zu lassen unid damit aber außer Vorwurfsbereich zu lassen ,die Tatsache, daß die Sozialdemokraten, auf die ja hier wohl angespielt worden ist, auf ihren zwei Parteitagen, auf denen das eine Rolle gespielt hat, ausdrücklich als Bestandteil ihres Parteitagsbeschlusses stehen haben, daß das eine Gewissensentscheidung jeder und jedes einzelnen sei.
({32})
Ich habe mir einmal erlaubt, einem von mir als gelegentlichen Gesprächspartner sehr respektierten katholischen Bischof zu schreiben - ich will den Brief jetzt hier nicht verwenden - unid ihn in meinem dritten Punkt sozusagen zu fragen, ob es eigentlich in Ordnung sei, daß man von Gewissensentscheidungen redet, daß man aber, wenn Sozialdemokraten das ausdrücklich beschließen, dies dann nicht nur nicht zur Kenntnis nimmt, sondern so tut, als gelte 'das nicht. Ich wollte das hier nur angemeldet haben: Das steht ausdrücklich in unserem Parteitagsbeschluß, es steht ausdrücklich in unserer Wahlkampfplattform von Dortmund und ist so gemeint, wie es zu verstehen ist.
Letzter Punkt: Ich finde es schade, daß mein Respekt vor dem Schriftsteller, den Sie hier zitiert haben und den ich seit vielen Jahren - mit allem, was von ihn neu herausgekommen ist - immer gründlich und wieder und wieder gelesen habe, mich hindert, zu fragen, Herr Dr. Barzel, was Siedamit an unsere Adresse meinen könnten, wenn Sie es wahrscheinlich eigentlich nur deshalb zitieren, weil darin das Wort „Feigheit" vorkommt. - Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
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Vizepräsident von Hassel: Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick. Es ist eine Redezeit von 40 Minuten beantragt worden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten begrüßen die Regierungserklärung und werden ihre Verwirklichung voll unterstützen. In dieser Regierungserklärung sehen wir eine für jedermann sichtbare, sachliche Grundlage für die gemeinsame Arbeit dieser Koalition. Sie macht deutlich, daß hier zwei Partner gemeinsam die Arbeit gestalten wollen, die voreinander gegenseitigen Respekt haben und die miteinander zur Lösung der Probleme unserer Zeit fähig sind.
Mit der Entscheidung vom 19. November 1972 haben die Wähler dieser Koalition den Rückhalt gegeben, den sie für die Fortsetzung und den Ausbau ihrer Politik des Friedens und der Versöhnung braucht. Dieses Wahlergebnis ist nach meiner Überzeugung auch so zu verstehen, daß eine große Mehrheit unseres Volkes unser Land vor dem Rückfall in die konservative Erstarrung ebenso bewahren
wollte wie vor dem Abenteuer radikaler Veränderungen.
({0})
Meine Damen und Herren, die völlige Absage an die extremen Parteien links und rechts und die hohe Wahlbeteiligung von 91 % haben deutlich gemacht, daß sich die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland weiter gefestigt hat. Hierfür gilt allen Wählern unser Dank.
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Politik ist nach den Worten Hofmannsthals „Verständigung über das Wirkliche". Es wäre gut für dieses Parlament und vor allem für die Bürger, die dieses Parlament gewählt haben, wenn wir unsere künftige Arbeit stärker als in den vergangenen Jahren als Verständigung über das Mögliche begreifen würden; denn an der Bereitschaft zur Verständigung hat es nach meiner Überzeugung leider in der Schlußphase der 6. Legislaturperiode gefehlt. Die Fähigkeit zum Miteinanderreden wurde zeitweise überlagert vom bedingungslosen Gegeneinander. Daß zwischen den Mühlsteinen permanenter Konfrontation nicht gerade die überzeugendsten Ergebnisse erzielt werden, zeigte sich doch spätestens an dem Tag, an dem sich die Opposition von einem kurzfristigen Stimmenzuwachs überwältigen ließ und die von der Bundesregierung vorbereiteten Rentengesetze in eine Form zwängte, die keiner gesundheitspolitischen und stabilitätspolitischen Überprüfung standhielt. Nun, dieser Fehlgriff ist inzwischen teilweise korrigiert. Er gehört der Vergangenheit an.
Aber so wie die betonte Überspitzung von Gegensätzen, wenn nicht sogar die Erschöpfung mit ihnen, der Vergangenheit angehören sollte, so sollten wir, wenn von Solidarität gesprochen wird, das auf allen Seiten dieses Hauses so ernst nehmen, wie es diejenigen ernst genommen wissen wollen, die es hier aussprechen. Ich teile die Meinung des Kollegen Wehner, daß es hier dazugehört, daß endlich die Verunglimpfungen innerhalb und außerhalb des Hauses gegenüber den Koalitionsparteien aufhören und wirklich demokratische Solidarität herrscht.
({2})
Meine Damen und Herren, wir meinen, daß die Bürger, die am 19. November ein so klares Votum gefällt haben, nämlich die die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition verlangt haben, ein Recht auf eine sachorientierte Politik des Deutschen Bundestages besitzen. Das kann nicht etwa mit dem unpolitischen Wunsch nach Konfliktfreiheit gleichgesetzt werden. Konflikte wird es geben, solange es diese Gesellschaft gibt. Das Parlament ist aufgerufen, diese ständige Herausforderung anzunehmen und darauf zu antworten. Das wird nicht leichter, sondern komplizierter werden, weil die Aufbauphase hinter uns liegt.
Mir scheint es aber notwendig zu sein, gerade zum Beginn einer Legislaturperiode sich über einige Begriffe klar zu werden. Z. B. die Begriffe Wohlstand und Fortschritt verlangen nach meiner Überzeugung nach einer genaueren Definition. Nur Selbstgefällige können es da noch wagen, auf Patentrezepte zu pochen oder zu hoffen. Es gibt sie einfach nicht. Konservieren hilft so wenig wie die Flucht in die Utopie, in den Glauben an die Planbarkeit des Glücks. Was not tut, ist doch zunächst einmal das mühsame Geschäft des Aufräumens. Aufzuräumen ist mit alten Vorurteilen, daß beispielsweise die Erzeugung von immer mehr Mengen automatisch immer mehr Fortschritt bedeutet. Quantität schlägt eben nicht unbedingt in Qualität um, zuweilen eher in das Gegenteil.
Zu den Vorurteilen unseres neuen Zuschnitts gehört auch die Auffassung, daß das andere Extrem, daß nur eine totale Abkehr von gewohnten Normen zum Heil führen könne. Die Aufkündigung des Leistungsprinzips wird gefordert, die Drosselung und Umkehrung des Wirtschaftswachstums als Vorbedingung für tatsächliche Fortschritte gepriesen. Meine Damen und Herren, wir würden es uns zu einfach machen, wenn wir diese gärenden Gedanken, die gerade viele junge Menschen haben, mit einer wegwerfenden Geste beantworten wollten. Es ist doch des Nachdenkens wert, daß Heinrich Böll dieser Tage auf die Frage, was ihn am meisten an der bundesdeutschen Gesellschaft sorge, das Leistungsprinzip genannt hat, das ihm, wie er es formulierte, „einfach mörderisch und selbstzerstörerisch" erscheint. Eine Gesellschaft, die sich allein auf Gewinn und Erfolg gründe, so hat Heinrich Böll gesagt, sei völlig unmenschlich. Meine Damen und Herren, damit müssen wir uns auseinandersetzen. Böll hätte meiner Ansicht nach dann recht, wenn Leistung hierzulande nur noch Selbstzweck wäre, als Selbstzweck begriffen würde. Ich meine nicht, daß es so weit gekommen ist, wobei ich nicht ausschließe, daß es dies hin und wieder gibt. Die Kernfrage darf nach meiner Überzeugung für uns doch nur lauten: Für was sollen Leistung und Leistungssteigerung erbracht werden? Die Leistung an sich sollte nicht in Frage gestellt werden. Leistung muß sich nach meiner Überzeugung einsetzen für die Schaffung größtmöglicher Freiheit des einzelnen Menschen, für die Behauptung der Menschenwürde und Selbstbestimmung des Bürgers in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade die Einlösung dieser Postulate setzt die Schaffung entsprechender sozialer Bedingungen, also weitere Leistungen voraus.
Ich will hier einige markante Beispiele, ,die in der Regierungserklärung angesprochen sind, von unserer Seite her aber noch stärker ausgeprägt werden sollen, nennen, nämlich die Umweltpolitik, ,die Bildungspolitik und ,die Politik für mehr Mitbestimmung in Wirtschaft und Arbeitsleben.
Ich habe nicht zufällig die Umweltpolitik an die Spitze gestellt, denn nach meiner Überzeugung wird ihr Gelingen oder auch Nichtgelingen unsere Zukunft einschneidender prägen als jeder andere Faktor.
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Das ist zwar bis zur Stunde noch nicht überall verstanden worden, aber hier ist es wirklich notwendig, über das Verbale hinaus mehr als bisher zu tun.
Ich möchte hier aber auch gleich einem Irrtum vorbeugen. Zur Diskussion und Disposition steht dabei nicht unser System im allgemeinen oder etwa die marktwirtschaftliche Ordnung im besonderen. Umweltverschmutzung ist - das muß einmal klar gesagt werden - keine kapitalistische Krankheit, sondern ein weltweites Übel, das eingedämmt werden muß,
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wenn wir es mit idem Schutz der Würde des Menschen ernst meinen. Auch wenn es noch nicht im Grundgesetz verankert ist - die Regierungserklärung hat hier einen Ansatz erkennbar gemacht -, gehört für uns das Gebot, daß die Umwelt in den bestmöglichen Zustand versetzt werden muß, zu den unabdingbaren Menschenrechten.
Das bedeutet aber für die praktische parlamentarische Arbeit, daß wir z. B. die zügige Beratung und alsbaldige Verabschiedung des Antismog- und -lärmgesetzes sowie der Novellen zum Wasserhaushaltsgesetz, die mit einer Grundgesetzänderung verbunden sind, vornehmen. Der Bund benötigt einfach mehr Kompetenzen, wenn etwa der Kampf gegen die weitere Verschmutzung des Rheins nicht völlig sinnlos werden soll. Meine Damen unid Herren, wir rechnen darauf, daß die CDU/CSU, die sich während der Patt-Situation im 6. Deutschen Bundestag unvermittelt gegen eine von uns angestrebte Verabschiedung dieses Gesetzes aussprach, nun die Vernunft unid die Sachlichkeit dominieren läßt und einer Grundgesetzänderung nichts mehr in den Weg legt; sonst wäre alles nur Gerede und kein Handeln.
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Wir dürfen uns aber auch nicht damit begnügen, auf das, was schon ist, nur zu reagieren. Wir müssen vielmehr auch versuchen, Entscheidungen zu treffen, die uns vor möglichen Folgen rechtzeitig bewahren. Im Rahmen der Raumordnungspolitik muß das noch vorhandene nutzbare Potential an Boden, Wasser und Luft - dieses Potential ist ja schon eingeschränkt - mit den langfristigen Ansprüchen von Gesellschaft und Wirtschaft in Einklang gebracht werden. Wenn heute beklagt wird, all das geschehe so spät, so kann ich nur sagen: Alle diejenigen, die es beispielsweise 1958 für richtig hielten, dem dameligen neugewählten Parteivorsitzenden der Freien Demokraten, Reinhold Maier, als er von Luft, Wasser unid Lärm sprach, vorzuwerfen, diesem alten Mann fiele nichts Neues ein, müssen heute erkennen, daß sie 15 Jahre zu spät daran sind, nicht aber wir mit unserer rechtzeitigen Forderung, diese Fragen ernst zu nehmen.
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Aber wenn wir dabei weiterkommen wollen - gerade mit den Fragen der Raumordnungspolitik -, dann muß eben eine Reform des Bodenrechts erfolgen, die vor allem in den Ballungsräumen zu einer sinnvolleren Nutzung der Bodenreserven führen muß. Wir haben dazu mit unseren Freiburger Thesen konstruktive Lösungsvorschläge eingebracht. Wir werden sie hier in den Beratungen im Detail darlegen. Ziel ist es, eine bessere Nutzung der Bodenreserven zu erreichen, aber damit gleichzeitig auch den Preisanstieg durch Spekulationsgewinn zu dämpfen, mehr Menschen die Chance zum Erwerb von Grund und Boden zu geben.
Lassen Sie mich hier eines deutlich sagen - und das gehört zu dem, was nicht als Solidarität verstanden werden kann -: Im Lande versuchen die Kollegen der CDU/CSU den Menschen immer weiszumachen, wir seien Anhänger der Sozialisierung von Grund und Boden. Ich will noch einmal mit aller Deutlichkeit feststellen: Sozialisierung oder Kommunalisierung von Grund und Boden ist unserer Auffassung nach keine Lösung für die anstehenden Probleme; denn die öffentliche Verwaltung allein kann keine ausreichende Gewähr für eine gerechte Nutzung des Bodens bieten. Deshalb sind unsere Vorschläge eben anders geartet, und wir werden darüber zu sprechen haben.
Meine Damen und Herren, ich habe mit Freude gehört, daß für den Kollegen Barzel die Bildungspolitik einen vorderen Rang einnimmt - Bildungspolitik! Ich sage ganz offen: für Reformeuphorie ist auf dem Felde der Bildungspolitik kein Platz. Aber noch weniger Anlaß besteht, gerade bei denen über solche Erkenntnis in Schadenfreude auszubrechen, die bisher immer Hemmschuhe waren und an denen es liegt, daß wir im Bereich der Bildungspolitik nicht weitergekommen sind.
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Wer die Zuständigkeiten und Kompetenzverteilungen im bildungspolitischen Bereich kennt, weiß, daß uns hier nur eine gemeinschaftliche Anstrengung von Bund und Ländern weiterhelfen kann. Als erster Schritt zur Überwindung der akuten Notstände muß deshalb nach unserer Überzeugung die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung intensiviert werden. Dazu gehört zum einen die Bereitschaft, das 1970 geschaffene Instrument der Bund-Länder-Kommission konsequenter zu nutzen als bisher. Zum anderen halten wir Freien Demokraten es für unerläßlich, mit den Ländern über eine einvernehmliche Grundgesetzänderung zu beraten, die dem Bund auch eine parlamentarisch verantwortliche Zuständigkeit für Bildungsplanung und Bildungsfinanzierung einräumt.
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Das ist für uns unabdingbar. Nur wenn man aus der bisherigen mangelhaft abgestimmten Addition von elf „Bildungspolitiken" der Bundesländer - manchmal kann man gar nicht davon sprechen - ein ausbaufähiges Gesamtsystem macht, dann läßt sich die quantitative Bildungsexpansion auch qualitativ auf einheitliche Reformziele richten; sonst ist das nicht möglich.
Eine Beibehaltung der derzeitigen eifersüchtigen Abgrenzung im Bildungsbereich würde das seit Jahrzehnten gewachsene bildungspolitische Dilemma in der Bundesrepublik nur vergrößern. Mir klingt noch ein unheilvoller Satz eines bayerischen Ministers im Ohr: daß sich in der Bildungspolitik halt die Staatsnatur der Länder realisiere. Mit solchen Formeln von gestern kommen wir nicht weiter; sie müssen endlich über Bord geworfen werden. Sie
lassen die Notwendigkeit außer acht, einheitliche Lebensverhältnisse in der ganzen Bundesrepublik zu erreichen.
Das Bildungssystem muß nach unserer Überzeugung die heranwachsenden Bürger zur Selbstbestimmung befähigen, damit sie die Chance zur Mitbestimmung auch wirklich nutzen können; denn beides hängt doch auf das engste miteinander zusammen. Um die Vertiefung dieser Chance der Mitbestimmung, nämlich um den Ausbau der Mitbestimmung im wirtschaftlichen Bereich, wird in der nächsten Zeit hartnäckig zu ringen sein.
Wir Freien Demokraten gehen dabei von der Gleichgewichtigkeit der am Arbeitsprozeß beteiligten Kräfte aus, d. h. daß diejenigen, die das Kapital geben, als eigene Interessengruppe auf der einen Seite und diejenigen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, gleichgewichtig auf der anderen Seite vertreten sein sollen. Durch die von den Freien Demokraten gewünschte Beteiligung der leitenden Mitarbeiter als dritten Faktor werden keine Gegensätze kaschiert, sondern Tatbestände, die nun einmal vorhanden sind, differenziert. Darum geht es uns.
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Hierzu werden wir im Zuge der Debatte noch manches verdeutlichen. Spekuliere aber niemand darauf, daß es bei den Ankündigungen bleibt. Wir haben den festen Willen zur Lösung, und wir werden auch gemeinsam einen Weg dazu finden.
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Wenn wir immer wieder von der menschenwürdigen Gesellschaft sprechen und die Forderung nach ihrer Verwirklichung erheben, dann gehört dazu auch, daß in einer sozial gerechten Gesellschaft grundlegende Reformen unseres Rechtswesens erfolgen. Und auch unter dem Zeichen der Selbstbestimmung will ich ein Beispiel herausgreifen, was schon angesprochen wurde, aber meiner Ansicht nach noch nicht deutlich genug, nämlich die Reform des § 218. Es war die FDP, die sich als erste Partei für eine klare Lösung im Sinne der Fristenregelung eingesetzt hat. Sie brauchte einen langen Atem, um für ihre Initiative nach der breiten Zustimmung aus der Bürgerschaft nun auch zusätzlichen politischen Rückhalt zu gewinnen.
Ich will nicht verschweigen, daß wir mit unserem Konzept auch auf Widerstand, Mißverständnisse - vor allem in den Kirchen - gestoßen sind. Das wurde ganz besonders - ich bedaure das - im Wahlkampf deutlich. Es gab Verdikte und auch den Satz, daß die Fristenlösung - ich zitiere jetzt wörtlich - „Anfang vom Ende unseres sozialen Rechtsstaates sei". Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist richtig;
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Denn mit der Fristenlösung wird der Frau endlich jenes Selbstbestimmungsrecht eingeräumt, das ihr der Gesetzgeber bisher vorenthalten hat.
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Die Folgen waren verheerend - ich brauche hier nicht im einzelnen darüber zu sprechen -; denn die
Androhung von Strafe hat sich doch in diesen elementaren Fragen nicht als wirksam erwiesen, sondern darüber hinaus eine große Zahl von Frauen schwerer seelischer Not, schließlich den Kurpfuschern ausgeliefert und damit auch Erpressungen ermöglicht. Genau das ist alles andere als sozial und genau damit muß aufgeräumt werden.
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Durch die Fristenlösung werden religiöse, sittliche und moralische Fragen nicht präjudiziert. Die Frauen können in den ersten drei Monaten ihre religiöse und sittliche Entscheidung selbst treffen. Kirchliche und andere Institutionen bleiben aufgefordert, sie entsprechend zu beraten. Wir hoffen, daß die Sachdiskussion endlich von den Emotionen frei wird, damit hier ein Recht geschaffen wird, was im Interesse des Bürgers ist und nicht im Gegensatz dazu steht.
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Die Reform des Ehe- und Familienrechts ist in der Regierungserklärung angesprochen worden. Wir sind der Meinung, wir solten alles daransetzen, um in dieser Legislaturperiode zum Abschluß zu kommen.
Hierzu noch einige für meine Fraktion besonders wichtige Punkte. Da geht es um die Durchsetzung des Verfassungsgebots der Gleichberechtigung, um die Ersetzung des bisherigen Verschuldensprinzips durch das uneingeschränkte Zerrüttungsprinzip mit zeitlich begrenzter Härteklausel; da geht es um die Einführung einer einheitlichen Familiengerichtsbarkeit, der Ehescheidungs- und Scheidungsfolgenregelungen, und es geht um die eigenständige Versorgung der Ehefrau.
Im Rahmen der Familienrechtsreform geben wir Freien Demokraten der Reform des Kindschafts- und des Adoptionsrechts die Priorität. Hier muß am schnellsten etwas geschehen. Wir treten ebenso dafür ein, daß der Gesetzentwurf zur Volljährigkeit nun endlich verabschiedet wird.
Lassen Sie mich zu einem anderen Kapitel ein paar Bemerkungen machen. Nach unserer Überzeugung besteht zwischen aktiver Reformpolitik und der Freiheitserhaltung der Gesellschaft ein direkter Zusammenhang. Reformieren heißt, ohne Zwang und ohne Hektik zum Besseren verändern. Das wird um so eher und um so mehr menschenmöglich sein, je konsequenter vollzogene Einsichten in praktisches Handeln umgesetzt werden.
Zu den weit verbreiteten Einsichten gehört, daß der Antriebsmotor für das wirtschaftliche Wachstum in unserem Land vor Störungen geschützt, ja, wenn nicht auf höhere Touren gebracht werden soll. Ich meine die Marktwirtschaft. Herr Kollege Barzel, Sie beklagten ja, daß darüber noch nicht genug gesagt sei.
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Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels, Fritz Dietz, hat vor wenigen Tagen folgendes gesagt:
Wir haben eher zuwenig Marktwirtschaft in unserem Land, um gerade die Aufgaben in Angriff zu nehmen und lösen zu können, die angeblich auf den Mängeln und Fehlern der Marktwirtschaft beruhen.
Ich stimme dem im Grundsatz zu, füge aber hinzu: Wenn wir zuwenig Marktwirtschaft haben, haben wir eben zu wenig Wettbewerb. Dies muß geändert werden.
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Deshalb ist es notwendig, daß wir die Kartellgesetznovelle hier so schnell wie möglich verabschieden, um durch eine verstärkte Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen, durch eine vorbeugende Fusionskontrolle und durch Kooperationserleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen den Wettbewerb zu verbessern.
Wettbewerb gewährt nach unserer Überzeugung nun einmal ein Höchstmaß an Freiheit für alle. Er sorgt für optimales Wirtschaftswachstum, weil er die Unternehmer herausfordert, ihre Leistung ständig zu steigern. Wettbewerb fördert aber auch Preisstabilität, weil Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs einen Druck auf Kosten, Preise und Gewinne ausüben und somit zur Bekämpfung der Preissteigerungen beitragen können.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat die Stabilitätspolitik in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt. Wir sind gespannt, wie bei der Beratung der Kartellgesetzesnovelle nun die aktive Mitarbeit bei diesem Punkt der Stabilitätspolitik aussehen wird.
Bemerkenswert ist bei aller Kritik der CDU/CSU an der Stabilitätspolitik aber doch, daß da, wo die CDU/CSU Verantwortung trägt, kein besonderer Beitrag zur Stabilität geleistet worden ist.
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Wir wissen - ich will das hier nicht im einzelnen darlegen, weil wir es in den Debatten über den Haushalt mehrfach behandelt haben -, daß das Finanzgebahren von Ländern und Gemeinden manchen Anlaß zur Kritik gibt. Es muß aber immer wieder deutlich gemacht werden, daß der Bund hier eben nicht allein verantwortlich sein kann. Die konjunkturelle Wirkung des Staates muß unter Einschluß von Bundesländern und Gemeinden gesehen werden. Hier ist es auch an der Zeit, den Beitrag zur gemeinsamen Verantwortung nicht nur verbal zu fordern, sondern auch durch die Gremien der CDU/CSU über den Bundesrat und die Gemeinden Wirklichkeit werden zu lassen.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Wehner hat darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung auf Grund der Beschlüsse der Pariser Gipfelkonferenz und in ihrem 15-Punkte-Programm vom 27. Oktober 1972 Entscheidendes zur außenwirtschaftlichen Seite dieses Problems gesagt hat. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß wir diese Überlegungen nach wie vor unterstützen und hoffen, daß davon mehr noch als bisher in die Tat umgesetzt werden kann. Wir erwarten aber auch, daß eine alte Forderung, die wir mehrfach erhoben haben, endlich verwirklicht wird, daß nämlich das Instrumentarium des
Stabilitätsgesetzes verbessert wird und die Erkenntnisse der letzten Jahre ihren gesetzgeberischen Niederschlag darin finden.
Die Regierungserklärung hat sehr deutlich zu dem Problem der sektoralen Strukturpolitik Stellung genommen. Wir sehen hier eine wesentliche Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, nachdem gerade diese Punkte in der Vergangenheit sehr vernachlässigt worden sind.
Eins scheint uns schon heute zu sagen möglich und notwendig zu sein: den Haushalt 1973 erwarten wir in einer konjunkturgerechten Größenordnung und sind überzeugt, daß er sich ohne Steuererhöhungen ausgleichen lassen wird.
Die Steuerreform soll nach unserer Überzeugung als Strukturreform nicht unter dem Aspekt der Einnahmeverbesserung stehen. Wir werden uns nach wie vor dabei von dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit, der Erhaltung der Leistungsbereitschaft der Wirtschaft und der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit sowie von der Vereinfachung des Steuerrechts leiten lassen. Nach wie vor streben wir an, daß alle Bestimmungen der Steuerreform, d. h. die, die Entlastungen bringen, und die, die Belastungen bringen, gleichzeitig in Kraft gesetzt werden, damit die angestrebte Ausgewogenheit auch wirklich gewährleistet wird. Daß dabei manches an Einzelfragen noch zu prüfen sein wird, wissen wir nur zu genau.
Meine Damen und Herren, noch einige kurze Bemerkungen zu dem, wie ich meine, für die künftige Legislaturperiode mindestens genauso wichtigen Kapitel der Sozialpolitik. Hier sehen manche Wandlungen in der Form der Sozialpolitik auf uns zukommen. Wir sind der Meinung, daß die materielle Sicherung nur ein Aspekt der Sozialpolitik ist.
Wir möchten deshalb vorschlagen, daß in dieser Legislaturperiode die während der Großen Koalition liegengebliebene Beratung der Sozialenquete
wieder aufgenommen wird, weitergetrieben wird, um hier noch mehr als bisher Tatbestände, die in unserem Volke vorhanden sind, die aber noch gar nicht richtig erfaßt sind, im einzelnen zu untersuchen. Wir wissen zwar beispielsweise, wie viele Menschen Rente in welcher Höhe erhalten, aber über die tatsächliche soziale Situation, über ihre Einkommenssituation insgesamt, die Probleme einer altersgemäßen Wohnraumversorgung, die Fragen der gesellschaftlichen Integration nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, ihre gesundheitliche Situation usw. wissen wir nur sehr wenig. Uns scheint es notwendig zu sein, in dieser Legislaturperiode in dieser Richtung da fortzufahren und das weiterzutreiben, was bereits begonnen worden ist.
Dazu gehört auch eine Frage, die wie ein kleines Teilproblem erscheint, mir aber wichtig genug ist, sie heute anzusprechen, nämlich das Problem der zusätzlichen Altersvorsorge in den Betrieben. Wir brauchen nach meiner Überzeugung gewisse Grundnormen hinsichtlich der Verbindlichkeit solcher Zusagen, die über die gesetzliche Altersvorsorge hinaus in den Betrieben gegeben worden sind, um gerade für die leitenden Angestellten, für die
leitenden Mitarbeiter mehr Beweglichkeit zu ermöglichen und nicht die Immobilität durch die zusätzliche Altersvorsorge zu unterstützen.
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Meine Damen und Herren, es wäre verlockend - aber Herr Kollege Wehner hat ja schon darauf hingewiesen, daß die eigentliche Aussprache nach dem Wunsche der Opposition in der nächsten Woche stattfindet -, hier für den Bereich der Gesundheitspolitik noch ein paar Akzente zu setzen. Ich will mich auf nur wenige Bemerkungen beschränken.
Wir sind davon überzeugt: wir müssen stärker als bisher erkennen, daß die Neigung zur Berufsausübung gerade im Gesundheitswesen wegen der persönlichen Verantwortung mehr und mehr abnehmen wird, wenn der Einsatz dort keine entsprechende Würdigung findet. Sonst laufen wir Gefahr, daß wir hier zwar Bedarfsplanungen für Krankenhäuser und für die verschiedensten Einrichtungen behandeln und verabschieden, aber in Zukunft in den ärztlichen Praxen und auch in den Krankenhäusern zumindest in bestimmten Bereichen - ich denke hier an die Landgebiete - gar nicht mehr das notwendige Angebot an Menschen haben, die dort tätig werden wollen, daß wir aber die entsprechenden materiellen Voraussetzungen - Betten, Krankenhäuser - geschaffen haben. Das ist eine Frage, die von uns bei der Arbeit im nächsten Jahr besonders beachtet werden sollte.
Der Herr Bundeskanzler hat dankenswerterweise davon gesprochen, daß der Sport auch nach einem spektakulären Ereignis, wie es die Olympischen Spiele sind, nicht in Vergessenheit gerät. Ja, gerade jetzt ist es nach unserer Überzeugung notwendig, deutlich zu machen, daß wir dem Sport, insbesondere dem Breitensport und dem Schulsport, im Rahmen unserer Gesundheitspolitik auch eine entscheidende Rolle beimessen und ihn nicht nur als eine zwar schöne, aber uns sonst wenig angehende Nebensache betrachten.
Auch noch ein kurzes Wort zu den Fragen der Vermögensbildung: Auch hier ist der Wille der Regierung deutlich geworden, zu Entscheidungen zu kommen. Wir haben auch dazu Vorschläge erarbeitet, die wir in die Beratungen einbringen werden. Ich möchte nur eines in aller Deutlichkeit klarstellen: Unser Vermögensbildungsmodell geht von marktwirtschaftlichen Grundsätzen aus, d. h. Steuerbelastung, Liquidität, Investitionsquote und Wettbewerbsfähigkeit werden von den Freien Demokraten bei ihren Vorschlägen zur Lösung berücksichtigt, was ich von den Vorstellungen der Opposition nicht sagen kann, wenn die überhaupt noch einmal wieder aufs Tapet kommen.
Wir gehen bei der gesetzlichen Vorbereitung des Modells, das die Bundesregierung vorlegen will, davon aus, daß die Grundsatzbeschlüsse vom 11. Juni 1971 dabei Ausgangspunkt sind. Ich möchte aber ausdrücklich betonen: wir sind nach wie vor der Meinung, daß die für eine vernünftige Vermögensbildung notwendigen Beteiligungsfonds in das Banken- und Sparkassensystem eingegliedert und dezentralisiert werden müssen.
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu einer Frage machen, die der Bundeskanzler ebenfalls angesprochen hat, nämlich zur Neugliederung des Bundesgebietes. Das ist für uns Freie Demokraten schon immer ein gewichtiger Punkt gewesen, und es war ja Reinhold Maier, der im Südwestraum Entscheidungen dazu erreicht hat. Während wir uns in der Vergangenheit wie einsame Rufer in der Wüste vorkamen, sind inzwischen die Mitstreiter zahlreicher geworden.
Wir bekennen uns zu dem Grundsatz des Art. 29 des Grundgesetzes, in dem es heißt: Es sind Länder zu schaffen, „die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können". Hier liegt auch ein Stück Reformarbeit, wenn wir es ernst damit meinen, die Lebenschancen, die Lebensbedingungen in dieser Bundesrepublik einheitlich zu gestalten und nicht das Gefälle beizubehalten, das wir heute zwischen den Ländern haben.
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Die FDP hat ja bereits 1968 dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er betraf die drei Länder Hessen, Rheinland-Pfalz und Saar. Wir gehen von diesen Überlegungen aus, sind aber für jede andere gemeinschaftlich tragbare Lösung, die uns hier weiterbringt, selbstverständlich offen. Wir halten gar nichts davon, zwar immer überall von Neugliederung zu reden, aber durch Maximalforderungen möglichst jeder Entscheidung auszuweichen. Es muß auch hier zu Entscheidungen kommen.
Lassen Sie mich jetzt zum Schluß ein paar Bemerkungen zur Deutschland- und Außenpolitik machen. Eine Politik des Fortschritts und der Freiheitssicherung im Innern muß natürlich nach meiner Überzeugung, die wir Liberale nun einmal haben, mit einer Politik des friedlichen Ausgleichs und der aktiven Mitgestaltung nach außen korrespondieren.
Ich glaube, wir können heute feststellen, daß die sozialliberale Koalition diesem Anspruch in den letzten drei Jahren gerecht geworden ist. Sie hat mitgeholfen, daß das in den langen Jahren des kalten Krieges gewachsene Mißtrauen zwischen uns und den östlichen Nachbarn abgebaut werden konnte. Sie hat letztendlich dafür gesorgt, daß der Dialog und schließlich auch vertragliche Regelungen zugunsten der Menschen zwischen den beiden Staaten in Deutschland zustande kamen. Jedermann weiß dies; aber ich bedauere sehr, daß das nicht mit, sondern teilweise gegen die CDU/CSU realisiert werden mußte. Wenn ich Herrn Kollegen Barzel heute richtig verstanden habe, müssen wir auch für die Zukunft mit einem gewissen Gegeneinander in der Deutschlandpolitik rechnen. Ich will mir verkneifen, näher darauf einzugehen, daß die einen von menschlichen Erleichterungen reden und die anderen just gegen diese Redner diese menschlichen Erleichterungen durchsetzen mußten. Das ist doch der Tatbestand, den wir in den letzten Jahren gehabt haben.
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Die Inkonsequenz dieser Widerstandsbewegung gegen eine realistische Verständigungspolitik hat
sogar einen doppelten Boden, wenn man einmal einen der entschiedensten Gegner unserer Ost- und Deutschlandpolitik, dem Kollegen Strauß, glauben darf. Der Kollege Strauß schrieb nämlich Anfang dieses Jahres in seinem „Bayern-Kurier", niemand werde mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit der Bundesregierung vorwerfen können, daß sie die Teilung Deutschlands herbeigeführt habe. Wörtlich sagte Kollege Strauß:
Kein deutscher Kanzler von Adenauer bis Brandt konnte die durch die Kriegspolitik des Deutschen Reiches und die Machtpolitik der Sowjetunion geschaffenen Verhältnisse durch Akte und Entscheidungen der deutschen Politik ändern.
Da sind wir absolut einer Meinung. Kollege Strauß sieht also sehr wohl die zementierte Teilung Deutschlands, nur will er sie für die politische Praxis nicht wahr haben und handelt nach Palmström: daß nicht sein kann, was nicht sein darf.
({21})
Das ist doch der Punkt. Herr Kollege Strauß, Sie ziehen keine Konsequenzen aus Ihren Überlegungen. Politik ist das allerdings nicht.
Gerade unsere Generation ist doch aufgerufen, aus den tiefgreifenden Auswirkungen des letzten Weltkrieges so entschlossen wie möglich, so realistisch wie nötig zu reagieren. Daß das ein langer Prozeß ist, wissen wir. Daß wir das aber mutig und selbstsicher vorangetrieben haben, haben uns - die Zahlen sollen ruhig einmal genannt werden - sechs Millionen Besucher aus der Bundesrepublik und West-Berlin in der DDR und über anderthalb Millionen Bürger aus der DDR in die Bundesrepublik gedankt. Jeder von uns hat es erlebt, wie dankbar sie für diese Möglichkeiten sind.
({22})
Wir gehen davon aus, daß diese begonnenen Möglichkeiten weiter ausgebaut werden.
Wir wissen, daß es hier Mängel gibt, und wir verstehen die Diskussion darüber, daß Behörden der DDR dabei sind, manche Bestimmungen restriktiv auszulegen. Ich möchte hier ganz klar feststellen, daß die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR kein Verständnis dafür haben wird, wenn die DDR die getroffenen Vereinbarungen, wenn sie endgültig in Kraft sind, restriktiv handhabt. Das würde nicht dazu beitragen, diesen Entspannungsprozeß, der von der Mehrheit unseres gesamten Volkes getragen wird, zu einem geregelten Nebeneinander zu kommen, wirklich zu unterstützen, sondern sie würde ihn nur behindern. Deshalb müssen wir an die Vernunft auch derjenigen in der DDR appellieren, die offensichtlich noch nicht begriffen haben, daß es um mehr geht als nur um Besuche, nämlich um Entspannung in ganz Europa.
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Meine Damen und Herren, wir haben eine feste Basis für unsere Außenpolitik gefunden. Wir stehen nach der Ratifizierung der Verträge mit Moskau und Warschau vor der Ausfüllung dieser Verträge. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß der Formalisierung eine echte Normalisierung folgt.
Der bevorstehende Beitritt zu den Vereinten Nationen wird an uns mehr Anforderungen stellen, als in der Vergangenheit an uns gestellt worden sind. Wir werden uns zu drängenden Fragen zu äußern haben, wo wir bisher nicht gefragt wurden.
Wir stehen dazu, daß ein Teil dieser gemeinsamen Wirkung über die Europapolitik möglich ist. Wir stehen auch zu dem Entschließungsantrag, der von den Koalitionsparteien in der vergangenen Legislaturperiode dazu eingebracht worden ist. Wir gehen aber auch davon aus, daß mehr Sicherheit in Europa, was auch das Ziel unserer konstruktiven Mitarbeit in der NATO ist, nicht nur durch den ununterbrochenen und ständigen Ausbau zunehmender beiderseitiger militärischer Stärke und den damit verbundenen Rüstungsweittlauf erreicht werden kann; vielmehr muß das Ziel jeder Friedenspolitik sein, den Abbau wechselseitigen Mißtrauens zu erreichen und auch eine Entspannungspolitik auf der Basis militärischer Gleichgewichtigkeit durchzusetzen. Das ist für uns ein entscheidender Punkt bei der Betrachtung unserer Sicherheit nach außen.
Dazu gehört auch, daß bei der Strukturreform der Bundeswehr diese Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Hier liegen viele Vorschläge vor. Ich werde sie jetzt nicht darlegen. Wir werden sie in der Debatte noch bringen.
Aber ein Wort zur Frage der Wehrgerechtigkeit scheint mir notwendig zu sein, damit hier kein Irrtum entsteht. Theodor Heuss - dazu stehen wir - hat gesagt, die Wehrpflicht sei das „legitime Kind der Demokratie". Wir wollen keine zusätzlichen Organisationen geschaffen wissen, um etwa zum Zweck der Wehrgerechtigkeit alle nicht eingezogenen Angehörigen eines Jahrgangs zu beschäftigen. Das kostet Geld, entzieht der Wirtschaft Menschen, mehr Menschen, als zur Verteidigung gebraucht werden, und bringt keinen Nutzen. Es muß nach unserer Überzeugung sorgfältig untersucht werden, wieweit sich der Wehrdienst weiter verkürzen läßt. Wir sind davon überzeugt, daß das auch möglich werden wird.
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Wir wollen auch, daß Idas Zivildienstgesetz, das leider die letzte Hürde nicht nehmen konnte, bald verabschiedet wird, und stehen zu den Äußerungen der Bundesregierung zur Kriegsdienstverweigerung. Auf Dauer gesehen müssen darüber hinaus Lösungen gefunden werden, die das heutige nicht befriedigende Anerkennungsverfahren als Kriegsdienstverweigerer überflüssig macht.
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Auch Idas muß in die Überlegungen einbezogen werden.
Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, daß, wenn man eine Reihe von Fragen behandelt hat, manche kommen und sagen: Dies oder jenes isst nicht angesprochen worden. Wir werden Gelegenheit haben, Idas in der nächsten Woche zu tun. Lassen Sie mich aber zum Schluß noch folgendes feststellen.
Ich habe 1969 zur Regierungserklärung gesagt, daß die Koalitionsparteien keine „eineiigen Zwillinge" seien und auch nicht so handeln würden. Bei den Wahlen zum 7. Deutschen Bundestag ist wohl auch dem letzten Zweifler klargeworden, daß die Koalition aus zwei Parteien besteht, die sich vom Grundsatz ihrer Politik her und auch in einer Reihe von konkreten Zielvorstellungen durchaus unterscheiden. Wie 1969 sind wir wieder ein Zeit- und Zweckbündnis auf der Basis einer Partnerschaft für den Fortschritt eingegangen. Das ist der Ausgangspunkt unserer gemeinsamen Überlegungen.
Die politische Arbeit ,dieser Koalition in den vergangenen drei Jahren hat bewiesen, daß die Unterstellungen und Verdächtigungen, es werde eine Politik der Sozialisierung betrieben, dummes Geschwätz waren und sind und unter die Kategorie fallen: Wenn Solidarität verlangt wird, sollte man auch solch ,dummes Geschwätzaufgeben.
Wir gehen ,davon ,aus, daß nach der Entscheidung vom November
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die Rückkehr zur Sachlichkeit der CDU/CSU nicht zu
schwer fällt. Wir erwarten die Alternative der Opposition zu unseren Vorschlägen. Aber wo ,die Opposition in der Sache keine hat, da erwarten wir, daß die Opposition darauf verzichtet, mit der Fuchtel der Angst die Bürger verunsichern zu wollen.
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Meine Damen und Herren, daß sich dies nicht auszahlt, hat der 19. November bewiesen. Wir werden bei unserer sachbezogenen, den Menschen dienenden Politik bleiben.
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Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, die Rednerliste für die heutige erste Runde der Aussprache zur Regierungserklärung ist erschöpft. Wir sind daher am Ende der Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Plenarsitzung zur Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung auf Mittwoch, den 24. Januar, 9 Uhr,
Die Sitzung ist geschlossen.