Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/17/1973

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sechzehnte Rentenanpassung und zur Regelung der weiteren Anpassungen der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung - Drucksache 7/427 aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 7/567 -Berichterstatter: Abgeordneter Krampe bb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksache 7/532 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Nölling ({2}) b) Zweite Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sechzehnte Rentenanpassung und zur Regelung der weiteren Anpassungen der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung - Drucksache 7/446 -Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) - Drucksache 7/532 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Nölling ({4}) Wünschen die Berichterstatter das Wort? - Bitte, Herr Berichterstatter!

Dr. Wilhelm Nölling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe lediglich eine Berichtigung anzugeben; im übrigen verzichte ich auf die Berichterstattung. Es muß bei der Anpassung der Unfallversicherung statt „9,1" heißen „9,4". ({0}) - Sie sehen, wir sind heute morgen „auf zack".

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort zur allgemeinen Aussprache gewünscht? -- Bitte, Herr Abgeordneter Franke.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Prau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute hier in zweiter Lesung den Entwurf eines Sechzehnten Rentenanpassungsgesetzes. Die Fraktion der CDU/CSU stimmt den darin angesprochenen Erhöhungen der Bestandsrenten um 11,35 % zu. Das tun wir vor allem auch deshalb, weil es die CDU/CSU war, die gegen den Widerstand von SPD und FDP im letzten Jahr die vorgezogene Rentenanpassung durchgesetzt hat. Am 6. April haben wir allerdings in diesem Hause schon erklärt, daß wir den Verschlechterungen, die in Ihrem Gesetzentwurf außerdem enthalten sind und hier von Ihnen in das Sechzehnte Rentenanpassungsgesetz eingearbeitet sind, nicht zustimmen werden. Wir werden uns an dem Sammeleifer, den Sie, SPD und FDP, entwickelt haben, Wahlgeschenke einzusammeln, nicht beteiligen. ({0}) Hier trifft wirklich zu: nach den Wahlen bitte zahlen! Dabei streichen Sie sogar das „bitte". ({1}) Sie oktroyieren einfach: hier werden Wahlgeschenke wieder eingesammelt! Das ist der dritte Akt einer sozialen Demontage seit dem 19. November 1972. ({2}) Sie holen sogar das zurück, wozu Sie in der Schlußabstimmung am 21. September des vergangenen Jahres auch noch Ihre Zustimmung gegeben haben, z. B. die Rentenniveausicherung. Ich wiederhole noch einmal: die CDU hatte im letzten Jahre beantragt und durchgesetzt, als Ziel Franke ({3}) eine mittelfristig zu erreichende Grenze von 50% des Bruttoarbeitsentgelts für die Rentner zu garantieren. Mit dieser Art Regelbindung - ich wiederhole das, was ich am 6. April gesagt habe - wollten wir verhindern, daß Überschüsse bei den Rentenversicherungsträgern, die u. a. aus der inflationären Entwicklung anfallen, zu Lasten der Rentner verplant und für andere Zwecke - vielleicht auch zeitlich „günstig" plaziert - ausgegeben werden. Die Erhöhung der Renten um 11,35 %, die die Rentner jetzt erhalten sollen, reicht kaum aus, das Realeinkommen der Rentner zu verbessern. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erreichte die Steigerung der Lebenshaltungskosten für Rentnerhaushalte in diesem Monat gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres 9 %. Es bleibt also eine Nettoerhöhung um nur 2,35%, und das bei einer zunehmenden Tendenz der Steigerung der Lebenshaltungskosten. Diese Tatsache zwingt uns, die von Ihnen vorgesehene Änderung der Niveausicherungsklausel, d. h. die Sicherung des Rentenniveaus auf einem niedrigeren Stand, abzulehnen, ihr energisch zu widersprechen. Warum tun wir das, meine Damen und Herren? - Ich darf Ihnen hier einmal ein paar Zahlen vortragen. Ich zitiere aus der Übersicht 12 auf Seite 30 des Rentenanpassungsberichts der Bundesregierung vom 31. Januar 1973 mit der Überschrift „Durchschnittliche Höhe der am 1. November 1972 laufenden Versichertenrenten nach anrechnungsfähigen Versicherungsjahren und Rentenarten". Nach dieser Übersicht erhält ein Rentner bei einer 35- bis 40jährigen Versicherungs- und Beitragszeit eine Rente von monatlich 578,80 DM. Nun muß man natürlich noch die zum 1. Juli eintretende Erhöhung um rund 11 °/o hinzurechnen. Ich darf diese Zahlen einmal mit den Zahlen vergleichen, die wiederum das Statistische Bundesamt geliefert hat und die letztlich für Leistungen der Sozialhilfeträger maßgebend sind. Ich wiederhole: Ein Rentner mit 40 Versicherungsjahren erhält eine Rente von 578,80 DM plus 11 %, die ab 1. Juli hinzukommen. Nun gibt es aber Leute, die nicht gearbeitet oder während ihres ganzen Arbeitslebens - aus welchen Gründen auch immer - keine Beiträge gezahlt haben. Sie bekommen heute als Sozialhilfeempfänger für sich und ihre Frau eine Leistung aus der Sozialhilfe. Ich darf hierzu einmal ein Beispiel aufmachen. Die Regelsätze der Sozialhilfe belaufen sich in Nordrhein-Westfalen für einen Alleinstehenden oder Haushaltungsvorstand auf 217 bis 223 DM. Handelt es sich um ein Ehepaar, so erhält die Frau einen Zuschlag von 80 % von 223 DM, also 178 DM. Das Ehepaar erhält somit 401 DM. Dazu gibt es einen Mehrbedarfszuschlag in Höhe von 30 %, wenn beide Ehepartner älter als 65 Jahre oder erwerbsunfähig sind; das macht 120 DM. Die Gesamtleistung beträgt also 521 DM. Für den Mietbedarf kommen noch 225 DM hinzu. Leute, die - aus welchen Gründen auch immer - keine Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt haben und keine Einkünfte aus irgendwelchen anderen Unterhaltsleistungen erhalten, bekommen demnach eine Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 746 DM. Dazu gibt es noch „Hilfe in besonderen Lebenslagen" : für höherwertige Bekleidungsgegenstände usw. usw. von monatlich rund 70 DM. Am Ende kommt also eine Sozialhilfe von insgesamt 816 DM heraus, meine sehr verehrten Damen und Herren, für Leute, die keine Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt haben. An diesem Beispiel wollte ich Ihnen einmal klarmachen, wie notwendig es ist, sich hier auch für die Rentenniveausicherung einzusetzen und die soziale Demontage durch die Anträge der SPD und der FDP hier nicht zuzulassen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir haben aus diesem Grund - ich weise darauf noch einmal hin - im Ausschuß dafür plädiert, einer Trennung des Sechzehnten Rentenanpassungsgesetzes, d. h. der Erhöhung, von der Änderung der Niveausicherungsklausel zuzustimmen. SPD und FDP haben diesem unserem Antrag nicht zugestimmt. Wir legen Ihnen deshalb wieder getrennte Anträge vor: einmal den Antrag auf Erhöhung um 11,35 % - dieser Erhöhung stimmen wir zu, meine Damen und Herren -; aber wir lehnen die Änderung der Niveausicherungsklausel ab, wie sie von Ihnen zuungunsten der künftigen Rentner hier eingebaut worden ist. Wir werden jetzt - ich wiederhole noch einmal das, was ich am 6. April gesagt habe - zu der damals von Ihnen bemängelten, aber von uns aufrechtzuerhaltenden Zangenbewegung zwischen diesem Haus und dem Bundesrat ansetzen, um zu verhindern, daß die Rentner in der Bundesrepublik Deutschland durch SPD und FDP im Verteilungskampf unter den Schlitten geraten. ({5}) Nun zu einem anderen Thema. Die Bundesregierung feierte mit dem üblichen Propagandaaufwand eine - wie sie sie selber bezeichnete - große soziale Tat; und man kann darüber streiten, ob das nicht wirklich eine große soziale Tat ist. Ich darf aus dem Bulletin der Bundesregierung vom 13. Februar 1973 zitieren. Dort heißt es unter der Überschrift „16. Rentenanpassung - Beschluß des Bundeskabinetts" - Herr Minister, ich freue mich, daß Sie auch da sind ({6}) unter anderem: Der Gesetzentwurf zur 16. Rentenanpassung sieht auch vor, die jährliche Anpassung der Renten künftig unmittelbar entsprechend der automatischen Entwicklung der allgemeinen Bemessungsgrundlage ({7}) vorzunehmen. Die bisherigen Anpassungsgesetze können dann entfallen. Statt dessen sollen die Steigerungssätze alljährlich vom Bundesarbeitsminister bekanntgemacht werden. Durch diese Neuregelung - und jetzt kommt der entscheidende Satz, Herr Minister Franke ({8}) wird die Position der Rentner in der sozialen Sicherung weiter gestärkt und die verwaltungsmäßige Durchführung der Rentenanpassungen erleichtert. Ich kann nur sagen: Wir stimmen dem Arbeitsminister in dieser Bewertung durchaus zu. Noch ein weiteres - Herr Eicher, jetzt kommt das Zitat von Ihnen, das ich Ihnen gestern schon ankündigte; ich wollte nur noch nicht sagen, welches es ist -: Am 23. März sagte der Staatssekretär aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Eicher im Bundesrat - hier muß ich etwas länger zitieren, vor allem auch um einmal deutlich zu machen, welch großen Wert diese Bundesregierung und sicherlich auch SPD und FDP dieser wichtigen Änderung, nämlich der Anpassungsautomatik, beimessen - laut Protokoll des Bundesrates: Der Gesetzentwurf enthält weiter den Vorschlag der Bundesregierung, die Renten in der Rentenversicherung und in der Unfallversicherung ohne besonderes Gesetz an die Entwicklung der Löhne und Gehälter automatisch anzupassen. Sicherheit und Stetigkeit der Rentenanpassungen sind wichtige sozialpolitische Grundsätze der Bundesregierung. Durch diesen Vorschlag der Bundesregierung - der im übrigen die volle Unterstützung des Sozialbeirats findet - wird die Stellung der Rentner im Einkommensgefüge gestärkt und Bestrebungen, die jährliche Anpassung der Renten ganz oder teilweise in Frage zu stellen, der Ansatzpunkt genommen. Das alles sind Sätze, meine Damen und Herren, die wir Wort für Wort unterstreichen. ({9}) Die Rentenanpassungen werden vorausberechenbar; die Versicherten können sie in ihrer Lebensplanung zugrunde legen. Man muß sich dieses Wortgeklingel einmal durch den Gehörgang gehen lassen! Die Rechte des einzelnen werden transparenter. Bei Verwirklichung des Vorschlags der Bundesregierung können die Rentner stets darauf bauen, daß sie automatisch und regelmäßig am Einkommenszuwachs der Erwerbstätigen voll teilhaben. Alles unterstrichen! Meine Damen und Herren, - so sagt Herr Eicher weiter es muß mit aller Deutlichkeit auch in diesem Hause gesagt werden, daß dies in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Es ist nicht nur einmal von verschiedenen Kreisen darauf hingewiesen worden, daß die Rentenanpassung nicht in dem gleichen Umfang, in dem die Bemessungsgrundlage gestiegen ist, durchgeführt werden sollte. Einmal war es die konjunkturelle Situation, ein anderes Mal war es die Finanzlage der Rentenversicherung, die nach Auffassung bestimmter Kreise eine geringfügige Erhöhung der Renten erforderte. Soweit das Zitat, meine Damen und Herren. Nun hören wir bei den Beratungen im Ausschuß mit großer Überraschung, daß die FDP und die SPD beantragt haben, diese Anpassungsautomatik zu streichen, die mit großem Wortgeklingel als eine große soziale Tat gefeiert worden ist. ({10}) Ich kann Ihnen dazu nur sagen, daß wir der Änderung dieser Anpassungsautomatik ebenfalls nicht zustimmen werden. Sie werden gleich noch Gelegenheit haben, die Stellungnahme der Mehrheit des Bundesrates hierzu zu hören. Aber da ich so gut zitiert habe und mir diese Argumente so gut paßten, die mir die Regierung geliefert hat. ({11}) - Es ist eine Frage, ob man gut vorlesen kann, verehrter Herr Schellenberg. Ich habe die Zitate, denen wir uns bis auf die Schlußfolgerungen, die Herr Eicher daraus gezogen hat, anschließen müssen, mit dem Qualitätsbegriff „gut" belegt. Wir erhielten mit dem Datum vom 14. Mai ein Telegramm aus Düsseldorf. In Düsseldorf ist die DGB-Zentrale. Dort gibt es einen besonders sachverständigen Mann, der sich immer heftig und kritisch mit uns auseinandergesetzt hat. Er ist auch nicht unserer politischen Überzeugung, nämlich nicht der politischen Überzeugung der CDU/CSU. Soweit ich informiert bin, ist er ein eingeschriebenes und eifriges Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Aber insbesondere in seiner Fraktion als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat er uns und auch den anderen Fraktionen, wie wir gehört haben, ein Telegramm zur Frage des Rentenanpassungsgesetzes geschickt. Darin schreibt Herr Gerd Muhr vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Düsseldorf - ich darf zitieren, verehrte Frau Präsidentin -: Sehr geehrte Damen und Herren! Mit Bestürzung hat der DGB von der für ihn völlig unverständlichen Entscheidung Kenntnis erhalten, nach der die vom DGB seit der Rentenreform von 1957 geforderte und nun von der Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf über die 16. Rentenanpassung vorgesehene Automatik der Dynamisierung vom Ausschuß für Arbeit und Sozialpolitik abgelehnt wurde. Hier darf ich ergänzen: von der Mehrheit des Ausschusses. CDU/CSU haben dem nicht zugestimmt, meine Damen und Herren. Abgesehen davon, daß das Kabinett und das Bundesarbeitsministerium die automatische Rentenanpassung befürworten, hat der DGB keinerlei Verständnis dafür, die materielle Situation der Rentner weiterhin jedes Jahr zum Spielball von verschiedenartigen Interessen werden zu lassen. ({12}) 1748 Deutscher Bundestag ----- 7. Wahlperiode Franke ({13}) - Das war ein Beifall für den DGB, meine Damen und Herren aus der Mitte des Hauses. Es ist sowohl der Rolle des Bundestages als auch der Stellung der Rentner in diesem Staate unwürdig, wenn im Vordergrund der Ablehnung das Bemühen stand, die Entscheidung über die Rentenanpassung der aktuellen wirtschafts-und konjunkturpolitischen Situation vorzubehalten. Gerade den Rentnern gegenüber, die obenhin der aktuellen Lohn- und Gehaltsentwicklung mit drei- bis vierjähriger Verzögerung folgen, ist es nicht zumutbar, daß sie als letztes Glied der Einkommenskette eventuell Opfer von der normalen Anpassung abweichender wirtschaftspolitischer Entscheidungen werden. Der DGB erwartet deshalb, daß der Bundestag die Entscheidung des Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik korrigiert, und bittet Ihre Fraktion ebenfalls, für eine Änderung einzutreten. Die Fraktion der CDU/CSU, meine Damen und Herren, hat dieser Änderung der Anpassungsautomatik nicht zugestimmt und wird ihr auch in diesem Hause nicht zustimmen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich mache das jetzt wie Herr Wehner. ({0}) Wir werden zugunsten der Rentner nicht zulassen, meine Damen und Herren, daß Sie von Ihrer Mehrheit Gebrauch machen, und wir werden zu der Zangenbewegung ansetzen, um soziale Schlechterstellung der sozial Schwachen zu verhindern. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Nölling.

Dr. Wilhelm Nölling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war wieder einmal ein schönes Beispiel dafür, wie man Sozialpolitik mit der Kneifzange machen will. ({0}) Seit 1970, meine Damen und Herren, hören wir ununterbrochen immer wieder dasselbe, wenn es um Rentendebatten geht: immer wieder dieselbe Panikmache, ({1}) immer wieder denselben Versuch der Verunsicherung und Verwirrung der Rentner und der deutschen Öffentlichkeit. ({2}) Das ist sehr verständlich, meine Damen und Herren, gerade auch heute morgen, weil sich natürlich hinter dieser Methode des Herrn Kollegen Franke und der CDU Systematik verbirgt; das ist klar. ({3}) Sie wollen einmal von der desolaten Situation in Ihrer Partei ablenken. Dazu ist Ihnen natürlich jedes Mittel recht. ({4}) Zum anderen wollen Sie davon ablenken, daß dieses Anpassungsgesetz, das wir heute verabschieden, den höchsten Anpassungssatz für die Rentner vorsieht, seitdem es die dynamisierte Rentenversicherung in der Bundesrepublik gibt, nämlich 11,35%. ({5}) - Nun, dieses Verhältnis zwischen Inflation und Rentensteigerungen kennen wir inzwischen bis zum Erbrechen. Daran haben Sie sich ja seit 1970 hochgehangelt. Herr Kollege Franke, Sie setzen meines Erachtens in der Diskussion über unser Rentensystem eine schlimme Tradition fort, wenn Sie hier den Eindruck erwecken, als ob es den Rentnern in den letzten Jahren schlechter gegangen sei und in Zukunft schlechter gehen würde. Dazu werde ich Ihnen nachher ein paar Zahlen und auch Argumente liefern. Sie haben so eine Gewohnheit an sich, außerordentlich viel zu zitieren, wenn es Ihnen in den Kram paßt. Ist dies nicht der Fall, so lassen Sie das weg, und zwar auch so, wie es Ihnen beliebt; ich verstehe das sehr gut. Aber vielleicht verwenden Sie doch dann in einer solchen Debatte auch einmal ein paar eigene Gedanken, wenn es darum geht, beispielsweise hier die Rentenniveausicherungsklausel zu begründen. Sie sollten z. B. auf das eingehen, was Sachverständige dazu kritisch angemerkt haben. Davon ist natürlich keine Rede. Im übrigen haben Sie heute den DGB zitiert. Ich bin der Meinung, der DGB irrt hier in seinem Schreiben und hat sich nicht richtig darüber informiert, was die Gründe sind; ({6}) ich will sie Ihnen heute nennen. ({7}) Es gibt in dem Änderungsantrag der CDU/CSU, meine Damen und Herren, zwei Punkte. Einmal geht es um die Rentenniveausicherungsklausel, die die CDU im vorigen Jahr als sozialpolitische Neuerung eingebracht hat, und zwar zunächst als Ersatz für eine vorgezogene Rentenanpassung. Deshalb hat dieser erste Gesetzentwurf damals keine finanzielle Begründung enthalten. Sie haben das damals alternativ gesehen. Und als Sie am 21. September im Bundestag eine Stimme Mehrheit hatten, haben Sie gesagt, das wollen wir auch noch durchdrücken und haben dann diese Rentenniveausicherungsklausel in das Gesetz mit hineingenommen. Nun behauptet Herr Franke, daß wir uns, wenn wir dies ändern wollten, indem wir es praktikabel und sozialpolitisch überhaupt sinnvoll machen, der sozialen Demontage schuldig machten. ({8}) Dazu, Herr Kollege Franke, haben wir hier am 6. April ausführlich gesprochen. Ich meine, Sie haben, wenn es schon um Demontage geht, Verständnis dafür, wenn ich sage, daß wir zur Zeit eine ganze Reihe von praktischen Anschauungsbeispielen aus Ihrer Partei vor Augen geführt bekommen. ({9}) Vielleicht drängt sich Ihnen das Wort deshalb ganz besonders auf, weil Sie zur Zeit eine personelle Demontage nach der anderen veranstalten. ({10}) Ich komme zur Sache, und zwar sehr genau. Ich spreche zunächst über die automatische Anpassung. Herr Kollege Franke, Ihre Fraktion war immer gegen die automatische Anpassung. Sie haben bei 16 Rentenanpassungen nicht ein einziges Mal die Initiative ergriffen, um die Automatik in ein Gesetz hineinzubringen, und jetzt, wo wir Auffassungsunterschiede über den Zeitpunkt der Einführung und über nichts anderes haben, kommen Sie und sagen: Da müssen wir uns doch dazwischen-klemmen, da können wir doch Honig saugen aus vermutlichen Auffassungsunterschieden im Grundsatz, die gar keine im Grundsatz sind, sondern nur in bezug auf den Zeitpunkt. Wir halten es aus einer Reihe von Gründen nicht für zweckmäßig, die Automatik in diesem Gesetz zu verankern: Erstens. Wir nehmen die Bedenken, die der Sozialbeirat geäußert hat, ernst und machen uns hier zum Anwalt der Fragen des Sozialbeirats. Der Sozialbeirat hat immer eine wichtige, von allen Fraktionen anerkannte Rolle bei der Weiterentwicklung der Rentenversicherung gespielt. Wir meinen, wir müßten uns der Fragen, die der Sozialbeirat gestellt hat, annehmen, und haben zu diesem Zweck Besprechungen vereinbart. Das war ja auch die Meinung der Opposition. ({11}) - Aber Sie wissen, daß das nur von Teilen geschehen ist. Wir lesen im Gutachten - Herr Kollege Franke, Sie können ja so gut zitieren, dann müssen Sie auch gut lesen können -, daß ein Teil zugestimmt hat, ein anderer Teil nicht, sondern mit Bedauern gesagt hat, daß diese Automatik seine Stellung unterminiert. ({12}) Der zweite Punkt, Herr Kollege Franke, betrifft eigentlich das Selbstverständnis auch dieses Parlaments. Bei Größenordnungen von 7 bis 8 Milliarden DM jährlich muß man noch einmal in die Diskussion eintreten, ob wir tatsächlich zu einer anderen Form, zu einer anderen Methode kommen wollen. Es geht doch in der Sache ,da werden Sie mir zustimmen - nicht um irgendeine materielle Verbesserung. ({13}) - Na ja, da werden Sie mir zustimmen, weil in dieser Verlautbarung in der Tat meiner Meinung nach Wortgeklingel steht. Man kann nicht alles als Reform verkaufen, auch nicht so etwas. ({14}) Das ist auch meine Meinung. Aber ich glaube, Sie stimmen mir zu: Es geht um die Methode, nicht um den materiellen Kern oder Inhalt dessen, was die Rentner auf Grund der gesetzlichen Vorschriften in Zukunft bekommen sollen. Wir meinen also, daß wir das noch einmal überlegen müßten unter dem Gesichtspunkt: Was kann. und darf das Parlament abgeben hinsichtlich der Verfügung über solch ungeheuer große Milliardenbeträge? Wir lassen keinen Zweifel daran, meine Damen und Herren, daß wir mit der Mehrheit des Sozialbeirats übereinstimmen und auch ein zeitweiliges Abweichen von der Rentenformel, beispielsweise im Interesse einer Stabilitätspolitik, weder betreiben noch hinnehmen werden. Das ist unsere Auffassung, die wir hier noch einmal bestätigen wollen. Nun komme ich zu einigen Zahlen, Herr Kollege Franke. Im Bundesbankbericht, den ich vielleicht heranziehen darf die Zahlen sind nachprüfbar -, ist über die Entwicklung des Renteneinkommens seit 1963 folgendes gesagt: Von 1963 his 1972 sind die Renteneinkommen um 123% gestiegen, die Einkommen ({15}) der Aktiven um 103%. In diesem Jahr kommen noch einmal 11,35 % hinzu. ({16}) Im letzten Jahr betrug die reale Einkommensverbesserung der Rentner über 8 °/o, die der Aktiven nur 31/2 %. In diesem Jahr werden die Rentner ganz sicher etwa 3 bis 31/2 % real mehr haben. ({17}) Wir wissen noch nicht, wie es bei den Aktiven ist, und wir haben es immer als eine unserer Aufgaben angesehen, in diesem Parlament nicht nur die Interessen der Rentner zu vertreten, sondern auch die Interessen der aktiv Beschäftigten, die durch ihre Beitragszahlungen das Finanzierungsvolumen aufbringen müssen. Wir haben in drei Jahren, d. h. von 1973 bis 1975, Rentensteigerungen in Höhe von fast 40 % in Aussicht. Es gibt keine andere größere Gruppe von Einkommensbeziehern in diesem Lande, die mit einer solchen Gewißheit in die Zukunft sehen kann, was ihre Einkommensentwicklung und ihre Einkommens1750 erwartungen betrifft. Weder die Arbeitnehmer noch die Selbständigen noch irgendeine andere Gruppe kann mit diesem Vertrauen in die Zukunft schauen. ({18}) - Ich habe über Realeinkommensentwicklungen gesprochen; ,das wollen Sie doch nicht bestreiten. Wenn die Einkommen der Rentner um 20 Punkte schneller steigen als die Einkommen der Aktiven, dann wollen Sie sich doch nicht hier hinstellen und sagen, das habe keine realen Einkommensverbesserungen für die Rentner zur Folge. ({19}) - Ich weiß nicht, warum Sie nicht auf dem Teppich bleiben können, wenn es um solche Zahlen geht! - Wenn wir in den nächsten drei Jahren außerdem fast 40 °/o Rentensteigerungen vor uns haben, dann stellen Sie sich hier hin und behaupten, es finde eine soziale Demontage statt! Ich finde das unerhört. Was an sozialer Unzufriedenheit durch eine solche Politik in unserem Volk zu einem Zeitpunkt geschürt wird, wo wir uns gerade darum bemühen, von großen Teilen unserer Bevölkerung finanzielle Opfer zu verlangen, ist unglaublich. ({20}) Wir wollen diese Opfer von den Rentnern ausdrücklich nicht verlangen. ({21}) Ein paar Worte zur Niveausicherungsklausel. Diese Rentenniveausicherungsklausel ist unpraktikabel, sie ist systemwidrig, und sie hilft den Rentnern nicht. In Wirklichkeit bringt sie die Rentner in die Debatte um die Konjunkturpolitik und um die Stabilisierungspolitik, anstatt sie aus der Unsicherheit und aus dieser Debatte herauszuhalten. Das ist genau das Umgekehrte von dem, was Sie soeben gesagt haben. Wenn - diesen Einwand sollten Sie vielleicht gelten lassen - die Klausel bestehen-bliebe, dann müßten in jedem Jahr im vorhinein die Lohnsteigerungen des nächsten Jahres berechnet werden, sie müßten den Rentenanpassungsgesetzen zugrunde gelegt werden, sie würden in die Tarifauseinandersetzungen präjudizierend eingreifen und damit eine Art Lohnleitliniencharakter bekommen. Das ist einer der Haupteinwände, die wir gegen diese geltende Fassung haben. Ein zweiter Einwand ist folgender. Wir haben im letzten Jahr eine Rentenreform verabschiedet, die auf einen Streich 208 Milliarden DM für die nächsten 15 Jahre mobilisiert hat. Wir wissen heute, daß die Mindestrentenentwicklung in diesem Jahr über unsere Annahmen sehr wahrscheinlich hinausgehen wird. In bezug auf die Ausgaben für die flexible Altersgrenze bemerkt der Sozialbeirat, daß auch hier mit der 70%igen Annahme nicht gearbeitet werden könne; die Inanspruchnahme werde höher sein. Nun wollen Sie einen Regelmechanismus bestehen lassen, der die Unsicherheitsfaktoren in bezug auf die weitere finanzielle Entwicklung unserer Rentenversicherung verschärfen muß. Ich meine, es wäre vernünftiger und verantwortlicher, ({22}) wenn wir abwarteten, wie sich die Rentenfinanzen in der Zukunft entwickeln, anstatt durch immer neue Forderungen immer neue Unruhe und immer neue Unsicherheit zu schaffen. Wir müssen hier einmal ein oder anderthalb Jahre zur Ruhe kommen, bevor wir über weitere Leistungsverbesserungen nachdenken können. ({23}) - Es stimmt nicht, Herr Kollege Franke, daß den Rentnern etwas vorenthalten werde oder daß sich Überschüsse ansammelten, die den Rentnern gehörten. Sie haben doch gestern in Berlin dabeigesessen, als uns die Sachverständigen des Ministeriums sagten, wie es mit der Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben aussieht. Sie ist in diesem Jahr so, daß nicht mehr da sein wird, als in den Schätzungen steht. Gehen wir mit anderen Leistungsverbesserungen über den Rahmen des letzten Jahres hinaus, dann müssen Sie „ja" sagen zu Beitragserhöhungen. Mit Ihrer Rentenniveausicherungsklausel ist die Forderung nach weiteren Beitragserhöhungen untrennbar verbunden. Warum sagen Sie das nicht in diesem Zusammenhang? ({24}) Anders läßt es sich, wenn die Rentenniveauversicherungsklausel greift, nicht finanzieren. Das sollte man unseren Beschäftigten sagen, die gerade eine Erhöhung der Beitragssätze von 17 auf 18 °/o haben hinnehmen müssen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?

Dr. Wilhelm Nölling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön!

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nölling, darf ich aus dem. Rentenanpassungsbericht zitieren, und ist Ihnen die Zahl nicht bekannt, daß erstens in diesem Jahr ein Überschuß bei der Arbeiter- und der Angestelltenversicherung von 5,9 Milliarden DM anfällt? Zweitens. Warum nehmen Sie dann, wenn das stimmt, was Sie gerade sagten, den Trägern der Rentenversicherung 2,5 Milliarden DM aus ihrem Stock, und zwar zinslos, die Sie erst im Jahre 1981 wieder zurückgeben wollen? Sehen Sie hier nicht auch die Gefahr einer notwendigen Beitragserhöhung?

Dr. Wilhelm Nölling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben darüber diskutiert, Herr Kollege Franke. Ich sehe diese Gefahr nicht. Diese 2'/2 Milliarden DM sind nicht weg; ({0}) sie kommen ab 1981 wieder. ({1}) Sie haben einen Überschußbetrag genannt, der in etwa mit dem übereinstimmt, was man langfristig geschätzt hat. Das heißt, die Basis unserer Vorausschätzung wird auf diese Weise nicht verlassen. Ich möchte noch einen letzten Punkt erwähnen, weil Herr Kollege Franke die Auffassung vertreten hat, man müsse von bestimmten Entwicklungen seit dem letzten Jahr weiterhin absehen, nämlich von der Entwicklung, daß wir seit den letzten Rentendiskussionen im vorigen Jahr in diesem Lande eine Bundestagswahl gehabt haben. Sie haben hier wieder mit dem Bundesrat gedroht. Sie bringen es fertig, in diesem Bundestag zu sagen und damit eine unerhörte Mißachtung der Mehrheit dieses Bundestages auszusprechen: Wenn dieser Bundestag nicht so will wie wir als Opposition, dann werden wir zu einer Zangenbewegung mit Hilfe des Bundesrates ansetzen. Das ist, ich darf das mit aller Deutlichkeit sagen - ({2}) - Ja, ich weiß, daß dahinter Vorstellungen von dem stehen, was eine Mehrheit im Bundestag bedeutet und was der Wählerwille ist. ({3}) - Ja, und was der Bundesrat ist, der immer mehr von Ihnen dazu mißbraucht wird, zu versuchen, Ihre rechthaberische Politik durchzusetzen und diesem Bundestag in den Arm zu fallen. ({4}) Hier will die CDU/CSU auf dem Rücken der Rentner den starken Mann spielen, ({5}) wobei sie weiß Gott kein gutes Bild abgibt. Wir warnen Sie davor, Herr Kollege Franke, diesen Schritt zu tun, weil niemand dafür Verständnis hat - am allerwenigsten die Rentner selbst -, wenn die Anpassung verzögert wird. Vielleicht darf ich Ihnen zum Schluß einen Rat geben: ({6}) Wir haben nicht den Eindruck, daß sich die CDU/ CSU schon von der Lungenentzündung kuriert hätte, die sie am 19. November befallen hat. ({7}) Wenn Sie dies durchhalten wollen, wie es angedroht worden ist, werden Sie sich dazu noch einen Bruch heben. Und mein Rat, meine Damen und Herren: Seien Sie doch einmal einen Moment vernünftig, ({8}) lassen Sie die Demagogie und die Polemik beiseite, und schonen Sie sich bei diesem Ihrem Krankheitsbild und den zu erwartenden Gefährdungen so, wie das Herr Kollege Barzel vormacht. Ich glaube, daß wir dann vielleicht nach einem Jahr oder nach zwei Jahren auch wieder darüber diskutieren können, ({9}) ob wir in diesem Bundestag weitere Verbesserungen für die Rentner beschließen können oder nicht. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hölscher.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Rentner draußen, der diese Debatte verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, hier werde über alles mögliche geredet, über Automatik, Rentenniveausicherungsklausel usw., Dinge, die für viele Rentner böhmische Dörfer sind, nur nicht über das, was ihn interessiert, nämlich wieviel Rente er in Zukunft erhält. ({0}) Lassen Sie mich zu Beginn darauf hinweisen, was das eigentlich Entscheidende ist, was den Rentner unmittelbar betrifft, nämlich die Anhebung der Renten per 1. Juli 1973 um 11,35%. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, es ist vielleicht undemokratisch, wenn ich Herrn Franke bitte, darauf zu verzichten, aber in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit und in Anbetracht dessen, daß er selbst keine Zwischenfrage zugelassen hat - Herr Franke, Sie wissen, wir wollen um 10.30 Uhr fertig sein -, bitte ich um Verständnis. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das steht vollkommen in Ihrem Belieben, Herr Abgeordneter, ob Sie eine Frage zulassen.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben mit der Erhöhung um 11,35 % den höchsten Anhebungssatz überhaupt erreicht. Damit erhalten die Rentner einen Ausgleich für die Preissteigerungen und nehmen an der Lohnentwicklung teil. Trotz dieses hohen Anpassungssatzes haben wir nicht daran gedacht und werden auch nicht daran denken, etwa aus stabilitätspolitischen Gründen Abstriche vorzunehmen. Stabilitätspolitik auf dem Rücken der Rentner wird es nicht geben. Das sei allen denen gesagt, die uns derartige 1752 Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Hölscher Absichten unterstellen, z. B. gerade auch im Zusammenhang mit unserer kritischen Haltung zur Einführung der jährlichen Automatik der Rentenanpassung, womit ich beim ersten Stichwort dieser Debatte wäre. Gestatten Sie mir eine Zischenbemerkung: Es überrascht uns nicht, daß wir heute morgen auf unseren Plätzen einen Änderungsantrag der CDU/ CSU-Fraktion zu unseren Vorlagen finden. Wir hatten das nach den Ausführungen des Landesministers Geißler im Ausschuß auch erwartet. Wir müssen aber hier feststellen, und ich möchte darin meinem Kollegen Dr. Nölling beipflichten, daß es erst der Richtlinienkompetenz oder, sollte ich sagen, der Lebenshilfe des Arbeitsministers von Rheinland-Pfalz bedurfte, die Opposition des Deutschen Bundestages auf Bundesratsrichtung zu bringen. Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen sind keine Erfüllungsgehilfen, sie werden auf der Grundlage der ihnen am 19. November gegebenen breiten Legitimation in eigener Verantwortung auch in dieser Sache entscheiden. Tatsächlich besteht eine unterschiedliche Auffassung zwischen Regierung und Koalitionsfraktionen wegen der Einführung einer jährlichen automatischen Rentenanpasung durch clie Regierung ohne Einschaltung des Parlaments. Dies sind aber nicht etwa unterschiedliche Auffassungen über die Ziele der Rentenpolitik. Selbstverständlich gibt es gute Gründe für die Automatik. Selbstverständlich wollen wir, Regierung und Koalitionsfraktionen, gemeinsam eine Rentengesetzgebung und eine Rententechnik, die den berechtigten Interessen der Rentner auf zügige jährliche Anpassung und schnelle Durchführung gerecht wird. Wenn wir aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine automatische Anpassung vornehmen wollen, so erhalten das soll hier auch noch einmal mit aller Deutlichkeit gesagt werden unsere Rentner dadurch nicht eine Mark weniger. Im Gegenteil! Man kann auf Grund der Erfahrung der Vergangenheit auch die Meinung vertreten, daß gerade die jährlichen Rentenanpassungsgesetze die Möglichkeit geboten haben, aus aktuellen Situationen heraus z. B. strukturelle Verbesserungen vorzunehmen und Härten zu beseitigen. Wir Freien Demokraten sind aber auch der Meinung, daß ein so schwerwiegender Schritt, nämlich der Verzicht des Parlaments auf die Verantwortung für ein Gesetz, das jetzt immerhin ein Finanzvolumen von 7 Milliarden DM hat und 10 Millionen Menschen betrifft, noch eingehender Überlegung bedarf. Dies um so mehr, weil eben - das ist nicht auszuschließen - unter Umständen auch Wirkungen auf andere Bereiche, wo dann eine Automatik konsequent erscheint, erfolgen. Außerdem wäre, wenn die automatische Rentenanpassung jetzt eingeführt würde, eine wesentliche Aufgabe des Sozialbeirats nicht mehr gegeben. Hierauf hat der Sozialbeirat in seiner Stellungnahme ausdrücklich hingewiesen. Ich glaube, es wäre nicht zu vertreten, eine Entscheidung zu treffen, ohne die Problematik mit dem Beirat besprochen zu haben. Im übrigen haben auch die Vertreter der Opposition im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung der Notwendigkeit dieser Gespräche zugestimmt. Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit auch eine persönliche Anmerkung. Es gehört für mich als Parlamentsneuling eigentlich zu den guten Erfahrungen, die ich bisher machen konnte, daß - freilich bei gleicher Zielsetzung von Regierung und Koalitionsfraktionen - aus einem ernsthaften parlamentarischen Selbstverständnis heraus auch seitens der Koalitionsfraktionen einmal eine abweichende Haltung gegenüber einem Regierungsvorschlag eingenommen wird. Wir sind also keine Abstimmungsmaschine. Insofern wundert mich die Aufregung der Opposition doch sehr für die eine eigenständige Parlamentarierhaltung doch noch selbstverständlicher sein sollte als für Mitglieder der Koalitionsfraktionen. ({0}) Jedenfalls werden die Rentner das ist das Entscheidende - auch ohne Automatik zum 1. Juli ihre Rentenerhöhung bekommen, wenn es nach der Mehrheit in diesem Hause geht. Das ist das Wesentliche. Das ist auch das Entscheidende für unsere Haltung. Was die Rentenniveausicherungsklausel anlangt, so ist zunächst einmal festzustellen, daß sie weder nach dem geltenden Recht noch nach der von der Bundesregierung und von uns unterstützten Regelung die Höhe der Rentenanpassung per 1. Juli 1973 mit 11,35% tangiert. Dennoch aber ist sie vom Sechzehnten Rentenanpassungsgesetz nicht zu trennen, weil hier schnellstens eine machtpolitische Entscheidung der letzten Legislaturperiode korrigiert werden muß, ({1}) die, wenn sie fortbesteht, auch wegen ihrer gesamtwirtschaftlichen Tragweite gerade zu Lasten der Rentner gehen kann. Eine Ninveausicherungsklausel, die sich aus einem vorauszuschätzenden Arbeitnehmerentgelt ergibt, ist nicht praktikabel. Danach müßte im Sommer eines jeden Jahres vorausgeschätzt werden, wie die Einkommensverteilung des nächsten Jahres ist. Gerade die Lohnperspektiven der letzten Zeit haben doch gezeigt, wie problematisch solche Voraussagen sind. Selbst für das laufende Jahr erscheint die Lohnentwicklung ja noch unsicher. Natürlich hat das Stabilitätsprogramm auch Auswirkungen auf die Löhne, aber die Regierung macht ja nicht die Preise, sie macht nicht die Löhne. Sie hat keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten. Ganz realistische Voraussagen, geschweige denn exakte Vorausberechnungen sind unmöglich. Auf die grundsätzliche Problematik bei Vorausberechnungen -- gestatten Sie mir diesen Hinweis - hat auch wieder der Sozialbeirat selbst in seinem Gutachten vom 12. Januar 1973 hingewiesen. Wie problematisch ist es dann erst, wenn aus solchen Schätzungen, für deren Richtigkeit niemand die Garantie übernehmen kann, unmittelbare gesetzgeberische Konsequenzen gezogen werden müsHölscher sen! Hier werden dann Orientierungsdaten gesetzt, die z. B. prozyklische Wirkungen haben und möglicherweise aus der praktischen Anwendung heraus sogar die Tarifautonomie berühren können. Außerdem ist aber auch nicht von der Hand zu weisen darauf weist der Sozialbeirat hin , daß schwerwiegende Finanzierungsprobleme bei den Versicherungen auftreten, es sei denn, die Beitragssätze würden weiter erhöht. Aber schon heute zahlen 23 Millionen aktive Arbeitnehmer für 10 Millionen Rentner bei einem Beitragssatz von, wie wir wissen, zur Zeit 18 O/0. Irgendwo ist eine Grenze erreicht, von der an eine weitere Belastung der Aktiven nicht mehr zumutbar ist. Wir dürfen hierbei nicht vergessen, daß ein wesentlicher Bestandteil unseres Systems der sozialen Sicherung die Solidarität zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern ist. Wir stellen daher mit Genugtuung fest, daß der Sozialbeirat in seiner Stellungnahme vom 3. März den Vorschlag der Bundesregierung begrüßt, für die Niveausicherungsklausel den letzten Verdienst zugrunde zu legen. Der Beirat begrüßt - ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin -, „daß damit der Notwendigkeit Rechnung getragen wird, den Inhalt der Rentenniveausicherungsklausel so zu bestimmen, daß sie sowohl statistisch wie auch im Hinblick auf die daraus zu folgernden Maßnahmen praktikabel ist". Im übrigen ist es einmal ganz interessant, die Entwicklung des Rentenniveaus nach geltendem Recht, bezogen auf die Nettoarbeitsentgelte, zu vergleichen. Wir bekennen uns zwar zum System der Bruttoentgeltbewertung, doch muß man auch einmal die Mittel, über die der Arbeitnehmer tatsächlich verfügt, mit den Mitteln vergleichen, die der Rentner hat. Bei einem Vergleich der Lebenssituation vom verfügbaren Einkommen her waren die Rentner zu Zeiten von CDU-Arbeitsministern schlechter dran. In der Amtszeit des Arbeitsministers Katzer war das Rentenniveau im Jahre 1966, gemessen am Nettoarbeitsentgelt, 53,9 %. 1973 ist es 60,5 %. In früheren Zeiten hat sich die CDU gehütet, eine Diskussion über das Rentenniveau zu führen. Dabei will ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, gar nicht einmal das böse Schlagwort von der sozialen Demontage zurückgeben. Ich stelle einfach fest: Unseren Rentnern geht es heute besser. Es kommt auch gar nicht so sehr darauf an, sich über formale, mathematische, fiktive Größen und Kriterien zu streiten. Wir wollen nicht, wie man bei der Opposition manchmal den Eindruck haben muß, Mogelpackungen produzieren, sondern eine seriöse Sozialpolitik machen. Dazu aber brauchen wir praktikable Gesetze. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Minister Dr. Geissler für den Bundesrat. Dr. Geissler, Minister des Landes Rheinland-Pfalz: Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst der Frage, die heute morgen bei den Diskussionsrednern der Koalitionsparteien auch schon eine Rolle gespielt hat, inwieweit der Bundesrat in der Frage der Sozial- und der Rentenpolitik ein Wort mitzureden habe, einer Frage, die hier kritisch beleuchtet worden ist, folgendes hinzufügen. Der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan des Bundes und hat die Aufgabe, selbständig an der Staatstätigkeit des Bundes mitzuwirken. ({0}) Es würde sicher der Machtkontrolle des föderativen Systems zuwiderlaufen, wenn jede abweichende Meinung eines Verfassungsorgans von der jeweiligen Regierungsmehrheit als mißbräuchliche Obstruktion denunziert werden könnte. ({1}) Aus diesem Grunde wird der Bundesrat auch in Zukunft zu den wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen seine Meinung sagen. Gerade in der Frage der Rentenpolitik - um jetzt dieses Beispiel einmal aufzugreifen - sind ja nicht nur die Interessen des Bundesorgans Bundesrat unmittelbar angesprochen, sondern auch die Interessen der Länder selber. Denn alles, was an Zahlen heute vormittag auch von Ihrer Seite, von der SPD und der FDP, vorgelegt worden ist, kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Bundesrepublik Deutschland auf Grund der ständig steigenden Lebenshaltungskosten immer mehr Rentner unter das Sozialhilfeniveau absinken ({2}) und die Bundesländer und die Gemeinden ständig mehr dazu gezwungen werden, die Rentenversicherung über die Sozialhilfe zu subventionieren. ({3}) Ich darf Sie einmal fragen, wie Sie die Situation eines Rentners beurteilen, der heute, weil er zur eigenen Haushaltsführung nicht mehr in der Lage ist, in ein Altersheim gehen muß bei einem Pflegesatz pro Tag von 20 bis 25 DM - das bedeutet im Monat 600 bis 700 DM - und einem durchschnittlichen Rentnereinkommen von 500 bis 600 DM. Ich frage Sie, wie der über die Runden kommen soll. Halten Sie es für richtig, daß ein solcher Rentner nach einem erfüllten Arbeitsleben für sein Taschengeld zum Sozialamt gehen muß? ({4}) Das muß in diesem Zusammenhang, was das Sechzehnte Rentenanpassungsgesetz betrifft, und insbesondere auch, was die Rentenniveausicherung anbelangt, hier einmal deutlich zur Debatte gestellt werden. Ich habe hier das Wort ergriffen, um das Hohe Haus auf die Situation des Bundesrates auch in diesem Gesetzgebungsverfahren aufmerksam zu machen. Der Bundesrat hat den Bundestag gebeten, im Zusammenhang mit dem Sechzehnten Rentenanpassungsgesetz die Rentenanpassung von der Frage der Rentenniveausicherung und der Anpassungsautomatik zu trennen, und zwar deswegen, weil der Bun1754 Staatsminister Dr. Geissler desrat entsprechend seiner in den vergangenen Debatten um die Rentenreform vertretenen sozialpolitischen Überzeugung auch heute der Auffassung ist, daß die Rentenniveausicherung, die in diesem akuten Stadium ja einen Inflationsschutz für die Rentner bedeutet, nicht beseitigt werden sollte, worauf aber der Vorschlag der Bundesregierung in der Praxis hinausläuft. Hier wird ja nichts modifiziert oder besser gemacht, sondern die Rentenniveausicherung wird schlicht und einfach ausgehöhlt. Sie würde nicht mehr greifen. Das, was alle Fraktionen in diesem Hause und auch - einstimmig - der Bundesrat zur Rentenniveausicherung bei der Verabschiedung der Rentenreform im letzten Jahr beschlossen haben, würde hier wieder zunichte gemacht werden. Nun soll offenbar der Versuch unternommen werden - und das ist eine Frage, die jetzt einmal zur Diskussion gestellt werden soll -, zu erreichen, daß ausgerechnet der Bundesrat, auf dessen Initiative es mit zurückzuführen ist, daß die Rentner am 1. Juli eine vorgezogene Rentenerhöhung bekommen - eine vorgezogene Rentenerhöhung, gegen die diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bis zur letzten Minute Widerstand geleistet haben -, dies verhindern soll. ({5}) Ich erinnere an die leidvollen und bitteren Erfahrungen aus den letzten Jahren. Wir wissen, welches Schicksal das Vierzehnte und das Fünfzehnte Rentenanpassungsgesetz in diesem Hause erlitten haben ({6}) und welche Stellungnahmen die Bundesregierung zu jedem Gesetz, zum Vierzehnten und Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetz, abgegeben hat. Bundesarbeitsminister Arendt, die Bundesregierung und alle Vertreter der Koalitionsfraktionen haben bis zum Herbst des vergangenen Jahres stereotyp erklärt, daß es für eine vorgezogene Rentenanpassung keinen, aber auch gar keinen sozialen Grund gäbe. ({7}) Meine Damen und Herren, so ist die Situation. Heute haben wir bei einer Rentenanpassung von 11,35% ab 1. Juli 1973 bereits im April dieses Jahres, verglichen mit dem April des Vorjahres - diese Zahl ist schon genannt worden -, eine Steigerung der Lebenshaltungskosten für die Rentner von 8,7 %. Hier ist tätsächlich die Frage der sozialen Absicherung des Existenzminimums der großen Masse der Rentner angesprochen. Ich möchte hier einmal klarmachen, daß es jetzt darum gehen soll - weil wir aus sozialpolitisch klaren Gründen einem weiteren Absinken des Rentenniveaus unsere Zustimmung nicht geben können und die Bundesregierung die Beseitigung der Rentenniveausicherung in das Sechzehnte Anpassungsgesetz hineingepackt hat -, den Bundesrat zu zwingen, da er der Beseitigung der Rentenniveausicherung nicht zustimmen kann, zugleich sein eigenes Gesetz, seine eigene Idee, nämlich die Rentenanpassung vorzuziehen, abzulehnen. Das ist ein einmaliger Vorgang auch im Zusammenspiel der beiden Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat, ein Vorgang, der fast schon moralische Probleme aufwirft: ({8}) Wir haben uns im übrigen, was die Rentenniveausicherung betrifft, ganz klar an die gemeinsam geäußerte Überzeugung des gesamten Hauses gehalten. Ich darf darauf hinweisen, was bei der Beratung des Rentenreformgesetzes im Zusammenhang mit der Rentenniveausicherung der Bundestagsabgeordnete Glombig als Sprecher der SPD-Fraktion zur Rentenniveausicherung am 20. September 1972 von diesem Platz aus ausgeführt hat. Es ging um die Rentenniveausicherung, die die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht hatte; dazu nahm Herr Glombig wie folgt Stellung: Das Vertrauen der Rentner zu meiner Fraktion, die sich in ihrer sozialen Einstellung nicht übertreffen läßt, ist ein sichererer Garant für die Rentenanpassung als diese Gesetzesvorschrift, die eine Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion in einer der künftigen Legislaturperioden ändern könnte. Wenn Herr Kollege Katzer eine solche Sicherung gegenüber seinen eigenen Parteifreunden braucht, so wollen wir - die SPD ihm durch unsere Stimmenthaltung sogar noch dazu verhelfen. ({9}) Meine Damen und Herren, ich frage mich, wie man angesichts dieser Sprache der SPD vor der Bundestagswahl die heutigen Ausführungen des Herrn Dr. Nölling qualifizieren soll! ({10}) Der Vorschlag des Bundesrates, die Rentenniveausicherung von der Rentenanpassung zu trennen, ist, wie ich schon ausgeführt habe, aus sozialen Gründen notwendig. Wenn wir dem Vorschlag der Bundesregierung folgen würden, die praktische Beseitigung der Rentenniveausicherung durchzuführen, hätte das zur Folge, daß die Renten des Jahres 1974 mit den Bruttoarbeitsverdiensten des Jahres 1972 und nicht mehr mit den aktuellen Bruttoarbeitsverdiensten des Jahres 1974 verglichen werden würden, ({11}) also mit Arbeitsdiensten, die um knapp 20% unter denen liegen würden, die 1974 erzielt werden. Bei einer solchen Vergleichsmethode würde man ganz eindeutig den Rentnern Geld ins Portemonnaie lügen, das sie nicht haben, vor allem deswegen, Staatsminister Dr. Geissler weil diese Vergleichsbasis für sie wesentlich ungünstiger ist. Die Rente für einen Durchschnittsverdiener nach erfülltem Arbeitsleben beträgt 1974 voraussichtlich höchstens 44 °/o der aktuellen Bruttoarbeitsverdienste seiner früheren Kollegen im gleichen Jahr. Vergleicht man sie aber nach der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Formel mit den Löhnen des Jahres 1972, so kommt - obwohl die Rentner keine Mark mehr haben - ein Rentenniveau von 54,7 °/o heraus. Mit der Methode kann man natürlich weitermachen. Wenn Sie noch ein paar Jahre weiter zurückgehen, kommen Sie sogar zu einem Rentenniveau von 100 °/o, ohne daß der Rentner auch nur eine Mark mehr hat. ({12}) Das kann wohl nicht der Sinn der Rentennniveausicherung sein, sondern wenn wir Rentenniveausicherung betreiben, müssen wir selbstverständlich aktualisiert vergleichen und können nicht willkürlich das time-lag, das wir in der Rentenversicherung ohnehin schon haben, bei der Rentenniveausicherung noch einmal verdoppeln. Meine Damen und Herren, mir liegen Berechnungen vor, nach denen die von der Bundesregierung konzipierte Niveausicherungsklausel nur dann greifen würde - ich muß das noch einmal vortragen -, wenn wir Lohnsteigerungen von über 20 % hätten und wenn das Rentenniveau dadurch unter 30 % der Bruttoarbeitsentgelte des gleichen Jahres absinken würde. Ich glaube, wir sind uns sicher alle darüber einig, daß mit dem Eintreten dieser Voraussetzungen nicht gerechnet werden kann. Das bedeutet aber, daß die Bundesregierung die Niveausicherung mit ihrem Vorschlag praktisch beseitigen will. Es kommt hinzu, daß die Bundesregierung gar nicht mehr verpflichtet werden soll, einen Gesetzentwurf vorzulegen, sondern auch diese Pflicht ist auf eine Berichtspflicht reduziert worden. Zum gleichen Ergebnis kommt im übrigen der Sozialbeirat, der in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf am 3. März sagte: Bei der jetzt vorgesehenen Bemessung des Rentenniveaus ist es allerdings unwahrscheinlich, daß die Rentenniveausicherungsklausel im Sinne der Bundesregierung praktisch zum Tragen kommt. Die vorgesehenen 50 % würden nur bei außergewöhnlichen Lohnsteigerungsraten, wie sie auch in den letztvergangenen Jahren nicht gegeben waren, unterschritten werden. Ähnlich hat sich auch der heute schon apostrophierte und von der SPD abqualifizierte DGB in seinem Telegramm geäußert. Es kann von niemandem bestritten werden - das gilt es hier festzuhalten -, daß das, was die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung heute vorschlagen, eine klare Verschlechterung der Rechtsposition und der Sozialposition der Rentner gegenüber dem jetzigen Recht bedeutet. Daran führt kein Weg vorbei, und daran ändern auch alle wortreichen Ausführungen, die wir heute vormittag gehört haben, gar nichts. Wenn dieser Vorschlag Gesetzeskraft erhalten würde, würden die Rentner dies voraussichtlich schon im nächsten Jahr in Mark und Pfennig an ihrem Geldbeutel unangenehm zu spüren bekommen. ({13}) Es sind eine ganze Reihe von Bedenken vorgetragen worden. Herr Nölling hat gesagt: Ruhe für ein, zwei Jahre an der Rentenfront, bevor neue Verbesserungen für die Rentner kommen! Von Verbesserungen reden wir heute vormittag gar nicht, sondern wir bemühen uns, daß der Rechtsstatus erhalten wird, den die Rentner heute haben und den Sie abbauen wollen. Darum geht es. ({14}) Der Haupteinwand der Bundesregierung und auch der SPD-Fraktion gegen das geltende Recht besteht darin, daß das Rentenniveau an einem vorauszuschätzenden Wert zu messen ist, der statistisch nicht eindeutig sei. An anderen Stellen in der Reichsversicherungsordnung, wie z. B. im § 1383, werden heute schon an solche Vorausschätzungen ganz konkrete Folgerungen geknüpft. Es handelt sich insoweit innerhalb der Rentenversicherung um überhaupt keinen ungewöhnlichen Tatbestand. Die Gefahr, die in diesem Zusammenhang immer an die Wand gemalt wird, daß nämlich eine unter Umständen zu hoch geschätzte Lohnsteigerungsrate zu unliebsamen Konsequenzen führen könnte, vermag ich nicht zu erkennen. Es hat in den vergangenen Jahren keinen Zeitpunkt gegeben, obwohl diese Vorausschätzungen auch von seiten der Bundesregierung immer publiziert worden sind, daß ein Tarifpartner auf die Idee gekommen wäre, diese Vorausschätzungen der Bundesregierung im Rahmen der Rentenanpassung als Lohnleitlinie zu verstehen. Das ist eine ganz neue Erkenntnis, die wir im Zusammenhang mit der Rentenniveausicherung von der Bundesregierung hier erfahren. Die einzige Unsicherheit, die ich in diesem Zusammenhang sehe, ist, daß die Löhne stärker steigen könnten, als das vorausgeschätzt wurde. In diesem Falle wäre den Rentnern zwar vom Gesetzgeber weniger zugestanden worden, als sie bekommen müßten, aber die getroffene Entscheidung des Gesetzgebers brauchte deswegen nicht revidiert zu werden. Die Konjunkturpolitik hat bei der Bewertung dieser Rentenniveausicherungsklausel ebenfalls eine Rolle gespielt. Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung hinsichtlich der Stabilitätsmaßnahmen und der konjunkturpolitisch richtigen Maßnahmen davon ausgeht, daß verheiratete Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von weniger als 48 000 DM keinen Stabilitätsbeitrag leisten sollten, dann kann es doch wohl nicht richtig sein, Leute, die ein Monatseinkommen von 500 bis 600 DM haben, im Rahmen der Rentenreform zum Gegenstand konjunkturpolitischer Erwägungen zu machen. Das kann doch sozialpolitisch nicht vertreten werden. ({15}) Nachdem also keines der technischen Argumente verfängt - über Technik kann man jederzeit reden, das ist gar keine Frage -, muß es andere politische Gründe geben, die die Bundesregierung und die SPD-Fraktion zu ihrem Verschlechterungsvorschlag Staatsminister Dr. Geissler bewogen haben. Wir haben diese Gründe bisher noch nicht zu hören bekommen, auch heute morgen nicht. Es ist die Frage zu stellen: Sind der Bundesregierung 50 % Rentenniveau nach einem erfüllten Arbeitsleben tatsächlich zuviel? Dazu muß Stellung bezogen werden. Wer der Auffassung ist, daß 50% Rentenniveau nicht zuviel, sondern gerade ausreichend ist, kann nicht seine Hand dazu reichen, die Rentenniveausicherung, die wir alle gemeinsam beschlossen haben, jetzt wieder zu beseitigen. Meine Damen und Herren! Der Bundesrat möchte in erster Linie die Anpassung der Renten zum 1. Juli 1973 gesichert wissen und diesem Teil des Gesetzes in seiner nächsten Sitzung am 25. Mai 1973 zustimmen, um die rechtzeitige Auszahlung der Renten zu gewährleisten. Diese Zustimmung wäre dem Bundesrat aber nicht möglich - darauf möchte ich das Hohe Haus noch einmal aufmerksam machen , sollten Sie heute beschließen, daß mit dem eigentlichen Anpassungsgesetz eine Verschlechterung der geltenden Niveausicherungsklausel verbunden werden soll. Gegen die Einführung einer Automatik hat der Bundesrat ohnehin keine Bedenken erhoben. Wir haben eine Reihe von technischen Verbesserungen zur Rentenniveausicherungsklausel beschlossen, die sich im einzelnen aus der Stellungnahme ergeben und die auch von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihren vorliegenden Antrag aufgenommen worden sind. Wenn dieser Antrag vom Deutschen Bundestag angenommen würde diese Möglichkeit besteht heute morgen -, könnte daher mit der Zustimmung des Bundesrates zu dem gesamten Gesetz gerechnet werden. Für den Fall, daß dieser Antrag trotz der inzwischen bekanntgewordenen Wünsche auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes abgelehnt werden sollte, muß ich im Namen des Bundesrates noch einmal nachdrücklich darum bitten, die Vorschriften über die Verschlechterung der Sicherung des Rentenniveaus aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen. Rentenanpassung einerseits und Niveausicherung andererseits - ich glaube, das ist doch klar und kann nicht bestritten werden - haben nichts miteinander zu tun ({16}) und sind zwei völlig verschiedene Komplexe, zwischen denen im Augenblick kein sachlicher innerer Zusammenhang besteht. Es ist bisher kein einziger Grund genannt worden, weshalb über die Änderung der Niveauklausel gleichzeitig mit der 16. Rentenanpassung beschlossen werden müßte. Meine Damen und Herren, bei dieser Situation, angesichts der Tatsache, daß keine sachliche Notwendigkeit besteht, müßte der Bundesrat eine Ablehnung seiner Bitte so verstehen, daß er unter zeitlichen und politischen Druck gesetzt werden soll. ({17}) Es ist ganz klar, daß dem von seiten des Bundesrates nicht gefolgt werden kann. Es besteht keine Notwendigkeit, Herr Nölling, anders zu verfahren. Sie können ohne weiteres trennen. Dann ist den Rentnern die Anpassung sicher. Wenn die Rentner zum 1. Juli nicht rechtzeitig die Rente erhöht bekommen, liegt es daran, daß Sie diesem vernünftigen und sozialpolitisch gerechten Vorschlag des Bundesrates nicht folgen. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Minister, ich möchte für das Haus nur zurückweisen, daß hier irgend jemand von diesem Haus unter Druck gesetzt wird. ({0}) Das Wort hat Herr Abgeordneter Schellenberg.

Dr. Ernst Schellenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001954, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich wenige Bemerkungen zu dem, was Herr Minister Dr. Geissler vorgetragen hat, machen. Erste Bemerkung. Herr Minister Dr. Geissler hat den falschen Eindruck erweckt, daß der Kreis der Rentner, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, sehr groß sei. Der Tatbestand ist der, daß nur 2% der Rentner auf Sozialhilfe angewiesen sind. ({0}) Dieser Personenkreis ist uns immer noch zu groß, aber man darf nicht völlig falsche Vorstellungen über die Größenordnung erwecken, wie es hier ein Landesminister getan hat. ({1}) Im übrigen hat gerade das Land, das Herr Geissler hier vertritt, die Bemühungen der sozialliberalen Koalition, durch gezielte Verbesserungen in Gestalt eines Grundbetrages den Kleinrentnern besonders zu helfen, vereitelt. Das muß hier ausdrücklich festgestellt werden! ({2}) Zweite Bemerkung. Herr Dr. Geissler hat die Niveaudebatte aufgenommen. ({3}) - Ja, Herr Minister Geissler, Herr Landesminister! ({4}) Aber von einem Landesminister müssen wir doch zumindest erwarten, daß er die Tatsachen bezüglich des Rentenniveaus kennt. Darüber liegen doch eingehende Unterlagen vor. ({5}) Tatsache ist die, daß, gemessen am Nettoeinkommen der Arbeitenden und darauf kommt es allein an -, die Renten noch niemals in unserer Sozialgeschichte so hoch waren wie heute, ({6}) Nach 40 Versicherungsjahren beträgt die Rente Tiber 60 "/0 des Nettoeinkommens und nach einem vollen Arbeitsleben zuzüglich der Ausfallzeiten 75% dessen, was ein Arbeitender netto verdient. Diese Fakten hat auch die Bundesbank bestätigt. Eine dritte Bemerkung: Herr Minister Dr. Geissler hat erklärt, in den Rentenanpassungsgesetzen dürften keine anderen Fragen der Rentenversicherung geregelt werden. Herr Dr. Geissler hat das mit der Drohung verbunden, andernfalls würde er dafür sorgen, daß die Zustimmung des Bundesrates zum 16. Rentenanpassungsgesetz verweigert würde. Aber, Herr Minister Geissler, Sie haben vergessen, daß in der Vergangenheit schon wiederholt die Rentenanpassung zusammen mit anderen Problemen der Rentenversicherung in einem Gesetz geregelt wurde. So wurde beispielsweise das 12. Rentenanpassungsgesetz mit einer grundlegenden Änderung des Finanzsystems der Rentenversicherung - einschließlich Beitragserhöhung -- verbunden. ({7}) Das 15. Rentenanpassungsgesetz wurde mit der gesamten Rentenreform in einem Gesetz zusammengefaßt. ({8}) Der Bundesrat hat gegen diese Praxis, die Rentenanpassung zusammen mit Änderungsvorschriften der Rentenversicherung in einem Gesetz zu regeln, weder 1969 noch 1972 Bedenken erhoben. Im Gegenteil, der Bundesrat hat damals diesen Gesetzen unverzüglich zugestimmt. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es sehr eigenartig, wenn die CDU/CSU-Mehrheit des Bundesrates, die eine solche Gesetzgebungspraxis -- Rentenanpassung zuzüglich anderer Regelungen ausdrücklich zweimal gebilligt hat, jetzt beim drittenmal sogar mit moralischen Kategorien gegen solche Regelung in einem Gesetz angeht. Meine Damen und Herren, namens der Koalitionsfraktionen erkläre ich: Gestützt auf die bisherige auch vom Bundesrat gebilligte Gesetzgebungspraxis weisen wir die Drohung des Bundesrates energisch zurück. ({9}) Eine vierte Bemerkung. Die CDU-Ministerpräsidenten haben in der letzten Zeit - Minister Geissler hat das heute unterstrichen - wiederholt von ihrer großen Verantwortung auch für die sozialpolitische Bundesgesetzgebung gesprochen. Aber dann, meine Damen und Herren, müssen auch die von der CDU/ CSU geführten Länderregierungen die volle Verantwortung für ihre etwaige Entscheidung, derartige Gesetze abzulehnen, übernehmen. Wenn die CDU-Mehrheit des Bundesrates einem so wichtigen Gesetz wie dem 16. Rentenanpassungsgesetz nicht die Zustimmung gibt, bedeutet das: Die von der CDU/ CSU geführten Länder tragen die volle politische Verantwortung dafür, wenn 10 Millionen Rentner am 1. Juli dieses Jahres nicht die Erhöhung ihrer Renten urn 1 1,35 ";0 ausgezahlt erhalten. Das sind die Tatsachen. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Franke ({0}).

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sowohl der Kollege Nölling als auch der Kollege Professor Schellenberg haben sich gerade darauf berufen, die 11,35 % seien ihr Verdienst. Herr Kollege Professor Schellenberg, wenn ich nicht wüßte, daß Sie trotzdem wissen, daß das, was Sie hier gesagt haben, falsch ist, würde ich sagen, Sie wollten dieses Hohe Haus und einen Teil der Öffentlichkeit irreführen. ({0}) Die 11,35% sind das Ergebnis der inflationären Politik dieser Koalition von SPD und FDP, meine Damen und Herren. ({1}) Die Löhne orientieren sich im Augenblick unter anderem an der hohen Inflationsrate. Wenn hohe Löhne eintreten, folgen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch hohe Renten. Das ist also ein Ausgleich für die Inflationspolitik, meine Damen und Herren, die Sie zu verantworten haben. Der Nettobetrag, der unseren Rentnern nach Abzug der Inflationsrate übrig bleibt, ist nicht 3 %, Herr Kollege Nölling, sondern liegt in der Nähe von 2 0%. Bei steigender Tendenz der Lebenshaltungskosten werden die Rentner in diesem Jahr in die Nähe der Realeinkommenssteigerung von Null kommen, meine Damen und Herren. ({2}) Das sind die Fakten. Sie können noch so oft mit beschwörender Gestik behaupten, Sie hätten die 11,35 % bewirkt: Jawohl, indirekt haben Sie sie bewirkt, aber für den Rentner bleibt am Ende fast Null und keine Mehrung seines Realeinkommens im Jahre 1973, meine Damen und Herren. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.

Kurt Spitzmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002202, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Franke, wir haben für Ihr Engagement volles Verständnis. Wir wissen, daß Sie auf der Warteliste für den Fraktionsvorstand stehen. ({0}) Ich möchte nur auf eines hinweisen. Herr Minister Geissler, Sie haben so getan, als ob den Arbeitern und Angestellten das Bruttoeinkommen voll zur 1758 Deutscher Bundestag --- 7. Wahlperiode Spitzmüller Verfügung stehe. Ich weise Sie nur auf den Sozialbericht des Jahres 1972 hin und mache darauf aufmerksam, daß in diesem Bericht auf Seite 156 nachgewiesen ist, wir stark die Belastung der Bruttolohnbezüge seit 1950 gestiegen ist und weiter steigen wird. Was wir hier erlebt haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist doch eine Zahlenspielerei und eine Panikmache, indem so getan wird, als ob durch die Erhöhung der Renten um 11,35 % zum 1. Juli 1973 die Lebens- und Einkommenssituation der Rentner geschwächt würde; das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte den Bundesrat auffordern, dafür zu sorgen, daß die Rentner diese 11,35 % zum 1. Juli bekommen und dies hier nicht mit Dingen zu belasten, die mit dem föderalen Prinzip gar nichts zu tun haben. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Spitzmüller, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Kurt Spitzmüller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002202, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Das föderale Prinzip steht gar nicht zur Diskussion. Das, was wir hier heute erlebt haben, ist der Versuch, die Agonie, in der sich die Opposition befindet, durch Lebenshilfe aus Rheinland-Pfalz zu überspielen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller ({0}).

Johannes Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001554, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) Ich darf zur Aufklärung dieses Hohen Hauses und der Öffentlichkeit hier nur zwei Sätze sagen. ({1}) Die Rentenniveausicherungsklausel tritt erst im Jahre 1974 in Kraft. Wir hätten also durchaus Zeit gehabt, uns hierüber noch einmal eingehend zu unterhalten. Wir haben Ihnen das Angebot gemacht, dies zu tun, damit die Rentner am 1. Juli rechtzeitig in den Genuß ihrer Rentenerhöhung kommen. Sie haben es abgelehnt und tragen damit die Verantwortung, wenn jetzt diese Schwierigkeiten eintreten. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Weitere Wortmeldungen liegen nun nicht mehr vor. Ich schließe damit die allgemeine Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung. Ich rufe Art. 1 auf. Wird hierzu das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann stimmen wir ab. Wer dem Art. 1 in der Ausschußfassung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Zu Art. 2 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/566 vor. Wird der Änderungsantrag begründet? - Keine Begründung; das Wort wird somit nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/566 zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Danke. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wir stimmen dann über Art. 2 in der Ausschußfassung ab. Wer dem Art. 2 zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen! - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Art. 2 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion in der Ausschußfassung angenommen. Auf Drucksache 7/566 liegen weitere Änderungsanträge der Fraktion der CDU/CSU vor, die jedoch durch die Ablehnung des ersten Änderungsantrages erledigt sind. - Ich glaube, das findet Ihr Einverständnis. Damit ist auch der Änderungsantrag auf Drucksache 7/564 erledigt. Wir stimmen nun über Art. 3 in der Ausschußfassung sowie über Einleitung und Überschrift ab. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Art. 3 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Damit ist das Gesetz in zweiter Beratung angenommen. Ich eröffne hiermit die dritte Beratung. Änderungsanträge liegen nicht vor. Das Wort hat Herr Bundesminister Arendt.

Walter Arendt (Minister:in)

Politiker ID: 11000044

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß wir heute das 16. Rentenanpassungsgesetz verabschieden können. Durch dieses Gesetz wird die Einkommenssituation von mehr als 10 Millionen Sozialrentnern mit Wirkung vom 1. Juli an und von mehr als 1 Million Unfallrentnern mit Wirkung vom 1. Januar 1974 an entscheidend verbessert. Zunächst möchte ich allen, die an der Vorbereitung und bisherigen parlamentarischen Behandlung des Gesetzes beteiligt waren, vor allem den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung und des Haushaltsausschusses, für ihre zügige Arbeit meinen Dank aussprechen. Ich verbinde mit diesem Dank die Hoffnung, daß auch die noch ausstehende Behandlung im Bundesrat so rasch erfolgt, daß die Auszahlung der erhöhten Renten aus der Rentenversicherung pünktlich zum 1. Juli dieses Jahres beginnen kann. ({0}) Das, meine Damen und Herren, liegt auch im Interesse der Rentner. Meine Damen und Herren, in der Rentenversicherung werden die Bestandsrenten um 11,35 °/o erhöht. Dieser Anpassungssatz, der auf der Entwicklung der Löhne und Gehälter in den Jahren von 1969 bis 1971 beruht, ist der höchste seit Einführung der bruttolohnbezogenen „dynamischen" Rente im Jahre 1957. ({1}) Dieser hohe Anpassungssatz kommt - daran können wir heute nicht vorbeisehen, meine Damen und Herren - in einer konjunkturell schwierigen Zeit. Ich möchte an dieser Stelle dazu zweierlei sagen: Erstens. Die Bundesregierung bringt dadurch, daß sie die Erhöhung der Renten um mehr als 11 % vorgeschlagen hat und an diesem Vorschlag trotz der zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklung der konjunkturellen Lage festhält, zum Ausdruck, daß sie nicht bereit ist, den Rentnern den ihnen zustehenden Einkommenszuwachs aus konjunkturpolitischen Gründen vorzuenthalten. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, treibt keine Konjunkturpolitik auf dem Rücken der Rentner. ({2}) Zweitens. Ich freue mich, daß es gelungen ist, ein erfolgversprechendes Programm zur Wiedergewinnung größerer Preisstabilität vorzulegen, ohne von den Rentnern Opfer verlangen zu müssen. Gerade für die Rentner, die keine unmittelbare Möglichkeit der Einflußnahme auf die Einkommensverteilung mehr haben, ist die möglichst rasche Wiedergewinnung größerer Preisstabilität von besonderer Bedeutung. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber in diesem Zusammenhang noch ein paar Bernerkungen zu der Änderung der Rentenniveausicherungsklausel sagen. Ich will hier gar nicht alle Gründe wiederholen, die für eine Änderung der im vergangenen Jahr meines Erachtens überhastet und ohne genügendes Durchdenken all ihrer Konsequenzen in das Gesetz eingefügten Regelung sprechen, und zwar für eine Änderung in dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Sinne. Ich möchte aber auch hier noch einmal betonen, daß die Bundesregierung und die sie tragende Koalition nicht allein die jetzige Rentenniveausicherungsklausel für änderungsbedürftig halten. Ich verweise an dieser Stelle auf die hierzu ergangenen Stellungnahmen führender wirtschaftswissenschaftlicher Institute, ich verweise auf die Deutsche Bundesbank und auch auf den Sozialbeirat. In diesen Stellungnahmen werden die mit der vorgeschlagenen Änderung der Rentenniveausicherungsklausel verfolgten Absichten einhellig begrüßt. In der Sache, meine Damen und Herren, will ich hier auf etwas anderes hinaus. Damit jedoch nicht der geringste Anlaß zu irgendeinem Mißverständnis besteht, sage ich zuvor dies: Ich halte die im 16. Rentenanpassungsgesetz enthaltene Rentenniveausicherungsklausel für gut und für geeignet, ein stabiles Rentenniveau für die Zukunft zu sichern; ich hätte sie sonst nicht vorgeschlagen. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe das Gefühl, daß Sie den Wert von Formeln und Klauseln der vorliegenden Art überschätzen. Wenn nicht der politische Wille vorhanden ist, die mit einer solchen Klausel verfolgten Absichten zu verwirklichen, dann bleibt der Wert dieser Klauseln gering; und wenn nicht die Fähigkeit vorhanden ist, eine soziale Politik zu verfolgen und durchzusetzen, Herr Kollege Franke, dann nützen den Rentnern Klauseln und Formeln überhaupt nichts. ({3}) Worum geht es also bei diesen Fragen? Um eine möglichst baldige Herstellung von größerer Preisstabilität und damit um die Erlangung von „normalen" Steigerungsraten bei den Löhnen und Gehältern. Damit ist allen, besonders aber den Rentnern, am meisten gedient. Auf dem Wege zu diesem Ziel könnte die Rentenniveausicherungsklausel in der geltenden Fassung, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, verteidigen, eher hinderlich sein; denn sie würde zu Vorausschätzungen der Löhne und Gehälter zwingen, die gerade im falschen Augenblick als Lohnleitlinien mißverstanden werden müßten. Wenn das von der Bundesregierung vorgelegte Programm zur Erreichung des konjunkturpolitischen Ziels Erfolg hat, brauchen Klauseln der hier in Rede stehenden Art nicht angewendet zu werden. Ich bin zuversichtlich, daß über das Thema der Rentenniveausicherung in einiger Zeit nicht mehr gesprochen wird, weil es nicht mehr nötig ist. ({4}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatte vorgeschlagen, die Anpassung der Renten der Rentenversicherung von 1974 an und die Anpassung der Renten der Unfallversicherung von 1975 an zu automatisieren. Wie Sie aus der Ihnen zur Beschlußfassung vorliegenden Drucksache ersehen, hat der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Verwirklichung dieses Vorschlags zu diesem Zeitpunkt und in diesem Gesetz noch nicht vollzogen, weil ihm weitere Prüfungen erforderlich erschienen. Die Bundesregierung hat diese Entscheidung zur Kenntnis genommen. Die von der Bundesregierung verfolgte Politik der stetigen Rentenanpassung wird durch diese Frage nicht berührt. ({5}) Meine Damen und Herren, ich will nicht schließen, ohne im Interesse der großen Zahl von Rentnern in diesem Lande noch einmal einen eindringlichen Appell an den Bundesrat zu richten, dem Gesetz seine Zustimmung nicht zu versagen. Die von der Mehrheit des Bundesrates zu diesem Gesetz angenommene Entschließung gibt mir zu diesem Appell Veranlassung. Ich glaube nicht, daß es unsere Rentner verstehen würden, wenn von irgendeiner Seite etwas getan würde, das die rechtzeitige Verabschiedung dieses Gesetzes und damit die pünktliche Auszahlung der erhöhten Renten zum 1. Juli dieses Jahres in Frage stellen könnte, zumal wenn dies - das ist meine Meinung nicht mit überzeugenden Gründen geschähe. ({6}) Dieses Hohe Haus, meine Damen und Herren, wird - dessen bin ich sicher - mit seiner Zustimmung zum 16. Rentenanpassungsgesetz das Seinige zur Ermöglichung der rechtzeitigen Auszahlung der erhöhten Renten tun. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die dritte Beratung. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. -- Danke! Die Gegenprobe! ({0}) Enthaltungen? -- Das Gesetz ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Meine Damen und Herren, wir müssen noch über die Nrn. 2 und 3 des Ausschußantrags abstimmen, zunächst über Nr. 2, den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf - Drucksache 7/446 - durch die Beschlußfassung zu Nr. 1 für erledigt zu erklären. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen. Nach Nr. 3 des Ausschußantrages sollen die eingegangenen Petitionen für erledigt erklärt werden. - Ich höre keinen Widerspruch; das ist somit beschlossen. Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Punkte 3 bis 9 der Tagesordnung, die ich jetzt aufrufe, in der Aussprache verbunden werden: 3. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts ({1}) - Drucksache 7/375 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({2}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Müller-Emmert, Dürr, Dr. Bardens und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts ({3}) - Drucksache 7/443 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({4}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts ({5}) - Drucksache 7/554 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({6}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heck, Köster, Dr. Unland, Dr. Becker ({7}), Dr. Blüm, Dr. Jahn ({8}), Nordlohne, Carstens ({9}) und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts ({10}) - Drucksache 7/561 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({11}) Ausschuß für ,Jugend, Familie und Gesundheit 4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz ({12}) - Drucksache 7/376 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({13}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rollmann, Frau Stommel, Frau Schroeder ({14}), Dr. Götz, Burger, Geisenhofer und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Hauspflege und der Familienhilfe im Rahmen der Reichsversicherungsordnung - Drucksache 7/464 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({15}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß 6. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ({16}) - Drucksache 7/377 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 7. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schlei, Frau Eilers ({17}), Glombig, Dr. Nölling, Dr. Bardens, Spitzmüller, Christ, Frau Funcke und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Familienberatung und -planung - Drucksache 7/374 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({18}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft b) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betr. Familienberatung und -planung - Drucksache 7/549 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({19}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Präsident Frau Renger 8. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Sammlung und Auswertung der Erfahrungen über die Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche - Drucksache 7/552 Überweisungsvorschlag des Älteslenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({20}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit 9. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Enquete-Kommission - Drucksache 7/548 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Sonderausschuß für die Strafrechtsreform Federführung offen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({21}) Meine Damen und Herren, zur Begründung hat als erster Redner der Abgeordnete Dr. de With das Wort.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 31. Juli 1920 brachten 55 Abgeordnete der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag einen Antrag zur Reform des § 218 im Sinne der Fristenregelung ein. Einer der Wortführer dieser Abgeordneten war kein geringerer als der nunmehr in die Rechtsgeschichte eingegangene Rechtsgelehrte Gustav Radbruch. Hauptgrund waren damals die hohe Dunkelziffer der illegalen Schwangerschaftsabbrüche und die hohe Todesrate der unglücklichen Frauen, die sich in ihrer Not Kurpfuschern anvertraut hatten. Seitdem sind fast 53 Jahre verflossen. Noch immer gilt das totale strafrechtliche Verbot der Abtreibung. Seit den zwanziger Jahren hat lediglich die Rechtsprechung gegen das Gesetz eine einzige Ausnahme zugelassen, und zwar die im Fall der medizinischen Indikation. Die Todesrate auf Grund illegaler Abbrüche ist sicher erheblich zurückgegangen. Noch immer schätzt man jedoch, daß pro Jahr knapp 100 Frauen -- so jedenfalls der Frauenarzt Professor Heinz Kirchhoff - Opfer illegaler Schwangerschaftsabbrüche werden. Andere sprechen von „weniger als 500", so Friedrich Graf von Westphalen im „Rheinischen Merkur". Noch immer ist die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche sehr hoch. Derselbe Friedrich Graf von Westphalen spricht in einem Sonderdruck des „Rheinischen Merkur" von 260 000, andere nehmen eine Mindestzahl von 85 000 pro Jahr an, und die deutschen Bischöfe schätzen die Zahl der kriminellen Aborte pro Jahr auf 75 000. Wenn man dabei bedenkt, daß es im Schnitt der letzten Jahre lediglich zu Verurteilungen von 300 Personen im Jahr kam, so sollte, meine ich - mag das auch ein wenig pathetisch klingen -, eigentlich keiner mehr ruhig schlafen dürfen. Knapp 100 Tote im Jahr, 75 000 illegale Schwangerschaftsabbrüche, dabei nur 300 Verurteilungen und dazu das von keiner Statistik erfaßte ungezählte Leid der Frauen in diesem Lande - allzulange wurden diese Umstände verdrängt. Deshalb, so meinen wir, muß reformiert werden. Niemand sollte sich damit zufrieden geben, daß ruhig zugewartet werden könne; die Zeit werde es schon regeln. Die Vergangenheit beweist uns das Gegenteil. Die Frage kann unserer Auffassung nach nur sein, wie reformiert werden muß. Dabei kann es sicherlich - das sei am Anfang gesagt - keine befriedigende Lösung geben. Es kann nur zu einer Suche nach der gemäßeren Regelung kommen, denn die Problematik ist wie in kaum einem anderen Fall schwierig und kompliziert. Der Eingriff beendet werdendes Leben, berührt in hohem Maße die körperliche und seelische Integrität der Frau und stellt den Arzt vor eine schwerwiegende Entscheidung. Deswegen muß es oberstes Prinzip sein - das sagt der Entwurf der Fraktionen der SPD und FDP zur Reform des § 218 eingangs , daß „Staat und Gesellschaft darauf hinzuwirken haben, daß Schwangerschaftsabbrüche möglichst unterbleiben". Aus diesem Grunde haben die Koalitionsfraktionen nicht nur einen Entwurf zur Reform des § 218 im Sinne der Fristenregelung eingebracht - der übrigens in seinem zweiten Teil Regelungen zur freiwilligen Sterilisation, im weiteren Sinne ergänzende Maßnahmen enthält -, sondern dieses 5. Strafrechtsreformgesetz zusammen mit einem Bündel sozialpolitischer Ergänzungsmaßnahmen im Bundestag eingebracht. Wir betrachten alle diese Maßnahmen zusammen mit dem Strafgesetzentwurf als eine Einheit. Diese sogenannten Ergänzungsmaßnahmen, die in der öffentlichen Diskussion zur Reform des § 218 leider allzu häufig in den Hintergrund gedrängt worden sind, bilden für die SPD-Bundestagsfraktion - das ist unsere einmütige Auffassung - die gewichtigeren Maßnahmen bei der Reform. Denn der Fall, um den es oft sehr vordergründig geht, sollte möglichst gar nicht erst eintreten. Der Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum 5. Strafrechtsreformgesetz, kurz: das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, gewährt über die Kassen Versicherten „Anspruch auf ärztliche Beratung in Fragen der Empfängnisregelung". Das bezieht sich - ich darf das so formulieren -auf die negative und positive Schwangerschaftsregelung, also auf die Empfängnisverhütung wie auch auf die Ermöglichung der Empfängnis. Im Klartext heißt das im Hinblick auf einen Punkt: Übernahme der Kosten für die Untersuchung und die Rezeptur der Pille durch die Kasse. Weiterhin sollen der Frau nach diesem Gesetzentwurf die Kosten für die Pille von der Sozialhilfe ersetzt werden, falls sie sich diese nicht leisten kann. Der Gesetzentwurf sieht ferner vor, daß die Kosten des Schwangerschaftsabbruchs von den Kassen übernommen werden. Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, das Leistungsverbesserungsgesetz, sieht unter anderem vor, daß Frauen Krankengeld zu zahlen ist, die ihr krankes Kind zu Hause zu versorgen haben, und daß kranke Matter durch Haushaltshilfen zu unterstützen sind. In dem Antrag betreffend die Familienberatung und -planung wird der Bund aufgefordert, mit den Ländern und ,den jeweils zuständigen Gremien Verbindung aufzunehmen, um mehr Möglichkeiten zur Verbesserung der Sexualberatung und der Familienplanung zu eröffnen sowie das Netz der Beratungsstellen vergrößern zu können. Wir gehen nicht davon aus, daß diese Maßnahmen abschließenden Charakter haben. Die Adoptionsreform z. B. stellt wiederum in weiterem Sinne eine ergänzende Maßnahme dar. Wir glauben jedoch, daß damit erstmals ein wirklicher Schritt getan ist, der eigentlich schon lange hätte erfolgen können. Dabei sollten wir einmal überlegen, warum unsere Gesellschaft die eigentlich allseits bekannten Züge eine gewissen Intoleranz gegen Mehrkinderfamilien, gegen das nichteheliche Kind kennt und warum die Kindergartenplätze so rar, großfamiliengerechte Wohnungen doch verhältnismäßig selten und teuer sind. Sicher scheint mir, daß dies nicht das Ergebnis einer kurzfristigen Entwicklung ist. Es scheint, daß hier in unserer Gesellschaft ein Stück soziale Infrastruktur fehlt, die zu schaffen nicht rechtzeitig genug angefangen worden ist. Die von uns vorgeschlagenen Bestimmungen zur Reform des § 218 StGB im Sinne des Fristenmodells unterstehen denselben Grundsätzen wie die ergänzenden Maßnahmen. Konkretisiert auf das Reformmodell zu § 218 StGB lauten sie: 1. Werdendes Leben ist grundsätzlich geborenem gleichzuachten; das ist wesentlich und wichtig. 2. Wegen des untrennbaren Zusammenhangs des werdenden Lebens mit dem der Mutter ist es jedoch gerechtfertigt und notwendig, die Verantwortung der Mutter mehr als bisher einzubeziehen und deshalb den strafrechtlichen Schutz für das werdende Leben anders zu gestalten als für das geborene. 3. Die Rate der kriminellen Aborte ist zu senken und auf die Dauer die Rate der Aborte überhaupt. 4. Es sollte die Möglichkeit einer ärztlichen Beratung geschaffen werden, die die Schwangere auch anzunehmen bereit ist. 5. Alle Frauen sollen den gleichen Zugang zum legalen und damit vom fachlich vorgebildeten Arzt vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch haben. 6. Kein Arzt und kein ärztliches Pflegepersonal darf zu einem Schwangerschaftsabbruch gezwungen werden. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, bedeutet einmal eindeutig eine Absage an die These „Der Bauch gehört mir". Es bedeutet aber auch eine Absage an die Forderung, es reiche aus, die derzeitige Rechtsprechung mit der Zulassung der medizinischen Indikation beim sonstigen totalen Strafverbot einfach zu kodifizieren oder auch das derzeit praktizierte Recht anzureichern um die wiederum angereicherte medizinische Indikation - nämlich angereichert um die kindliche - und weiter um die kriminologische Indikation. Denn die ({0}) Frauen abschreckt, zur Beratung zu gehen, und sie eher gleich zum Abtreiber zwingt. Unser Modell eröffnet des weiteren die Möglichkeit, nicht nur den Hausarzt als den Arzt des Vertrauens aufzusuchen, was wiederum nicht unter dem Zischeln der Nachbarinnen geschehen muß, weil der Gang zum Hausarzt auch ein Gang wegen einer ganz normalen Krankheit sein kann, wohingegen der Gang zu einer Beratungsstelle sehr leicht den Verdacht aufkommen läßt: „Die will ja wohl sicher abtreiben!" Gleichwohl eröffnet unser Modell die Möglichkeit für die Frau, auch diese Beratungsstelle aufzusuchen, wenn sie will, falls dieser ein Arzt angehört. Das heißt, das Fristenmodell der SPD- und FDP-Fraktion eröffnet ein breites Spektrum an Beratungsangeboten. Die Beratung soll sich nach unseren Vorstellungen nicht in der bloßen Untersuchung und medizinischen Hinweisen erschöpfen. Wir gehen davon aus, daß die Schwangere neben der Untersuchung Beratungen in physischer, psychischer, und ich darf sagen: allgemein in umfassend sozialer Hinsicht erfährt, damit sie wirklich abwägen kann. Wir gehen davon aus, daß die Beratung eine der zentralen Fragen der Reform des § 218 überhaupt sein wird. Wir sind, das sagen wir ganz frank und frei, für jeden Verbesserungsvorschlag offen. Wir dürfen auch sagen - und ich darf das betonen -, daß unserer Auffassung nach hier eine der großen Aufgaben der Ärzte liegen wird. Drittens. Allein die Fristenregelung ist eher geeignet, den Unterschied zwischen arm und reich, zwischen der Frau, die sich gut, und der Frau, die sich nur mangelhaft artikulieren kann, auszugleichen. Bei der Indikationenregelung wird die sich gut artikulierende Frau eher die Möglichkeit haben - ich darf das einmal so formulieren -, unter irgendeine Indikation zu schlüpfen; zumindest wird sie eher in der Lage sein, ins Ausland zu gehen und dort den Eingriff vornehmen zu lassen, als das „kleine Lieschen vom Dorf". Viertens. Wie kann schließlich der Arzt bei den Indikationenmodellen das Vorliegen einer Vergewaltigung oder aber einer Notstands- oder einer sozialen Indikation feststellen? Wir glauben, daß all diese sicher sehr peinlichen Fragen naturgemäß bei der Fristenregelung dieses Gewicht nicht haben können. Damit ersetzt die Fristenregelung die mit Ausnahme versehene totale Strafdrohung in den ersten drei Monaten durch eine Teilrücknahme der Strafdrohung und einen damit gekoppelten Beratungsmechanismus, der wie bei keinem anderen Modell leichte Zugänglichkeit zur Beratung vermittelt und damit unserer Auffassung nach am ehesten geeignet ist, über die Mutter den Schutz des werdenden Lebens zu gewährleisten. Das Fristenmodell gibt sich nicht mit dem bloß Gedruckten, der durchgängigen Strafdrohung auf dem Papier, zufrieden; es geht von der praktischen Auswirkung im Leben aus. durch die Offenheit der Beratung, die es bei Indikationenmodellen, wie ich ausführte, in dieser Form nicht gibt. Außerdem kann die Schwangere, den, der sie bedrängt - es muß ja nicht der Ehemann sein - kostenlos mit zum Arzt oder zur Beratung nehmen, um sich bei diesem Rückenstärkung zu holen. Viele wenden ein, sie könnten nicht verstehen, wieso das menschliche Leben plötzlich von einem Tag auf den anderen schutzwürdig sei und warum es ausgerechnet die Dreimonatsfrist sein müsse. Hierzu ist zu sagen, daß das Einsetzen des vollen „Strafschutzes", der vollen Strafdrohung - ich meine, das ist der Angelpunkt für die, die sich gegen das Fristenmodell wenden -, nicht Schutzlosigkeit in den ersten drei Monaten bedeutet. Es bedeutet lediglich die Ablösung eines Mechanismus, der versagt hat, durch einen besseren. ({1}) Wir glauben, daß - das entspricht wohl auch dem Rechtsbewußtsein der Bevölkerung ({2}) die Strafdrohung zum Schutz des werdenden Lebens erst nach drei Monaten wirklich greift. ({3}) Es geht nach unserer Auffassung deshalb auch darum, Gesetzesrecht, Rechtsbewußtsein und Rechtswirklichkeit in größere Übereinstimmung zu bringen. Die Vornahme des Einschnittes nach drei Monaten hat allein pragmatischen Charakter. In den ersten drei Monaten ist der Eingriff verhältnismäßig einfacher, wobei ich Wert darauf lege, daß wir den Eingriff keineswegs - auch nicht in den ersten drei Monaten - bagatellisieren; er ist immer noch schwer genug. Außerdem lehrt die Erfahrung, daß die Frau - hat sie einmal die ersten drei Monate überwunden - viel weniger geneigt ist, noch einen Eingriff vornehmen zu lassen. Dann hat sie nämlich in aller Regel das Verhältnis zum Kind. ({4}) Es wird ferner auf die gesundheitlichen Gefahren hingewiesen. Hier ist einmal zu sagen, daß die Rate der Aborte durch unseren Vorschlag geringer werden soll. Zum anderen weist die Statistik in New York aus, daß die Rate der Todesfälle bei Eingriffen nach der Sechsmonatsregelung geringer ist als die Rate der Todesfälle bei der normalen Geburt. Es geht auch darum - das soll nicht vergessen werden -, bei Eingriffen, wenn deren Vorhandensein schon nicht geändert werden kann, möglichst Schaden von der Gesundheit unserer Frauen abzuwenden. Schließlich wird oft erhobenen Zeigefingers gemeint, daß bei der Fristenregelung ungehindert - ich sage es etwas flapsig - drauflos abgetrieben werden könne. Wer dies sagt, übergeht, daß sicher keine Frau - ich glaube, man sollte es so hart sagen, wie es ist - sich gern ausschaben läßt. Wer dies sagt, drückt damit nur ein Mißtrauen gegenüber unseren Frauen aus, für das unseres Erachtens die Rechtfertigung fehlt. Abschließend muß zu diesem Punkt bemerkt werden, daß in unserer Zeit ein Gesetz wohl eher die Chance hat angenommen zu werden, das der Betroffenen, wenn auch eingeschränkt, einen Spielraum in eigener freier Entscheidung gewährt, als ein Gesetz, das die Betroffene mehr oder weniger zum Objekt einer fremden Entscheidung macht. Die Fristenregelung freilich bürdet der Frau mehr Verantwortung auf als jedes andere hier eingebrachte Modell. ({5}) Das vorliegende Fristenregelungsmodell erfordert die Mitarbeit der Ärzte in unserem Lande. Unsere Frauenärzte haben sich nun mit überwältigender Mehrheit für die erweiterte Indikationenregelung und gegen die Fristenregelung ausgesprochen. Ich habe bereits ausgeführt, daß die Ziele bei beiden Modellen im Grunde identisch sind, daß lediglich die Methoden unterschiedlicher Natur sind. Beide Modelle werden zudem, glaube ich, beinahe zu denselben Folgen führen. Schließlich vertreten die Ärzte in den Vereinigten Staaten - das sage ich an die Adresse unserer Ärzte - ausweislich des zitierten Urteils des Supreme Court Auffassungen, die sich nicht gegen die dort praktizierte Sechsmonatsregelung wenden. Es sei verwiesen auf den Beschluß des amerikanischen Bundesverbandes der Ärzte vom 25. Juni 1970 und auf den Beschluß der Amerikanischen Vereinigung für das öffentliche Gesundheitswesen vom Oktober 1970. ({6}) - Dort gilt ja eine Indikationenregelung und nicht eine Fristenregelung. Das bitte ich zu beachten. Das zitierte Hirtenschreiben der Deutschen Bischofskonferenz vom 6. Mai 1973, das an diesem Tag in allen katholischen Kirchen in Deutschland verlesen wurde, wendet sich sowohl gegen die erweiterte Indikationenregelung als auch gegen die Fristenregelung. Gleichwohl - das sollte beachtet werden - bietet dieses Schreiben Ansatzpunkte für die Aufnahme eines Dialogs. Die katholische Kirche erkennt mit diesem Schreiben die Reformbedürftigkeit des derzeitigen Zustandes an. ({7}) Die Bischöfe erkennen - auch das sollte hier gesagt sein - einmal die positiven Absichten der Reformer und zum anderen die Tatsache an - ich zitiere -, „daß man sittliches Bewußtsein und moralische Verantwortung nicht allein mit Strafgesetzen schaffen kann". ({8}) Damit ist eine Brücke zu einem neuen Dialog, wie ich schon sagte, gebildet. Gleichwohl - auch das darf ich bemerken - hat sich dieses Hirtenschreiben nicht gegen frühere Äußerungen mancher Angehöriger aus dem katholischen Raum gewandt, deren Vokabular gegenüber den Reformern nicht nur verletzend war, sondern deren Äußerungen auch nicht als hilfreich für die Reform angesehen werden konnten. Die undifferenzierte Klassifizierung des Fristenmodells als „Freigabe von Mord an ungeborenen Kindern" und der Hinweis, daß der Liberalisierung im Sinne des Fristenmodells die „Sterbehilfe" entspreche, sind der Sache nicht dienlich. Emotionale Töne helfen weder dem werdenden Leben noch den vielen Tausenden Frauen noch, meine ich, dem Gesetzgeber bei seiner notwendigen Arbeit. Es wäre deshalb gut, wenn von der heutigen ersten Lesung der Grundton an Sachlichkeit ausginge, der es, ungeachtet aller Auffassungsunterschiede im Modell, ermöglichen würde, Beratungen zu führen, an deren Ende ein Gesetz steht, das die derzeitigen inhumanen, ungerechten und ungeeigneten Bestimmungen durch Vorschriften ersetzt, die werdendes Leben besser schützen und eher geeignet sind, das Leid unserer Frauen zu mindern. ({9})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort zur Begründung eines weiteren Antrags hat der Abgeordnete Dr. Eyrich.

Dr. Heinz Eyrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000511, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion, die wir heute führen, ist in großen Teilen unseres Landes mit einer Heftigkeit geführt worden, die wir kaum in einer anderen Frage kennengelernt haben. Sie ist allerdings auch mehr unter dem Gesichtspunkt von Emotionen als unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Erörterung des Für und Wider geführt worden. Es ist darüber hinaus festzustellen, daß in der Öffentlichkeit bei dieser Diskussion die unglaublichsten Dunkelziffern über Engelmacherinnen, über Todesfälle und über alle anderen Dinge verbreitet wurden, die - das muß man doch, glaube ich, sagen - einer unvoreingenommenen Nachprüfung nicht standhalten können. Es ist, meine Damen und Herren, draußen in der Öffentlichkeit ein Klima entstanden, das einer guten Beratung auch in diesem Hause offenbar nicht förderlich sein kann, ein Klima, das sicherlich auch dadurch erzeugt worden ist, daß, wie wir eben in diesem Vortrag wieder hörten, eine Begründung des Gesetzentwurfes der Koalitionsparteien gegeben wurde, von der der unbefangene Zuhörer wird sagen müssen: diese Argumentation kann einfach nicht überzeugen. ({0}) Und natürlich fehlten bei der Diskussion draußen nicht die Hinweise wen würde es auch verwundern? --, daß es sich bei den einen um die fortschrittliche Gruppe handele, die mit beinahe mittelalterlichen Zuständen endlich einmal Schluß machen wolle, während die ewig Gestrigen noch immer nicht einsehen wollten, wie notwendig es sei, der Frau endlich jenes Selbstbestimmungsrecht zu geben, ohne das sie nicht glücklich werden könne, auch dann, wenn dieses Selbstbestimmungsrecht auf Kosten des ungeborenen Lebens durchgesetzt wird. Mit dieser Feststellung aber ist die Polarität der Meinungen und das Dilemma angesprochen, in das jeder kommt, der eine gerechte Lösung auf diesem Gebiet sucht. Wir alle aber sollten wissen, daß es eine jedermann gegenüber gerechte und seine Interessen berücksichtigende Lösung nicht geben kann. Wir wissen auch, daß niemand diese Probleme wird lösen können, indem er allein die Frage der Veränderung des Strafrechts zur Diskussion stellt. Das Strafrecht ist in dieser Sache nicht die zentrale Frage, sondern es bedeutet nur eine von vielen Maßnahmen, die zum Schutze des ungeborenen Lebens ergriffen werden müssen, ({1}) wenn wir uns nicht länger dem Vorwurf aussetzen wollen, wir hätten uns allein mit dem befaßt, was niemandem in diesem Lande ein Opfer abverlangt. Das Bemühen des Strafgesetzgebers ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, wenn nicht alle Möglichkeiten der Hilfe für die schwangere Frau, für ihre Familie und für das Kind geboten werden. Wir haben dazu Anträge formuliert, um deutlich zu machen, wo die Möglichkeit besteht, zu helfen. Frau Kollegin Verhülsdonk wird zu diesen Dingen noch sprechen. Ganz vorn aber muß doch die Beratung mit dem Ziel stehen - und ich sage das, weil hier so viel von der Verantwortung der Frau gesprochen worden ist -, vorher und nicht nachher die Verantwortung gegenüber dem Partner aufzuzeigen. ({2}) Kindergärten, Spielplätze, Teilzeitarbeitsplätze, familiengerechte Wohnungen - damit sind nur einige der Punkte angesprochen, die befriedigend gelöst werden müssen. Niemand - auch in diesem Hause - vergißt das zu sagen; kaum jemand wagt an die Kosten zu denken; und kaum jemand kann sagen, wie sie gedeckt werden sollen. Zugegeben, es ist fast unmöglich, all das zu schaffen. Wenn wir aber nicht in der Gemeinsamkeit, die dafür erforderlich und angemessen ist, sofort an die Verwirklichung herangehen - und das kann nur dadurch geschehen, daß wir Mittel in den Haushalt einstellen, und zwar sofort -, ({3}) dann wird dieses Haus zu Recht der Unglaubwürdigkeit geziehen werden können, und wir werden uns dann den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß das alles nur ein Vorwand dafür gewesen sei, bestimmten Lösungen zum Erfolg zu verhelfen. ({4})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Einen Augenblick, Herr Abgeordneter. - Ich möchte bemerken: Bei einer Antragsbegründung kann keine Zwischenfrage gestellt werden. Bitte sehr, fahren Sie fort.

Dr. Heinz Eyrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000511, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident. Das wollen wir alle verhindern. In diesen Rahmen allein müssen die Erörterungen über die Ausgestaltung der Gesetzesbestimmungen gestellt werden, die die Tötung ungeborenen Lebens und deren Ahndung zum Inhalt haben, als ein Teil eines umfassenden Ganzen, das uns allerdings zwingen wird, ganz klar und unmißverständlich zu sagen, wo unser Standpunkt ist und wie wir diese Gesellschaftsordnung wahren wollen, in der wir heute leben. Wir müssen klare Antworten auf die Fragen geben, wann etwa Leben beginnt, ob wir dem ungeborenen Leben denselben Schutz und denselben Stellenwert wie dem geborenen Leben selbst einräumen wollen und müssen. Wir müssen auch die Frage stellen, ob uns das Grundgesetz nicht dazu zwingt, den Schutz des werdenden Lebens als das richtige Mittel in den Vordergrund zu stellen. Die Beantwortung dieser Fragen, meine Damen und Herren, muß sich an den Bedürfnissen des einzelnen - wer wollte das bestreiten -, an seinem Freiheitsraum orientieren, aber auch an den Anforderungen der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen und nicht zuletzt auch daran, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um ein erträgliches Zusammenleben zu gewährleisten. Ist nicht dieses Zusammenleben in einer Gemeinschaft einer nahezu unerträglichen Belastung ausgesetzt - so muß ich Herrn Kollegen de With und alle diejenigen fragen, die diesen Gesetzentwurf unterschrieben haben -, wenn das Rechtsgut Leben zur Diskussion gestellt wird? ({0}) Keiner der zur Debatte stehenden Entwürfe versäumt es natürlich, darauf hinzuweisen, daß es sich beim ungeborenen Leben um ein hochwertiges Rechtsgut handelt. Auch die Kollegen, die die Fristenlösung bejahen, stellen allen Überlegungen den Satz voran: Werdendes Leben ist grundsätzlich geborenem gleichzusetzen. Herr Kollege de With, ich habe es vorhin schon gesagt: Das kann einfach nicht der Grundsatz derer sein, die diese Fristenlösung dem Parlament zur Beschlußfassung vorgelegt haben. ({1}) Natürlich weiß ich, daß Satz 2 eine Einschränkung macht: daß nämlich mit anderen Mitteln ungeborenes Leben geschützt werden soll. Aber können Sie mir, meine Damen und Herren von der Koalition, einmal sagen, wie es möglich sein soll, ungeborenes Leben wirksam zu schützen, indem man dieses ungeborene Leben in den ersten drei Monaten zur freien Disposition der Frau stellt? ({2}) - Das ist, Frau Kollegin Timm, mit Verlaub gesagt ein Widerspruch in sich selbst. ({3}) Sie müssen sich doch sagen lassen, daß Sie in den ersten drei Monaten dem ungeborenen Leben schlicht und einfach den strafrechtlichen Schutz versagen. ({4}) Wir müssen uns natürlich auch fragen - das klingt hier immer wieder an -: Wann beginnt dieses Leben? Wir haben gehört, daß es nach dem dritten Monat wohl ein anderes als vor dem Ende des dritten Monats sein soll. ({5}) Ich kann ganz offen gestanden - ich werde nachher noch darauf zurückkommen - diesen Unterschied beim besten Willen, Herr Kollege de With, nicht nachvollziehen. ({6}) Was den Beginn des menschlichen Lebens betrifft, so sind wir uns doch einig darin, daß es kaum eine Stellungnahme in der Wissenschaft gibt, die nicht davon ausgeht, daß dies mit der Befruchtung der Fall ist. An Stelle vieler anderer lassen Sie mich einen Satz aus einer Abhandlung von Professor Blechschmidt, die er in der „Zeitschrift für Familienrecht" im Jahr 1973, Seite 116, gemacht hat, zitieren. Es heißt dort: Was sich in der Entwicklung des menschlichen Eis zum Embryo und dann zum Fötus ändert, ist immer nur sein Erscheinungsbild. Aber dieser Prozeß von Änderungen betrifft nicht das Wesentliche; denn das Wesentliche ist schon mit der Befruchtung gegeben und bleibt im Verlauf der Individualentwicklung bestehen: der Mensch. Die Stellungnahme, die Professor Blechschmidt abgegeben hat, deckt sich doch im wesentlichen mit all den Stellungnahmen, die wir im Anhörungsverfahren vor dem Deutschen Bundestag gehört haben. Damit ist freilich - man muß diese Frage erörtern - nichts darüber ausgesagt, wann der strafrechtliche Schutz eingreifen soll und aus welchen Gründen er - später - auch in unseren Gesetzesentwurf aufgenommen worden ist. Davon soll später die Rede sein. Schützt unsere Verfassung das ungeborene Leben? Die Staatsrechtler - auch Sie, Herr Kollege de With, haben die Frage der Verfassungsmäßigkeit aufgeworfen - sind sich überwiegend einig darin, daß in den Schutz des Art. 2 unseres Grundgesetzes, in dem vom Schutz des Lebens die Rede ist, das ungeborene Leben mit einbezogen ist. Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß im Parlamentarischen Rat ein Antrag nicht durchgekommen sei, in Art. 2 Abs. 2 auch das keimende Leben aufzunehmen. Man hat dann immer hinzuzufügen vergessen, daß dieser Antrag nur deswegen nicht aufgenommen worden ist, weil es von der Mehrzahl als selbstverständlich erachtet worden ist, ({7}) daß auch das keimende Leben dem Schutz des Grundgesetzes unterliegt. ({8}) Anders, meine Damen und Herren, wird man die Frage der Wertigkeit des ungeborenen Lebens in bezug auf Art. 2 unseres Grundgesetzes auch nicht sehen können, wenn man mit den Aussagen von Professor Blechschmidt über die Individualentwicklung in der Frage des Schutzes des ungeborenen Lebens Ernst machen will. Schutz und Förderung jeglichen Lebens, meine Damen und Herren, so meine ich, sei ein menschliches Grundgebot. Dieser Satz muß der Ausgangspunkt aller Überlegungen sein, auch der Überlegung, wie dieser Grundsatz am wirksamsten verwirklicht werden kann. Ich habe von den Maßnahmen gesprochen, die außerhalb strafrechtlicher Erwägungen stehen. Daß sie verwirklicht werden müssen, darüber kann kein Zweifel bestehen. Daß wir aber nicht darauf verzichten können, dem ungeborenen Leben auch strafrechtlichen Schutz zu gewähren, ist, meine Damen und Herren von der Koalition, nicht allein eine Frage einer sittlichen Wertentscheidung, sondern auch das Gebot, sozialschädliches Verhalten mit den Mitteln des Strafrechts zu verhindern versuchen. ({9}) Den Staat trifft nicht nur die Pflicht, sich eigener Eingriffe in das ungeborene Leben zu enthalten, sondern auch die Pflicht, Angriffe auf das ungeborene Leben zu verhindern, von wem immer diese Angriffe auf das ungeborene Leben auch ausgehen mögen. Es ist von allen Seiten viel über die Frage gesprochen worden, was denn nun Aufgabe und Funktion des Strafrechts sei. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in der ersten Lesung zum 4. Strafrechtsreformgesetz sehr heftig über diese Frage diskutiert worden ist. Lassen Sie mich sagen: Wie immer man die Aufgabe und die Funktion des Strafrechts werten wolle, über eine Erkenntnis kommen wir nicht hinweg: auch wenn wir sagen wollten, daß staatliches Strafrecht nicht sittlich zu mißbilligendes Verhalten erfassen soll, so werden wir uns doch zum Ausgangspunkt bekennen müssen, daß wir um eine Wertentscheidung, die unsere Verfassung einmal getroffen hat, auch bei der Frage des strafrechtlichen Schutzes nicht herumkommen können. ({10}) Ich selbst habe einen von einem Bundesrichter verfaßten Aufsatz gelesen, in dem es darum geht, wann Strafrecht einsetzen soll. Er hat wieder einmal jenen Punkt in die Debatte hineingebracht, daß das Strafrecht im Grunde genommen keinen anderen Sinn und Zweck und auch keine andere Aufgabe habe, als das ethische Minimum zu gewährleisten. Dies ist offenbar die Meinung sehr vieler in diesem Hause. Ich warne ganz nachdrücklich davor, meine Damen und Herren, dem Strafrecht diese Aufgabe und Funktion zuteil werden zu lassen, ({11}) weil es unerträglich ist, von einem ethischen Minimum zu sprechen. Aber selbst dann, meine Damen und Herren von der Koalition, müssen wir doch fragen: Gehört es vielleicht nicht zum ethischen Minimum, die Frage der Tötung ungeborenen Lebens zu behandeln? Ich meine, wenn wir auf dieses ethische Minimum verzichten wollten, wäre es um die Ordnung in unserem Lande schlecht bestellt. ({12}) Man muß es, ausgehend von der Frage der Sozialschädlichkeit - ich komme Ihnen einmal in der Argumentation entgegen -, nicht als unvereinbar mit den Regeln eines geordneten Zusammenlebens ansehen, wenn ohne Angabe von Gründen allein unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau ungeborenes Leben getötet wird. Kommen wir, meine Damen und Herren von der Koalition, nicht in Gefahr, daß mit einer Entscheidung, wie Sie sie mehrheitlich getroffen haben, die Achtung vor dem Wert des Lebens herabgemindert wird? Würde es für viele Menschen nicht bedeuten, daß mit der Aufgabe des strafrechtlichen Schutzes zugleich auch die dahinterstehende ethische Norm aufgegeben worden sei? ({13}) Das Schlimmste allerdings, was uns geschehen könnte, wäre doch wohl, wenn man der Meinung jenes Autors sein würde - es ist Werner Hill -, der sie im „Vorwärts" am 29. März 1973 zum Ausdruck gebracht hat. ({14}) Ich unterstelle nicht, daß Sie mit dieser Aussage übereinstimmen; aber es wäre doch immerhin schlimm, wenn wir so argumentieren wollten, wie dort argumentiert worden ist, nämlich daß es sich bei der Frage, ob ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt oder verboten sein soll, in Wirklichkeit - nun kommt das Entscheidende - um eine neue Moral und ein neues Selbstverständnis des Menschen handle. Meine Damen und Herren, ich unterstelle nicht, daß dieses Motiv für jemanden in diesem Hause dazu führen könnte, die Notwendigkeit des Strafrechts unter diesem Aspekt noch einmal überdenken zu wollen. Nur sollte man sich, wenn man schon den anderen vorwirft, sie sähen die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Moral, natürlich auch dies hier vorhalten lassen, wenn man von einer neuen Moral spricht. ({15}) Natürlich - ich gebe das zu, Herr Kollege Wehner - ist das eine Frage, die uns alle hier beschäftigt: Ist es richtig, wenn wir sagen, das Strafrecht sei das Mittel, den Schutz des unge1768 borenen Lebens wirksam zu garantieren? Niemand wird die Augen davor verschließen wollen, daß gegen die derzeitige Bestimmung des § 218 oft verstoßen wird. Aber niemand sollte sich auch, wie Sie es offenbar getan haben, Herr Kollege de With, der Hoffnung hingeben, daß mit der Aufgabe des strafrechtlichen Schutzes etwa eine Minderung der Zahl der Abtreibungen erreicht werden könnte. Die Erfahrungen in allen Ländern, in denen eine ähnliche oder vergleichbare Regelung besteht, sprechen gegen diesen Satz. ({16}) Auch das Anhörungsverfahren, meine ich - wir waren ja zugegen -, hat das bestätigt. Wir haben die Begründung, Herr Kollege de With, die Sie gegeben haben, sehr wohl gehört. Sie haben immer wieder den Schutz des ungeborenen Lebens hervorgehoben. Es ist aber - ich möchte Ihnen das in aller Offenheit sagen - eine Illusion, mit der Freigabe der Abtreibung in den ersten drei Monaten eine Senkung der Zahl der Aborte zu erreichen und einen erhöhten Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten. Die Zahlen werden, wenn Ihr Entwurf Gesetz werden sollte, sprunghaft steigen. Es ist nicht möglich, den Schutz des ungeborenen Lebens mit einer teilweisen Freigabe zu erhöhen. Die einzige Veränderung wird die sein, daß von der illegalen Abtreibung der Weg zur legalen Abtreibung gegangen wird und wir an Stelle der bisher illegalen Abtreibungen, die im wesentlichen --- das wissen wir alle - schon heute ) nicht mehr von Kurpfuschern durchgeführt werden, zur legalen Abtreibung kommen werden. Das kann doch nicht unter der Überschrift „Schutz des ungeborenen Lebens" laufen. Das ist für mich undenkbar. ({17}) Ein Kernpunkt Ihrer Lösung, meine Damen und Herren von der Koalition, ist die Abwägung des Selbstbestimmungsrechts der Frau gegenüber dem ungeborenen Leben. Wenn die Frau auf Grund dieses Selbstbestimmungsrechts ohne jede Rechtfertigung in der Lage wäre -({18}) - Das können Sie nicht bestreiten, Frau Kollegin Timm. Entscheidend ist nicht das, was Sie in den Entwurf hineinschreiben, sondern entscheidend ist, wie es draußen aufgenommen wird, und draußen wird es als Möglichkeit aufgenommen, in den ersten drei Monaten, ohne mit Strafe rechnen zu müssen, nach Absolvierung der Formalie einer Beratung abtreiben zu können. So wird es draußen aufgenommen. ({19}) --- Meine Damen und Herren, Frau Kollegin, ich baue keinen -- ({20}) - Ich werde dazu sprechen; Sie können sich darauf verlassen, Herr Kollege. Ich bitte Sie noch um ein kleines bißchen Geduld. Es ist in diesem Hause üblich, daß man nicht nur über den eigenen Entwurf spricht, sondern sich auch kritisch mit dem Entwurf anderer auseinandersetzt. ({21}) Wir sind davon ausgegangen, daß Sie davon ausgehen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Frau an erster Stelle stehe. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, daß das Selbstbestimmungsrecht der Frau dadurch erheblich eingeschränkt werden kann, daß sie allen möglichen Beeinflussungen ausgesetzt ist. Herr Kollege de With, Sie haben vorhin Herrn Professor Radbruch als Kronzeugen dafür zitiert, welche Maßnahmen man ergreifen könne. Ich möchte Ihnen eine Stelle aus einem Aufsatz vorlesen, den er geschrieben hat. ({22}) Ja, Sie haben ihn genannt und haben gesagt, er habe der Gruppe angehört, die im damaligen Reichstag die Fristenlösung zur Debatte gestellt habe. Ich nehme an, ich habe Ihren Hinweis damit korrekt wiedergegeben. Professor Radbruch hat nach einem Auszug aus dem 6. Band der Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung auf einer Tagung der deutschen Landesgruppe im Jahre 1932 ausgeführt - ich darf das mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren, damit die Problematik wieder etwas zurechtgerückt wird --: Ich kenne nur ein Bedenken gegen die Einschränkung der Abtreibungsstrafe, ein allerdings sehr schweres Bedenken, mit dem ich lange gerungen habe: daß die Beseitigung der Abtreibungsstrafe die Frau dem Einfluß des Mannes wehrlos unterwerfen könnte, daß, wenn der Frau die Abtreibung freigegeben würde, sie nicht sowohl aus eigenem freien Willen als vielmehr unter dem Druck des Mannes oder Liebhabers die Abtreibung vielfach vornehmen würde. ({23}) Wenn wir das gesagt hätten, meine Damen und Herren, hätten Sie es uns wahrscheinlich in dieser Form nicht abgenommen. Möglicherweise ist derjenige, der das gesagt hat, Ihnen ein genügender Garant dafür, daß wir über dieses Bedenken miteinander sprechen müssen. Wir sollten aber auch einen weiteren Aspekt nicht übersehen. Durch Ihre Regelung wird doch der Eindruck erweckt, daß das Leben zu einer bestimmten Zeit weniger schutzwürdig sei als in der Zeit danach. Wir müssen Sie fragen, ob Sie nicht die Inkonsequenz sehen, ich möchte fast sagen, ob Sie nicht spüren, daß wir hier an der Grenze der willkürlichen Auslegung einer Bestimmung stehen, die in der Bestimmung einer Frist liegt. Ist der ungeboDr. Eyrich rene Mensch nach drei Monaten und einem Tag ein anderer als zuvor? Eines Ihrer Argumente ist, daß in den ersten drei Monaten der Schwangerschaftsabbruch relativ ungefährlich sei. Mit Verlaub gesagt, meine Damen und Herren: das ist keine Begründung für einen unterschiedlichen Schutz. ({24}) Ich müßte Sie dann darauf hinweisen, daß die Berichte aus Großbritannien und aus anderen Ländern, daß z. B. der Wynn-Bericht und die Anhörung im Deutschen Bundestag eindeutig gezeigt haben, welche Schäden auch bei legalen Abtreibungen nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind davontragen können, so daß der Ansatzpunkt auch in dieser Hinsicht nicht richtig gesetzt ist. ({25}) Das andere Argument, etwa von vier Monaten an wachse im allgemeinen bei der Schwangeren das Gefühl für das Kind, ist zu sehr und so sehr auf subjektive Empfindungen abgestellt, daß es meines Erachtens nicht zur Rechtfertigung eines objektiven Tatbestandes herangezogen werden kann. Wir laufen hier doch Gefahr, daß wir unter Angabe dieses Grundes eine Schablonisierung von bestimmten Motiven herbeiführen und bestimmte Situationen der Frau in eine Schablone hineindrängen wollen, die sich nicht in diese Schablone hineindrängen lassen. Ein anderer Gesichtspunkt ist doch folgender -Sie haben ihn nicht angeschnitten, aber wir alle mils-sen uns damit auseinandersetzen -: Sie müssen sich doch darüber im klaren sein, daß kriminalpolitisch das Ergebnis Ihrer Lösung im Grunde genommen die totale Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs sein wird. Meine Damen und Herren, das ist kein Vorwurf, aber das ist die sichere Folge des Gesetzentwurfes, den Sie diesem Hause vorgelegt haben. ({26}) - Herr Kollege Wehner, natürlich, ich muß Ihnen sagen: Wer will, wenn das Gesetz wird, eigentlich beweisen, daß es innerhalb der ersten drei Monate gewesen ist? Wer würde sich anheischig machen zu sagen, es war später? Der Arzt darf nichts sagen, ({27}) die Frau braucht nichts zu sagen, der Ehemann und auch der Dritte wird es nicht sagen können. Die Frau wird es auch nicht sagen können, Herr Kollege Memmel. Im Ergebnis müßten wir Sie fragen, ob Sie nicht die ehrlichere Lösung propagieren müßten, nämlich die totale Freigabe des Schwangerschaftsabbruches. ({28}) - Sie übersehen einen ganz eklatanten Unterschied, Herr Kollege de With, nämlich den, daß wir zwar Fristen haben, daß wir aber auch noch meinen, daß es für jeden Schwangerschaftsabbruch einer Rechtfertigung bedarf. ({29}) Das ist doch der Kernsatz, den wir in unserem Gesetzentwurf haben. Haben Sie sich auch einmal Gedanken darüber gemacht, daß die überwiegende Zahl aller Ärzte die Fristenlösung ablehnt? Von den Schwestern in den Kliniken können wir in der Mehrzahl dasselbe sagen. Das ist doch der Personenkreis, der nachher vor der Frage stehen wird, ob er dieses Gesetz vollziehen will oder nicht. Natürlich werden Sie sagen: Wir zwingen ja keinen Arzt dazu. Natürlich werden Sie sagen: Das ist in das freie Ermessen eines Arztes gestellt. Und ich werde Ihnen nicht widersprechen können. Nur denken Sie bitte auch noch einen Schritt weiter, nämlich an die Konsequenz, die wir in anderen Ländern mit Indikationsmodellen und einer Beratungsstelle haben, die nichts wert ist. Bedenken Sie, daß sich dann Leute für diese Aufgabe zur Verfügung stellen, die nichts mehr von einem ethischen Minimum verspüren lassen, von dem hin und wieder einmal die Rede ist. ({30}) Meine Damen und Herren, unser Entwurf, den wir dem Hohen Hause vorgelegt haben, ist das Ergebnis einer lang andauernden Diskussion, bei der sich am Ende die Überzeugung durchgesetzt hat, daß wir mit ihm sowohl dem Rang des Rechtsgutes des ungeborenen Lebens als auch der Konfliktsituation der Frau gerecht werden. Ich möchte nicht leugnen, daß sehr vielen Kollegen die Zustimmung dazu nicht leichtgefallen ist. Wenn wir uns dazu durchgerungen haben, dann war es letztlich das Wissen um die Situationen, in die eine Frau kommen kann, in denen wir von ihr normgerechtes Verhalten nicht verlangen können. Die Frage ist doch die: Soll in einer Konfliktsituation der Staat seinen Strafanspruch aufrechterhalten, oder soll er dann sagen: In dieser Situation konnte ich der Frau ein anderes Verhalten nicht zumuten? Noch etwas Allgemeines. Wenn Sie so wollen, ist dieser Entwurf die Bezeugung unseres Willens, diesem Hause die Möglichkeit zu eröffnen, gemeinsam mit uns einen Weg zu gehen, der im Interesse des Rechtsgutes des Lebens vertretbar ist; denn wir glauben, daß in einer so wichtigen Entscheidung eine breite Mehrheit allein glaubwürdig nach draußen dartun kann, was wir an Schutz des ungeborenen Lebens leisten wollen. ({31}) Meine Damen und Herren, unser Entwurf bedarf in verschiedener Richtung der Erläuterung. Es bedarf vielleicht zunächst einmal der Erläuterung einer gewissen vermeintlichen Inkonsequenz. Wenn man dazu steht, daß ungeborenes Leben vom Augenblick der Zeugung an besteht, werden Sie und viele andere zu Recht fragen: Warum gibt man diesem ungeborenen Leben dann nicht von diesem Augenblick an den strafrechtlichen Schutz? Wir haben den Zeitpunkt weiter zurückgesetzt, weil wir wissen, daß bei der Wanderung der Samenzellen in den Ei1770 leiter der Untergang dieser Samenzellen eintreten kann und daß es - dies sind kriminalpolitische Erwägungen - einfach nicht möglich ist, den Nachweis zu führen, ob jemand in dieser Zeit ungeborenes Leben getötet hat oder nicht. Deshalb haben wir den strafrechtlichen Schutz auf den Zeitpunkt der Nidation festgelegt, auch unter dem Gesichtspunkt, daß eine solche Regelung eine Mehrheitsbildung in diesem Hause möglicherweise erleichtert. Mit der Hereinnahme der medizinischen Indikation haben wir der lange geübten Rechtsprechung des Reichsgerichts und auch des Bundesgerichtshofs Rechnung getragen, daß nämlich bei Gefahr für das Leben der Frau oder bei Gefahr eines schweren körperlichen Schadens der Abbruch der Schwangerschaft nicht strafbar sein soll, wenn die Gefahr auf eine andere Weise nicht beseitigt werden kann. Eine schwierige Entscheidung war auch, ob im Falle einer aufgezwungenen Schwangerschaft, etwa einer Vergewaltigung, der Abbruch einer Schwangerschaft zulässig sein soll. Diese Entscheidung war u. a. einmal deshalb so schwierig, weil wir uns bewußt waren, wie schwer der Nachweis zu führen ist, daß es sich um eine Vergewaltigung gehandelt hat. Man darf hier die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß die Behauptung einer Vergewaltigung oftmals als letzter Ausweg angesehen werden wird, um den Abbruch der Schwangerschaft zu erreichen. Dennoch glaubten wir, diese Schwierigkeiten in Kauf nehmen zu können und zu müssen, um der Frau gerecht werden zu können, die durch eine Vergewaltigung in eine echte Konfliktsituation geraten ist. Meine Damen und Herren, wer wollte sich zum Richter über eine Frau machen, der eine Schwangerschaft aufgezwungen worden ist und die damit nicht fertig werden kann? Wie immer man es sittlich beurteilen mag - eine strafrechtliche Sanktion erscheint uns nicht gerechtfertigt. Denen, die zweifeln und die verlangen wollen - meine Damen und Herren, es gibt sehr viele Leute, die das tun -, daß die Frau ein solches Schicksal tragen müßte - ich möchte diesen Kollegen auch nicht das Recht absprechen, diese Erwägung anzustellen -, möchte ich entgegenhalten, daß wir diese Frage auch einmal unter dem Aspekt sehen sollten, daß es sich um unsere eigenen Angehörigen handeln könnte. ({32}) - Nicht aha, sondern ja, sehr verehrte Frau Kollegin. Meine Damen und Herren, uns fehlt, glaube ich, die Bemühung um die Differenzierung der Probleme, um die es hier geht. ({33}) Wenn wir in dieser Weise, Frau Kollegin, weitermachen, dann werden wir, so glaube ich, in den Ausschußberatungen zwei Blöcke gegeneinander sitzen haben, ({34}) und ein Ergebnis wird unbefriedigend sein. Ich glaube, es sind doch genügend Ansatzpunkte da, die Ihnen eigentlich zeigen sollten, wie ernst es meine Fraktion mit diesem Problem meint und wie sie sich auch in dieser Frage überwunden hat, um einen Weg zu einer Gemeinsamkeit zu finden. Das sollte, wie ich glaube, doch auch von Ihnen anerkannt werden. Nun komme ich auf den Punkt, der es uns sehr schwer gemacht hat, dem Hohen Hause einen Entwurf dieser Art vorzulegen. Die Entscheidung, daß der Abbruch der Schwangerschaft im Rahmen der medizinischen Indikation auch dann möglich sein soll, wenn das Kind infolge einer Erbanlage oder infolge schädlicher Einflüsse vor der Geburt mit hoher Wahrscheinlichkeit an unheilbarem Siechtum leiden würde, ist uns wahrhaftig nicht leichtgefallen. Wer könnte sich der Überlegung entziehen, meine Damen und Herren, daß die sogenannte eugenische Indikation die schlimmsten Assoziationen in unserem Land hervorrufen wird! Es fehlt in unserem Land nicht an Stimmen, die es als untragbar erachten, daß wir uns anmaßen, über Wert oder Unwert künftigen Lebens zu befinden. Sie mahnen uns, daran zu denken, daß auch ein geistig gestörter Mensch das Recht auf Leben hat. Sie bitten uns, zu bedenken, daß in unserem Land angesichts unserer Vergangenheit die Gefahr besonders groß ist, daß bald möglicherweise nicht nur ungeborenes, sondern auch jenes Leben zur Disposition gestellt werden könnte - ({35}) - Herr Kollege Wehner, jetzt muß ich Ihnen etwas sagen: Es ist ebenso ungeheuerlich, daß Sie offenbar nicht bereit sind, meinen Worten zu folgen; sonst hätten Sie gewußt und hätten Sie hier mitvollziehen können, daß es sich hierbei um unsere eigenen Überlegungen handelt und ich das nicht an Ihre Adresse gesagt habe. Ich muß Ihnen offen gestehen: In unserer Fraktion ist um diese Frage wahrhaftig gerungen worden, und es sind Leute aufgestanden, die gesagt haben, sie könnten von ihrem Selbstverständnis her diese Frage ganz einfach nicht in dem Sinne entscheiden, wie wir sie dann doch entschieden haben. Das habe ich nicht in bezug auf Ihren Entwurf gesagt, Herr Kollege Wehner. Das soll nicht der Stil der Auseinandersetzung sein. Die Maßstäbe, die wir bei unseren eigenen Überlegungen anlegen wollten, waren entscheidend für das, was ich soeben ausgeführt habe. ({36}) Natürlich verkennt niemand von uns diese Gefahr. Ich unterstelle auch Ihnen nicht, daß Sie sie nicht sehen. Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie das wollen. ({37}) - Nein, ich unterstelle es Ihnen nicht, Frau Kollegin Timm. Aber angesichts einer anlaufenden Diskussion, auch schon im Fernsehen, wo über die Frage des Pro und Kontra der Sterbehilfe in aller Öffentlichkeit gesprochen wird, wird man doch noch sagen dürfen, daß man diese Sorge hat. ({38}) Aber ebenso wird niemand die Situation unterschätzen dürfen, in der sich eine Frau befindet, die erfährt, daß ihr Kind ein geistiger oder körperlicher Krüppel werden könnte. Niemand wird daran zweifeld wollen, daß die Frau alles tun wird, diesem Kind besondere Fürsorge zuteil werden zu lassen. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß das Wissen, daß solche Kinder nicht gerade in eine Umwelt hineingeboren werden, die ihnen freundlich gesonnen ist, die Frau sehr stark belasten wird. Diese Frau wird auch daran denken, daß das Kind eines Tages nicht mehr ihrer Fürsorge teilhaftig werden kann, sondern der Fürsorge von Menschen anvertraut sein wird, die für solche Kinder auch heute noch mit beschränkten Mitteln zu sorgen haben. Diese Frau wird halt auch bedenken, daß in unserer hochindustrialisierten Gesellschaft heute noch durch Fernsehsendungen die Hilfe für diese Kinder hereingeholt werden muß, in einem Land, in dem wir längst dafür hätten sorgen müssen, daß das nicht geschehen darf. ({39}) Es geht - lassen Sie mich das sagen - nicht darum, dem ungeborenen Kind das Recht auf Leben abzusprechen, über Wert oder Unwert seines Lebens zu befinden, sondern einzig und allein darum, ob eine Frau, die eine solche Situation nicht zu meistern vermag, mit Strafe bedroht werden sollte. Wir meinen, wir sollten hier die Strafe nicht als das Mittel betrachten, das normgerechte Verhalten ,der Frau zu erzwingen. Die Aufnahme der sogenannten sozialen Indikation in den Katalog erscheint uns nicht vertretbar. Gewiß werden auch wir uns fragen lassen müssen, ob wir denn nicht bereit seien, die vielen schwerwiegenden Situationen zu sehen, in die eine Frau kommen kann. Die Vielfalt des Lebens bietet Beispiele genug, wo jedermann den Eindruck hat, daß eine Frau nicht bestraft werden sollte, die in einer solchen Situation die Schwangerschaft hat abbrechen lassen. Denken wir nur an viele Familien, in denen es der Ehemann an der nötigen Rücksichtnahme fehlen läßt, die Kinder mißhandelt und die Frau zur Hingabe und Empfängnis veranlaßt ohne Rücksicht auf die bisherige Kinderzahl, die Wohnverhältnisse und die finanziellen Möglichkeiten. Sicher, meine Damen und Herren, werden Sie uns unter Hinweis auf unseren Namen fragen, ob wir das geschehen lassen wollen und das Strafrecht als Mittel einer Lösung sehen wollen. Niemand von uns wird behaupten wollen, daß eine Frau, die unter den soeben genannten Umständen einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt, mit Strafe bedacht werden sollte. Was würde sich mehr anbieten, als hier beispielhaft für jede anderen gleich oder ähnlich gelagerten Fälle eine Vorschrift zu schaffen, die unter der Bezeichnung „soziale Indikation" die Frau von Strafe freistellt? Wenn es allein um diese Frage ginge, meine Damen und Herren, wäre die Entscheidung nicht so schwierig, wie sie in Wirklichkeit ist. Angesichts der Darlegungen insbesondere von Frau Professor Helge Pross im Anhörungsverfahren des Deutschen Bundestages, die auch dann das Vorliegen einer sozialen Indikation für gegeben erachtet, wenn jemand durch eine Schwangerschaft gehindert wird, sich einen Wagen anzuschaffen - dieser Wagen, so sagte sie, sei immerhin ein Statussymbol geworden -, wird man die am vorigen Fall orientierte Zustimmung zur sozialen Indikation aber revidieren müssen. Was alles, meine verehrten Da- men und Herren, würde nicht unter diese Vorschrift eingestuft werden können! ({40}) - Nein! Sehen Sie: da unterscheiden wir uns. Das ist zwar ein beliebter Ausdruck, den ich schon des öfteren von Ihrer Seite gehört habe. Offenbar muß jeder, der nicht Ihrer Meinung ist, eine unseriöse Meinung haben. ({41}) - Das hat sie doch wohl gesagt! Frau Kollegin Timm, Sie waren ja dabei, und Sie werden doch nicht glauben, daß ich hier über die Aussage von Frau Helge Pross Dinge sage, die ich nicht verantworten kann. ({42}) Das müssen Sie sich sagen lassen. An der Unmöglichkeit, einen für die Praxis praktikablen Tatbestand zu schaffen, scheitert unsere Zustimmung zu einer Regelung, wie sie von dem Kollegen Müller-Emmert und anderen vorgeschlagen wird; ganz abgesehen davon, daß die Freistellung der Frau von Strafe, und zwar die Freistellung in jedem Fall, im Grunde genommen, Herr Kollege Müller-Emmert, nichts anderes ist als eine halbe Fristenlösung, wenn ich so sagen darf, wobei noch die Gefahr besteht, daß diese Fristenlösung nicht an eine Frist gebunden ist, sordern bis in den neunten Monat hinein vorgenommen werden kann, wenn Sie für alle Fälle die Frau von Strafe freistellen wollen. Sie wissen, daß diese Bedenken auch in Ihrer eigenen Fraktion zum Ausdruck gekommen sind. Um aber doch dem berechtigten Interesse der Frau entgegenzukommen, haben wir uns entschlossen, in den Fällen, in denen es ähnliche oder gleiche Verhältnisse sind wie die, die ich geschildert habe, wo also eine echte Notlage vorliegt, die auf andere Weise nicht zu beseitigen ist, dem Richter die Möglichkeit zu eröffnen, von Strafe abzusehen. Auch wir wissen - ich kenne den Einwand, der kommen wird, sehr genau, weil wir ja schon sehr lange darüber diskutieren -, daß es für viele Frauen allein schon eine Strafe darstellt, wenn sie sich einem Verfahren unterziehen müssen. Das leugnen wir alle nicht. Aber - und das sollten wir, glaube ich, auch sagen - nur darin sehen wir gewährleistet, daß der Einzelfall genügend gewürdigt wird. Die Lösung, die Kollege Müller-Emmert anbietet, können wir aber auch aus folgenden Gründen nicht übernehmen. Dieser Entwurf geht davon aus und sieht vor, daß zwei Ärzte an dem Verfahren der Beratung teilnehmen, und zwar in der Weise, daß der ärztliche Berater den Arzt darüber beraten hat, ob die Voraussetzungen eines Schwangerschaftsabbruchs vorliegen. Herr Kollege Müller-Emmert, ich kenne Sie zu gut, um Ihnen unterstellen zu wollen, daß Sie damit englische Verhältnisse in Kauf nehmen wollten. Aber es sei doch erlaubt, auf diese Gefahr hinzuweisen. Es liegt uns ein Bericht - wir alle haben ihn bekommen - des Auswärtigen Amts vor, der für sich spricht. Er hat den sprunghaften Anstieg der Zahl der Abtreibungen in Großbritannien zum Gegenstand. Einige Zahlen: von April 1968 bis März 1969 waren es noch 33 000, von April 1971 bis März 1972 noch 141 000, und im ganzen Jahr 1972 waren es 156 000 Abtreibungen, von denen allein zwei Drittel - ich komme darauf zurück, Herr Kollege Brandt; ich kenne das Argument! - in Privatkliniken vorgenommen worden sind. Sie werden mir entgegenhalten: Das ist doch unter der Herrschaft einer Indikationenlösung möglich. - Jawohl, das gestehe ich zu. Es ist aber unter der Herrschaft einer Indikationenlösung möglich, die dasselbe Verfahren kennt, wie Sie es vorschlagen. Wir müsen doch die Gefahr sehen - lassen Sie es mich einmal überspitzt ausdrücken! , daß unten der Arzt sitzt, der begutachtet, und oben der Arzt, der darauf wartet, bis unten das Gutachten fertig ist, damit man diese Abtreibung sehr schnell vornehmen könne. Das müssen wir sehen! Daher müssen wir uns fragen, ob nicht der von uns vorgeschlagene Weg, nämlich der einer Gutachter-Kommission, der bei weitem bessere Weg ist. Auch wir übersehen nicht, daß natürlich der Weg zur Gutachter-Kommission für manche Frau sicherlich nicht sehr angenehm ist. Wir wissen ebenso, daß diese Gutachter-Kommission in der Vergangenheit auch darunter gelitten hat, daß sie nicht immer so schnell arbeitete, wie wir es wünschen. Wir müssen aber mit diesem Gesetz den Willen verbinden, zu sagen: Wir können dieser Gutachter-Kommission dann guten Gewissens zustimmen, wenn wir ihr zur Auflage machen, daß sie sehr schnell und sehr gründlich arbeitet, um der Frau Peinlichkeiten zu ersparen, die wir ihr im Interesse ihrer Würde ersparen müssen. Darum und um nichts anderes, meine Damen und Herren von der Koalition, kann es gehen. ({43}) Lassen Sie mich zum Schluß zusammenfassen. Es ist für uns nicht möglich, einer Reform des § 218 zuzustimmen, die die Fristenlösung zum Inhalt hat oder die im Effekt einer solchen Regelung gleichzusetzen ist, weil für uns unerträglich sein sollte, daß ohne Rechtfertigung, in vielen Fällen sogar nur der eigenen Bequemlichkeit wegen, menschliches Leben getötet wird. Eine Rechtsordnung, die es hinnimmt, daß mit dem Hinweis auf die angebliche Selbstbestimmung der Frau in das Leben eingegriffen werden kann, stellt ihre Grundwertentscheidung in Frage. Sie wird mit unabsehbaren Folgen rechnen müssen. Wir hoffen, sie können verhindert werden. Mit unserem Entwurf haben wir den Versuch unternommen, bei grundsätzlicher Bejahung des Schutzes ungeborenen Lebens der Konfliktsituation der Frau gerecht zu werden. Wir haben nicht leichthin eine Entscheidung getroffen, sondern gleichzeitig die Grenzen aufzeigen wollen, über die hinweg wir nicht gehen können. Ein weiterer Schritt ist angesichts unseres Selbstverständnisses, aber auch angesichts der Verantwortung unserer Gesellschaftsordnung gegenüber nicht möglich. Er ist ebenso deswegen nicht möglich, weil wir meinen und fest davon überzeugt sind, daß die von uns vorgeschlagene Lösung, verbunden mit den positiven Maßnahmen, die wir vorgeschlagen haben und die unter uns unstrittig sind, der Forderung nach einer humanen Lösung am ehesten entspricht. In diesem Sinne wollen wir die Beratungen im Sonderausschuß aufnehmen. ({44})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Damit ist der Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/554 - Punkt 3 c der Tagesordnung - begründet. Zur weiteren Begründung des Antrags der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 7/375 - Punkt 3 a der Tagesordnung - hat das Wort Herr Abgeordneter von Schoeler. von Schoeler ({0}) : Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Eyrich, wir sind in der Sache, wie Sie wissen und wie allgemein bekannt ist, unterschiedlicher Auffassung. Aber ich möchte hier nicht beginnen, ohne Ihnen zu sagen, daß noch das Maß an Sachlichkeit und das Maß an Gründlichkeit, mit dem Sie sich mit vielen Argumenten auseinandergesetzt haben und mit dem Sie auch die Schwierigkeiten Ihrer internen Fraktionsberatungen darlegten, indem Sie sagten, weshalb Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind, beeindruckt hat. ({1}) Ich will das am Anfang ganz deutlich sagen. Ich meine, wir sollten die Debatte in diesem Stil führen und nicht einen polemischen Schlagabtausch tun; wir sollten in diesem Stile diskutieren, ich werde mich bemühen, darauf einzugehen. ({2}) - Wir tun das draußen auch. Auf die Diskussion außerhalb des Parlaments komme ich noch zu sprechen. Ich meine, wenn Sie das ansprechen, Herr Kollege Vogel, wäre es auch die Frage gewesen, und Herr Kollege Dr. Eyrich, wenn Sie auf diese Argumentation nach draußen eingehen, wenn Sie sagen, wir hätten für die Fristenlösung manchmal die falschen Befürworter, dann wäre auch hier der Ort gewesen, sich ganz klar von Stellungnahmen zu distanzieren, die täglich in einer Flut aus der Öffentlichkeit auf uns eingehen und die sagen: Fristenlösung gleich Endlösung; ihr seid Nationalsozialisten, ihr seid Euthanasieverbrecher, ihr seid Mörder usw.! Wenn Sie von uns verlangen, Herr Kollege Vogel, daß wir uns von falschen Parolen von Schoeler distanzieren, dann verlange ich das gleiche von Ihnen. ({3}) - Ich freue mich, daß Sie das zur Kenntnis nehmen, Herr Vogel. Es ist in den letzten Wochen und Monaten in dieser Diskussion viel - ich meine berechtigterweise viel - von dem Schutz werdenden Lebens gesprochen worden. ({4}) Aber ich bedauere, daß gleichzeitig mit dieser Entwicklung die Notlage der Frau, die Ansatzpunkt dieser Diskussion war, in vielen Äußerungen sehr zurückgedrängt worden ist. Ich glaube, daß das Schicksal der Frauen, die durch diesen unmenschlichen und unsozialen § 218 über 100 Jahre lang gegängelt, unterdrückt und in verzweifelten Situationen in die Isolation getrieben worden sind, Ausgangspunkt aller unserer Überlegungen zu einer Reform des § 218 sein muß. ({5}) Eine große Tageszeitung hat in diesen Tagen Briefe schwangerer Frauen in einer Klinik in Amsterdam veröffentlicht. Diese Äußerungen betroffener Frauen zeichnen ein erschütterndes Bild der menschlichen Konfliktsituationen, in denen Frauen heute alleingelassen werden. Ich will es mir ersparen, an dieser Stelle aus diesen Briefen zu zitieren; aber ich kann nur jedem, der sich mit diesem Thema beschäftigt, der um eine Lösung dieses Problems ringt, empfehlen, sich nicht nur in der Theorie damit auseinanderzusetzen, sondern auch die Zeugnisse der betroffenen Frauen zu berücksichtigen, z. B. auch das, was im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" an Tonbandprotokollen von Frauen, die ihren Leidensweg zum Kurpfuscher geschildert haben, veröffentlicht worden ist. ({6}) An dieser Auswahl von Konfliktsituationen, die man dort findet, mit denen Frauen in der Bundesrepublik heute täglich konfrontiert werden, wird vielleicht deutlicher, als alle Worte das machen können, warum dieser Paragraph reformüberfällig ist. Der heutige § 218 überantwortet die Frauen, die sich in schwerer Notlage nicht anders als durch die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruches zu helfen wissen, nicht nur dem Strafrichter, er treibt sie auch zu Kurpfuschern und sonstigen Geschäftemachern übelster Art. Er setzt diese Frauen damit auch der Gefahr schwerster gesundheitlicher Beeinträchtigungen aus. Diese Analyse der Situation, die § 218 geschaffen hat, scheint mir die Feststellung zu rechtfertigen: Dieser Paragraph hat den Schutz werdenden Lebens nicht gewährleistet. Eine harte Strafandrohung hat nicht erreichen können, was ein Ziel aller unserer Überlegungen sein muß, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu verringern. 80 000 illegal vorgenommene Abtreibungen pro Jahr zeigen dies deutlich. Ich will mich hier nicht aut diese Diskussion einlassen, die so oft geführt worden ist und die auch Herr Kollege Eyrich hier hat anklingen lassen, nämlich wie hoch diese Zahl tatsächlich sei. Das ist doch völlig unwichtig! Wenn es nur ein paar tausend Fälle pro Jahr wären, wenn es nur in ein paar tausend Fällen menschliches Leid und menschliches Elend wäre, würde uns das dazu zwingen, uns damit auseinanderzusetzen und dem ein Ende zu machen. ({7}) Es erscheint mir auch notwendig, darauf hinzuweisen, daß heute weniger als jeder hundertste, vielleicht nur jeder fünfhundertste Fall, verfolgt und aufgeklärt wird. Härter ausgedrückt: nur dort, wo Frauen, die sich in ihrer Notlage nicht anders zu helfen wissen, aus zweifelhaften Gründen denunziert werden, tritt überhaupt eine Verfolgung ein. Diese Praxis macht den Strafgesetzgeber doch unglaubwürdig. „Bestrafung wird zur negativen Lotterie", hat der vorhin schon zitierte Bundesrichter weiterhin zu dem heutigen Zustand gesagt. Lassen Sie mich, etwas zynisch vielleicht, hinzufügen: Wer in dieser Lotterie die Nieten ziehen wird, steht von vornherein fest: diejenigen Frauen, die sich die bequeme und gefahrlose Reise ins Ausland nicht leisten können, die Armen und Ärmsten unserer Gesellschaft. Besonders kraß wird das Versagen des heutigen § 218 deutlich, wenn man die Praxis der Strafzumessung durch die Gerichte betrachtet. In nur wenigen Fällen werden Freiheitsstrafen vollstreckt. Ganz überwiegend werden Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt oder überhaupt nur Geldstrafen verhängt. Der Strafrechtler Prof. Klug, Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Justizministerium, berichtet von Urteilen, in denen Geldstrafen von weniger als 100 DM ausgesprochen wurden. Das rechtfertigt in der Tat das Wort vom Anwendungs-und Zumessungsbankrott des § 218. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Eyrich, muß ich Ihnen eine Frage stellen. Sie haben hier sehr viel von dem Schutz werdenden Lebens geredet. Sie haben das sehr eindrucksvoll dargestellt, und Sie haben damit die Fristenlösung abgelehnt. ({8}) - Wir wollen hier nicht in Diskussionen über terminologische Fragen eintreten. Wir verstehen uns, Herr Kollege Eyrich, wie ich sehe. Sie haben hier in aller Ausführlichkeit von dem Schutz werdenden Lebens gesprochen. ({9}) Lassen Sie mich Ihnen die Frage stellen, Herr Kollege Eyrich: Ist es nicht grotesk, daß die Forderung nach absolutem Schutz werdenden Lebens dazu herhalten muß, in der Praxis einen Paragraphen zu von Schoeler rechtfertigen, der bei einem Eingriff zu einer Geldstrafe von ein paar Mark führt? ({10}) Abtreibung als Bagatelldelikt, das ist in der Tat eine Relativierung des Rechtsgutes des werdenden Lebens, ({11}) nicht aber das, was wir hier vorschlagen. ({12}) Diese unwürdigen und unsozialen Folgen des § 218 haben uns Freie Demokraten schon früh dazu veranlaßt, unter verantwortlicher Abwägung aller Gesichtspunkte eine Reform im Sinne des Fristenmodells vorzuschlagen. Diese Entscheidung - das möchte ich hier auch erwähnen - haben wir uns ebenso wie die Kollegen von der CDU/CSU nicht leichtgemacht. Wir haben seitdem erlebt, daß eine beispiellose Kampagne gegen uns ebenso wie gegen alle Befürworter der Fristenlösung geführt worden ist. Unter diesen Umständen will ich eines sagen - und es fällt mir leicht, dies zu sagen, weil ich der FDP-Fraktion des 6. Bundestages nicht angehört habe -: Diese Partei und diese Fraktion haben sich vor diesem mutigen Schritt auch in einer für die liberale Partei aus ganz anderen Gründen schwierigen Situation nicht gedrückt. Diese Partei hat es geschafft, daß die Diskussion um die unmenschlichen und unsozialen Auswirkungen des § 218 hier im Hause und in unserer Gesellschaft nicht mehr verstummt ist. Wir konnten unsere Entscheidung oft nicht so schnell vorantreiben, wie es unser Engagement für die Sache gefordert hätte. Wir konnten dies nicht tun, weil es in dieser Diskussion unser oberstes Ziel war, auch in diesem Hause eine Mehrheit für unsere Vorstellungen zu finden. Mit dem gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt, sind wir diesem Ziel ein erhebliches Stück nähergekommen. Ich möchte an diesem Punkt eine Bemerkung machen: Wenn die Sachlichkeit, das tiefe Engagement und die Überzeugungskraft, mit der sich die FDP-Bundestagsfraktion der 6. Legislaturperiode dieser Aufgabe angenommen hat, in einer Person deutlich werden, so ist dies sicherlich meine Kollegin Frau Funcke, der ich an dieser Stelle ganz besonders danken möchte. ({13}) Meine Damen und Herren! Unser Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts liegt Ihnen vor. Seinen Inhalt im einzelnen darzustellen, kann ich mir ersparen; mein Kollege Dr. de With hat auf die wesentlichen Punkte bereits hingewiesen. Nach unseren Vorstellungen soll der Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten drei Monaten nicht mehr mit Strafe bedroht werden, wenn die Schwangere ihn wünscht, eine ärztliche Beratung erfolgt und der Eingriff von einem Arzt vorgenommen wird. Wir machen diesen Vorschlag, gerade weil wir den Schutz werdenden Lebens ernst nehmen. ({14}) Auch wir gehen davon aus, daß ein Schwangerschaftsabbruch ein Eingriff von einschneidender, von einmaliger Tragweite ist, daß dies ein Schritt ist, den jede einzelne Frau vor sich selbst schwer zu verantworten haben wird. Aber gerade weil einem solchen Eingriff eine solch einmalige und einschneidende Bedeutung zukommt, gerade weil durch ihn Leben, das zu schützen wir alle aufgerufen sind, zerstört wird, gerade deshalb müssen wir nach Wegen suchen, die die Zahlen der Eingriffe praktisch - und nicht nur in theoretischen Gedankengebäuden - vermindern. ({15}) Durch die Aufhebung der Strafandrohung in den ersten drei Monaten befreien wir die Frauen aus ihrer Isolation. Wir geben ihnen die Möglichkeit, sich über ihre Rechte, etwa gegenüber dem Erzeuger oder gegenüber staatlichen Stellen, und über die gesundheitlichen Folgen eines möglichen Eingriffs zu informieren. Die Frau kann nun unbefangener die Möglichkeit der Austragung des Kindes ins Auge fassen; sie wird in Gesprächen auch die sittliche Bedeutung ihrer Entscheidung besser erfassen können. Hundert Jahre Erfahrung mit einer harten Strafandrohung haben doch gezeigt: In einer so existentiellen Situation wie der einer Schwangerschaft kann eine Frau eben mit den Mitteln des Strafrechts nicht gezwungen werden, ein ungewolltes Kind anzunehmen. Der Schutz werdenden Lebens ist daher nicht dort am besten gewährleistet, wo die Strafandrohung am höchsten ist, sondern dort, wo die Gesellschaft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Frau die Annahme ihres Kindes erleichtert. Beratung anstelle von Isolation, Hilfe anstelle von Strafe, auf diesem Wege wollen wir der Frau die Möglichkeit geben, eine sittlich motivierte Entscheidung für die Annahme des Kindes zu treffen. ({16}) Der Ihnen gleichzeitig vorliegende Antrag zur Familienberatung und -planung macht deutlich, daß der Abbruch einer Schwangerschaft auch in Zukunft nicht zu einem Mittel der Familienplanung werden wird. ({17}) Die so oft geäußerte Befürchtung, die Fristenlösung werde eine Nachlässigkeit bezüglich empfängnisverhütender Mittel auslösen, erscheint mir völlig unhaltbar. In diesem Zusammenhang kann ich darauf hinweisen, daß nach der Neuregelung der Strafvorschriften über die Abtreibung in der DDR auf Grund einer staatlichen Aufklärungskampagne die Zahl der Frauen, die die „Pille" nehmen, binnen eines Jahres von 15 auf 45 °/o gestiegen ist. Lassen Sie mich zu den Familienplanungs- und -beratungsmaßnahmen, die ja auch Sie in einem Anvon Schoeler trag fordern und unterstützen, eines sagen. Ich hoffe, daß das, was an Aufklärungskampagnen und an Werbung für empfängnisverhütende Mittel in diesem Lande in Zukunft betrieben werden muß, von Ihnen nicht nur in dieser Situation und zur Vermeidung einer Debatte über den § 218 unterstützt wird, sondern auch dann, wenn es darum geht, das in den Kreisen und Gemeinden und in den Ländern praktisch durchzusetzen; denn da liegt bei Ihnen, wenn ich das so sagen darf, der Hase im Pfeffer, da stößt man dann auf die Prüderie und" auf die sittlichen Verklemmungen, die sich da in den Gemeinderäten und Kreistagen zeigen und die das verhindern, was bis heute hätte getan werden müssen, nämlich die Propagierung dieser Mittel. ({18}) Meine Damen und Herren, wir übersehen nicht, daß Mutter und Embryo zwar biologisch zwei Wesen, sozial jedoch eine Einheit darstellen. Selbständiges soziales Wesen wird das Kind erst mit der Geburt. Von diesem Zeitpunkt an lädt die Gesellschaft der Mutter umfangreiche Pflichten auf, denen entsprechende Ansprüche des Kindes gegenüberstehen. Hier muß aber ganz deutlich gesagt werden: Dieser Gesichtspunkt der sozialen Einheit von Mutter und Embryo kann niemals eine ersatzlose Streichung des § 218 rechtfertigen. Mit Parolen wie „Mein Bauch gehört mir!" wird man dem Ernst dieser Problematik sicherlich nicht gerecht. ({19}) - Sie müssen schon abwarten; auf die Konsequenzen komme ich. Mit der Fristenregelung soll und kann innerhalb der Dreimonatsfrist keine moralische Bewertung eines Schwangerschaftsabbruchs vorgenommen werden. Es ist daher mißverständlich, wenn von Gegnern und teilweise auch von Befürwortern unserer Vorschläge von Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs gesprochen wird. Das Strafgesetzbuch ist kein lückenloses Lehrbuch für ethisch-moralisches Verhalten. Sie haben das, Herr Kollege Eyrich, vorhin aus dem Mund des Bundesrichters Woessner zitiert. Sie haben die Frage gestellt, ob das denn wirklich so sein könne. ({20}) - Sie haben das ja in Frage gestellt, Herr Kollege Vogel; offensichtlich haben Sie es doch nicht gewußt. Lassen Sie mich sagen: Wir gehen davon aus, daß in unserer liberalen und pluralistischen Gesellschaft keine sittliche Wertentscheidung, keine bestimmte religiöse Vorstellung einen Absolutheitsanspruch erheben kann und daß keine sittliche Wertvorstellung den Anspruch hat, mit den Machtmitteln des Staates ihre Vorstellung auch Andersdenkenden zu oktroyieren. ({21}) Weil wir davon ausgehen, kann Strafrecht eben doch nur die Mindestanforderungen an Moral und Ethik enthalten und allen zur Pflicht auferlegen; I diejenigen nämlich, die wir für das Zusammenleben der Menschen für unbedingt notwendig erachten. ({22}) - Ich komme darauf noch zu sprechen. Weil das so ist, kann eine Reform im Sinne der Fristenlösung nicht als Erlaubnis des Schwangerschaftsabbruchs verstanden werden. Die Entscheidung, ob ein Schwangerschaftsabbruch im Einzelfall sittlich gerechtfertigt erscheint, berührt doch ganz offensichtlich die Grenze dessen, was von Menschen überhaupt entschieden werden kann. ({23}) Weil das so ist, kann keine amtliche Stelle, kein Gutachter- und kein Ärztegremium diese sittliche Entscheidung der Frau abnehmen. ({24}) Alle Indikationsmodelle, Herr Kollege Eyrich, führen im Ergebnis dazu, daß in bestimmten mehr oder weniger eingegrenzten Fällen der Schwangerschaftsabbruch sozusagen amtlich gestattet wird. ({25}) Ich meine, das ist eine Entscheidung, die man, gerade wenn man dem besonderen Wert dieses Rechtsgutes Rechnung tragen will, einfach nicht fällen kann. Ich sage Ihnen: abstrakt und losgelöst von dem praktischen Fall kann niemand der Frau diese sittliche Entscheidung abnehmen. Jede Katalogisierung von Fällen, jede Erlaubnis für bestimmte im Gesetz genau umschriebene Fälle relativiert nach meiner festen Überzeugung den Wert des Rechtsgutes des werdenden Lebens in viel größerem Maße als die Fristenlösung. Wir anerkennen, daß der Schwangerschaftsabbruch eine sittliche Entscheidung von besonderer Tragweite ist. Wir anerkennen das, und wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß er mit den Mitteln des Strafrechts nicht verhindert werden kann und in den vergangenen hundert Jahren nicht verhindert werden konnte. ({26}) Deswegen legen wir die sittliche Entscheidung in die Hände desjenigen, von dem sie allein getroffen werden kann, nämlich in die Hände der Frau. ({27}) - Herr Kollege Vogel und die Herren von der Opposition, es hat überhaupt keinen Sinn, wenn Sie versuchen, mich durch mehr oder weniger unsachliche Zwischenrufe aus der Ruhe zu bringen. Ich kann Ihnen versprechen: es gelingt Ihnen nicht. Im übrigen dient es sicherlich nicht der Sachlichkeit dieser Beratung. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen, die ein Indikationsmodell vertreten, noch einmal das folgende als Aufforderung zu einer ernsthaften Erwägung zu bedenken geben. Jede Indikationsregelung führt dazu, daß der Staat in bestimmten Fällen von Schoeler den Schwangerschaftsabbruch genehmigt. Das ist. eine Entscheidung, die - wie ich meine - wir alle in diesem Saal nicht verantworten können, die der Strafgesetzgeber nicht verantworten kann. Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist die Diskussion über die Reform des § 218 von der katholischen Kirche in unsachlicher und - wie ich meine - teilweise sehr oberflächlich diffamierender Weise angeheizt worden. ({28}) Wenn der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Ihr Parteifreund Dr. Bernhard Vogel, in diesem Zusammenhang von „Freibrief zur Tötung", das Mitglied des Zentralkomitees, Paul Lücke, gar von „Ermächtigungsgesetz zum Mord am ungeborenen Leben" oder der Kölner Erzbischof, Kardinal Höffner, von „Kindesmord" gesprochen hat, so liegen solche Äußerungen weit unter dem Niveau, das der katholischen Kirche angemessen wäre. ({29}) - Ich will keine schweigende Kirche, aber ich verlange von ihr, daß sie diese Entscheidung und diese Diskussion mit genau dem gleichen sittlichen Ernst trifft bzw. führt, wie wir das tun. ({30}) Wir als Befürworter der Fristenlösung bekommen täglich Briefe, in denen wir als Mörder, als Nationalsozialisten und als Euthanasie-Verbrecher bezeichnet werden. Wir bekommen Briefe von Schulklassen mit zehnjährigen Kindern, die aufgehetzt worden sind und zum Mittel im Rahmen dieser Auseinandersetzung gemacht worden sind. ({31}) Wie weit ist es gekommen!? Wie weit ist dieses Klima angeheizt worden, wenn zehnjährige Kinder zum Mittel der politischen Diskussion in diesem Hause gemacht werden!? ({32}) - So, Sie meinen also Zehnjährige würden verstehen, worum es bei diesem Problem geht. Da kann ich nur sagen, daß Sie den sittlichen Ernst dieser Entscheidung in der Tat noch nicht begriffen haben. ({33}) Es ist selbstverständlich und bedürfte keiner besonderen Erwähnung, daß die Kirchen ebenso wie jeder Bürger und jede andere Organisation das Recht haben, auch im politischen Bereich zu sagen, was sie in ihrer Verantwortung für die Menschen zu sagen sich verpflichtet fühlen. Doch viele Äußerungen aus katholischen Gemeinden und Organisationen lassen das Maß an Sachlichkeit, intellektueller Redlichkeit und Toleranz vermissen, das dem Ernst der Problematik angemessen wäre. ({34}) Wir verwahren uns dagegen, und wir werden diese Diskussion auch nach solchen Angriffen nicht in diesem Stile führen, sondern wir werden sie sachlich führen, so wie wir bisher für das Fristenmodell argumentiert haben. Besonders grotesk werden diese Vorwürfe, wenn die Befürworter einer Indikationenregelung unser Fristenmodell als Legalisierung des Mordes bezeichnen. Wer Abtreibung mit Mord gleichsetzt, gleichzeitig aber für eine Indikationenregelung eintritt. handelt - nur so kann ich es mir erklären - nach der Devise: Mord in besonderen Lebenslagen ist erlaubt. Es fällt oft nicht leicht, unter dem Wust der polemischen, der persönlichen Attacken auf Vertreter des Fristenmodells den sachlichen Kern solcher Kritik festzustellen. Einige sachliche Argumente erfordern hier jedoch eine Entgegnung. Viele Gegner des Fristenmodells vertreten die Auffassung, daß der Staat ganz unabhängig von der Effektivität oder Ineffektivität eines strafrechtlichen Schutzes nicht darauf verzichten dürfe, embryonales Leben mit menschlichem Leben strafrechtlich gleichzustellen. ({35}) Wir meinen: Gerade wenn man dem Rechtsgut des werdenden Lebens die hohe Bedeutung zuerkennt, die ihm gebührt, kann es nicht auf die Lückenlosigkeit des gedanklichen Gebäudes des Strafrechts ankommen. Vielmehr muß ganz entscheidend sein, wie es um den Schutz praktisch bestellt ist. Entscheidend ist daher in dieser Diskussion für unsere Stellungnahme, welcher Gesetzentwurf die Gewähr dafür bietet, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zurückgeht. Ich habe bereits oben ausgeführt, daß das nach unserer festen Überzeugung allein die Fristenregelung ist. Es wird ferner der Vorwurf erhoben, die vorgesehene Drei-Monats-Frist sei willkürlich. Herr Kollege Eyrich hat das getan; er hat sich damit auseinandergesetzt. Aber ich meine, Herr Kollege Eyrich, Sie haben es sich etwas zu leicht gemacht. Sie haben gesagt: da wird medizinisch argumentiert, daß nach drei Monaten ein Abbruch der Schwangerschaft für die Schwangere selbst weniger gefährlich sei. Das ist richtig; das ist ein Argument. Sie haben weiter ausgeführt, daß in den ersten drei Monaten ein angemessener Überlegungszeitraum für die Frau gegeben ist, daß dadurch panische Reaktionen in Form einer vorschnellen Entscheidung zugunsten eines Abbruchs verhindert werden. Das ist in der Tat auch ein Argument von uns. Aber Sie haben dann anschließend die Frage gestellt: Können denn von Schoeler alle Überlegungen dazu führen, daß am Ende des dritten Monats plötzlich eine andere Qualität an Rechtsgut vorhanden ist? Herr Kollege Eyrich, damit argumentieren Sie an all unseren Überlegungen vorbei. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir orientieren uns nicht daran, welches Modell gedanklich schön paßt, schön schlüssig ist. Sicherlich ist es schlüssig, wenn man sagt: alles ist gleich von Anfang bis Ende. Wir orientieren uns daran, wie der Schutz praktisch am besten gewährleistet werden kann. Deswegen sind die von Ihnen angeführten Überlegungen für die Dreimonatsfrist nicht willkürlich. ({36}) Ich will weiter auf das Argument der Gefahr von Komplikationen für die Schwangere eingehen. Auf Grund zahlreicher Stellungnahmen von ärztlicher Seite erscheint es mir notwendig, darauf hinzuweisen, daß diese Frage Gegenstand ausführlicher Erörterungen, u. a. auch bei dem Hearing des Strafrechtssonderausschusses im letzten Jahr, gewesen ist. Die vorliegenden Fakten rechtfertigen folgende Stellungnahme: Die Zahl der Todesfälle bei fachkundig vorgenommenen Eingriffen während der ersten drei Monate ist erheblich niedriger als bei Geburten. Über Spätfolgen eines Abbruchs für die Schwangere liegen unterschiedliche Zahlen aus verschiedenen Ländern vor. Professor Zander hat sie bei dem angesprochenen Hearing unter Hinweis auf eine Untersuchung aus Oxford mit dem Satz zusammengefaßt: „Die Beendigung einer Schwangerschaft ist weder einfach noch sicher." Die von ihm angeführten Untersuchungen zeigen aber auch, daß bei Eingriffen in den ersten Monaten schwerwiegende Komplikationen nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle auftreten. Man sollte diese Zahlen nicht verharmlosen, aber man sollte sie auch nicht so maßlos aufbauschen, wie das in den letzten Wochen geschehen ist. Herr Kollege Eyrich hat im Zuge seiner Überlegungen vorhin auch die Frage des Verfassungsrechts angesprochen. Herr Kollege Vogel hat das in der Öffentlichkeit verschiedentlich auch getan. Ich muß sagen, ich verstehe das nicht ganz. Ihnen liegt eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes dieses Hauses vor, die sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt, die ich habe anfertigen lassen und die ich Ihnen auch habe zuschicken lassen, damit Sie sich dieses Problem einmal ernsthaft ansehen können. Wenn Sie das getan haben, werden Sie mir zugeben, daß ganz eindeutig und völlig unbestreitbar von allen Verfassungsjuristen mit Ausnahme einiger ganz weniger, die aber in dieser Diskussion keine Relevanz haben, ({37}) gesagt wird, diese Entscheidung für die Fristenlösung sei verfassungsrechtlich zulässig. Es gibt in diesem Fall eine ganz breite Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ganz unbestritten, daß es sich hier um eine rechtspolitische Entscheidung handelt, die im Ermessen dieses Hauses liegt. ({38}) Herr Kollege Eyrich hat weiter gesagt, daß wir Befürworter der Fristenregelung von einer Güterabwägung ausgehen, und ich glaube, daß dieses Argument hier in der Tat eine Entgegnung erfordert. Ich kann sicherlich nicht für alle Befürworter einer Fristenregelung sprechen. Ich weiß, daß das Argument der Güterabwägung oft verwendet wird, aber ich halte dieses Argument für grundfalsch. Das Argument der Güterabwägung trifft auf eine ganz andere Regelung, nämlich auf die u. a. auch von Ihnen vorgeschlagene Indikationenregelung zu. Ich darf auf Ihren Antrag Drucksache 7/554 verweisen, wo es heißt, daß Situationen denkbar sind, in denen es angezeigt erscheint, daß der Staat in diesen Ausnahmefällen nicht mit strafrechtlichen Mitteln die Fortführung der Schwangerschaft erzwingt. Es gibt auch in der Begründung Stellen, wo ganz deutlich wird, daß Sie das Rechtsgut der Belange der Schwangeren dem Rechtsgut des werdenden Lebens gegenüberstellen. Sie nehmen in der Tat eine Abwägung vor. Wir nehmen diese Abwägung nicht vor, sondern wir sagen ganz eindeutig: die sittliche Entscheidung, die getroffen werden muß, kann durch keine noch so abstrakte und irrationale Güterabwägung der Frau, die allein sie treffen kann, abgenommen werden. ({39}) Nun liegen diesem Hause gemeinsam mit unserem Antrag verschiedene Indikationenmodelle vor. Meine Damen und Herren, diese Indikationenmodelle haben eines gemeinsam: sie haben alle wesentliche Nachteile. Bei jedem Indikationenmodell ist die Frage, ob die Voraussetzungen einer bestimmten Indikation vorliegen, schwer zu beantworten und oft nicht von vornherein zu entscheiden. Das trifft insbesondere - auch das muß hier erwähnt werden - auf ein Indikationenmodell unter Einschluß der sogenannten Notlagenindikation, wie es Kollege Müller-Emmert vorschlägt, zu. Weil das so ist, hat die Frau nicht die Möglichkeit, dem Strafgesetzbuch zu entnehmen, ob in ihrem speziellen Fall ein Abbruch zugelassen würde oder nicht. Da sie Angst vor strafrechtlicher Verfolgung in dem Augenblick haben muß, in dem sie sich anderen Menschen anvertraut, ({40}) wird sie nicht den Weg zu Ärzten, zu Beratungsstellen oder zu kirchlichen Stellen wählen - ich komme auf das, was Sie sagen wollen, noch zurück -, sondern weiter zum Kurpfuscher gehen. Deswegen haben alle Indikationenmodelle einen wesentlichen Nachteil: sie vermindern die Zahl der illegalen Schwangerschaftsunterbrechungen nicht. Sie haben darauf hingewiesen - darauf wollte ich noch eingehen -, daß der Minderheitsentwurf aus der SPD-Fraktion deswegen vorsieht, daß die Schwangere selbst in jedem Fall straflos bleibt. Nur von Schoeler meine ich, hiermit wird das angestrebte Ziel, daß sich die Frau beraten lassen kann, viel zu teuer erkauft, weil dieser Gesetzentwurf in der Konsequenz dazu führt, daß die Selbstabtreibungen, die pfuscherhaften Eingriffe, die in vielen Fällen zu unsäglichen Qualen und zum Tod der Frauen führen, begünstigt werden. Ein Gesetz, das solche Fälle begünstigt, können wir einfach nicht verabschieden. Jedes Indikationenmodell wird auch eine unterschiedliche Handhabung zur Folge haben. Ich möchte nur kurz auf die Gefahren hinweisen, die daraus entstehen, daß vielleicht in Fulda strafbar ist, was in München oder Hamburg nicht bestraft wird. Das wäre eine für die Glaubwürdigkeit des Strafrechts verheerende Folge. Jedes Indikationenmodell führt im Ergebnis dazu, daß privilegierte Frauen bevorzugt bleiben. Abtreibungstourismus wird für sie weiter möglich sein. Sie werden diese Möglichkeit ausnutzen können; andere werden das nicht können. Auch bei einer Notlagenindikation, Herr Kollege Müller-Emmert, sehe ich die Gefahr, daß die Privilegierten wiederum besser abschneiden; denn sie bekommen den Abbruch gestattet, weil sie die Notlage besonders glaubhaft darstellen können. Wer die Notlage besonders glaubhaft darstellen kann - ich sehe zumindest die Gefahr, und mit dieser Gefahr müssen Sie sich auseinandersetzen -, bekommt die Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch. ({41}) Die Indikationenlösung stellt sich, wie ich meine, unlösbare Aufgaben. Sie versucht, die Unzahl menschlicher Konfliktsituationen, wie z. B. im Gesetzentwurf von Herrn Müller-Emmert, in einen Katalog von 13 Paragraphen mit etwa 50 Abschnitten und Unterabschnitten einzuteilen. Wenn man sich das vergegenwärtigt, sieht man, daß das eine Aufgabe ist, die niemals lösbar ist. Die Vielfalt der verschiedenen Schicksale im Zusammenhang mit dem § 218 kann man nicht katalogisieren. Nun sind gleichzeitig mit den Indikationenregelungen auch andere Anträge vorgelegt worden. Ich möchte hier auf zwei Anträge aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion eingehen. Zunächst fordern Sie eine Enquete-Kommission zum Schutz ungeborenen Lebens. ({42}) - Ungeborenen und werdenden Lebens; ich freue mich, daß wir uns in diesem Fall in der Terminologie einig sind. Sie fordern die Einsetzung einer Sachverständigenkommission zur Untersuchung dieser Frage. Meine Damen und Herren, mir drängt sich der Verdacht auf, daß Sie hier eine eindeutige Verschleppungstaktik einschlagen. ({43}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: wir Freien Demokraten haben nichts gegen eine Prüfung dieser Frage. Aber wir beschäftigen uns seit Jahren mit diesem Thema, und wir können aus unserer Verantwortung für das werdende Leben nicht länger damit warten, das Leid, das durch den § 218 entsteht, zu beseitigen. Ich glaube, wir sollten uns in jedem Zuge dieser Beratungen vergegenwärtigen, welche Not und welches Elend sich täglich hier ergeben, und wir sollten uns aufgerufen fühlen, diese Not und dieses Elend zu beseitigen. Lassen Sie mich die wesentlichen Argumente zusammenfassen. Die Fristenregelung ist von allen dem Hause vorliegenden Entwürfen die einzige, die geeignet ist, den heutigen unerträglichen Zustand zu ändern: 1. Nur das Fristenmodell bietet die Gewähr dafür - und dies kann nicht stark genug betont werden -, daß den Kurpfuschern endlich das Handwerk gelegt wird. 2. Allein die Fristenregelung ist in der Lage, durch die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches in den ersten drei Monaten den Frauen das Elend und die bis an die Unerträglichkeit gehende psychische Belastung zu ersparen, der sie heute ausgesetzt sind. 3. Lediglich die Fristenregelung gestaltet den Schutz werdenden Lebens effektiv aus; nur sie schafft die Voraussetzung dafür, daß die Zahl der Abtreibungen, und zwar, Herr Kollege Eyrich, sowohl der legalen wie der illegalen Abtreibungen, geringer wird. 4. Keine andere Regelung ist in der Lage, die tatsächliche Gleichstellung der sozial unterprivilegierten Frauen herbeizuführen. Meine Damen und Herren, seit Jahrzehnten und Jahrhunderten wird von der Männerwelt in Staat und Kirche über die Frauen hinweg bestimmt, was sie in ihrem elementarsten Lebensbereich zu tun und zu lassen haben. Es ist überfällig, die Frauen selbst mit in die Verantwortung einzubeziehen. Lassen Sie mich abschließend auf folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit dieser Diskussion ist oft gesagt worden, daß es um eine Entscheidung gehe, die der einzelne Abgeordnete in diesem Hause selbst zu treffen habe. Ich appelliere an Sie: Diese Gewissensprüfung und Gewissensentscheidung der Abgeordneten in diesem Hause darf nicht dazu führen, daß die Millionen betroffener Frauen ihr Gewissen überhaupt nicht prüfen können. ({44})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort zur Begründung des Antrags unter Tagesordnungspunkt 3 b hat der Abgeordnete Dr. Müller-Emmert.

Dr. Adolf Müller-Emmert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001568, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Reform des § 218 des Strafgesetzbuches liegen Ihnen vier Entwürfe vor, die voneinander sehr verschieden sind und die teilweise in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander stehen. Daß neben den beiden Entwürfen der Fraktionen der SPD und der FDP und der Fraktion der CDU/CSU auch noch zwei Gruppenanträge eingebracht worden sind, ein in der Geschichte unseres Parlaments sehr seltener Vorgang, beweist gleichermaßen die diesem Thema zukommende Bedeutung wie die Tatsache, daß jeder von uns aufgerufen ist, in dieser Frage eine sehr schwierige persönliche Gewissensentscheidung zu treffen. Es wäre allerdings falsch, würden wir nur die strafrechtliche Regelung, die auf der Grundlage der vier Entwürfe erarbeitet werden muß, im Blick haben. Vielmehr werden wir zu einer sachgerechten Regelung nur dann kommen, wenn wir uns auch darüber im klaren sind, daß die entscheidenden Impulse für eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes von Bereichen außerhalb des Strafrechts ausgehen müssen und daß in Umkehrung eines häufig gebrauchten Wortes die strafrechtliche Regelung im Ergebnis nur die flankierende Maßnahme, ich sage noch besser: die Ultima ratio sein darf. Eine echte dauernde Besserung ist nur dadurch zu erreichen, daß der Staat und mit seiner Unterstützung die freien Verbände und die kirchlichen Institutionen ihre beratende und tätige Hilfe um ein Vielfaches verstärken. Kollege Dr. de With hat hierauf schon zutreffend hingewiesen. Ich kann mir deshalb weitere Ausführungen in diesem Punkt ersparen. Ich darf feststellen, daß gerade in diesem Bereich die entscheidenden Möglichkeiten liegen, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern, Konfliktsituationen und dem Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch vorzubeugen und damit die derzeit unerträglich hohe Abtreibungsquote zu senken. In der Diskussion über diese Frage sollte nach dem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen" mehr als bisher daran gedacht werden, daß sehr gut wirkende Empfängnisverhütungsmittel zur Verfügung stehen - von der Pille davor bis zur Pille danach - und daß unsere Wissenschaft mit Sicherheit in Kürze perfekte Mittel entwickelt haben wird. Diese Überlegung sollte uns allen helfen, eine Regelung zu finden, die das werdende Leben auch in seiner schwächsten Form strafrechtlich schützt. Daß es allerdings bei allen Anstrengungen, die denkbar sind, einen Idealzustand nie geben wird, bedarf keiner Erörterung. Es werden immer viele Tausende Fälle jährlich bleiben, in denen eine Schwangerschaft eingetreten ist, die Schwangere aber - aus eigenem Antrieb oder vielleicht auf fremde Veranlassung; aus Gründen, die jedermann überzeugen, oder aus Gründen, die der Allgemeinheit nicht verständlich sein mögen - den Wunsch hat, die Schwangerschaft zu beenden. Für diese Tausende von Fällen haben wir als Strafgesetzgeber eine Regelung zu treffen, wobei es unser Dilemma ist, von vornherein zu wissen, daß es sich dabei bestenfalls um eine Entscheidung zugunsten des jeweils höheren und zu Lasten des jeweils geringeren von zwei Rechtsgütern handeln kann. ({0}) In dieser Ausgangsfrage, daß Leben und Gesundheit der Frau, ihre Entscheidungsfreiheit und das ungeborene Leben, jedes für sich, schützenswerte Rechtsgüter sind, wissen sich die Unterzeichner der Vorlage, die eine erweiterte Indikationenregelung vorsieht, mit den Unterzeichnern der Vorlage, die die Fristenlösung beinhaltet, einig. Ich bin darüber hinaus davon überzeugt, daß alle Mitglieder dieses Hauses darin übereinstimmen, daß eine Auffassung, bei der nur das eine Interesse im Blickfeld steht, das andere aber überhaupt nicht zur Diskussion gestellt wird, keine Chance hat, sich durchzusetzen. Deshalb erachte ich es für überflüssig, auf die in unserer Gesellschaft von kleinen Minderheiten vertretenen Extrempositionen einzugehen, von denen die eine fordert, daß die Frau auch im Falle von Gefahr für Leib oder Leben die Leibesfrucht austragen müsse, während die diametral entgegengesetzt stehende andere Gruppe, die mit dem Schlagwort „Mein Bauch gehört mir" hervorgetreten ist, die ersatzlose Streichung des § 218 durchsetzen will. Auf jeden Fall ist festzustellen, daß die zuletzt genannte Forderung in unserem Grundgesetz keine Stütze finden kann. Die verfassungsrechtliche Diskussion hat die Frage, ob Art. 2 Satz 2 Abs. 1 des Grundgesetzes, in dem es heißt „Jeder hat das Recht auf Leben ... ", auch das ungeborene Leben schütze, im bejahenden Sinne geklärt. Es gibt nur wenige abweichende Meinungen in dieser Hinsicht. Ich persönlich meine darüber hinaus, daß dieses Ergebnis auch unabhängig von der erwähnten rechtlichen Grundlage unter dem Zwang der Tatsache des Lebens gefunden werden muß. Ich möchte nur einen kurzen Auszug aus den Ausführungen wiedergeben, die der Sachverständige für Embryologie, Professor Hinrichsen, in der öffentlichen Anhörung unseres Strafrechtsausschusses im vorigen Jahr gemacht hat. Er sagt: ... zweieinhalb Monate nach der Befruchtung ... hat der Embryo einen Entwicklungsstand erreicht, in dem die Voraussetzungen für den Beginn definitiver Organfunktionen und eigener Reagibilität weitgehend gegeben sind. Der Embryo ist über 5 cm ... groß. Die morphologische Teilung des Herzens in alle vier Herzräume ist vollzogen. Die Darmdrehung und die Reposition des sogenannten physiologischen Nabelbruchs sind erfolgt, die Gesichtsbildung beendet, die Gliederung der Extremitäten, also der Gliedmaßen einschließlich der Finger, ist abgeschlossen ... Die Lunge befindet sich in der mittleren Phase ihrer Ausbildung. ... Die Gliedmaßen sind bereits seit über 2 Wochen aktiv beweglich. Der Embryo reagiert auf Berührung mit gerichteten Bewegungen. Meine Damen und Herren, diese Tatsachen sprechen nach meiner persönlichen Überzeugung für sich. Wer sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzt, dem wird es unmöglich sein, den Embryo - auch den Embryo der ersten drei Monate - auf die Wertstufe etwa eines Blinddarmes zu stellen. ({1}) In der Frage, wie der dargestellte Interessenkonflikt am sachgerechtesten zu lösen ist, gehen allerdings unsere Wege auseinander. Wir Unterzeichner des erweiterten Indikationenantrags verfolgen das Ziel, in den Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Geburt des Kindes nur unter Inkaufnahme schwerwiegender Schädigungen der Mutter möglich wäre, die Entscheidung der Schwangeren nicht mit den Mitteln des Strafrechts zu beeinflussen. In diesen Fällen soll ihr so viel beratende und tätige Hilfe im medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich wie irgend möglich angeboten werden. Zugleich soll die Mutter aber nach ihrer eigenen Entscheidung das Recht haben, sich für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft auszusprechen. In allen anderen, nicht problematischen Fällen soll das Rechtsgut des ungeborenen Lebens Vorrang haben und unter Einsatz des Strafrechts gegen nicht ausreichend motivierte Angriffe geschützt werden. Der Entwurf, den wir eingebracht haben, stimmt im wesentlichen mit dem in der vergangenen Wahlperiode von der Bundesregierung sorgfältig erarbeiteten und begründeten Entwurf überein. Die wichtigsten Punkte unseres Antrags sind: Die bereits im geltenden Recht enthaltene medizinische Indikation wird in den Gesetzestext aufgenommen. Es wird ausdrücklich klargestellt, daß bei der Beurteilung der Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren auch ihre gegenwärtigen und zu erwartenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen sind. Die sogenannte kindliche Indikation wird anerkannt; das heißt, der Schwangeren soll dann die Entscheidung freigestellt werden, wenn dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwerwiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann. Die ethische Indikation umfaßt die Fälle, in denen dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft das Ergebnis eines sexuellen Mißbrauchs von Kindern, einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger ist. Schließlich anerkennt unser Entwurf, daß es auch andere Fälle gibt, z. B. aus dem Bereich sozialer Notlagen, die bei allem Einsatz nicht behoben werden können und bei deren Vorliegen es unangemessen wäre, die Schwangere mit den Mitteln des Strafrechts zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu zwingen. Damit sind nach unserer Auffassung die Fälle erfaßt, die eine Ausnahme von der allgemeinen Strafbarkeit rechtfertigen. Sind sie nicht gegeben, so soll der Eingriff verboten und Täter und Teilnehmer mit Strafe bedroht sein. Weitergehend als der frühere Regierungsentwurf und sogar als der Fristenantrag nehmen wir die Schwangere in Form eines persönlichen Strafausschließungsgrundes aus der Strafbarkeit heraus. Folgende Überlegungen haben uns dazu bewogen: Erstens. Bei der Schwangeren sind aus subjektiven Gründen Unrecht und Schuld regelmäßig gemindert. Sie befindet sich oft in einem Gewissenskonflikt. Die Gründe, die sie zur Tat zwingen, sind dringlicher und durchschlagender als die Gründe, die einen Dritten zur Tat veranlassen. Zweitens. Unsere Gerichte verurteilen Frauen, die abgetrieben haben oder an sich haben abtreiben lassen, fast durchweg zu Geldstrafen. Freiheitsstrafen sind eine Seltenheit. Solch niedrige Strafen sind für den Rechtsgüterschutz untauglich, da sie den Wert des geschützten Rechtsgutes in keiner Weise erkennbar machen. Drittens. Die Fälle der Selbstabtreibung der Schwangeren bleiben aus verständlichen Gründen in hohem Maße unentdeckt. Diese Beweislage spricht für die Festlegung der Straffreiheit. Beispielsweise wurden im Jahre 1971 in der Bundesrepublik 68 Verurteilungen wegen Selbstabtreibung registriert. Viertens. Wenn die Schwangere nicht unter Strafdruck steht, wird sie sich sicher mit ihrem Wunsch auf Abbruch eher an einen Arzt oder an eine Beratungsstelle wenden. ({2}) Fünftens. Sie wird auch eher bereit sein, bei Komplikationen nach einem illegalen Eingriff zum Arzt zu gehen. Sechstens. Da sie straflos ist, wird sie auch eher geneigt sein, Angaben über Kurpfuscher zu machen und damit ihre Bekämpfung zu erleichtern. Siebtens. Da nach unserem Vorschlag die Schwangere nur aus in ihrer Konfliktsituation liegenden persönlichen Gründen nicht bestraft wird, die Täter und Teilnehmer hingegen der Strafbarkeit unterliegen, behalten wir ein durchgängig auf den Rechtsgüterschutz zielendes Verbot bei. Die auf subjektiven Gründen beruhende Straflosigkeit der Frau beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit dieses Verbots nicht, zumal der Personenkreis, der den weitaus größten Teil der Eingriffe vollzieht, nämlich die Kurpfuscher oder auch Ärzte, unter dem Druck der Strafandrohung steht. Dies wird schließlich zur Folge haben - davon sind wir überzeugt -, daß das berufliche Verantwortungsgefühl der Ärzte in besonderem Maße angesprochen wird. Achtens. Es ist richtig, daß nach unserem Vorschlag auch der letzte Teil der Schwangerschaft, soweit es die Schwangere selbst betrifft, nicht geschützt ist. Die Täter oder Teilnehmer werden aber auf jeden Fall bestraft. Die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung ist in solchen Fällen der vorgerückten Schwangerschaft auch sehr groß. Ganz davon abgesehen wird bei fortschreitender Schwangerschaft die Motivation bei der Frau, das Kind zu behalten, immer stärker. Selbstverständlich sind wir uns darüber im klaren, daß nach der einen wie nach der anderen Richtung gegen unseren Entwurf Kritik erhoben wird und Forderungen gestellt und Vorhalte angemeldet werden. Das gilt sowohl für die Umschreibung der Indikationen wie für die - wie wir meinen - sehr einfache und praktikable Regelung, nach der nach unserer Meinung die Indikationen festzustellen sind. Es gilt weiter für die generelle Strafbefreiung der Schwangeren, mit der unser Entwurf über alle AnDr. Müller-Emmert träge hinausgeht. Wir wünschen diese Diskussion auch, weil es in dieser Frage nicht eine einzige richtige Lösung geben kann, sondern nur eine möglichst gute Regelung, die in einer der Bedeutung der Sache angemessenen sachlichen, aber engagierten und sicher auch harten Auseinandersetzung gefunden werden muß. ({3}) Lassen Sie mich nun noch einiges zur Abgrenzung unseres Antrages von den drei anderen Vorschlägen sagen: Zunächst zu dem Antrag der Opposition! Die gravierendste Abweichung ist, daß wir im Gegensatz zum Oppositionsvorschlag die Frau straffrei stellen. Hierzu habe ich bereits eine eingehende Begründung gegeben. Die weitere entscheidende Abweichung zu unserem Entwurf besteht darin, daß der Vorschlag der Opposition die Indikation der Notlage nicht enthält. Statt dessen sieht er vor, dem Gericht die Möglichkeit zu geben, dann von Strafe abzusehen, wenn die Schwangere in außergewöhnlicher Bedrängnis gehandelt hat. Das scheint mir, meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, keine konsequente und faire Lösung zu sein. Es läßt sich nämlich bei allen Bestrebungen, vorrangige, helfende Maßnahmen zu verwirklichen, nicht leugnen, daß auch aus dem sozialen Bereich resultierende schwerste Konfliktsfälle übrig bleiben, die auf andere Weise als durch den Schwangerschaftsabbruch nicht zu bewältigen sind. Ich erwähne zum Beweis folgende Beispiele: Die Schwangere ist durch die Aufgabe, in ihrem Haushalt mehrere Kinder aufzuziehen oder ein behindertes oder krankes Kind zu pflegen, derart belastet, daß sie diese Aufgabe zusammen mit der Versorgung eines weiteren Kindes nicht erfüllen kann und deswegen schwerwiegende Nachteile für die vorhandenen Kinder - z. B. Entwicklungsstörungen oder eine Verschlimmerung der bestehenden Krankheit - befürchten muß. - Oder: Der Zustand des Ehemannes, namentlich eine Geistes- oder Suchtkrankheit oder eine schwere seelische Abartigkeit, belastet die Verhältnisse in der Familie so sehr, daß die Schwangere befürchten muß, sie werde das Kind nicht ausreichend pflegen und erziehen können. Oder: Die Schwangere kann infolge eigener Behinderung - z. B. Epilepsie, schwere Depression oder Blindheit - das erwartete Kind nicht in ausreichendem Maße pflegen und erziehen. In diesen Fällen ist es nach meiner Überzeugung nicht vertretbar, der Schwangeren nach dem Vorschlag der Opposition durch die Gutachterstelle zunächst erklären zu lassen, daß sie die Schwangerschaft nicht abbrechen dürfe, ihr aber als Gesetzgeber gleichzeitig zu empfehlen, sie möge es doch tun; sie könne dann nämlich auf die Gnadenentscheidung des Gerichts rechnen. Das bezeichne ich als ein Sich-Drücken vor einer sachgerechten Entscheidung! ({4}) Ein weiterer erheblicher Unterschied besteht darin, (laß der Entwurf der Oppositionsfraktion die Feststellung der Indikationen einer aus drei Personen bestehenden Gutachterstelle übertragen will. Wir sind der Überzeugung, daß ein solches Verfahren nicht praktikabel und viel zu umständlich ist und daß zudem viele Frauen Hemmungen und Mißtrauen haben werden, eine solche Gutachterstelle aufzusuchen. Unser Verfahren, das die ausschließliche Entscheidung eines einzigen Arztes vorsieht, der allerdings vorher noch den Rat eines Kollegen oder einer sozialen Beraterstelle einholen muß, ist mit Sicherheit einfacher. Außerdem kann nach unserem Vorschlag die Frau von Anfang an den Arzt ihres Vertrauens aufsuchen. Nun noch etwas zu dem Antrag aus den Reihen der Oppositionsfraktion, der von dem Kollegen Dr. Heck und Genossen eingebracht worden ist! Dieser Antrag enthält im wesentlichen die medizinische Indikation und die schon erwähnte Strafabsehensklausel. Ich stelle hier mit aller Deutlichkeit fest, daß mit diesem Entwurf lediglich eine Festschreibung des geltenden Rechts vorgeschlagen wird. ({5}) Das gilt selbst für die Absehensklausel, die genaugenommen die Funktion des bekannten § 153 der Strafprozeßordnung übernehmen soll. Zu diesem Antrag brauche ich nur zu bemerken, daß er für uns schlechterdings indiskutabel ist und daß ich bei aller Anerkennung der Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten gleichwohl bedauere, daß wir uns mit ihm überhaupt befassen müssen. ({6}) - Ich habe ausdrücklich betont, Herr Kollege: bei aller Anerkennung der Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten! Ich darf das wiederholen. ({7}) Nun, meine Damen und Herren, zu dem Fristenmodell! Der gravierendste Unterschied ist der, daß dieses Modell den Schwangerschaftsabbruch nicht nur in den bereits in unserer erweiterten Indikationenregelung berücksichtigten Fällen zuläßt, sondern auch dann, wenn der Schwangerschaftsabbruch nicht durch gewichtige Interessen motiviert ist. Die Skala denkbarer Motivationen, die einen Vergleich mit dem Rechtsgut des ungeborenen Lebens nicht aushalten können, ist so groß, daß ich es mir ersparen möchte, einzelne davon herauszugreifen. Als Ergebnis bleibt festzustellen, daß die Fristenregelung die uneingeschränkte Freigabe des ungeborenen Lebens innerhalb der ersten drei Monate bedeutet und damit den Embryo in dieser Zeitspanne strafrechtlich völlig schutzlos stellt. Mit anderen Worten: ob ein Eingriff vorgenommen werden darf, entscheidet nach der Fristenregelung nicht die Gesetzesnorm, sondern ausschließlich die Frau nach ihrem eigenen Gutdünken. ({8}) Dies wäre nach meiner Überzeugung ein unerträglicher Rechtszustand, der der Tatsache, daß das Leben das höchste Rechtsgut ist, in keiner Weise gerecht wird. ({9}) Es kann nicht ernsthaft bezweifelt werden - auch darüber müssen wir uns im klaren sein -, daß sich bei einer solchen Regelung Ärzte und Privatkliniken herauskristallisieren werden, die sich nach englischem und amerikanischem Vorbild auf Abtreibungen spezialisieren, daß abtreibungswillige Frauen von vornherein nur solche Adressen anlaufen werden und daß diese Ärzte, die letztlich von der Abtreibung leben, ihre Aufgabe nicht darin sehen werden, für die Erhaltung des ungeborenen Lebens zu plädieren. ({10}) Einer Erörterung bedarf selbstverständlich auch die Frage, ob die Fristenregelung etwa auf lange Sicht und auch auf Dauer die Zahl der Abtreibungen zu senken oder wenigstens auf dem gleichen Stand zu halten vermag wie eine erweiterte Indikationenregelung. Es wird die Auffassung vertreten, durch die Einräumung absoluter Entscheidungsfreiheit gegenüber der Frau werde deren Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem ungeborenen Leben gestärkt. Dies werde sich zusammen mit anderen Maßnahmen auf die Dauer dahin auswirken, daß die Frauen in größerem Umfang als bisher positive Entscheidungen zugunsten des ungeborenen Lebens fällen würden. Tatsache ist aber, daß die Fristenregelung auch denjenigen Frauen, deren Abtreibungswunsch nicht einer gravierenden Konfliktsituation, sondern vielleicht nur der Bequemlichkeit oder dem Wunsch nach größerem Wohlstand entspricht, volle Entscheidungsfreiheit einräumt. Daß dadurch eine positivere Einstellung zum Kind bewirkt werden soll, kann ich leider nach allen Erfahrungen beim besten Willen nicht erkennen. ({11}) Meine Damen und Herren, es ist dieselbe Sache, nur von einer anderen Seite angegangen, wenn erklärt wird, das in der Indikationenregelung enthaltene strafrechtliche Verbot habe keine Wirkung. Diesen Aussagen liegt der Gedanke an diejenigen Frauen zugrunde, die tatsächlich abgetrieben haben. Daran ist natürlich soviel richtig, daß das geltende Verbot die etwa 100 000 Abtreibungen jährlich nicht verhindert hat. Genausowenig - dies nur am Rande - hat das Diebstahlsverbot die jährlich etwa 1,5 Millionen Diebstähle verhindert, ohne daß jemand von uns auf den Gedanken käme, dieses Verbot jemals aufzuheben. Eine objektive Prüfung muß aber bei der Abtreibung wie bei anderen Delikten auch immer die Frage stellen, ob und gegebenenfalls wie viele Personen wegen eines bestehenden Verbotes ein bestimmtes Verhalten unterlassen. Für die Bundesrepublik gibt es darüber keine Statistik. Die Prognosen für den Fall einer Freigabe der Abtreibung gehen sogar unter den Anhängern des Fristenmodells stark auseinander. Eine zuverlässigere Antwort gibt die Entwicklung im Ausland. ({12}) Wenn ich hier Großbritannien erwähne, ist mir bewußt, daß das Gesetz dieses Landes an sich eine Indikationenregelung vorsieht. Wir alle wissen aber, daß die Praxis im Sinne einer Fristenregelung über dieses Gesetz schon längst hinweggegangen ist. Im Bericht einer Arbeitsgruppe des Royal College der Geburtshelfer und Gynäkologen vom Februar 1972 heißt es: Seit Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes ist die Zahl der vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche von etwa 6 000 im Jahre 1967 auf 126 774 im Jahre 1971 ständig angestiegen. Die Gesamtziffer steigt weiter und zeigt noch kein Anzeichen für einen Rückgang. Die Statistik für 1972 hat diese Prognose eindeutig bestätigt. So hat der Unterstaatssekretär für Gesundheit und soziale Sicherheit am 6. Februar 1973 im britischen Unterhaus auf Fragen eines Abgeordneten ausgeführt: Die vorläufige Zahl der Abtreibungen, die in dem Zeitraum vom 1. Januar bis zum 27. Dezember 1972 in England und Wales gemeldet wurden, war 156 714. 100 665 dieser Eingriffe wurden nicht im Rahmen des staatlichen Gesundheitsdienstes vorgenommen. Aufschlußreich ist auch ein Hinweis auf die Verhältnisse in den osteuropäischen Ländern. In unserer öffentlichen Anhörung haben die Sachverständigen berichtet, daß in allen östlichen Ländern, in denen die Strafvorschriften gegen die Abtreibung stark liberalisiert worden waren, die Gesamtzahl der Abtreibungen auch stark zugenommen hat und daß damit ein Absinken der Geburtenrate einhergegangen ist. Als in Rumänien und in Bulgarien die Geburtenrate in einer für diese Länder existenzbedrohenden Weise abgesunken war, hat man in den Jahren 1966 und 1967 die Strafgesetze wieder verschärft, was prompt ein Ansteigen der Geburtenrate zur Folge hatte. ({13}) Diese Entwicklung läßt nur den Schluß zu, daß eine Freigabe der Abtreibung auch auf lange Sicht nichts zu einem Rückgang der Abtreibungsquote beitragen kann, sondern im Gegenteil ihren Anstieg bewirken wird. ({14}) Lassen Sie mich ergänzend im Blick auf die Vereinigten Staaten noch folgendes sagen. In Erfahrungsberichten, Pressemeldungen und Statistiken, z. B. aus New York, habe ich die Vorstellung, daß man mit der Freigabe des Schwangerschaftsabbruches das ungeborene Leben schützen und die Abortziffer senken könne, niemals gefunden. Vielmehr bin ich immer außer auf das Bestreben, der Privatsphäre der Frau absoluten Vorrang einzuräumen, auf die Erwartung gestoßen, daß auf diese Weise der Bevölkerungszuwachs gebremst werde. Das heißt letztlich, daß man sich in den USA von einer Liberalisierung nach wie vor ein Ansteigen der Gesamtzahl der Abtreibungen verspricht. Eines der wesentlichsten Ziele dieser Reform wurde häufig mit dem Schlagwort „weg vom Kurpfuscher" umschrieben. Dies trifft die heutige Situation nicht mehr so wie früher. Denn alle Erfahrungen deuten darauf hin, daß gegenwärtig auch die illegalen Abtreibungen ganz überwiegend von sachkundigen Hilfen durchgeführt werden, daß - wie etwa Frau Pross sich in der öffentlichen Anhörung ausdrückte - als Helfer der Arzt die entscheidende Rolle spielt. Die spezifischen vom Laienabtreiber ausgehenden Lebens- und Gesundheitsgefahren sind quantitativ mit denen aus früheren Zeiten heute nicht mehr zu vergleichen, und es ist offensichtlich, daß dieser Trend sich fortsetzt. Daß dieses Problem dennoch, wenn auch in einem viel geringeren Umfang, vorhanden ist, läßt sich allerdings nicht leugnen. Wir müssen deshalb zu einer gegenüber dem geltenden Recht großzügigeren Regelung kommen, unter der die Schwangere ohne Furcht vor einer unzumutbaren, entwürdigenden Behandlung den Arzt und die Beratungsstellen aufsuchen und den illegalen Weg meiden wird. Zwar zeigen auch hier die ausländischen Erfahrungen, daß es uns weder mit der Fristenregelung noch mit der erweiterten Indikationenregelung gelingen wird, illegale Abtreibungen völlig aus der Welt zu schaffen, es kann aber nur darum gehen, eine möglichst weitgehende Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes zu erreichen. Für mich steht außer Frage, daß auch eine sachgerechte Indikationenregelung eine derartige entscheidende Verbesserung zu bringen vermag. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Zahl der in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik gestellten Anträge auf legalen Schwangerschaftsabbruch. Hier zeigt sich ein deutlicher Anstieg. Wenn es aber selbst auf dem Boden des geltenden strengen Rechtes gelingt, Frauen vermehrt aus der Illegalität herauszuführen, dann wird das erst recht gelingen, wenn wir alle eine humanere Haltung gegenüber der Frau einnehmen, das Verfahren erheblich vereinfachen und das Gesetz in den angegebenen Punkten verbessern. In diesem Zusammenhang haben wir auch den Blick auf ein weiteres entscheidendes Faktum zu richten, nämlich auf die Tatsache, daß auch der in den ersten drei Monaten legal und fachgerecht durchgeführte Eingriff keineswegs ungefährlich ist, sondern sowohl für die körperliche als auch für die psychische Gesundheit der Frau ganz erhebliche Gefahren birgt. Das bedeutet, daß das Fristenmodell denjenigen Frauen, die nur bei dieser Regelung den Abbruch wagen werden, wohl eine psychische Belastung nimmt, ihnen dafür aber ein anderes psychisches und dazu noch ein körperliches Gesundheitsrisiko aufbürdet. Welcher Art und wie groß dieses Risiko ist, hat Professor Zander in der öffentlichen Anhörung eindrucksvoll dargelegt. Auf die Aufzählung von Einzelheiten möchte ich verzichten. Noch mehr als Zahlen und Daten scheint mir die Tatsache zu sagen, daß in Rumänien die Rückkehr von einem liberalen zu einem restriktiven Gesetz offiziell u. a. mit den schwerwiegenden Folgen des legalisierten Abbruchs für die Gesundheit und Fruchtbarkeit der Frau begründet worden ist. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ein jeder von uns ist sich darüber im klaren, daß die Frage der Reform des § 218 ein äußerst schwieriges, vielschichtiges Problem ist. Wir können es nur dann zufriedenstellend lösen, wenn wir offen sind für alle vernünftigen Argumente, in dem Willen, eine Regelung zu finden, die eine möglichst breite Mehrheit in diesem Hohen Hause und bei unseren Bürgern findet. ({15})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir treten in die Fragestunde - Drucksache 7/555 ein und setzten die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Herren Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten fort. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Bundesminister Ertl zur Verfügung. Die Frage 68 ist von Herrn Abgeordneten Immer eingebracht: Welche Maßnahmen sind vorgesehen, um die finanz- und wirtschaftsrechtliche Situation der überbetrieblichen Zusammenschlüsse landwirtschaftlicher Betriebe auf der Produktionsstufe soweit zu verbessern, daß keine Diskriminierung gegenüber dem Einzelbetrieb, vor allen Dingen in steuerrechtlicher Beziehung, mehr möglich ist?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Immer, um festzustellen, ob und inwieweit die Bildung landwirtschaftlicher Kooperationen durch gesellschaftsrechtliche und steuerrechtliche Vorschriften behindert wird, hat mein Haus bereits im Jahr 1970 ein Gutachten an mehrere Professoren vergeben. Das Gutachten, das Ende 1971 vorgelegt wurde, wird zur Zeit von verschiedenen Bundesressorts daraufhin geprüft, welche Maßnahmen zur Beseitigung der bestehenden rechtlichen Hemmnisse zu ergreifen sind. Auf steuerrechtlichem Gebiet wird von der Bundesregierung eine weitgehende Gleichstellung von landwirtschaftlichen Kooperationen mit Einzelbetrieben angestrebt. Eine derartige Gleichstellung ist bei Tierhaltungskooperationen unter bestimmten Bedingungen bereits jetzt gesetzlich geregelt. Der Entwurf eines Zweiten Steuerreformgesetzes sieht unter anderem einen Freibetrag von 100 000 DM bei der Vermögensteuer und die völlige Gewerbesteuerfreiheit für Land- und Forstwirtschaft betreibende Genossenschaften und Vereine vor. Weitere Erleichterungen sind mit der Vorlage des Dritten Steuerreformgesetzes zu erwarten. Die Bundesregierung prüft zur Zeit die Frage, ob eine Regelung getroffen werden soll, die eine Anwendung dieser Vorschriften schon vor dem Inkrafttreten der Steuerreform ermöglicht.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist damit zu rechnen, daß bei der Regelung, die angestrebt wird, eine Gleichstellung der Kooperation dieser Art mit denen in den übrigen Ländern beziehungsweise in einigen Ländern der EG erreicht wird?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Immer, ich kann diese Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten, weil ich im Augenblick nicht alle Details der Möglichkeiten der Kooperationen in den EG-Partnerstaaten kene. Ich bin gern bereit, sie schriftlich zu beantworten. Aus dem Kenntnisstand, den ich im Augenblick habe, möchte ich aber sagen, daß sich diese Frage im Zuge der Gesamtharmonisierung der europäischen Politik natürlich für jeden Staat gleichrangig stellt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, sind Ihnen Zahlen bekannt, die ausweisen, wie viele derartige landwirtschaftliche Kooperationsbetriebe etwa in der totalen oder in der partiellen Form im Augenblick in der Bundesrepublik bestehen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Das kann ich nicht sagen. Ich muß Sie bitten, damit einverstanden zu sein, daß ich auch diese Frage schriftlich beantworte. Was ich im Kopf habe, ist, daß die Ansätze zumindest für eine totale Kooperation sehr mäßig sind. Für partielle Kooperation gibt es vielfältige Formen. Hier sind, insbesondere bei der Weiterentwicklung der Erzeugergemeinschaften, zum Teil beachtliche Fortschritte erzielt worden.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die nächste Frage, die Frage 69, des Herrn Abgeordneten Immer auf: Durch welche Bestimmungen wird gewährleistet, daß kooperative Zusammenschlüsse landwirtschaftlicher Betriebe auf der Produktionsstufe die gleiche Investitionsförderung erhalten wie Einzelbetriebe?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Immer, maßgebend für die Investitionsförderung sind die im April vergangenen Jahres vom Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft verabschiedeten Richtlinien über die Mordernisierung der landwirtschaftlichen Betriebe. Diese Richtlinien sehen ausdrücklich vor, daß Zusammenschlüsse mehrerer Betriebsinhaber die gleiche Behandlung erfahren wie Einzelunternehmer. Die vom Planungsausschuß für Agrarstruktur und Küstenschutz beschlossenen Förderungsgrundsätze, die auf dieser Richtlinie basieren, tragen dieser Bestimmung in vollem Umfang Rechnung. Jedem Landwirt bleibt es freigestellt, seine einzelbetriebliche Förderung ganz oder teilweise im Rahmen einer Kooperation wahrzunehmen. Da bisher über Kooperationen, die ja auf der Erzeugerstufe tätig sind, noch relativ wenig Erfahrungen vorliegen, hat der Planungsausschuß allerdings das förderungsfähige Investitionsvolumen für Kooperationen auf 1 Million DM begrenzt. Falls für Projekte mit einem höheren Investitionsvolumen eine Förderung beantragt wird, können jedoch im Einvernehmen mit meinem Hause Ausnahmen von diesem Höchstbetrag zugelassen werden. Um die Gründung von Kooperationen zu erleichtern, werden neben der Investitionsförderung in den ersten drei Jahren nach Gründung der Kooperation auch Zuschüsse zu den Gründungs- und Verwaltungskosten gezahlt. Diese betragen bei Vollfusion insgesamt 27 450 DM, bei Teilfusion bis zu 18 000 DM und bei sonstigen Kooperationen his zu 15000 DM.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, aus Ihren Äußerungen scheint mir hervorzugehen, daß die Kooperationen einer verstärkten Förderung zugeführt werden. Kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung und Ihr Haus insbesondere diese Vorgänge beobachtet und möglicherweise zu verstärkten Maßnahmen kommt?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Soweit das Prinzip der Freiwilligkeit nicht verlassen wird; darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen. Ich bin der Auffassung, daß es in unsere staatliche Grundordnung und auch in unsere Auffassung über die Prinzipien einer zeitgemäßen Agrarpolitik gehört, daß das eine Maßnahme ist, die primär der Landwirt in eigener Verantwortung zu entscheiden hat. Darüber hinaus aber haben wir - insbesondere auch, um Erfahrungen zu sammeln - ein besonderes Objekt, das bekannt ist - ich brauche deshalb den Namen nicht zu nennen -, gemeinsam mit der Europäischen Gemeinschaft gesondert gefördert, nicht zuletzt auch, um fundierte wissenschaftliche Unterlagen darüber zu bekommen, inwieweit ein solcher Weg zielstrebig beschritten werden kann bzw. auch zweckmäßig ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, inwieweit halten Sie es für möglich, daß Betriebsmodelle in kooperativer Form an Stelle der bisherigen NebenImmer erwerbsbetriebe auch die Landschaft offenhalten, da Nebenerwerbsbetriebe bekanntermaßen den Charakter von Selbstausbeutungsbetrieben haben?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Wenn ich das Wort ,,Kooperation" ins Deutsche mit „Partnerschaft" übersetze, dann würde ich sagen: ja. Das Wort von den „Ausbeutungsobjekten" möchte ich nicht unbedingt für alle landwirtschaftlichen Nebenerwerbsbetriebe verwenden. Ich gebe zu, daß es manche Betriebe gibt, die insbesondere für die Frauen eine besondere Last darstellen und daß diese Betriebe aus diesem Grund den Weg einer möglichen Rationalisierung oder Extensivierung beschreiten sollten. Das können sie um so leichter, indem sie sich z. B. das Maschinenkapital von Vollerwerbsbetrieben zu eigen machen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind bei diesen Kooperationsformen der Landwirtschaft auch Investitionsförderungen für landtechnische Lohnunternehmen mit Landwirtschaft im Nebenerwerb einbegriffen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Das kommt darauf an. Wenn sie zu einer Kooperation gehören - d. h. sie müssen rechtlich verbindliche Tatbestände beinhalten , dann sicherlich.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Geldner auf: Was ist der Bundesregierung über die von der FAO für 1975 vorhergesagte weltweite Hungersnot bekannt, und in welcher Weise können die Landwirtschaften in Deutschland und der EWG dazu bewogen werden, gegen diese sich abzeichnenden Versorgungsmängel vorzusorgen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Geldner, die Bundesregierung kennt die ernsthaften Sorgen, die von seiten der FAO zur Entwicklung der Welternährungslage geäußert wurden. Von einer generellen weltweiten Hungersnot für das Jahr 1975, glaube ich, kann man nicht sprechen. Das ist auch von der FAO in dieser Form nicht vorhergesagt worden. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß wir in der Tat zumindest bei einigen Produkten erhebliche Versorgungsschwierigkeiten haben. Das macht sich auch im Preisgeschehen bemerkbar. Insbesondere in jüngster Zeit hat sich die Situation durch eine große Dürrekatastrophe südlich der Sahara mit katastrophalen Auswirkungen noch erheblich verschärft. Um so mehr war es verständlich, daß sich die FAO sehr dringlich an potentielle Geberländer gewandt und sie aufgefordert hat, die geschilderte, möglicherweise gespannte Situation für die nächsten Jahre, also auch für das Jahr 1975, hinsichtlich ihrer Lagerhaltungspolitik im Auge zu behalten. Die Landwirtschaft in der Bundesrepublik und in den EWG-Ländern ist seit langem an der Bekämpfung des Hungers in der Welt beteiligt. Die Nahrungsmittelproduktion der EWG ist auf einem so hohen Leistungsstand, daß es zusätzlicher Anreize nicht unbedingt bedarf. Bei entsprechender Gestaltung der Haushalts- und Vorratspolitik der Bundesrepublik ist die Gewähr für eine angemessene, ständig steigende Beteiligung der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft an Hilfsmaßnahmen zur Bekämpfung des Hungers gewährleistet. Die Europäische Gemeinschaft hat erst auf ihrer jüngsten Sitzung am Montag beschlossen, sich an der Bekämpfung des Hungers in den Katastrophengebieten südlich der Sahara zu beteiligen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Keine weitere Zusatzfrage? - Danke, Herr Kollege. Ich rufe die Frage 71 des Herrn Abgeordneten Carstens ({0}) auf: Welche Bedeutung mißt die Bundesregierung der derzeitigen Preisentwicklung auf dem Futtermittelsektor zu, die wegen der nur in sehr beschranktem Matte vorhandenen Eiweißproduktc ({1}) entstanden ist, und hält es die Bundesregierung auf Grund ihrer Informationen für möglich, daß der Futtermittelmarkt bis zur neuen Sojabohnenernte völlig zusammenbricht?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Carstens, wir verfolgen natürlich die Entwicklung der Preise auf dem Eiweißfuttersektor mit großem Interesse und auch mit gewisser Sorge. Die Preise für die beiden wichtigen Eiweißfuttermittel - Fischmehl und Sojaschrot - sind seit August 1972 um rund 250 % gestiegen: Fischmehl von 70 DM auf 170 DM je 100 kg; Sojaschrot von 40 DM auf 98 DM je 100 kg. Ursachen für den starken Preisanstieg - das ist Ihnen sicherlich bekannt sind die schlechten Fangergebnisse der Anchovis-Fischer in Peru und die Bekanntgabe der Verstaatlichung der dortigen Fischmehl- und Fischölindustrie. Hinzu kamen große japanische Vorratskäufe und vor allem der weltweit steigende Bedarf an Eiweißfuttermitteln, nicht zuletzt um auch die tierische Produktion insgesamt zu verbessern. Es ist, glaube ich, nicht damit zu rechnen, daß in absehbarer Zeit die Preise auf den Stand von August 1972 zurückgehen werden. Einen Zusammenbruch des Futtermittelmarktes befürchten wir allerdings nicht. Der Preisanstieg für Eiweißfuttermittel wird dazu führen, daß verstärkt Gemeinschaftsgetreide, insbesondere Weizen und Wintergerste, verfüttert wird. Weizen und Wintergerste haben, wie Sie wissen, einen relativ hohen Eiweißgehalt. An beiden Getreidearten hat die Gemeinschaft nicht unerhebliche Überschüsse, und die Entwicklung wird zwangsläufig dahin führen, daß in der Gemeinschaft produziertes Getreide vorwiegend der Verfütterung zugeführt wird.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.

Manfred Carstens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000322, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind Sie der Ansicht, daß die deutsche Landwirtschaft die enorm gestiegenen Futtermittelpreise allein und voll über den Markt auffangen kann?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Das kann ich im Augenblick nicht mit Sicherheit vorhersagen, denn die Entwicklung wird weitgehend auch vom Marktgeschehen abhängen. Ich bin allerdings überzeugt, insbesondere wenn der Grundsatz der Verfütterung wirtschaftseigenen Futters berücksichtigt wird, daß, wenn die Marktverhältnisse so bleiben, wie sie sind, die deutsche Landwirtschaft in der Lage ist, diesen Preisanstieg aufzufangen. Es wird wesentlich schwerer jene Produzenten treffen, die ihre Veredelungsproduktion nicht so sehr auf wirtschaftseigene Futterbasis abgestellt haben.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Manfred Carstens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000322, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind Sie eventuell bereit, falls Sie es für erforderlich halten, sich auch auf diplomatischem Wege einzuschalten, um die Versorgung des deutschen Futtermittelmarktes mit Eiweißprodukten so gut wie möglich sicherzustellen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Soweit es in unseren Kräften stand, ist das geschehen. In einem Fall habe ich das selbst mit meinem zuständigen Kollegen tun können. Das war ein Kollege aus einem afrikanischen Entwicklungsland, das ruckartig die Lieferungen eingestellt hat. Ich habe ihn darauf hingewiesen, daß ein solches Verhalten gegenüber einem Marktpartner natürlich auch nicht ohne Rückwirkung bleiben kann für den Fall, daß der Markt wiederum auch durch andere Marktpartner beliefert werden kann.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Eigen auf: Welche Anzahl an landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieben kann nach der Veränderung der Eingangs- und Zielschwelle durch die Beschlüsse des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft gefördert werden?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Herr Kollege Eigen, zur Zeit gibt es im Bundesgebiet rund 440 000 landwirtschaftliche Vollerwerbsbetriebe. Nach wie vor kann die überwiegende Mehrzahl dieser Betriebe die einzelbetriebliche Investitionsförderung in Anspruch nehmen. Daneben werden etwa 180 000 Betriebe als Zuerwerbsbetriebe bewirtschaftet. Auch diese kommen zum Teil für die einzelbetriebliche Förderung in Frage. Es ist allerdings nicht möglich, den Anteil der entwicklungs- und damit förderungsfähigen Betriebe exakt zu quantifizieren. Das Ziel der einzelbetrieblichen Förderung liegt darin, den Betrieb nach seinen individuellen Bedürfnissen zu fördern, damit es nicht durch eine globale Förderung zu Fehlinvestitionen kommt und somit auch zu Fehlentwicklungen sowohl bezüglich der Ertragslage als auch der langjährigen Bewirtschaftung der Betriebe. Im April wurde vom Planungsausschuß die Förderungsschwelle für 1973 beschlossen und dabei im Bundesdurchschnitt je AK ein Arbeitseinkommen von 17 300 DM vorgesehen. Dabei gibt es eine erhebliche Regionalisierung und damit auch eine große Bandbreite. Diese Bandbreite reicht von 13 500 DM in einer Region Mittelfrankens bis zu 19 200 DM im Ballungsgebiet Nordrhein-Westfalens. Zuzüglich zu dieser erheblichen Bandbreite wurde die Möglichkeit eingeräumt, in bestimmten Fällen auch noch Betriebe zu fördern, die bis zu 10 °/o unter der Förderungsschwelle liegen. Wenn für mindestens 1 AK das angestrebte Arbeitseinkommen aus der Landwirtschaft erzielt wird, können darüber hinaus auch außerlandwirtschaftliche Einkommen bis zu 20% der Förderungsschwelle angerechnet werden. Diese Einkommensart ist jedoch in den mir bisher zur Verfügung stehenden Statistiken nicht erfaßt und wird auch wohl erst im Laufe längerer Zeit zu erfassen sein. Ich glaube, daß damit ein Weg beschritten worden ist, der weitgehend den individuellen Bedürfnissen adäquat ist und vor allem dem Ziel entspricht, daß Betriebe, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, langfristig wenigstens annähernd eine vergleichbare Einkommens- und somit Sozialsituation erreichen, wie sie in der übrigen Wirtschaft möglich ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Kollege.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie sagten, Sie könnten keine exakten Angaben über die Zahl der Betriebe machen. Können Sie ungefähre Angaben über die Zahl der förderungswürdigen Vollerwerbsbetriebe machen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie in die Verhandlungen nach Brüssel gegangen sind, ohne Vorerhebungen anzustellen.

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Das liegt eben im Wesen der einzelbetrieblichen Förderung, verehrter Herr Kollege Eigen, daß man nicht quantifizieren kann. Das war ja der große Streitpunkt in den ursprünglichen Brüsseler Vorschlägen, daß man gesagt hat: es werden nur Betriebe einer bestimmten Größe oder mit einer bestimmten Zahl von Kühen gefördert. Das wäre alles zu quantifizieren. Hier geht es darum, daß ein Betrieb entweder durch seine Struktur oder durch seine Organisation ein gewisses Vergleichseinkommen erzielt, und mit diesem Ziel soll er gefördert werden. Ich bin nämlich der Auffassung - übrigens nicht nur ich, sondern dieser Auffassung sind, glaube ich, inzwischen auch die Europäische Gemeinschaft und alle Partnerländer -, daß die Sicherstellung einer Landwirtschaft, die aus einem Kern leistungsfähiger Vollerwerbsbetriebe und einem Ring von Nebenerwerbsbetrieben besteht, nur möglich ist, wenn die auf lange Sicht lebensfähigen Vollerwerbsbetriebe ein vergleichbares Einkommen erzielen. Daß man dabei regionale Unterschiede machen muß, ist selbstverständlich. Dadurch, daß man, insbesondere um den besonderen Gegebenheiten in der Bundesrepublik Rechnung zu tragen, auch noch die Möglichkeit einräumt, bis zu 20 % Einkünfte aus anderer Tätigkeit, die wiederum nicht zu quantifizieren ist, zu berücksichtigen, wird, wie ich meine, der Versuch gemacht, hier einen, ich möchte sagen, möglichst vernünftigen Weg zu beschreiten. Insoweit stellt sich die Frage der Quantifizierung gar nicht; denn Sie wissen als Praktiker selber, daß selbst ein 10-ha-Betrieb, wenn er eine intensive Ferkelaufzucht betreibt, sehr wohl die Schwelle erreichen kann, während sie ein 50-haBetrieb bei entsprechender extensiver Bewirtschaftung nicht erreichen kann. Insoweit stellt sich die Frage der theoretischen Quantifizierung nicht; denn der Betrieb soll in seiner Organisation generell so ausgerichtet werden, daß er der Familie ein adäquates Vergleichseinkommen sichert.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß auch der Betrieb, der über der Eingangsschwelle liegt, d. h. der sehr progressive Betrieb, nicht in der Lage ist, Zukunftsinvestitionen zu Kapitalmarktkonditionen zu finanzieren?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Ich möchte Ihre Frage nicht uneingeschränkt mit Ja beantworten. Wenn Sie nämlich den Agrarbericht nachlesen und sich z. B. die Statistik und die Ertragszahlen von jenen Betrieben ansehen, die zu den 25% über dem Durchschnitt liegenden gehören, werden Sie zu der Erkenntnis gelangen, daß Ihre Frage nicht generell mit Ja zu beantworten ist. Ich gebe Ihnen aber recht, daß es Betriebe geben kann, die das nicht erreichen. Deshalb ist auch in den Richtlinien festgelegt, daß ein Betrieb, wenn sich eine Einkommensverschlechterung abzeichnet oder er in seiner Funktionsfähigkeit gestört wird, auch dann gefördert werden kann, wenn er über der Schwelle liegt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Kiechle.

Ignaz Kiechle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001091, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, da Sie nicht quantifizieren können oder wollen, frage ich Sie: Wird nach Ihrer Meinung auf Grund der neu festgelegten Förderschwelle die Zahl der förderungsfähigen Betriebe in der Bundesrepublik zunehmen oder abnehmen?

Josef Ertl (Minister:in)

Politiker ID: 11000493

Diese Frage stellt sich so gar nicht, Herr Kollege Kiechle; denn hier müssen Sie von der Frage ausgehen und zunächst eine Untersuchung darüber anstellen, wieviele Betriebe es gibt, die überhaupt zu fördern sind. Wir haben seit über zehn Jahren eine Agrarförderung. Erst dann können Sie fragen, wieviele von denen gefördert werden können, und da kann ich, wenn ich es sehr überziehe, sagen: fast jeder, oder sogar: absolut jeder. Das liegt im Wesen dieses Programms, und ,das halte ich auch für sehr nützlich. Ich bin der Meinung, das mag persönlich vielleicht hart sein für den Betroffenen, auf jeden Fall ist es ehrlicher, ihm zu sagen: Du wirst das Ziel auch mit 100 000 DM öffentlichem Zuschuß nicht erreichen, als ihm zu sagen: Wir geben dir staatliches Geld, und am Schluß muß er mit staatlichen Schulden dennoch eine abhängige Arbeit annehmen, um seine Schulden durch diese Tätigkeit abzahlen zu können. Das möchte ich verhindert wissen, und dafür sorgt die Schwelle. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege, herzlichen Glückwunsch, daß Sie einen Weg gefunden haben, zu zwei Zusatzfragen zu kommen, aber bei einer dritten kann ich nicht mehr mitmachen. Der Herr Kollege Dr. Slotta bittet um schriftliche Beantwortung. Seine Frage 73 wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Ravens zur Verfügung. Die Frage 80 ist von dem Herrn Abgeordneten Breidbach eingebracht. Der Herr Abgeordnete Breidbach ist nicht im Saal. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für Ihre Anwesenheit. Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht Herr Bundesminister Genscher zur Verfügung. Die Frage 23 ist von dem Herrn Abgeordneten Spranger eingebracht. Der Herr Abgeordnete Spranger ist nicht im Saal, so daß die Frage 23 und die ebenfalls von dem Herrn Abgeordneten Spranger eingebrachte Frage 24 schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Die Frage 25 ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. Jahn ({0}) eingebracht: Erkennt die Bundesregierung an, daß die Europäischen Gemeinschaften spätestens auf Grund der Schlußerklärung der Konferenz der Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und der beitrittswilligen Staaten vom 19. bis 21. Oktober 1972 in Paris eine Kompetenz für Umweltsicherung und Umweltschutz besitzen, da sich die Staats-und Regierungschefs „in der Auffassung einig waren, daß es insbesondere zur Verwirklichung der in den Aktionsprogrammen" ({1}) „festgelegten Aufgaben angezeigt ist, alle Bestimmungen der Verträge, einschließlich des Artikels 235 des EWG-Vertrags, weitestgehend auszuschöpfen"? Bitte, Herr Bundesminister!

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Staats- und Regierungschefs haben im Oktober 1972 auf der Gipfelkonferenz in Paris die Bedeutung einer Umweltpolitik in der Gemeinschaft betont. Sie haben die Organe der Gemeinschaft aufgefordert, bis zum 31. Juli 1973 ein Aktionsprogramm mit einem genauen Zeitplan auszuarbeiten. Dabei waren sie sich in der Auffassung einig, daß zur Verwirklichung auch dieses Aktionsprogramms angezeigt ist, alle Bestimmungen der Verträge einschließlich des Art. 235 weitestgehend auszuschöpfen. Die Bundesregierung hat diese Erklärung der Gipfelkonferenz voll unterstützt. Sie hat dies insbesondere anläßlich der Konferenz der Umweltminister der Mitgliedstaaten am 31. Oktober 1972 in Bonn zum Ausdruck gebracht. In dieser Konferenz wurde Übereinstimmung darin erzielt, daß wichtige Aspekte der Umweltpolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht länger isoliert geplant und durchgeführt werden dürfen. Nationale Programme sollten daher auf der Grundlage eines langfristigen Konzepts in der Gemeinschaft koordiniert und die Umweltpolitik harmonisiert werden. Die Kommisson hat im April 1973 dem Rat den Entwurf für ein Aktionsprogramm vorgelegt. Dieser Entwurf wird zur Zeit in Brüssel beraten. Die Bundesregierung stimmt ihm weitgehend zu. Sie ist der Auffassung, daß die Gemeinschaftsverträge eine Grundlage auch für Aktionen auf dem Gebiet der Umweltpolitik in der Gemeinschaft beinhalten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage.

Dr. Hans Edgar Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001014, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die vom Bundesrat der Bundesregierung zugeleitete Stellungnahme zum ersten Umweltaktionsprogramm der EWG weder mit dem Text noch mit dem Geist der Römischen Verträge in Einklang zu bringen ist und hieraus eine Gesinnung spricht, die den Gemeinschaftszielen im Wege steht?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich habe nicht die Absicht, mich kritisch mit einem anderen Verfassungsorgan auseinanderzusetzen, das um so weniger, als ich aus der Fragestellung entnehme, daß die eindeutige Haltung der Bundesregierung voll mit Ihrer übereinstimmt.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Hans Edgar Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001014, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, stimmen Sie mit mir auch darin überein, daß gerade am Beginn der Umweltgesetzgebung in allen EWG-Mitgliedstaaten eine weitgehende Koordinierung von Gesetzen und Verordnungen ein wesentlicher Schritt zur wirtschaftlichen, aber auch zur politischen Union ist und daß man den Art. 235 voll, wie Sie sagen, ausschöpfen muß, auch gegen den Bundesrat, wenn es einmal sein muß?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Diese Bundesregierung ist eine Vorkämpferin dieser Auffassung, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten Berger auf. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal, die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Volmer auf. Auch der Herr Abgeordnete Volmer ist nicht im Saal. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Fragen 28 und 29 sind von dem Herrn Abgeordneten Wrede eingebracht. Ich sehe und höre auch den Herrn Abgeordneten Wrede nicht. Beide Fragen werden daher schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 30 ist von dem Herrn Abgeordneten Reuschenbach eingebracht. Auch der Herr Abgeordnete Reuschenbach ist nicht im Saal. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Walther auf: Trifft die Meldung in der Illustrierten „stern" zu, wonach auf Intervention des Bundesinnenministers die Bundeszentrale für politische Bildung die Herstellung von 130 Kopien des Films „Rote Fahnen sieht man besser" stoppen mußte und ihn als eigenes Schulungsmaterial nicht verwenden darf, und welche Gründe waren zutreffendenfalls dafür maßgebend?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, der Film „Rote Fahnen sieht man besser" schildert die Stillegung des Werkes Krefeld und wurde Ende 1971 / Anfang 1972 in verschiedenen Fernsehprogrammen ausgestrahlt. Dieser Film ist bewußt keine objektive Situationsschilderung. Er ist ein parteiischer Film, der versucht, die Sicht unmittelbar Betroffener deutlich zu machen. Nachdem die Absicht der Bundeszentrale für politische Bildung bekanntgeworden ist, diesen Film in der politischen Bildungsarbeit einzusetzen, sind dagegen sowohl von publizistischer als auch von anderer Seite Proteste erhoben worden. Ich habe deshalb im Interesse einer objektiven Beurteilung der Möglichkeit, den Film in der politischen Bildungsarbeit einzusetzen, dafür Sorge getragen, daß diese kontroverse Beurteilung objektiv betrachtet werden kann, und zwar unter Beteiligung des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale. Es sollen die pädagogischen und sonstigen Voraussetzungen für einen etwaigen Einsatz des Films untersucht und außerdem auch eine Stellungnahme des Kuratoriums eingeholt werden, das die überparteiliche Haltung sowie die politische Wirksamkeit der Arbeit der Bundeszentrale gewährleisten soll. Beide Gremien sollten sich nach meiner Auffassung mit dieser Angelegenheit befassen. Dem Kuratorium gehören bekanntlich Mitglieder aller Fraktionen des Deutschen Bundestages an. Sie mögen daraus ersehen, Herr Abgeordneter, daß es hier darum ging, eine absolut objektive Behandlung der Angelegenheit sicherzustellen. Der Beirat, der den Direktor der Bundeszentrale unterstützt und dem nach § 4 des Erlasses über die Bundeszentrale für politische Bildung vom 10. September 1969 fünf sachverständige Persönlichkeiten der beteiligten wissenschaftlichen Fachrichtungen angehören, hat sich inzwischen mit dem Film befaßt und in seiner 12. Sitzung am 15. Dezember 1972 die Empfehlung gegeben, den Film „Rote Fahnen sieht man besser" zunächst für ein Experimentierjahr mit einem Vorspann und mit Begleitmaterialien freizugeben und den weiteren Einsatz danach auf Grund des vorliegenden Erfahrungsberichts zu beschließen. Die Stellungnahme des Kuratoriums der Bundeszentrale steht noch aus. Es wird sich nach seiner bevorstehenden Konstituierung auf einer seiner ersten Arbeitssitzungen mit der Problematik befassen. Als verantwortlicher Ressortminister habe ich dafür Sorge zu tragen, daß bei Maßnahmen von erheblicher politischer, fachlicher und finanzieller Bedeutung die für die Bundeszentrale eingerichteten Beratungs- und Kontrollgremien ihre Aufgabe wahrnehmen können. In Anbetracht der objektiven Behandlung der Angelegenheit ist die Behauptung, es handle sich im vorliegenden Fall um eine Intervention des Bundesinnenministers, um den Einsatz des Films durch die Bundeszentrale zu verhindern, unzutreffend. Ich werde meine Entscheidung treffen, wenn sich auch das Kuratorium geäußert hat.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage.

Rudi Walther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Genscher, Sie haben, wenn ich richtig gehört habe, vorhin ausgeführt, daß Sie die Weitergabe des Films deshalb zurückgestellt haben, weil es publizistische und andere Proteste gegeben habe. Können Sie mir darlegen, welcher Art diese Proteste waren und von welcher Seite sie gekommen sind?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Es wird Sie nicht überraschen, Herr Abgeordneter, zu hören, daß solche Proteste z. B. auch von Arbeitgeberseite gekommen sind.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Rudi Walther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben gesagt: unter anderem von Arbeitgeberseite. Können Sie mir sagen, welche anderen Seiten noch Proteste eingelegt haben?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Auch Einzelpersönlichkeiten. Aber ich habe deren berufliche Funktion nicht nachgeprüft; das ist auch nicht üblich, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Heyen.

Roelf Heyen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß am Dienstag und Mittwoch dieser Woche eine Geschäftsführerkonferenz des Bundesverbandes der Arbeitgeberverbände in Hamburg stattgefunden hat, wo junge Unternehmer diesen Film - natürlich mit dem auf die Parteilichkeit des Inhalts hinweisenden Vorspann - als sehr positiv beurteilt haben?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das ist mir nicht bekannt. Aber ich nehme es gern zur Kenntnis, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 32 des Abgeordneten Reiser auf: Welche Gründe hatte die Bundesregierung, die Absicht der Bundeszentrale für politische Bildung zu stoppen, künftig Kopien der Fernsehdokumentation „Rote Fahnen sieht man besser" fur ihre staatsbürgerliche Schulungsarbeit nutzbar zu machen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, ich darf hier auf das verweisen, was ich in der vorhergehenden Antwort gesagt habe.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Minister, ich wollte ursprünglich beide Fragen verbinden. Ich habe es dann nicht getan, weil in der Frage 31 nur gefragt wurde, ob der Stopp auf Ihre Intervention zurückgeht, während in der Frage 32 nach den Gründen gefragt wird. Sie haben sich aber in der Antwort auch schon zu den Gründen geäußert. Daher verbinde ich die Beantwortung der beiden Fragen nachträglich. Herr Kollege Reiser, Sie haben jetzt die Möglichkeit, zwei Zusatzfragen zu stellen.

Hermann P. Reiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie haben vorhin von verschiedenen Betrachtensweisen im Hinblick auf diese Filmdokumentation gesprochen. Sind Sie mit mir vielleicht der Ansicht, daß die Bundeszentrale für politische Bildung auch die Aufgabe hat, alle verschiedenen Betrachtensweisen eines Problems deutlich zu machen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich kann das uneingeschränkt bejahen, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.

Hermann P. Reiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesinnenminister, ist Ihnen bekannt, daß die Kultusminister der Länder diesen Film sehr gut beurteilt und ihn für die Bildungsarbeit der Schulen freigegeben haben?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das ist mir bekannt, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß es ein zumindest ungewöhnliches Verfahren ist, diesen Film mit einem Begleittext und einem Vorspann zunächst einmal für ein Testjahr einzusetzen, nachdem es nicht nur kritische Stimmen gegeben hat, sondern über die Prämiierung hinaus auch sehr positive von sehr angesehenen Fachleuten, die diesen Film uneingeschränkt für den Einsatz zur politischen Bildung für geeignet halten?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich habe keinen Anlaß, an der Redlichkeit und Objektivität der Empfehlung des unabhängigen Beirats zu zweifeln. Er wird seine guten Gründe haben, das zu tun. Ich glaube, daß der Wert des Films nicht dadurch gemindert werden wird, wenn einer solchen Empfehlung gefolgt wird; ich weiß noch nicht, ob das geschehen wird, weil ich, wie ich schon andeutete, vor der Entscheidung noch die Meinungsäußerung des Kuratoriums, in dem alle Fraktionen des Bundestages vertreten sind, hören werde. Ich habe den Eindruck, daß manche Mißdeutung in der Vergangenheit darauf zurückzuführen ist, daß :irrtümlich angenommen wurde oder auch möglicherweise von diesem und jenem gern angenommen wurde, die Aufführung des Films sei untersagt worden. Davon kann keine Rede sein. Es ging darum, die zur Beratung und Mitentscheidung berufenen Gremien der Bundeszentrale in den Meinungsbildungsvorgang einzuschalten. Ich halte das für vernünftig. Hätte ich mich anders verhalten, würde ich wahrscheinlich hier stehen, um mich - mit Recht - gegenüber kritischen Fragen verantworten zu müssen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Pensky auf: Wie beurteilt die Bundesregierung den in verschiedenen Tageszeitungen veröffentlichten Vorschlag des stellvertretenden Polizeipräsidenten von München, Wolf, der unter Hinweis auf den Überfall der israelischen Olympiamannschaft in München durch palästinensische Terroristen fordert, bei „kriegsmäßigen Auseinandersetzungen mit Terroristen" Bundeswehrsoldaten statt Polizei einzusetzen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich habe die Bitte, Herr Präsident, die Frage des Herrn Abgeordneten Pensky zusammen mit der 'des Herrn Abgeordneten Reiser beantworten zu können.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Die Fragesteller sind offensichtlich einverstanden. Ich rufe auch die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Reiser auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Berichte des Münchner Polizeipräsidenten Wolf in einer Studie, nach der ein Einsatz von Bundeswehr bei „kriegsmäßigen Auseinandersetzungen" mit ausländischen Terroristenkommandos geprüft werden sollte?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Der Münchner Polizeivizepräsident Dr. Georg Wolf hat sich in einer in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium des Innern herausgegebenen Broschüre zu dem Thema „Bekämpfung der Gewaltkriminalität" geäußert und dabei unter anderem folgendes ausgeführt - ich zitiere jetzt wörtlich -: Die erste Vorfrage, die sich stellt, bezieht sich auf die Grenze zwischen polizeilichem und militärischem Einsatz bei kriegsmäßigen Auseinandersetzungen fremder Kommandos und Nationen auf deutschem Boden. Zu prüfen ist auch der Einsatz der Bundeswehr im polizeilichen Bereich. Wenn die Polizei dem Gegner waffenmäßig und ausrüstungsmäßig nicht gewachsen ist, kann ihr schwerlich zugemutet werden, die Differenz durch mehr „Heldenmut" auszugleichen. Darauf beruhen offenbar, Herr Abgeordneter, die von Ihnen erwähnten Presseberichte. Nach Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes dürfen die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz das ausdrücklich zuläßt. Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nach dem Grundgesetz nur zur Unterstützung der Polizeikräfte bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, im Spannungs- und Verteidigungsfall sowie im Fall des inneren Notstands unter ganz bestimmten eng begrenzten Voraussetzungen eingesetzt werden. Überlegungen wie die des Münchner Polizeivizepräsidenten Dr. Wolf finden daher im Grundgesetz keine Rechtsgrundlage. Attentate wie das in München müssen von der Polizei und mit polizeilichen Mitteln abgewehrt werden. Dazu müssen die eingesetzten Beamten in die Lage versetzt werden, wirksam gegen Terroristen vorgehen zu können, deren Absichten und deren Verhalten eine besondere Gefahr für Geiseln und Polizeibeamte bedeutet. Für die wirksame Bekämpfung gewalttätiger Terroristen der genannten Art mit polizeilichen Mitteln sind deshalb Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung der eingesetzten Beamten entscheidend. Diese Beamten müssen in die Lage versetzt werden, ihren gefahrvollen Auftrag möglichst ohne Gefährdung der Geiseln, ohne Gefährdung unbeteiligter Dritter und ohne vermeidbare Gefährdungen für sich selbst auszuführen. Bund und Länder haben aus diesem Grunde im Anschluß an die Ereignisse in München mit der Aufstellung von Spezialeinheiten begonnen. Beim Bund ist das die Grenzschutzgruppe 9, die nach Abstimmung mit den Innenministern der Ländern aufgestellt wird und die nach Abschluß der Ausbildung und Ausrüstung den Ländern auf Anforderung gemäß § 9 des Grenzschutzgesetzes zur Verfügung gestellt wird. Polizeiliche Sondereinheiten werden außerdem in den Bundesländern aufgestellt. Diese Initiativen in Bund und Ländern machen die Absicht der Bundesregierung, aber auch der Landesregierung deutlich, auch Terroristengruppen dieser Art mit polizeilichen Mitteln zu begegnen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Pensky.

Heinz Pensky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001689, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich bin Ihnen für diese umfassende Antwort sehr dankbar und darf fragen, ob ich aus dieser Antwort schließen darf, daß die Bundesregierung auch künftig für eine deutliche Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben Sorge tragen wird.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich kann diese Ihre Frage uneingeschränkt bejahen, Herr Abgeordneter. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Reiser, Sie haben keine weitere Zusatzfrage? Die nächste Frage wurde von Herrn Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim gestellt; es handelt sich um die Frage 35: Welche Mittel werden nach dem derzeitigen Überblick der Bundesregierung für die Erfüllung der einzelnen Ansprüche aus dem Häftlingshilfegesetz in der Fassung vom 29. Juli 1971 insgesamt benötigt, und welche Zahlungen sind bis zum Ende des Haushaltsjahres 1972 auf die einzelnen Ansprüche geleistet worden?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Aufwendungen für die 5. Novelle zum Häftlingshilfegesetz vom 29. Juli 1971 wurden mit 140 Millionen DM veranschlagt. Die Durchführung verteilte sich auf mehrere Haushaltsjahre. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Novelle seinerzeit zustande gekommen. Bis gegen Ende des letzten Jahres sind rund 40 Millionen DM ausgezahlt worden. Von diesem Betrag entfallen rund 14 Millionen DM auf die zusätzliche Eingliederungshilfe und rund 26 Millionen DM auf die Ausgleichsleistungen. Danach hat seit Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 1971 mehr als ein Drittel der Berechtigten die zustehenden Leistungen erhalten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfragen werden nicht gestellt. Ich rufe nun die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim auf: Wie lange wird es auf der Grundlage der 2. Verordnung über die Auszahlung von zusätzlichen Eingliederungshilfen und Ausgleichsleistungen nach dem Häftlingshilfegesetz vom 11. April 1973 in etwa dauern, bis die letzten Einmalleistungen ausgezahlt worden sind?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Die Abwicklung regelt sich zur Zeit nach der Zweiten Verordnung über die Auszahlung von zusätzlichen Eingliederungshilfen und Ausgleichsleistungen vom 11. April 1973, die die Erste Auszahlungsverordnung vom 26. April 1972 abgelöst hat. Die Einschränkungen bei der Auszahlung sollen weiter gelockert werden und schließlich ganz fortfallen. Im Jahre 1975 sollen die Auszahlungen abgeschlossen sein. Dieser Zeitplan war von der Bundesregierung bei der Einbringung des Gesetzes ausdrücklich vorgesehen. Er fand die Zustimmung des Haushaltsausschusses. Die Berechnungen gehen davon aus, daß die Zahl der Berechtigten im wesentlichen konstant bleibt und sich nicht durch stärkere Neuzugänge verschiebt. Für die ehemaligen politischen Häftlinge, die im Rahmen der Amnestie vom 6. Oktober 1972 in das Bundesgebiet entlassen werden, sind im Bundeshaushaltsplan 1973 zusätzlich 5 Millionen DM eingeplant.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Freiherr Spies von Büllesheim.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß die Anspruchsberechtigten durch die Verzögerung der Auszahlung in einem 1971 bei Erlaß des Gesetzes noch nicht voraussehbaren Ausmaß durch die zwischenzeitliche währungspolitische Entwicklung beeinträchtigt wurden und noch beeinträchtigt werden?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das ist sicher ein Problem, Herr Abgeordneter, das allerdings nicht auf diesen Fall beschränkt ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Sie haben eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr, Herr Kollege!

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf fragen, Herr Minister, ob die Bundesregierung eventuell bereit ist, eine vorzeitige Auszahlung im Hinblick auf diese Benachteiligung durch die Währungsentwicklung oder aber eine Verzinsung ins Auge zu fassen, jedenfalls dann, wenn sich herausstellen sollte, daß die letzten Anspruchsteller nicht bis 1975 befriedigt werden können.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich glaube, daß man auch die Frage nach einer Verzinsung nicht isoliert beantworten kann, sondern daß hier ganz prinzipielle Fragen aufgeworfen worden sind.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Bundesminister, da die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Kiechle sicherlich eine sehr umfangreiche Beantwortung erfordert, würde ich vorschlagen, daß wir die Fragen des Herrn Abgeordneten Kiechle des Herrn Abgeordneten Milz und des Herrn Abgeordneten Dr. Schulz ({0}) zunächst in der ersten Beantwortung verbinden, wenn dies aus Ihrer Sicht möglich erscheint.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, ich bin dafür sehr dankbar; natürlich könnte ich sehr kurz die beiden in der Frage des Herrn Kiechle enthaltenen Einzelfragen beantworten, die erste mit Nein und die zweite mit Ja. Aber ich glaube, daß. im Interesse der Aufklärung des Sachverhalts eine Gesamtdarstellung nützlich ist.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das war das Ziel meines Vorschlags. Ich habe gesehen, die Herren Fragesteller sind alle damit einverstanden. Daher rufe ich die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Kiechle, die Fragen 38 und 39 des Herrn Abgeordneten Milz sowie die Frage 40 des Herrn Abgeordneten Dr. Schulz ({0}) gemeinsam auf: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Verhinderung des Moderators Löwenthal vom Zweiten Deutschen Fernsehen durch Sicherheitsorgane des Bundes bei seinem Versuch, den Staatspräsidenten der Republik Vietnam zu interviewen, ein Verstoß gegen die im Grundgesetz gewährleistete Pressefreiheit ist, und wird die Bundesregierung in Zukunft dafür sorgen, daß auch Journalisten, die ihr kritisch gegenüberstehen, umbehindert ihre Informationspflicht erfüllen können? Ist der Bundesregierung bekannt, daß Herr Löwenthal ({1}), Herr Koch ({2}) und der französische Journalist Pierre Roelandts von Sicherheitsorganen des Bundes daran gehindert wurden, ein Interview mit dem südvietnamesischen Staatspräsidenten van Thieu zu machen, obwohl hierzu die Genehmigung des Präsidenten van Thieu und des Bundespresseamts vorlag, und welche Gründe lassen sich hierfür angeben? Sieht clie Bundesregierung darin eine unerlaubte Einschränkung des freien Journalismus, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, das Grundrecht der Meinungsfreiheit und der öffentlichen Information uneingeschränkt zu gewährleisten? Trifft es zu, daß ein Vertreter des Nachrichten-Magazins des Zweiten Deutschen Fernsehens „von höchster Stelle" daran gehindert wurde, den südvietnamesischen Staatspräsidenten van Thieu vor dessen Abflug zu interviewen, und wenn ja, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um in Zukunft einen so flagranten Verstoß gegen Artikel 5 des Grundgesetzes zu unterbinden, und wer war in dem genannten Fall der Verantwortliche der „höchsten Stelle"? Herr Bundesminister, Sie haben das Wort zur Beantwortung.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Es lagen Hinweise auf eine erhebliche Gefährdung für den vietnamesischen Staatspräsidenten bei seinem Besuch in Bonn vor. Das Bundesministerium des Innern hat deshalb am 9. April 1973 im Benehmen mit dem Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen die Sicherheitsstufe 1 - d. h. die höchste Sicherheitsstufe - festgelegt. Bei Vorliegen einer erheblichen Gefährdung, wie sie hier gegeben war, wird auch die Begegnung der Presse mit dem Staatsgast nach einem vorher genau festgelegten Programm und in dem vorher genau festgelegten Umfang zugelassen. Das ist erforderlich, damit die für die Sicherheit eines Staatsgastes verantwortlichen Dienststellen des Bundes und der zuständigen Bundesländer in der Lage sind, alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Aus diesem Grunde hat der bei der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes im Einsatzstab für den Personenbegleitschutz tätige Beamte am 9. April 1973 - also am Tage vor dem Besuch - so, wie das in allen vergleichbaren Fällen bei Staatsbesuchen und anderen Besuchen üblich ist, beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung nachgefragt, ob im Rahmen des Besuchs auch eine Zulassung von Journalisten beim An- und Abflug des Gastes auf dem militärischen Teil des Flughafens Köln/Bonn vorgesehen sei. Das Presse- und Informationsamt erteilte die Auskunft, daß eine Zulassung von Journalisten auf dem Flugplatz nicht vorgesehen sei. Nach einer mir für die Vorbereitung der Fragestunde zugegangenen Stellungnahme des Presse-und Informationsamts beruhte diese am 9. April 1973, 16.20 Uhr gegebene Auskunft darauf, daß bis dahin weder die Botschaft noch Journalisten um eine Begegnung des Staatspräsidenten mit Journalisten auf dem Flughafen nachgesucht hatten. Daraufhin hat die Sicherungsgruppe noch am 9. April 1973 die mit dem unmittelbaren Personenschutz betrauten Beamten der Sicherungsgruppe sowie das für die Sicherheitsmaßnahmen im übrigen, also auch auf dem Flugplatz, verantwortliche Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen darüber unterrichtet, daß Journalisten auf dem Flugplatz nicht zugelassen seien. Dies entsprach dem in allen vergleichbaren Fällen üblichen Verfahren. Die jeweiligen Sicherungsmaßnahmen für Staatsgäste, eingeschlossen ihre Begegnung mit der Presse, regeln sich nach der Polizeivorschrift 130, „Vorschrift für den Einsatz der Polizei bei Staatsbesuchen und sonstigen Besuchen". Die Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes und das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen waren bei der Vorbereitung der Sicherheitsvorkehrungen auf dem Flugplatz von der Mitteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung ausgegangen, daß Journalisten auf dem Flugplatz nicht zugelassen seien. Über den Eingang von Gesprächswünschen von Journalisten mit dem Staatspräsidenten und deren Behandlung hat mir der Chef des Presse- und Informationsamtes folgendes mitgeteilt. Ich zitiere jetzt wörtlich: Erstens. Am Abend des 9. April 1973 rief mich Herr Löwenthal gegen 19.00 Uhr in meinem Büro an, um mir mitzuteilen, daß er die Absicht habe, Staatspräsident Thieu während seines Aufenthalts in Bonn am darauffolgenden Tag zu interviewen. Herr Löwenthal erbat meine Mitwirkung, daß ein solches Interview zustande komme. Ich sagte ihm Unterstützung im Rahmen des Möglichen zu und bat ihn, mit ,dem BPA in dieser Frage am 10. April in Verbindung zu bleiben. Zweitens. Am Vormittag des 10. April meldete sich Herr Koch vom Springer-Inland-Dienst mit einer gleichen Bitte; ein französischer Journalist schloß sich dem Wunsch an. Drittens. Meine Mitarbeiter haben daraufhin auf meinen Wunsch die in Bonn sich bietenden Möglichkeiten für solche Interviews geprüft und sind dabei nach telefonischen Kontakten zu folgendem Ergebnis gelangt: Da Staatspräsident Thieu seine Botschaft in Bonn nicht aufsuchen wollte, entfiel dieser Ort für die Interviews. Im Bundespräsidialamt waren zwar Journalisten und Aufnahmen von Photos zugelassen, jedoch konnten die drei Interviews dort nicht stattfinden. Es ist nicht üblich, daß fremde Staatsoberhäupter im Hause des Herrn Bundespräsidenten Interviews geben. Auf dem Hubschrauberlandeplatz hinter dem Bungalow des Bundeskanzlers war die von den Journalisten angestrebte Begegnung mit dem Staatspräsidenten ebenfalls nicht möglich. Viertens. Am Vormittag desselben Tages, dem 10. April, hatte das BPA die Sicherheitsbehörden auf dem Flugplatz davon in Kenntnis gesetzt, daß keine Journalisten zugelassen werden, weil - bis zu dieser Stunde -- keine Wünsche nach Berichterstattung über Ankunft oder Abflug oder gar Interviews vorgelegen hatten. Fünftens. Nachdem sich herausstellte, daß für die drei Interviewsuchenden in Bonn keine Gelegenheit für ein Gespräch mit dem Staatspräsidenten gegeben war, wies ich meinen für Rundfunk- und Fernsehfragen zuständigen Referenten, Ministerialrat Dr. Freibüter, an, sofort nach Wahn zu fahren, um dort die nötigen Vorkehrungen für diese Interviews zu treffen und die Sicherheitsbehörden davon zu verständigen. Zugleich wurden die Herren Löwenthal, Koch und der französische Korrespondent davon unterrichtet, daß das BPA sich bemühen werde, Gesprächsmöglichkeiten zu erwirken. Sechstens. Auf dem Flugplatz angekommen, schalteten nach dem Bericht meiner Mitarbeiter die dortigen Sicherheitsbeamten zunächst den Polizeipräsidenten von Köln und dann das Innenministerium in Düsseldorf ein. Letzteres sah sich offenbar nicht in der Lage, den Bemühungen von Ministerialrat Freibüter und den Sicherheitsorganen in Wahn zum Erfolg zu verhelfen. Der Mitteilung des Leiters des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung ist aus der Sicht der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes folgendes hinzuzufügen: Am Vormittag des 10. April 1973 verständigte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung die Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts davon, daß die Zulassung von Journalisten, darunter auch von Herr Löwenthal, auf dem Flugplatz Köln/ Bonn gewünscht werde. Das Presse- und Informationsamt wurde darüber unterrichtet, daß dafür -abweichend von der ursprünglichen Planung - Vorbereitungen notwendig seien, die infolge der Festlegung der Sicherheitsstufe 1 getroffen werden müßten. Das Presse- und Informationsamt war in diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, alle Namen und die Zahl der Personen, für die der Zutritt gewünscht wurde, zu nennen, insbesondere nicht die Namen des technischen Hilfspersonals. Da auf dem Flugplatz die Verantwortung allein bei den Polizeiorganen des Landes Nordrhein-Westfalen lag, wurde angeregt, daß sich das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung unmittelbar mit dem örtlichen Einsatzleiter in Verbindung setzen möge. Unabhängig davon unterrichtete die Sicherungsgruppe selber die örtliche Einsatzleitung. Der örtliche Einsatzleiter wies den Vertreter der Presse- und Informationsamts, nachdem dieser seinen Wunsch vorgetragen hatte, darauf hin, daß er zunächst seinen Behördenleiter von der veränderten Sachlage in Kenntnis setzen müsse. Dem Bundesministerium des Innern liegt der 14 Seiten lange Erfahrungsbericht vor, den der örtliche Einsatzlejter der nordrhein-westtalischen lisch en Polizei am 12. April 1973 abgegeben hat. Aus diesem ergibt sich der Ablauf der Geschehnisse auf dem Flugplatz Köln/Bonn im einzelnen. Daraus wird deutlich, daß sich sowohl das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung wie auch die Sicherungsgruppe Bonn um den Zugang für die Journalisten bemüht hat. Ebenso deutlich wird aber auch, daß der örtliche Einsatzleiter mit großer Umsicht und mit großem Verantwortungsbewußtsein die bestehenden Sicherheitsanordnungen, die sich auch auf die Auskunft des Presse- und Informationsamts vom Vortrage gründeten, die gegebene Sicherheitslage, insbesondere die nach den Gewalttaten in Bonn drohenden Gefahren, und den Wunsch nach Zugang von Journalisten gegeneinander abgewogen hat und aus seiner, in keiner Weise zu beanstandenden Sicht zu dem Ergebnis gekommen ist, daß er in diesem Zeitpunkt eine Änderung der vorher festgelegten Sicherheitskonzeption nicht mehr zulassen könne. Er erklärt dazu - ich zitiere ihn jetzt wörtlich -, daß unsere gesamte Sicherheitsplanung auf das Nichtvorhandensein von Presseleuten abgestellt sei. Er hat weiter, wie sich aus seinem Bericht ergibt, auch die Auswirkung einer Zulassung von Herrn Löwenthal auf die Interview wünsche anderer Journalisten mit in Betracht gezogen. Der Beamte befand sich mit seiner Entscheidung auch in Übereinstimmung mit der Auffassung des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen. Offensichtlich haben bei den Entscheidungen aller Beteiligten die Ereignisse in Bonn und die Befürchtung eine Rolle gespielt, daß ein Teil der Demonstranten, die sich mit Omnibussen wahrscheinlich in Richtung Flughafen in Marsch gesetzt hatten, versuchen könnten, auch auf dem Flugfeld gegen den Besuch des Staatsgastes zu protestieren. Es muß schließlich bedacht werden, daß entgegen den ursprünglichen Vorstellungen auch etwa 100 südvietnamesische Staatsangehörige auf das Flugfeld gelangt waren, wodurch eine für die örtlichen Sicherheitsorgane unvorhergesehene Situation entstanden war. Interessant für die Einschätzung des Sicherheitsrisikos durch die eigenen Sicherheitsbeamte des Staatsgastes ist die Feststellung in dein Erfahrungsbericht vom 12. April 1973, die ich wörtlich zitieren möchte: Die Verhandlung des Herrn Löwenthal mit vietnamesischen Sicherheitsbeamten hatte lediglich den Erfolg, daß der Journalist abgedrängt wurde. Herr Löwenthal wollte zu dem Staatsgast in die Maschine. Das verhinderten die Sicherheitsbeamten der Vietnamesen. Aus dem Bericht ergibt sich weiter, daß die Besorgnisse um die Sicherheit des Staatsgastes offensichtlich auch von dem vietnamesischen Botschafter geteilt wurden, der bemüht gewesen sei, einen Abstand zwischen dem Staatspräsidenten und seinen Landsleuten herzustellen. Ähnliche Besorgnisse sind nach dem Bericht auch von dem anwesenden Vertreter des Auswärtigen Amtes geäußert worden. Ich bin gern bereit, nach Einholung der Zustimmung des Landes Nordrhein-Westfalen Ihnen, Herr Abgeordneter, den sehr ausführlichen Erfahrungsbericht zur Einsicht zur Verfügung zu stellen, der sich allerdings aus anderen Gründen nicht zur Veröffentlichung im ganzen eignet. Ergänzend füge ich weiter hinzu, daß am 10. April 1973 gegen 16 Uhr, etwa eine Stunde, bevor der Staatspräsident seine Maschine bestieg, Herr Löwenthal in einem Telefongespräch mit dem Leiter des Ministerbüros im Bundesministerium des Innern um Unterstützung für die Aufnahme eines Interviews mit Staatspräsident Thieu bat, da ihm der Zutritt zum militärischen Teil des Flugplatzes vom örtlichen Einsatzleiter verwehrt werde. Der Leiter des Ministerbüros sagte zu, daß er sich unterstützend an die nordrhein-westfälischen Behörden wenden wolle. Es gelang ihm zwar nicht, den im Polizeipräsidium Bonn anwesenden Staatssekretär des Innenministeriums NRW zu sprechen, wohl jedoch den Pressesprecher des Polizeipräsidiums zu erreichen und ihm den Wunsch vorzutragen. Um 16.25 Uhr rief Herr Löwenthal erneut an und fragte bei einem anderen Beamten des Ministerbüros, wie weit die Sache gediehen sei. Er wurde daraufhin über den Sachstand der Bemühungen unterrichtet. Während des Telefongesprächs erklärte Herr Löwenthal plötzlich, jetzt komme Bewegung in die Wartenden, damit sei offenbar auch der Zutritt für ihn geregelt, so daß wohl alles in Ordnung sei. Er bat nur, ihm vorsorglich die Telefonnummer des Polizeipräsidenten in Bonn mitzuteilen. Daraufhin hat das Ministerbüro des Bundesministeriums des Innern seine Bemühungen eingestellt. Angesichts dieser Sachlage verneine ich Ihre Frage, Herr Abgeordneter, ob die Verhinderung des Moderators Löwenthal vom Zweiten Deutschen Fernsehen durch Sicherheitsorgane des Bundes bei einem Versuch, den Staatspräsidenten der Republik Vietnam zu interviewen, ein Vorstoß gegen die im Grundgesetz gewährleistete Pressefreiheit sei. Die Verneinung gründet sich auf die von mir gegebene Sachdarstellung und deren rechtliche Würdigung, insbesondere auf Art. 5 Abs. 2 GG. Zu Ihrer zusätzlichen Frage erkläre ich: Die Bundesregierung betrachtet es als ihre Aufgabe, dem Grundrecht des Art. 5 GG jederzeit und gegenüber jedermann Geltung zu verschaffen. Ich weise deshalb die in Ihrer weiteren Frage liegende Unterstellung mit Entschiedenheit zurück. Ich bitte Sie, Herr Abgeordneter, im übrigen bei der Würdigung der Maßnahmen der Sicherheitsorgane des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen zu berücksichtigen, daß nur ganz kurze Zeit für die Vorbereitung des Besuchs zur Verfügung stand und daß die Änderungswünsche vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung die Behörden angesichts der Gefährdung des Staatsgastes vor außerordentliche Schwierigkeiten stellten. Ich bitte Sie weiterhin um Verständnis dafür, daß der örtliche Einsatzleiter ebenso wie das ihm vorgesetzte Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen die Sicherheit des Staatsgastes absolut mit Priorität behandeln mußte.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Nun kommen wir zu den zusätzlichen Informationswünschen aus dem Hause. Herr Kollege Kiechle, eine Zusatzfrage.

Ignaz Kiechle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001091, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, hätte nicht, da nach Ihren Auskünften der Bundesbehörde auch schon am Vortage bekannt war, daß ein Interview durch Journalisten aus Sicherheitsgründen auf dem Flugplatz nicht in Frage komme, eine Verpflichtung bestanden, Journalisten - ganz gleich, welcher Art - eine Möglichkeit für solche Interviews außerhalb des Flugplatzes zu verschaffen und zu sichern?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, Sie haben dem Zitat mit der Erklärung des Chefs des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung entnehmen können, wie sehr er sich um eine solche Möglichkeit bemüht hat und daß er offensichtlich auch davon ausging, eine solche Begegnung werde am nächsten Morgen in der Bundeshauptstadt möglich sein. Ich bitte zu bedenken, daß sich bei aller Planung für den Ablauf solcher Besuche sehr häufig noch Änderungen ergeben. Es gehört zum Alptraum aller an der Vorbereitung solcher Besuche beteiligten und für die Sicherheit verantwortlichen Behörden, was an solchen Sonderwünschen und auch Änderungen im Programm entstehen mag. Ich habe zur Zeit auch einen solchen Alptraum.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Ignaz Kiechle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001091, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, haben Sie Verständnis für meine Auffassung, daß angesichts der Versicherung, die Sie eben abgegeben haben, die Bundesregierung werde das Recht auf Pressefreiheit überall, jederzeit und unter allen Umständen sichern, die Bemerkung des beamteten Sprechers der Bundesregierung, Pressefreiheit könne sicherlich nicht auf jedem einzelnen Quadratmeter der Bundesrepublik stattfinden, reichlich deplaziert war?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich glaube, Sie müssen die Erklärung des Sprechers der Bundesregierung dahin gehend verstehen, daß er - mit Recht - sagen wollte, Sicherheitsgründe könnten sehr wohl dafür sprechen, daß nicht an jedem Platz eine Begegnung mit Journalisten möglich ist. Das ist eine Erfahrung, die wir bei jedem Besuch machen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Milz.

Peter Milz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001511, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, gehe ich recht in der Annahme, daß die Sicherheitsbestimmungen insofern unterschiedlich gehandhabt worden sind, als dieses Interview verhindert wurde, bei den Besuchen aber etwa des israelischen Außenministers, de Gaulles und Kennedys die gleiche Sicherheitsstufe angeordnet war und trotzdem allen Journalisten ausreichend Möglichkeiten geboten wurden, diese Staatsgäste zu interviewen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, Sie gehen nicht recht in Ihrer Annahme, und zwar deshalb nicht, weil einmal bei der Vorbereitung der von Ihnen genannten Besuche wesentlich mehr Zeit zur Verfügung stand und zum anderen, was noch entscheidender ist, sich die von Ihnen genannten Besucher nicht nur ganz kurzfristig, sondern für längere Zeit in der Bundeshauptstadt und sich vor allen Dingen auch außerhalb der Räume des Herrn Bundespräsidenten und der Räume in den umliegenden Gebäuden aufgehalten haben.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage.

Peter Milz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001511, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ist es richtig, wenn ich feststelle, daß Äußerungen von Sicherheitsbeamten, sie handelten auf höchste Weisung, deshalb in hohem Maße gefährlich sind, weil dadurch auch die Transparenz der Entscheidungen, hier bezogen auf die Presse, nicht mehr gewährleistet ist, und daß wir alle uns bemühen sollten, Aussagen wie die, auf höchste Weisung zu handeln, möglichst zu unterlassen?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, wir müßten uns darüber verständigen, was Sie mit „höchster Weisung" meinen. Wenn ein Polizeibeamter mit der Erklärung, er handele auf höchste Weisung, zum Ausdruck bringen will, daß über die Sicherheitsmaßnahmen eine Entscheidung seines Ministers, in diesem Falle des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, vorliege, halte ich das nicht für eine gefährliche, sondern für eine zutreffende und korrekte Äußerung. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Sie haben eine weitere Zusatzfrage. Bitte!

Peter Milz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001511, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß der so antwortende Beamte dann auch die Stelle nennen muß, die ihm diese Weisung erteilt hat?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, es gibt für den Polizeibeamten als höchste vorgesetzte Stelle nur den Innenminister. Der Betreffende hat offenbar vorausgesetzt, daß alle, die das hörten, dies wußten. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Dr. Schulz ({0}), eine Zusatzfrage?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, ich sollte erst die Grundfrage des Herrn Abgeordneten Schulz beantworten, die Sie bereits mit aufgerufen hatten. Die Antwort ist kurz. Sie lautet: Aus Ihrer Frage, Herr Abgeordneter, ist nicht erkennbar, wen Sie mit „höchster Stelle" meinen. Ich muß Sie im übrigen auf die dem Herrn Abgeordneten Kiechle gegebene Antwort verweisen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Dr. Klaus Peter Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der Tat, Herr Bundesminister, so ist es; das wollte ich gern von Ihnen wissen. Aber sind Sie nicht der Auffassung, daß ein eigenartiger und für die Öffentlichkeit peinlicher Widerspruch darin liegt, daß die Durchschlagskraft der an diesem Tag getroffenen Sicherungsmaßnahmen dazu ausreichte, das Interview dreier demokratisch legitimierter Journalisten mit dem Staatspräsidenten von Vietnam zu unterbinden, nicht aber dazu, am gleichen Tage die Stürmung und Plünderung des Bonner Rathauses durch Terroristen zu verhindern?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, ich bin sicher, daß Sie mit mir einer Meinung sind, daß die Sicherheit eines Staatsgastes zur Wahrung des Gastrechtes die absolute Priorität hat. Ich möchte deshalb jede Kritik an der Entscheidung des örtlichen Einsatzleiters auf dem Flughafen Köln/Bonn ausdrücklich und noch einmal mit Entschiedenheit zurückweisen. Es ist unzulässig, ein Verhältnis herzustellen zwischen den Gewalttaten am Bonner Rathaus und den Sicherungsmaßnahmen dort. Wir haben schon bei anderer Gelegenheit - insbesondere der Herr Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen im dortigen Landtag - dargelegt, welche Gründe dafür maßgebend gewesen sind, daß diese Gewalttaten in Bonn nicht verhindert werden konnten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Klaus Peter Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, darf ich noch einmal auf den bereits erwähnten Brief des stellvertretenden Sprechers der Bundesregierung an den Deutschen Presserat zurückkommen. Herr Dr. Grünwald hat geschrieben - ich zitiere -: Pressefreiheit kann sicherlich nicht auf jedem einzelnen Quardratmeter der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, schon gar nicht in Fällen derartigen Sicherheitsrisikos. Auf das Sicherheitsrisiko sind Sie schon eingegangen, aber das war eine Hervorhebung. Herr Dr. Grünwald hat geschrieben: „Pressefreiheit kann Dr. Schulz ({0}) sicherlich nicht auf jedem einzelnen Quadratmeter der Bundesrepublik Deutschland stattfinden". Ich möchte Sie fragen, auf welchem Quadratmeter der Bundesrepublik - ausgenommen die Persönlichkeitssphäre, die sowieso nicht nach Quadratmetern zu messen ist die Pressefreiheit unter Umständen nicht stattfinden kann und wer dafür die Verantwortung trägt.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Abgeordneter, Pressefreiheit findet selbstverständlich auf jedem Quadratmeter der Bundesrepublik Deutschland statt. Der Sprecher der Bundesregierung hat das ja auch nicht so ausdrücken wollen, wie Sie es jetzt verstehen. Er hat zum Ausdruck bringen wollen, daß sehr wohl Hinderungsgründe dafür vorliegen können, daß der Zugang aus bestimmten Anlässen nicht möglich ist, wie es z. B. hier der Fall war. Im übrigen wird Ihnen selbst bekannt sein, Herr Abgeordneter, daß z. B. in diesem Raum, in dem wir uns befinden, ein Abgeordneter auch nicht durch einen Journalisten interviewt werden kann, ohne daß man sagen könnte, auf diesem Gebiet sei die Pressefreiheit nicht vorhanden. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, könnte die Tatsache, die von Ihnen erwähnt wurde, daß die vietnamesischen Sicherheitsbeamten den Herrn Moderator Löwenthal am Betreten des Flugzeuges gehindert haben, nicht auch darauf zurückzuführen sein, daß Herr Löwenthal bekanntermaßen meistens bewaffnet herumläuft? ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Das glaube ich nicht, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka; es ist die letzte.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, können Sie dem zustimmen, daß bei den betreffenden und betroffenen Journalisten der subjektive Eindruck entstehen mußte, sie würden in der Ausübung ihrer Informationspflicht behindert?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich kann mir das eigentlich schon deshalb nicht vorstellen, Herr Abgeordneter, weil z. B. Herr Löwenthal aus den Bemühungen des Leiters meines Ministerbüros entnommen hat, daß die Bundesregierung mit außerordentlicher Intensität darum bemüht war, ihm ein solches interview zu ermöglichen. Dasselbe gilt bekanntlich für die Bemühungen des Chefs des Presse- und Informationsamtes und des von ihm dafür eigens dorthin entsandten Beamten und schließlich auch hinsichtlich der verständnisvollen Haltung des örtlichen Einsatzleiters, der in vielfältiger Weise versucht hat, doch noch eine andere Entscheidung zu ermöglichen. Ich habe bereits auf die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Erlahrungsbericht hingewiesen. Ich muß noch einmal sagen, Herr Abgeordneter-, daß die Bundesregierung hier mit allem Nachdruck feststellt, daß sie für die Garantie der Pressefreiheit allerorts eintritt. Sie befindet sich hier in voller Übereinstimmung mit der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Außerdem muß ich aber auch sagen, daß die Sicherheitsmaßnahmen für im höchsten Grade gefährdete Staatsgäste sehr häufig eine Einschränkung der Zugangsmöglichkeiten erforderlich machen, dies insbesondere dann, wenn eine Änderung der ursprünglich vorgesehenen Planungen erforderlich ist. Ich glaube, man sollte die Redlichkeit der Motive, die die zuständigen Sicherheitsbehörden veranlaßt haben, sich so und nicht anders zu verhalten, nicht durch eine vordergründige Kritik in Zweifel ziehen. Wir würden sonst unsere Polizeibeamten in ihrer vertrauenswürdigen Haltung verunsichern. ({0}) .

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Ich rufe die Fragen 41 und 42 des Herrn Abgeordneten Biechele auf. Der Fragesteller bittet um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Damit ist die Zeit für die Fragestunde abgelaufen. Wir nehmen die unterbrochene Beratung des Punktes 3 a, b, c, d in Verbindung mit den Punkten 4 bis 9 wieder auf. Das Wort zur Begründung des Antrags auf Drucksache 7/561 erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Heck.

Dr. Bruno Heck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000837, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es ist sicher nicht die Regel - der Kollege Müller-Emmert hat schon darauf hingewiesen , daß Regierungsparteien und Opposition im Parlament einander mit je zwei Gesetzentwürfen gegenüberstehen. Aber wir haben es hier ja nicht mit einem Problem zu tun, das man dadurch lösen könnte, daß man pragmatisch vorgeht und den zweckmäßigsten Weg sucht. Wo es um Leben oder Tod von ungeborenem Leben geht, meine Damen und Herren, müssen sich letzte grundsätzliche Überlegungen zwangsläufig mit den Erwägungen kreuzen, die stärker darauf abgestellt sind, die Not zu sehen - zugegebenermaßen die schreckliche Not -, in die Frauen geraten können, die in besonderen Verhältnissen oder unter schrecklichen Umständen schwanger geworden sind. Und mit diesen Fällen haben wir es hier zu tun. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung von den neuen Schnittlinien progressiver und bewahrender Interessen gesprochen. Mir scheint, meine Damen und Herren, daß es in dieser Frage in der Tat darum geht, den Schnittpunkt der Linien richtig auszumachen, die sich vom Grundsätzlichen - das es zu bewahren gilt - und vom Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode Notwendigen her für das es zu reformieren gilt treffen müssen. Eine glatte Lösung, meine Damen und Herren, wird es nicht geben. Es werden so oder so bedrückende Fragen zurückbleiben. Dast gilt auch für den Vorschlag, der Ihnen unter der Drucksache 7/561 vorliegt, den ich hier für eine Gruppe meiner Fraktion zu begründen habe. Ein Kollege meiner Fraktion meinte neulich, wir, die Antragsteller, seien mit diesem Vorschlag, der sich im Grunde auf die medizinische Indikation beschränkt, päpstlicher als der Papst. Nun, so einfach ist es nicht. Wir haben hier etwas anderes zu entscheiden als das, um was es dem Heiligen Vater für die katholische Kirche gehen muß. Wir haben keine moralische Leitlinie für das Gewissen von Gläubigen verbindlich zu verkünden. Wir haben kein „Ja" oder „Nein" zum ungeborenen menschlichen Leben zu sprechen. Das ist doch eigentlich selbstverständlich. Herr von Schoeler, Sie haben so getan, als ob wir das nicht wüßten. Für uns geht es zum einen und in diesem Punkt darum, ob, wann, unter welchen Umständen oder Voraussetzungen und dann, durch wen ungeborenes menschliches Leben durch Abtreibung getötet werden kann, ohne daß die Beteiligten strafrechtlich verfolgt werden. Oder anders gesagt: für welche Frist oder unter welchen Voraussetzungen künftighin der strafrechtliche Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens entfallen soll. Meine Damen und Herren, da es sich hier um ein Töten, wenn auch ungeborenen, aber doch menschlichen Lebens handelt, geht es um Grundsätzliches von allerhöchstem Rang. Da es zugleich um schreckliche Nöte gehen kann, handelt es sich auch, ja sogar vorrangig um die Frage: was können wir tun, was müssen wir tun, wie können wir helfen, diesen werdenden Müttern schwere Gewissenskonflikte zu ersparen? Doch auch wenn wir uns darüber einig sind, daß das Menschenmögliche getan werden muß, um es zu jener ire strafrechtlichen Sinne schrecklichen Frage gar nicht kommen zu lassen, zu der Frage: „Tötenlassen - ja oder nein?", bleibt uns eine Entscheidung zur strafrechtlichen Seite der Regelung dieser Frage nicht erspart. Zu dem Entwurf, den ich zu begründen habe, muß nur folgendes ergänzend gesagt werden; denn weithin hat hier mein Kollege Eyrich dazu in klarer und sachlicher Weise schon gesprochen. Wir sind mit den Kolleginnen und Kollegen, die hinter dem Entwurf der Mehrheit meiner Fraktion stehen, der Überzeugung dies ist hier heute ja auch als allgemeine Überzeugung zum Ausdruck gebracht worden -, daß das ungeborene menschliche Leben grundsätzlich ebenso seinen Anspruch auf das Recht zu leben hat wie das geborene menschliche Leben. Wir sind weiter der Überzeugung, daß der Staat die Pflicht hat, auch das ungeborene menschliche Leben in jeder Weise, auch strafrechtlich, zu schützen. Dieses Recht und diese Pflicht sind auch in dem § 218 des Entwurfs unserer Fraktionsmehrheit anerkannt. Wir meinen nun allerdings, daß diese grundsätzliche Entscheidung folgendes zur Konsequenz hat: Ausnahmen von den Bestimmungen des § 218 sind nach dieser grundsätzlichen Entscheidung dann nur noch im Bereich der Güterabwägung möglich, d. h. nur in den Fällen, in denen es darum geht, eine Gefahr für das Leben der Schwangeren oder die Gefahr eines schweren körperlichen oder psychischen Schadens abzuwenden, sofern diese Gefahr nicht auf eine andere, für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Die Entstehung der Schwangerschaft, die Erwartung des Gesundheitsschadens eines Kindes, körperliche, psychische und soziale Umstände sollen nicht schon für sich allein, sondern nur dann Freiheit von Strafverfolgung begründen, wenn durch solche Umstände dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes eine Gefahr für Leben oder Gesundheit der Mutter gegenübersteht. Darüber hinaus soll der Richter - hier stimmen wir wieder mit dem Vorschlag der Mehrheit unserer Fraktion überein - sowohl die Schwangere als auch den Arzt straffrei stellen können, wenn die Schwangere in außerordentlicher Bedrängnis gehandelt hat. Herr Müller-Emmert, Sie haben bedauert, daß Sie sich mit diesem Entwurf überhaupt befassen müssen. Wo kämen wir eigentlich hin, wenn jede dieser vier Gruppen der anderen sagen würde, wir bedauern, daß wir uns beispielsweise mit Ihrem Gesetzentwurf ({0}) der Fristenregelung überhaupt befassen müssen?! ({1}) Läßt das nicht etwas von dem Respekt vermissen, der doch sonst eigentlich in dieser Debatte bisher zum Ausdruck gebracht wurde, nämlich von dem Respekt vor dem redlichen Bemühen eines jeden einzelnen hier, einer jeden Gruppe, die hinter einem Vorschlag steht, eine schwierige Frage, ein schwieriges Problem in Übereinstimmung dessen, was zweckmäßig, was notwendig erscheint, mit dem Grundsätzlichen einer Lösung entgegenzuführen? Herr Müller-Emmert, Sie haben zur Begründung dieses Ihres Bedauerns lediglich erklärt, daß dieser Vorschlag ja nicht mehr als eine Kodifizierung dessen bringe, was zur Zeit strafrechtlich praktiziert werde. Das mag sein; aber das ist doch noch kein Argument. Ich wünsche mir - dafür ist hier jetzt allerdings nicht der Raum --, daß im Ausschuß Argument für Argument ausgetauscht wird. Ich werde mir erlauben, Ihnen dort zu Ihren Entwürfen die Fragen zu stellen, mit denen ich bislang nicht fertiggeworden bin, und ich bitte Sie, Ihre Fragen auch an uns zu richten. Aber das setzt natürlich voraus, daß wir uns zunächst gegenseitig den notwendigen Ernst in unseren Auffassungen und das notwendige Verantwortungsbewußtsein konzedieren. Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber im klaren, daß unser Vorschlag Staat und Gesellschaft im sozialen und gesundheitspolitischen Bereich eher mehr als weniger zur Übernahme von Verantwortung herausfordert als die anderen drei Entwürfe, da er den in Not geratenen schwangeren Frauen gegenüber um der Achtung vor dem Leben willen bis an die Grenze des Zumutbaren geht. Glauben Sie uns, daß wir uns dessen voll und ganz bewußt sind. Wir sind davon überzeugt, daß das 1798 Deutscher Bundestag - '7. Wahlperiode Dr. Heck Töten ungeborenen menschlichen Lebens durch Abtreibung als Ausweg aus der Not vom Staat nicht freigegeben werden sollte. Unabhängig davon gilt - ich hoffe es wenigstens - für uns alle das, was der Fraktionsvorsitzende der SPD vor wenigen Tagen gesagt hat. Hier stimmen wir mit ihm überein: auf dem sozialen und gesundheitspolitischen Gebiet muß in der Tat alles getan werden, was geeignet ist und was mithelfen kann, den werdenden Müttern die schweren Gewissenskonflikte zu ersparen. Wir sind uns auch darüber einig, daß dieser Teil der Reform der wichtigere ist. Ein Letztes. Wir sollten davon ausgehen - ich wiederhole es -, daß wir uns alle um die bestmögliche Regelung bemühen, und zwar auch dort, wo unsere Vorstellungen derzeit stark auseinandergehen. Wir müssen - das gilt vor allen Dingen für die Arbeit in den Ausschüssen, und das hat auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Wehner, gefordert - für jede Diskussion nicht nur mit den Kirchen, sondern auch zwischen den Fraktionen in diesem Hause offen sein. ({2}) Ich wiederhole es, Herr Wehner: in dieser Haltung stimmen wir mit Ihnen und sicherlich auch mit Ihrer Fraktion überein. Wir müssen zumindest mit allen Kräften um eine Regelung ringen, die den Riß zu überbrücken versucht, der in dieser Frage in unserem Volk sichtbar geworden ist. ({3})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat Herr Bundesminister Jahn.

Gerhard Jahn (Minister:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reform der strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch ist dringlich. Die Bundesregierung steht deshalb auf der Seite derer, die eine wirksame und glaubwürdige Reform des geltenden Rechts wollen. Sie hat von der Vorlage eines eigenen Entwurfs abgesehen. Die heute hier zu beratenden Vorlagen aus der Mitte der Koalitionsfraktionen waren bereits in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 18. Januar 1973 angekündigt. Natürlich steht hinter dieser Entscheidung auch die Tatsache, daß die Auffassungen innerhalb der Bundesregierung darüber unterschiedlich sind, welche der vorgeschlagenen Regelungen gewählt werden soll. Auch für die Mitglieder der Bundesregierung gilt, daß in dieser Frage jeder nur nach seinen eigenen persönlichen Überzeugungen entscheiden kann. Deshalb spreche ich heute nicht im Namen der Bundesregierung; ich nehme aus meiner Verantwortung als Bundesminister der Justiz Stellung, und ich beschränkte mich mit Rücksicht auf die Dauer dieser Debatte darauf, einige grundsätzliche Überlegungen beizusteuern, ohne alles das, was in der Sache nach meiner Überzeugung gesagt werden müßte, zum Gegenstand meines Beitrages von dieser Stelle zu machen. Wenn es nicht mehr darum geht, Meinungen kundzutun, sondern wenn, wie hier, die endgültige Entscheidung des Deutschen Bundestages eingeleitet wird, dann verbieten sich extreme Positionen. Seit ich vor drei Jahren die Forderung nach der Reform des § 218 erhoben habe, sind solche extremen Positionen im Übermaß bezogen worden. Sie haben der Sache wenig genützt. Das gilt für diejenigen, die sich der Reform mit der Denunziation entgegenstellen, sie sei Vorbereitung zum Mord. Das gilt aber auch für diejenigen, die den Anhängern einer sozial gestalteten Indikationsregelung vorwerfen, sie wollten keine echte Reform, sie setzten sich über die Belange der Frauen hinweg oder seien Gegner der Emanzipation der Frau. Uns helfen auch jene Gruppen in der Gesellschaft nicht, die jetzt mit starken Worten und falschen Argumenten gegen die Fristenregelung die Gefühle der Menschen herausfordern. ({0}) Es sind dieselben, die gestern noch mit den gleichen Argumenten jede Reform verhindert haben. Sie machen sich daher selbst unglaubwürdig. Ihnen muß in aller Klarheit gesagt werden: Die Heftigkeit, mit der manche Forderung nach Reform heute erhoben wird, drückt doch nur den berechtigten Unmut darüber aus, daß durch Jahrzehnte hindurch eine Strafvorschrift aufrechterhalten worden ist, die unmenschliche Auswirkungen zeigt, wo Verständnis, Hilfe und Menschlichkeit geboten sind. ({1}) Was wäre unzähligen Frauen und Familien in vergangenen Jahrzehnten erspart geblieben, hätte die Mehrheit des Parlaments schon früher den Willen und die Kraft zur Reform aufgebracht! Es wäre gut gewesen, wenn sich dazu die breite Zustimmung aller gesellschaftlichen Kräfte gefunden hätte. Die Heftigkeit der öffentlichen Auseinandersetzung um die Reform einer Bestimmung des Strafrechts verdunkelt auch die Tatsache, daß wir es eigentlich mit einer viel weiterreichenden grundsätzlichen gesellschaftlichen Frage zu tun haben. In Wahrheit richtet sich der Protest doch dagegen, daß ein Problem, dessen Ursachen von einer Fülle menschlicher und sozialer Umstände bestimmt sind, durch eine Verbotsnorm geregelt wird, die einseitig zu Lasten der Frau geht. Der eigentliche Mißstand besteht nicht in dieser oder jener Fassung des § 218, sondern darin, daß es so viele unerwünschte Schwangerschaften gibt. Dieser Mißstand läßt sich durch keine Reform strafrechtlicher Vorschriften überwinden, er verlangt vielmehr nach einem umfassenden Angebot gesundheitlicher und sozialer Leistungen, die es bisher in unserer Gesellschaft nicht gibt. Hier liegen die eigentlichen Aufgaben der Reform. Die jetzt vorgelegten sozialpolitischen Verbesserungsvorschläge sind deshalb zu begrüßen. Sie sollten in der weiteren Reformdiskussion einen hervorragenden Platz einnehmen. Aber wir sollten uns in Zukunft auch darauf verständigen können, daß hier weiterhin ein Schwerpunkt aller gesellschaftsBundesminister Jahn politischen Anstrengungen liegen muß. Dem Strafrecht kommt demgegenüber nur eine nachgeordnete Aufgabe zu. Die sofortige Reform des § 218 StGB wird dadurch nicht entbehrlich. Aber sie wird überzeugender, wenn sie nur als Teil der eigentlichen Reformaufgabe begriffen wird und wenn wir sie in unsere Gesamtbemühungen einordnen. Diese Feststellungen sind unerläßlich. Sie machen klar, daß die Forderung, Leben mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen, nur unvollkommen verwirklicht werden kann. Das Strafrecht ist die letzte und härteste Waffe des Staates. In der grundlegenden Erörterung unserer Zeit über die Aufgaben, Möglichkeiten und Ziele der Strafrechtsreform stehen wir hier vor einer der Kernfragen: Wie können wir zuverlässige Richtpunkte für diesen Teil unserer Rechtsordnung finden? Eigene sittenbildende Kraft kommt dem Strafrecht nicht zu. In unserer offenen Gesellschaft muß Raum für alle Überzeugungen sein. Die sittliche Verantwortung des einzelnen muß sich frei entfalten können. Die Vielfalt sittlicher Grundentscheidungen aber weist der staatlichen Rechtsordnung eindeutig ihren Standort zu. Sie kann nur jene Grundentscheidungen verbindlich machen, auf die sich das Einverständnis aller Bürger richtet. So klar diese Formel erscheint, so schwierig erweist es sich aber, sie im Einzelfall anzuwenden. Gerade deshalb, weil dieses moderne Verständnis unseres Strafrechts den Raum eigener Verantwortung des Bürgers so stark erweitert, muß die Frage nach seiner Abgrenzung zur unverzichtbaren Verantwortung der Gemeinschaft immer wieder mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit gestellt werden. Der allgemein anerkannte Maßstab darf allein die Frage sein, ob ein bestimmtes Verhalten sozialschädlich ist, also einem einzelnen oder der Gemeinschaft Schaden zufügt. Es kann und darf keinen Streit darüber geben, daß in unserem auf die Würde des Menschen verpflichteten sozialen Rechtsstaat das Leben zu den Rechtsgütern gehört, deren Schutz unabdingbar, deren Verletzung also in jedem Fall sozialschädlich ist. Die Glaubwürdigkeit des Strafrechts nimmt Schaden, wenn strafrechtliche Normen geschaffen oder beibehalten werden, die nicht vom Grundsatz der Sozialschädlichkeit ausgehen. Dies ist bei der Reform des Sexualstrafrechts zu bedenken. Die Glaubwürdigkeit des Strafrechts leidet ferner, wenn der Schutz eines Rechtsguts zu Lasten eines anderen in einseitiger Weise absolut gesetzt und der Konflikt zwischen verschiedenen wichtigen Rechtsgütern verkannt wird. Die bisherigen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch sind unglaubwürdig geworden, weil sie diesen Konflikt in ganz unzulänglicher Weise berücksichtigen. Unglaubwürdig und damit für den Rechtsgüterschutz untauglich wird das Strafrecht aber auch dann, wenn die strafrechtlichen Tatbestände so abgegrenzt werden, daß die Umrisse des geschützten Rechtsgutes unklar werden. Wenn sich der Gesetzgeber dafür entscheidet, ein Rechtsgut strafrechtlich zu schützen, dann darf er den Straftatbestand nicht derart fassen, daß der Zweck des Schutzes unbesimmt und damit eine Orientierung der Allgemeinheit an den Rechtsnormen unmöglich gemacht wird. Wenn das Strafrecht eine Handlung als sozialschädlich erkennt und seine Verurteilung für geboten erachtet, geschieht das immer und muß es immer umfassend und grundsätzlich ohne Einschränkung geschehen. Andernfalls käme ein Element von Willkür in unsere Rechtsordnung; sie würde unsicher und unbestimmt. Deshalb schützt das Strafrecht das Eigentum unbeschränkt - vom Pfennig bis zum Millionenwert. Deshalb wird die Freiheit der Person ohne Einschränkung geschützt - für Minuten wie für Jahre. Deshalb muß der Schutz der Ehre ungeteilt sein - ob es sich um leichte oder schwere Kränkungen handelt. Und so wird nicht zuletzt das Leben des geborenen Menschen vom ersten bis zum letzten Atemzug unbedingt geschützt. Diese notwendigen grundsätzlichen Erwägungen machen die Entscheidung darüber, wie die Reform des § 218 gestaltet werden soll, so schwer. Die Debatte verlangt deshalb Nüchternheit. Der Gesetzgeber muß die soziale Wirklichkeit sehen, in die das Recht hineinwirkt. Er muß prüfen, welche Wirkungen von strafrechtlichen Vorschriften ausgehen. Das geltende Recht hält dieser Prüfung nicht stand. Wer an ihm festhält, schreibt den heutigen schlechten Schutz des Lebens fest statt ihn zu verbessern. Es nützt auch wenig, wenn man sich an den traditionellen Begriff der medizinischen Indikation klammert. Die Wirklichkeit zeigt, daß diese Indikation in den verschiedenen Teilen der Bundesrepublik Deutschland ganz unterschiedlich interpretiert wird. An den etwa 5000 legalen Schwangerschaftsabbrüchen, die zur Zeit im Jahresdurchschnitt ausgeführt werden, sind weite Gebiete der Bundesrepublik kaum, andere dagegen überproportional beteiligt. Der Einwand, daß das Indikationensystem die redegewandte Frau bevorzuge, weil sie die Voraussetzungen für eine Indikation besser in Worte fassen könne, hat seine Berechtigung in dem Maße, in dem die Frau darauf angewiesen ist, den Zustand und die Gefährdung ihrer psychischen Gesundheit einem Gutachter darzulegen. Eine Regelung, die die medizinische Indikation durch andere, wirklichkeitsnahe Indikationen ergänzt, kann diesem Einwand besser begegnen. Zu diesen grundsätzlichen Erwägungen des Strafrechts müssen hinzutreten die Fragen, die sich aus dem Grundgesetz für alle Rechtssetzung ergeben. Die Entscheidungen des Strafrechts müssen sich in besonderem Maße an denen des Grundgesetzes ausrichten. Leben und Menschenwürde zu schützen, sind die zentralen Aufgaben des Staates. Diese Grundentscheidung der Verfassung für das Leben muß deshalb weit verstanden und ausgelegt werden. Das bedeutet, daß - unabhängig von dem unsicheren Befund aus den Materialien des Parlamentarischen Rates - der verfassungsrechtlich garantierte Schutz auch das Leben im Mutterleib umfaßt. Individualität und menschliche Prägung eignen auch dem ungeborenen Leben. Wir wissen heute, wie frühzeitig sich im Embryo menschliche Organe und menschliche Funktionen herausbilden. Deswegen lassen sich nach der Nidation Zäsuren während der Schwangerschaft nicht begründen. Das gilt auch für die Dreimonatsfrist. Solche Zäsuren „verfügen" -ich zitiere Ernst-Wolfgang Böckenförde - „im Grunde über das menschliche Leben; indem sie schutzwürdiges von ({2}) nicht schutzwürdigem menschlichen Leben ab- und unterscheiden, machen sie sich zum Herrn über menschliches Leben, statt ihm zu dienen". Wer demnach das ungeborene Leben während der ganzen Schwangerschaft für schutzwürdig hält, beugt sich nicht dem Diktat biologischer Daten. Er achtet vielmehr einen Wert, nämlich die prinzipielle Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. ({3}) Der Grundsatz, daß menschliches Leben um seiner selbst willen schutzwürdig ist und daß es demnach keinen Unterschied zwischen mehr oder weniger wertvollem Leben gibt, schränkt den Ermessensspielraum des Gesetzgebers ein. Während z. B. das Sexualstrafrecht einer Vielfalt ethischer Überzeugungen Raum gewähren soll, muß sich das Recht bei der Reform des § 218 an einer eindeutigen rechtlichen und sozialethischen Wertung orientieren; an der Achtung vor dem Leben in jeder Gestalt. Ebenso wie das ungeborene Leben steht aber auch die Schwangere unter dem Schutz des Grundgesetzes. Nicht nur ihre Gesundheit, auch ihre psychische und soziale Existenz sowie ihr Recht auf persönliche Selbstentfaltung sind Gegenstand des verfassungsrechtlichen Schutzes. Jede gesetzliche Regelung muß sich von der Achtung der Würde der Frau leiten lassen. Dazu gehört insbesondere auch die Anerkennung ihrer Selbstverantwortung und Selbstbestimmung. Beim Schwangerschaftsabbruch geht es daher stets um einen Konflikt zwischen rechtlich geschützten Interessen, ja zwischen Rechtsgütern von höchstem Rang. Jede Regelung ist daran zu messen, ob sie eine Lösung dieses Konflikts ermöglicht, eine Lösung, die auf sachgemäßer Abwägung beruht. Keine Regelung darf von vornherein ein Rechtsgut dem anderen unterordnen. ({4}) Die Frau hat einen Anspruch darauf, daß ihr das Gesetz in schweren Konflikten hilft. Es darf ihr nicht unter Androhung von Strafen Pflichten auferlegen, die im allgemeinen Bewußtsein als unzumutbar erscheinen. Es muß daher notfalls - wenn Abhilfe anders nicht möglich ist den Schwangerschaftsabbruch zulassen. Der Widerstreit der beiden Rechtsgüter würde auch dann einseitig gelöst, wenn der Schwangeren ein freies Verfügungsrecht über das ungeborene Leben eingeräumt würde. Die Existenz des Ungeborenen ist zwar an diejenige der Mutter gebunden. Wenn die Rechtsordnung aber das ungeborene Leben als selbständiges Rechtsgut anerkennt - und anerkennen muß -- dann kann sie die Verantwortung für das ungeborene Leben nicht allein der Mutter überlassen. ({5}) Die Selbstbestimmung findet da ihre Grenzen, wo sie nur auf Kosten des ungeborenen Lebens möglich ist und nicht auf die Lösung eines schweren Konfliktes abzielt. Die Einseitigkeit der Entscheidung des heutigen Rechts würde anderenfalls durch eine Einseitigkeit der Entscheidung im neuen Recht ersetzt. Unsere Verfassung entscheidet sich nicht allein für das Recht auf Leben und die Achtung der Würde des Menschen; sie fordert ebenso in ihrem Bekenntnis zum Sozialstaat soziale Verantwortung und Solidarität. Solidarität bedeutet das Einstehen des einzelnen und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit für die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft. Erst dadurch wird das individuelle Recht auf Leben - auf menschenwürdiges Leben! - sozial unterfangen und praktisch gesichert. Gewiß läßt die Verwirklichung dieser Solidarität in nicht wenigen Bereichen unserer Rechtsordnung noch auf sich warten oder ist doch unzureichend. Aber das kann kein Grund sein, bei der Reform des § 218 dieses Prinzip außer acht zu lassen. Ganz im Gegenteil: Gerade hier muß der Grundsatz der Solidarität tragend und bestimmend sein. Das bedeutet einmal, daß an erster Stelle der Reform soziale und gesellschaftspolitische Maßnahmen stehen müssen. Es bedeutet zum anderen, daß niemand, auch nicht das ungeborene menschliche Leben, von dieser Solidarität ausgeschlossen werden darf. Gustav Radbruch, der noch Anfang der 20er Jahre im Reichstag einen Antrag auf Fristenregelung eingebracht hatte, hat 1932 in Abkehr von seiner früheren Ansicht gesagt - ich zitiere wörtlich -: Ich glaube jetzt, daß die völlige Freigabe der Abtreibung ohne Rücksicht auf das Vorliegen einer Indikation, wenn auch nur innerhalb der ersten drei Monate, ein mehr individualistischer als sozialer Gedanke ist, . . . ({6}) Die Verfassung verlangt den Schutz auch des noch ungeborenen Lebens durch die staatliche Rechtsordnung; sie verlangt ebenso den Schutz der Stellung der Frau, ihres Anspruchs auf Menschenwürde und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Der Verfassungsgeber hat damit zwei Entscheidungen getroffen, an denen sich die gesetzgeberische Regelung zu orientieren hat. Wo die von der Verfassung geschützten Rechtsgüter miteinander in Konflikt geraten, ist es Sache des Gesetzgebers, eine Abwägung und Entscheidung zu finden. Diese Entscheidung hat die Verfassung nicht vorweggenommen. Sie hat dafür allerdings bestimmte Richtpunkte gegeben. Für welchen Weg man sich auch entscheidet, ob für die strafrechtliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten oder für eine Indikationsregelung, die bei grundsätzBundesminister Jahn lichem Verbot den Eingriff in Konfliktlagen zuläßt, beide Wege sind unbefriedigend, beide Regelungen sind unvollkommen, beide machen klar, wie wenig der Gesetzgeber in grundlegenden Konfliktsituationen verbindliche und allgemein gültige Antworten geben kann. Es gibt keine gesetzliche Regelung, die jedem Einzelfall gerecht wird. Jeder Einzelfall fordert seine eigene, nicht ersetzbare, verantwortliche Bewertung. Deshalb halte ich die Indikationenregelung, die auf der Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter in jedem Einzelfall beruht, für die richtige Entscheidung. ({7}) Wenn es möglich wäre, die verantwortliche Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern ohne strafrechtliche Vorschriften zu sichern, so würde ich eine Lösung bevorzugen, bei der die Strafvorschrift des § 218 ersatzlos gestrichen würde. Indessen besteht eine solche Möglichkeit nicht. Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bedeutet zugleich seine volle Anerkennung durch die Rechtsordnung. ({8}) Das müßte und würde weitreichende Folgen für die Einschätzung des Rechtsgutes des ungeborenen Lebens haben. ({9}) Meine Damen und Herren, die Indikationenregelung wird die Vorstellung von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens besser erhalten. Sie läßt den Schutz des werdenden Lebens und den Schutz des Lebens, der Würde und der Eigenverantwortlichkeit der Frau als gleichgewichtig erscheinen. Sie gewährleistet, daß im Einzelfall zwischen den berechtigten Belangen der Frau und dem Lebensrecht des Ungeborenen abgewogen wird. Durch die Anerkennung bestimmter Indikationen übernimmt die Rechtsgemeinschaft ein Stück Verantwortung für die Lösung des Konflikts. Die Indikationen sind daher auch ein steter Anruf an die Gesellschaft, ein Anruf, durch intensive personale, soziale und gesundheitliche Hilfen die Voraussetzungen solcher Indikationen entfallen zu lassen. Für welchen Weg wir uns bei der Reform des § 218 auch entscheiden, eine Regelung, die vollständig befriedigt, wird es nicht geben. Wir werden auch nicht alle Gewissensbedenken beilegen, nicht alle Erwartungen erfüllen können. Deshalb sollten wir nach einer Gesetzesfassung suchen, die die relativ geringsten Nachteile aufweist. Eine möglichst breite Übereinstimmung in diesem Hause würde zur Glaubwürdigkeit der gefundenen Regelung beitragen. ({10}) Aber suchen wir diese breite Übereinstimmung nicht in einem oberflächlichen Kompromiß, ({11}) der dem sachlichen Problem und seinen Schwierigkeiten nicht gerecht wird! ({12}) Dafür hat die Frage, wie wir entscheiden müssen, zu weittragende grundsätzliche Bedeutung. Politisch sinnvoll - das ist meine Überzeugung-ist eine Regelung nur, wenn sie, aller Schwierigkeiten eingedenk, letztlich auch prinzipiellen Fragen standhält. Bemühen wir uns um eine Regelung, die festhält, daß die Menschenwürde in unserem Staat unteilbar ist, auch das ungeborene Leben an ihr Anteil hat, und eine Lösung, die jenem Maßstab entspricht, den uns Immanuel Kant, als er das Grundprinzip des Rechts formulierte, vorgestellt und mitgegeben hat, daß nämlich die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen nach dem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann. ({13})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke. Ihre Fraktion hat eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000620, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich glaube, wir alle haben den beiden Vorrednern mit großem Ernst zugehört und auch ihren Appell vernommen, soweit es nur irgend möglich ist, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Wer möchte das nicht wünschen? Nur stoßen die Diskussionen heute wie auch die unendlich vielen Diskussionen, die ich draußen im Lande mitgemacht habe, immer wieder auf jene fundamentale Schwierigkeit, daß wir zwar sehr viel wissen von der täglichen Entwicklung des Embryos, von den Statistiken über die bekannten legalen und die geschätzten illegalen Abtreibungen rings um den Erdball, von der hohen Dunkelziffer bei der Strafverfolgung und den Spekulationen über das Verhalten der Ärzte vor und nach einer Änderung des Strafrechts, daß aber zugleich wieder deutlich wird, wie wenig und wie wenig differenziert wir wissen, warum denn Frauen eigentlich abtreiben, ja, daß wir es vielleicht auch gar nicht so genau wissen wollen. ({0}) Wenn man daran denkt, daß bei dem Hearing des Strafrechtsausschusses im letzten Jahr unter 29 Sachverständigen erst an 26. Stelle zum erstenmal eine Vertreterin der Frauen zu Wort kam, muß man sich doch fragen, ob im Vordergrund der Überlegungen tatsächlich die Frage nach den Motiven der Betroffenen oder die Fragen aus der wissenschaftlichen Welt der irgendwie mitbeteiligten Ärzte, Richter und Soziologen gestanden hat. ({1}) Die Grundfrage müßte doch sein: Warum haben wir denn das Problem? Oder nehmen Sie an, daß die Mütter ohne Grund auf das Kind verzichten oder, wie es so leicht heißt, ein Kind töten oder sogar - im Jargon draußen - mutwillig morden wollen. Was ist es denn, was Frauen bewegt? Ich habe einmal in einer aufgeschlossenen, aber bunt zusammengesetzten Versammlung die Frage gestellt: Was vermuten Sie denn, was Frauen bewegt und warum sie das tun? Da war große Verlegenheit. Die meisten schwiegen. Der eine oder andere Gefragte begann zu stottern. Schließlich kam das, was man stereotyp hört: Zuwenig Kindergeld, und dann gleich das, was kommen mußte: Die Bequemlichkeit der Frau und ihre Unmoral. Und etwas zögernd noch am Rande: Die Vergewaltigung - weil das, wie es heute morgen einmal gesagt wurde, ja schließlich auch der eigenen Frau einmal passieren könnte. Aber darüber hinaus weiß man nicht viel von den äußeren und erst recht nicht viel von den inneren Bedingungen, unter denen heute Mütter in bedrängter Lage - ich meine damit nicht nur die materiell bedrängte Lage - seelisch, körperlich, nervlich überfordert sind, in feindlicher Umgebung, mit der ganzen Verantwortung für die Kinder betraut. So schreiben Sie denn auch in Ihren Indikationsmodellen etwas allgemein von der „bedrängten Lage" oder der „besonderen Notlage". Und als Beispiel wird die blinde Frau oder das lernbehinderte Kind angeführt, weil das so augenfällig ist und in aller Welt Mitleid erregt. Dahinter verblaßt alles andere an Fragen nach der tatsächlichen Motivation. Was veranlaßt denn Frauen, bereits das dritte Kind abzutreiben, wo doch unsere Großmütter sieben Kinder gehabt und großgezogen haben? Sie haben sicherlich in der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau" die 15 Briefe von Frauen abgedruckt gefunden, die an die zuständigen Stellen geschrieben haben, um eine Schwangerschaft abbrechen zu dürfen. Wenn einmal jeder in diesem Haus darauf ankreuzen sollte, in welchem der Fälle er, wenn er Arzt oder Gutachter in dem zuständigen Gremium wäre, die Straffreiheit für gerechtfertigt halten würde und in welchem nicht, so würden - diese Behauptung wage ich - mit Ausnahme vielleicht der Antworten vom Kollegen Heck und seinen Antragsfreunden nicht zwei Zettel die gleichen Ergebnisse enthalten. Das heißt aber doch nichts anderes, als daß die Bewertungsmaßstäbe und Beurteilungen auch bei gleichem Antragstext höchst unterschiedlich sind. Was aber dann? Wird da nicht für die arme Frau der Weg zur Entscheidungsstelle zum Lotteriespiel, und das in einem Rechtsstaat? ({2}) Das ist doch die Frage. Da schreibt mir eine Frau - und das ist kein Grenzfall Ich habe vier Kinder im Alter von vier bis elf Jahren. Wir bewohnen im hiesigen Bauverein eine mit Sozialgeldern entstandene Mietwohnung im 5. Stock. Was man hier durchmacht, spottet jeder Beschreibung. Tagtäglich bekommt man zu hören, daß vier Kinder im Hause unerwünscht sind. Ist einmal etwas entzwei, war es immer die Familie mit dem „Kindergarten". Wir sind 18 Familien im Haus, die einzige mit vier Kindern. Wenn jemand mit einem Pferd durch die Anlagen reitet, nimmt man das hier gelassen hin. Aber wehe, eines unserer Kinder betritt den „Parcours". Ein Sandkasten für ca. 100 Kinder ist zwar vorhanden, aber wer von den Eltern schickt schon die Kinder gern in einen großen Abfalleimer? Vor drei Jahren ist dort das erste- und letztemal frischer Sand aufgefüllt worden. In der Zwischenzeit wohnten dort die Ratten, und die Erwachsenen vergraben ihren Müll. Ein großer freier Grünstreifen ist da, aber nur fürs Auge. Von dort werden spielende Kinder von einem Wächter der Stadt mit einem bissigen Hand vertrieben. Man droht den Kindern mit empfindlichen Geldstrafen. Der Hauswart vertreibt alle spielenden Kinder. Wenn man das jeden Tag erlebt, wird man mutlos, und die Angst, noch ein Kind zu 'bekommen, wird von Tag zu Tag größer. Meine Damen und Herren, das ist eine Alltagsgeschichte, die Sie ohne jede Dramatik täglich geschrieben bekommen könnten. ({3}) - Ich komme darauf. - Und wenn jetzt diese Frau das fünfte Kind erwarten würde und in dem täglichen zermürbenden Kleinkrieg zwischen Hausmeister, Nachbarn und Kinder sagen würde: ich kann nicht mehr!, was passiert denn dann? Nach dem Entwurf von Herrn Heck: Gefängnis. Nach dem Entwurf der CDU: mindestens Anklagebank. Und nach dem Entwurf von Herrn Müller-Emmert? Wenn sie viel Glück hat, findet sie einen Arzt, der Verständnis dafür hat, daß zwar, theoretisch gesehen, eine Abhilfe vielleicht möglich wäre, praktisch aber wohl schwerlich, und er würde genehmigen. Aber wenn er das nicht tut, meine Herren und Damen, dann bleibt nach dem Entwurf von Müller-Emmert legal nur die Stricknadel. Denn das ist ja eine der Merkwürdigkeiten in diesem Entwurf. ({4}) - Ja, dann muß ich Ihnen eben unterstellen, daß Sie wenig von dem wissen, was draußen passiert. Die Stricknadel ist immer noch im Gebrauch, und nach dem Entwurf des Kollegen Müller-Emmert ist sie ja sogar legalisiert; er sieht doch vor, daß die Selbstabtreibung sogar bis zum letzten Monat legal ist; die Frau wird ja nicht bestraft. Wenn man sagt „nicht bestrafen heißt legalisieren", so ist nach diesem Entwurf die Selbstabtreibung - egal, mit welcher scheußlichen Methode - legal, und zwar bis zur Geburt. Meine Herren und Damen, ich neige nicht dazu, zu dramatisieren. ({5}) Aber wenn diese Frau mit ihrem Problem zu Ihnen käme - zu jedem von Ihnen -, dann hätten Sie einmal das Problem praktisch vor sich, nicht nur theoretisch in Überlegungen über den Zusammenhang von Sitte und Recht und Staat und Gesellschaft und all diesen großen Dingen, sondern als unmittelbares menschliches Schicksal im harten Alltag. Und Sie sollen eine Lösung finden. ({6}) Nein, meine Herren und Damen, dieser Fall und viele andere passieren täglich und stündlich und minütlich bei uns. Und täglich und stündlich und minütlich entscheidet eine Frau - unberaten, getrieben, geängstigt - über das, was sie glaubt tun zu müssen und was sie dann in der Illegalität tun muß. Meine Damen und Herren, ich spreche nun wirklich nicht aus der Theorie; mit dieser Situation, mit solchen Schicksalen werde ich seit zwei Jahren durch den täglichen Posteingang konfrontiert. Wenn ich es wage, hier als nicht Betroffene zu sprechen, dann tue ich es auf Grund dieser bedrückenden Korrespondenz mit ihrer Fülle von Leid und Kummer und Verzweiflung. Ich muß schon sagen, Herr Kollege Vogel, wenn Sie das als unter Niveau und als eine aufgemachte Geschichte ansehen, dann verstehen Sie herzlich wenig von dem, was Frauen durchmachen und was Frauen bewegt! ({7}) Was der § 218 bewirkt, ist vor allen Dingen, daß die Frauen in Heimlichkeit und Angst und Verzweiflung handeln müssen. Die Frauen können sich nicht aussprechen; denn dieser Paragraph verschließt ihnen den Mund. Natürlich nicht direkt; sie könnten natürlich zum Arzt gehen - er unterliegt der Schweigepflicht. Sie könnten zum Priester gehen unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses. Aber meine Herren und Damen, hunderttausend und mehr Frauen tun es eben nicht! Das zeigt doch, daß sie offensichtlich in ihrer Unberatenheit nicht die Hilfe suchen, sondern den illegalen Weg gehen. Hier liegt für die Freie Demokratische Fraktion der Angelpunkt für die Fristenregelung. Wenn mir eine Frau schreibt, das Schlimmste sei, daß man sich vorher und hinterher nicht aussprechen könne, dann liegt darin die ganze Qual eines Menschen, der sich unter dem Druck einer schweren Gewissensentscheidung aussprechen möchte und es nicht wagt, um sich nicht zu verraten. Deshalb wollen wir endlich die freimütige Aussprache öffnen und damit die Wege zu Rat und Hilfe weisen. Herr Bundesminister Jahn hat eben wieder von der angeblichen Schutzfunktion des § 218 gesprochen. Meine Herren und Damen, wo und was schützt er denn? Wenn wir ganz niedrig rechnen, beläuft sich die Zahl der Abtreibungen seit dem Krieg auf 10 Millionen; vermutlich sind es 15 bis 20 Millionen gewesen. Was ist denn da geschützt worden? Und sagen Sie uns doch nicht, daß dieser Paragraph die Frau vor dem Drängen des Mannes schützt, weil sie sagen kann: Mein Lieber, das ist verboten! Wenn der Freund zu der Frau sagt: Du kannst wählen zwischen mir und dem Kind, wenn der Ehemann seiner Frau tagtäglich eine Szene macht und wenn Eltern die noch nicht mündige Tochter zum Arzt schleppen, glauben Sie denn ernstlich, daß die stumpfe Waffe unseres derzeitigen § 218 auch nur den bescheidensten Schutz gegen diese sehr viel stärkeren Bedrängnisse gibt? ({8}) Nein, geschützt hat der § 218 weder das Kind noch die Frau. Geschützt hat er nur uns alle seit vielen Jahren davor, uns mit diesem miserablen Thema auseinandersetzen zu müssen und endlich die Not der Frauen einmal ernst zu nehmen! ({9}) Wann hat denn dieser Bundestag über die Not dieser Frauen je einmal diskutiert? Eine brave, gute, anständig dahinlebende Gesellschaft fühlt sich immer sehr wohl, wenn es Strafgesetze gibt. Dann ist man das Problem los. Denn was jenseits der Gesetzlichkeit passiert, darum muß man sich nicht kümmern; wer straffällig wird, ist selbst Schuld. Dieser Paragraph hat uns und die Gesellschaft bisher davor geschützt, uns ernstlich mit den Fragen zu beschäftigen. Meine Herren und Damen von der CDU, wenn Sie uns jetzt, nachdem Sie 20 Jahre lang die Familienpolitik in diesem Lande zu verantworten hatten, einen Antrag auf den Tisch legen, wir sollten einmal eine Enquete-Kommission ins Leben rufen, um die Situation der Frauen in der Gesellschaft zu untersuchen, dann muß ich Sie fragen: womit haben sich denn die Familienminister der CDU 20 Jahre lang in ihrem Ministerium eigentlich befaßt, wenn nicht auch mit diesen Fragen, ({10}) wenn nicht auch mit der Problematik der Frau in der Familie und in der Gesellschaft und ihrer Stellung als Hausfrau?! Es ist doch ein verzweifeltes Armutszeugnis und zeugt davon, daß die Not der Frauen bei Ihnen unter den Teppich gekehrt worden ist, weil sich die Frauen infolge dieses Paragraphen nicht rühren konnten. ({11}) Wir wollen die Beratung. Dabei wissen wir, daß es eine Reihe Frauen gibt, die auch durch eine Beratung nicht beeinflußt werden können. Sie sind von Anfang an fest entschlossen, das Kind nicht zu bekommen, und sie würden es auch dann nicht zur Welt bringen, wenn auf Abtreibung die Todesstrafe stünde. Denn es gibt Bereiche im Bewußtsein oder im Unterbewußtsein einer Frau, die eine Strafandrohung nicht erreicht, und in diesen Tiefen liegt das Verantwortungsbewußtsein einer Mutter für das Kind. Aber es gibt Frauen, die unschlüssig hin- und hergerissen sind zwischen einerseits den unglücklichen Lebensumständen: die unliebsame Umwelt, der Verlust des Arbeitsplatzes, der Zustand der Ehe und die äußere Bedrängtheit ihrer Familie und andererseits der inneren Verpflichtung, das Kind am Leben zu halten. Diesen Frauen könnten wir helfen. Um sie geht es uns, wenn wir für die Fristenregelung eintreten. Denn nur die Fristenregelung macht die freimütige, unvoreingenommene und ungezwungene Beratung möglich, die Beratung bezüglich der Vorbeugung gerade bei den Frauen, die trotz aller Aufklärung sich nicht getroffen fühlen. Die Beratung kann in einer verzweifelt erscheinenden Situation Ermutigung geben, auch eine Ermutigung gegenüber dem Drängen der Eltern oder des Mannes. Schließlich macht sie auch die praktische Hilfe möglich. Denn sowohl der Berater wie auch Frau Funcke über den Berater die Öffentlichkeit können Hinweise und Hilfen geben. Im konkreten Fall und generell wenn wir einmal wissen, warum Frauen ihre Kinder nicht austragen können gescheitere und vernünftigere staatliche, öffentliche und nachbarschaftliche Hilfen in Gang gesetzt werden. Das aber ist nur möglich, wenn die Frau unvoreingenommen zur Beratung kommt. Wo immer sie eine Entscheidung durch andere befürchten muß, wird sie diese Beratung nicht als Beratung empfinden, sondern als eine Begutachtung und Fremdentscheidung, auch wenn die CDU den Abschnitt über Gutachtergremien mit der Überschrift „Beratung" versehen hat. Ich frage mich allerdings, was da beraten wird. Mag sein, daß das Gutachtergremium unter sich berät - der Frau gegenüber entscheidet es. Wenn nun eine Frau, meine Herren und Damen, zu dieser „Beratung" sei es zu einem Arzt, sei es zu einem Gremium gehen muß, was passiert dann? Sie wird sich nächtelang auf dieses Gespräch vorbereiten, sie wird immer neue Argumente suchen und sich immer weiter in diese Argumente hineinsteigern; und dabei wird sie sich immer mehr der Schrecklichkeit ihrer Situation bewußt werden und sich selbst zu überzeugen suchen, damit sie auch überzeugend auftreten kann. So wird in ihr der Gedanke gefestigt, daß es wirklich unerträglich und unzumutbar sei, das Kind zur Welt zu bringen. Sagt in einem solchen Falle das Gremium oder der Arzt nein, dann, meine Herren und Damen, wird dieses Kind nicht auf die Welt kommen. Denn die Frau ist inzwischen so auf ihre Verteidigung, auf den Widerstand gegen das, was sich da tut, fixiert, daß sie auf Grund dieser Fixierung das Kind nicht mehr anzunehmen vermag. So wird es dann eben auf die andere, bisherige Methode abgetrieben, weil wir die Frau in diese Verteidigungssituation selbst hineingebracht haben. Das müssen wir sehen. Wenn wir sie in dieser labilen Situation noch auf die Selbstverteidigung geradezu hindrängen, wird es sehr schwer sein, ihr Mut zu machen und ihr zu der inneren Annahme des Kindes zu verhelfen. Sie haben die Entscheidung durch Dritte angesprochen. Sehr geehrter Herr Bundesminister Jahn, Sie haben soeben gesagt, man könne der Frau die Entscheidung nicht überlassen, denn das wäre eine sehr subjektive Entscheidung. Aber was steht denn an der anderen Stelle? Da steht doch nur die Entscheidung eines Arztes. Der telefoniert einmal mit einem Sogenannten und fragt einmal ein bißchen. Da steht doch auf der anderen Seite die Entscheidung wiederum nur eines einzelnen Menschen. Halten Sie den für weniger einseitig? ({12}) Das ist doch die Frage, um die es geht. In diesen Tagen ist uns allen eine Denkschrift über die Reform der Abtreibungsregelung in den europäischen Parlamenten auf den Tisch gekommen. Meine Herren und Damen, zu dem Umschlag will ich nichts sagen. Der ist so unter allem Niveau, daß wir darüber nicht sprechen müssen. Ich will auch nicht davon sprechen, daß die Abbildungen jeweils einen 18- oder 19-Wochen-Embryo zeigen, also doch wohl etwas, das außerhalb aller Vorschläge in diesem Hause liegt. Das macht die Sache nicht objektiver. Dann geht es los: da werden die Parlamente, die etwa eine erweiterte Indikations- oder Fristenregelung beschließen würden, als indirekte Schreibtischmörder bezeichnet; da sind die Frauen nur noch Abtreiberinnen; da wird vom ungeheuerlichen Baby-Massaker geredet; da wird eine falsche Berichterstattung in der Zeitung gleich als ein in Anführungsstriche gesetztes Zitat von mir gebracht, weil man so schön dagegen polemisieren kann; da wird der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten der Leichtfertigkeit und Ignoranz beschuldigt und der Verdacht ausgesprochen, diese Richter seien wahrscheinlich nicht unabhängig; da sitzen die Drahtzieher und Geschäftemacher in den Massenmedien und verdrehen Recht. und Unrecht.; da wird befürchtet, daß möglicherweise einem Arzt, der ein Gewissen hat, eine Chefarztstelle verlorengehen könnte; da wird gesorgt, daß durch die lange Beraterei beim Arzt die Ärzte ihre kostbare Zeit durch die Abtreiberinnen in unverantwortlicher Weise gestohlen bekommen; da wird die gewissenlose Entscheidung der Mutter gegen das Sittengesetz zitiert, und dann heißt es wörtlich: „Erinnert die Fristenlösung als Endlösung der Jugendfrage an die Endlösung der Judenfrage". Meine Herren und Damen, ich würde das in diesem Hause nicht bringen; wir haben täglich solcherlei Pamphlete auf unserem Schreibtisch, und es lohnt allmählich nicht mehr, über bestimmte religiöse oder sonstige Eiferer zu sprechen. Nur, Herr Kollege Müller-Emmert, ist der, der dies hier schreibt, ein Arzt, und er schreibt es im Namen einer europäischen Ärzteaktion. Das sind also die Leute, denen Sie jetzt die Befugnis und die Autorität geben, kraft Amtes über das Schicksal der Frau in ihrer Notlage gültig zu entscheiden. ({13}) Denn es gibt in dem Entwurf keine Auswahl unter den Ärzten, sondern sie sind samt und sonders für diese Aufgabe befugt und berechtigt, und es gibt nach Lage der Dinge für diese Frau in den seltensten Fällen noch eine Berufungsmöglichkeit, die sonst bei jeder Ermessensentscheidung und bei jedem Verwaltungsakt nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gesichert sein muß. Meine Herren und Damen, ich möchte die gesamte Ärzteschaft in Schutz nehmen gegen auch nur den Verdacht, hier wäre etwas zu generalisieren. Ich möchte das ausdrücklich tun, denn welcher unterschiedlichen Meinung man auch immer sein mag: ich habe einen so hohen Respekt vor dem Verantwortungsbewußtsein der Ärzte, daß ich meine, wir müssen sie in Schutz nehmen gegen solcherlei Kollegen. Nur, meine Damen und Herren, wenn Sie ein Gesetz verabschieden, wonach jedweder Arzt auch solche - die Entscheidungsgewalt über die Frauen bekommt, ({14}) Deutscher Bundestag --- 7. Wahlperiode Frau Funcke muß man allerdings die Frage stellen, ob Sie damit die Entscheidung objektivieren, nämlich gegenuber der möglicherweise einseitigen - Entscheidung der Mutter. Hier muß ich nun sagen -- das gilt nicht nur für diesen Punkt , daß mir die Entscheidung der Mutter sachgerechter erscheint. ({15}) Meine Damen und Herren, ein entscheidender Punkt in unserem Entwurf ist die Freiheit des Arztes und die Freiheit des Pflegepersonals. In diesem schwerwiegenden Gewissenskonflikt darf niemand zu etwas veranlaßt oder gezwungen werden, das er nicht zu vertreten vermag. Deswegen sind wir für die Fristenregelung. Denn, meine Herren und Damen, wo immer Sie die Genehmigung für eine Abtreibung schaffen - und das tun Sie ja mit jedweder Indikationsregelung: Sie schaffen eine ausdrückliche staatliche Genehmigung , erwachsen quasi Ansprüche. Wer eine Genehmigung hat, der will auch Gelegenheit haben, davon Gebrauch zu machen, und er erwartet von dem, der die Genehmigung erteilt hat, daß er auch dafür sorgt. ({16}) Dann allerdings kann es dazu kommen, daß die Ärzte zwischen den staatlich gesetzten Maßstäben und ihrem eigenen Gewissen entscheiden müssen, dann nämlich, wenn sie einer Frau die Genehmigung - natürlich nach staatlichen Maßstäben und nicht nach Maßstäben des Arztes, denn sonst könnte der betreffende Arzt in diesem Fall nicht Gutachter sein -- erteilen sollen. Der Arzt muß plötzlich gegen sein Gewissen nach staatlichen Gesichtspunkten eine Genehmigung aussprechen. Wie soll eine Frau sonst im Vertrauen auf das staatliche Recht zum Arzt gehen, wenn nicht der Arzt nach diesen staatlichen Maßstäben seine Entscheidung fällt? Dann gerät der Arzt in eine wirkliche Klemme zwischen dem, was er bescheinigen könnte und möchte, und dem, was der Staat als Maßstab dafür setzt. Nein, meine Herren und Damen, für uns müssen Ärzte und Schwestern in ihrem Gewissen absolut frei bleiben. Darum ist die Fristenregelung in diesem Punkt die bessere Regelung. ({17}) Die Indikationsentscheidungen gegen Frauen - ({18}) - Herr Vogel, könnten wir nicht auf eine dem Thema angemessene Art weiterdiskutieren? ({19}) Sie wollen die Frau veranlassen, zu einer Entscheidungsstelle zu gehen, die ihr die Abtreibung erlaubt oder nicht erlaubt. Sie müssen davon ausgehen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Frauen nicht dort hingeht. Herr Müller-Emmert, es sollte doch eigentlich bekannt sein, daß es in England nicht die Fristenregelung, sondern die Indikationsregelung gibt ({20}) -- nein - und daß es deswegen nach wie vor einen nicht unerheblichen Teil illegaler Fälle gibt, weil trotz sehr weitgehender Entscheidungen im Zweifelsfall gerade die ängstliche Frau, die nicht weiß, ob die studierten Herren verstehen, wie es ihr geht, doch lieber wieder den Weg der Heimlichkeit geht, nämlich dorthin, wo sie nicht gefragt wird, sondern wo man nur handelt. Aber noch ein anderes bewegt uns. Gelegentlich kommt der Gedanke der Euthanasie auf. Wir nehmen es sehr ernst, wenn in diesem Punkt eine Frage gestellt wird, wenn wir anfangen, über die Zumutbarkeit oder Nichtzumutbarkeit von Leben durch Dritte entscheiden zu lassen. Dies sage ich nun wirklich, Herr Kollege Vogel, mit sehr großem Ernst: Wenn wir anfangen, Gremien zu schaffen, die über die Zumutbarkeit und Nichtzumutbarkeit von Leben entscheiden, dann ist möglicherweise damit der erste Schritt zur Durchbrechung der Grenze, die bisher besteht, getan. ({21}) Bei der Fristenlösung entscheiden nicht Dritte über das Leben. Wenn jemand entscheidet, dann allein die, durch die das Leben erst Leben werden kann. Dies werden Sie doch wohl zugeben, daß die schicksalhafte Verbundenheit von Mutter und Kind ein Ausnahmezustand in der Natur ist, über den so leicht nicht hinweggegangen werden kann und der unverwechselbar ist. ({22}) Hier grenzen wir ab: Die Entscheidung der Mutter ist im späteren Leben unwiederholbar, und hier kann keine Verwechslung entstehen. Ein Weiteres, die ethische Beurteilung, von der Sie befürchten, daß sie sich durch eine Änderung des § 218 verschieben könnte: Meine Herren und Damen, in der Tat, dies würde geschehen, wenn Sie nicht nur die Straffreiheit, sondern die ausdrückliche Genehmigung geben. Es ist nämlich ein Unterschied, ob etwas nicht bestraft wird oder ob Sie für etwas eine positive Genehmigung bekommen. Im Indikationsfall bekommen Sie vom Staat eine positive Genehmigung, daß Sie abtreiben dürfen; bei der Fristenregelung wird nicht verfolgt, die Entscheidung über den sittlichen und ethischen Wert ist völlig offen und dem einzelnen überlassen. Eine Frau aber, die die Genehmigung zur Abtreibung hat, kann sich leicht damit tun, zu sagen: der Doktor hat es gesagt, und der Staat hat es erlaubt. Sie auf die ethische Entscheidung in vollem Umfange anzusprechen ist viel schwerer, als wenn Sie ihr die volle Verantwortung im Guten und Bösen lassen und ihr sagen: Der Staat wird dir die Entscheidung nicht mit einer Bescheinigung abnehmen, die Ent1806 scheidung über dieses Kind bleibt ganz bei dir. Ich finde, die Fristenregelung ist vertretbar und ehrlicher und dem Gewissen verpflichtender als die weitgehende Indikationsregelung. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000620, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte!

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich will versuchen, mich ganz auf ihre Gedanken einzustellen, darf Sie dann aber fragen: Aus welchem Grund sieht Ihr Entwurf im § 218 a auch eine Gutachterstelle vor, und zwar nicht nur für die medizinische Indikation, sondern auch für die glatte und saubere eugenische Indikation, die die Entscheidung zu fällen hat, ob abgetrieben wird, ob unterbrochen wird oder nicht? Worin sehen Sie den graduellen oder den wesentlichen Unterschied, wenn Sie drei Monate ganz freigeben und dann die Gutachterstelle einschalten?

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000620, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich spreche hier nicht gegen jene, die den Entwurf von Herrn Kollegen Heck vertreten. Ich halte seine Lösung, die Sie unterstützen, mit der ganz strengen und engen Indikation, bei der Leben gegen Leben steht oder entsprechende Lebensgüter gegeneinanderstehen, für eine klare und saubere Lösung. Ich spreche gegen alle Zwischenlösungen, die jetzt versucht werden. Ich halte es hier nun einmal mit dem Prälat Wöste. In dem Punkt sind wir uns völlig einig, wenn er sagt, zwischen der strengen medizinischen Indikation und der Fristenregelung gebe es keinen vertretbaren Zwischenweg. Dies ist allerdings auch unsere Meinung. Die strenge medizinische Indikation für die Zeit nach dem dritten Monat halten wir in diesem Sinne für eine aus der echten Güterabwägung heraus geborene strenge Form. Meine Herren und Damen, ernst ist uns die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Strafrecht. Es ist hier wiederholt angesprochen worden. Solange wir im konstantinischen Zeitalter die Übereinstimmung von Kirche, Staat und weltlicher Macht hatten, hat die weltliche Macht eben mit ihrem Strafanspruch das abgedeckt, was kirchlich gebotene Lebensregel war. Aber schon der Religionsfriede hat uns die Schwierigkeit gebracht, was man machen soll, wenn zwei verschiedene Lebensordnungen und -auffassungen miteinander in einem Staatsgebilde sind. Man hat sich dann mit dem etwas merkwüdigen „cuius regio, eius religio" geholfen, indem die Leute, die anderen Glaubens waren, ausgewiesen wurden, so daß nur die Leute mit der gleichen religiösen Lebens- und Sittenauffassung in dem Staatsgebiet wohnten, wo wiederum mit dem Gesetz ,des Staates das Sittengesetz abgedeckt wurde. Dies können wir heute nicht mehr. Die Welt ist offen, und viele Christen müssen in Ländern leben, die andere strafrechtliche Verhaltensnormen haben. Sie müssen es trotzdem in ihrem religiös-ethischen Bewußtsein ohne die Stütze eines staatlich begleitenden Gesetzes tun. Darum gilt es in der Tat, zu untersuchen, was denn unter diesen Umständen das Strafrecht leisten kann. In unserem Volk leben noch viele Menschen, die meinen, das Strafrecht sei praktisch das lückenlose Sittenbuch und wenn man da etwas herausstreiche, sei gleich die Sitte weg. Wir müssen lernen, daß die persönlich-ethische Auffassung nicht mehr überall durch das Strafrecht abgedeckt werden kann. Das Strafrecht ist nur eine Hilfe und, wenn auch an ethische Normen gebunden, nicht ein ethischer Wert für sich. ({0}) Es ist ein Mittel, mit dem versucht wird, zu verhindern, daß jemand etwas Unrechtes tut. Aber es ist ein Mittel. Und es ist e i n Mittel unter anderen. Jeder Politiker und jeder Erziehungsberechtigte weiß, daß man das, was nicht geschehen soll, nicht allein durch das Mittel der Strafandrohung verhindern sollte. Es kann besser und wirksamer sein, zu belehren, auf die Folgen hinzuweisen, an das Gewissen zu appellieren. Aber im staatlichen Bereich tun wir zumeist so, als gäbe es nur das Strafrecht. Das verstellt uns den Blick für andere Wege. Gerade der Justizminister - das kann man bei seiner Funktion verstehen - sieht in besonderem Maße im Recht das unaufgebbare Mittel. Ich habe Zweifel, ob das richtig ist. Man sollte und könnte auch andere, wirksamere, bessere finden. In diesem Hause hatte man wenig Angst, daß sich das ethische Bewußtsein verschieben könnte, als wir vor vier Jahren einige andere Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch gestrichen haben. Niemand hat eingewendet, daß mit der Streichung des Eehebruchparagraphen alle Leute Ehebruch für erlaubt halten könnten. Und mit der Liberalisierung eines anderen Paragraphen sind auch nicht die Sitten völlig aus dem Haus gekommen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber nach all dem, was heute morgen gesagt wurde und nach der Reaktion jetzt muß ich feststellen: Es gibt offenbar ein großes Mißtrauen der Männer, daß Frauen, wenn sie nicht mehr unter der Fuchtel des Strafrechts stehen, möglicherweise etwas anders als bisher entscheiden könnten. ({1}) Sie, die Männer, fühlten sich offenbar stark genug, in den anderen Fragen auch ohne Strafrecht auszukommen und trotzdem nach sittlichen Maßstäben zu handeln. Aber bei den Frauen unterstellen sie, daß ohne Strafdrohung sofort der Dammbruch kommt. Meine Herren und Damen, hier bricht eine sehr ernste Frage auf. Hier zeigt sich ein unterschiedliches Verständnis, das die Diskussion hier und draußen so unendlich schwer macht. In manchen Lebensbereichen gibt es offensichtlich trotz vieler Überschneidungen etwas unterschiedliche Auffassungen zwischen Männern und Frauen. Da Sie, die Männer, die Welt bisher so entscheidend geprägt haben, beurteilen Sie ganz selbstverständlich alle Dinge nach ihren Maßstäben, als seien sie allein gültig und richtig. Und nun wird mit der stärkeren Mitsprache der Frau im Leben der Gesellschaft deutlich, daß die Maßstäbe der Frauen, wie sie sich jetzt endlich artikulieren, in manchem anders sind als die Maßstäbe der Männer. Das macht uns Beschwer und verursacht so manches Mißverständnis. Verstehen Sie bitte folgendes nicht als Angriff und nicht als Polemik: Frauen werden nie begreifen, warum eine Frau bestraft wird, wenn sie im zweiten Monat ein Kind abtreibt, nicht aber der Pilot, der über einer Wohngegend eine ganze Bombenladung ausklinkt. ({2}) Wir können den Piloten verstehen. Ich sage das, bitte, ohne Polemik. ({3}) - Ja; gerade da liegt der Unterschied im Verständnis. Sie haben durch Jahrtausende für das, was im Krieg geschah, eine besondere ethische Rechtfertigung entwickelt, aber Sie wollen nicht anerkennen, daß eine Frau in einer Situation, in der sie ein unerwünschtes Kind erwartet, möglicherweise auch eine ethische Rechtfertigung für ihr Handeln hat. Das wollen Sie aus Ihrer Denkweise heraus nicht akzeptieren und halten es deshalb einfach für falsch. ({4}) Meine Herren und Damen, es geht, wenn sich ein unerwartetes Kind meldet, nicht um den Kampf zwischen Mutter und Kind. Dies möchte ich zum Abschluß sagen. Eine Frau weiß heute nur zu gut, daß ein Kind weit mehr braucht, als die nackte Existenz; sie weiß nur zu gut, was zum Lebensanspruch des Kindes - und das ist eben nicht nur der biologische - notwendig ist, um sich körperlich, seelisch und geistig gesund zu entwikkeln. Sie liest täglich in der Zeitung, wie notwendig dafür Geborgenheit, Nestwärme, Zuwendung, Ansprache und Mutterliebe sind. Sie spürt und weiß, daß dies alles das Urbedürfnis des Kindes ist. Und wenn sie nun unter den äußeren Umständen, wie immer sie sein mögen, weiß oder instinktiv fühlt, daß sie das so und jetzt nicht sicherstellen kann, müssen wir sie dann ins Gefängnis bringen? Jedes Tier sorgt instinktiv für die Lebensbedingungen der Jungen nach der Geburt, wollen wir einer Mutter diese Anlage absprechen? Wenn eine Frau sagt, ich kann das Kind jetzt nicht verantworten, mögen wir das von unserem Verständnis für falsch halten; aber wird die Sache im Tiefsten „richtiger", wenn nun ein Außenstehender nach seiner Betrachtungsweise darüber urteilt, ob ihre so bestimmte Handlungsweise von der Gesellschaft „genehmigt" wird? Sagt denn diese Beurteilung etwas darüber aus, ob eine Frau ein Kind anzunehmen vermag oder nicht? Mit der Drohung mit dem Haftrichter kann man keine Mutterliebe wecken. ({5}) Ich meine, wir alle, die wir in diesem Leben Mutterliebe, Verständnis und Geborgenheit haben spüren dürfen und dies als ein Fundament unseres Lebens erfahren konnten, wir sollten im Respekt davor keine Frau ins Gefängnis bringen, die aus ihrem subjektiven Verständnis heraus das Kind nicht glaubt verantworten zu können. ({6}) Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Spranger. Für ihn hat die Fraktion der CDU/CSU eine Redezeit von 30 Minuten beantragt.

Carl Dieter Spranger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002205, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Laufe der Debatte haben heute mehrere Redner die Notwendigkeit einer sachlichen Argumentation bei dieser Problematik betont. Ich bin deshalb dafür dankbar, daß mir nach diesen Ausführungen von Frau Funcke Gelegenheit gegeben wird, zu versuchen, das sachliche Niveau und den sachlichen Stil wiederherzustellen, die den Verlauf der bisherigen Debatte gekennzeichnet haben. ({0}) Mit wachsender Leidenschaft, in kaum gekanntem Ausmaß wird in unserem Volk eine Änderung des § 218 diskutiert. Spektakulär makabre öffentliche Abtreibungsgeständnisse haben ebenso Widerspruch provoziert und erhalten wie „Mein Bauch gehört mir"-Aktionen. Unzählige Bügerinitiativen schossen aus dem Boden. Es wurde deutlich, daß hier eines der Fundamente unserer Verfassungs- und Rechtsordnung auf dem Prüfstand ist. Es geht nicht nur um eine Reform der Strafvorschrift, wobei „Reform" nicht. bloß Änderung sondern Verbesserung, Fortschritt bedeuten müßte; es geht vielmehr um die Bewertung des Lebens durch den Staat, durch das Volk als schutzwürdiges und schutzbedürftiges Rechtsgut, um seine Anerkennung, seinen Stellenwert in der Ordnung dieses Staates, die in ständigem Wandel begriffen ist. Es bestehen heute Unterschiede zwischen den sich aus dem geltenden § 218 ergebenden Forderungen an den Burger, einem verbreiteten großzügigeren Rechtsbewußtsein und einer Wirklichkeit, die vielfach jene Forderungen mißachtet. Schwerwiegende Konfliktsituationen für werdende Mütter und Familien, zu denen in Ausnahmefällen eine Schwangerschaft führen kann und die das geltende Strafrecht nur unzureichend berücksichtigt, erzwingen gleichermaßen die Suche nach besseren Lösungen. Eine Änderung des § 218 kann nur in strenger Orientierung an unserem Grundgesetz erfolgen. Dabei muß von der von Rechtsprechung und Rechtslehre ganz überwiegend anerkannten Ansicht ausgegangen werden, daß auch das ungeborene Leben durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes geschützt ist, daß das grundrechtlich geschützte Lebensrecht auch der Leibesfrucht zuzuerkennen ist und daß der Staat selbst verpflichtet ist, diesen Schutz zu gewahren. Die Ausgestaltung dieses Schutzes bedarf der Orientierung an einer ethischen Ordnung, die Grundlage der Verfassung dieses Staates ist. Das Grundgesetz verweist in seiner Präambel auf die Verantwortung vor Gott und auf das Sittengesetz; für uns ist danach durch die Verfassung der Weg vorgegeben, welchen Mindestanforderungen der Schutz genügen muß. Er kann jedenfalls grundsätzlich nicht geringer sein als der dem lebenden Menschen gewährte. Denn bereits in der Leibesfrucht ist die Persönlichkeit in all ihren körperlichen und seelischen Merkmalen endgültig angelegt. Jeder Embryo ist ein eigenes, einmaliges Leben, in biologischer Einheit aus väterlicher und mütterlicher Keimzelle gewachsen, von Anfang an mit einer Blutgruppe eigener Art gekennzeichnet. ({1}) - Ich lehne mich hier an Regierungsmitglieder an. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Schoeler? ({2})

Carl Dieter Spranger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002205, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte! von Schoeler ({0}) : Herr Kollege Spranger, Sie vertreten die Auffassung, daß werdendes Leben strafrechtlich sonstigem menschlichem Leben gleichgestellt werden sollte. ({1}) Können Sie mir dann erklären, wieso die heute geltende Fassung des § 218 in ihrem Strafmaß erheblich unter dem der Tötungsdelikte steht, und könnten Sie mir ferner erklären, wieso Sie - Ihren Gedankengang konsequent zu Ende gedacht - nicht der Auffassung sind, daß diese Strafdrohung erheblich erhöht und die medizinische Indikation eingeschränkt werden müßte?

Carl Dieter Spranger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002205, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie genau zugehört hätten, dann hätten Sie erkennen können, daß ich den Ausdruck „grundsätzlich" gebraucht habe. Das bedeutet, daß jeweils im Einzelfall konkrete Überlegungen angestellt werden müssen; das ist doch ganz klar! ({0}) Qualitative Unterschiede zwischen ungeborenem und geborenem Leben gibt es nicht. Das Leben verträgt keine unterschiedlichen Wertungen im Verlauf seiner Entwicklung. Der Schutz des Lebens ist unteilbar. Des Eigenwertes und der Wehrlosigkeit des werdenden Lebens wegen ist der Staat grundsätzlich gehalten, auch das stärkste und einschneidendste Schutz- und Abwehrmittel, das ihm zu Gebote steht, einzusetzen: die Androhung und Verhängung von Strafen. Der Hinweis, daß der strafrechtliche Schutz hundert- und tausendfach straflos gebrochen wird, so daß die Norm offenbar keine Wirkung habe und zu Ungerechtigkeiten führe, macht strafrechtlichen Schutz nicht entbehrlich. Wenn es so wäre, könnte man auch für die Abschaffung der §§ 242 und 263 StGB - Diebstahl und Betrug eintreten. Ob eine Norm durchgesetzt werden kann, ist ohnehin kein Kriterium für die ethische Richtigkeit der Norm, wie die teils barbarische Strafjustiz im Dritten Reich oder in kommunistischen Staaten beweist. Es ist immer zu fragen: Wird sich die Zahl der Normbrüche erhöhen, wenn der Strafschutz zu sehr liberalisiert oder gar aufgehoben würde? Erhöht sie sich - und eine Liberalisierung entsprechender Strafnormen hat bisher in allen Ländern ein steiles Ansteigen der Zahl der Abtreibungen zur Folge -, dann hatte auch die oft gebrochene Norm eine Funktion, einen wesentlichen Schutzcharakter; sie war Eckpfeiler für eine moralisch-ethische Orientierung, für ein Rechtsbewußtsein, das grundsätzlich die Vernichtung menschlichen Lebens ablehnte. Jede Änderung des § 218 muß sich daher daran messen lassen, ob sie im Alltag das grundsätzliche Recht auf Schutz, Unversehrtheit und Leben des Embryos garantiert. Eines möchte ich ganz klar herausstellen: Jede Auflockerung des geltenden § 218 ist nur zu rechtfertigen als unvermeidbare Ergänzung, als flankierende Maßnahme zu umfassenden Hilfen bei schwangerschaftsbedingten Notständen, zu wirtschafts-, sozial-, gesundheits- und familienpolitischen Maßnahmen. Das Gewicht, das wir von der Union solchen Maßnahmen beimessen, verbietet es uns, das Strafrecht als Ersatz für solche Maßnahmen zu mißbrauchen und das Problem des ungewünschten Kindes mit den Mitteln des Strafrechts zu lösen. Die grundsätzliche Garantie des Schutzes ungeborenen Lebens kann nur eingeschränkt werden durch den Vorrang anderer, höherwertiger Rechtsgüter. Über das Ausmaß der Einschränkung hat man wie bei allen Konflikten in unserer Gesellschaft entsprechend unserer Rechtsordnung im Wege einer Interessens- und Rechtsgüterabwägung zu entscheiden. Im Strafrecht beruhen alle RechtswidrigkeitsSchuld- und Strafausschließungsgründe auf einer solchen Rechtsgüterabwägung. Im einzelnen Konfliktfall ist zu fragen: hat der Schutz des ungeborenen Lebens Vor- oder Nachrang gegenüber anderen Rechtsgütern wie der Gesundheit und dem Leben der Mutter, ihrer Freiheit, ihrer Selbstbestimmung, ihrem Persönlichkeitsrecht, dem Wohl der Familie? Eine solche Rechtsgüterabwägung darf bei der Vielfalt des Lebens einerseits und dem fundamentalen Gewicht des Rechtsgutes ungeborenes Leben andererseits nicht pauschal, nicht radikal, nicht „Über einen Kamm geschoren" sein. Ein solches Allerweltsmittel beinhaltet die Gefahr als Instrument für sexuelle Zügellosigkeit, ({1}) zu falsch verstandener Emanzipation und zu bevölkerungs- und gesellschaftspolitischen Zwecken mißbraucht zu werden. ({2}) Wir von der Union können das nicht verantworten. Die Fristenlösung verletzt das Gebot der sorg-faltigen Rechtsgüterabwägung im Einzelfall. Der Eigenwert des Rechtsgutes menschliches Leben wird mißachtet. Ohne schwerwiegende Gründe können Dritte über das Leben des werdenden Kindes verfügen. Der Staat verzichtet auf ein Unwerturteil, wenn ein in fast allen Einzelheiten als Mensch ausgebildeter Embryo getötet wird. Der Staat verletzt den Grundsatz: Das Recht des einzelnen, auch das Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht der Frau, findet seine Schranken in anerkannten Rechten anderer. Die Fristenlösung begünstigt einseitig das Recht der Mutter auf Kosten des wehrlosen, unschuldigen, ungeborenen Lebens. Sie tarnt als Gewissensentscheidung, was auch Ausfluß persönlicher Willkür, Ichsucht und Verantwortungslosigkeit sein kann. Die Fristenlösung bedeutet in der Praxis die allgemeine Freigabe der Abtreibung, weil der Termin „Ende des dritten Schwangerschaftsmonats" medizinisch durch den Arzt nicht genau festgelegt werden kann, weil die allein maßgebenden Angaben der Schwangeren unbewußt oder bewußt falsch sein können und weil nach dem dritten und vierten Schwangerschaftsmonat nur in seltenen Fällen ein dringendes Bedürfnis zum Schwangerschaftsabbruch gegeben ist. Die Dreimonatsfrist ist willkürlich. Sie kann mit einer biologisch bedeutsamen Phase des Kindes, einer Zäsur in seiner Entwicklung oder mit der Zunahme der Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht begründet werden. Es gibt keine Antwort auf die Frage: warum soll der Embryo nach dem dritten Monat, nicht aber bis zu diesem Zeitpunkt schutzwürdig sein? Unsere Rechtsordnung kennt auch kein Beispiel, daß ein Rechtsgut derartigen Gewichts nur für eine bestimmte Zeit geschützt wird. Gerade seine Wehrlosigkeit erfordert in allen Phasen den strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens. Versprechungen, Erwartungen und Hoffnungen, die sich an die Fristenlösung knüpfen, werden sich nicht erfüllen. Die Fristenlösung fördert nicht Freiheit und Selbstbestimmungsrecht der Frau; denn durch die Fristenlösung wird die Schwangere im verstärkten Maße dem Druck des Ehemannes, des Freundes, der Familie, der Gesellschaft ausgesetzt, die alle ungehemmt, weil strafrechtlich unbedroht, zur Abtreibung auffordern können und werden, und zwar in einem Zeitpunkt, in dem ihr körperliches und seelisches Gleichgewicht ohnehin beeinträchtigt ist. Die Fristenlösung wird als Ersatz für Empfängnisverhütung, als Instrument der Familienplanung auf Kosten der Frau mißbraucht werden. Sie legalisiert keine für die Frau gering-gefährliche Schwangerschaftsunterbrechung, denn sie führt - die Erfahrung in den Ostblockstaaten, in den skandinavischen Ländern, in England und in den USA haben dies bestätigt - eindeutig zu einem enormen Anstieg der Abtreibungen, zu einer Vervielfachung eines Eingriffs, der keineswegs, wie den Frauen zum Teil verniedlichend suggeriert wurde, eine Kleinigkeit darstellt. Die Abtreibung kann nämlich nicht nur psychische, sondern vor allem auch erhebliche körperliche Schäden haben. Ich erinnere an einen neueren Bericht von Margaret and Arthur Wynn über die Abtreibungsergebnisse und Entwicklungen in England, stammend aus dem Jahre 1972, wo festgestellt wurde, daß nach der Liberalisierung der Abtreibungsgesetze eine Verdoppelung der perinatalen Sterblichkeitsziffer, ein 40 %iger Anstieg der Zahl der Frühgeburten, ein 100- bis 150 %iger Anstieg der Zahl der Extrauterin-Schwangerschaften, ein Anstieg der Zahl der Beckenentzündungen, der Regelstörungen und anderer Leiden auf das Vierfache und ein Anstieg der Fälle nachfolgender Sterilität festgestellt wurde. ({3}) - Die haben das im wesentlichen bestätigt. ({4}) Wenn Sie sich bei unseren Ärzten umhören, werden Sie ähnliche Ergebnisse erhalten, und zwar von den gleichen Ärzten, die auch bei dem Hearing anwesend waren. ({5}) Die Fristenlösung berücksichtigt nicht die Berufsbestimmung und das Berufsethos des Arztes. Wie die Erfahrungen anderer Staaten folgerichtig zeigen und wie die Hochachtung vor den Ärzten in unserem Lande zu sagen gebietet, werden sich Ärzte und Krankenhauspersonal weigern, ihre Verpflichtung zu opfern. Die Frau wird abhängig sein von jenen, die sich über die ethische Verpflichtung des Arztes, Leben zu erhalten, hinwegsetzen. Schließlich wird die Fristenlösung auch das Problem der illegalen Abtreibungen nicht lösen. Die Zahl dieser Abtreibungen, die im übrigen weit überschätzt wird, wird zwar sinken, und zwar einfach deswegen, weil man nun illegale Aborte in großer Zahl für legal erklärt, trotzdem zeigen die Erfahrungen in den Ostblockstaaten und in England, daß viele Abtreibungen weiterhin illegal erfolgen. Gesetz und Wirklichkeit würden auch bei einer Fristenlösung auseinanderklaffen. Die Behauptung, die Fristenlösung verhindere die Flucht der Frauen in die Illegalität, entspricht deshalb nicht den Tatsachen. Sie kommt hingegen der Behauptung näher: Durch die Bestrafung von Mord wird der Mörder in die Illegalität getrieben. Und schließlich: Die Zeitspanne zur Überlegung vor einer Abtreibung verhindert falsche Entscheidungen nicht, zumal sich die Einflüsse von außerhalb verstärkt zum Nachteil des ungeborenen Lebens auswirken. Aus all diesen sachlichen, nicht widerlegbaren Gründen wenden wir uns mit aller Entschiedenheit gegen eine Fristenlösung. Ich halte sie für ungerecht, weil sie qualitativ gleichwertiges ungeborenes Leben in der ersten Phase seiner Existenz des strafrechtlichen Schutzes beraubt, den das geborene Leben genießt. Ich halte sie für unsozial, weil generell, ohne Rechtsgüterabwägung, ohne schwerwiegenden Grund im Einzelfall, das ungeborene Leben zugunsten der Schwangeren der Tötung preisgegeben wird. Ich halte sie auch für unmenschlich, weil dadurch der Tötung menschlichen Lebens freie Hand gelassen und einem Rechtsbewußtsein die Tür geöffnet wird, welches die Vernichtung lebensunwerten Lebens denkbar macht. Wer meint, durch Gesetze festlegen zu können, wann der Schutz des menschlichen Lebens zu beginnen hat, kann der nicht ebenso kühn durch Gesetz bestimmen, wann dieser Schutz enden soll? Ein Staat, der ungeborenem Leben auch nur zeitweise den umfassenden Rechtsschutz entzieht, stellt nach meiner Auffassung das Leben überhaupt in Frage. ({6}) Eine für die Union demnach allein in Betracht kommende Indikationenlösung darf diesen Grundsätzen nicht widersprechen. Sie darf in der Praxis nicht zu einem Ergebnis führen, das einer Fristenlösung und damit einer Freigabe der Schwangerschaft gleichkäme. Das wäre der Fall bei der Anerkennung einer sozialen Indikation, wie sie der Entwurf der Minderheit der SPD-Abgeordneten vorsieht. Diese Bestimmung ist so allgemein, so verschwommen gehalten, daß dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet ist. Sie legt weder Voraussetzungen noch Grenzen der Notlage fest, die eine Abtreibung rechtfertigen sollen. Sicherlich kann eine Schwangerschaft zu extremen seelischen und sozialen Belastungen der Schwangeren und ihrer Familie führen. Auch wir wissen um die Not und um die Schwierigkeiten, die eine solche Schwangerschaft zur Folge haben können. ({7}) Natürlich darf die Gemeinschaft die Mutter in einer solchen Notlage nicht allein lassen. Selbstverständlich muß sie helfen und jene Maßnahmen ergreifen, die solche Notlagen verhindern oder erträglich machen, wie es dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit und Art. 6 Abs. 4 GG entspricht. ({8}) Je mehr Hilfe der Staat gewährt, desto eher werden Schwangere bereit sein, die Schwangerschaft nicht abzubrechen. Ich meine, einem sozialen Rechtsstaat, einer Regierung, die das Attribut „sozial" besonders deutlich im Aushängeschild führt, steht es schlecht an, wenn als Ausweg aus sozialen Nöten die Tötung werdenden Lebens erlaubt wird. ({9}) Hier macht man es sich zu billig, hier schafft man -vielleicht unbewußt - den Ausweg, notwendige soziale Maßnahmen, die Geld kosten, als nunmehr überflüssig zu bewerten. Hier sollen mit dem Messer soziale Probleme geklärt werden. Ich würde es als ein Armutszeugnis für diesen Staat erachten, wenn es nicht gelänge, den Müttern und Familien aus schwangerschaftsbedingter sozialer Schwierigkeit mit anderen Maßnahmen zu helfen als mit strafloser Abtreibung. ({10}) Die Beratungen der Unionsparteien haben zu einem von einer großen Mehrheit getragenen Gesetzentwurf geführt, den Herr Dr. Eyrich am heutigen Vormittag bereits begründet und erläutert hat. Dieser Gesetzentwurf hat - trotz Abweichungen in Einzelheiten - die ganz überwiegende Zustimmung der CDU/CSU-Abgeordneten gefunden. Er bringt die Konfliktsituationen, die aus einer Schwangerschaft entstehen können, und die Grundsätze unserer Verfassung in Übereinstimmung und ist nach meiner Überzeugung eine bessere Alternative als die Fristenlösung und der Minderheitsentwurf der SPD-Abgeordneten. Mit den Bestimmungen dieses Entwurfs wird nicht nur der Schutz des ungeborenen Lebens vom Grundsatz her eindeutig garantiert. Wir sagen nicht nur: werdendes Leben ist dem geborenen grundsätzlich gleichzusetzen, es ist grundsätzlich unantastbar. Der Entwurf heißt in der Praxis: der Union ist es ernst mit dem Schutz des ungeborenen Lebens. ({11}) Der Entwurf gibt aber auch die Möglichkeit, im Einklang mit unserem Sittengesetz einvernehmlich mit einer vom Christentum geprägten Weltanschauung Konflikte zu lösen, bei denen die Interessenlage der Schwangeren Vorrang hat. So unumstritten bei der Union die medizinische Indikation war und ist, so problematisch war und ist eine Stellungnahme zur ethischen und zur kindlichen Indikation. Ein Ja dazu bedeutet: in bestimmten Fällen wird nicht nur das Lebensrecht der Mutter, es werden auch andere schwerwiegende Gründe höher bewertet als das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Für uns von der Union bleiben die grundsätzlichen Bedenken gegen eine eugenische Indikation, also die Rechtmäßigkeit der Abtreibung bei dringenden Gründen für die Annahme schwerer Schäden des zu erwartenden Kindes, bestehen. Sie verboten uns die Schaffung eines eigenen Tatbestandes. Niemand verkannte dabei die Bedrängnis der Schwangeren. Das harte Schicksal, die große Belastung, die vielen Schwierigkeiten, die ein geistig oder körperlich schwer behindertes Kind für eine Familie bedeuten kann, erfordern unsere Hilfe. Schwierigkeiten in der diagnostischen Abgrenzung, in der medizinischen Prognose sprechen jedoch von vornherein gegen die Zulassung einer eigenständigen eugenischen Indikation. Sie würde eine Verdachtstötung ungeschädigter Embryos bedeuten. Auch das Interesse des Kindes, dessen Leben um seiner selbst willen geschützt ist, bei dem kein Unterschied zwischen schutzwürdigem erfüllten und schutzlosem nicht erfüllten Leben gemacht werden darf, verbietet eine eugenische Indikation. Der Grenzbereich zur Euthanasie wird hier beschritten. In einem Staat, der sich sozial nennt, darf dies nicht sein. Durch die enge Verflechtung der Problematik kranken ungeborenen Lebens mit einer mediziniSpranger schen Indikation, deren Voraussetzungen grundsätzlich vorliegen müssen, wird nach unserer Auffassung ein Weg gefunden, der ebenso wie die Zulassung der ethischen Indikation von den meisten Abgeordneten der CDU/CSU trotz schwerwiegender ethisch-moralischer Vorbehalte, trotz weltanschaulich unterschiedlicher Überzeugungen nach reiflichem Überlegen, nach ernster Gewissensentscheidung begangen werden kann. Denn die Normen, die der Gesetzgeber seinen Mitbürgern auferlegt, die in ihnen enthaltenen Gebote und Ordnungsprinzipien lassen sich in einer Demokratie nur dann rechtfertigen, aufrechterhalten und nötigenfalls mit Sanktionen durchsetzen, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung diese Normen im Grundsatz als richtig, gerecht und sozial anerkennt. Wir Abgeordnete leiten unser Mandat vom Volk ab und sind dem ganzen Volke gegenüber verpflichtet. Wir haben demnach nicht das Recht, in dieser fundamentalen Frage allein nach persönlicher Weltanschauung, nach persönlichen Wertmaßstäben zu entscheiden. Wir müssen bereit sein, ein von der Verfassung getragenes Gesetz mitzuverantworten, von dem wir wissen, daß es zwar nicht den hohen persönlichen Anforderungen eines großen Teiles der Bevölkerung, auch nicht der eigenen persnölichen Ethik entsprechen mag, von dem wir aber überzeugt sind, daß es von der Bevölkerung in ihrer gesamten Pluralität als richtig und gerecht und sozial anerkannt wird. Der Konflikt zwischen persönlicher Haltung und Auffassung und der Verpflichtung gegenüber unserer Bevölkerung, zu einer allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen gerecht werdenden Strafrechtsregelung zu finden, fand seine Lösung in dem vorgelegten Fraktionsentwurf. Mit ihm haben wir auch gleichzeitig die Grundlage geschaffen, eine Fristenlösung zu verhindern, die nach meiner Auffassung mit jener Rechts- und Verfassungsordnung nicht vereinbar ist, wie sie 1949 im Grundgesetz kodifiziert wurde und von der die Väter des Grundgesetzes ausgingen. Dieser Indikationenlösung kann nicht entgegengehalten werden, daß sie sozial schwächere Frauen benachteilige und wieder in die Illegalität zum Kurpfuscher treibe. Keine Statistik hat bisher belegt, daß sozial schwächere häufiger abtreiben als bessergestellte Schichten. Statistiken zeigen aber, daß nur etwa 5 % der Abtreibungen durch nichtärztliche dritte Personen vorgenonmmen werden. Abtreibung ist nur im Einzelfall ein soziales Problem, so daß erst mit steigender wirtschaftlicher Sicherheit und Zufriedenheiet die Abtreibungsgzahlen gestiegen sind. Eine Rechtsordnung würde sich auflösen, wenn man Straftatbestände nur deshalb aufheben wollte, weil ihre Verletzung für eine bestimmte Schicht der Bevölkerung leichter ist als für eine andere. Es ist eine bedauerliche Binsenwahrheit, daß Reiche leichter eine Straftat verbergen können als Arme. Die Gleichheiet vor dem Gesetz kann aber nicht durch den Verzicht auf den Schutz eines Rechtsgutes, sondern nur durch seine strikte Anwendung hergestellt werden. Das Argument mit der Flucht in die Illegalität würde die Abschaffung dieses, anderer, ja aller Straftatbestände fordern müssen. Schließlich haben wir auch der Einführung einer Bedrängnisklausel zugestimmt. Um hier keinen Irrtum zuzulassen: Die Ansicht, es handele sich dabei um eine Art Sozialindikation, ist sachlich und juristisch nicht haltbar. Sie ist Ausdruck des Grundgesetzes „Gnade vor Recht". Der Staat erklärt danach jede Abtreibung, die nicht durch eine der im Entwurf enthaltenen Indikationen gerechtfertigt ist, als rechtswidrig und strafbar. In eng begrenzten Ausnahmefällen jedoch, beispielsweise in den Grenzsituationen, die einer Indikationsmöglichkeit nahekommen, oder in anderen Fällen menschlicher Ausweglosigkeit, gestattet der Gesetzgeber in Anlehnung an bereits bestehende Regelungen in den §§ 153 ff. StPO dem Richter, von Strafe abzusehen. Der Staat verzichtet in solchen Fällen auf die Durchsetzung seines Strafanspruches, sofern der Richter es nach seinem Gewissen verantworten kann. Etwaige Unterschiede in der Auslegung dieser Bestimmung müssen in Kauf genommen werden wie bei allen Ermessensentscheidungen, von denen unsere gesamte Rechtsordnung durchsetzt ist. Die Rechtsprechung und notfalls der Gesetzgeber werden Mißstände zu verhindern wissen. Hier zeigt sich wie so oft die Unzulänglichkeit allen Bemühens, Gesetze zu schaffen, die es allen recht machen und die mit absoluter Gerechtigkeit gleichgesetzt werden könnten. So kann es immer nur darum gehen, das Bestmögliche nach bestem Wissen und Gewissen anzustreben. Diesen Anspruch, diesen hohen Anspruch darf nach meiner Überzeugung der Entwurf der Fraktion der CDU/CSU erheben. ({12}) Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Timm. Seitens ihrer Fraktion ist eine Redezeit von 20 Minuten beantragt worden. ({13}) - Das Präsidium hat vor geraumer Zeit entschieden, daß Gratulationen zu Jungfernreden fortan nicht mehr ausgesprochen werden. ({14})

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht ganz sicher, ob ich nach dieser Rede des Herrn Kollegen Spranger meine mir vorgenommene Redezeit von 20 Minuten werde einhalten können. Mir ist bei der Rede des Herrn Kollegen Spranger wieder sehr deutlich geworden, daß wir es hier wohl mit einem der schwierigsten Gesetzgebungswerke zu tun haben - Herbert Wehner hat das gestern in einer Veröffentlichung gesagt --, die dieses Haus je zu behandeln gehabt hat. ({0}) Der Beitrag des Kollegen Spranger hat mir gezeigt, wie schwierig es ist, auch nur im Denkansatz einigermaßen in ein Gespräch miteinander zu kommen. ({1}) Daß wir aber offensichtlich sehr wenig aufeinander hören - auch innerhalb der eigenen politischen Gruppen -, scheint mir dabei auffallend zu sein. Denn ich habe den Eindruck gehabt, daß Sie, Herr Kollege Spranger, z. B. dem Herrn Kollegen Eyrich sehr wenig zugehört haben. Ich möchte deshalb versuchen, doch noch einmal auf einige Grundüberlegungen so kurz wie möglich zurückzukommen. Es ist doch wohl so, daß der Angelpunkt unserer Auseinandersetzung über die Reform des § 218 der Schutz auch des ungeborenen menschlichen Lebens ist; darum geht es uns allen. Es schmerzt etwas - um es gelinde zu sagen -, wenn dann plötzlich so zwischendurch in einem Nebensatz gesagt und unterstellt wird, nur der CDU sei es mit diesem Schutz ernst. - Entschuldigen Sie, Herr Kollege Vogel. Ich bin froh, wenn Sie mit dem Kopf schütteln. Aber ich habe das vor zehn Minuten von diesem Podium gehört. Ich habe es mir wörtlich notiert; das hat der Herr Kollege Spranger gesagt. Wenn er es nicht so gemeint haben sollte, bin ich nur froh darüber. - Wenn wir, die wir hier Reformgesetzentwürfe vorlegen, uns hinsichtlich dieses wesentlichen Punktes keine Übereinstimmung mehr zugestehen, dann ist es wirklich sehr schwer, einen Dialog zu führen. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte!

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Timm, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir bisher in dieser Frage hier im Hause einen, wie ich meine, weitestgehend übereinstimmenden Ausgangspunkt haben?

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe soeben gesagt, Herr Kollege Vogel, daß ich dankbar bin, wenn es so ist. Es wäre dann aber auch schön, wenn nicht das Gegenteil gesagt würde. Denn ich muß ja auch das in Erwägung ziehen - deshalb reden wir hier ja wohl miteinander -, was gesagt ist. Wir gehen auch davon aus ob es nun expressis verbis im Grundgesetz steht oder nicht -, daß Staat und Gesellschaft verpflichtet und wir alle aufgerufen sind, diesen Schutz zu gewährleisten. Aber die Frage, um die es uns hier geht, ist doch, ob und wie dies auch mit den Mitteln des Strafrechts möglich ist. Wir wissen - darüber sind wir uns auch einig; sonst würden wir hier nicht alle miteinander Reformgesetze vorlegen , daß der gegenwärtig noch geltende Strafrechts-Paragraph eben diesem Schutz nicht die erhoffte Wirkung gebracht hat, im Gegenteil! Er hat den Schutz eben nicht nur nicht bewirkt, sondern darüber hinaus Frauen und Familien in Not, Isolation, Kriminalität, Gesundheits-, ja, Lebensgefährdung getrieben. Frau Funcke hat hier vorhin noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, was mit diesem Leid gemeint ist. Aber ich möchte noch eines hervorheben. Die (C Existenz dieses Paragraphen hat bisher verhindert, daß wir uns hier überhaupt um andere Möglichkeiten - z. B. um Maßnahmen sozialpolitischer, gesellschaftspolitischer Art - bemüht haben, um das Problem Schwangerschaftsabbruch überhaupt als ein gesellschaftspolitisches, ein gesellschaftliches Problem zu erkennen, bis wir damit meine ich die Koalitionsfraktionen mit ihrer Initiative - jetzt zusammen mit dem Entwurf zur Reform des § 218 entscheidende Schritte eingeleitet, erste Bausteine gelegt haben zur besseren Verhütung ungewollter Schwangerschaften und zum besseren Schutz von Müttern und Kindern. Damit will ich sagen, daß überhaupt erst die Rücknahme des Strafrechts in diesem Bereich den Weg freimacht, endlich das Problem Schwangerschaftsabbruch als ein gesellschaftspolitisches und nicht nur strafrechtliches Problem zu erkennen und anzupacken. Ich sage das nicht mit Polemik, obgleich das manchen so im Ohr klingen mag: Solange wir alle die Vorstellung hegen, Strafandrohung sei in diesem Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens auch Schutz, geben wir uns einer Illusion hin, verdrängen wir die Tatsache, daß wir mit der bloßen Proklamation und Aufrechterhaltung der Norm hier ein Problem haben. Wir haben es verdrängt, Frau Funcke hat vorhin schon darauf hingewiesen. Wir alle haben einfach so getan, als existierte es nicht, etwa nach Palmström-Art, das nicht sein kann, was nicht sein darf. ({0}) Die 75 000 oder 80 000 oder 300 000 oder noch mehr Fälle - ich will hier über Dunkelziffern nicht rechten, 75 000 oder 80 000 Fälle im Jahr sind mir Problem genug - haben bisher offensichtlich im Bewußtsein dieser Gesellschaft überhaupt nicht stattgefunden, waren Privatsache. ({1}) Um das, was wir in dieser Gesellschaft an Problemen wahrzunehmen bereit sind, Herr Rommerskirchen, ringen wir mit Ihnen, auch mit Ihnen persönlich. Wir sind hier alle einzeln aufgerufen, uns persönlich miteinander über dieses Problem auseinanderzusetzen. Jetzt ist es plötzlich anders geworden, jetzt haben wir auch von Ihrer Seite des Hauses Entwürfe und gesellschaftspolitische Vorschläge. Das finde ich gut so. Genau das ist es ja, was wir wollen. Aber erst mit der Ankündigung der Reform ist der Weg - ich möchte das noch einmal sagen -, ist auch die öffentliche Diskussion möglich geworden. Wir alle wollen uns bemühen, so Schritt für Schritt uns sehr systematisch mit unseren gesellschaftspolitischen Maßnahmen weiterzuarbeiten, daß es Frauen und Familien besser als bisher möglich ist, gerne und ohne Not Kinder zur Welt zu bringen. Wir, die Koalitionsfraktionen - ich sagte es schon -, machen jetzt die ersten Schritte. Wir sind uns klar darüber, daß das auszubauen ist und ausgebaut werden muß. Aber es ist ein gesellschaftsFrau Dr. Timm politisches Konzept, in das auch die Strafrechtsreform hineingehört. Ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam machen. Wenn auch auf Ihrer Seite die Bereitschaft vorhanden ist, dieses Probleme als gesellschatfspolitisches Problem anzupacken, dann ist doch wohl offensichtlich auch gleichzeitig von allen Seiten des Hauses grundsätzlich anerkannt worden, daß die absolute Strafandrohung den Schutz nicht herstellt. Damit ist die Notwendigkeit der Reform anerkannt. Wir müssen aber - darüber sind wir uns einig - wirksamen Schutz herstellen. Im Grunde geht doch unsere ziemlich tiefgreifende und auch emotional aufgeladene Diskussion wesentlich um das Wie. Wie schaffen wir es, wie können wir es machen? Hier möchte ich noch einmal einiges herausstellen. Die verschiedenen Entwürfe, die dem Hause vorliegen, sind heute - wir haben es gehört - sehr deutlich dargelegt und begründet worden. Alle Entwürfe gehen davon aus, daß der Schwangerschaftsabbruch unter Bedingungen straffrei bleiben soll. Das heißt, der Abbruch der Entwicklung von werdendem menschlichem Leben soll strafrechtlich möglich sein. Nur in diesem strengen strafrechtlichen Sinne sprechen wir davon. Das berührt die ethisch-moralische Seite dieses Problems überhaupt nicht. Die vier diesem Hause vorliegenden Entwürfe unterscheiden sich im Grunde nur in bezug auf Art und Inhalt dieser Bedingungen. ({2}) Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte!

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß der Entwurf der CDU/CSU nicht einen Schwangerschaftsabbruch unter irgendwelchen Bedingungen straffrei macht, sondern daß es sich dabei vielmehr um die Abwägung von Rechtsgütern handelt, nämlich auf der einen Seite das Rechtsgut Leben und Unversehrtheit der Frau und Mutter, auf der anderen Seite das Rechtsgut des werdenden, noch nicht geborenen Lebens, daß es sich hierbei also nicht um irgendeine Bedingung, sondern um den Ausfluß einer Rechtsgüterabwägung handelt?

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich sehe den Unterschied nicht ganz. Sie sagen: Rechtsgüter werden gegeneinander abgewogen, sagen aber generell: Abbruch ist strafbar. Sie machen jedoch Ausnahmen, und die beschreiben Sie mit einer Indikation. Das meine ich mit Bedingung. Das ist doch wohl logisch. Wir nennen als Bedingung drei Monate; das ist die Grenze. Es geht um Inhalt und Art der Bedingung. Generell halten wir alle eine Strafandrohung aufrecht, machen aber Ausnahmen. Sind wir uns darin einig? Ist das logisch? ({0}) - Ich verstehe nicht, daß wir uns über eine solche Logik der Argumentation nicht einigen können. Mir scheint das jedenfalls logisch zu sein. ({1}) Mir geht es im wesentlichen darum, daß wir alle bereit sind, die absolute Strafandrohung unter Ausnahmebedingungen aufzugeben, und daß wir damit unter Bedingungen den Abbruch der Schwangerschaft, also den Abbruch der Entwicklung von werdendem Leben, strafrechtlich zulassen wollen. Das möchte ich deshalb betonen, weil sich das klar von der von uns allen anerkannten höchsten Strafandrohung im Falle eines Angriffs auf geborenes Leben unterscheidet, nämlich von der Unantastbarkeit geborenen menschlichen Lebens. Wenn das so ist, muß ich noch einmal von dieser Stelle aus die sehr ernste Bitte, ja, Forderung an alle jene richten, die draußen in der Öffentlichkeit z. B. mit der Autorität eines Kirchenamtes das erschreckende, schlimme Wort vom „Mord am ungeborenen Kind" in die Diskussion gebracht haben. Die uns allen bekannte und von uns gewollte klare Grundunterscheidung zwischen existentieller Andersartigkeit von werdendem Leben, das untrennbar auch an das Leben und die Existenz der Frau gebunden ist, und individuellem menschlichem Leben als Existenz nach der Geburt wird mit einer solchen Begriffsverwirrung in unzulässiger, ja, höchst gefährlicher Weise verwischt. Das ist eine schlimme Sache. Wir Frauen aus der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion haben bereits Anfang April öffentlich gegen eine solche diffamierende Unterstellung protestiert und zum Ausdruck gebracht, daß wir, die Frauen in dieser Fraktion - ich kann das heute für meine ganze Fraktion und wohl auch für die Koalitionsfraktionen insgesamt sagen -, durch derartige schlimme Verdrehungen unserer politischen Motivation tief verletzt sind. ({2}) Niemand in dieser Gesellschaft, ganz gewiß nicht in diesem Hause, wird jemals bereit sein, Bedingungen, Ausnahmefälle, oder wie immer man es nennen will, zuzulassen, wie begrenzt sie auch immer sein mögen, unter denen ein Angriff auf das Leben von Kindern begründet oder gerechtfertigt werden könnte. Ich kann nur glauben, daß man nicht genügend nachgedacht hat, bevor man solche Worte in die öffentliche Diskussion brachte. Hoffentlich ist man recht bald bereit, hierzu auch öffentlich klärende Worte zu finden. An dieser Stelle sprechen und rechten wir heute miteinander erstens über die Bedingungen und Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um Straffreiheit für einen Schwangerschaftsabbruch gewähren zu können, und zweitens darüber, wer entscheiden kann und soll, ob und wann solche Bedingungen und Voraussetzungen erfüllt sind. Deshalb nochmals: die grundsätzliche Frage, ob es solche Bedingungen geben kann, ist doch im Grunde längst geklärt im Bereich des Strafrechts, von dem wir hier reden. Ob es jemand mit seinem Gewissen, seinem Glauben, seiner Überzeugung vereinbaren kann, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, ist eine ganz andere Frage, bleibt jedem Menschen, jeder Religionsgemeinschaft, auch jedem religiös geführten Krankenhaus überlassen. Das wird von der Reform des Strafrechts nicht berührt. An dieser Frage, welche Bedingungen wann vorliegen müssen und wer entscheidet, scheiden sich die Geister. Ich meine, daß diese Fragen die eigentliche Krux unserer Auseinandersetzung sind und alles andere darum, gelinde gesagt, Vernebelung dieser eigentlichen Frage. In der Begründung zum Entwurf der Koalitionsfraktionen - meine Damen und Herren, ich möchte Sie sehr bitten, sich diese Begründung noch einmal in Ruhe durchzulesen; wir haben uns sehr viel Mühe gemacht, unsere Motivationen deutlich zu machen - sagen wir, und ich darf das zitieren, Herr Präsident: Wegen des untrennbaren Zusammenhangs des werden Lebens mit dem der Mutter ist es gerechtfertigt und notwendig, die Verantwortung der Mutter mehr als bisher einzubeziehen und deshalb den strafrechtlichen Schutz für das werdende Leben anders zu gestalten als für das geborene. Hier ist von diesem untrennbaren Zusammenhang von Mutter und werdendem Leben die Rede, und in der Tat ist damit die einzigartige, mit nichts zu vergleichende Situation im Prozeß der Reproduktion menschlichen Lebens gekennzeichnet. Einzigartig ist diese Situation in zweierlei Hinsicht: Einmal wächst dieser Keim des Lebens in der Frau, von der Frau, ist lange Zeit eins mit ihr und ist getrennt von ihr, besonders in den ersten Monaten, weder denkbar noch lebensfähig, geschweige denn schutzfähig. Schutz ist nur mit der Mutter und durch sie möglich. Diese Einsicht ist zentral. Der zweite mit nichts zu vergleichende Tatbestand, wie ich meine, ist der, daß es hier um menschliches Leben geht, nicht um irgendein biologisches Wesen, das da in die Welt gesetzt wird. Es geht um Menschen. ({3}) - Genau! Ich möchte das noch ein bißchen weiter ausführen dürfen, Herr Kollege. Ein Kind, das in unsere Welt, in diese Gesellschaft hineingeboren wird, braucht noch lange, um als Mensch in unserer Welt lebensfähig zu sein. Ein Menschenkind wird es nicht ganz allein. Um Mensch zu werden, braucht es andere Menschen, braucht es die Mutter noch lange Zeit nach der Geburt. ({4}) Darum geht es. Wenn eine Frau in einem frühen Stadium einer Schwangerschaft, die nicht gewollt ist, vor der Frage eines Abbruchs steht, dann steht sie doch letztlich vor der Frage, ob sie als Frau in ihrer Lebenssituation und auch in der Zukunft es leisten kann, Mutter zu werden, damit das in ihr keimende Leben Mensch werden kann. Das kann in Wirklichkeit doch nur sie allein wissen und beurteilen. Deshalb muß man im Grunde anders als üblich fragen ({5}) - ja, in der Tat, das meine ich so -: Wer darf es sich eigentlich von außen her anmaßen, als Jurist, als Arzt, als Sozialarbeiter zu entscheiden: „Du mußt Mutter werden", ohne daß der Entscheidende überhaupt wissen kann, ob damit der Mensch, der da werden soll, in seiner Entwicklung geschützt ist; und um den Schutz des Lebens geht es. Wir sagen noch einmal - ich zitiere aus der Begründung des Entwurfs der Koalitionsfraktionen -: Die Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft kann der Frau in keinem Fall genommen werden. Die Gewährleistung des Schutzes werdenden Lebens ist vornehmlich an die inneren und äußeren Möglichkeiten der schwangeren Frau gebunden. Meine Damen und Herren, alle Erfahrungen mit Indikationsmodellen stützen. diese grundsätzliche Einsicht, auch die Erfahrungen mit dem strengen Strafrecht, wie wir es bisher gehabt haben. Die Frauen würden, wenn einer Ihrer Entwürfe Gesetz werden sollte, weiter illegal und unter erschwerten, gesundheits- und lebensgefährdenden Umständen ihre Entscheidung treffen, weil sie sie haben. Es ist eine an diesen grundsätzlichen und von der Erfahrung bestätigten Einsichten vorbeigehende Argumentation, die, so meine ich, in die Irre führen muß, wenn gesagt wird, es gehe um eine Güter- und Interessenabwägung: hier die Interessen der Frau, dort die Interessen des werdenden Lebens. Ich meine, auch die sogenannte Rechtsgüterabwägung führt grundsätzlich in die Irre. Wenn menschliches Lebens als absolutes Rechtsgut genommen wird und dann auch die absolute Strafandrohung besteht, wie wir sie haben, und wenn man dort auch das werdende menschliche Leben einbezieht, dann kann es logischerweise nur einen Konfliktfall geben: Leben gegen Leben, Leben der Mutter gegen das Leben, das da wird. Dann kann es kein anderes Rechtsgut geben, das das Leben aufwiegt. Deshalb führt Sie Ihre Rechtsgüterabwägung, wenn hier Gesundheit der Mutter oder andere persönliche Notsituationen angeführt werden, sehr schwer in die Irre. Das relativiert unser unantastbares Rechtsgut „menschliches Leben" in unerträglicher Weise. - Herr Präsident, einige Male hatte ich hier Zwischenfragen zu beantworten. Ich wäre Ihnen daher dankbar, wenn Sie mir erlaubten, noch fünf Minuten zu sprechen. Vizepräsident von Hassel: Das tue ich gern. Wir haben allerdings ohnehin schon ein bißchen zugelegt.

Dr. Helga Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön! Ich muß noch einmal auf die Interessenabwägungen zu sprechen kommen. Ich meine, die Interessenabwägungen sind im Grunde abstrakt und nur gedanklich zu vollziehen. Man übersieht dabei doch das, was wirklich da ist, nämlich die existentielle Verbundenheit, das Aufeinanderangewiesensein von Mutter und werdendem Leben; dies ist eine ursprüngliche Interesseneinheit. Ich glaube - ich möchte auch das bitte nicht polemisch verstanden wissen -, dies ist für einen Mann in der Tat sehr schwer zu begreifen. Er kann sich das ja nur vorstellen. Erfahrbar und erlebbar ist diese Situation der Einheit nur für Frauen. ({0}) Das ist das, was Frau Funcke vorhin meinte, als sie davon sprach, was die grundsätzliche Beurteilung mit beeinflußt. ({1}) Es ist in der Tat ein großes Problem für uns alle, daß wir hier als Männer und Frauen miteinander Gesetzte machen müssen. Wir haben es hier mit einem Tatbestand zu tun, der unterschiedlich erlebt wird. - Herr Franke, Sie schütteln mit dem Kopf. Sie können doch nicht abstreiten, daß das so ist. (Abg. Franke ({2}) Es geht hier um die unmittelbare Lebenserfahrung der Frau. Es geht um Leben, und die Weiterführung des Lebens, um sehr grundsätzliche Dinge. Es darf nicht so sein, daß dann einfach nicht darauf gehört wird, wenn Frauen sagen, sie erlebten diese Situation in einer bestimmten Weise. Hier handelt es sich um eine der Verantwortung der Frau zukommende Entscheidung Ich will damit sagen: Nur Frauen können unmittelbar wissen, was Schwangerschaft und Mutterschaft und damit eben die Verantwortung, die auf sie zukommt, in dieser Gesellschaft bedeuten. Daher finden sie es auch selbstverständlich, daß die Entscheidung in einer Konfliktsituation letztlich in ihrer Verantwortung liegt. ({3}) - Ich sage „letztlich". ({4}) - Nein, nicht ganz so. Diese Entscheidung - dies möchte ich hier noch einmal sagen - werden sie sich so oder so, wie immer das Strafrecht aussehen wird, auch nicht nehmen lassen. Uns als Gesetzgeber und als Gesellschaft stellt sich im Grunde nur die Frage, ob wir endlich bereit sind, den Frauen diese Entscheidung und Verantwortung, die sie haben und sich nehmen, auch zuzuerkennen, also ihnen ihre Verantwortung ganz zu geben. Ich meine, nur dann kann das gelingen, was wir im Grunde alle wollen, nämlich nicht nur die Rate der illegalen Schwangerschaftsabbrüche, sondern allmählich überhaupt die Rate der Schwangerschaftsabbrüche und das damit verbundene Elend und Leid einzudämmen. Das klingt paradox. Ich bitte Sie, aber wirklich einmal ganz zu Ende zu denken, was die Verantwortung für das Leben für die Frauen bedeutet. Ich meine, wir sollten endlich die Verantwortung anerkennen, die die Frauen als Mütter in unserer Gesellschaft tragen, als Menschen, die werdendem Leben zum Mensch-werden verhelfen. Wenn das so ist - davon gehen wir auch in unserem Entwurf aus -, ist die Frage der Beratung von großer Bedeutung. Es muß gelingen, den Frauen eine Form der Beratung in diesen Fragen anzubieten, die es ihnen ermöglicht, in Abwägung aller denkbaren, bei dieser Entscheidung mitspielenden Faktoren ihre Verantwortung zu tragen. Voraussetzung dafür ist aber, daß der Berater der Frau ihre verantwortliche Entscheidung zuerkennt. Er darf nicht seinerseits Entscheidungsfunktion etwa in dem Sinne haben, daß er sagt: Nein, nein, meine liebe junge Frau, Sie können und Sie müssen ... , sonst verhalten Sie sich kriminell. - Wir sagen, die Beratung beim Arzt ist eine der Bedingungen der Straflosigkeit. Wir haben nach sorgfältigster Prüfung dieses schwierigen Problems die Überzeugung gewonnen, daß sich die Frau in ihrer Konfliktsituation, in ihrer intimsten Not am ehesten dem Arzt ihrer Wahl zu einer Beratung anvertraut. Der Arzt kann allerdings sagen: Nein, ich tue es nicht. - Er kann aber nicht sagen: Was Sie wollen, liebe Frau, ist kriminell. - Der Arzt kann auch sagen: Es fällt mir schwer, denn Sie hätten ja die und die Möglichkeiten. ({5}) - Herr Präsident, ich komme sofort zum Schluß. - Er kann auch sagen: Das Risiko für Sie und für mich ist groß. - Sie können ein wirkliches Gespräch haben, abwägen und zu Entscheidungen kommen, wofür aber wiederum die Voraussetzung ist, daß die Frauen in den ersten drei Monaten eben diese Entscheidungsfreiheit haben. Es wird an uns liegen, meine ich, in den weiteren, unter Umständen auch gesetzgeberischen Maßnahmen es den Ärzten besser als bisher zu ermöglichen, einen solchen Beratungsdienst zu leisten, einen Dienst, der ganz im Sinne ihres Berufs darauf zielt, menschliches Leben zu schützen; und darum geht es uns. ({6}) Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk. Für sie ist durch die CDU/CSU-Fraktion eine Redezeit von 45 Minuten beantragt worden. Bevor ich Ihnen das Wort gebe, möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen. Der Ältestenrat hegte die Hoffnung, daß wir heute abend 21 Uhr mit diesem großen Tagesordnungspunkt fertig werden. Zur Zeit haben wir noch 19 Wortmeldungen. Meine Bitte geht dahin, daß selbst bei nur zwei Langreden, die angemeldet sind, alle Redner ein bißchen versuchen, sich darauf einzustellen, daß wir mit unserer Zeit leidlich zu Rande kommen. Bitte schön, Frau Verhülsdonk.

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich will mich bemühen, die Zeit möglichst kurz zu halten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag, der zu fast 93% aus Männern besteht, hat bei der Reform des § 218 über eine Frage zu entscheiden, die in besonderem Maße die Frauen betrifft. Das fordert uns Parlamentarierinnen hier in Bonn heraus, uns besonders zu engagieren. Frau Funcke, Frau Kollegin Timm, ich bin gern bereit, Ihnen dieses Engagement zu bescheinigen, und ich bin auch bereit, Ihnen zu bestätigen, daß Sie sicherlich mit psychologischem Geschick sich möglicherweise emotionale Zustimmung verschafft haben mit den Argumenten, die Sie für Ihre Lösung, für die Fristenlösung, vorgetragen haben. Die Frage ist: Reicht das aus? Seit Jahren stehen wir in der Diskussion um diese Reform, und es gab, wie heute schon öfters gesagt, viel Emotionen, falsche Informationen, Unsachlichkeit. Noch immer hat sich der Staub nicht ganz gelegt. Das haben wir auch heute wieder hier erlebt. Die Meinungen prallen hart aufeinander, die Fronten gehen quer durch Parteien, Familien, durch die Generationen. Herr Kollege von Schoeler, Sie haben heute morgen einen Appell an den Bundestag gerichtet, die Frage der Reform des § 218 möglichst sachlich zu behandeln, und Sie haben dann als Beispiel der Unsachlichkeit unter anderem einen hohen katholischen Würdenträger zitiert. Das fordert mich geradezu heraus, Ihnen hier Äußerungen eines bekannten katholischen Publizisten zu zitieren, der sich bei der Koalition im allgemeinen hoher Wertschätzung erfreut. Ich meine Walter Dirks, der in den „Frankfurter Heften", 1. Jahrgang, 1946, in einem Aufsatz „Ein Wort an die Arbeitnehmerschaft in Sachen der Reform des § 218" zu der Frage des unerwünschten Kindes folgendes geschrieben hat: Es gibt zwei Lösungen der Frage des unerwünschten Kindes. Die eine ist defaitistisch. Sie heißt Abtreibung. Das ist die Linie des geringsten Widerstandes, die bequeme Lösung, die Kapitulation, die Patentlösung, wenn man sich nur einmal so weit gebracht hat, die Augen vor der einzigen unbequemen Tatsache zu verschließen, daß die Tötung menschlichen Lebens Mord ist. Die andere Lösung heißt für den einzelnen Mann und für die einzelne Frau ein tapferes, hartes Leben, Liebe zum Kind, Glaube an die Zukunft, heißt das für uns alle und vor allem für die Arbeiterbewegung Kampf um eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts und für einen gesetzlichen Schutz der kinderreichen Familie. Ich bin der Meinung: Jetzt gilt es, mit kühlem Kopf und Sachverstand eine gesetzliche Lösung zu finden, die sowohl das Rechtsbewußtsein der Gesellschaft wie auch den einzelnen menschlichen Konfliktsfall im Blick hat. In der öffentlichen Diskussion hat das von kämpferischen Frauengruppen ins Spiel gebrachte Wort vom „staatlich verordneten Gebärzwang", den Männer durch ihre Gesetze über die Frauen verhängen, eine gewisse Rolle gespielt. Es bewirkte, daß viele Frauen, vor allem die jüngeren, die Reform des § 218 vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung der Frau betrachteten. Die gesetzgeberische Antwort auf dieses Verlangen nach Selbstbestimmung müßte wohl „Fristenlösung" heißen; so wenigstens meinten viele. Der Denkansatz „Selbstbestimmung" erfaßt jedoch das Gesamtproblem nur an einem Zipfel. ({0}) Andere wichtige Prinzipien werden dabei außer acht gelassen. Wenn man sich heute in diesem Hause über die Reformbedürftigkeit des § 218 einig ist, dann doch deshalb, weil er einseitig das Recht des ungeborenen Kindes begünstigt, die Rechte der Frau dagegen außer acht läßt. Doch geht es nicht an, daß wir jetzt ins gegenteilige Extrem verfallen und - wie es die Fristenlösung vorsieht - genauso einseitig die Rechte der Frau zur Grundlage der Gesetzgebung machen. ({1}) Vielmehr muß es das Ziel sein, eine gerechte Abwägung der Rechtsgüter im ernsten Konfliktfall möglich zu machen. Einigkeit besteht in einem Punkt: Die illegalen Abtreibungen mit ihrem erhöhten gesundheitlichen Risiko für die Frau und den oft demütigenden Umständen sollen durch die neue Gesetzgebung vermindert werden. Wäre es aber nicht bloß ein Trick, wenn man hinginge und die illegalen Abtreibungen einfach legalisierte, wenn man sie schon nicht durch eine vorherige Beratung verhindern kann? Ich unterstelle einmal, daß zumindest in diesem Hohen Hause niemand für Willkür im Umgang mit menschlichem Leben plädiert und niemand mit gesetzgeberischen Mitteln geradezu eine Aufforderung zur Abtreibung aus beliebigen Gründen aussprechen will. Wir müssen uns daher fragen: Wie erreicht man es, daß weniger illegale Abtreibungen vorkommen, gleichzeitig aber das Bewußtsein von Wert und Würde menschlichen Lebens nicht beeinträchtigt wird? Man muß sich meines Erachtens Aufschluß darüber verschaffen, aus welchen Motiven Frauen abtreiben. Das ist bei Vorgängen aus dem Intimbereich nicht ganz einfach. Aber da können uns die Erfahrungen anderer Länder helfen, die ihre Gesetzgebung liberalisiert und Auskünfte über die Gründe für den Abtreibungswunsch eingeholt haben. Sehr Interessantes kann man hierzu aus dem Bericht einer Arbeitsgruppe des Royal College englischer Gynäkologen und Geburtshelfer erfahren: In vielen Fällen spielen ganz offensichtlich soziale Probleme vielfältiger Art eine Rolle. In England ist unter Verkennung der eigentlichen Absichten des Gesetzgebers - gerade in den sozial schwächeren Schichten eine Abtreibungsmentalität entstanden. Die stark steigenden Abtreibungszahlen weisen das aus. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis kann aber nur sein, daß Parlament und Regierung sich fragen müssen, wie sozial in Not geratenen Müttern mit anderen Mitteln als dem der Abtreibung geholfen werden kann. ({2}) Positive Maßnahmen sind in sehr vielen Fällen der beste Schutz des ungeborenen Lebens. Die Fraktion der CDU/CSU sieht hier den ersten und wichtigsten Ansatzpunkt zur Lösung vieler Konfliktfälle. Da sich die Bundesregierung im Bereich dieser Gesetzgebung bisher abstinent verhalten hat, hat meine Fraktion einen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission eingebracht, die untersuchen soll, durch welche sozial- und familienpolitischen Maßnahmen Frauen geholfen werden kann, ein ungeplantes Kind anzunehmen - oder auch, wenn das der Wunsch ist, ein weiteres zu planen. In der Begründung unseres Antrags steht, ohne Rangordnung, ein Katalog, der schon einmal die Richtung zeigen soll: angefangen von besserer Sexualerziehung über Verbesserung der materiellen Situation kinderreicher Familien, über besseres Angebot kinderfreundlicher Wohnungen, Kindergartenplätze, Kindertagesstätten, Spielplätze, Teilzeitarbeitsplätze. Sie kennen den Katalog, ich will ihn hier nicht bis ins einzelne hinein erörtern. ({3}) - Darauf möchte ich sehr gerne eingehen, Herr Kollege; Frau Funcke hat mich schon dazu herausgefordert. Sie hat soeben nämlich davon gesprochen, daß wir in zwanzig Jahren nicht all die familienpolitischen Maßnahmen geschaffen haben, die wir hier jetzt für wünschenswert und nötig halten. Ich muß dazu eines sagen. Die Grundlagen unserer Kindergeldgesetzgebung und unserer Familienpolitik stammen bezeichnenderweise im wesentlichen aus der einzigen Legislaturperiode, in der wir allein regiert haben, nämlich aus den Jahren 1957 bis 1961. ({4}) In späteren Legislaturperioden - das sage ich an die Adresse der FDP - hatten wir einen Koalitionspartner, der leider nicht immer bereit war mitzuziehen, wo wir sehr gern bereit gewesen wären. Auch daran muß man hier einmal erinnern. ({5}) Aber ich will das Thema nicht vertiefen. Im übrigen glaube ich, daß es für jede Gesetzgebung so etwas wie die richtige Zeit gibt, in der man etwas tun kann. Wenn man einmal die Geschichte der Gesetzgebung zurückverfolgt, muß man ganz klar erkennen, daß manches, was heute virulent geworden ist, zu früheren Zeiten nicht machbar oder eben nicht virulent gewesen ist. ({6}) Wir brauchen dringend ein umfassendes Konzept aufeinander abgestimmter Hilfen, bei denen Länder und Gemeinden beteiligt werden müssen. Manches wird nicht kurzfristig möglich sein, aber Wichtiges muß vorrangig verwirklicht werden. Meine Damen und Herren, in dieser Stunde, in der viele Menschen im Lande besorgt nach Bonn blicken, möchte ich einen eindringlichen Appell an Bundesregierung und Bundestag richten. Die sozialen Probleme der Mütter und Familien sind uns noch nie so deutlich und massiert vor Augen gekommen wie durch die bisherige Diskussion über die Reform des § 218. Es ist auch noch zu keiner Zeit bei so vielen gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und einzelnen Bürgern so viel guter Wille und Bereitschaft zur organisierten Hilfe für in Not geratene Mütter und werdende Mütter vorhanden gewesen. Nutzen wir diese Chance! Lassen Sie uns jetzt gemeinsam Schritte tun, die eine kinderfreundlichere Gesellschaft begünstigen! Frau Funcke, Ihr Beispiel, das Sie soeben brachten, der Brief mit der VierKinder-Familie, ist im Grunde ein Beispiel für die Kinderunfreundlichkeit der Gesellschaft. ({7}) Ich kann in diesem Falle aber nicht Ihre Konsequenzen ziehen, aus solchen Gründen dann das Mittel der Tötung der Kinder zu erwägen, sondern ich bin der Meinung, wir sind ein Land, das wohlhabend genug ist, sich andere Mittel zu überlegen, die humaner sind, um dieses Problem zu lösen. ({8}) Mobilisieren wir alle Kräfte aus dem Bereich der Wohlfahrtsverbände und der freien Bürgerinitiativen durch staatliche Förderung wirtschaftlicher und sozialer Hilfsmaßnahmen! ({9}) - Eine Sekunde, Herr Kollege, ich möchte hier einen persönlichen Vorschlag machen. Warum sollen wir nicht in dieser Stunde etwa eine Nationalstiftung „Hilfe für Mütter in Not" ins Leben rufen? Das wäre ein konkreter Anlaß, jetzt etwas zu tun, was ein Zeichen setzt. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. Ich wollte das nur zu Ende führen, Herr Präsident. Ich bin der Meinung, mit einer solchen Nationalstiftung - ich zweifle nicht daran, daß man einen beachtlichen Fonds aus sehr vielen Quellen zusammenbringen könnte - könnte man, schon bevor die Gesetzgebung geändert ist und bevor im sozialen Bereich mit den jetzigen Möglichkeiten geholfen werden kann, in vielen Fällen ad hoc etwas Konkretes tun. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, Sie sprachen soeben von der Tötung von Kindern. Darf ich annehmen, daß es sich da um einen Versprecher handelte.

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Entschuldigen Sie. „Tötung ungeborener Kinder" muß ich dann vielleicht sagen. Aber ich glaube, wir sollten uns hier nicht noch über Dinge verständigen müssen, die unter uns eigentlich klar sind, nämlich über das Vokabular. ({0}) - Herr Kollege Wehner, die Belehrung, die wir gerade eben von unserer Kollegin Frau Timm über das Leben erhalten haben, ist bei uns auf sehr fruchtbaren Boden gefallen; sie war aber eigentlich nicht mehr erforderlich. ({1}) Bevor wir in die letzte Lesung des Gesetzentwurfs eintreten, könnten schon erste Akzente gesetzt sein, z. B. die von allen Parteien geforderte Verbesserung der Beratungsdienste. Herr de With hat heute morgen gesagt, daß er diesem Bereich einen ganz besonderen Stellenwert zuerkennt. Nach den Vorstellungen meiner Fraktion sollen sich diese Beratungsdienste allerdings nicht nur auf den sicherlich eminent wichtigen Bereich der Familienplanung erstrecken, sondern neben der medizinischen auch die psychologische Beratung, z. B. Erziehungsberatung, und die soziale Beratung umschließen, also eine umfassende Beratung der Familie generell, nicht nur im Hinblick auf Schwangerschaften. Entscheidend dabei ist: Die in den Beratungsstellen tätigen Personen müssen zur Verschwiegenheit verpflichtet sein, wie es in unserem diesbezüglichen Antrag gefordert wird. Sonst werden die Dienste von der Bevölkerung mit Sicherheit nicht in Anspruch genommen. Es darf meines Erachtens z. B. nicht vorkommen, daß eine schwangere Frau sich beraten läßt und später eine Aufforderung erhält, mitzuteilen, ob und wann sie das Kind auch geboren hat. Strafandrohung allein schafft die Probleme nicht aus der Welt, gewiß, aber Aufhebung der Strafandrohung - mit Festlegung einer Frist - ebensowenig. Ein humaner Staat, der es mit dem Verfassungsgrundsatz des Art. 2 unseres Grundgesetzes ernst nimmt, muß hier, in sozialer Not, Strafe durch Hilfe ersetzen. Wir müssen natürlich anerkennen, daß Staat und Gesellschaft nicht in allen Konfliktfällen helfen können. Es verbleiben die Fälle, in denen äußere Hilfen wirkungsglos sind, nämlich jene, für die wir strafaufhebende Indikationen brauchen. Mein Kollege Dr. Eyrich hat heute morgen sehr eindrucksvoll unser Indikationsmodell begründet. Ich möchte hier aber noch einmal auf einige bestimmte Punkte eingehen. Zunächst jene Fälle, in denen eine Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muß, daß ihr Kind schwerbeschädigt zur Welt kommt. Niemand kann sich der Tragik einer solchen Situation verschließen. Soll man eine solche Mutter durch Strafandrohung zur Austragung des Kindes zwingen? Andererseits: Haben Behinderte kein Recht auf Leben? Kann man einfach behaupten, daß sie generell unglücklich seien und ihnen der Tod vieles erspare? Auch hier müssen wir sehr differenziert überlegen und handeln. ({2}) Wenn eine Frau mit der Last und Sorge um das Kind nicht fertig wird, wenn ihre seelische Lage verzweifelt ist und sie die Kraft zu dem aufopferungsvollen Weg, das Kind aufzuziehen, nicht aufbringt, kann man ihr ärztliche Hilfe nicht verweigern. Die Notlage der behinderten Menschen in unserer Gesellschaft wird allmählich in der Öffentlichkeit deutlicher erkannt und sachgerechter beurteilt. Trotzdem sind noch massive Vorurteile vorhanden. Eltern behinderter Kinder gehen oft einen bitteren Opfergang. Hartherzigkeit, Unverständnis, ja Aberglaube erschweren ihr Schicksal. Finanzielle Not und mangelnde Hilfseinrichtungen zur Erziehung und Ausbildung der behinderten Kinder treten hinzu. Auch hier scheint mir die Stunde gekommen, in der politisches Handeln nötig ist. Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/ CSU fordert die Regierung auf, eine bessere gesetzliche Grundlage für die Behinderten zu schaffen. Das Bundessozialhilfegesetz mit seinen Einkommensgrenzen reicht nicht mehr aus. Wir brauchen ein Leistungsgesetz für Behinderte, und zwar möglichst kurzfristig. ({3}) Geistig und körperlich Behinderte könnten in vielen Fällen besser als bisher in die Gesellschaft eingegliedert und so in ein sinnvolles Leben geführt werden. Es werden auch in Zukunft, gewollt oder ungewollt, geschädigte Kinder geboren werden. Das ist durch keine Abtreibungsgesetzgebung zu verhindern. Aber Behinderte sind keine Ballastexistenzen. Sie fordern durch ihre Hilfebedürftigkeit ihre Umgebung heraus, humaner zu werden. Viele junge Menschen in unserem Lande haben das begriffen. Wir sollten deshalb großzügig jenen Frauen und Familien beiestehen, die ein solch schweres Schicksal bewußt annehmen. Ihre Last muß erleichtert werden. Vielleiecht läßt sich durch eine solche Gesetzgebung auch die Sensibilität der Menschen für die Probleme der Behinderten insgesamt positiv beeinflussen. Noch ein Wort zu den in unserem Entwurf vorgesehenen Gutachterstellen. Es ist im Verlaufe der langen Diskussion den Frauen leider von vielen Seiten geradezu eingeredet worden, ein Besuch bei einer ärztlichen Gutachterstelle sei für eine Schwangere unzumutbar. Wenn man anstrebt, daß die Frau in jedem Fall - aus welchen Gründen auch immer - ihren Entschluß zur Abtreibung verwirklichen kann, dann braucht man natürlich keine Gutachterstelle. Die Fristenlösung ist da ganz konsequent; sie räumt dem beratenden Arzt keine Mitentscheidung ein. Wenn man jedoch davon ausgeht - und das tun meine politische Freunde und ich - daß die Gründe für eine Abtreibung sachlich geprüft und abgewogen werden müssen, muß man die Gutachterstellen auch so ausstatten, daß sie wirklich sachgerecht abwägen können. Der Vorschlag im Gruppenantrag der SPD-Abgeordneten um Dr. Müller-Emmert entspricht diesem Erfordernis nicht. Er kennt nur den behandelnden Arzt und den schriftlich votierenden Gutachter. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten von Bothmer?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich diesen Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. - Wenn der Gutachter nur auf die Indikationsstellung des behandelnden Arztes hin urteilen soll und selber die Patientin nicht untersucht, was bleibt ihm dann für seine Beurteilung? Am Ende kann er doch nur antworten: Wenn es so ist, Herr Kollege, wie Sie schreiben, dann nehmen Sie halt die Abtreibung vor. - Gerade aber die Frage der Kontrolle der Indikation hat sich in England als der kritische Punkt der Gesetzgebung erwiesen. Mit einer bewußt laschen Regelung kann man den Abtreibungswilligen - seien es Frauen oder Ärzte - Tür und Tor öffnen. Doch dann steht das Prinzip der Abwägung der wichtigen Gründe nur noch zum Schein im Gesetz. Bitte schön, Frau Kollegin!

Lenelotte Bothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000237, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, wissen Sie, was es für eine Frau bedeutet, diesen Weg zu der Gutachterkommission zu gehen? Haben Sie eine Ahnung davon, wie es ist, wenn man von einem Arzt zum anderen gehen muß, wenn man sich so demütigen lassen muß, daß man sich überhaupt nicht mehr traut, mit jemandem zu sprechen und seine Lage einem Arzt wirklich darzustellen? Und wenn dann diese Gutachter „sachlich", wie Sie sagen, aber fern den Problemen, die diese Frau bewegen, entscheiden, halten Sie das für der Würde der Frau angemessen? ({0})

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muß sagen, Sie gehen von der derzeitigen Rechtslage aus, nämlich davon, daß Ärzte eben keine Abtreibungen vornehmen dürfen. Wenn man dann hausieren gehen muß, um einen abtreibungswilligen Arzt zu finden, wird das sicherlich demütigend sein und so, wie Sie es beschrieben haben. Wenn man aber eine Gutachterstelle hat, die ja die Aufgabe hat, abzuwägen, ob ernste Gründe für eine medizinisch-psychologische Indikation vorliegen, ist die Situation offenbar völlig anders. Im übrigen muß ich sagen, meine Meinung von den Ärzten ist wesentlich positiver. Aber darauf komme ich gleich noch einmal zurück. ({0}) Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Funcke?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000620, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ist Ihnen be-bannt, daß wir auch schon heute Gutachterstellen für Anträge bei medizinischer Indikation haben?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist mir bekannt; dazu möchte ich gleich noch etwas ausführen, Frau Funcke. Die ärztlichen Standesorganisationen haben durch ihre bekannten Stellungnahmen ein hohes ärztliches Ethos bewiesen. Sie wehren sich mit Recht dagegen, daß gesetzliche Regelungen getroffen werden, die Ärzte in die Gefahr der Korrumpierung bringen. Deshalb sollte der Ärzte, aber auch der betroffenen Frauen wegen an der in unserem Entwurf vorgesehenen Gutachterstelle festgehalten werden. Die Erfahrungen, die bisher mit Gutachterstellen gemacht wurden, sind generell gar nicht so negativ, Frau Funcke. Ich meine jetzt nicht solche, die bei Amtsärzten angesiedelt sind. Ich sehe durchaus die Problematik, daß sich da nämlich eine Art Abtreibungsgeographie ergeben kann, ähnlich wie wir es bei Ehescheidungen schon mit einer Scheidungsgeographie zu tun haben. Aber wir denken ja hier an Institutionen, die von den Ärztekammern installiert werden und die ja dann so verfahren wie etwa die Gutachterstelle in Hamburg. Frau Funcke: ({0}) : Frau Kollegin, Sie sagen, das sei alles ganz neu. Wissen Sie nicht, daß in Nordrhein-Westfalen solche Institutionen längst bestehen und daß es gar nicht so furchtbar neu ist, wie Sie es sagen, so daß die Situation, die Frau Kollegin von Bothmer beschrieb, in keiner Weise geändert wird, nämlich die Bemühungen, einen Arzt zu finden, der erst einmal den Antrag an diese Kammer stellt, und dann die Angst, ob man in dieser Kammer auch tatsächlich nachher das Ja bekommt oder ob man abgelehnt wird?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Funcke, ich fürchte, auch Sie gehen von der derzeitigen Rechtslage aus, nämlich von einem Gesetz, wonach es nicht einmal eine medizinische Indikation, sondern nur eine durch Rechtsprechung eröffnete Möglichkeit gibt. Ich glaube, daß auf der Basis eines neuen Indikationsentwurfs und unter dem Tatbestand, daß Ärzteorganisationen sich ja sehr verantwortlich und sehr ausdrücklich zu der Gesamtproblematik geäußert haben, in Zukunft andere Bedingungen bestehen werden als wir sie zur Zeit haben. ({0}) Ich möchte mich dabei auf eine dpa-Meldung vom 15. März 1973 berufen, in der die Hamburger Gutachterstelle - Leiter ist Dr. Wilhelm Ahrens - von ihren Erfahrungen mitteilt: „Nach vier Arztbesuchen und innerhalb von drei Tagen ist die Genehmigung zu einer Abtreibung erteilt." Ich bin sicher, daß sich die Ärztekammern bemühen werden, eine möglichst einheitliche Handhabung herbeizuführen. Sie sind mit Sicherheit nicht zu ver1820 dächtigen, daß sie sich aus irgendwelchen erzkonservativen und moralistischen Gründen bewußt in ein Bremserhäuschen setzen werden, wenn es um die Gesundheit der Frau geht. ({1}) Schließlich ist bei der Gutachterstelle auch der Fall in Betracht zu ziehen, daß sich eine Frau im Gewissen schwertut, in eine ärztlich empfohlene Abtreibung einzuwilligen. Auch diesen Fall muß man ja einmal in Betracht ziehen. Hier kann ihr das Gutachten dreier Ärzte die Entscheidung erleichtern. Bei ernstlichen Allgemeinerkrankungen geht heute ja ganz allgemein die Tendenz der Patienten eher dahin, mehrere Ärzte hinzuzuziehen, um die Sicherheit der Diagnose zu erhöhen und um sich als Patient zu beruhigen. Das sollte man in den Fälen einer medizinischen Indikation auch der Frau zugestehen. Ich weiß natürlich, was gegen drei Gutachter eingewandt wird: das schrecke die Frauen ab und treibe sie auf den illegalen Weg, der ja doch vermieden werden soll. In diesem Zusammenhang möchte ich doch darauf hinweisen, daß in Ländern mit sehr liberalisierter Gesetzgebung trotzdem weiterhin illegal abgetrieben wird. Es bleiben zumindest jene Fälle im Dunkeln, in denen bestehende Schwangerschaften vor der eigenen Umgebung, aus welchen Gründen auch immer, verheimlicht werden sollen, unter Umständen vor dem eigenen Ehemann. Herr Dr. Müller-Emmert, ich möchte auch noch mit einem Satz auf Ihre Einlassung eingehen, die Sie heute morgen zu der Frage der generellen Straffreiheit der Frau gemacht haben. Fürchten Sie nicht, Herr Dr. Müller-Emmert, daß man die Frau, wenn man sie bei eigenhändiger Durchführung der Abtreibung generell straffrei stellt, geradezu auffordert, das in Zukunft selbst zu tun, mit all den bedenklichen Konsequenzen, die das für ihre Gesundheit haben würde, wenn nämlich der Arzt befürchten muß, daß er bestraft wird? Ich will nur dieses eine Motiv eben in die Debatte werfen. Auch eine befristete Aufhebung der Strafandrohung schafft die Probleme nicht aus der Welt; im Gegenteil, es entstehen neue. Die Ärzte befürchten, daß eine Flut von Abtreibungen auf uns zukäme, mit all den nachteiligen Folgen, wie wir sie aus England und den Ostblockländern kennen. Heute morgen ist schon einmal der Wynn-Report herangezogen worden. Ich erlaube mir, daraus nur einen einzigen kurzen Absatz zu zitieren, und zwar die Ziff. 10 unter der Überschrift „Folgen der Abtreibung bei späterer Ehe". Ich zitiere: Ein Mann bekommt wahrscheinlich eher eine unfruchtbare Frau oder ein totgeborenes oder zu früh geborenes oder gar mißgebildetes Kind, wenn er ein Mädchen heiratet, das einen künstlichen Schwangerschaftsabbruch an sich vornehmen ließ. Eine unverheiratete Frau, die einmal oder mehrmals abtreiben ließ, ist deshalb weniger für Mutterschaft und infolgedessen für die Ehe geeignet. Ähnlich interessante Dinge können Sie auch unter anderen Gesichtspunkten in diesem Report finden. Müssen wir die Fehler anderer Länder nachmachen? Sollten wir nicht vielmehr aus diesen Erfahrungen Lehren für unsere eigene Entscheidung ziehen?! Wie drängend ist denn heute überhaupt noch das Problem der ungewollten Schwangerschaft? Unsere sinkenden Geburtenziffern zeigen, daß bereits breite Schichten der Bevölkerung Familienplanung betreiben. Ich glaube, heute morgen wurde gesagt, daß 45 % der Frauen die Pille nehmen. Darüber hinaus gibt es, wie Sie wissen, auch noch andere Verhütungsmittel. ({2}) - Aha! Na ja, ich glaube, in der Bundesrepublik sähen die Zahlen, wenn man sie einmal ermitteln würde, nicht wesentlich anders aus. Sachverständige haben bei den Hearings, die in der letzten Legislaturperiode durchgeführt worden sind, ausgesagt, daß auch die kriminellen Abtreibungen ständig abnehmen. Außerdem scheint nur noch ein geringer Prozentsatz, nämlich etwa 5 %, durch Laien vorgenommen zu werden. Professor Helge Pross glaubt so hat sie im Hearing ausgesagt -, daß zwei Drittel der Frauen einen Arzt für den Eingriff gewinnen. Nach der Untersuchung von Hußlein sind es sogar 87 %. Darf man in dieser Situation, im Jahre 1973, wo wir sichere Verhütungsmittel haben, durch eine Fristenlösung dazu anregen, daß Abtreibung doch wieder zu einem Mittel der Geburtenplanung wird? Wollen wir nicht lieber mit allen Mitteln, denen der Gesetzgebung und auch denen der Meinungsbildung, die Anwendung von Verhütungsmitteln erleichtern? Ich möchte noch einmal die Devise der Selbstbestimmung der Frau aufgreifen. Selbstbestimmung setzt doch die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln voraus. Verantwortliches Handeln von Mann und Frau muß aber einsetzen, bevor es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt. Wenn man Frauen unter der Devise der Selbstbestimmung das Recht an die Hand gibt, aus beliebigen Motiven ungeborenes Leben abzutöten, dann überfordert man die Gewissen vieler Frauen. ({3}) - Die Männer kommen noch, Frau Kollegin. Im Wahlkampf konnte ich mich leider des Eindrucks nicht erwehren, daß mit dem Argument der Selbstbestimmung darauf spekuliert worden ist, die politische Zustimmung der Wählerinnen nicht nur zu dieser Gesetzgebung, sondern auch zu der Wahlentscheidung insgesamt zu erhalten. In der Begründung des Koalitionsentwurfs kann man im Kapitel „Vorteile des Fristenmodells" lesen, daß etwa vom vierten Monat an bei der Schwangeren das Gefühl für das Kind wächst. Und es heißt dann weiter, daß, falls die kritische Phase der ersten drei Monate mit Hilfe des beratenden Arztes überwunden werde, danach die Disposition zum Schwangerschaftsabbruch wesentlich geringer sei. Ich kann nur sagen: Sehr wahr! Daraus ist aber doch die Schlußfolgerung zu ziehen, daß viele Frauen, mit höherer Disposition zum Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten, überfordert sind - aus den bekannten Gründen: Unpäßlichkeit, Das-sich-noch-nicht-an-den-Gedanken-gewöhnt-Haben und was alles noch hinzukommt -, wenn man ihnen in dieser Situation die Entscheidung allein überantwortet. ({4}) Lesen Sie doch bitte einmal nach, was in dem Bericht dieser Arbeitsgruppe des Royal College über die Frage des unerwünschten Kindes steht. Dort können Sie sehr genau sehen, daß die Frauen, die angeben, in der ersten Zeit der Schwangerschaft das Kind nicht gewünscht zu haben, im allgemeinen aber auch sagen, es sei ihnen hauptsächlich zeitlich nicht passend gekommen, es sei aber nicht generell unerwünscht gewesen. Andere - es ist eine sehr beachtliche Zahl von Müttern - geben an, daß sich ihre Einstellung vom Anfang zu der unerwünschten Schwangerschaft ab drittem, viertem Monat zumindest dann, wenn Leben gespürt wird, doch radikal verändert hat. In dem Koalitionsentwurf kommt bemerkenswerterweise der Kindesvater nicht vor. In der Praxis gibt es ihn aber, ({5}) sei es als Ehemann, sei es als Freund. Man muß sich doch fragen, welche Rolle der Mann bei der Entscheidung spielt. Aus den englischen Berichten weiß man, daß junge ledige Mütter angeben, vom Kindesvater zur Abtreibung veranlaßt worden zu sein. Bei den Mittelschichten kommt übrigens interessanterweise der Druck eher von den Eltern, wie man aus den englischen Berichten ersehen kann. Ich frage mich, wie man bei eingeführter Fristenlösung in Zukunft den Vater etwa zur Alimentenzahlung heranziehen will, wenn sich die Frau gegen seinen Willen entschließt, das Kind auszutragen, statt es abtöten zu lassen. Wie sieht andererseits die eheliche Situation aus, wenn der Vater das Kind will, die Mutter aber aus irgendwelchen Gründen, sei es gar Sorge um ihre Figur oder etwa ein geplanter Urlaub oder ihre persönliche Freizügigkeit oder ihre Berufstätigkeit, die Fortsetzung der Schwangerschaft ablehnt? Denken Sie bitte einmal auch über die da neu entstehenden Konflikte nach! Wir machen ja demnächst ein neues Eherecht; ich glaube, daß sich darin einiges niederschlagen dürfte. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau von Bothmer?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, wenn ich mich noch im Rahmen meiner Redezeit halte! Ich bin auch gleich zu Ende.

Lenelotte Bothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000237, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie von solchen Beispielen sprechen, daß Frauen wegen einer Urlaubsreise oder ihrer Figur wegen kein Kind haben wollen: Glauben Sie nicht, Frau Kollegin, daß, wenn es sich um solche werdende Mütter handelt, es vielleicht ganz gut ist, wenn sie nicht für ein Kind zu sorgen haben, da wir alle wissen, daß Kinder von einer Mutter wirklich etwas erwarten müssen, nämlich Liebe und Zuneigung und nicht solche Oberflächlichkeiten? ({0})

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte dazu sagen, ,daß ich mir sehr gut vorstellen kann, daß eine Frau, wenn sie solche Pläne hat und zunächst mit dem Problem der Schwangerschaft nur einmal in Gedanken konfrontiert ist, wenn die Fristenlösung da ist, wirklich diesen Weg erwägt, daß sie sich aber im Laufe der Zeit durchaus anders auf das Kind einstellt. Gehen Sie einmal in die Heime, die mittlerweile von dem Sozialdienst katholischer Frauen errichtet sind! ({0}) - Ich bin sehr oft dagewesen, Herr Schellenberg. Glauben Sie nur nicht, daß nur die Damen der Koalitionsfraktionen mit den Lebensproblemen der Frau konfrontiert sind und wir im Ghetto leben! ({1}) Ich habe die Möglichkeit, bei sehr vielen Frauen nachzufragen, da ich außer meiner Funktion im Bundestag auch noch den Vorsitz von sehr starken Frauengruppen habe, die für mich ein Lager sind, wo ich rückfragen kann. Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, halten Sie es für möglich, daß es bei den von Ihnen apostrophierten Frauen infolge der Schwangerschaft zu einer Charakteränderung kommt?

Roswitha Verhülsdonk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube nicht, daß es die Frage der Charakteränderung ist. Befragen Sie doch einmal bitte die Ärzte! Mit der Schwangerschaft vollzieht sich ein hormoneller Ablauf. Ich bin nicht Arzt, aber so viel weiß ich denn doch, und zwar aus eigener Erfahrung; ich habe immerhin zwei Kinder geboren. Dieser hormonelle Ablauf bedingt erhebliche Stimmungsveränderungen und -schwankungen, die sich im Laufe der Zeit völlig anders einpendeln. Glauben Sie nicht auch, daß viele Kinder, die zunächst ungewollt waren, hinterher das Lebensglück der Familie sind und oft auch das Lebensglück der Mutter? ({0}) Ich meine, daß wir die Sache nicht von Ausnahmefällen und Extremen her, sondern vom Generellen her sehen sollten. ({1}) - Ja, weil ich sie im Zusammenhang mit der Fristenlösung als neu auftauchende Problematik sehr deutlich erkennen muß. Aber ich will versuchen, mit Rücksicht auf die vielen Kollegen, die noch reden wollen, jetzt zu Ende zu kommen. Dem Indikationsmodell wird vorgeworfen, es biete Anlaß - ({2}) - Ach, entschuldigen Sie, das ist vielleicht meine redaktionelle Ader! Ich möchte auch einmal im Ausdruck wechseln, es hat keine Bedeutung. ({3}) Dem Indikationsmodell wird vorgeworfen, es biete Anlaß für unterschiedliche Auslegungen, und damit entstehe die Gefahr der Rechtsunsicherheit. Ich frage mich, wie es um die Juridikabilität des Fristenmodells steht. Wer auch immer soll die Dreimonatsgrenze kontrollieren? Das kann nicht einmal der Arzt, der sich auf die Aussagen der Frau über den Beginn der Schwangerschaft verlassen muß. Ab dem vierten Monat steigt aber die Komplikationsquote bei Abtreibungen erheblich. Lesen Sie bitte auch hierzu den Bericht der englischen Ärzte, die sehr genau darstellen, welche Folgen bei Abtreibungen ab der 20. Woche auftreten. Was die Sorge um die Frauen aus sozial schwächeren Schichten anbelangt, für die man eine größere Rechtsunsicherheit bei einem Indikationsmodell annimmt, da sie sich nicht so gut verständlich machen könnten, möchte ich sagen: Ich habe da eine wesentlich optimistischere Meinung über unsere Ärzte. ({4}) Sie haben doch auch in sonstigen Krankheitsfällen bewiesen, daß sie der Situation aller Patienten aus allen Schichten gerecht werden, und zwar der physischen und der psychischen Situation, da in der Bundesrepublik seit Jahren eine ganzheitliche Medizin betrieben wird. ({5}) Es können hier nicht alle Gesichtspunkte erörtert werden, die einen noch verlocken könnten, sich speziell mit den Aussagen in der Begründung des Fristenmodells auseinanderzusetzen. Vielleicht kann aber schon die in unserem Antrag auf Drucksache 7/552 geforderte Fachkommission, die die Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche untersuchen soll, im Laufe der Beratungen weiteres Material zur Entscheidungshilfe beisteuern. Es wurde soeben eingewandt, die bisherigen Hearings hätten das Spektrum nicht in voller Breite eröffnet. Hier geben wir Ihnen eine neue Chance, weitere Gutachter zu hören. Ich sehe dem mit Interesse entgegen. Meine Damen und Herren von der Koalition, die Reform des § 218 hat wie kaum ein anderes gesellschaftliches Problem breite Schichten unseres Volkes interessiert und mobilisiert. Auf unseren Tischen häufen sich Briefe und Resolutionen von einzelnen und von Gruppen. Heute gab es die Nachricht, daß dem Hause inzwischen insgesamt 100 000 Petitionen vorliegen. Frau Funcke sagte vorhin, sie bekomme viele Briefe, in denen einzelne Konfliktsfälle dargestellt seien. Ich bekomme auch solche Briefe, nicht nur solche, die sich gegen die Fristenlösung wenden. Ich muß aber sagen: im Verhältnis zu der großen Flut der nachdrücklich vorgebrachten Vorstellungen hinsichtlich einer realistischen und sachgerechten Entscheidung sind solche Beispiele in der Minderheit. Meine Damen und Herren von der Koalition, ich bitte Sie inständig: nehmen Sie das breite Engagement gegen die Einführung der Fristenlösung ernst, hören Sie auf die Argumente, und helfen Sie mit, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die in ausgewogener Weise Würde und Wert des menschlichen Lebens sichtbar macht und in schweren menschlichen Notlagen Hilfe statt Strafe anbietet. ({6})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat Frau Abgeordnete Schlei.

Marie Schlei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001979, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Kollegin Vorrednerin hatte es als Sozialpolitikerin nicht sehr leicht, obwohl ich ihre Rede bewundere. Ihre Fraktion hat ihr keine Chance gegeben, über soziale Ergänzungsmaßnahmen zu berichten, die erforderlich sind, um dem Gesamtproblem begegnen zu können. Alle Ihre Anträge, die Sie unter dem Datum 11. Mai eingereicht haben, waren wahrscheinlich keine Grundlage für eine sozialpolitisch ausgerichtete Rede. Nun zu meinen Ausführungen, die einen Grund haben: Bereits in der Regierungserklärung zu Beginn dieses Jahres hat Bundeskanzler Willy Brandt betont, daß das Problem des Schwangerschaftsabbruchs dringlich zu lösen sei, daß aber auch dieses Problem nicht aus dem gesellschaftlichen Rahmen genommen werden könne. Er kündigte an, daß es neben einem Abbau kinderfeindlicher Tendenzen und dem Ausbau der Familienplanung in dieser Legislaturperiode einer Reform des § 218 bedürfe. Hiermit wurde bereits deutlich gemacht, daß es die Sozialdemokraten keinesfalls bei der strafrechtlichen Neugestaltung der Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch bewenden lassen wollten. Meine Fraktion geht hier noch einen sehr wesentlichen Schritt weiter. Sie betrachtet nämlich alle Maßnahmen, die sie im Bereich der Gesundheitssicherung und Familienpolitik konzipiert und gemeinsam mit dem Koalitionspartner als Gesetzentwürfe vorgelegt hat, als den wichtigeren Teil der Gesamtreform. Dabei war es ein Anliegen meiner Fraktion, ein recht umfassendes und finanziell abgesichertes Angebot an Lebenserleichterungen für die Familie vorzulegen, um es möglichst gar nicht erst zu einer den Schwangerschaftsabbruch so häufig auslösenden Konfliktsituation kommen zu lassen. Wie so oft, wenn es um über Jahrzehnte hinweg vernachlässigte Aufgaben im sozialen Bereich geht, kann ein einzelnes Gesetz kaum eine Patentlösung vielschichtiger gesellschaftlicher Probleme bringen. Noch viel weniger ist dies möglich, wenn es um ein Anliegen der Frauen geht, wo neben objektiven Schwierigkeiten insbesondere überkommene oder ideologiebehaftete Vorstellungen zu überwinden sind. Dies gilt, so meine ich, in besonderem Maße für eine sozial befriedigende Gesamtreform des § 218. Eine in unserem Sinne erfolgreiche Lösung dieses Problems bedarf daher der tätigen Mitarbeit aller gesellschaftlichen Gruppen, vor allem auch, um bestehende Vorurteile abzubauen. Gleichzeitig müssen wir darauf hinwirken, daß die von uns angebotenen Hilfen im Bereich der Gesundheits-, Familien- und Bildungspolitik mit in die persönliche Lebensgestaltung einbezogen werden. Kinderfeindliche Tendenzen lassen sich ohne eine bewußte und verantwortungsvolle Elternschaft kaum abbauen. Dies setzt unseres Erachtens ein breit gefächertes Angebot familienplanerischer Maßnahmen voraus. Als besonders wichtig sehen wir daher die für Familien mit kleinen Kindern angebotenen Hilfen an, wie sie im Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen sind. Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß es sich hier um eine Initiative der sozialdemokratischen Parlamentarierinnen aus der vorhergehenden Legislaturperiode handelt. Sie wurde von den Sozialpolitikern und dankenswerterweise von den Koalitionsfraktionen aufgegriffen. Damit wird ein altes Anliegen der Frauen in meiner Partei und in den Gewerkschaften nunmehr einer Lösung zugeführt. Wir halten es für unsere Pflicht, allen erkrankten Müttern kleiner oder behinderter Kinder eine Haushaltshilfe zu stellen oder für eine selbstbeschaffte Aushilfe angemessene Kostenbeteiligung zu übernehmen. Die finanziellen Auswirkungen gehen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Mütter sollen nicht wie bisher aus Angst um unversorgte Kinder einen notwendigen Krankenhaus- oder Kuraufenthalt verzögern oder gar gänzlich aufschieben. Wir beweisen unsere Mütter- und Kinderfreundlichkeit unter anderem dadurch, daß diese Regelung auch dann gelten soll, wenn Mütter in ein Entbindungsheim gehen oder eine Kur im Rahmen des Müttergenesungswerks bewilligt erhalten. Zur Zeit kann man oft davon sprechen, daß es ein Großmüttergenesungswerk ist, ({0}) weil junge Frauen dafür nicht die Zeit finden. Für ebenso bedeutsam halten wir eine Erleichterung für berufstätige Elternteile, wenn ihr im Haushalt lebendes Kind unter acht Jahren erkrankt ist. Ein Anspruch auf Freistellung von der Arbeit, die entweder der berufstätige Vater oder aber die berufstätige Mutter geltend machen kann, ermöglicht, das erkrankte Kind selbst zu pflegen oder während dieser Zeit nach einer Betreuung zu suchen. Dies gilt zunächst für fünf Arbeitstage im Jahr für jedes Kind. Ganz besonders wichtig erscheint mir, daß dieser Freistellungsanspruch unabdingbar ist, d. h. durch Tarifverträge weder beschränkt noch ausgeschlossen werden kann. Während einer solchen Freistellung von der Arbeit erscheinen unseres Erachtens persönliche Verdiensteinbußen als unzumutbar. In den genannten Fällen zahlt daher die gesetzliche Krankenversicherung ein volles Krankengeld. Haushaltshilfe und Arbeitsbefreiung sind daher zwei wirksame Erleichterungen für Familien mit kleinen Kindern. Sie machen von drückenden Sorgen frei. Unsere Regelungen tragen den besonderen Schwierigkeiten junger Familien sehr viel eher Rechnung als jene Maßnahmen, die von der CDU/ CSU im Gesetzentwurf zur Verbesserung der Hauspflege und der Familienhilfe vorgesehen sind. Die von der Opposition vorgeschlagene Haushaltshilfe ist nur als Ermessensleistung der Krankenkasse ausgewiesen. Im Oppositionsentwurf fehlt vor allem ein unabdingbarer Freistellungsanspruch gegen den Arbeitgeber. Ohne diesen wird sich jedoch eine Arbeitsbefreiung für häusliche Krankenpflege kaum verwirklichen lassen. Vollkommen offen bleibt im Oppositionsentwurf die Begründung bzw. die Skizzierung der finanziellen Aufwendungen. Während unser Entwurf nicht nur die Höhe der Einzelaufwendungen aufzeigt --- 226 Millionen DM für die Bereitstellung einer Haushaltshilfe, weitere 114 Millionen DM für Krankengeld bei Betreuung des erkrankten Kindes -, wird zugleich ein Vorschlag zur Finanzierung gemacht: Wir schlagen die ersatzlose Streichung der sogenannten Krankenscheinprämie vor, die vom Bundesrat als Experiment bezeichnet wurde und sich nach Ansicht der Spitzenverbände der Krankenversicherungsträger nicht bewährt hat. Dies ist um so berechtigter, als die Spitzenverbände selbst die Ansicht vertreten, daß das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel nicht erreicht wurde, wie aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung hervorgeht. Schafft man also diese gesundheitspolitisch bedenkliche Maßnahme wieder ab, stehen Mittel in Höhe von 390 Millionen DM für die eben erwähnten Leistungsverbesserungen zur Verfügung. Der verbleibende Rest erlaubt es uns, noch eine weitere unsoziale Regelung abzuschaffen: In Zukunft wird es keine zeitliche Begrenzung von Krankenhausaufenthalten mehr geben. Eine sehr gründliche Vorabeit wurde von Mitgliedern meiner Fraktion auch für den Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen geleistet. Bereits 1971 hat eine kleine Gruppe von Parlamentariern meiner Fraktion diese Arbeit aufgenommen, unterstützt von Experten der beteiligten Ministerien und in enger Zusammenarbeit mit Institutionen in verschiedenen Bundesländern. Sie haben viele denkbare und wünschenswerte Maßnahmen gründlich geprüft und beraten. Insofern sind wir mit den hierzu unterbreiteten Vorschlägen zur gesundheits- und familienpolitischen Fragen ein wesentliches Stück weiter als die Opposition, die erst jetzt von einer Enquete-Kommission untersuchen lassen will, welche sozial-und familienpolitischen Maßnahmen in Betracht kommen und verwirklicht werden können. Die von der Opposition in ihrer Antragsbegründung dazu ausgesprochene Erwartung, daß dadurch auch der strafrechtliche Schutz effektiver sein wird, zeigt unseres Erachtens ein merkwürdiges Problembewußtsein. ({1}) Wirksame Familienplanung ist eine unerläßliche Voraussetzung für unser Ziel, gewünschte Schwangerschaften zu ermöglichen und ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. An erster Stelle unseres Gesetzentwurfes steht daher die ärztliche Beratung über Empfängnisregelung, und zwar für versicherte Männer und Frauen. Sie wird in den Leistungskatalog der Krankenversicherung aufgenommen. Auch die Kosten aus der Rezeptur von verschreibungspflichtigen Mitteln sollen von der Krankenversicherung übernommen werden. Beide gesundheitssichernden Maßnahmen lassen sich systemgerecht in die Reichsversicherungsordnung einbringen. Diese nüchternen Feststellungen machen sicher noch nicht klar genug, wie stark hierdurch für große Gruppen unserer Bevölkerung der Sexualbereich enttabuisiert werden kann. Das persönliche Gespräch über Sexualhygiene mit dem Arzt des Vertrauens eröffnet hierzu völlig neue Wege. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf eine Nachricht aus Italien hinweisen. Nach einem UNO-Report - er wurde heute schon einmal zitiert - sind es jährlich mindestens 1 200 000 Italienerinnen, die heimlich abtreiben. Ärzte meinen, die Dunkelziffer sei sogar noch höher. Dazu erklärte kürzlich die Vizepräsidentin des römischen Senats: „Ich müchte den Italiener kennenlernen, der nicht direkt oder indirekt in eine Schwangerschaftsunterbrechung verwickelt ist oder war". Während in Italien über den Schwangerschaftsabbruch offen gesprochen wird, ist das Gespräch über empfängnisverhütende Mittel dort tabu. Wir sollten daraus eine Lehre ziehen, weil hier ein Zusammenhang erkennbar wird. ({2}) -- Den kann ich Ihnen erklären, lieber Kollege. ({3}) - Wer nichts über Empfängnisregelung, also auch -verhütung weiß, hilft sich dann auf diese sehr leidvolle Art. Dieser Zusammenhang ist eigentlich sehr leicht begreifbar. ({4}) Ein ganz besonderes Augenmerk haben wir auf die Situation einkommensschwacher Familien gerichtet. An Sozialhilfeempfänger und auch an diejenigen, die Hilfe in besonderen Lebenslagen erlangen können, sollen ärztlich verordnete empfängnisregelnde Mittel kostenfrei abgegeben werden. Diese bereits seit 1970 im Land Berlin praktizierte Verfahrensweise galt uns als Vorbild für eine bundeseinheitliche Regelung. Eine kostenfreie Abgabe empfängnisregelnder Mittel für alle würde das finanzielle Leistungsvolumen der gesetzlichen Krankenversicherung jedoch bei weitem übersteigen. Alle unsere Hilfsangebote zielen auf eine Notwendigkeit, nämlich Frauen, Männern und ihren Familien in besonderen Konflikt- oder Bedrängnissituationen zu helfen, mit ihrem schweren Alltag fertig zu werden. Sieht eine Frau jedoch in einer schwierigen Konfliktsituation keinen anderen Ausweg als den eines Schwangerschaftsabbruchs, wollen wir ihr auch dann Hilfen nicht versagen. Unser Ergänzungsgesetz stellt eine problembezogene Beratung durch einen Arzt des Vertrauens sicher. Entscheidet sich die Frau nach schwerer Gewissensprüfung dann trotzdem für einen Schwangerschaftsabbruch, so soll dieser medizinisch fachgerecht ausgeführt werden. Daher haben wir die entstehenden Kosten für ärztliche Leistungen, Medikamente und einen etwaigen Krankenhaus- oder Klinikaufenthalt in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Durch den so geregelten Zugang zu einem Facharzt wollen wir das Kurpfuschertum beseitigen; und als Kurpfuschertum bezeichne ich nicht nur die Engelmacherei, vielmehr ist es auch dann keine korrekte Behandlung, wenn bei Behandlung innerhalb einer Praxis in kurzer Zeit ein Abbruch durchgeführt wird, der eigentlich einen Klinikaufenthalt für längere Zeit notwendig gemacht hätte. Aus den im Ergänzungsgesetz vorgesehenen Maßnahmen ist erkennbar, daß neben gesundheitssichernden auch familienpolitische und gesamtgesellschaftliche Aufgaben übernommen werden. Das wird durch die jährliche Kostenbeteiligung des Bundes in Höhe von 55 Millionen DM verdeutlicht. Dieses breite Leistungsangebot für Versicherte bedarf einer institutionellen Ergänzung. Hierzu haben die Koalitionsfraktionen beantragt, die Familienberatung und Familienplanung zu intensivieren. Unser Appell, die Beratungskapazität für die Familienberatung und Familienplanung zu erhöhen, wird erfreulicherweise seit dem 11. Mai dieses Jahres von der Opposition unterstützt. Ihr Antrag unterscheidet sich auch in den Formulierungen kaum von unserem Antrag, der ja bereits am 21. März eingebracht wurde. Ich bedauere jedoch sehr, daß die Opposition unsere Vorstellung, Fragen der Sexualerziehung und Familienplanung mit in das Bildungsangebot für Eltern und Familien einzubeziehen, nicht in gleicher Weise unterstützt. Gerade dieser Punkt unseres Antrages ist doch als besonders wichtig anzusehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang wiederholen, was Dr. Wolf, der Vorsitzende der Gesellschaft Pro Familia im Landesverband Berlin, dieser Tage dazu sagte: Man kann nur immer wieder feststellen, daß die Bundesrepublik auf dem Gebiet der Familienplanungspolitik ein unterentwickeltes Land ist. Wir halten also die Entwicklung weiterer sexualpädagogischer Unterrichts- und Informationshilfen für dringend notwendig. Auch Aufklärungsaktionen, wie sie vom ersten sozialdemokratischen GesundFrau Schlei heitsminister Frau Käte Strobel eingeleitet wurden, müssen jetzt fortgesetzt werden. Es wäre wichtig, gezielt junge Menschen anzusprechen. Für die in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallenden Maßnahmen sind sicher zusätzliche Mittel erforderlich. Zum Schluß meines Begründungsteils zur Gesamtreform möchte ich darauf verweisen, daß meine politischen Freunde und ich als Grundwert anerkennen, daß die Würde des Menschen im Anspruch auf Selbstverantwortung liegt. Wir alle, die unterschiedlich Denkenden und auch die unterschiedlich Glaubenden, sollten in gemeinsamer Anstrengung versuchen, alle unsere Bürger zu befähigen, diesem Anspruch in Mündigkeit nachzukommen. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.

Dr. Katharina Focke (Minister:in)

Politiker ID: 11000564

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie es im letzten Satz des Hirtenschreibens der deutschen Bischöfe vom April dieses Jahres steht, hoffe ich für uns Abgeordnete bei der Beratung und Entscheidung über sicher eine der schwierigsten Fragen, mit denen wir als Volksvertreter zu tun haben können, auf die rechte Einsicht und den Mut zu handeln. Viel ist für unsere Beratungen bereits gewonnen, wenn die deutschen Bischöfe wie die Bürger, die wir vertreten, die Ärzte wie die Richter, die Pfarrer wie die Journalisten und vor allem wir Kollegen gegenseitig uns das Ringen um Einsicht zubilligen und die Diskussion um die Reform des Strafgesetzes wenigstens von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages unter der Voraussetzung geführt wird, daß jeder von uns werdendes Leben schützen will. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, im großen und ganzen bin ich dankbar dafür, daß der heutige Tag bisher eine solche Tendenz hat erkennen lassen. Ich glaube, es wäre auch hilfreich, wenn wir entsprechend der Feststellung des Rates der Evangelischen Kirche vom 5. April dieses Jahres als Hintergrund, vor dem unsere Beratungen stattfinden, die Tatsache anerkennen würden, daß es - ich zitiere für Fragen des Schwangerschaftsabbruchs weder in sittlicher noch in rechtlicher Hinsicht eine voll befriedigende Lösung geben kann, wenn verschiedene sittliche Verpflichtungen und Rechtsgüter zueinander in Konkurrenz treten. Da knüpft die weitere Betrachtung an: Es wäre ein Beitrag zur Sachlichkeit, wenn wir gemeinsam davon ausgehen könnten, daß es solche Konfliktsituationen gibt, die zur Abwägung zwingen, und daß der Paragraph in seiner bisherigen Form in einer nicht genau zu schätzenden Zahl von Fällen jährlich die Abtreibung nicht verhindert hat, jedoch die Umstände solchen illegalen Abbruchs für viele Frauen medizinisch besonders gefährlich, seelisch besonders belastend und sozial besonders ungerecht und unwürdig gewesen sind. Das, was uns unterscheidet - das ist bisher wohl deutlich geworden -, ist vor allem die Schärfe, mit der unsere Augen die Konfliktsituationen und damit die Notwendigkeit der Abwägung sehen, ({0}) und die Frage, wer abwägen soll, wer abwägen kann und auf wessen Gewissen es ankommt: auf das der Abgeordneten, auf das der Ärzte oder auch und nicht zuletzt auf das der jeweils betroffenen Frau. ({1}) Auf der anderen Seite würde es der Regelung der uns aufgetragenen Aufgabe ebenfalls dienen, wenn wir uns gegenseitig abnähmen, daß eine den Konfliktsituationen des menschlichen Lebens und der in ihnen notwendigen Abwägung von Normen besser Rechnung tragende Form des § 218, als wir ihn bisher haben, keine Aufforderung zum Schwangerschaftsabbruch ist. Das sittliche, ethische, moralische, religiöse Problem - wie immer Sie es wollen - in jedem einzelnen Fall wird nach der Absicht derer, die einen Entwurf zur Reform des Strafgesetzes vorgelegt haben, nicht - so hoffe ich, gilt es für uns alle - verkleinert, weggewischt oder geleugnet. Im Gegenteil: es wird durch die Reform des Strafgesetzes in seiner Auswirkung auf die persönliche Verantwortung und die Gewissensentscheidung der Frauen, der Ärzte und anderer an der Entscheidung Beteiligter größer geschrieben und stärker hervorgehoben als bisher. Das gilt ganz besonders für die Fristenregelung, für die ich mit der Mehrheit meiner Fraktion eintrete. Aber, meine Damen und Herren, nicht deshalb habe ich mich hier zu Wort gemeldet. Ich möchte vor allem auf den Antrag der Fraktionen der SPD und der FPD zur Familienberatung und Familienplanung zurückkommen und dazu ganz deutlich eines sagen: Schwangerschaftsabbruch ist kein und kann kein Mittel der Empfängnisregelung und Familienplanung sein; ganz gewiß liegt das nicht im allergeringsten in der Absicht derer, die hier für eine Fristenregelung eintreten. Im Gegenteil, wir hoffen, daß es umgekehrt verlaufen wird, und sind hier angetreten, die dafür notwendigen und möglichen Maßnahmen zu ergreifen. Die verschiedenen Kollegen der SPD-Fraktion, die vor mir schon gesprochen haben, haben sehr deutlich gemacht, daß die Reform des Strafgesetzes nur ein Teil - gewiß nicht der wichtigste Teil - der gesamten Aufgabe, die vor uns liegt, ist und daß es um die politische Frage geht, was getan werden kann, damit eine Konfliktsituation, in der als letzter Ausweg nur noch Schwangerschaftsabbruch bleibt oder zu bleiben scheint, gar nicht erst entsteht. Das Kernstück der Reform und zugleich eine Aufgabe, die über den § 218 hinausreicht und längst vor ihr begonnen hat - ich möchte bitte nicht, daß hier eine Legendenbildung in bezug auf die einzig fruchtbaren Jahre für Familienpolitik zwischen 1957 und 1961 entsteht -, ({2}) sind sozialpolitische, sind gesellschaftspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Frau in, wie ich glaube, drei für uns relevanten Bereichen: erstens in Beratung und Hilfen, bevor eine Schwangerschaft eintritt, zweitens in Beratung und Hilfen für schwangere Frauen in Konflikt- und Notsituationen und drittens frauen- und familienpolitische Maßnahmen ganz allgemein. Die SPD-Fraktion und die Bundesregierung messen diesem Teil der Reform die entscheidende Bedeutung zu. Die vorliegenden Gesetzentwürfe - aber nicht nur diejenigen, die die Kollegin Schlei soeben so eindrucksvoll begründet hat, sondern auch schon früher Eingeleitetes und Durchgeführtes - zeugen davon. Hier trifft sich unsere Absicht mit der verbal ebenfalls geäußerten der Opposition. Ich nehme auch ab, daß das so ist. ({3}) Ich glaube, daß sehr deutlich geworden ist, daß die entsprechenden ergänzenden Maßnahmen und Vorschläge hier heute konkret für unsere erste Lesung nicht von der Opposition im Deutschen Bundestag entwickelt und eingebracht worden sind. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe auch ganz unpolemisch davon aus, daß es so ist. Ich erwarte allerdings noch einen verstärkten Beweis. Ich gehe auch davon aus, daß hierbei die Kirchen, Verbände usw. auf der gleichen Ebene stehen, ungeachtet der jeweils unterschiedlichen Haltung zur Reform des Strafgesetzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich warne in diesem Zusammenhang aber vor zwei Gefahren, die deutlich geworden sind. Erstens warne ich vor der Gefahr, zu glauben, verstärkte Beratungs-, Hilfs- und Sozialmaßnahmen könnten eine Reform des Strafgesetzes entweder hinauszögern oder sogar überflüssig machen. ({5}) Die Forderung nach einem sozialen Staat, nach einer vollkommenen Gesellschaft, in der es das Problem des Schwangerschaftsabbruchs nicht mehr gibt, darf nicht davon ablenken, den heute existierenden ungerechten, unsozialen, ja unmenschlichen § 218 so bald wie möglich durch unsere gemeinsamen Anstrengungen hier zu reformieren. ({6}) Gleichzeitig müssen wir uns selbstverständlich intensiver als bisher, kontinuierlich und verstärkt, um Annäherung an eine solche ideale Gesellschaft bemühen. Aber das ist keineswegs eine alleinige Aufgabe des Bundes, das ist auch keine alleinige Aufgabe der Kirchen. Das ist, wie es auch in der Stellungnahme der Vollversammlung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken zur Überwindung von Not- und Konfliktsituationen bei Schwangerschaften heißt - ich zitiere -: eine Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden, Kirchen und freien Trägern. ({7}) - Ja, sicher, das will ich im Augenblick nicht behandeln. ({8}) Ich bin hier im Moment auf einen Punkt konzentriert, bei dem wir alle zu einer richtigen Aufgabenteilung aufgefordert sind. ({9}) Dies ist eine Aufgabe, die vom Abbau von Vorurteilen - ich glaube, allein dort ist noch mehr zu tun, als heute bisher ausgesprochen worden ist - über persönliche Hilfen, über Erziehung, über Aufklärung, über Beratung, über einen breit gestreuten Fächer verschiedenartigster sozialer Maßnahmen bis hin zur Gesetzgebung reicht und - ich wiederhole es - überhaupt nur arbeitsteilig und leider auch nur mittelfristig zu bewältigen ist. Ich warne in dem Zusammenhang vor der zweiten Gefahr, daß die Kirchen dem Staat, der Staat den Kirchen, die Länder dem Bund, der Bund den Ländern usw. vorwerfen, nicht gehandelt zu haben. Wir haben alle zusammen bisher noch nicht genug getan, ({10}) auch nicht frühere CDU-Regierungen, die sehr wohl über die angegebene Zeit hinaus Möglichkeiten dazu gehabt hätten. ({11}) Wir sind alle zusammen aufgerufen, mehr zu tun und schneller zu handeln; aber es ist keine Aufgabe, die jetzt erst neu beginnt, und es ist auch nicht eine, die von heute auf morgen gelöst werden könnte. Im übrigen ist es ganz sicher auch keine Aufgabe, die sich nur im Zusammenhang mit der Reform des Strafgesetzes stellt. Das beste Mittel, illegale oder legale Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, ist es, unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden. So muß es vor allen Dingen unser Ziel sein, den Gedanken der verantwortungsbewußten Familienplanung weit mehr, als das bisher der Fall ist, zu verbreiten und dabei mitzuhelfen, daß sie auch durchgeführt wird. Im Anschluß an etwas, was heute morgen schon einmal gesagt worden ist, ist das allerdings ein Feld, auf dem noch sehr Erhebliches auch gegen Tabus und Prüderie auszurichten ist. ({12}) Familienplanung wird gerade im Zusammenhang mit der Debatte, die wir heute führen, leider zu oft einseitig als Empfängnisverhütung verstanden, besBundesminister Frau Dr. Focke ser gesagt: mißverstanden. Ich finde, daß dieser Blickwinkel viel zu eng und auch nicht immer zutreffend ist. Familienplanung und Empfängnisregelung bedeuten ja nicht, daß ein Trend zur Kinderlosigkeit oder zur Einkindehe gefördert werden muß; sie bedeuten, daß die Eltern ihre Entscheidung, Kinder zu haben oder nicht zu haben, bzw die Entscheidung wann sie Kinder haben wollen, verantwortungsbewußt und frei treffen sollen und daß ihnen dabei geholfen werden muß, diese Entscheidung zu treffen und entsprechend zu handeln. ({13}) Der oft erhobene Vorwurf, Familienplanung sei kinderfeindlich, ist in keiner Weise berechtigt. Das Gegenteil scheint mir richtig. Wir sollten uns das Problem der Muß-Ehen gerade Minderjähriger, die hohe Scheidungsanfälligkeit dieser Ehen und all die Erschwernisse vor Augen halten, die sich für das „ehestiftende" Kind ergeben. Dabei sollten wir auch an die schlechten Startchancen ungewollter Kinder und an das ganze Elend ungeliebter Kinder erinnern. So betrachtet ist verantwortungsbewußte Familienplanung die entscheidende Voraussetzung, um eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen. Leider sind wir davon heute noch ein gutes Stück entfernt. Schließlich möchte ich gern noch mit einem Halbsatz anfügen: Familienplanung und -beratung haben natürlich auch damit zu tun, bei Kinderlosigkeit die entsprechenden Ratschläge für ein Kind bekommen zu können. Ich bin selbstverständlich jedem dankbar, der bisher auf den Gebieten der Familienplanung und -beratung Verantwortung erkannt hat und tätig war. Ich denke dabei an Ärzte, an die Deutsche Gesellschaft für Familienplanung Pro Familia in ganz besonderer Weise, aber auch an kommunale, konfessionelle, paritätische und andere Ehe- und Familienberatungsstellen. Es ist keine Geringschätzung dieser Tätigkeit, wenn ich hier sagen muß, daß in diesem Bereich in der Vergangenheit natürlich noch nicht genug geschehen ist. Der Bund hat bisher zu dieser Tätigkeit im Rahmen seiner Mitwirkungs-und Finanzierungskompetenzen bereits beigetragen. Aber auch für die Bundesregierung gilt natürlich wie für andere, daß dies noch ausgeweitet und intensiviert werden kann und muß. Den entscheidenden Beitrag auf diesem Weg stellt in meinen Augen die soeben begründete Regelung in dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zum Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz dar, wonach der Anspruch auf ärztliche Beratung hinsichtlich Fragen der Empfängnisregelung und auch die Rezeptausschreibung endlich zur Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe werden sollen und wonach darüber hinaus von der Sozialhilfe auch die Kosten für Verhütungsmittel übernommen werden sollen. So soll erreicht werden, daß in den sozial schwachen Schichten die Familienplanung nicht an finanziellen und materiellen Schwierigkeiten scheitert. Ich halte jene kommunalen Behörden wie die von Frau Schlei schon genannten, die diese Möglichkeiten bereits früher von sich aus ergriffen hatten, für außerordentlich beispielhaft auf dem Wege, den wir jetzt zu gehen haben. Aber, meine Damen und Herren, so wichtig und unerläßlich solche materiellen Hilfen im Rahmen der Familienplanung auch sind: es ist nicht damit getan, daß der Staat Ansprüche auf bestimmte Leistungen einräumt und im übrigen wartet, ob sie auch in Anspruch genommen werden. Unerläßlicher Bestandteil der Familienplanung ist die Beratung, die kollektive wie die individuelle. Zur kollektiven Beratung rechne ich die im letzten Jahr vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit erfolgreich durchgeführte Aktion „Unsere Kinder sollen Wunschkinder sein - Was können wir tun?". Sie wird in veränderter Form in diesem Jahr fortgeführt, wobei insbesondere noch jüngere Menschen angesprochen werden sollen. Zu einer solchen Beratung rechne ich auch - selbstverständlich - die Sexualerziehung in der Familie, in der Schule vor allen Dingen. Das Frau Strobel gerade auf diesem Gebiet einen entscheidenden Durchbruch erzielt hat - und unter welchen kontroversen Bedingungen hat sie das, vor einigen Jahren erst, noch tun müssen! -, ({14}) ist ein Phänomen, das ich uns gerade im Zusammenhang mit dieser Debatte noch einmal in Erinnerung rufen möchte. Familienplanung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn eine ständige persönliche und örtliche Betreuung auch ermöglicht wird. Das setzt voraus, daß die Zahl der Beratungsstellen - das ist hier richtig gesagt worden -- wesentlich vergrößert wird, daß die Zusammenarbeit der verschiedenen Träger - das scheint mir eine sehr wichtige Voraussetzung zu sein - optimal gestaltet wird und daß auch die Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung der beratenden Fachärzte verbessert und erweitert werden. In dieser Frage steht der Bund keineswegs allein in der Verantwortung; er kann es schon aus Gründen der Kompetenz und auch wegen seiner finanziellen Möglichkeiten nicht. Hier geht es ganz besonders um das Zusammenwirken mit Ländern und Kommunen, mit Jugend-, Sozial- und Gesundheitsämtern, mit den Kirchen und den freien Trägern. Ein Beitrag des Bundes wird es sein, die Entwicklung verschiedener Modelle von integrierten Beratungsstellen voranzutreiben, in denen mit wissenschaftlicher Begleitung weitere Erfahrungen darüber gewonnen werden, wie man es am besten so gestaltet, daß der einzelne Mensch wirklich die Beratung und den Zugang findet. Mit diesen Modellen müssen wir klären, wie die Beratungsstellen organisiert werden sollen, welche Fachkräfte dort arbeiten und welche Ausbildung diese Kräfte haben müssen. Ich bin sicher, daß die Modelle nicht nur wertvolle Erkenntnisse bringen, sondern darüber hinaus einen Anstoß dafür geben werden, daß eben andere - Länder, Gemeinden, freie Träger, Kirchen 1828 auch mehr als bisher solche Beratungsstellen einrichten. Nur durch diese gemeinsame Anstrengung wird ein bundesweites Netz von Beratungsstellen geschaffen werden können, und das, meine Damen und Herren, ist ja letztlich das, worauf es uns in den allernächsten Jahren ankommt. Ich begrüße ausdrücklich den entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen und kann meinerseits auch nur noch einmal meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß ein ähnlicher Antrag, der allerdings entscheidende Punkte nicht enthält, dann einige Wochen später - fast wortwörtlich gleich - auch von der Opposition vorgelegt worden ist. ({15}) - Natürlich, aber ich wundere mich eigentlich darüber, daß es nicht gelungen ist, wenigstens in der Formulierung zu versuchen, zu zeigen, danß man im Zusammenhang mit dieser Debatte eine eigene Leistung zu erbringen vermag. ({16}) Zusammenarbeit aber ist nun in solchen Beratungsstellen in Zusammenhang mit der Familienplanung nicht nur vor dem Eintritt einer Schwangerschaft notwendig; das gleiche gilt auch für die Beratung während einer Schwangerschaft. Ein entscheidender Vorteil der sogenannten Fristenregelung ist für meine Freunde und mich eben der, daß nur durch sie der schwangeren Frau, die vor der schweren Gewissensentscheidung steht, ob sie ihr Kind austragen soll oder nicht, der Weg zum Arzt, damit aber auch zu anderer weiterer Beratung wirklich geöffnet wird. Solange Frauen - dieses Argument möchte ich hier nachträglich noch einmal vortragen - befürchten müssen, daß der Arzt oder eine Kornmission oder eine Gutachterstelle darüber entscheidet, ob ein Schwangerschaftsabbruch rechtlich überhaupt möglich ist, solange sie befürchten müssen, daß ihre - meistens in großer Gewissensnot getroffene - Entscheidung vom Arzt als erlaubtes Ansinnen gewertet wird, solange sie befürchten müssen, daß ihr Wunsch einfach abgelehnt wird: so lange wird die Scheu der Frauen, sich in dieser Frage überhaupt an einen Arzt oder an Dritte zu wenden, nicht ab-, sondern zunehmen. ({17}) Sie werden dann wie bisher ihre Entscheidung ohne Beratung und ohne Hilfe - oder von falschen Beratern beeinflußt -, ganz auf sich allein gestellt, treffen wollen. Wenn man aber den Frauen den Weg zur Beratung in dieser schwierigen Situation verbaut, verzichtet man auf eine der in meinen Augen wirkungsvollsten Möglichkeiten, nicht nur die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche, sondern die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche insgesamt zu verkleinern. Auch die ärztliche Beratung nach dem Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen für die Fristenregelung vorgelegt haben, soll ja nicht nur die im engen Sinne medizinische Beratung über die gesundheitlichen Risiken des Abbruchs oder über die möglichen negativen Folgen, die später einmal auftreten können, zum Inhalt haben. Teil der Beratung ist nach unserer Vorstellung - und nicht zuletzt deshalb geht es darum, ein breites Netz zusätzlicher Beratungsstellen aufzubauen -, daß der Arzt die Frau auch über diesen Bereich hinaus beraten kann, daß er sie hinweisen kann auf andere Möglichkeiten, auf soziale Hilfen aller Art, die es ihr ermöglichen könnten, das Kind doch zu bekommen. Allerdings fürchte ich, daß sich unsere Ärzte zunächst in sehr vielen Fällen überfordert fühlen werden, diese Art der Beratung zu geben, weil sie einfach in ihrer bisherigen Erfahrung und Praxis mit Kenntnissen über solche sozialen Hilfen und über die Anlaufstellen, auf die sie hinweisen könnten, damit solche soziale Hilfen in Anspruch genommen werden, nicht ausreichend bekanntgemacht worden sind. Ich glaube also, daß eine der notwendigen Maßnahmen - sie wird im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit vorbereitet -darin bestehen muß, den Ärzten neue Hinweise, neue Informationen über die bestehenden Möglichkeiten zu geben und auch vielleicht Fortbildungsmöglichkeiten in diesem Sinne entwickeln zu helfen, selbstverständlich sie auch mit entsprechendem Material zu versorgen, das sie den Frauen, die sie in der Praxis aufsuchen, in die Hand geben können. Ich hoffe, daß es allmählich gelingt, je mehr diese Form der sozialen Wirklichkeit auch in der Praxis des Arztes Eingang findet, die Ärzte bis in ihr Studium hinein auf solche Notwendigkeiten hin auszubilden. Kurz gesagt, das Beratungsangebot muß erheblich vergrößert werden. Damit von ihm aber Gebrauch gemacht wird, darf die Frau nicht unter den Zwang gestellt werden, durch irgendeine Beratung, abgesehen von der des Arztes, von der in der Fristenregelung die Rede ist, hindurchgehen zu müssen. In dem anfangs von mir zitierten Hirtenbrief heißt es: „Jede gesetzliche Regelung muß die Gewissensfreiheit aller Betroffenen unbedingt garantieren, vor allem der Ärzte, Schwestern und Pfleger, Hilfspersonen und auch der Träger von Krankenanstalten." Dem ist zuzustimmen; nur gehört in diese Aufzählung auch die Hauptbetroffene, die Frau. Nur ihr Gewissen ist in der Lage, individuell genug, differenziert genug abzuwägen und damit sittlich verantwortlich zu entscheiden. Diese Einsicht motiviert die Befürworter der Fristenregelung, nicht, wie uns manchmal unterstellt wird, eine schrankenlose, überbordende Emanzipationslust im Sinne einer Selbstbestimmung, die nicht mehr mit anderen Schranken abwägt. ({18}) Ich weiß, daß mit einer Beratungslösung auf die Ärzte eine sehr schwierige Aufagbe zukommt, eine Aufgabe, die eine zusätzliche Belastung bedeutet. Aber ich möchte hier ernsthaft an die Ärzte appellieren, doch auch zu sehen, daß damit ein größerer Verantwortungsspielraum auf sie zukommt. Der Staat und alle gesellschaftlichen Kräfte - ich sagte es schon - müssen versuchen, ihnen bei der Wahrnehmung dieser wachsenden Verantwortung zu helfen. Mir ist natürlich bekannt, daß zur Zeit viele Ärzte, vor allen Dingen auch Frauenärzte, der Fristenregelung äußerst skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ich hoffe aus zwei Gründen, daß unsere Beratungen und die Entscheidung, zu der wir schließlich kommen werden, bei möglichst vielen Ärzten die Bereitschaft erhöhen wird, neben ihrem ärztlichen Gewissen, das selbstverständlich respektiert wird, auch auf ihre soziale Verantwortung zu hören. Ich hoffe das aus zwei Gründen: Einmal wissen wir alle, daß eine Reform des Strafgesetzes zum Schwangerschaftsabbruch ohne eine Mitwirkung der Ärzte nicht realisierbar ist, zum anderen - ich habe das bereits ausführlich begründet - köntnen sich sonst viele Ärzte einer Möglichkeit begeben, Frauen durch Beratung zu helfen, eine abgewogene Entscheidung zu treffen. Ich bin sicher, daß die ständige Konfrontation mit der individuellen sozialen Wirklichkeit, die dann entstehen wird, bei vielen Ärzten zu einem Meinungswandel führen wird. Die Erfahrungen in Staaten mit einer liberaleren Regelung der Strafrechtsbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch haben die Gefahr gezeigt, daß diese zu einem Geschäft mit der Abtreibung führen kann. Dieser Gefahr soll bei uns unter anderem auch dadurch begegnet werden, daß die ärztliche Hilfe bei Schwangerschaftsabbruch eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung beziehungsweise der Sozialhilfe wird, ein weiterer Baustein in dem Paket, das die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben. Bei der Beratung des in der letzten Legislaturperiode von der Regierung vorgelegten Entwurfs hat der Bundesrat eine Entschließung verabschiedet, in der es unter anderem heißt: Je mehr Hilfe Staat und Gesellschaft einer Mutter im persönlichen, beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich angedeihen lassen, desto eher werden Schwangere bereit sein, eine Schwangerschaft nicht abzubrechen. Die Gesundheitsminister-Konferenz, die zur Zeit in Saarbrücken tagt und zu der ich gleich nach dieser Debatte fahren werde, wird sich im Verfolg dieser damals schon gefaßten Entschließung eben mit genau den Problemen ergänzender Maßnahmen zur Reform des Strafrechts-Paragraphen beschäftigen. Diese gesellschaftspolitischen Maßnahmen aber zu verwirklichen ist natürlich eine Aufgabe, die sich auch unabhängig von der Reform des § 218 stellt. Wie schwer es dennoch ist, auch dann, wenn man längst erkannt hat, daß gewisse Maßnahmen im familien- und gesellschaftspolitischen Bereich notwendig sind, läßt sich hier vielleicht am schlagendsten noch einmal an einem Beispiel in Erinnerung rufen: das ist das Problem der ledigen Mütter. Dieses Problem ist vielen von uns in seiner ganzen Tragweite, so glaube ich, leider erst im Zusammenhang mit der Diskussion des § 218 deutlich geworden. Die Statistiken in den USA zeigen, daß der Prozentsatz der Ledigen, die sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschließen, mit mehr als 50 % unverhältnismäßig hoch ist. Für die Bundesrepublik haben wir aus naheliegendem Grunde keine zuverlässigen Zahlenangaben. Doch befürchte ich, daß man auch bei uns davon ausgehen muß, daß es gerade ledige Frauen sind, bei denen die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche hoch ist. Ich verkenne nicht, daß die Gründe, die jeweiligen Umstände oft sehr verschieden sind und daß es bestimmt kein Patentrezept zur Lösung dieses Problems gibt. Aber ich muß daran erinnern, daß das Gesetz über die rechtliche Situaion der nichtehelichen Kinder erst am 1. Juli 1970, also während der ersten Amtszeit der Regierung Brandt/Scheel, endlich in Kraft getreten ist und daß wir erst damit eine ganz entscheidende Voraussetzung für die rechtliche und soziale Gleichstellung des nichtehelichen Kindes und seiner Mutter geschaffen haben. ({19}) Und dieses, meine Damen und Herren, war auch nur ein Schritt auf dem Wege zum Abbau der gesellschaftlichen Diskriminierung der ledigen Mutter, wobei es unter anderem ja darum geht, nun auch noch die weiteren nachzuholen und auch finanzielle Überlegungen anzustellen, um die natürlich weiterhin außerordentlich schwierige Situation der ledigen Mütter zu verbessern. In diesem Zusammenhang möchte ich auch ganz besonders an die Kirchen appellieren. Ich bin dankbar dafür, daß die Diskussion der letzten Monate offenbar auch hier auf eine Nachlässigkeit bis Gleichgültigkeit, die in der Vergangenheit an den Tag gelegt worden ist, aufmerksam gemacht hat. So begrüße ich es, daß in der Stellungnahme der Vollversammlung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken ausdrücklich gefordert wird, daß der Diskriminierung lediger Mütter auch im Raum der Kirche entgegengetreten wird. Oft sind es natürlich auch finanzielle und wirtschaftliche Nöte, die bei einer schwangeren Frau dazu führen, daß sie in einem Schwangerschaftsabbruch die einzig mögliche Lösung sieht. In diesem Zusammenhang wird derzeit auch eine Erhöhung des Kindergeldes als notwendige Maßnahme des Staates gefordert. Ich möchte davor warnen, darin ein Allheilmittel, ein Patentrezept zu sehen. ({20}) Sie wissen, daß die Bundesregierung wegen der augenblicklichen Haushaltssituation nicht die Möglichkeit sieht, diese vorzunehmen. Sie wissen auch, daß wir in einer ganz grundsätzlichen Form eine Reform des Familienlastenausgleichs eingeleitet haben, die gerade für die sozial schwächeren, kinderreichen Familien eine gerechtere Situation als bisher schaffen soll. Zusätzlich möchte ich daran erinnern - wir haben schon mehrfach in Fragestunden und in anderem Zusammenhang in den letzten Wochen darauf aufmerksam gemacht -, daß es ja nicht nur um das Kindergeld geht, sondern um eine ganze Palette weiterer finanzieller Hilfen, die in diesem Zusammenhang mit zu sehen sind: ({21}) das reicht vom Wohngeld bis hin zur Ausbildungsförderung und anderem mehr. Schließlich möchte ich daran erinnern, daß es über diese allgemeinen Hilfen hinaus ganz sicher auch auf gezielte Hilfen in besonderen Notlagen ankommt. ({22}) Ich erinnere an die Novelle zum Bundessozialhilfegesetz, die hierzu eingeleitet worden ist. Ganz besonders möchte ich auch noch einmal auf den von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf eines Leistungsverbesserungsgesetzes eingehen, das Frau Schlei soeben hier begründet hat. Durch die Einführung eines Rechtsanspruches auf zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege, die Gewährung von Haushaltshilfe, die Zahlung von Krankengeld bei Verdienstausfall wegen der Betreuung erkrankter Kinder und den Anspruch auf Freistellung von der Arbeit soll gezielt geholfen und wiederum ein Beitrag geleistet werden, die Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Familie zu erleichtern. Eine sehr wichtige Entlastung der Frauen könnte auch dadurch erreicht werden, daß die Ausübung von Teilzeitarbeit, zu der der Staat auf Initiative der Koalitionsfraktionen einen sehr großen ersten Schritt eingeleitet hat, mehr als bisher auch in der privaten Wirtschaft eingeleitet und forciert wird. Meine Damen und Herren, die Zeit ist zu weit fortgeschritten, als daß ich hier im einzelnen auf all die vielen schon eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen eingehen könnte, die Sie bitte im Frauenbericht 1972 nachlesen wollen. Ich weiß, daß das Erreichte uns nicht der Verpflichtung enthebt, nach weiteren Möglichkeiten zu suchen, weitere darüber hinausgehende Hilfen anzubieten. Ich bin für jeden Vorschlag offen. Von den Maßnahmen, um die es im Augenblick geht, vielleicht zwei Beispiele: die Tagesmutter und die Unterhaltsvorschußkassen, Maßnahmen, die im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zur Zeit geprüft bzw. durch Modelle besonders empirisch untersucht werden sollen. ({23}) Ich weiß nicht, ob solche Modelle oder andere, die wir in den nächsten Monaten diskutieren werden, richtungweisend sind. Ich weiß nur, daß wir uns mit Vorschlägen vom Schreibtisch aus allein nicht begnügen können und daß wir Erfahrungen aus der Praxis und der Wirkung, die einzelne Modelle haben, gewinnen müssen, um sie zu erproben. Wie gesagt, es würde die Debatte sprengen, wenn ich auf all diese Dinge, die mir in der Aussprache etwas zu sehr weggedrängt worden sind, die hier aber mit zur Diskussion stehen, im einzelnen eingehen würde. Natürlich gehören dazu kinderfreundliche Wohnungen, Ausweitung des Angebots von Kindergärten, Kinderkrippen, Kinderhorten. Das alles, meine Damen und Herren, also die Priorität des Elementarbereichs in unserer Bildungsreform, ist ja auch eine Sache, die in den Jahren 1969 bis 1972 vorangetrieben worden ist. Um all dies, wie gesagt, bemühen wir uns weiter im Anschluß an das, was wir schon eingeleitet haben. ({24}) - Das ist doch kein Gegensatz. Ich verstehe nicht, wieso Sie gerade den sich ergänzenden Zusammenhang zwischen diesen Bemühungen, die aber nicht morgen eine vollkommene Gesellschaft schaffen, und der Notwendigkeit, die heute bestehenden Konfliktsituationen im Sinne der Fristenregelung zu lösen, nicht sehen. Dennoch -- ich sagte es einleitend und möchte es noch einmal nachdrücklich betonen - enthebt uns all dies nicht der Reform des § 218. Die überfällige Reform darf nicht hinausgezögert werden. Meine Damen und Herren von der Opposition, es mag nützlich sein - ich will deshalb hier auch nichts Näheres zu der von Ihnen geforderten Enquete-Kommission und der anderen Kommission sagen --, noch mehr Tatsachen zusammenzutragen und Erfahrungen, die anderswo gemacht worden sind, auszuwerten. Aber eines weiß ich ganz sicher: Keine Erfahrung wird sich einfach übertragen lassen, und kein Vergleich wird wirklich zutreffen. ({25}) Jeder wird hinken, denn die Bedingungen sind überall anders als die, unter denen wir heute an die Reform des Strafgesetzes herangehen. Ich meine, daß die uns heute schon bekannten Tatsachen vollauf ausreichen, um endlich zu handeln und an die Reform heranzugehen. ({26})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat Frau Abgeordnete Stommel.

Maria Stommel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002260, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich kurz eingehen auf verschiedene Darlegungen, die hier vorgetragen worden sind, vor allen Dingen auch auf das, was Frau Minister Focke eben gesagt hat. Frau Minister, wir sind sicher mit vielen Dingen einverstanden, die Sie uns zur Lösung der Probleme, die mit dem § 218 in Verbindung gebracht werden müssen, vorgeschlagen haben. ({0}) Wir sind aber nicht damit einverstanden, daß Sie die Folgerung nur darin sehen, daß wir zur Fristenlösung kommen müssen. ({1}) Hier kommt es darauf an, (kill Gesellschaft und Staat durch zentrale Maßnahmen Hilfen geben, damit es für eine Frau nicht mehr notwendig ist, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Wir müssen Hilfen geben, um ungeborenes Leben zu erhalten und ihm das Leben lebenswert zu machen. Darum geht es in der heutigen Diskussion, und darum geht es uns ganz besonders. Frau Schlei hat gesagt, wir hätten keine Anträge gestellt, und sie hat mit einer etwas mitleidsvollen Miene erklärt, wir hätten Frau Verhülsdonk keine Chance gegeben, darüber zu sprechen, weil keine Anträge vorlägen. Ich wollte heute eigentlich zu Punkt 5 der Tagesordnung - Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Hauspflege und der Familienhilfe - sprechen. Der Antrag, den der Kollege Rollmann zusammen mit Freunden aus unserer Fraktion schon in der vorigen Legislaturperiode gestellt hat, war eine Basis, auf der er ein Programm für die unvollständige Familie entwickelt hat. ({2}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, es ist Ihnen peinlich, daß wir Ihnen diesen Schritt voraus sind. ({3}) Hier haben wir nämlich Möglichkeiten geschaffen, um das zu verhindern, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf anstreben und was wir nicht wollen. Wir wollen zentrale Maßnahmen und zentrale Hilfen. Sie wollen die Fristenlösung und die Abtreibung. Haben Sie sich schon einmal überlegt, daß es für die Abtreibung verschiedene Motivationen gibt? ({4}) Herr Kollege Wehner, ich weiß, daß Ihnen meine Art zu reden nicht so ganz zusagt. Das bringt mich aber nicht davon ab, hier das zu sagen, was ich für richtig halte. ({5}) Zu den von Ihnen vorgeschlagenen begleitenden Maßnahmen gehört, daß die Kosten für eine Abtreibung von der Krankenkasse getragen werden sollen. Lassen Sie mich einmal ein Beispiel nennen. Ein gutsituierter Fabrikant verunglückt mit seinem Wagen tödlich. Seine junge Frau ist in anderen Umständen. Wäre jetzt nicht der Fall denkbar, daß diese Frau wegen der Erbfolge eine Abtreibung vornehmen läßt? Wenn sie in der Krankenkasse ist, bezahlt diese auch noch die Abtreibung. ({6}) Das alles muß durchdacht werden. So geht es jedenfalls nicht. Frau Minister Focke sprach soeben von der nichtehelichen Mutter. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einiges zur Begründung unseres Gesetzentwurfs - Punkt 5 der Tagesordnung - sagen. Mit diesem Entwurf zur Verbesserung der Hauspflege und der Familienhilfe im Rahmen der Reichsversicherungsordnung - ich will ihn nicht ausführIich begründen, sondern nur auf einige prägnante Punkte verweisen - legt die CDU/CSU-Fraktion ein Teilstück des Gesamtprogramms für die unvollständige Familie vor, das auf der Grundlage, die der Kollege Rollmann in der vorigen Legislaturperiode vorgeschlagen hat und auf der wir aufbauen, weiterzuentwickeln ist. Die soziale Benachteiligung der unvollständigen Familie ist für uns ein wichtiges sozial- und familienpolitisches Anlegen, das zu einem Teil durch den vorliegenden Gesetzentwurf gelöst werden soll. Es ist problematisch und führt immer wieder zu Konflikten, wenn ein berufstätiger Versicherter, der gleichzeitig für die Führung des Haushalts und die Erziehung der Kinder verantwortlich ist, neben seinem Beruf zu Hause ein krankes Kind pflegen muß. Diese Doppelbelastung hat vorhin auch schon Frau Schlei angesprochen. Insofern besteht in vielen Punkten eine Gemeinsamkeit mit Ihrem Entwurf unter Punkt 6 der Tagesordnung. Wir können allerdings auf einem früheren Antrag aufbauen. Hier geht es um die Doppelbelastung der Frau. Nach dem überkommenen Leitbild ist es auch heute meistens noch die Frau, die für Beruf und Krankenpflege in Frage kommt. Betroffen sind vor allem die alleinstehenden berufstätigen Mütter, deren soziale Benachteiligung als Mütter zweiter Klasse das Hauptanliegen unseres Aktionsprogramms für die unvollständige Familie ist. Die Notwendigkeit entsprechender Maßnahmen zeigt die Beobachtung, daß einem alleinstehenden Vater mit Kindern in der Regel mehr Verständnis für seine Schwierigkeiten i entgegengebracht und damit auch mehr Hilfe von außen gewährt wird als der alleinstehenden Mutter. Die alleinstehende Mutter muß dagegen Zeit und Kraft für beide Seiten des Lebensunterhalts aufwenden. Die berufstätige Mutter ist immer wieder dem Konflikt ausgesetzt, entweder die Pflege des kranken Familienmitgliedes zu vernachlässigen oder auf ihr Arbeitseinkommen oder ihren regulären Urlaub zu verzichten, um das kranke Familienmitglied im Haushalt zu pflegen. Ich will gar nicht mehr auf die nähere Begründung eingehen, denn sie fällt in diesen beiden Punkten mit der Begründung des Antrags der Regierungskoalition zusammen. Wir wissen, daß ein Mißbrauch ausgeschlossen ist, wenn die Krankenkassen für die Pflege des kranken Kindes in Form eines Pflegegeldes ihren Beitrag zu leisten haben. Mißbrauch ist ausgeschlossen und nicht zu befürchten, weil die Notwendigkeit der Hauspflege durch einen Familienangehörigen vom Arzt festgestellt werden muß und weil das Pflegegeld gemäß § 182 der Reichsversicherungsordnung nur Teil eines Regellohnes ist. Darüber hinaus wird es aber auch erforderlich sein - so sieht es unser Gesetzentwurf vor -, dem haushaltführenden Familienmitglied, im Regelfall also wieder der Mutter, im Falle der Erkrankung eine Haushaltshilfe oder Familienpflegerin zu stellen. Wir sind der Aufffassung, daß hier eine Möglichkeit geschaffen werden muß, der alleinstehenden Frau zu helfen. Dabei geht es nicht nur um die Mutter mit dem nichtehelichen Kind, sondern auch um die vielen geschiedenen Frauen, deren es in Zukunft sicher noch mehr geben wird durch das neue Scheidungsrecht, aber auch um Witwen. Hier müssen wir eine Möglichkeit schaffen, daß geholfen werden kann. Noch kurz zu unseren sozialen Maßnahmen. Sie behaupten, wir hätten keine sozialen Maßnahmen vorgesehen; ich darf Sie auf unsere Anträge unter Tagesordnungspunkt 7 b und 8 hinweisen. Zu Familienberatung und -planung liegt auch von uns ein Antrag vor. Frau Minister sprach das Thema eben auch als Anliegen ihres Hauses an. Zu unseren Anträgen gehört aber auch der Antrag auf Sammlung und Auswertung der Erfahrungen über die Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, daß wir hierzu Erfahrungsmaterial sammeln. Ein weiterer Antrag von uns ist der auf Einsetzung einer Enquete-Kommission. Zu den Anliegen der CDU/CSU wie auch der SPD und FDP gehört die Änderung der Vorschriften des Adoptionsrechts. Sie können sicher nicht sagen, daß wir keine Anträge gestellt haben. Wir werden Ihnen in Zukunft ganz konkrete Maßnahmen vorschlagen, damit in diesem Hause einmal mit aller Deutlichkeit entschieden wird, wie die einzelnen Punkte gewertet werden. Ich meine, uns sollte kein Mittel zu schade sein, um ungeborenem Leben zum Leben zu verhelfen, ihm Möglichkeiten in einer kinderfreundlichen Gesellschaft zu eröffnen. Ich möchte noch ein Letztes sagen: Wir sollten nicht den Eindruck aufkommen lassen, als sei jedes Kind ein ungewolltes Kind. Die Diskussionen in den letzten Jahren sind fast darauf hinausgelaufen. Ich wage zu behaupten, daß die meisten Kinder gewollte Kinder sind, die viel Freude in die Familie hineinbringen und die zu echten und lebenstüchtigen Menschen werden. ({7})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben im Laufe dieses Tages eine sehr farbige Debatte erlebt, aber ich glaube - ich hoffe, ich darf mir das Urteil erlauben -, daß seit der Rede von Frau Funcke nicht mehr allzuviel Neues gesagt worden ist. Wir sollten eigentlich in unserem gemeinsamen Interesse bzw. im Interesse dieses Hauses dafür sorgen, daß die Diskussion nun nicht zu einer Schlacht der Zaunkönige wird. ({0}) - Herr Kollege, Sie können so oft „au" sagen, wie Sie wollen. Es ist Ihnen doch sicher nicht verborgen geblieben, daß eine Reihe von Reden nur noch für das Protokoll gehalten wird. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, ob Reden fürs Protokoll gehalten werden oder nicht, ist eine Frage der Ansicht; darüber mögen Sie urteilen. Aber das Wort „Zaunkönig" für ein Mitglied dieses Hauses halte ich nicht für parlamentarisch. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In dieser Debatte ist viel von Rechtsgrundsätzen, von der Ethik und vom Gewissen gesprochen worden. Es ist aber sehr wenig von der sozialen Wirklichkeit gesprochen worden. ({0}) Es ist wenig davon gesprochen worden, daß die Strafdrohung des § 218 StGB in einer Weise versagt hat, wie keine andere Vorschrift unseres Strafrechts. Ich glaube, das werden Sie akzeptieren müssen. ({1}) - Ich komme darauf. Herr Kollege Spranger hat es für richtig gehalten, einen Vergleich mit der Dunkelziffer bei Diebstählen zu ziehen. Wir wissen alle, daß die Dunkelziffer bei dieser Art der Kriminalität bei über 40 % liegt, also sehr hoch ist. Aber Sie wissen auch - wenn man dieses Argument überhaupt gelten lassen will -, daß die Dunkelziffer bei dem ja doch viel gravierenderem Delikt der Schwangerschaftsunterbrechung beträchtlich höher ist. Dabei muß man hinzufügen: doch wohl nicht etwa deswegen, weil die über hunderttausend Frauen, die in einem Jahr in der Bundesrepublik die Schwangerschaft unterbrechen lassen, Kriminelle sind, sondern weil die Wertungen in dieser Gesellschaft in vielen Fällen der Strafnorm nicht mehr entsprechen. Die Rechtsnorm hat offenbar nicht den Gehorsam der Rechtsgenossen bewirkt, sondern ihren Ungehorsam provoziert. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist, wie die Dunkelziffer zeigt, dieser Norm entglitten. .Jeder Versuch, daran etwas zu ändern, muß sich mit den Gründen dafür beschäftigen. ({2}) - Ausgezeichnet! Dann sind wir darin einig. Nun wird der Antrag gestellt, eine Enquete zu machen. Selbstverständlich, warum nicht! Aber was wird wohl der Grund sein, weshalb so viele Schwangerschaften unterbrochen werden? Die wesentlichen Gründe sind in dieser Diskussion genannt worden. Es sind einmal die sozialen Probleme. Leben wir in einer kinderfreundlichen Gesellschaft? Sicherlich nicht. Kinderreiche Familien werden häufig belächelt, manchmal fast als asozial betrachtet. ({3}) Wir haben bisher wenig daran getan, das Los der kinderreichen Mutter zu verändern, die nicht nur in ihren persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten beeinträchtigt wird, sondern auch von der Teilnahme an weiten Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen ist. Der zweite Grund ist die Diffamierung des unehelichen Kindes und auch der unehelichen Mutter, die, wie man früher immer gesagt hat, „in Schande geraten" ist. Es ist noch gar nicht so lange her, daß man mit solchen Argumentationen auch in der Politik hausieren gegangen ist. ({4}) - Herr Kollege, Sie wissen schon, was ich meine. Diese Diffamierung ist mit Recht mühsam genug abgebaut worden. Aber sie ist in dieser Gesellschaft nicht abgebaut worden. Diejenigen, die dazu beigetragen haben, sie über Jahre und Jahre hochzubringen, haben am wenigsten dazu beigetragen, diese Diffamierung zu beseitigen. ({5}) - Dazu gehören auch die Kirchen; auch das kann man sagen. ({6}) - Es ist mir keine Freude, sondern eine Last, das sagen zu müssen. Jede Lösung unseres Problems muß von der Entscheidung der Mutter, von der Entscheidung der Frau selber ausgehen. Sie haben vorhin einen Zwischenruf gemacht, und gesagt, daß das bei allen Modellen der Fall sei. In der Tat, in allen Modellen, die vorgelegt worden sind, ist der Ausgangspunkt zunächst einmal, daß die Frau die Schwangerschaft unterbrechen will. Aber alle Indikationslösungen gehen doch davon aus, daß es notwendig sein kann und ist, den Willen der Frau dann zu brechen, wenn ihre Entscheidung anders ist als diejenige irgendeines „objektiven" Gremiums. Das ist keine Lösung unseres Problems, weil die Wirklichkeit der Strafdrohung des § 218 ja gezeigt hat, daß der Wille, die eigene Entscheidung der Frau nicht von außen her bestimmt werden können.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich.

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich möchte auf Grund Ihrer Ausführungen an Sie in etwas abgewandelter Form die gleiche Frage wie an Frau Funcke stellen. Wenn eine irgendwie geartete dritte Stelle oder Person für Sie so suspekt ist, warum haben Sie dann in dein von Ihnen eingebrachten Entwurf für den Schwangerschaftsabbruch ab dritten Monat diese Gutachterstelle, auch wenn es um das Leben der Frau geht, eingeschaltet? Können Sie mir bitte einmal erklären, warum Sie diese Gutachterstelle, wie Sie sie vorschlagen, haben wollen, wenn Sie sie, wie vorhin gesagt, für so suspekt halten?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, daß die Schwangerschaftsunterbrechung nach einem Zeitraum von etwa drei Monaten einen viel gravierenderen, viel tieferen Eingriff medizinischer Art darstellt. Das ist der eine Grund. Ich glaube weiter, daß es notwendig ist, dazu beizutragen, daß diese Entscheidung innerhalb einer relativ kurzen Frist getroffen wird. ({0}) Aber ich stehe nicht an zu sagen, daß jede Frist bei dieser Lösung, aber auch bei jedem Modell - ob Sie nun eine Frist von 14 Tagen oder die Frist der Nidation nehmen - Probleme enthält, über die man reden muß. ({1}) Wenn Sie aber überhaupt nichts machen, sind die Probleme noch viel größer, wie ja die Wirklichkeit gezeigt hat. Die schlimmste Lösung, die hier vorgetragen worden ist, findet sich im Entwurf der Kollegen Heck und anderer.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber natürlich.

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wollen Sie uns dann vielleicht sagen, Herr Kollege Hirsch, ob es für die betroffene Frau nach dem dritten Schwangerschaftsmonat leichter als vorher ist, die Gutachterstelle, das Gutachtergremium aufzusuchen? ({0}) Ich möchte wissen, ob es für die Frau eine andere Situation ist, ob es für die Frau anders ist.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, daß sich die Frau in einer anderen biologischen und auch psychologischen Situation befindet. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß bei jeder Fristenlösung die Berechtigung der Frist in Frage gestellt werden kann. Das gilt aber für eine Frist von 14 Tagen genauso wie für eine Frist von drei Monaten. Sie haben mich unterbrochen, als ich Sie darauf hinweisen wollte, daß der Entwurf der Kollegen Heck und anderer in meinen Augen die merkwürdigste Lösung beinhaltet. Die in dem Entwurf vorgesehene Vorschrift des § 218 d stellt dem Gericht frei, bei außergewöhnlicher Bedrängnis von einer Strafe abzusehen. Nun frage ich Sie, welches Werkzeug Sie in der Wirklichkeit des Alltags einem Richter an die Hand geben wollen, um in dieser Frage zu entscheiden. Das, eine solche Formel, eine solche offenbare Flucht in die Generalklausel, ist der Offenbarungseid des Gesetzgebers. Was hier verlangt wird, ist der Mut zu einer Entscheidung, und dazu sollten wir uns aufraffen. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wallmann.

Dr. Walter Wallmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002415, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich will versuchen, nichts zu wiederholen, wenn ich auch zugeben will, daß dies sehr schwer ist. Ich möchte zu Beginn sagen, daß wir bei allem Willen zur gegenseitigen Verständigung diese Diskussion, diese Auseinandersetzung nicht zu einem Methodenstreit zu reduzieren versuchen dürfen. Die Frage etwa: „Fristenlösung oder Indikationsregelung?" bedeutet gravierend unterschiedliche inhaltliche Positionen: im Falle der Fristenlösung das volle Entscheidungsrecht der Mutter über das empfangene Leben, im Falle der Indikationsregelung grundsätzlich andauernder Strafanspruch des Staates, damit Anspruch, das Leben zu schützen, aber Berücksichtigung einer Notlage, einer Grenzsituation für die schwangere Frau. Ich selbst bekenne mich zu der eingeschränkten Indikationslösung und zu allem, was insbesondere Herr Kollege Dr. Eyrich und Frau Verhülsdonk heute hier vorgetragen haben. Aber ich möchte keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß selbst in dieser Position, die ich für mich gewonnen habe, ein großer Rest an Zweifeln, an Fragen übrigbleibt, und ich meine, daß es nicht gestattet ist, hier eine selbstsichere oder gar selbstgewisse Aussage zu treffen, weil es sich in der Tat um eine fragwürdige Problematik handelt. Wenn ich dies für mich gesagt habe, dann möchte ich aber andererseits doch zunächst einmal sehr deutlich machen, warum für mich die Fristenlösung eine unannehmbare Entscheidung ist. Ich gehe davon aus, daß auch das empfangene, aber noch nicht geborene Leben seinen vollen Schutz vom Staat beanspruchen kann. Der Staat ist nicht befugt, und wir als Gesetzgeber sind nicht befugt, das ungeborene Leben zur persönlichen freien, und ich muß sagen: schrankenlosen Disposition durch die Mutter zu stellen. ({0}) - Darüber streiten wir doch gerade heute, und alle Versuche, davon zu überzeugen, daß mit der Fristenlösung dies gar nicht gewollt sei, oder der Versuch von Frau Kollegin Funcke, davon zu überzeugen, daß eigentlich die Fristenlösung ja viel mehr den Schutz des ungeborenen Lebens im Auge habe, ({1}) müssen scheitern. Denn, meine Damen und Herren: wer will dies aufrechterhalten, da doch in dem Augenblick, wo der Staat grundsätzlich auf jeden Strafanspruch und damit auf den Versuch, das Leben zu schützen, verzichtet, eben die volle Entscheidungsbefugnis für die Mutter in dieser Frage begründet worden ist. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, dies mit aller Deutlichkeit auszusprechen. Es ist eben nicht die Privatsache einer schwangeren Mutter, auch wenn sie sich auf ihr Gewissen beruft, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird oder nicht. Hier muß man genauso den Adressaten einer solchen Handlung, nämlich das werdende Leben, den Nasciturus, im Auge haben. Wir sollten uns darüber klar sein, daß dieses Leben in seiner ganzen Entwicklung ein Kontinuum ist, das andauert mindestens von der Nidation bis hin zum Tod und daß während der verschiedenen Entwicklungsphasen dieses menschliche Leben sehr unterschiedlich handlungsfähig oder handlungsunfähig ist. Derjenige, der einen Menschen unmittelbar vor dem Tode vor sich sieht, den hinfälligen Greis, den physisch oder psychisch Schwerstkranken, muß eingestehen, daß dieser Kranke so wenig handlungsfähig ist wie das ungeborene Leben. Irgendeine qualitative Unterscheidung in mehr oder weniger achtenswertes Leben verbietet sich, meine ich, von dort her.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Wallmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ostman von der Leye? ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, halten Sie die generelle Erlaubnis des Staates, durch eine Indikation, die fortschreitend ist - ({0}) - Halten Sie die generelle Erlaubnis des Staates zu töten durch eine Indikation im Konfliktfall, bei der der Staat gezwungen werden soll, plakativ ein minderwertiges Rechtsgut dem Rechtsgut Leben vorzuziehen, für weniger schwerwiegend im Eingriff auf das Lebensrecht eines Menschen als die situationsethische Entscheidung von Frau und Arzt?

Dr. Walter Wallmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002415, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich werde nachher auf diese Frage eingehen. Vielleicht darf ich jetzt schon ankündigen, daß ich der Auffassung bin, daß die Notsituation, die Grenzlage im Wege der Güterabwägung nicht erklärt und nicht entschieden werden kann. Nach meiner Auffassung ist dies eine Frage der Zumutbarkeit. - Aber geben Sie mir vielleicht die Chance, zunächst einmal meinen Gedankengang, den ich eben vorzutragen versuchte, zu Ende zu führen. Ich darf es einmal verkürzt so sagen: Für mich ist Leben Leben, gleichgültig, in welchem Stadium es sich befindet. Wenn dies so richtig ist, hat jede Art von Leben Anspruch auf staatlichen Schutz. Und wenn dies wiederum richtig ist, dann bedeutet Schwangerschaftsunterbrechung Abtötung von menschlichem Leben. Herr Kollege von Schoeler, Sie haben heute morgen beklagt, daß vielleicht der eine oder andere auch in diesem Hause der Meinung sei, diejenigen, die sich für die Fristenlösung entscheiden, sprächen sozusagen eine Aufforderung zum Mord aus. Dies ist unsere Meinung natürlich gar nicht; Sie sind selbst Jurist und wissen, daß § 218 seinerseits bereits ein privilegierter Tatbestand ist; schon der frühere Gesetzgeber hat auf die besondere Situation Rücksicht genommen. ({0}) Das ist es also nicht. Die entscheidende Frage ist doch diese: Ist die Schwangerschaftsunterbrechung, zunächst einmal einfach, indem man beschreibt, indem man die Situation abzugrenzen versucht, Abtötung menschlichen Lebens - ja oder nein? Da, meine ich, kann es keinen Zweifel geben, weil nämlich jede qualitative Unterscheidung hier verboten ist. Es kann also deshalb keinen Zweifel daran geben, daß dies selbstverständlich eine Abtötung bedeutet.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Schoeler?

Dr. Walter Wallmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002415, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr! von Schoeler ({0}) : Herr Kollege Wallmann, sind Sie der Meinung, daß eine Abtötung in besonderen Lebenslagen erlaubt sein soll, wenn ich Ihren Gedankengang fortspinne und ihn verbinde mit Ihrer Forderung nach einem Indikationenmodell?

Dr. Walter Wallmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002415, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen sagen, daß natürlich die Tötung niemals sittlich erlaubt sein kann. Wenn wir uns für die eingeschränkte Indikationslösung entschieden haben, ist damit selbstverständlich nichts in der Weise, wie Sie es eben meinten unterstellen zu können, darüber ausgesagt, daß diese Tötungshandlung nach unserem Verständnis etwa sittlich erlaubt sei. Aber eines darf ich Ihnen auch sagen, und daran sollten Sie denken: Wenn Sie in diesem Falle die Schwangerschaftsunterbrechung im Sinne einer Fristenlösung erlauben, können Sie mir dann sagen ({0}) - selbstverständlich erlauben Sie es damit, insbesondere, nachdem es bis jetzt verboten gewesen ist! -, wie es sich miteinander vertragen soll, wenn Sie auf der anderen Seite etwa die Tötung auf Verlangen eines Schwerkranken nach wie vor unter Strafe stellen, können Sie mir sagen, wie es eigentlich sittlich verantwortlich, sozial verantwortbar sein kann, wenn man der Mutter in Wirklichkeit die Position eines schrankenlosen Eigentümers einräumt, indem man der Mutter die Befugnis einräumt, über menschliches Leben verfügen zu können wie der Eigentümer über eine Sache? Ich glaube, wenn Sie dies ganz konsequent zu Ende denken, kann es keine andere Interpretation geben als die, die ich selbst hier soeben meinerseits gegeben habe. Bitte sehr!

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben soeben gesagt, daß der § 218 ein privilegierter Straftatbestand sei. Sind Sie denn der Meinung, daß bei einer ersatzlosen Streichung des § 218 derjenige, der eine Schwangerschaft unterbricht, wegen Totschlags zu bestrafen ist?

Dr. Walter Wallmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002415, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehen Sie, das ist die Frage, die Ihnen vorhin hier in einem anderen Zusammenhang gestellt worden ist, ob das nämlich im Hinblick auf unsere Verfassung, insbesondere im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, selbst wenn die Mehrheit dieses Hauses so beschließt, wie Sie es als mein Vorredner vorgetragen haben, überhaupt statthaft ist. ({0}) Ich stehe auf dem Standpunkt, daß der Gesetzgeber insoweit von den Verfassungsvätern durch die Verfassung selbst gebunden worden ist. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß dieses Recht nicht zur Disposition, auch nicht zur Disposition des Gesetzgebers, gestellt ist. ({1}) Ein Zweites. Wenn wir uns zu der eingeschränkten Indikationslösung bekennen, dann geschieht das letzten Endes deswegen, weil wir glauben, daß die Anforderung an die Schwangere in einer solchen Konfliktssituation, das Leben unter allen Umständen austragen zu müssen, eine Überforderung bedeuten kann. Dieser Situation der Ratlosigkeit, wie es in der Denkschrift der Evangelischen Kirche heißt, versuchen wir mit all den Fragezeichen, von denen ich gesprochen habe, Rechnung zu tragen, indem wir sagen, daß diese Rechtsordnung den einzelnen in der konkreten Situation nicht überfordern darf, daß diese Rechtsordnung, also das Strafgesetz, vom Einzelnen nicht das Martyrium verlangen darf. Hier sind vorhin die verschiedenen möglichen Tatbestände einer eingeschränkten Indikationsregelung vorgetragen worden. Herr Kollege Dr. Eyrich hat daraus hingewiesen, daß man sich vielleicht auch einmal überlegen sollte, wie man sich zu dieser Frage stellt, wenn ein naher Angehöriger davon betroffen ist. Ich meine, das hätte man nicht so abtun sollen, wie das vorhin in einem Diskussionsbeitrag geschehen ist, in dem nämlich so getan wurde, als würde man einfach nur deswegen, weil vielleicht auch die eigene Tochter oder die Ehefrau betroffen sein könnte, hier zu einer billigen Gnadenlösung kommen. Diese Argumentation verkennt unseren Denkansatz in der Tat. Herr Justizminister Jahn, wir kommen beide aus Marburg, Sie können sich vielleicht daran erinnern, daß vor 15 Jahren ein lebhafter Streit über die Frage der medizinischen Indikation entfacht worden ist, und zwar nicht von einem Juristen, sondern von einem bekannten Philosophieprofessor, von dem Neukantianer Eppinghaus, und daß damals den Juristen vorgeworfen worden ist, daß sie die Güterabwägung zur Rechtfertigungsgrundlage dieser medizinischen Indikation gemacht hätten. Professor Eppinghaus hat damals gesagt: Dies sei eigentlich ein unmögliches Verfahren; denn Leben und Leben könne in sich und gegeneinander nicht qualifiziert werden. Jedes Leben sei in gleicher Weise schutzwürdig und achtenswert, und infolgedessen könne von diesem Ansatz her nicht zu dem Ergebnis gekommen werden, daß er, Eppinghaus, im übrigen begrüße. Ich finde, dieses sollten wir heute bedenken. Es ist mehr als einmal hier angeklungen, als sei die Entscheidung, die die Mehrheit meiner Fraktion getroffen hat, nur auf der Grundlage der Güterabwägung zu begreifen. Dieses ist für uns ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit zu sehen. Die Frage für uns lautet, ob einer Schwangeren in einer wirklichen Notsituation, unter Strafandrohung zugemutet werden kann, empfangenes, noch nicht geborenes Leben auszutragen. Wir meinen, in dieser Grenzsituation muß sich der Staat unter Wahrung seines grundsätzlichen Standpunkts des Strafanspruchs begeben, und zwar letzten Endes deswegen, weil der Staat nur damit menschlich handelt. Das ist übrigens eine Erwägung, die gar nicht so neu ist, sondern schon im geltenden Strafrecht ihren Niederschlag gefunden hat. Denken Sie etwa an § 54 des Strafgesetzbuches. Hier ist der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit vorn früheren Gesetzgeber bedacht worden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend folgenden Satz sagen. Der Staat, der eine Funktion für die Menschen zu erfüllen hat und auch erfüllt, ist, so meinen wir, mit der eingeschränkten Indikationenregelung menschlich. Er leistet einen Dienst am Menschen in einem Augenblick -- ich nehme dieses Wort noch einmal auf - der Ratlosigkeit und der Not. Wir meinen allerdings, daß auch nur dieses und nicht mehr dem Staat und damit dein Gesetzgeber gestattet ist. ({2})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dürr.

Hermann Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der frühere Reichsjustizminister Gustav Radbruch hat seinen Standpunkt und den seiner sozialdemokratischen Freunde mit den Worten gekennzeichnet: „Unser Kampf ist ein Kampf gegen die Abtreibungsstrafe, nicht für die Abtreibung." Diesen Standpunkt nehmen wir Sozialdemokraten und sicher auch unsere Koalitionsfreunde eindeutig für uns in Anspruch. ({0}) Anderer Meinung ist hier Herr Kollege Wallmann. Er meint, man könne nicht gegen die Abtreibungsstrafe sein, ohne für die Abtreibung zu sein. ({1}) Er sagte wörtlich: „Wenn der Staat auf seinen Strafanspruch und damit auf jeden Versuch, werdendes Leben zu schützen, verzichtet". Herr Kollege Wallmann, das ist entweder ein schwerer Denkfehler oder Schlimmeres. Das werdende Leben kann vom Strafrecht allein überhaupt nicht geschützt werden. Lassen Sie sich das bitte sagen. ({2}) Es ist auch nicht richtig, daß - wie Herr Wallmann sagte - die heutige Fassung des § 218 nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Jener heutige § 218, der strafrechtlich werdendes Leben bestens zu schützen vorgibt, hat kurpfuscherische und andere Abbrüche, vorgenommen im In- und Ausland, nicht verhindern können, er ist Zufallsstrafrecht geworden. Warum? Ich will versuchen, den Denkfehler, den ich bei Herrn Wallmann zu seinen Gunsten vermute, ein wenig aufzuklären. ({3}) Die rigorose Strafdrohung des bisher geltenden § 218 führt dazu, daß die Schwangere sich keiner Beratung zugänglich zeigt. Angst vor der Eintragung ihres Namens in eine behördliche Kartei, Angst vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht sorgen dafür, daß sie ihre Not nicht Sachkundigen und Hilfsbereiten vorträgt, sondern Rat lediglich beim Schwängerer und bei der Verwandtschaft sucht. Die aber sind in vielen Fällen nicht gerade sachkundig, uneigennützig und unbefangen. Nun sagt die Opposition: Ja, wir sind auch für diese Beratungseinrichtung. Sicher! Eine solche Beratungseinrichtung ist aber nur hilfreich wenn die Schwangere von sich aus, freiwillig zu der Beratung geht und sich helfen läßt. Hier aber beginnt erst die Frage. Wie wird das erreicht? - Nicht dadurch, daß der Abbruch nur vorgenommen werden darf, wenn eine für den Wohnort der Schwangeren zuständige behördlich bestellte Kommission den Abbruch gestattet, wie es die beiden Entwürfe aus den Reihen der Opposition vorsehen. ({4}) - Ob Wohnort oder Bezirk, Herr Kollege Dr. Stark, ist ein minimaler Unterschied, der die Richtigkeit meines Vorwurfs in keiner Weise schmälert. Die Schwangere erwartet eine solche Entscheidung mit den gleichen Empfindungen, mit denen der Angeklagte einem Strafurteil entgegensieht. Vom Entscheidungsgefälle ist heute schon gesprochen worden. Mit dem Entscheidungsgefälle kommt die Wohnsitzfiktion. Aber, was entscheidend ist, diese Kommission wird in den meisten Fällen nicht angerufen. Die Schwangere geht in die Illegalität, und das ist eine der wenigen Möglichkeiten, das schwindende Einkommen der Kurpfuscher zu erhalten. Es gibt weitere Möglichkeiten, die Frau besser zur Beratung zu bringen als durch den Vorschlag, eine Kommission vorzusehen, etwa indem man - wie in dem Gruppenvorschlag, den ich mit unterzeichnet habe - die statistische Meldepflicht streicht und - was in beiden Entwürfen, in dem zur Fristenregelung und in unserem Indikationenantrag, enthalten ist - eine gewisse Straffreistellung der Frau einführt. Denn der CDU-Vorschlag, die Gerichte sollten von Strafe absehen können, wenn die Frau in besonderer Bedrängnis gehandelt hat, hilft nicht. Das ist für die Schwangere in ihrer Not kein Spatz in der Hand, sondern höchstens eine Taube auf dem Wolkenkratzer. Nötig ist eine Regelung, durch die jeder Frau begreiflich gemacht werden kann: du kannst dich risikolos sachkundig beraten lassen. Diese Vorteile - keine Kommission, keine statistische Meldepflicht, Straffreistellung der Frau - erreichen Fristenregelung und SPD-Gruppenantrag gleichermaßen. Sie haben also mehr Gemeinsames als die Indikationenvorschläge untereinander. Beide sind sich auch im Ziel einig, daß die Beratung nicht in Formalberatung absinken darf. Und hier meinen wir 27, dieses Ziel würden wir noch etwas sicherer erreichen. Meine Damen und Herren, man kann sich auch darüber streiten und verschiedener Ansicht darüber sein, ob unser Indikationenvorschlag oder die Fristenregelung der beste Ansporn ist, die sozialen Maßnahmen, die wir alle wollen, voranzutreiben. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluß eine kurze und deshalb holzschnittartig deutliche Gesamtwürdigung des Entwurfs der Oppositionsfraktion geben. Er enthält die bare Selbstverständlichkeit der medizinischen Indikation, in die der Schatten einer kindlichen Indikation eingebaut ist. Er enthält die kriminologische Indikation und eine leider völlig verfehlte Lösung des Beratungsproblems. Allein dadurch wird eine Besserung der tatsächlichen Verhältnisse stärkstens gehemmt, und deshalb allein kann es zwischen dem Oppositionsentwurf und dem von mir mit unterzeichneten Indikationenmodell einen Kompromiß so nicht geben. ({6})

Claus Jäger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001002

Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Wex.

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Anfang ein paar Bemerkungen zu Frau Focke machen, die aber nicht mehr da ist. Ich könnte die Ausführungen auf sich beruhen lassen, wenn in diesen Ausführungen nicht einiges enthalten wäre, was immer wieder in der Diskussion auftaucht. Aus diesem Grunde möchte ich vier Bemerkungen zu ihren Ausführungen an den Anfang stellen. Frau Focke hat im Zusammenhang ihrer Darlegungen den Eindruck erweckt, als sei die CDU/CSU eigentlich gar nicht zu einer Reform des § 218 bereit, als wolle sie sie durch ihre sozialen Maßnahmen gleichsam unterlaufen. Dieser Eindruck muß hier in aller Form zurückgewiesen werden. Wir sind für eine Reform des § 218. Unser Entwurf ist dafür ein Beweis.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Frau Abgeordnete Dr. Wex, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel ({0})?

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dr. Wex, würden Sie mir zustimmen, daß sich hier der Eindruck ableiten ließe, daß durch eine solche Beurteilung des Entwurfs der Fraktion der CDU/ CSU unter Umständen ein gewisses Alibi geschaffen werden könnte, wenn es hinterher nicht zu ernsthaften Gesprächen kommt?

Dr. Helga Wex (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002495, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Vogel, ich kann diesen Eindruck nicht ganz zurückweisen. Das, was ich jetzt hier ausführen möchte, ist gerade der Versuch, eine Basis dafür herzustellen, da wir vielleicht die Gefahr vor uns sehen, nicht zu Ergebnissen zu kommen. Der zweite Punkt betrifft die Ausführungen über die Familienplanung. Ich hoffe wirklich, daß es ein falscher Zungenschlag war, als hier anklang, daß die CDU/CSU gegen Familienplanung sein könnte. Wenn Sie unseren Katalog zur Enquete-Kommission gelesen haben, wissen Sie, daß darin ganz eindeutig gesagt ist, daß vorbeugende Maßnahmen genauso zu den indikationsbegleitenden Maßnahmen gehören wie alle anderen Maßnahmen auch. Wir würden natürlich dafür sein - das ist noch nicht ausdiskutiert, ich sage es für die Beratungen im Ausschuß -, daß die vorbeugenden Maßnahmen auch die Verhütungsmittel mit einbeziehen. Ich würde von mir aus sogar so weit gehen, daß nun endlich auch gemeinsam - vielleicht hier vom Bundestag ausgehend - ein Appell an die pharmazeutische Industrie gerichtet werden sollte, dafür zu sorgen, daß alle die Bedenken, die die Frauen beim Anwenden von Verhütungsmaßnahmen noch bewegen, ausgeräumt werden könnten. So weit gehen wir! Ich glaube, das brauchen wir nicht zu beweisen, daß wir, je mehr wir gegen die Fristenlösung sind, um so stärker die Verpflichtung für die zentralen sozialen Maßnahmen empfinden. Sexualerziehung war einer der Punkte in den Ausführungen von Frau Focke, und zwar in einem, glaube ich, maliziösen Zusammenhang. Sie hat, glaube ich, auch nicht das Wort Sexualerziehung benutzt, sondern Sexualaufklärung. Wenn ich mich richtig erinnere, meinte sie, daß man mit der CDU eigentlich nur mit allergrößter Mühe über diese Dinge in freier Aussprache überhaupt reden könnte. Ich glaube, daß da ein ganz großes Mißverständnis besteht. Wir sind für die Sexualerziehung in den Schulen. Wogegen wir uns wehren, ist, daß man die Hoffnung haben könnte, die Menschen zu sexualverantwortlichem Handeln zu erziehen, wenn man in den Schulen lediglich die technisch-biologische Aufklärung vornimmt. ({0}) Das vierte und letzte betrifft die Beratungsstellen. Wenn Frau Focke diese Beratungsstellen, die wir als unabdingbar notwendig empfinden, hier als etwas ganz Neues und als eine Initiative, die wir natürlich begrüßen, hinstellt, dann möchte ich doch einmal daran erinnern, daß an dieser Stelle vor drei Jahren Herr Dr. Martin Frau Strobel nach den Erziehungsberatungsstellen gefragt und einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion eingebracht hat; gerade mit der Absicht, daß auch dieses Anliegen in diesem Zusammenhang gesehen und gelöst werden sollte. Ich erinnere mich an die Antwort von Frau Strobel, die damals sagte, Herr Martin laufe damit offene Türen ein. Ich hoffe, daß sich nun endlich hinter diesen offenen Türen auch etwas an Initiative für die Erziehungsberatungsstellen angesammelt hat, die gerade in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig sind! Lassen Sie mich zum Abschluß der Debatte für meine Fraktion noch einige ganz kurze Bemerkungen machen. Erstens. Die Debatte hat gezeigt, daß sich die Vertreter der Indikationslösung und die Vertreter der Fristenlösung nach wie vor unversöhnlich gegenüberstehen. Wir haben zum wiederholten Male die bereits - wenn auch nicht hier, so doch draußen - bekannten Argumente ausgetauscht; und das ist auch sehr notwendig. Lassen Sie uns doch - das ist der Wunsch meiner Fraktion - mit dem festen Willen in die Ausschußberatung gehen, die oft, insbesondere auch in der öffentlichen Diskussion, anzutreffende Polemik draußen vor der Tür zu lassen. Ich glaube, dieses ist eine der ersten Voraussetzungen, die wir für eine sinnvolle Diskussion erfüllen müssen. Dazu werden wir noch allerlei Kraft und Intensität brauchen. Zweitens. Wir haben alle den Wunsch, eine Lösung zu finden, die den Frauen in einer wirklichen Notsituation hilft. Eine solche Hilfe kann aber doch nicht darin bestehen, daß wir es uns zu einfach machen und sagen, die Fristenlösung schafft uns und den betroffenen Frauen die wenigsten Probleme. Das mag zwar im Einzelfall so sein, kann und darf aber nach unserer Meinung kein Maßstab dafür sein, die Fristenlösung zu akzeptieren. In den letzten Monaten mehrten sich doch - das ist ja auch unsere Hoffnung für die weitere Diskussion - die Anzeichen von gefährlichen Entwicklungen bei einer zu weitgehenden Abtreibungspraxis. Das sollte doch auch Ihnen zu denken geben. Daher müssen wir in den Ausschüssen Punkt für Punkt die gewichtigen Fragen prüfen, die hier jetzt übriggeblieben sind. Dazu gehört etwa auch die Frage: Ist das Problem des Schwangerschaftsabbruchs für uns gelöst, wenn wir die illegalen Abtreibungen einfach zu legalen Abtreibungen machen? Wie wirkt sich die Abtreibung auf die Frau und auf die später zu gebärenden oder geborenen Kinder psychisch, physisch und in jeder die Gesundheit und die Zukunft berührenden Form aus? Diese Probleme sollten doch gerade auf Grund auch dieser Diskussion heute bis ins einzelne diskutiert werden können, und zwar auch unter Einbeziehung der Erfahrungen des Auslandes, der Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie der deutschen Bischöfe, die in den letzten Wochen - das müssen wir doch zugeben - wesentlich zur Versachlichung der Diskussion beigetragen haben. ({1}) Ich bin überhaupt der Meinung, daß die Versachlichung der Diskussion eine der Hoffnungen für die zukünftigen Beratungen im Ausschuß sein kann. Drittens. Bei allen Äußerungen zum § 218, die uns zur Fristenlösung raten, steht das Argument der sozialen Notlage an erster Stelle. Das ist ja auch verständlich: Es fehlen Kindertagesstätten, Frauen werden in ihrem beruflichen Fortkommen behindert und viele Wohnungen sind zu klein. Ein ganz wichtiges Argument, das ich, weil es im Grund auch einen Ausweis für viele Gefahren, Schwierigkeiten und die unterschwellige Gefährdung unserer Gesellschaft darstellt, für das wichtigste halte, ist: die Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft, die ja aus viel, viel mehr Faktoren besteht, als hier überhaupt angesprochen worden sind. Diese Argumente können jedoch in diesem Zusammenhang für die Fristenlösung nicht ausschlaggebend sein. Lassen Sie mich daher das aufgreifen, was hier bisher von den Rednern - wenn ich es richtig sehe, von Rednern aller Fraktionen - gesagt worden ist: Mit großen sozialen Maßnahmen, die einen Schwangerschaftsabbruch aus sozialen Gründen abwenden könnten, sollten wir uns mit den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft solidarisch erklären. Wir sind dazu bereit. Ich darf an den Ausgangspunkt erinnern. Herr Eyrich, Sie haben gesagt, wir müßten dann auch bereit sein, die Mittel für die sozialen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem § 218 in den Haushalt schon frühzeitig einzubauen. Wenn es darum geht, so wird es doch sicher möglich sein, eine „große sozialpolitische Koalition" zu bilden. Wir werden dann verantwortlich handeln, wenn wir bereit sind, die riesigen finanziellen Mittel für ein breit angelegtes soziales Angebot zur Verfügung zu stellen. Wir müssen auch bereit sein -- Sie können darauf zurückkommen -, andere Maßnahmen, mögen sie noch so dringend sein, hinter diese drängenden Erfordernisse zurückzustellen. Ich glaube, es wäre unser nicht würdig, wenn wir die Fristenlösung auf Grund zu ergreifender sozialer Maßnahmen und vor dem Hintergrund ungelöster sozialer Probleme akzeptieren müßten. ({2})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krockert.

Horst Krockert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001221, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich in dieser Stunde noch einmal auf einen, wie mir scheint, wichtigen Punkt in der ganzen Auseinandersetzung zurückkommen. Das ist die Frage nach der Tauglichkeit des Instruments Strafe für das, was dieses Instrument im Zusammenhang unserer Auseinandersetzung leisten soll. Herr Kollege Eyrich hat irgendwann am Anfang der Debatte darauf hingewiesen, daß hier die Polarität zwischen den beiden Positionen zu suchen sei, daß auf unserer Seite - ich spreche für die Vertreter der Fristenregelung -- die Zurücknahme der Strafandrohung die Aufgabe des Schutzes des werdenden Lebens bedeute. Er sieht darin eine Paradoxie zu dem von uns selbst behaupteten Anspruch, werdendes Leben dennoch auch schützen zu wollen. Dazu muß nun wohl noch einiges gesagt werden. Denn wir mögen in der Diskussion so weit ausKrockert holen, wie wir wollen, und so hoch ansetzen, wie wir wollen, wir müssen in der Tat irgendwann die Diskussion auf eine strafrechtliche Vorschrift zurückführen, und dieses Nadelöhr soll dann viel hergeben. Es ist zu befürchten, daß die Strafe, dieses letzte und immer grob geschnitzte Instrument einer Gesellschaft, die vielen Erwartungen, die im Laufe der Debatte geweckt wurden, ohnehin nicht erfüllen kann. Die Androhung von Strafe ist für den Schutz des werdenden Lebens nur von begrenzter Brauchbarkeit. Nun klingt zwar in allen Beiträgen, die wir gehört haben, diese Einsicht irgendwie mit, und jeder sagt, Strafe allein könne es nicht tun oder Strafe sei ohnehin und überhaupt als Mittel der Gesetzgebung sicher von begrenzter Wirkung. Merkwürdigerweise gilt das aber dann nicht mehr, wenn die Polemik gegen die andere Meinungsposition eröffnet wird. Das weckt trügerische Erwartungen. Wer den Fristenreglern unterstellt, sie schützten werdendes Leben nicht mehr, weil sie eine Strafandrohung zurücknehmen, der muß regelmäßig den Nachweis dafür schuldig bleiben, daß seine Alternative Strafandrohung den Schutz werdenden Lebens erfüllt hat oder erfüllen wird. ({0}) Diese Paradoxie ist bis zur Stunde nicht geklärt. Wer mehr Strafandrohung fordert als der andere, der muß irgendwann aufhören von Himmel und Hölle zu reden, er muß zur Sache kommen, er muß von der Strafe reden, von dem, was sie bis gestern in diesem Zusammenhang geleistet hat und was sie seiner Auffassung und seiner Konzeption nach morgen leisten wird für einen nennenswerten Schutz des werdenden Lebens. Das gehört zur Redlichkeit im Meinungsstreit über eine Strafvorschrift, und es gibt nicht nur eine Moral des Handelns, die strafrechtlich beurteilt wird, sondern es gibt auch eine Moral des Strafens, und damit haben wir es hier in der Gesetzgebung zu tun. Der Fristenentwurf ist durch die Beschränkung der Strafandrohung gekennzeichnet. In dieser Beschränkung kommen drei Einsichten zum Ausdruck: 1. Die Einsicht in die begrenzte Tauglichkeit der Strafe für den Schutz des Rechtsgutes werdendes Leben. 2. Die Einsicht in die Einzigartigkeit der Schwangerschaftsbeziehung. Darüber hat meine Kollegin Helga Timm vorhin sehr eindringlich, wie ich finde, gesprochen. 3. Die Einsicht in die Unmöglichkeit, wenn es wirklich um Moral gehen soll, die Frau dabei weiter in der Rolle des Objekts der Entscheidungen anderer über sie zu lassen. ({1}) Der äußerst begrenzte Wert von Strafandrohung für die Regulierung eines Schwangerschaftskonflikts kommt bekanntlich dadurch zum Ausdruck, daß die Strafe nur in Ausnahmefällen wirklich verhängt wird, daß selbst in diesen Ausnahmefällen das Verfahren oft nur auf fragwürdige Veranlassung hin in Gang kommen kann und daß dann schließlich die verhängte Strafe --- darauf hat der Kollege von Schoeler vorhin hingewiesen -- in einem kuriosen Mißverhältnis zu dem schwergerüstet daherkommenden moralischen Anspruch steht, mit dem Strafe gefordert wird. Diese Feststellung würde es allerdings allein nicht rechtfertigen, eine Strafvorschrift zurückzunehmen. Dann kommen nämlich wieder Leute, die sagen, die hohe Dunkelziffer bei Fahrraddiebstählen müßte uns zu ähnlichen Konsequenzen führen. Ich bestreite das, weil es wegen der Unvergleichbarkeit der Beziehungsräume, mit denen wir es hier zu tun haben, unzulässig ist, solche Vergleiche heranzuziehen. ({2}) - Ich bin dabei. Die Feststellung einer Dunkelziffer oder die Feststellung einer sehr geringen Zahl von Bestrafungen im Verhältnis zu Tathergängen beschreibt nur ein Symptom. Aber hinter diesem Symptom wird eben der Sachverhalt sichtbar, der außerordentlich wichtig ist für die Beurteilung der Frage, was Strafe hier überhaupt leisten kann. Werdendes Leben - wir haben das heute schon festgestellt -- kommt ausschließlich in einer einmaligen vitalen Verklammerung mit dem Leben einer Frau vor. Der Grad dieser Beziehungsintensität ist unüberbietbar. An ihr muß jeder Versuch scheitern, das werdende Leben allein und für sich als Gegenstand des Rechts zu beschreiben, etwa in schlichter Übertragung von Rechtssätzen, die für den einzelnen in andersartigen Beziehungsbereichen abgelesen wurden. Diese Übertragung funktioniert nicht. Jede Aussage über das werdende Leben ist unvermeidlicherweise und immer eine Aussage über diese beiden in ihrer unvergleichbaren und unbedingten Intimbeziehung - lassen Sie es mich einmal so nennen , unvergleichbar, weil sie so nirgends im Leben mehr vorkommt, und unbedingt, weil es ohne sie oder auch nur abgesehen von ihr menschliches werdendes Leben überhaupt nicht gibt. Darin unterscheidet sich das Recht des werdenden Lebens zutiefst von dem des geborenen. Der unvergleichbare Intimcharakter dieser Beziehung macht nun den Zugang der strafandrohenden Autorität zu einem Problem, zu einem außerordentlichen Problem. Das Strafrecht, das ohnehin nur ein Mittel zum Schutz des werdenden Lebens sein kann, und zwar das letzte, erfährt also eine zusätzliche, offenkundige, aus der Praxis offenkundige Beschränkung seiner Eingriffsfähigkeit, für die niemandes Versäumnis oder Nachlässigkeit verant wortlich zu machen ist, sondern die in der Natur der Sache liegt. Wenn bei anderen Tatbeständen eine hohe Dunkelziffer vorliegt, so ist dieses Manko grundsätzlich zu beheben, vielleicht mit hohem Aufwand, aber grundsätzlich zu beheben. Beim Schwangerschaftsabbruch ist dies aber auch durch keine Verbesserung des Instrumentariums zu korrigieren. ({3}) Es ist also unzulässig, den Hinweis auf das Indiz der Aufklärungsquote zurückzuweisen, etwa mit dem Argument: Wo kommen wir hin, wenn wir überall da zurückweichen, wo wir Aufklärungsschwierig1840 keinen haben? Die zugrunde liegenden Sachverhalte sind zu unterschiedlich. Die Schwangerschaft und der Schwangerschaftskonflikt sind der Sonderfall. Die Androhung und Anwendung von Strafe muß dies berücksichtigen und erfordert deshalb einen weit höheren Grad an Nachweis, daß Strafe hier wirklich etwas ausrichten kann. Je mehr uns die äußerst begrenzte Tauglichkeit der Strafe zum Bewußtsein kommt, in diesem so besonderen Bereich Normen zu setzen und durchzusetzen, desto mehr erkennen wir das Ausmaß der Verantwortung, das die Frau zu bewältigen hat. Auch das ist einzigartig, mit oder ohne Strafandrohung übrigens. Ihr allein obliegt im tiefsten Grunde der Schutz des werdenden Lebens. Niemand sonst kann ihr die Last im Konfliktfall der ungewollten Schwangerschaft abnehmen. Sie wägt die Güter ab und trägt die Folgen der Entscheidung so oder so. Es kommt hier nicht darauf an, ob uns das gefällt und ob wir bereit sind, es ihr zuzugestehen. Es ist so, recht oder schlecht, oft, meist ohne Beratung, oft ohne den Zuspruch, der es erst möglich machen würde, daß ihre Entscheidung zu einer moralischen Entscheidung wird, die ihr ein Strafrichter nicht abnehmen kann. Darum wird also kein Schutz des werdenden Lebens befriedigen, der am Wollen der beteiligten Frau vorbeizielt und sie im Konfliktsfall nur Objekt von Entscheidungen anderer über sie bleiben läßt. ({4}) Die Gesellschaft, die Kirchen, die Freunde, der Partner, aber auch der Staat, auch Gesetz und Recht, sie können und sollen der Frau wohl helfen, mit dem Konfliktfall ungewollter Schwangerschaft verantwortlich fertig zu werden, mehr aber können sie nicht leisten. Drohung mit Strafe, die keinen Raum für Entscheidungsfreiheit zugestehen will, ist der schlechteste Ratgeber und erfüllt dabei noch nicht einmal die selbst gesetzte Aufgabe, das werdende Leben wirksam zu schützen. Ich halte es im übrigen für unerträglich, daß nach dem geltenden Recht und nach seiner beabsichtigten Verlängerung durch Sie die Frau überhaupt nicht zu fragen ist, ob sie sich zur Übernahme dieser unvergleichbaren Verantwortung überhaupt imstande weiß. Eine Reform des Strafrechts zum Schwangerschaftsabbruch muß der Frau deshalb den bisher verweigerten Entscheidungsspielraum einräumen. Angesichts des geltenden Rechts kommen strafrechtliche Bestimmungen gleich welcher Art für den Schutz des werdenden Lebens immer nur mittelbar in Frage. Auch das konservativste Modell leistet keinen unmittelbar wirksamen Schutz. Die Wirkung des geltenden Rechts weist das nach. Auch die Verfasser der Fristenregelung - dies darf ich jetzt vielleicht einmal ganz klar zum Ausdruck bringen - wollen und können keinen unmittelbaren Effekt ihrer Strafvorschrift im Sinne einer sinkenden Abtreibungsquote in Aussicht stellen. Dies kann nur mit anderen Mitteln als der Strafe ein geförderter verantwortlicherer Umgang mit dem werdenden Leben erreichen. Was aber die strafrechtliche Unterstützung dieser anderen Mittel und dieses verantwortlicheren Umgangs betrifft, also den Bereich der mittelbaren Mitwirkung an der Aufgabe, so glauben wir, mit dem Entwurf der Fraktionen der SPD und FDP die aussichtsreichere Regelung anzubieten. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, mir wurde mitgeteilt, daß sämtliche weiteren Wortmeldungen - sie hätten noch für eine stundenlange Debatte gesorgt - zurückgezogen sind. Es liegen also keine Wortmeldungen mehr vor. Die Überweisungsvorschläge sind mit Ausnahme des Punktes 9 der Tagesordnung eindeutig. Wird den Überweisungsvorschlägen zu den Punkten 3 bis 7 der Tagesordnung widersprochen? - Das ist nicht der Fall; sie sind im angegebenen Sinne überwiesen. Bei Punkt 8 der Tagesordnung ist beabsichtigt, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit als federführenden Ausschuß sowie den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform und den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mitberatend zu beteiligen. Wird dem widersprochen? - Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen. Bei Punkt 9 der Tagesordnung, der Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU betreffend Enquete-Kommission, ist noch offen, ob der Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit oder der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform die Federführung bekommen soll. Haben sich die Fraktionen inzwischen diesbezüglich geeinigt? ({0}) Besteht die Meinung, daß der Antrag dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zur Federführung überwiesen werden soll? ({1}) - Allgemeine Meinung; kein Widerspruch. Dann sind auch hier die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates beschlossen. Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 18. Mai 1973, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.