Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/8/1976

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Porzner.

Konrad Porzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und die Fraktion der Freien Demokratischen Partei haben beantragt, den Gesetzentwurf über die Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes - Drucksachen 7/3494, 7/4539 und 7/4534 - auf die Tagesordnung zu setzen, und dies mit der Bitte verbunden, diesen Gesetzentwurf nach Punkt 6 der Tagesordnung aufzurufen. Ich will das folgendermaßen begründen: Der Ältestenrat hatte schon einmal beschlossen, diesen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen. Er wurde dann auf Wunsch der Bundesregierung wieder abgesetzt, weil mit den Bundesländern noch einiges besprochen werden mußte. Diese Gespräche mit den Bundesländern haben inzwischen stattgefunden, und man ist zu einer Verständigung gekommen. Es liegt uns daran, daß die Verbesserungen für das berufliche Fortkommen der Beschäftigten beim Bundesgrenzschutz am 1. Juli in Kraft treten können. Wir hatten bei den Gesprächen vorher nicht die Gewißheit, daß der Bundesrat diesen Gesetzentwurf in seiner Sitzung am 14. Mai behandeln würde, wenn wir ihn erst in der ersten Beratungswoche im Mai im Bundestag in zweiter und dritter Lesung behandeln. Gestern abend noch habe ich erfahren, daß ein Mitglied des Bundesrates dazu bereit wäre. Darauf kann sich aber meine Fraktion nicht verlassen, auch nicht die Fraktion der Freien Demokratischen Partei. Deswegen bitten wir Sie, dem Antrag der Fraktionen der SPD und der FDP zuzustimmen und diesen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jenninger.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001025, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bedauert, daß die Regierungskoalition wieder einmal entgegen allen interfraktionellen Abmachungen, entgegen aller sachlichen Notwendigkeit und aller parlamentarischen Gepflogenheit mit ihrer Mehrheit die Aufsetzung eines Punktes auf die Tagesordnung erzwingen will. Seit über drei Monaten - das hat Kollege Porzner eben angedeutet - wird dieser Punkt von der Koalition im Ältestenrat von Woche zú Woche verschoben, weil er angeblich noch nicht beratungsreif sei. Noch in der letzten Woche ließen uns die Kollegen Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD und FDP mitteilen, daß sie damit einverstanden seien, daß dieser Punkt in der ersten Maisitzungswoche beraten werden solle. Vor zwei Tagen hat man nun plötzlich die Meinung um 180 Grad gedreht und verlangt quasi über Nacht, diesen Punkt noch heute als dringend zu behandeln. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bisher keine Gelegenheit gehabt, diesen Punkt in ihren Fraktionsgremien zu beraten. ({0}) Es ist alter parlamentarischer Brauch, daß man auf solche Wünsche der Fraktionen Rücksicht nimmt. Aber im Zeitalter der zu Ende gehenden sozialliberalen Koalition wird offensichtlich auf solche Selbstverständlichkeit keine Rücksicht mehr genommen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich verkenne nicht, daß es im Interesse aller Fraktionen dieses Hauses liegt, daß dieser Gesetzentwurf am 1. Juli dieses Jahres in Kraft tritt und deswegen noch am 14. Mai im Bundesrat behandelt werden muß. Ich selbst habe mich dafür eingesetzt und die Zusage der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat erhalten, daß dieser Punkt in jedem Falle am 14. Mai im Bundesrat behandelt wird. Dies habe ich auch den Koalitionsfraktionen gestern mitteilen lassen, so daß eine Notwendigkeit, dieses Gesetz heute nacht noch zu behandeln, mitnichten gegeben ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir dem Antrag des Kollegen Porzner widerspre16348 chen, dann nicht deswegen, weil wir uns mit allen Mitteln gegen die Beratung dieses Gesetzes zur Wehr setzen wollen, sondern weil wir damit auch gegen diese Art der Behandlung und gegen diesen Stil in diesem Hause protestieren wollen. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP, die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes - Drucksachen 7/3494, 7/4539, 7/4534 - auf die Tagesordnung zu setzen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. -- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das erste war die Mehrheit. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen erweitert werden: 1. Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung des Abfallbeseitigungsgesetzes - Drucksache 7/4962 - Berichterstatter: Senator Willms 2. Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts ({2}) - Drucksache 7/4992 - Berichterstatter: Abg. Jahn ({3}) 3. Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({4}) zu dem Gesetz zur Änderung beamtenversorgungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 7/4993 - Berichterstatter: Abg. Jahn ({5}) Das Haus ist damit einverstanden. Der Bericht über die Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes hinsichtlich der Hilfe zur häuslichen Pflege und der Hilfe für alleinstehende Elternteile mit mindestens zwei Kindern unter 16 Jahren - Drucksache 7/4947 - soll gemäß § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit - federführend -, dem Haushaltsausschuß - mitberatend - und gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Helmut Schmidt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002007

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Abschluß der Gemeinschaftsverträge ist unsere Außenpolitik gleichermaßen eingebettet in die Politik der europäischen Einigung wie in das Atlantische Bündnis. Zu dem Gebäude, das in Europa entstanden ist - und es ist ein in der Welt stark beachtetes Gebäude -, hat unser Land einen Beitrag geleistet, der unserer wirtschaftlichen Kraft und unserer tiefen Überzeugung von der Notwendigkeit des Einigungswerks entspricht. In absoluten Zahlen haben wir übrigens den höchsten Beitrag von allen europäischen Ländern geleistet. Wir tun das unverändert. Gegenwärtig befindet sich die Europäische Gemeinschaft jedoch nicht in einem guten Zustand. Die schwere Rezession der Weltwirtschaft hat die ökonomischen Unterschiede zwischen den Partnern verschärft, und dieser Prozeß wurde noch potenziert durch die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der gesellschaftlichen und politischen Struktur der verschiedenen Mitgliedstaaten. Die EG-Kommission hat dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs vor wenigen Tagen in Luxemburg in ökonomischen Daten vor Augen geführt, daß der Abstand zwischen den Partnern in den letzten zwei Jahren schrittweise größer geworden ist, als er früher war. Unser Freund Ministerpräsident den Uyl hatte in Luxemburg darauf hingewiesen, daß die ökonomische Entwicklung in den Mitgliedstaaten keineswegs im Gleichklang erfolgt, auch nicht bloß in zwei Geschwindigkeiten, sondern in Wahrheit mit mehreren verschiedenen Geschwindigkeiten. Die europäische Presse hat diese Entwicklung vor Luxemburg, aber auch danach, z. B. bei der Kommentierung des Tindemans-Berichts, häufig nicht ausreichend gesehen. Die von der Kommission vorgelegten Zahlenreihen beziehen sich auf die Entwicklung der Jahre 1973, 1974, 1975. Es ergibt sich daraus eine erhebliche Differenz, z. B. bei der jährlichen Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in den einzelnen Mitgliedstaaten. In allen drei Jahren war übrigens bei uns die Zunahme der öffentlichen Ausgaben am geringsten. Ähnlich war die Entwicklung zunächst noch in Frankreich und in Belgien. Aber zwei Staaten haben z. B. im letzten Jahr ihre öffentlichen Ausgaben doppelt so stark erhöht wie die Bundesrepublik Deutschland; sie hatten doppelt so hohe Zuwachsraten. Ein noch klareres Bild ergibt sich für den Zuwachs der Geldmenge. Sie wissen, daß es dafür verschiedene statistische Methoden der Messung gibt. Ich folge hier der in diesem Fall durch die EG-Kommission angewandten Betrachtungsweise. Dabei ist es so, daß allein drei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in einem einzigen Jahr, im Jahr 1975, ihre Geld- und Quasi-Geld-Mengen um 20 % und mehr erhöht haben, die Bundesrepublik Deutschland dagegen überhaupt nicht. Die Lohnstückkosten sind in einem Staat der Gemeinschaft in diesen drei Jahren anderthalbmal so stark gestiegen wie in der Bundesrepublik Deutschland, in den meisten Staaten doppelt so stark und im Rest in zwei Fällen dreimal so stark wie in der Bundesrepublik Deutschland. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Verbraucherpreise. In zwei Fällen liegt der Anstieg der Verbraucherpreise in diesen drei Jahren bei dem Anderthalbfachen des unseren, im übrigen liegt er in diesen drei Jahren bei dem Doppelten des unseren, und in zwei Fällen ist er sogar fast dreimal so hoch wie bei uns. Diese Zahlen prägen sich natürlich auch im Außenwert der neun Währungen aus. Gegenüber dem Beginn des Jahres 1973 hat sich der Wert der übrigen Währungen der EG-Staaten im Verhältnis zur D-Mark abgeschwächt, oder, anders ausgedrückt, die Bewertung der D-Mark ist stetig gestiegen: gegenüber dem holländischen Gulden im Laufe der letzten 31/4 Jahre - von Anfang 1973 bis heute - nur um rund 5 % - dies ist ganz unerheblich -, gegenüber anderen Währungen innerhalb der EG aber um .10 bis 16 % und in zwei Fällen sogar um 56 bzw. 85 %; der Wert der deutschen Währung ist gegenüber einer anderen EG-Währung in drei Jahren sage und schreibe um 85 % gestiegen! Im gewogenen Durchschnitt ist der Wert unserer Währung gegenüber allen übrigen EG-Währungen in diesen 31/4 Jahren um mehr als ein Fünftel gestiegen. Derselbe Anstieg ergibt sich gegenüber dem gewogenen Durchschnitt der ganzen Welt; das ist eine zufällige Übereinstimmung. Dieser Anstieg hat sich in den allerletzten Wochen und selbst Tagen bekanntlich fortgesetzt, zum Teil unter spekulativen Begleiterscheinungen. Ich komme darauf noch einmal zurück. Aber ich will hier erwähnen, daß der Wert der D-Mark allein seit Beginn dieses Jahres, 1976, gegenüber dem gewogenen Durchschnitt der Welt noch einmal um 61/2 % gestiegen ist. In Klammern füge ich hinzu: Man kann in dieser durch die Kapital-, Kredit- und Devisenmärkte der Welt vorgenommenen Bewertung erkennen, wie hoch die Teilnehmer der Weltwirtschaft die zukünftige Leistungsfähigkeit und Stabilität der deutschen Volkswirtschaft und der deutschen Gesellschaft einschätzen. Klammer zu! ({0}) Natürlich ergibt sich aus diesen Währungsunterschieden dann auch, daß die Preise, die wir für unsere Einfuhren zu bezahlen haben, im Laufe der letzten drei Jahre wesentlich geringer angestiegen sind als die Einfuhrpreise für die übrigen Länder der Gemeinschaft. Hier haben Sie wieder den Zusammenhang mit den Lebenshaltungskosten. Aber auch unsere eigenen Ausfuhrpreise sind sehr viel weniger gestiegen als diejenigen anderer Partnerstaaten, jeweils gemessen in der Landeswährung. Dies alles schlägt sich natürlich auch auf den Arbeitsmärkten nieder. Auch in Sachen Arbeitslosigkeit entwickelt sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem Weltrezessionsjahr deutlich positiver, als die Entwicklungen in den Partnerstaaten verlaufen. Ebenso ist natürlich der erwartete Niederschlag im realen Zuwachs sowohl des Bruttosozialprodukts als auch des Volkseinkommens bei uns größer als anderwärts in der Gemeinschaft. Es ist klar, daß uns in Deutschland diese Entwicklungen nicht in den Schoß gefallen sind. Zum Teil beruhen sie darauf, daß - dies ist der negative Aspekt der Ursachen - eine Harmonisierung des ökonomischen Verhaltens der neun Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen trotz allen deutschen Drängens und trotz vieler deutscher Initiativen und Vorschläge über eine Reihe von Jahren - nicht nur die gegenwärtige Bundesregierung, sondern auch ihre Vorgängerin und die ihr vorangegangenen Bundesregierungen haben darauf gedrängt - nicht entfernt in ausreichendem Maße geglückt ist. Eine konsequente Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich auf ein verantwortungsbewußtes Verhalten der Sozialpartner stützen konnte, hat uns einen hohen Grad von Stabilität gegeben. Das ist befriedigend für uns. Die unterschiedliche Entwicklung hat aber für Europa und damit auch für unsere Europapolitik eine sehr schwierige Situation geschaffen. Das Ausscheiden Frankreichs aus dem europäischen Währungverbund, der sogenannten Schlange, war eine Konsequenz dieser Sachlage. Wir haben Frankreichs Ausscheiden bedauert. Wir waren zu einer Anpassung aller Leitkurse - auch der D-Mark - innerhalb des Wechselkursverbundes, innerhalb der Schlange bereit, wir waren zur Aufwertung bereit, um den Zusammenhalt des Währungverbundes zu ermöglichen. Von Frankreich ist dies gewürdigt worden. Ich will in diesem Zusammenhang aber auch sagen, daß die währungs- und stabilitätspolitische Aufgabe des Wechselkursverbundes, also der Schlange, dann unweigerlich beeinträchtigt wird, wenn in diesem Verbund Währungen von Ländern aneinandergebunden sind, deren wirtschaftliche Grunddaten eben nicht einigermaßen parallel, sondern so auseinanderstrebend verlaufen, wie ich es vorhin vorgetragen bzw. aus den Papieren, die die Kommission in Luxemburg vorgelegt hat, zitiert habe. Ich habe mich im Europäischen Rat in dieser Lage gegen währungspolitische Kunstgriffe gewandt. Durch Veränderung der bestehenden oder durch Schaffung neuer Mechanismen käme die Wirtschafts- und Währungsunion ebensowenig voran wie Europa damit gedient wäre, wenn sich die Partner stabilitätspolitisch etwa auf einer mittleren Linie träfen, d. h. wenn wir, um uns den anderen anzunähern, bewußt mehr Inflation in Kauf nähmen oder gar mit Fleiß herbeiführten. Anregungen in dieser Hinsicht sind uns gegenüber übrigens durchaus im Ernst gegeben worden. Wir können dies nicht auf uns nehmen, weil wir doch unsere wirtschaftliche und unsere soziale Stabilität erhalten müssen und wollen. Schon bisher erbringen wir erhebliche finanzielle Beiträge für die Gemeinschaft - ich erwähnte das bereits -, bis hin zu jenen anderthalb Milliarden DM, die wir infolge von Verrechnungseinheiten und Verrechnungsmodalitäten innerhalb der Gemeinschaft zahlen, die auf längst überholten alten Wechselkursen beruhen. Ich will hier trotzdem ganz klar sagen: Die Bundesregierung wird dem Bundestag und dem deutschen Steuerzahler auch in Zukunft Opfer zugunsten der Europäischen Gemeinschaft und sogar zugunsten einzelner Partner innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zumuten müssen - und sie will dies auch tun -, allerdings unter einer entscheidenden Voraussetzung: Die jeweiligen eigenen ökonomischen und sozialen Anstrengungen der Partnerstaaten und ihrer Regierungen und Parlamente müssen so entschieden und so erfolgver16350 sprechend sein, daß insgesamt, d. h. einschließlich unserer zusätzlichen Beiträge, ein Fortschritt für Europa dabei herauskommt. ({1}) Jede Regierung und jedes Parlament in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft muß diesen Weg für sich selbst mit Entschlossenheit beschreiten. Die Gemeinschaft kann dies einstweilen den Mitgliedstaaten nicht abnehmen. Das sind Entscheidungen, die in all den Hauptstädten in nationaler Verantwortung getroffen werden. Aber die Gemeinschaft kann den Staaten dabei helfen. Zu diesem Zweck hat in Luxemburg die EG-Kommission dem Europäischen Rat Vorschläge zur umfassenden Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik vorgelegt. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen soll gegebenenfalls die Verweigerung von Gemeinschaftshilfen auslösen. Solche Vorstellungen waren zum Teil schon früher von den Mitgliedstaaten theoretisch akzeptiert worden, sind jedoch praktisch leider kaum jemals befolgt worden. Nur wenn und nur soweit dies gelingt, sind Vorschläge zur Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Wechselkurssystems sowie zur Verstärkung der Mittel und der Befugnisse des Europäischen Währungsfonds sinnvoll und erfolgversprechend. Diese Uberzeugung hatte die Bundesregierung schon in der dem Bundestag zugeleiteten Stellungnahme zum Tindemans-Bericht ausgedrückt, die ja im Auswärtigen Ausschuß - wenn ich es richtig sehe - ohne Widerspruch der Opposition in irgendeinem einzelnen Punkt einvernehmlich beraten werden konnte. Unsere Partner waren vorige Woche in Luxemburg nicht in der Lage, konkrete Vorschläge für Leitlinien einer von jedem Mitgliedstaat künftig zu verfolgenden Wirtschafts- und Währungspolitik anzunehmen. Vielmehr sollen sich die Fachministerräte damit beschäftigen. Ich habe die Notwendigkeit der Disziplin eindringlich vorgetragen erstens in bezug auf das Wachstum der Geld- und Kreditvolumina in den einzelnen Mitgliedstaaten, zweitens in bezug auf die Haushaltspolitik, insbesondere die Finanzierungsmethoden der Budgetdefizite, drittens in bezug auf die Kosten- und Einkommensentwicklung und die Einkommenspolitik in den Mitgliedstaaten und viertens in bezug auf die Zahlungsbilanzen. Ich habe von mehreren meiner Kollegen durchaus Zustimmung dazu erfahren. Der Europäische Rat hat nach dieser Diskussion erfreulicherweise davon abgesehen, die Notwendigkeit der Besinnung auf solche ökonomische Disziplin durch Abgabe eines sehr allgemein gefaßten Bekenntnisses zu relativieren. Ich sehe auch darin ein wichtiges Ergebnis jenes Meinungsaustauschs. Die weitere Behandlung der Kommissionsvorschläge durch die zuständigen Minister sollte dazu führen, daß die dringend erforderlichen Folgerungen aus den in Luxemburg gewonnenen Erkenntnissen von den einzelnen Regierungen, die es angeht, gezogen werden. Für unser Vorgehen in unserem eigenen Land bedeutet das: Wir müssen auch künftig eine vorbildliche Wirtschaftspolitik treiben, die gesicherte Arbeitsplätze schafft und die notwendigen sozialen Sicherungen und sozialen Strukturreformen ermöglicht. Wer rechtzeitig seine Sozialordnung und seine Wirtschaftsordnung den heutigen und den morgigen Notwendigkeiten anpaßt, der braucht nicht nur über Kompromisse mit Kommunisten nicht nachzudenken. Die Staaten Europas haben zum Teil - um Herrn Hans Dieter Kloss von der „Stuttgarter Zeitung" zu zitieren - „versäumt, das kapitalistische Wirtschaftssystem rechtzeitig so zu verändern und dem Fortschritt anzupassen, daß es auch von denen mitgetragen wird, die zum notwendigen Kapital die notwendige Arbeit liefern." ({2}) Ich stimme dem zu, was er so vor wenigen Tagen in einer Betrachtung über die unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Lage in den neun europäischen Staaten geschrieben hat. Aber es ist ja bei all dem nicht zu spät. Vielmehr beginnen auch anderwärts in Europa viele Menschen damit, sich für die Erfahrungen mit modernen Gewerkschaften und einer modernen Sozialordnung zu interessieren. Ich drücke mich ganz zurückhaltend aus. Die dreiseitigen Konferenzen zwischen europäischer Unternehmerschaft, europäischen Gewerkschaften und den Regierungen dieser neun Staaten sind dabei ein gutes Hilfsmittel, das wir stärken und ausbauen wollen. Aber die eigentliche Aufgabe muß in eigener Verantwortung der Parlamente, der Regierungen und der Sozialpartner in den neun Staaten angepackt werden. Ehe nämlich das Europäische Parlament auch nur eine einheitliche Betriebsverfassung - ich rede gar nicht von Unternehmensmitbestimmung - für ganz Europa bindend vorschreiben kann, wird noch sehr viel Wasser die Themse und die Seine und auch den Tiber hinunterfließen. Wir müssen gleichzeitig neben diesen nationalen Anstrengungen nun allerdings den inneren Ausbau der Gemeinschaft und die Ausgestaltung ihrer Organe weiter voranbringen. Die Bundesregierung unterstützt die Grundlinien von Minister Tindemans' Bericht, die auf schrittweisen Ausbau gerichtet sind, und dieses Haus ist sich darin ja offenkundig einig. Wir sind dafür, daß die Entscheidungen über Angelegenheiten der Römischen Verträge und die Entscheidungen der Außenpolitik in einem Zentrum zusammengeführt werden. Europa ist nur dann handlungsfähig, wenn es sowohl ökonomisch als auch außenpolitisch gemeinsam handelt, und dazu muß es sich selbst befähigen. Die europäische politische Zusammenarbeit hat sich in den letzten Jahren in flexiblem Vorgehen bewährt. Konsultationsverpflichtungen und die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, sich in aller Regel nach dem Ergebnis gemeinsamer Beratung zu richten, sollte in Zukunft diese Zusammenarbeit verfestigen. Mit dem Ausbau der Gemeinschaften meine ich allerdings in allererster Linie die Stärkung der deBundeskanzler Schmidt mokratischen Grundlage durch direkte Wahl, durch Volkswahl des Europäischen Parlaments ({3}) und dann die Erweiterung seiner legislativen Befugnisse. Mit ihrem Einsatz für die Direktwahl im Jahre 1978 - ich habe das in der ersten Sitzung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs heute vor 16 Monaten vorgeschlagen - hat die Bundesregierung auch seither die Grenzen des uns Deutschen Möglichen voll ausgeschöpft. Der Bundesminister des Auswärtigen und ich haben zum Beispiel jetzt wieder in Luxemburg unseren Partnern erklärt, daß wir uns in allen noch offenen Fragen, überhaupt in allen Fragen, die die Direktwahl des Europäischen Parlaments betreffen einschließlich des Wochentags oder der Wochentage, an denen die Wahl stattfinden soll, vor allem aber, was die Aufteilung der Sitze unter die neun Staaten angeht, jedem Kompromiß anschließen und jeden Kompromiß hier vor dem Deutschen Bundestag vertreten würden, auf den die anderen sich einigen könnten. ({4}) Wir haben uns natürlich immer mit Präferenz eingesetzt für das vom Straßburger Parlament selbst erarbeitete Modell, den sogenannten PatijnBericht, aber unsere Bereitschaft auch zu jeder anderen Lösung haben wir immer wieder klargemacht. Trotz unseres sehr nachdrücklichen Einsatzes, zu einem Kompromiß zu gelangen, haben andere Regierungen - nicht alle - bisher keinen gemeinsamen Weg akzeptieren können, auch nicht den sehr intelligenten Kompromißvorschlag unseres Freundes Präsident Giscard d'Estaing, es ganz einfach bei der durch die Römischen Verträge und die Beitrittsverträge hergestellten Sitzverteilung zu belassen, wie sie heute und schon seit Jahr und Tag in Straßburg gilt, und sie gar nicht neu zu verhandeln. Nicht einmal die Beibehaltung der gegenwärtigen Sitzverteilung erschien allen Regierungen akzeptabel. Ich nehme an, Sie erkennen, daß unsere Seite, die natürlich auch diesen Vorschlag unterstützt hat, weil er Einigungsaussicht zu bieten schien, wirklich nichts unversucht läßt. Wir arbeiten gleichzeitig beharrlich an Lösungen, welche die demokratischen, politischen, die parteilichen Kräfte in Europa sich auf einer gemeinsamen parlamentarischen Ebene formieren läßt. Das Beispiel Willy Brandts, der seine Kandidatur für das Europäische Parlament angekündigt hat, sollte auch anderswo durchaus Schule machen. ({5}) Auch der kürzlich erfolgte Zusammenschluß der liberalen Parteien Europas und die offenbar bevorstehende Entwicklung bei konservativen und christlich-demokratischen Parteien Europas weist in die gleiche Richtung. Unter den Sozialdemokraten hat es das ja schon seit eh und je gegeben. ({6}) Vom Parlament zur Kommission: Auch die EG-Kommission muß - und ich denke: noch in diesem Jahr - gestärkt werden, in diesem Jahr dadurch, daß sich der Rat zunächst auf die Person des nächsten Kommissionspräsidenten einigt, denn am 1. Januar kommenden Jahres wird ein neuer Präsident ins Amt treten. Dann haben die neun Regierungen allerdings dem designierten neuen Präsidenten erstmalig Einfluß einzuräumen auf die vertragsgemäß von den neun Regierungen zu treffende Entscheidung über die Berufung der Kommissionsmitglieder. Es ist ein schwer vorstellbares System, in dem jemand Chef einer Quasi-Regierung, der Europäischen Kommission nämlich, sein soll, ohne bisher den geringsten Einfluß auf die Auwahl der Kollegen ausüben zu können, die in dieser Regierung mit ihm zusammenarbeiten sollen. Wir wollen die Europäische Gemeinschaft im gesellschaftlichen und im politischen Bewußtsein der Bürger Europas stärker verankern; darin sind wir uns einig. Wir wollen auch den Schutz der Grundrechte und Freiheiten des einzelnen verstärken, weil dadurch die Europäische Gemeinschaft als politische Grundordnung für den einzelnen Bürger unmittelbar erlebbar gemacht wird. Unlösbar in diesen Zusammenhang gehört die Gewährleistung des entsprechenden gerichtlichen Rechtsschutzes für den einzelnen. Auch darum werden wir uns kümmern; wir sind dabei. Ich bin weiter zuversichtlich, daß sich die Einwohner der neun Staaten schon von 1978 an durch einen im wesentlichen einheitlichen europäischen Paß ausweisen und daß die Grenzkontrollen zunehmend beseitigt werden können. Ich denke, wir können sagen, daß wir nicht zu den europäischen Schönrednern gehören, von denen es viele gibt. Wir möchten uns auch nicht europäischer Besserwisserei schuldig machen, und wir denken nicht an irgendwelche deutschen Führungsansprüche. ({7}) Im Gegenteil: Ich warne vor der Versuchung zu irgendwelchen deutschen Führungsansprüchen, die der eine oder der andere bisweilen spüren mag. Wenn aber die Schwierigkeiten einiger anderer Länder es zur Zeit nicht oder noch nicht möglich machen, solche Schritte zu tun, die eigentlich für alle geboten wären, so wollen wir darauf achten, daß unsere Kooperationsbereitschaft und unsere Fähigkeit zur Kooperation miteinander im Einklang gehalten werden. Für uns Deutsche als geteilte Nation, für die Bundesrepublik Deutschland insbesondere, die doch den Zustand der Teilung nicht als geschichtlich endgültig hinnehmen kann und hinnehmen will, ist die Förderung des europäischen Zusammenschlusses und sein Erfolg eine Lebensnotwendigkeit. ({8}) Wir sind uns dessen bei jeder einzelnen europäischen Ratssitzung und bei der Vorbereitung zu jeder einzelnen Entscheidung auf der morgen oder nächste Woche bevorstehenden Ratssitzung - wel16352 cher Rat auch immer das ist - durchaus bewußt. Wir lassen es deshalb auch zu keiner Zeit an konstruktiver Initiative auf dem Wege zu diesem Ziel des Fortschritts des europäischen Zusammenschlusses fehlen. Wir haben es auch bisher an praktischer Solidarität nicht fehlen lassen. Ich erinnere an die Finanzierung der Agrarfonds, der Regional- und Sozialfonds, an den Währungsbeistand, die Gemeinschaftsanleihen, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit mit Mitteln des Sozialfonds, an die vom Europäischen Rat in Dublin vereinbarten Korrekturmechanismen für die Beitragszahlung aus Anlaß des britischen Referendums. Zu alledem haben wir faire Beispiele gegeben, und wir werden das weiterhin tun. Ich wiederhole: Wir sind auch weiterhin zu zusätzlichen ökonomischen Opfern bereit, wenn sie gemeinsam mit eigenen Anstrengungen der Partnerstaaten gebracht werden und wenn sie dergestalt zum Fortschritt und nicht bloß zum Zustopfen von Löchern führen. ({9}) Die Europäische Gemeinschaft hat trotz aller gegenwärtigen Schwierigkeiten in einigen Mitgliedstaaten keinen Grund zu resignieren; denn sie hat sich durch die Weltwirtschaftskrise eben doch nicht auseinandertreiben lassen, wenngleich die Gefahr bestand. Großbritannien hat seine Entscheidung für Europa im Referendum von 1975 bestätigt. Der Beitrittsantrag Griechenlands zeigt, daß der Gedanke der europäischen Einigung auch in den europäischen Ländern, die noch außerhalb der Gemeinschaft leben, nichts an Anziehungskraft verloren hat. Das sehen wir auch auf der iberischen Halbinsel. Die Gemeinschaft hat mit dem Abkommen von Lomé ihre Beziehungen zu 46 Ländern der Dritten Welt in vorbildlicher Weise geregelt. Sie hat in der Mittelmeerpolitik Fortschritte gemacht und im Hinblick auf Portugal gezeigt - übrigens: dort nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland als individueller Partner Portugals -, daß sie zu schneller und wirksamer Hilfe bereit ist. Die schärfste Phase der weltweiten Rezession liegt hinter uns. Der Erfolg der europäischen Gemeinschaftsanleihe, unter der ja eben auch unsere Unterschrift steht, hat gezeigt, daß die Gemeinschaft auf den Kreditmärkten der Welt Vertrauen genießt. Insgesamt ist die Leistungsbilanz der Gemeinschaft ausgeglichen. Es gilt jetzt, überall in den Staaten der Gemeinschaft dem konjunkturellen Aufschwung zum Durchbruch zu verhelfen. Ebenso wie in der Europäischen Gemeinschaft erfüllen wir im Atlantischen Bündnis die uns zukommenden Aufgaben. Seit langer Zeit hatte das Bundeskabinett die Absicht, sich einmal auf dem Hardtberg im einzelnen mit Fragen der Bundeswehr und des Bündnisses zu beschäftigen. Ich darf nach dieser gestrigen Sitzung feststellen, daß die Bundeswehr nach Überzeugung der Bundesregierung gegenwärtig einen Spitzenstand ihrer Ausrüstung und Ausbildung erreicht hat. Sie wird von dieser Gesellschaft voll akzeptiert. Das alles gibt ihr inneres Vertrauen, Selbstvertrauen. Wir haben unsere Bündnispflichten ohne jeden Abstrich sorgfältig erfüllt. Wir werden das auch weiterhin tun. Durch die Bundeswehr tragen wir in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Freunden und mit unseren übrigen Verbündeten zur Bewahrung des globalen, des weltweiten Sicherheitsgleichgewichts bei und erhalten damit die Voraussetzungen für die Politik der Entspannung. Die globale Balance der Kräfte ist trotz großer sowjetischer Rüstungsanstrengungen gesichert. Keineswegs sind wir etwa unterversichert, wie manche Schwarzmaler in letzter Zeit glauben machen wollten. Die zahlenmäßige Überlegenheit der anderen Seite bei Teilen der konventionellen Streitkräfte wird durch das überlegene nukleare Potential und den höheren technologischen Entwicklungsstand des Westens insgesamt ausgeglichen, und die Abschrekkungskraft des Bündnisses ist intakt. Alle Partner in der NATO müssen sich aber bewußt sein, daß die Funktionsfähigkeit des Bündnisses nur bestehenbleiben kann, wenn jeder Partner seine Verteidigungspflichten unvermindert erfüllt. Es gibt andererseits nach wie vor keinen Zweifel daran, daß die beiden Weltmächte entschlossen sind, auf der Grundlage der Machtbalance an der Entspannungspolitik festzuhalten. Jedoch bestärken uns Beispiele wie Angola in der Forderung, die Entspannungspolitik, die immer nur in solchen Regionen oder in solchen Sachbereichen funktioniert hat, die von den Großmächten einvernehmlich abgedeckt waren, auf die ganze Welt auszudehnen. ({10}) Die Ergebnisse des 25. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion haben gezeigt, daß es eine friedliche Koexistenz auf ideologischem oder auf gesellschaftspolitischem Gebiet nicht gibt. Niemanden überrascht das. Aber wir haben keinen Grund, diese Auseinandersetzung zu fürchten, solange unsere Gesellschaftsordnung ihre innere Stärke und Glaubwürdigkeit nicht verliert, ({11}) solange unser Wille zu immer fortschreitender sozialer Gerechtigkeit und unser Wille zur Bewahrung der Freiheit ungebrochen bleiben. ({12}) Nun hat es - ungeachtet mancher Umdeutungsversuche - niemals einen Zweifel daran geben können, daß Präsident Ford bei seiner Reaktion auf das sowjetische Eingreifen in Angola keineswegs von der Entspannungspolitik hat abrücken wollen. Wir zweifeln nicht daran, daß auch Amerika weiterhin den Abbau der Spannungen will - oder, wie Ford in derselben Rede, die in Deutschland vielfach so verfälschend zitiert worden ist, gesagt hat, die „relaxation of tensions", was auf deutsch nichts anderes heißt als „Entspannung von Spannungen". Und zwar durch, wie Ford gesagt hat, eine Politik des „Friedens durch Stärke", nicht durch eine sogenannte Politik der Stärke; das ist ja nur ein scheinBundeskanzler Schmidt barer Anklang an ganz andere Formulierungen aus ganz anderen Zeiten. Europa hat als Folge der Sicherheits- und Entspannungspolitik den Vorzug, trotz vieler ungelöster Probleme zu einer der politisch stabilsten Zonen der ganzen Erde geworden zu sein. Europa ist in der Tat eine der politisch stabilsten Zonen der Welt! ({13}) Generalsekretär Breschnew hat auf seinem Parteitag davon gesprochen, daß die deutschsowjetischen Beziehungen auf der Basis des Moskauer Vertrages von 1970 in „normalen Bahnen" verlaufen. Er hat darauf hingewiesen, daß die Gipfeltreffen der letzten Jahre es ermöglicht haben, „das Einvernehmen zu verbessern und die Zusammenarbeit in der Wirtschaft und auf anderen Gebieten voranzubringen". Natürlich wäre es uns lieber, wenn sich Fortschritte und Verbesserungen noch rascher zeigten und wenn sie alle Felder der Zusammenarbeit, alle Berührungspunkte deutsch-sowjetischer Interessen erfaßten. Dies gilt insbesondere für eine selbstverständliche vollständige Einbeziehung West-Berlins in diese Zusammenarbeit, die den vertraglich anerkannten engen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland Rechnung trägt. Die Fortentwicklung einer kontinuierlichen, in normalen Bahnen verlaufenden Zusammenarbeit bedeutet aber auch, daß die Überprüfung von Gedanken, die Überprüfung gemeinsamer unternehmerischer Vorhaben, die man ins Auge gefaßt hat, nicht zu Rückschlägen hochstilisiert werden darf. Ich denke dabei etwa an das Projekt des Kernkraftwerks Königsberg, das auf einem sowjetischen Vorschlag beruhte und dem sowjetischen Interesse an unserer Kooperation beim Aufbau des sowjetischen Energieversorgungsnetzes entsprach. Wir haben unser Interesse an der Einbeziehung der Stromversorgung Berlins damit verknüpft. Die sowjetische Seite ist im Verlauf der Prüfung unter technischen, wirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkten zu dem Ergebnis gekommen, daß sie aus wirtschaftlichen Gründen gegenwärtig an dem Projekt nicht interessiert ist. Andererseits jedoch weist das Interesse, das die sowjetische Seite in der gemischten Wirtschaftskommission an der industriellen Kooperation mit uns verfolgt, darauf hin, daß es auch zukünftig noch große, unausgeschöpfte Möglichkeiten gibt. Im vorigen Monat, am 24. März, sind die deutschpolnischen Vereinbarungen vom 8. Oktober in Kraft getreten. Wir sind damit den Zielen unserer Ostpolitik um einen bedeutenden Schritt näher gekommen: die Belastungen, unter denen das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarstaaten und -völkern seit dem Zweiten Weltkrieg leidet, Stück für Stück abzutragen und die Voraussetzungen für ein vertrauensvolles Verhältnis zu schaffen. ({14}) Unsere innenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Wochen zuvor haben erkennbar gemacht, wie groß und wie dringend die Aufgaben sind, die gerade im Hinblick auf das deutsch-polnische Verhältnis nach wie vor vor uns liegen. ({15}) Ich freue mich deshalb, daß sich, obwohl die Opposition hier im Bundestag abgelehnt hat, der Bundesrat dann doch zu einem Ja durchgerungen hat. Die zwischen den Regierungen ausgehandelten Verträge können den Weg für eine Annäherung zwischen den Völkern nur vorbereiten; sie können die Annäherung zwischen den Völkern nicht vereinbaren. Versöhnung und gegenseitiges Vertrauen lassen sich nicht dekretieren, sondern sie müssen aus der Begegnung erwachsen. ({16}) Nach unserer Überzeugung liegt es im Interesse beider Staaten, das durch die Vereinbarungen geschaffene Klima auf möglichst vielen Feldern zur Begegnung zu nutzen: in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Wissenschaft. Die Geschichte der deutschfranzösischen Beziehungen seit dem Kriege - sie haben ja heute ein bisher ganz ungewohntes Niveau erreicht - zeigt, daß es auf das immer bessere unmittelbare Kennenlernen, auf die unmittelbare Begegnung ankommt. Diese Möglichkeiten müssen wir nun - vor allem den jungen Menschen - auch zwischen Polen und Deutschen eröffnen. ({17}) Anders als den vorangegangenen Generationen bietet sich ihnen die Chance, ein zutreffendes Bild voneinander zu gewinnen und zwischen beiden Völkern ein Verhältnis der guten Nachbarschaft herzustellen. Ich bin zuversichtlich, daß der gestern abend vereinbarte Besuch, den der Erste Sekretär, Herr Gierek, im Juni dieses Jahres in Bonn machen wird, uns auf diesem Wege weiter voranbringen wird. ({18}) Die deutsche Außenpolitik ist bereit, auch außerhalb Europas zur Überwindung von Krisen und Konflikten beizutragen. Der sehr nützliche Besuch des ägyptischen Staatspräsidenten Sadat in der letzten Woche hat uns Gelegenheit gegeben, die Auffassungen eines seiner großen Verantwortung bewußten arabischen Staatsmannes über die Mögleichkeiten und Voraussetzungen zur Bereinigung des Nahostkonflikts unmittelbar kennenzulernen. Wir haben ihm unsererseits den ausgewogenen deutschen Standpunkt dargelegt. Einerseits treten wir für die Verwirklichung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes ein, die das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Errichtung einer eigenen staatlichen Autorität auf demjenigen Gebiet einschließen, das von Israel im Rahmen einer Friedensregelung zu räumen sein wird; andererseits muß ebenso das Existenzrecht Israels innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen in der Friedensregelung bestätigt werden. ({19}) Wir sprechen zu beiden Seiten mit derselben Zunge. Wir sind bereit, uns gemeinsam mit unseren Partnern in der- Europäischen Gemeinschaft an der Herbeiführung einer dauerhaften Friedensregelung zu beteiligen; denn die Sicherheit in Europa wird so lange gefährdet bleiben, wie in unserer Nachbarschaft ein gefährlicher Krisenherd schwelt. Aber wir haben dabei weder Schutzmachtambitionen, nodi wollen wir an Waffenlieferungsspekulationen beteiligt sein. ({20}) Das gleiche gilt übrigens für Afrika, das einen Prozeß langdauernder Umschichtung durchläuft. ({21}) Die weltpolitischen Erfahrungen der letzten Jahre zeigen unter anderem eines: Das internationale Gewicht der Bundesrepublik Deutschland hat zugenommen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Faktor geworden, der gefragt wird und der gehört wird. Damit wird uns eine erhöhte Verantwortung auferlegt. Wir verdanken diese Veränderung unserer Position in allererster Linie unserer inneren Stabilität, ({22}) die auf sozialer Sicherheit und auf wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit beruht. Darüber hinaus ist es das Ergebnis unserer Ost- und Deutschlandpolitik, die uns diesen erheblich größeren außenpolitischen Spielraum geschaffen hat -, all dies auf der tragfähigen Grundlage einer konsequenten Europa- und Bündnispolitik. Aber dennoch sind wir keine Weltmacht. Wir haben nicht den Ehrgeiz - und sollten ihn auch nicht haben -, eine eigenständige weltpolitische Aufgabe zu übernehmen. Gleichwohl leisten wir im Rahmen unserer Möglichkeiten unsere Beiträge zur Lösung internationaler weltpolitischer oder weltwirtschaftlicher Probleme. Um dies weiterhin tun zu können, konzentrieren wir auch in Zukunft einen großen Teil unserer Kräfte auf das, was unserem Land seine heutige Stellung verschafft hat, nämlich auf unseren weiteren wirtschaftlichen Aufstieg und auf den weiteren sozialen Ausgleich. Die Wirtschaft unseres Landes zeigt einen deutlichen Aufwärtstrend. Das Sozialprodukt steigt seit der Mitte des vorigen Jahres. Seither ist Auftragseingang bei der Industrie aus dem Inland wie aus dem Ausland gestiegen. Der beträchtliche Rückgang der Arbeitslosenzahl im März - und er wird sich fortsetzen - untermauert diese Tendenz. Die Zahl der Beschäftigten und die Zahl der offenen Stellen steigt. Aber weiterhin bedarf es intensiver Anstrengungen aller Regierungen, aller Parlamente und Sozialpartner in Deutschland, damit die vorhandenen Arbeitsplätze gesichert werden, damit zukunftssichere neue Arbeitsplätze entstehen können. Trotz der positiven Aussichten gibt es keinen Grund zur Selbstgefälligkeit. Niemand mache sich vor, daß die Folgen der Ölkrise oder die Folgen der Weltrezession schon überall überwunden seien. Aber gerade wegen der positiven Aussichten gibt es allerdings auch keinerlei Grund für Defätismus; denn das Schwierigste haben wir gemeistert und haben wir hinter uns. ({23}) Ein Teil der Risiken, die noch bestehen, liegt zum Beispiel darin, daß andere Staaten unter dem Druck ihrer Arbeitslosigkeit, unter dem Druck innenpolitischer Instabilität zu kurzsichtigen Reaktionen Zuflucht nehmen könnten. Es gibt an vielen Stellen der Welt, nicht nur in Europa, eine sehr beunruhigende Tendenz zu handelspolitischer Abschließung gegen andere, zu Protektionismus. Für uns besteht die Aufgabe jetzt darin, von der monetären Seite her genug Spielraum für ein kräftiges reales Wachstum zu ermöglichen, zugleich aber keine inflationären Spielräume zuzulassen. Neben der stabilitätsgerechten Steuerung der Geldmenge durch die Bundesbank schafft die Einkommenspolitik, die nach meiner festen Überzeugung autonome Sache von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bleiben muß, durch die bisherigen Tarifabschlüsse in diesem Jahr günstige Voraussetzungen dafür, daß wir dieses Ziel erreichen. Allerdings muß auch von den Unternehmungen in dieser Lage äußerste preispolitische Disziplin erwartet werden. ({24}) Die Entwicklung hängt natürlich in besonderer Weise davon ab, daß die Investitionen ausreichend gesteigert werden können. Ich erwarte, daß unsere Wirtschaft in dem Maße zu neuen Investitionen übergehen wird, wie der Aufschwung an Intensität gewinnt. Dadurch werden nicht nur zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, sondern zugleich auch die Nachfrage gestärkt und die Ertragslage der Unternehmen durch verbesserte Kapazitätsauslastung günstig beeinflußt. Die Bundesregierung sieht sich in dieser Beurteilung der Lage in breiter Weise durch die Einschätzung nicht nur der Forschungsinstitute und der Wirtschaft bestätigt; auch darüber hinaus erreicht uns manch bemerkenswertes Urteil, z. B. dieses: Wir erleben zur Zeit, wie der Konjunkturhimmel sich aufhellt; es gibt noch gravierende strukturelle Probleme, aber das schwerste „Wirtschaftsgewitter" seit den 30er Jahren zieht ab. Auch der Welthandel gibt Anlaß zu einiger Hoffnung, von den USA gehen Impulse zur Verbesserung der Konjunktur aus. Die Inflationswelle klingt leicht ab, vorerst drohen keine besonderen Preisgefahren. Ende des Zitats, das von Wirtschaftsexperten der CDU in Ludwigshafen stammt, die offensichtlich unbestreitbare Tatsachen nicht leugnen können oder wollen, wenngleich Sie in diesem Hause manchmal zu sehr seltsamen Deutungen und politischen Fehlschlüssen Ihre Zuflucht nehmen. ({25}) Meine Damen und Herren, auf dem Felde des sozialen Ausgleichs, auf dem Felde der sozialen Reform war es die unbestreitbare Leistung dieser Gesetzgebungskoalition, mitten in einer Weltrezession, die auch die Einnahmen unseres Staates schwer in Mitleidenschaft gezogen hat, das soziale Netz ausgeweitet und verdichtet, statt etwa eingeschränkt zu haben, ({26}) die Reform fortgesetzt, statt sie etwa eingestellt zu haben. Das ist der prinzipielle Unterschied zu der Art und Weise, wie man vor 40 Jahren im eigenen Lande versucht hat, mit den Auswirkungen einer Weltrezession fertig zu werden. Von den wichtigen Vorhaben aus den Regierungserklärungen der Jahre 1973 und 1974, die in den letzten Wochen vom Bundestag verabschiedet worden sind, möchte ich hier beispielhaft für die eben aufgestellte These nennen: die Neufassung des § 218 - endlich! -; die Reform des Ehe- und Familienrechts, die das Recht ehrlicher macht und den Menschen hilft, mit einem Minimum an Bitterkeit, aber einem Höchstmaß an Fairneß den Konflikt zu lösen, der mit dem Zerbrechen einer Ehe verbunden ist, kommt in diesen Tagen zustande. Ich nenne ferner die Verbesserung des Bodenrechts, die Ausweitung des Jugendarbeitsschutzes ({27}) und vor allem die Einführung der Mitbestimmung in Großbetrieben. Alle diese Gesetze sind lange Jahre von der Opposition bekämpft worden. ({28}) Teilweise ist sie im Bundesrat immer noch nicht bereit, diese Reformen zum Nutzen unserer Bürger mitzutragen ({29}) und gültiges Recht werden zu lassen. - Ich nehme Ihren Zwischenruf auf: Was dies wohl mit Europa zu tun hat? Das ist es eben, daß Sie nicht verstehen, daß unser Beitrag in Europa auf unserer Reformleistung beruht. ({30}) Sie treffen sich in den nächsten Wochen mit den übrigen konservativen und christlich-demokratischen Parteien Europas. Sie werden mit den übrigen konservativen Parteien Ihre Meinung darüber austauschen. ({31}) Sie werden gefragt werden, worauf denn der wirtschaftliche und soziale Stabilitätserfolg Deutschlands beruht. Sie werden doch nicht im Traum darauf antworten, er beruhe auf Herrn Prof. Carstens oder auf Herrn Abgeordneten Strauß. ({32}) Er beruht vielmehr auf der Stabilisierung der Sozialordnung, auf dem kontinuierlich gestärkten Vertrauen von Millionen Menschen in den stetigen Fortschritt unserer sozialen Ordnung. ({33}) Meine Damen und Herren von der ChristlichDemokratischen Union, Sie werden morgen bei der Reform der beruflichen Bildung zeigen müssen, ob Sie es mit Ihrer Verantwortung für die Jugend und für die Sicherung qualifizierter Ausbildungsplätze für Dreiviertel unserer Jugendlichen ernst meinen. Lippenbekenntnisse jedenfalls werden ab 1977, wo die geburtenstarken Jahrgänge vor der Tür stehen, nichts mehr nützen. Es wird darauf ankommen, jetzt nicht Unsicherheiten zu schüren, sondern es wird darauf ankommen, für die Ausbildungplätze der jungen Leute wirklich etwas zu tun. ({34}) Sie werden nach der Studentenkrise, der zu großen Zahl von Studenten, deren- Studienplatzwünsche wir nicht befriedigen können - wenn ich einigen zuhöre, scheint es mir immer, das sei nicht von den Ländern wie z. B. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Bayern herbeigeführt, sondern durch die Bundesregierung -, nun nicht auch noch eine Schülerkrise zulassen dürfen. ({35}) So steht nach Ostern eine Reihe weiterer bedeutender sozialer Reformgesetze in diesem Hause zur Entscheidung an. Ich nenne das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Spektakuläre oder gewalttätige Formen des Verbrechens oder des politisch verbrämten Terrors lassen in der öffentlichen Beachtung diese heimliche und heimtückische Form des Wirtschaftsverbrechens in den Hintergrund treten. Wirtschaftsverbrechen verursachen volkswirtschaftliche Milliardenverluste. Sie beeinträchtigen .auch die Glaubwürdigkeit und die Durchsetzungskraft unserer freiheitlichen Rechtsordnung. Dieses Gesetz soll damit aufräumen, daß nur der kleine Bürger bestraft, derjenige aber als cleverer Geschäftsmann behandelt wird, der durch betrügerische Manipulationen die Gemeinschaft schädigt. ({36}) Ich nenne das Arzneimittelgesetz. Das ConterganGeschehen hat gezeigt, daß eine umfassende Arzneimittelsicherheit für den Bürger, übrigens auch für die Arzneimittelhersteller, unverzichtbar ist. Ich will hier ein Wort zu den homöopathischen Arzneimittel sagen. Uns ist in dieser Frage- eine große Zahl von Briefen zugegangen. Die jetzt gefundene Fassung des Gesetzentwurfs vermeidet eindeutig das Mißverständnis oder die vielfach befürchtete Gefahr der Verdrängung der Naturheilmittel vom Arzneimittelmarkt etwa durch unerfüllbare Zulassungsanforderungen. ({37}) Ich nenne die Verbesserung des Umweltschutzes durch das Abwasserabgabengesetz. Die Belastung unserer Gewässer hat von 1957 bis 1969 fast um die Hälfte zugenommen. Das herkömmliche Instrumentarium reicht zur Reinhaltung, zur Sicherstellung der Trinkwasserversorgung nicht mehr aus. Deswegen wird hier das Verursacherprinzip eingeführt. Das heißt: derjenige, der die Schäden verursacht, muß auch die Kosten für deren Beseitigung tragen. Ich nenne das Wohnungsmodernisierungsgesetz. Nach fast 30 Jahren einer im ganzen recht erfolgreichen Wohnungspolitik gibt es heute in der Bundesrepublik so viele Wohnungen wie Haushalte. Über die Hälfte dieses Wohnungsbestandes ist nach 1948 gebaut worden, allein 6 Millionen Wohnungen im sozialen Wohnungsbau. Jetzt geht es verstärkt um die Erhaltung und um die Verbesserung, d. h. auch um die Wertsicherung der Wohnungssubstanz. ({38}) Dabei haben die seit 1974 gemeinsam durchgeführten Modernisierungsprogramme und zusätzlich die Konjunkturprogramme 1974 und 1975 den Durchbruch gebracht. 1975 ist allein für die Förderung der Wohnungsmodernisierung fast 1 Milliarde Mark zur Verfügung gestellt worden. 1965, zehn Jahre vorher, waren es ganze 10 Millionen DM. Neben der Förderung des Neubaues von Wohnungen und der Stadtsanierung ist damit die Modernisierung zur dritten Säule der Wohnungspolitik geworden. Ich nehme Ihren Zwischenruf wegen der Mieten auf. Wir haben durch die wirtschaftliche Gesundung dafür Sorge tragen können, daß der langfristige Zins in Deutschland überall gesunken ist. Ebenso ist dann aber auch zu verlangen, daß die Zinsen für Sparkassenhypotheken sinken und daß diese Zinssenkung an die Mieter weitergegeben wird, deren Miete man damals erhöht hat, als der Zins gestiegen war. ({39}) Zu den Aufgaben, die in den nächsten Wochen noch vor uns liegen, gehört auch die Körperschaftsteuerreform, die gegenwärtig noch im Finanzausschuß beraten wird. ({40}) Sie ist international und auch sozial nicht leicht zu bewältigen. - Herr Abgeordneter Stücklen! Die Bundesregierung, die an ihrem Kompromißentwurf, der all diese verschiedenartigen Interessen miteinander in Einklang bringt, festhält, geht gleichwohl davon aus, daß die Körperschaftsteuerreform am 1. Januar 1977 in Kraft treten kann. Sie wird übrigens im ersten Jahr zunächst zu erheblichen Mehreinnahmen für die staatlichen Kassen führen. Sie soll auf die Dauer den Anteilseignern die Stärkung der Eigenkapitalbasis der Unternehmungen ermöglichen. Zusammen mit dem Haushalt 1976 wird der Bundestag über die vorgeschlagene Verbesserung der Staatseinnahmen entscheiden. Wegen der strikten Begrenzung der Ausgaben wird der Bundeshaushalt in diesem Jahr nur um 5 % höher sein als im Vorjahr. Damit sind wir allerdings bis an die Grenzen dessen heruntergegangen, was konjunkturpolitisch zu verantworten ist. Die Nettokreditaufnahme wird dabei um einige Milliarden Mark niedriger sein, als wir damals bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs noch erwartet haben. Obwohl erst drei Monate dieses Jahres vergangen sind, hat der Bundesminister der Finanzen bereits mehr als die Hälfte der für 1976 notwendigen Kredite aufnehmen könen, und das bei sinkenden Zinsen. Wir können aber nach wie vor nicht darauf verzichten, die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte anzuheben. Wir brauchen sie, um die Staatsverschuldung in den nächsten Jahren abzubauen und um Bund und Länder und Gemeinden mit den Mitteln auszustatten, die sie für ihre zukünftigen Aufgaben brauchen. ({41}) Auch nach dieser Mehrwertsteuererhöhung wird übrigens die Mehrzahl der europäischen Länder immer noch einen höheren, zum Teil weit höheren Mehrwertsteuersatz haben als die Bundesrepublik. Wir gehen hier also einen Schritt, der aus Gründen der Harmonisierung der Steuern in Europa ohnehin von uns erwartet wird. ({42}) Die Bundesregierung weiß, daß die Mehrwertsteuer nicht populär ist. Aber im Gegensatz, Herr Kollege Stücklen, zu Ihnen - ich nehme Ihren Zwischenruf auf - sagen wir den Wählerinnen und den Wählern vor der Wahl, was nötig ist, und verstecken uns nicht vor unserer Verantwortung. ({43}) Der Vorsitzende der CSU hat gestern seine Ablehnung erneut öffentlich vorgetragen. Zugleich hat er in derselben Rede erneut davon gesprochen, daß die Grenzen des Sozialstaates erreicht seien. ({44}) Zugleich hat er den Fiskus, die Kirchen und die Sozialversicherung angegriffen. ({45}) Wir glauben nicht, Herr Abgeordneter Strauß, daß Sie die Einnahmen der Kirchen wirksam beschneiden wollen. Aber daß Sie in die Sozialversicherung hineinschneiden wollen, das allerdings muß jedermann für möglich halten. ({46}) Es ist unredlich, auf der einen Seite die Staatsfinanzen schwarzzumalen, ({47}) nachdem doch die Steuerquote tatsächlich abgesenkt worden ist, und auf der anderen Seite - ({48}) - Wissen Sie, die Geräusche in der Mitte des Hauses wie auf den Flügeln kommen mir zunehmend bayerisch vor. ({49}) Der Redner von gestern, der Abgeordnete Strauß, sollte sich bei all seiner Schwarzmalerei doch einmal daran erinnern, daß die gesamte öffentliche Verschuldung unseres Landes - ich rede hier nicht nur vom Bund und vom Lastenausgleich und von allem, was dazugehört, ich rede auch von den Ländern und Gemeinden - in allen Jahren der sozialliberalen Koalition mit einer einzigen Ausnahme nie jenen hohen Anteil am Bruttosozialprodukt erreicht hat, wie das in allen drei Jahren der Fall war, als Herr Abgeordneter Strauß als Bundesfinanzminister die Verantwortung trug. ({50}) Diese eine Ausnahme war das Weltrezessionsjahr 1975. Im übrigen ist in all den sieben Jahren sozialliberaler Koalition der Anteil des Bundes an der öffentlichen Gesamtverschuldung niemals so hoch gewesen wie in allen den drei Haushaltsjahren, in denen der Abgeordnete Strauß für die Verschuldung des Bundes die Verantwortung trug. ({51}) Ich sage das nicht, um der damaligen Finanzpolitik Vorwürfe zu machen. ({52}) Wir haben die damalige Finanzpolitik mitgetragen, sie war damals richtig. Was damals richtig war - und was heute besser ist -, das kann doch heute nicht schlecht und falsch sein. ({53}) Wer von Ihnen sich auf die steigende Kraft beruft, die seine Partei im Bundesrat besitzt, ({54}) der muß sich auch bereit finden, steigende Verantwortung zu übernehmen, statt solche Reden zu halten. ({55}) Es besteht ohnehin zwischen der Wirklichkeit unseres Landes und dem, was innerhalb unserer Grenzen manche Propaganda daraus macht, ein erstaunlicher Unterschied. ({56}) Ihre Propaganda verzeichnet unser Land zu einem Notstandsgebiet. Die ganze Welt draußen fragt sich dagegen, wie es eigentlich möglich war, daß wir diesen Aufstieg zustande gebracht haben. ({57}) Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, der Wohlstand und das soziale Netz, das wir gegenwärtig in Deutschland erreicht haben, waren vorher in der deutschen Geschichte nicht erreicht, und die Bürger wissen, daß wir im internationalen Vergleich dabei sehr gut abschneiden. Im Ausland wird Ihnen das doch allenthalben bestätigt. ({58}) Ich will, Herr Professor Carstens, in aller Deutlichkeit ein Wort an die Adresse derjenigen hinzufügen, die so tun, als gehe soziale Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Dies ist eine falsche Alternative, ({59}) eine Alternative, die von uns, den Freien Demokraten und Sozialdemokraten in gleicher Weise, entschieden zurückgewiesen wird. ({60}) Die Bürger unseres Landes sehen, daß ihnen die flexible Altersgrenze mehr soziale Sicherheit bringt, aber doch zugleich auch mehr persönliche Freiheit, selber zu entscheiden, wann sie in die Rente gehen wollen. ({61}) Die von uns herbeigeführte Dynamisierung der Kriegsopferversorgung bringt mehr soziale Sicherheit - Herr Strauß würde sagen: mehr soziale Lasten oder „Gratifikationen" -, ({62}) aber sie befreite die Kriegerwitwen von der Notwendigkeit, alle paar Jahre vor den Toren des Deutschen Bundestages zu demonstrieren. ({63}) Die Erhöhung des Arbeitslosengeldes bringt mehr soziale Sicherheit und mehr soziale Lasten - „Gratifikationen" würde er sagen -, aber sie befreite auch von Angst. ({64}) Daß wir dafür gesorgt haben, daß Betriebsrenten nicht mehr verfallen, gibt die Freiheit, den Arbeitsplatz ohne materielle Einbuße wechseln zu können. ({65}) Betriebsverfassung, Mitbestimmung und Personalvertretung geben den Arbeitnehmern in den Betrieben mehr Sicherheit, mehr Schutz vor Willkür, aber sie geben auch die Freiheit zu verantwortlicher Mitwirkung. ({66}) Die verbesserte Rehabilitation, das neue Schwerbehindertengesetz geben dem Kranken, dem Behinderten mehr sozialen Schutz, zugleich aber auch die Freiheit zur aktiven Mitwirkung in unserer Gesellschaft. ({67}) Die Öffnung der Rentenversicherung für die Hausfrauen, das neue Kindergeld und viele andere Verbesserungen erhöhen die soziale Sicherheit der Frauen; zugleich aber vergrößern sie den Raum für die reale Freiheit und die reale Emanzipation der Frauen. ({68}) Diejenigen, die sich öffentlich über das Netz der sozialen Sicherheit in- Deutschland lustig machen, sollten einmal die deutschen Landwirte fragen, was far sie die soziale Sicherheit bedeutet, die wir im Laufe der letzten sieben Jahre für sie geschaffen haben. ({69}) Was seit 1969 in der Agrarsozialpolitik gemeinsam mit den Wirkungen der Markt-, Preis- und Strukturpolitik zugunsten der in der Landwirtschaft Tätigen geschehen ist, war bisher ohne jedes Beispiel. Wenn im Jahre 1969 im Agrarhaushalt des Bundes 800 Millionen DM zur Verfügung gestanden haben, so sind es heute, sieben Jahre später, dreieinhalbmal soviel. Alle diese Beispiel zeigen, daß soziale Sicherheit und Freiheit sich nicht widersprechen. ({70}) Soziale Sicherheit geht nicht auf Kosten der Freiheit. Im Gegenteil, soziale Sicherheit schafft Freiheit für die Menschen. ({71}) Sie macht der überwiegenden Mehrheit unserer Bürger, ({72}) die über Generationen hinweg unter großen Opfern um den sozialen Fortschritt hat ringen müssen, eigentlich erst erfahrbar, was Freiheit bedeuten kann. ({73}) - Ich gehe gern in Belegschaftsversammlungen, weil ich dort das unmittelbare Interesse und die Zustimmung der Arbeiter und der Angestellten in der deutschen Industrie spüre. ({74}) Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen haben, daß ein deutscher Bundeskanzler in die Fabriken geht und sich dort zur Diskussion stellt. ({75}) Sie sollten auch in die Fabriken gehen. Voraussetzung allerdings ist, daß Sie sowohl vom Vorstand als auch vom Betriebsrat eine Bleichlautende Einladung bekommen. ({76}) Lassen Sie mich das Thema „Freiheit und soziale Sicherung" abschließen mit dieser Feststellung: ({77}) Sozialliberale Politik hat auf deutschem Boden so viel Freiheit und so viel soziale Sicherheit verwirklicht, wie es vorher niemals der Fall war. ({78}) Wer solche sozialpolitischen Leistungen als „Gratifikationen" herabwürdigt und herabsetzt, während er gleichzeitig selber eine angeblich neue soziale Frage erfindet, der denkt in Wahrheit nicht an die Freiheit der vielen, sondern an die Freiheit der wenigen. ({79}) Unsere soziale Sicherung und unsere Stellung an der Spitze mußten erarbeitet werden. Sie müssen auch in Zukunft immer wieder erarbeitet werden. Es bedurfte der gemeinsamen Entschlossenheit der Koalitionspartner, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise für unser Land abzuwenden und zu meistern, soweit das ging. Es bedurfte gemeinsamer Beharrlichkeit der Bundestagsmehrheit - beider Fraktionen und beider Fraktionsvorsitzenden Wehner und Mischnick -, ({80}) um unser soziales Netz so dicht zu knüpfen, wie es seit 1969 geschehen ist. ({81}) Es bedurfte gemeinsamer Zielstrebigkeit, um die gesellschaftliche Reform auch gegen Widerstände voranzubringen. Es bedurfte großer konzeptioneller Fähigkeit und großer Kraft zur Verwirklichung, um mit unserer Politik der Friedenssicherung die Isolierung unseres Landes zu beenden und uns Freunde in aller Welt zu schaffen. ({82}) Der Außenminister und der Bundeskanzler wissen, was sie ihren beiden Vorgängern Brandt und Scheel auf diesem Felde verdanken und was beide auf diesem Felde bewegt haben. ({83}) Europa und die Welt draußen, außerhalb deutscher christlich-demokratischer Begrenzungen, wissen das ebenfalls. ({84}) Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode Der Kern und die Grundlage des Erfolges unseres Landes ist die gemeinsame Arbeit für mehr soziale Gerechtigkeit und für mehr Freiheit. Dieser Weg war möglich, weil sich die politische Kraft der Sozialdemokratie mit der politischen Kraft des Liberalismus zusammengetan hat. ({85}) Abgesehen von den allerersten Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland hat diese Koalition in den sieben Jahren seit 1969 allerdings mehr erreicht als jede andere davor. ({86}) Sie hat unsere Gesellschaft in einer Weise sozial befriedet, wie es anderwärts in Europa seinesgleichen sucht, und es wird bei uns in Zukunft noch sehr viele Anstrengungen kosten, dieses Maß an sozialem Frieden aufrechtzuerhalten. ({87}) Die Vorstellung, gemeinsame Erfolge machten die Fortsetzung dieser Arbeit überflüssig, entspricht nicht der Wirklichkeit; ihr liegt Interessenideologie zugrunde. Wichtig ist, daß Erfolge für die weitere Arbeit verbinden. Die Aufgaben in der Zukunft sind nicht geringer, und sie sind auch nicht weniger leicht. Die Wiedererlangung der Vollbeschäftigung bleibt Aufgabe Nummer eins. ({88}) Wir brauchen viele neue Ausbildungsplätze für die jungen Menschen, damit der soziale Friede zwischen den Generationen erhalten bleiben kann. ({89}) Noch mehr als bisher müssen wir uns dann um die Modernisierung der Wirtschaft kümmern und dazu insbesondere unsere erfolgreiche Forschungs- und Technologiepolitik einsetzen, um unsere Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft zu sichern. ({90}) Wir müssen unsere weltweit führende Preisstabilität auch zukünftig erhalten. ({91}) Wir müssen das soziale Netz, das die politische Stabilität bewahrt, sichern und ausbauen. ({92}) Wir müssen dabei auch eingetretene Gefährdungen ausräumen, zum Beispiel die Kosten im Gesundheitswesen eindämmen. Es gilt, die innere Sicherheit zu verteidigen, ohne deshalb auch nur ein kleines Stückchen der Liberalität unseres Rechtsstaates aufs Spiel zu setzen. ({93}) Wir brauchen den stetigen Ausbau des Schutzes unserer natürlichen Umwelt, um die Lebensbedingungen besonders für die Menschen in den Großstädten zu verbessern. Und schließlich und am wichtigsten: wir müssen das Werk der Verständigung und der Versöhnung fortführen, wir müssen die Balance der Kräfte und damit den Frieden in der Welt zu stabilisieren helfen. ({94}) Dieser Auftrag hat die sozialen und die liberalen Kräfte in unserem Lande in die Verantwortung gestellt. Eine Regierung aber, von der ungewiß bliebe, ob sie die Organisationen der Arbeiter und der Angestellten domestizieren oder aus der Verantwortung herausdrängen will, eine Regierung, von der nicht sicher wäre, ob sie die liberalen Bürgerrechte festigen und erweitern will, eine solche Regierung würde unserem Lande nicht guttun. ({95}) Besser als andere, uns vergleichbare Länder sind wir mit den Folgen der dramatischen Veränderungen der Weltwirtschaft fertig geworden. Wir dürfen die Voraussetzungen dafür, daß dies gelang und daß es weiterhin gelingen wird, nicht beschädigen. ({96}) Wer aus diesem Grunde den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft erhalten und festigen will, wer will, daß sich die Bürgerinnen und Bürger nicht abwenden, sondern sich mit unserem Staat identifizieren und sich zu ihm bekennen, wer vermeiden will, sich eines Tages zu einem sogenannten „historischen Kompromiß" gezwungen zu sehen ({97}) -- und das sind ja wohl in erster Linie Ihre Freunde, die vor dieser Frage stehen, und nicht unsere -, ({98}) wer dies alles nicht will, der allerdings muß den Weg der stetigen Reform von Gesellschaft und Staat fortsetzen. ({99})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Strauß. ({0})

Dr. h. c. Franz Josef Strauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002270, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ursprünglich waren wir der Meinung, daß wir heute vom Herrn Bundeskanzler etwas erfahren würden, wie es zur Zeit in Europa aussieht, wie es mit Europa weitergehen soll und welche Vorschläge die Bundesregierung dem deutschen Parlament und auf europäischer Ebene machen wird, damit die Stagnation - oder richtiger gesagt: der schwerwiegende Rückschlag in der europäischen Entwicklung - wieder überwunden werden kann. Statt dessen haben wir, wenn ich es humorvoll betrachte, die letzte Wahlrede von Baden-Württemberg gehört. ({0}) Ich frage mich nur, wo der Staat und die Gesellschaft sind, auf die die Merkmale zutreffen, von denen der Bundeskanzler in seiner bemerkenswert langen Rede gesprochen hat. ({1}) Wir waren nicht überrascht, diese Mischung von staatsmännischem Gehabe, von eigener Uniformiertheit, von Fehlinformation gegenüber der Öffentlichkeit und von mehr oder minder plump vorgetragenen Diffamierungsversuchen gegenüber dem politischen Gegner hier zu erleben. ({2}) Nur, Herr Bundeskanzler: Die Bürger, die Ihnen das abnehmen, gibt es in einer immer noch mündigen, offenen und freien Gesellschaft nicht mehr. ({3}) Es ist selbstverständlich die Aufgabe des ersten Sprechers der Opposition, zu den Vorgängen Stellung zu nehmen, die mit dem Tagesordnungspunkt umrissen wurden. Sie zwingen uns durch Ihre vorgezogene Regierungserklärung - Sie befürchten offensichtlich, sie nach dem 3. Oktober nicht mehr abgeben zu können ({4}) wenigstens mit einigen Worten auf das einzugehen, was Sie hier in der bei Ihnen üblichen Weise gesagt haben. ({5}) Zunächst einmal zu der Aufzählung der großen Ruhmestaten, der großen heroischen Erfolge dieser Regierung. ({6}) Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wenn es so ist, wie es uns die SPD im Jahre 1965/66 hier vorgespielt hat, daß die Regierung an allem schuld ist, dann hat sie auch das Recht, den Erfolg für sich zu beanspruchen. Wir waren damals bescheidenerer Meinung, wir waren der Meinung, daß ein fleißiges, tüchtiges, leistungsfähiges, in seinem Lebenswillen nicht gebrochenes Volk dank einer vernünftigen politischen Führung das zustande gebracht hat, was man in übertriebener Weise in der Welt als „deutsches Wunder" bezeichnet hat, nämlich die Tatsache, daß aus dem größten Trümmerhaufen der Weltgeschichte die stärkste Wirtschaftsmacht Europas, die stärkste Sozialorganisation aller Industriestaaten und die zweitgrößte Außenhandelsnation der gesamten Welt wurde. Wir haben das nie für uns beansprucht, sondern wir haben gesagt: Das beruht auf dem Zusammenwirken des ganzen Volkes in Verbindung mit einer vernünftigen Politik. Heute erleben wir ein merkwürdiges Paradoxon, nämlich daß alles, was in diesem Lande an wirtschaftlichen Fehlerscheinungen, an sozialen oder sozioökonomischen Verwerfungen - um in der Sprache des Herrn Bundeskanzlers zu sprechen - auftritt, die Schuld entweder der Opposition oder der Unternehmer oder der Presse oder des Auslandes ist; aber es ist auf keinen Fall die Schuld der Regierung. Es gibt einen einzigen Faktor, eine einzige Verfassungsinstitution, die an allem unschuldig ist, das ist die Bundesregierung. Sie kann für nichts. ({7}) Sie kann nichts für die Entwertung der Sparguthaben, sie kann nichts für 1,3 Millionen Arbeitslose und für 500 000 Kurzarbeiter. ({8}) Der Bundeskanzler sprach vom beträchtlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit: um 140 000. Waren Sie es denn nicht, der noch vor kurzem gesagt hat: Schon 500 000 Arbeitslose bedeuten eine soziale Katastrophe, eine grobe Verwerfung und Verformung unserer gesellschaftlichen Struktur. Und jetzt sind 1,15 Millionen Arbeitslose eine große Leistung der Regierung! ({9}) Herr Bundeskanzler, was in diesem Lande gesund ist, das ist trotz aller Propagandaversuche und aller Manipulationskünste der Sinn unserer Bürger, die sich einen Instinkt für Echtheit bzw. einen Instinkt für kosmetische Fälschungen bewahrt haben. ({10}) Wer echte oder vermeintliche Erfolge für sich in Anspruch nimmt, muß auch die Verantwortung für das übernehmen, was sich in diesem Lande seit dem Jahre 1969 wirtschaftlich und finanziell geändert hat. Dieses Spiel mit gezinkten Karten, diese doppelte Buchführung, diese Unehrlichkeit in der Zumessung von Verdiensten und von Schuld sind unerträglich. ({11}) Wir sind auch nicht gewillt, das hinzunehmen. ({12}) Der Bundeskanzler sprach davon - und er hat die „Stuttgarter Zeitung" zitiert -, daß es in unserem Lande sozialen Frieden gebe, weil das System des Kapitalismus durch die Betonung des Faktors Arbeit sinnvoll ergänzt worden sei. ({13}) Nein, das will ich nicht bestreiten, sondern sagen, daß das die soziale Marktwirtschaft war, die Sie ursprünglich verhindern wollten. ({14}) Ich gehörte seit dem Jahr 1948 dem Wirtschaftsrat in Frankfurt an, ich gehöre seit dem September 1949 diesem Hohen Hause an. Sie wollen doch nicht im Ernst bestreiten, daß wir uns in tage- und oft nächtelangen Redeschlachten über das wirtschaftliche Ordnungssystem unterhalten haben. Haben nicht Sie versucht - oder Ihre Vorgänger -, das zu verhindern, und haben nicht wir es damals mit unseren Koalitionspartnern durchgesetzt? Ich habe immer - ich sage das auch hier - die Auffassung vertreten, daß der Kapitalismus der Vergangenheit angehört und der Sozialismus keine Zukunft hat. ({15}) Ich vertrete leidenschaftlich die Auffassung, daß der Weg der sozialen Marktwirtschaft der dritte Weg ist, ({16}) der das eine überwunden und das andere verhindert hat. ({17}) Man soll doch nicht so tun ({18}) - ach, Herr Wehner, Sie haben am allerwenigsten eine Legitimation, darüber zu reden -, ({19}) als ob soziale Marktwirtschaft Unternehmerwirtschaft sei. Soziale Marktwirtschaft ist ein wirtschaftliches Ordnungssystem, dessen Nutznießer alle Bevölkerungsschichten sind, vornehmlich die Arbeitnehmer. Nirgendwo in der Welt und niemals in der Geschichte haben sozialistische Wirtschaftsformen dem Arbeitnehmer das gleiche Maß an Freiheit, an Recht und an Wohlstand gebracht wie die soziale Marktwirtschaft. ({20}) Daß Sie sich zur sozialen Marktwirtschaft, wenn auch mit einigen Verdauungsbeschwerden und mit zahlreichen Einschränkungen, bekannt haben, ist doch die Folge des Zwanges, den der Erfolg dieses wirtschaftlichen Ordnungssystems auf Sie ausgeübt hat, und nicht das Ergebnis Ihrer eigenen Einsicht. ({21}) Der Bundeskanzler spricht auch davon - und ich wende mich gegen diese Art der Geschichtsfälschung -, durch seine Regierung sei die Mitbestimmung in den Großbetrieben eingeführt worden. Die Mitbestimmung ist von der ersten Regierung der Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden, ({22}) und zwar sowohl die Betriebsverfassung wie die Mitbestimmung. ({23}) - Auch wenn Sie glauben, mich durch Ihre Zwischenrufe irremachen zu können, werden Sie mich nicht daran hindern, das zu sagen, was ich in diesem Zusammenhang sagen will. ({24}) Warum haben Sie denn Ihren ersten Entwurf fallengelassen, ({25}) der von SPD und FDP sowohl im Kabinett wie in Koalitionsgesprächen einstimmig angenommen worden war? Warum haben Sie ihn denn fallengelassen? Weil Sie sich unter unserem Druck davon überzeugen lassen mußten, daß dieser Entwurf in schwerwiegendem Gegensatz zu wesentlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen stand. ({26}) Es ist einfach eine Geschichtsfälschung, zu behaupten, die Mitbestimmung sei durch die Regierung Schmidt/Genscher eingeführt worden. Die Mitbestimmung mit einem Drittel der Arbeitnehmer in den Aufsichtsgremien ist durch die Regierung Konrad Adenauer und durch ihre parlamentarische Mehrheit in der ersten Legislaturperiode eingeführt worden! ({27}) Und daß mit dieser Mitbestimmung der soziale Friede in unserem Lande gestärkt und erhalten und ausgebaut worden ist, haben wir immer betont; das haben wir gewünscht, das haben wir so gewollt. Aber wir haben auch gewollt, daß unsere Wirtschaft funktionsfähig bleibt, daß das Eigentumsrecht - auch das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln - in unserem Lande nicht nur dem Buchstaben nach, sondern auch dem Sinn nach erhalten bleibt. ({28}) Sie sollten sich - aber das können Sie nicht - mit denjenigen in Ihren Reihen auseinandersetzen, die in immer neuen Programmen - und es sind nicht nur die berühmten Jusos, es sind auch ihre mit Patina behafteten bärtigen Vorgänger, ({29}) Stichwort: München, und zwar mit zunehmendem Einfluß, siehe die Aufstellung Ihrer Landeslisten für die kommende Bundestagswahl - dafür eintreten, zunächst Investitionsplanung, Investitionslenkung, Investitionskontrolle durch die Gesellschaft einzuführen, und die dafür eintreten, das nach Ihrer Meinung einzige wirkliche große Übel der Gesellschaft, das Privateigentum an Produktionsmitteln, abzuschaffen. Das ist der entscheidende Kern der Auseinandersetzung, und Sie sollten darüber reden, wie Sie mit dem Problem in Ihren Reihen fertig werden, statt falsche Erfolge aufzuweisen, ({30}) statt hier Erfolge aufzuweisen, die nicht von Ihnen erarbeitet sind, und statt Vorwürfe zu erheben, die Sie an die eigene Adresse richten müßten, aber nicht an die Adresse der Opposition. ({31}) - Ja, das ist wahrlich Ihre Sache; davon bin ich fest überzeugt. Stimmt ganz genau! ({32}) Der Bundeskanzler hat ferner - an die Adresse der Arbeitgeber, an die Adresse der Unternehmer - von der Notwendigkeit der Preisdisziplin gesprochen. Nun, es gibt ein in den letzten Jahren mancherlei Schwankungen unterworfenes industrielles Großunternehmen,. das nicht nur volle Mitbestimmung hat, sondern durch Beamte und Funktionäre übermitbestimmt ist; das ist das Volkswagenwerk. ({33}) - Leisler Kiep hat doch bis jetzt nur wenige Tage an dem ganzen Konto mitgewirkt. Ich weiß, daß der Begriff „Niedersachsen" für Sie einen Alptraum bedeutet. ({34}) Aber hier gilt die Regel, daß man im Hause des Gehenkten nicht vom Strick reden soll. ({35}) Als vor wenigen Tagen das Volkswagenwerk die Preise für VW, Audi und NSU nicht unbeträchtlich erhöhte, sprach Ihr Parteifreund, der Vorsitzende der IG Metall, Loderer, seine tiefe Sorge hinsichtlich dieser Preiserhöhungen aus und zwar im Interesse der Arbeitnehmer. Ich habe mich nur gefragt: Ist das derselbe Vorsitzende, derselbe Loderer, der als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Volkswagenwerks diese Preiserhöhungen selbst mitbeschlossen hat? ({36}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie davon sprechen, das soziale Netz sei ausgeweitet und verdichtet statt eingeschränkt worden, ({37}) dann ist das wieder genau dieselbe Methode der unterschwelligen Diffamierung, wie Sie sie früher uns gegenüber in bezug auf die Arbeitslosigkeit angewandt haben. ({38}) Ich, gehöre zu denjenigen in diesem Hause, die gemeinsam mit anderen aus den Reihen der Opposition in vielen Reden davor gewarnt haben, daß durch Verletzung der Gebote der Stabilität, durch Unterlassung notwendiger Maßnahmen zur gegebenen Zeit Arbeitslosigkeit eintritt. Sie, Herr Bundeskanzler, waren es, der das volkswirtschaftlich unendlich dumme Wort gesagt hat: lieber 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit. Sie waren der erste Kanzler, der beides erreicht und übertroffen hat. ({39}) Wir haben damals vor Übertreibungen gewarnt. Ich habe im Herbst 1969 davor gewarnt, ({40}) die Kaufkraft unnötig zu erhöhen. Ich habe davor gewarnt, den Staatsverbrauch so unsinnig auszudehnen bis zu Zuwachsraten von jährlich 15 % bei starker inflationärer Erhitzung des Klimas. Damals tönte uns mit derselben demagogischen Hemmungslosigkeit entgegen: Sie wollen ja nicht Stabilität, Sie wollen Arbeitslosigkeit. Hätte man damals unsere Ratschläge beachtet, wäre es heute nicht notwendig, 9 bis 10 Milliarden DM Unterstützung zu zahlen und auf 6 Milliarden DM Steuern und Gebühren zu verzichten und damit eine gespenstische Verschwendung von Produktionsfaktoren in unserem Lande herbeizuführen. ({41}) Mit derselben hemmungslosen Demagogie behauptet man heute, daß wir die Absicht hätten, eine soziale Demontage herbeizuführen. Die soziale Demontage ist durch Sie längst eingeleitet worden. ({42}) Natürlich weiß ich, daß Arbeitslosigkeit heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie am Ende der Weimarer Republik, wo der Verlust des Arbeitsplatzes ein sofortiger tiefer Einschnitt in die persönlichen Lebensverhältnisse war. Das ist heute gottlob nicht mehr der Fall. Warum? - Weil in 20 fleißigen Jahren ein Fundament gelegt worden ist, das auch die durch Ihre Fehler und Versäumnisse bis jetzt hervorgerufenen Erschütterungen noch überstanden hat. ({43}) Waren es denn nicht Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Wehner, die vor zehn Jahren gesagt haben, die Schuldigen an den relativ harmlosen wirtschaftlichen Schwankungen von damals gehörten ins Gefängnis? Waren es nicht Sie, der diesen Stil angewandt hat? Wir sagen nicht das, was Sie gesagt haben; wir sagen nur: Sie gehören weg, damit es bei uns wieder aufwärtsgeht. ({44}) Natürlich konnte dieses Netz sozialer Sicherung ausgebaut werden. Es ist aufgebaut worden in den 20 Jahren, in denen nach kurzer Übergangsfrist - Flüchtlinge, Vertriebene, Zerstörung der Produktionsstätten, Abschneiden von den Weltmärkten - wieder Vollbeschäftigung erreicht war. Dieses Netz sozialer Sicherung konnte aufgebaut werden, weil wir über 20 Jahre hinweg jährlich, wenn auch mit gewissen Schwankungen, immer einen hohen Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts hatten. Dieses Netz sozialer Sicherung konnte aufgebaut werden, weil die Politik der gesicherten Vollbeschäftigung mit ihren Überschüssen die Gewähr dafür bot, den wenigen Arbeitslosen, die es naturgemäß immer gibt und die unvermeidlich sind - VollbeschäftiStrauß gung bedeutete früher 4 %, später 3, dann 2, dann 1 % der in der gewerblichen Wirtschaft Tätigen -, einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Bei den hohen Überschüssen, den hohen Zuwachsraten, den jährlich stark steigenden Steuereinnahmen und Einnahmen aus den Sozialversicherungen konnte man es sich leisten, den Arbeitslosen ein Einkommen zu bieten, das auch ihnen - das haben wir ja gewollt und herbeigeführt - ein menschenwürdiges, sogar - das darf ich wohl sagen - ein kulturwürdiges Dasein, ein zivilisationsgemäßes Dasein in unserer heutigen Umwelt ermöglicht hat. Aber sind denn die Fundamente des sozialen Sicherungssystems nicht durch Sie und die Politik Ihrens Vorgängers erschüttert worden und heute gefährdet? Und sie werden nicht aufrechterhalten bleiben, wenn Sie nicht auf diesem Wege einhalten und umkehren. ({45}) Es sind doch nicht wir, es ist doch der Verband der Rentenversicherungsträger, der in einer Denkschrift vor wenigen Tagen erklärt hat, ({46}) daß schon ab 1. Januar 1976 die angeblich höchste Beitragshöhe von 18 % nicht mehr ausreicht, daß man 19,6 % haben müßte, um die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserven zu behalten. Wer hat denn diesem Lande in falschen Sozialbudgets eine falsche wirtschaftliche und soziale Zukunftsentwicklung vorgetäuscht? Das sind doch diejenigen, die immer von falschen Zukunftsannahmen ausgingen und darauf das Gebäude ihrer Phantasien aufgebaut haben. ({47}) Wer hat denn dafür gesorgt, daß heute ein Beitragssatz von 11 % bei weitem nicht mehr ausreicht, um den finanziellen Verfall unserer öffentlichen Krankenkassen aufzuhalten? Wer hat denn den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung wieder auf 3 % erhöhen müssen? Ist das IFO-Institut vielleicht eine Organisation der Opposition, das vor wenigen Tagen festgestellt hat, daß in diesem Jahr von jeder zusätzlich verdienten Mark, die bei Tarifabschlüssen erzielt wird, nur mehr 41 Pfennig im Durchschnitt in die Taschen der Arbeitnehmer kommen und 59 Pfennig vom Staat mit Steuern, Gebühren, Beiträgen und Abgaben vorweg abgezweigt werden? (Zuruf des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU] Haben wir, die Opposition, oder hat die Regierung es zu verantworten, daß in diesem Jahr das, was bei Lohnerhöhungen unter dem Strich übrigbleibt, nicht mehr ausreicht, um auch nur 6 % Kaufkraftentwertung zu decken? Darüber sollten Sie reden, Herr Bundeskanzler, statt sich mit fremden Federn zu schmücken. ({48}) Sie müssen ja wirklich von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, als Sie heute die Schuldenaufnahme der Regierungen der CDU/CSU als ein abschreckendes Beispiel gegenüber Ihrer vorbildlichen, spartanischen, an Cato senior erinnernden Sparsamkeit hervorgehoben haben. ({49}) Ist Ihnen denn nicht bekannt, Herr Bundeskanzler, daß in 20 Jahren - das reicht von dem ersten Tag der Regierung Adenauers bis zum letzten Tag der Regierung Kiesingers, das reicht vom Finanzminister Schäffer bis zu meinem letzten Amtstag im Herbst 1969 - insgesamt 14,5 Milliarden DM Nettokredit aufgenommen worden sind? Insgesamt! Dabei nehme ich an, daß wir uns wenigstens in der Terminologie einig sind, daß Nettokredit heißt: Schuldenaufnahme minus Tilgung im gleichen Zeitraum. Nachdem Sie hinsichtlich Ihres Vorgängers der Meinung waren und sind, daß er nicht wisse, wieviel Nullen hinter der 1 stehen, damit eine Milliarde herauskommt, ({50}) wollte ich wenigstens diese begriffliche Klarheit hier schaffen. In 20 Jahren der CDU/CSU-Regierungen sind wir oft von Ihnen bedrängt worden. Ich habe die Debatten noch sehr gut in Erinnerung, als Sie sagten, höhere Verschuldung täte gut; warum sollte die jetzige Generation alles zahlen? Verschulden wir doch lieber die kommende Generation! - Das waren doch jahrzehntelange Auseinandersetzungen. Wir waren der Meinung, wir sollten uns ein hohes Verschuldungspotential erhalten, damit wir von diesem Spielraum - den wir nie ausgenutzt haben, der nur einmal, im Jahre 1967, geringfügig in Anspruch genommen wurde - in der Stunde der Rückschläge, weltwirtschaftlicher Fehleinwirkungen, im Interesse der Vollbeschäftigung und der Erhaltung des Wachstums Gebrauch machen können. Ich weiß, daß hier oft falsche Zahlen genannt werden, daß man ein paar Milliarden mehr daraufpackt. Auch das wäre noch gleichgültig; nur darf ich vorsichthalber sagen: hier handelt es sich um die sogenannten Umstellungsschulden aus der Währungsreform, die nicht von den Regierungen ab September 1969 zu verantworten sind. Wenn man diese Umstellungsschulden abzieht, dann bleiben 14,5 Milliarden DM für 20 Jahre. Jetzt sagen Sie, daß eine Schuldenaufnahme von 36 Milliarden DM gegenüber den ursprünglich geplanten 39 Milliarden DM eine Einsparung von 3 Milliarden DM bedeute. ({51}) Das ist eine völlig neue Rechnung. ({52}) Ihnen geht es so, wie man von einer europäischen Macht im zweiten Weltkrieg erzählt, der der Bundesgenosse sagte, sie solle ihre Divisionen suchen. So müßte man Herrn Apel sagen, er solle seine Milliarden suchen. Wir hören einmal, 39 Milliarden DM Schuldenaufnahme sei unvermeidlich. Zum anderen heißt es wieder: Große Erfolgsmeldung aus dem Hauptquartier, wir kommen mit 36 Milliarden DM aus. In Ihrem Manuskript heute heißt es, 17 Milliarden DM seien in diesem Jahr schon aufgenommen worden. Aber hier haben Sie es nicht wiederholt, entweder weil Sie sich der Zahl nicht sicher waren oder weil Sie von der Negativwirkung der 17 Milliarden DM überzeugt waren. Das würde nämlich heißen, daß Sie in den ersten drei Monaten dieses Jahres schon mehr Schulden aufgenommen haben als wir in 20 Jahren zusammen. ({53}) Dann ist es einfach eine Irreführung der Öffentlichkeit - und da Sie den Text genau kennen, Herr Bundeskanzler, muß ich hier sagen, es ist eine Lüge -, wenn Sie sagen, ich hätte Fiskus, Kirchen und Sozialversicherungen angegriffen. Ich habe in einer Rede, deren Text gestern in vollem Wortlaut, so wie die Rede gehalten worden ist, veröffentlicht wurde, Fiskus und Kirchen angesprochen. Das heißt, ich habe von der Kirchensteuer gesprochen. Man muß sie ja erwähnen, wenn sie acht oder zehn Prozent der Einkommensteuer ausmacht. Das sage ich auch als Mitglied einer Kirche und als Bekenner einer christlichen Konfession. Ich greife auch den Fiskus nicht an. Wenn der Fiskus sorgsam verwalten würde, wenn er mit dem Geld der Steuerzahler nicht in so liederlicher Weise umginge, wie es seit dem Jahre 1969 geschehen ist, wenn der Bettelmann aufs Roß kommt und wenn mit dem Geld fremder Leute in schlampiger Weise umgegangen worden ist - ({54}) - Herr Wehner, bei Ihnen regt mich nichts auf. ({55})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Strauß, ich wollte Sie erst zu Ende reden lassen. Das Wort „Lüge" habe ich hier zu rügen.

Dr. h. c. Franz Josef Strauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002270, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigen Sie, ich will mich - -. Ich bedanke mich sehr, Frau Präsidentin! Ich habe in dieser Rede vom Fiskus gesprochen. Das können Sie ja nachlesen. Aber bei Fiskus kann man nicht die Kirchensteuer einbeziehen. Darum habe ich, schon damit mir nicht eine Unterlassung vorgeworfen wird, gesagt, daß Fiskus, Kirche und Sozialversicherungen zusammen in diesem Jahr vom Sozialprodukt einen Anteil von etwa 47 % - andere sagen sogar 48 % - in Anspruch nehmen. Was heißt hier: angegriffen? Das Eigenartige ist: Wenn man der Regierung nur die Wahrheit sagt, wenn man ihre eigenen Berichte in der Öffentlichkeit verwendet, dann heißt das, man habe gehetzt. Ich kann Ihnen ein anderes Beispiel bringen, das hierzu paßt: Als der bayerische Finanzminister vor einigen Tagen in einer Rede in München davon sprach, daß im Jahre 1978 7,5 % der gesamten Ausgaben des Bundes allein für Zinszahlungen verwendet werden müssen, hat Ihr Finanzminister gesagt, das sei Wahlkampfgerede. Wissen Sie, daß diese Zahl aus einer amtlichen Veröffentlichung des Bundesfinanzministerium stammt? ({0}) Als der Bundesfinanzminister darauf hingewiesen wurde, daß Herr Huber aus einem Bericht des Bundesfinanzministeriums zitiert habe, mußte Herr Apel zugeben, daß er diesen Bericht nicht kenne. Aber so wird in diesem Lande mit gezinkten Karten gespielt, und das nehmen wir nicht mehr hin! ({1}) Ich habe - und ich verteidige mich nicht, weil ich es in diesem Zusammenhang nicht notwendig habe - nicht den Fiskus, der unvermeidlich und notwendig ist, angegriffen. Man mag sagen, er ist ein notwendiges Übel, aber er dient der Erfüllung der staatlichen und auch der gesellschaftlichen Aufgaben. Auch die Rolle der Kirchen haben wir immer anders beurteilt als Sie. Sie sollten sich nicht hier der Kirchen annehmen, denn hier sind sie nicht angegriffen worden, sondern sollten die kirchlichen Anliegen auf anderen Gebieten ernster nehmen, als Sie es tun. ({2}) Ich habe nicht Fiskus, Kirchen und Sozialversicherung angegriffen, sondern habe darauf hingewiesen und benutze gern die Gelegenheit, die Sie mir bieten, darauf hinzuweisen, daß auf diesem Wege der ständigen Ausdehnung der Staatsquote, daß durch Steuern, Abgaben, Gebühren und Beiträge 50 % der Mark und in diesem Jahre von jeder neu verdienten Mark schon fast 60 % in Anspruch genommen werden, nicht fortgefahren werden darf. ({3}) Das ist es, wenn wir davon reden, daß die Entscheidung auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet zwischen der freiheitlichen Gesellschaft und einer gegängelten bevormundeten, von Beamten, Apparatschiks und Funktionären von der Wiege bis zur Bahre total betreuten und entmündigten Gesellschaft fällt. ({4}) Wenn Sie sagen, die Opposition dürfe nach der Studentenkrise nicht auch noch eine Schülerkrise riskieren, so ist das auch wieder so ein Beitrag der bekannten Art. Was heißt „Schülerkrise riskieren"? Wer hat denn dieses sinnlose Gerede von der Bildungskatastrophe in die Welt gesetzt? Wer hat denn durch eine verfehlte Planung gigantische Fehlausgaben verursacht? Die Herren Friedeburg und Oertzen sitzen doch nicht in unseren Reihen. Sie sind in Ihren Reihen, und mit denen müssen Sie sich auseinandersetzen. ({5}) ({6}) Wir waren nie der törichten Meinung, daß das Glück oder der Wohlstand der Nation von der maximalen Zahl der Abiturienten abhänge. Wir sind deshalb auch der Meinung, daß man nicht den gesellschaftlichen Bedarf planen kann, weil man nämlich sonst für die Inhaber überflüssiger Diplome neue Planstellen schaffen wird, eines Tages gesellschaftliche Bedarfsplanungsräte einführen wird. ({7}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben vor kurzem in so überzeugender Weise, wie Sie es jeweils vor kompetentem Publikum tun, von der großen Zukunft des Automobils gesprochen. ({8}) Anscheinend ist die Zeit vorbei, wo aktive und ehemalige Mitglieder Ihres Kabinetts mit der Trambahn ins Büro fuhren und den Acht-Zylinder-Mercedes nachkommen ließen, um auf diese Weise das Nahverkehrsproblem besser zu lösen. ({9}) Die Zeit ist anscheinend vorbei, als ein ehemaliges Mitglied Ihres Kabinetts das Modell Peking als studienwertes Objekt für die Lösung des Massenverkehrs dargestellt hat. ({10}) Hätte man den gesellschaftlichen Bedarf an Automobilen vor zweieinhalb Jahren geplant, hätte man die Kapazität auf 50 °/o herabgesetzt. Damit hätten wir heute drei- bis vierjährige Wartefristen, einen grauen Markt, einen schwarzen Markt und noch höher gestiegene Preise. Das sind doch alles Ideen, die in Ihrem Bereich vorkommen, doch nicht bei uns. Während sich die von Ihnen verführte junge Generation auf die Schienen setzt, um den Nulltarif zu erzwingen, stellt Herr Gscheidle die Züge ein, die auf den Schienen fahren sollen. ({11}) Haben denn nicht wir, meine Damen und Herren, - ({12}) - Wenn Sie den Bundeskanzler meinen, möchte ich Ihnen ausnahmsweise zustimmen. Ich versuche mich der Argumentation anzupassen, mit der er hier versucht hat, auf dem Wege über eine Parlamentsdebatte, im Fernsehen übertragen, die Öffentlichkeit über die Pleite seiner Politik hinwegzutäuschen. ({13}) Wäre denn von uns jemals jemand auf die Idee gekommen, im Telefonverkehr einen Vierminutentakt als Kostenschwelle einzuführen? Ist das die höhere Lebensqualität? Wieviel Hunderttausende, wieviel Millionen von Menschen, ältere Menschen, kranke Menschen, einsame Menschen brauchen das Telefon, um mit der Umwelt in Verbindung zu bleiben? Das ist doch alles im Schoße dieser Regierung ausgeheckt worden. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({15}) - Ja, das dürfte so ziemlich das sein, was Ihrem geistigen Niveau entspricht, Herr Wehner. ({16}) Der Bundeskanzler hat ferner sozusagen am Rande seiner heutigen Ausführungen auch einige Worte über Europapolitik gesagt. ({17}) - Ich habe nicht zu denen gehört, die Herrn Spinola als den großen Helden, den Retter des Vaterlandes und Einführer der Demokratie verehrt haben, wie es anderswo der Fall war. ({18}) Aber wenn eine Figur der Zeitgeschichte - und das muß ja nicht immer Herr Breschnew ({19}) oder Herr Tito sein, Herr Wehner; Sie haben ja hier einschlägige Erfahrungen -, ({20}) die ihre historische Chance versäumt hat, was ich ihm gesagt habe ({21}) - ach, Sie haben ihn doch vor zwei Jahren bewundert und verehrt, ausgerechnet Sie -, ({22}) mich um eine Unterredung bittet, habe ich keinen Grund, diese Unterredung zu verweigern. ({23}) - Ich bin gerne bereit, im Rahmen einer Pressekonferenz darüber Auskunft zu geben. Bloß haben' wir hier keine Nachhilfestunde für Sie. ({24}) Aber wenn Sie schon hier etwas abseits vom Thema - angesichts der Bandbreite des Bundeskanzlers muß man sich ja auf vieles gefaßt machen; ({25}) darum habe ich mich in meinen Unterlagen auf manches eingerichtet ({26}) das Thema Portugal anschneiden: ja, ich war bei einer öffentlichen Veranstaltung, wo hundert Journalisten aus ganz Europa sowie Rundfunk und Fernsehen beisammen waren, bei dem ersten offiziellen Parteitag der CDS - das ist die Christlich-Demokratische Partei Portugals - in Portugal, und dort habe ich gemeinsam mit Vertretern der Democrazia Cristiana, christlich-demokratischen Vertretern aus Holland, einem Vertreter der Konservativen Großbritanniens und anderen - ({27}) - Vorsicht, Herr Wehner, Sie werden jetzt „rasiert" ! ({28}) Vorsicht, Herr Wehner! ({29}) Ich habe dort etwas gesagt, was ich hier gern wiederhole, nämlich daß bis jetzt die Wiederherstellung der Demokratie in Portugal nach der Änderung des Systems im April 1974 nicht durch die Militärs und nicht durch die Politiker erfolgt ist, sondern durch den Mut des Volkes, das einen marxistischen Putsch verhindert hat.. ({30})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff?

Dr. h. c. Franz Josef Strauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002270, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt bitte nicht! Sie sind nicht der richtige Partner, Graf Lambsdorff. ({0}) - Ach, Sie werden doch nicht glauben, daß ich einer Frage ausweichen will. ({1}) - Nein, ich will jetzt das sagen, was Ihnen nicht paßt; das will ich Ihnen jetzt sagen, und dabei darf ich mich an den Kollegen Brandt wenden. Sie, Herr Brandt, haben nämlich in Portugal die Sozialdemokratische Partei, die PPD, desavouiert und sind zu Ihrem Gesinnungsfreund Soares gegangen, den Sie mit Bruderkuß und Umarmung in Portugal wie in Bonn begrüßt haben. ({2}) Ist denn nicht Soares der Mann der Volksfront in Portugal? ({3}) Ich kann meine Gesprächspartner, Herrn Professor Amaral, den Vorsitzenden der CDS in Portugal, seinen Stellvertreter Costa - es gibt manche hier, die diese Politiker kennen - oder General Melo sehr wohl vorzeigen. ({4}) Ich brauche mich dieser Gesellschaft weder zu schämen noch mich für sie zu entschuldigen. Ob aber Herr Soares, der bei den letzten Regionalwahlen in Italien auf einem Marktplatz in Rom zur Wahl der Kommunisten aufgerufen hat ({5}) - ein neuer Volksfrontpartner -, das gleiche für sich beanspruchen kann, ist eine andere Frage. ({6}) Als Sie, Herr Brandt, in Portugal waren und Ihre sozialdemokratischen Freunde links liegenließen, um Ihre Verbundenheit mit dem Volksfrontpolitiker Soares zu bekunden, haben Sie - sinnigerweise war es der Hessische Rundfunk, also nicht der Bayerische Rundfunk - ein Interview gegeben. Der Interviewer sagte: Herr Brandt, überall rote Tücher und gereckte Fäuste! Das war der äußere Eindruck. Und Ihr Freund Mario Soares appellierte an seine Parteifreunde, gemeinsam einen eigenständigen Weg zum Sozialismus auf marxistischer Grundlage zu suchen. Kann diese sozialistische Partei, Herr Brandt, für die SPD-Mehrheit ein akzeptabler Gesprächspartner sein? Darauf antwortete Herr Brandt: Mario Soares ist Marxist in dem Sinne, daß er methodisch aus der Marxschen Wirtschafts .. . ({7}) ... analyse - das Papier, das wir vom Bundespresseamt kriegen, ist so schlecht wie die Politik dieses Amtes ({8}) manches für die heutige Zeit übernimmt. ({9}) Dies ist auch einer der Wege des Godesberger Programms der SPD. ({10}) So der offizielle Text, den jedermann in diesem Land immer noch haben kann. Ich habe gar nicht gewußt, daß Herr Soares ein portugiesischer Politiker ist, der nur der Meinung ist, daß man aus der Marxschen Wirtschaftsanalyse einiges für die heutige Zeit übernehmen kann. Darum war er in einem Kabinett mit Herrn Cunhal zusammen, und darum hat er - sicherlich ohne das Ende so zu wollen - der kommunistischen Machtergreifung in Portugal substantiellen Vorschub geleistet. ({11}) - Ich hätte darüber ja nicht gesprochen. Aber wenn Sie mich nach Spinola fragen, muß ich Sie nach Soares fragen. Ich habe mit dem einen nicht das gemeinsam, was Sie mit dem anderen gemeinsam haben. Das ist der Unterschied zwischen uns. ({12}) Herr Bundeskanzler, Sie haben heute am Rande Ihrer Ausführungen, wo Sie gelegentlich auf Europa zu sprechen kamen, Europa als eine der politisch stabilsten Zonen der Welt erwähnt. Ihr Außenminister hat vor kurzem in einer bemerkenswerten Kolumne - wenn nicht „Bundesaußenminister" darunter gestanden hätte, hätte ich gedacht, es gäbe einen namensgleichen Journalisten -, der ich fast durchweg zustimme, Herr Genscher, eine Warnung vor der roten und der schwarzen Volksfront ausgesprochen. Ein ganz beachtlicher Artikel! Da heißt es: Uns bedrängen schwere Probleme. Europa steht in der Krise. Die Gemeinschaft erreicht ihre selbstgesteckten politischen Ziele nicht. In unseren Nachbarländern zeichnen sich bedrohliche Entwicklungen ab. Die rote Volksfront von Sozialisten und Kommunisten in Frankreich ist auf dem Vormarsch. Die schwarze Volksfront aus Christlichen Demokraten und Kommunisten in Italien ist zur akuten Gefahr geworden. Ich scheue mich nicht, hier zu sagen, daß wir, meine Freunde und ich, alles getan haben, um das zu verhindern, ({13}) und daß nach menschlichem Ermessen die Democrazia Cristiana auf keinen Fall ein Bündnis mit den Kommunisten eingehen und sie in die Regierung aufnehmen wird. ({14}) Warum erreichen Sie nicht das gleiche bei Herrn Mitterand und bei den italienischen Sozialisten? Warum erreichen Sie das gleiche in Portugal nicht? Warum betreiben Sie auch in Spanien eine Politik à la Soares oder à la Mitterand in Frankreich? Das sind doch die Probleme. Das sind die Gefahren, vor denen Ihr eigener Außenminister warnt! ({15}) Ich habe Herrn Genscher gesagt, daß ich ihm in der Analyse recht gebe. Nur sitzen die Gefahren bei ihm dann sozusagen am Tisch. Er ist dann doch in der falschen Gemeinschaft. ({16}) Das ist doch auch ein Beitrag dazu, daß er bei uns mit offenen Karten spielen soll. Was geht in dieser Sozialdemokratie vor sich? Andere reden ja auch über die Vorgänge innerhalb der Unionsparteien. Das ist in einer offenen Gesellschaft, in der Parteien kein Geheimklub sind, auch durchaus üblich. Ist denn nicht bei Ihnen heute der Zerfall in gewissen Bereichen in zwei verschiedenen Parteien, die sich haßerfüllt - die einen als Volksfrontanhänger und die anderen als soziale Demokraten - ins Gesicht starren, zu einer politischen Gefahr in unserem Land geworden?! ({17}) Darum ist Europa nicht eine der stabilsten politischen Zonen der Welt. Man kann, Herr Bundeskanzler, Sicherheit nicht durch verbale Beschwörung schaffen. Das ist genauso entweder eine Selbsttäuschung oder eine Irreführung wie der heute von Ihnen gesprochene Satz, daß Ihre Regierung bzw. die Regierungen ab 1969 die außenpolitische Isolierung unseres Landes beendet haben. Wo waren Sie denn in jener Zeit? Wir haben in den 20 Jahren - und das waren die ersten sehr bitteren Nachkriegsjahre der Achtung, der Isolierung, der Ausgeschiedenheit und der Verstoßung wegen der Vorzeit - durch die Politik Konrad Adenauers die Aufnahme in die Gemeinschaft der demokratischen Völkerfamilie herbeigeführt. ({18}) Wir haben es dabei auch immer verstanden, deutsche Interessen mit den lebenswichtigen Belangen unserer Partner sorgsam abzustimmen. Wir haben nie Verträge geschlossen, bei denen Geben und Nehmen in einem krassen Mißverhältnis stand. ({19}) Es ist einfach eine unerträgliche Unwahrheit, zu behaupten, daß die außenpolitische Isolierung ab 1969 überwunden worden sei. ({20}) Die außenpolitische Isolierung war überwunden, als in diesem Hause seinerzeit ein engstirniger von Sozialdemokraten vertretener antiwestlicher Nationalismus von uns in jenen stürmischen Debatten um das sogenannte Petersberg-Abkommen und um die Pariser Verträge niedergerungen worden ist. Damals ist die Isolierung überwunden worden. ({21}) Wir wollen doch hier wirklich - wir jedenfalls - unseren Beitrag dazu leisten, daß die Dinge, daß der Ablauf der Ereignisse und die geschichtliche Wahrheit nicht auf den Kopf gestellt werden. So weit darf es nicht kommen, daß die nächste Generation in einem Zustande permanenter Geschichtsfälschung aufwächst, ({22}) wie das auch unter einer gewissen Gesellschaftspolitik heute immer wieder versucht wird. ({23}) Sie haben auch von den Polen-Abkommen gesprochen, Herr Bundeskanzler. Ich frage mich immer noch: Was ist da eigentlich vor sich gegangen? ({24}) Denn wir, Herr Kohl, Herr Albrecht, Herr Stücklen und ich, sind von Ihnen weggegangen, mit einer markigen Belehrung entlassen, ({25}) daß an diesem Abkommen nichts mehr zu ändern sei, daß alles, was überhaupt herauszuholen gewesen sei, von Ihnen schon im Juli 1975 in der euphorischen Nacht in Helsinki herausgeholt worden sei. In der Nacht haben wir dann davon vernommen, daß der Außenminister genau das getan hat, was Sie am Nachmittag noch strikt abgelehnt haben, nämlich einen neuen Versuch zu unterneh16368 men. Merkwürdige Verhältnisse innerhalb dieser Regierung! Aber mit einem forschen Auftreten allein, ({26}) mit einer Politik hinsichtlich der Herr Kollege Lambsdorff einmal ausländische Gesprächspartner zitiert hat, die über den Stil des Bundeskanzlers bei Europa-Verhandlungen gesagt haben: „Ein Auftreten à la Wilhelm II." - so steht es im „Kölner Stadtanzeiger" ; ich zitiere nur Sie; ich hätte den Vergleich nicht gebraucht, aber Sie in Ihrer taktvollen Art haben es getan, darum darf ich das hier durchaus wiederholen; ich kann Ihnen das Zitat zeigen -, ({27}) ist es nicht getan. Hier ist doch bewiesen worden, daß Sie uns am Nachmittag die Unwahrheit gesagt haben. ({28}) Alles, was ich wollte - bloß, damit hier keine falschen Eindrücke entstehen -, war es, klarzustellen: Der Beschluß der Führungsmannschaft der CDU/ CSU und der Ministerpräsidenten vom 17. Februar wurde und wird von mir voll getragen. Alles, was mein Petitum war - ich scheue mich nicht, das zu sagen; wir sind eine offene Partei, deren Mitglieder sich gegenseitig vertrauen, im Gegensatz zur SPD ({29}) und was ich auch heute noch für richtig halte - auch wenn meine Freunde anderer Meinung waren -, war es, so lange zu warten, bis die Texte vorliegen und man die Texte genau politisch prüfen, rechtlich interpretieren und in ihrer gegenseitigen Bezugnahme hätte werten können. Der Meinung war ich und der Meinung bin ich. Wenn wir in den Unionsparteien keine anderen Gegensätze haben, dann werden wir sehr glücklich weiterleben. ({30}) Ich war deshalb dieser Meinung, weil doch in jener Nacht dem Herrn Albrecht vom Herrn Außenminister versichert worden ist, daß das, was am Nachmittag laut endgültiger Feststellung des Kanzlers unmöglich gewesen sein sollte, durch ihn in Polen noch in letzter Stunde herausgeholt worden sei. Was soll man denn von einer Regierung halten, die nach solchen politischen Maximen handelt und die immerhin prominente Politiker der Oppositionsparteien in dieser Weise behandelt, wie es an diesem Nachmittag und an diesem Abend zutage getreten ist. ({31}) Ich weiß nicht - das weiß niemand, das werden wir ja später merken -, ob ich recht habe, und zwar in diesem Fall gemeinsam mit Herrn Bahr, ob wirkliche Verbesserungen erreicht worden sind. Wenn aber die polnische Seite das hält, was uns der Außenminister in dieser Nacht als Ergebnis seiner Bemühungen mitgeteilt hat, dann ist das ein Beweis dafür, daß dieser Vertrag dilettantisch ausgehandelt, leichtfertig unterschrieben und seine Verbesserungen dann als Rechthaberei wider deutsche Interessen abgelehnt worden ist. ({32}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie schon über Außenpolitik außerhalb Europas sprechen, dann sollten Sie sich der euphorischen Schönfärberei enthalten. Sie sprechen von einem Afrika, das einen Prozeß langdauernder Umschichtungen durchlaufe. So kann man es auch nennen! Ich sage das nicht, um hier beckmesserisch an einzelnen Sätzen herumzunörgeln, sondern aus einem anderen Grunde: weil Sie sowohl in dieser Rede heute wie auch bei früheren Gelegenheiten erstaunliche Äußerungen getan haben, die mich veranlaßt haben, Ihnen Engstirnigkeit, Kleinkariertheit, Verkümmerung des geschichtlichen Denkens und die Unfähigkeit, in globalen Maßstäben politisch zu überlegen, vorzuwerfen. Wenn Sie sagen, es gäbe Zonen der Entspannung und Zonen, wo die Entspannung nicht vereinbart ist, dann kann ich nur fragen: Wissen Sie denn nicht, Herr Bundeskanzler, daß wir hier in einer Welt leben, in der es für Nachrichtentechnik, Verkehrstechnik und Zerstörungstechnik keine Grenzen mehr gibt? Wir sind die erste Generation, die erlebt, daß es keine Grenze für diese drei - im guten wie im schlechten - unheimlichen Mittel menschlicher Leistungsfähigkeit mehr gibt. Hier kann man doch nicht sagen, Europa sei eine der sichersten Zonen der Welt, hier funktioniere die Entspannung, aber in Afrika und anderswo sei sie noch nicht vereinbart und funktioniere dort darum eben nicht. Sind Sie denn unfähig, in strategischen Prozessen zu denken, obwohl Sie Bücher darüber schreiben? ({33}) Ist es denn hier nicht ein und dieselbe Macht, mit der wir es zu tun haben? Habe ich nicht von dieser Stelle aus in der Sondersitzung des Deutschen Bundestages vor der Konferenz in Helsinki vor dem Krieg in Angola gewarnt? Ich habe Ihnen gesagt, daß Ihr Partner, den Sie in den nächsten Tagen in Helsinki treffen würden, durch Waffenlieferungen in gigantischer Höhe einen blutigen Bürgerkrieg vorbereite, der dieses Land in sowjetische Abhängigkeit und unter sowjetische Kontrolle bringen solle, und daß das mit Entspannungspolitik unvereinbar sei. Ist es denn nicht wahr, ({34}) daß heute in nordafrikanische Länder wieder ein großer Strom an Waffen, Munition und anderen modernsten militärischen Ausrüstungsgegenständen fließt und daß die davon betroffenen Länder vor einem kommenden Krieg zittern? Ist es denn nicht wahr, meine Damen und Herren, daß hier auf der einen Seite in der Sprache der Entspannung gesprochen wird und auf der anderen Seite Bürgerkriege - angebliche Befreiungskriege -, revolutionäre Kriege, entfacht werden? In Angola war es schon kein Befreiungskrieg mehr. Eine gut bewaffnete schwarze Minderheit hat gegen eine zahlenmäStrauß Big weit überlegene schwarze Mehrheit mit Hilfe der aus Moskau kommenden Waffen und kubanischer Söldner in diesem Krieg die Fahne Moskaus zum Sieg gebracht. Darüber sollten Sie reden, wenn Sie von Entspannung reden. Da erwarten wir von einem deutschen Staatsmann eine nüchterne Analyse, eine klare Sicht statt dieser Propagandaphrasen, mit denen wir hier über Entspannung gefüttert werden. ({35}) Ich hätte heute wirklich lieber über das Thema gesprochen, das sicherlich nicht nur mir, sondern vielen im Hause, und zwar in allen politischen Parteien, am Herzen liegt: den Prozeß der europäischen Einigung, in dessen Dienst wir uns damals als junge Politiker, glücklich, aus dem Krieg gesund heimgekehrt zu sein, alle gestellt haben. Ich beanspruche hier für die Unionsparteien wahrlich kein Monopol, wahrlich nicht. Denn der Prozeß der europäischen Bewegung, der Prozeß der europäischen Einigung muß von allen demokratischen Kräften in den Ländern der Gemeinschaft getragen werden. ({36}) Bei aller Schärfe meiner Kritik am politischen Gegner, die ich in einer wirklich funktionierenden parlamentarischen Demokratie als Oppositionsredner hier vorzubringen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, wird mich nichts veranlassen, etwa darüber zu schweigen, daß sich führende Sozialdemokraten und führende Liberale im Dienst der europäischen Einigung große Verdienste erworben und dieses Ziel mit derselben Lauterkeit und Ehrlichkeit angestrebt haben und anstreben, wie wir es tun. ({37}) Aber - und die Frage muß man stellen-:Wo stehen wir? Nicht nur mich beschleicht seit Jahren, Monaten die immer stärker werdende Furcht, daß es sich hier nicht nur um einen Stillstand handelt, sondern daß hier ein schwerer Rückschlag aus einer Reihe von Gründen, die zu analysieren ich nicht mehr die Zeit habe, eingetreten ist. Man muß sich die bange Frage stellen, ob es in den 70er, 80er Jahren oder in diesem Jahrhundert überhaupt noch zu einer funktionierenden politischen Gemeinschaft der Europäer kommt. Denn wir haben sogar im Gemeinsamen Markt nicht nur einen Stillstand erfahren, sondern wir sind hinter das zurückgefallen, was wir schon einmal erreicht haben. ({38}) Man soll in einem Parlament nicht nur über Zölle, Steuern, Sozialabgaben, Grenzausgleich und all die Dinge reden, die das Leben der Mehrheit unseres Volkes natürlich beeinflussen, sondern man soll auch - das ist das, was wir von einer Regierung erwarten - den historischen Überblick bewahren und ihn gerade in einer offenen parlamentarischen Demokratie der Bevölkerung, dem eigenen Parlament und der europäischen Umwelt vermitteln. Die Geschichte hat uns in Deutschland immer wieder eine Chance gegeben: Nach dem Ersten Weltkrieg, als wir Kinder waren, nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir uns die Frage stellten: Gibt es denn überhaupt noch eine europäische Zukunft? Als damals im Radio die Meldung kam, daß sich amerikanische und russische Truppen am 28. April 1945 bei Torgau die Hand gereicht und damit die Kapitulation der deutschen Wehrmacht besiegelt haben, die wenige Tage später erfolgte, haben wir allen Grund gehabt, zu fragen, ob damit die deutsche, aber auch die europäische Geschichte am Ende angelangt sei, ({39}) haben wir allen Grund gehabt, zu fragen, ob Europa in Zukunft nichts anderes als ein Verschiebebahnhof der Großmachtinteressen nichteuropäischer Großmächte sein werde. Es ist aus einer Reihe von Gründen anders gekommen, wenn auch nicht in vollbefriedigender Weise. Wir haben in diesem Hohen Hause, in diesem Parlament, sobald wir wieder in freier Entscheidung handeln durften, unseren Teil dazu beigetragen, damit dieses Europa nicht nur eine glanzvolle Vergangenheit mit vielen dunklen Kapiteln, sondern auch eine neue, lebenswerte und Lebenshoffnung gewährende Zukunft hat. Heute stellt man die Frage: Wo stehen wir denn? Denn die Geschichte steht nie still. Wer im geschichtlichen Prozeß die eigenen Möglichkeiten nicht dynamisch einsetzt, wird erleben, daß er von der Geschichte überrollt wird. Es hat gar keinen Sinn, später dann zu klagen „Was hätten wir tun müssen, wenn". Ich sage das deshalb, Herr Bundeskanzler, weil sowohl Sie, aber noch mehr Ihre Vorgänger uns vom Herbst 1969 an eine Serie brillant formulierter Fehlprognosen über die europäische Entwicklung und über die großartigen Ergebnisse europäischer Gipfelkonferenzen geliefert haben. ({40}) Da ich in Vorbereitung der eigentlichen Debatte gestern noch einmal nachgelesen habe, wie die Kommuniqués lauten, was dazu vom vergangenen Kanzler, vom jetzigen Kanzler und den jeweiligen Außenministern gesagt worden ist, kann ich wirklich nur mit Verzweiflung die Frage stellen: Wenn das nach diesen Ankündigungen das Ergebnis ist, mein Gott, was soll aus Europa werden, wenn es so weitergeht? Die Vorgängerin der heutigen Regierung erklärte nach der Gipfelkonferenz von Den Haag: „Der Europazug ist jetzt wieder in voller Fahrt." Was hat man in Paris im Jahre 1972, auf der Gipfelkonferenz im Jahre 1974, bei der Konferenz der Außenminister in Kopenhagen im Jahre 1973 alles gesagt! Es gab manches großmaulige Wort an die Adresse der Amerikaner, daß sie sich damit abfinden müßten - damit meine ich auch Sie, Herr Brandt -, daß Europa eine Großmacht im Werden sei. Ich habe damals gesagt: Europa ist ein Haufen gut gefütterter Zwerge, die ihre geschichtliche Verantwortung vergessen haben. ({41}) Leider habe ich heute keinen Grund, das zurückzunehmen. Deshalb darf ich die Kritik wiederholen, die von dieser Stelle aus von anderen Rednern aus den Reihen der Opposition und mehrmals von mir an die Adresse der Regierung gerichtet wurde: Sie hätten Ihr volles politisches Engagement, Ihr politisches Vertrauensvorschußpotential, das Sie zum Teil in übertriebener Weise hatten und dann selbstverständlich verspielt haben, benutzen sollen, um den Prozeß der europäischen Einigung voranzutreiben, statt im Osten leichtfertig ausgehandelte Verträge abzuschließen. ({42}) Es geht hier nicht um die Frage, ob man mit kommunistischen Regierungen Verträge schließen soll oder nicht. Nur ein Verleumder und Lügner kann behaupten, daß Unionsregierungen keine Verträge mit kommunistisch geführten Ländern schließen wollen. ({43}) Wir haben es in der Vergangenheit getan, wir werden es auch in der Zukunft wieder tun, aber wir werden es illusionslos, wachsam und nüchtern tun. ({44}) Wir werden nicht eine außenpolitische Zusammenarbeit zwischen unseren Parteien und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion anbieten, wie Sie es, Herr Brandt, laut Ihrem Kommuniqué getan haben. ({45}) Was soll denn dann aus diesem Europa werden? ({46}) - Wenn Sie der Meinung sind, daß der gegenwärtige Zustand damit so bezeichnet werden kann, möchte ich das auf die Komponente beschränken, die Ihre Politik dazu beigetragen hat. ({47}) - Sie sollten vorsichtig sein; Ihr Nachbar hat in diesem Zusammenhang schon einen Prozeß verloren! ({48}) Es ist einerseits üblich gewesen, den amerikanischen Außenminister in allen Tönen als den großen Erfolgsdiplomaten dieser Zeit zu loben, und es ist üblich geworden, Herrn Kissinger zu tadeln, zu kritisieren, Mißtrauen über ihn auszusprechen. ({49}) Ich tue weder das eine noch das andere. Wenn aber Herr Kissinger in seiner, wie ich sagen möchte, trotz allem nüchternen und illusionsfreien Entspannungspolitik, die sowohl vom früheren als auch vom jetzigen Präsidenten getragen wurde bzw. wird, Konzessionen machen muß, die in Europa immer wieder Sorge hervorrufen, dann deshalb, weil die Europäer für die Amerikaner als Partner seit Jahren ausfallen und ihrer geschichtlichen Funktion nicht gerecht werden. ({50}) Dann bewegt uns natürlich in dem Zusammenhang die Frage, wie der Zusammenschluß Europas tatsächlich aussieht. Das ist für den Sprecher einer Generation, die damals als Schüler zwischen den beiden Weltkriegen, aus denen die Väter heimgekehrt oder nicht heimgekehrt sind, mit Hoffnung erlebt haben, wie Briand und Stresemann dem Völkerbund 1929 und 1930 das Projekt der Europäischen Union, das. Projekt der Vereinigten Staaten Europas vorgelegt haben, nicht ohne Bedeutung. Als Briand diesen Plan am 9. September 1929 vortrug, Stresemann ihn in einer freien Rede begeistert aufgriff, als dann die französische Regierung im Mai 1930 die Noten vorlegte, als wiederum im September 1930 Briand die Zustimmung aller europäischen Regierungen verkündete - mit Ausnahme der englischen, die, vertreten durch Lord Henderson, schwerwiegende Bedenken erhob -, als der damalige deutsche Außenminister Curtius diesem Projekt im Namen der deutschen Reichsregierung mit vollem Engagement zustimmte, da glaubten wir, die damalige junge Generation, die den gleichen Anspruch an das Leben richtete, wie es die Jugend heute mit Recht genauso tut - indem sie von der älteren Generation eine vernünftige Politik verlangt -, daß sich der größere Teil unseres Lebens in einer europäischen Gemeinschaft abspielen werde, zwischen deren Mitgliedern es keinen Krieg mehr geben werde, in einer europäischen Gemeinschaft, in der die bösen Geister der Vergangenheit endlich überwunden wären. Das war im September 1930 in der Völkerbund-Sitzung, wenige Tage nachdem die Nationalsozialisten einen dramatischen Wahlsieg - zum erstenmal - errungen hatten. Nur wenige Jahre später hat uns alle, die Jahrgänge vor dem meinen und nach dem meinen, genau das Schicksal getroffen, das wir glaubten durch eine europäische Gemeinschaft, durch die Vereinigten Staaten von Europa endgültig überwunden zu haben und losgeworden zu sein. Wenn man mich heute fragte: Wo stehen wir?, habe ich manchmal das beklemmende Gefühl, obwohl es niemals eine exakte Wiederholung geschichtlicher Prozesse gibt - es gibt höchstens Vergleichbarkeiten, Affinitäten und Ähnlichkeiten -, Mitte der 30er Jahre zu stehen; nicht im wirtschaftlichen, sozialen oder finanziellen Gefüge, sondern in der außenpolitischen Verschiebung. Wenn der Expansion des Imperialismus neuer Art durch Zusammenschluß der Europäer und durch ihre Partnerschaft mit den Amerikanern nicht Einhalt geboten wird, wird die nächste Generation genauso von einem Unheil heimgesucht werden, wie es bei der unserer Väter und bei unserer eigenen war. Das ist unsere Sorge. Wir haben die Europäische Gemeinschaft nie als eine reine Kalorien-Gemeinschaft, als ein reines Commonwealth, als ein reines gesellschaftliches Wettbewerbsspiel gesehen. Wir haben die Europäische Gemeinschaft als Instrument einer friedensichernden Politik gesehen. Es ist einfach eine Geschichtsfälschung, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen - und uns das vorwerfen -, der amerikanische Präsident habe nicht eine Politik der Stärke gemeint. Man sollte hier nicht um Formulierungen kämpfen. Wir haben nie etwas anderes gewollt als eine Politik des Friedens durch Stärke; denn nur der Starke kann den Frieden garantieren. Der Schwache wird entweder versklavt, oder er wird als Instrument für die Kriegspolitik benutzt. Das war schon vor der Sowjetunion so, war unter Hitler so und ist auch heute nicht anders. Weil dieses Europa eine historische Funktion zu erfüllen hat, weil dieser Kontinent die Zukunft nicht in sozusagen sorglosem Überleben als Niemandsland zwischen dem einen und dem anderen Koloß meistern kann, müssen wir dieses Europa schaffen, oder der historische Prozeß wird sich gegen Europa und gegen uns richten. ({51}) Ich sage das auch aus einem ganz bestimmten Grunde: weil man die Frage nicht mit schön klingenden Formulierungen, die nicht nur zweideutig, sondern mehrdeutig sind, umgehen kann. Wie soll dieses Europa ausschauen? Meine politischen Freunde und ich bekennen uns zu dem Projekt der Vereinigten Staaten Europas, und zwar der freien Länder Europas, die sich auf freiwilliger Grundlage im Rahmen freier Gesellschaftsordnungen zu einer historischen Gemeinschaft zusammenschließen müssen oder das Selbstbestimmungsrecht über sich verlieren werden. ({52}) Das ist nur eine Frage des Ablaufs. ({53}) Sie sollten das, was Wolfgang Leonhard am 19. Januar dieses Jahres geschrieben hat, ernst nehmen. Wolfgang Leonhard kommt sicherlich nicht aus dem Konrad-Adenauer-Haus oder aus der Landesleitung der CSU, sondern:... er weiß, was er sagt, - ({54}) - Wolfgang Leonhard weiß, was er sagt, - ({55}) - Sie werden allmählich kindisch, Herr Wehner, aber das kann man nicht ändern. Wolfgang Leonhard weiß genau, was er sagt, wenn er in einem bemerkenswerten Artikel schreibt: Moskau will Westeuropa finnlandisieren. Und wenn Sie, Herr Wehner, sich hier so unflätig äußern, möchte ich einmal wissen, welchen Beitrag Sie dazu schon geleistet haben. ({56}) Und wenn vor wenigen Tagen in der „Prawda" zu lesen war: „Mißerfolg von Luxemburg macht gesamteuropäische Zusammenarbeit notwendig", dann merkt man doch mit einer durch nichts mehr zu versteckenden Deutlichkeit, welche zwei europäischen Architekturen hier einander gegenüberstehen, ({57}) auf der einen Seite das Projekt der Vereinigten Staaten Europas, der Vereinigung der freien Länder Europas, und auf der anderen Seite ein Europa, das unter sowjetischer Kontrolle - wenn auch ohne militärische Besetzung ({58}) und ohne kommunistische Revolution, aber außenpolitisch handlungsunfähig, militärisch verteidigungsunfähig, von der Partnerschaft mit Amerika abgelöst - als kapitalistisches Wohlstandsland noch weiterhin ausbeutungsfähig erhalten werden soll. Hier stehen doch diese beiden Architekturen einander gegenüber. Darum geht doch das Ringen, und darum, Herr Bundeskanzler, wäre es die Aufgabe der deutschen Bundesregierung, die dank dem Fleiß des Volkes etwas hinter sich hat, in dieser Richtung das ganze Gewicht der Bundesrepublik einzusetzen, damit der historische Prozeß der Einigung Europas wieder fortgesetzt wird. Es gibt keine langanhaltenden Pausen in den Wetterecken der Weltpolitik. Wir leben zur Zeit nicht in einer Pause, sondern in einer gefährlichen Rückschlagsphase, und wir erwarten von einem deutschen Bundeskanzler, daß er hier nicht eine Wahlrede hält, sondern eine historische Analyse gibt ({59}) und eine klare Konzeption dafür aufzeigt, wie dieses historische Werk gestaltet werden soll. ({60}) Das hätten wir von Ihnen, Herr Bundeskanzler, heute erwartet. Dann würden Sie von uns als Staatsmann anerkannt werden. ({61}) - Daß Sie darüber lachen, kann ich verstehen; ich tu's ja auch. ({62}) Aber so haben Sie sich heute leider nur als ein Parteipolitiker erwiesen, der die letzte Wahl nicht verdaut hat und vor der nächsten Angst hat. ({63})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier keine lange Rede halten, möchte aber drei Fragen nachgehen, und ich denke, dies ist angemessen nach der Rede, die wir gerade gehört haben. Die erste Frage ist --- und sie leitet sich ab aus dem ersten Teil der Rede des Kollegen Strauß -: Von welchem Land ist hier in der Beschreibung die Rede, die Herr Strauß während der ersten halben Stunde seiner Rede von einem europäischen Land gegeben hat? Die Bundesrepublik Deutschland war das nicht, über die er gesprochen hat. ({0}) Die zweite Frage ist: Hat die Opposition, nachdem Herr Strauß zeitlich nicht mehr dazu gekommen ist, obwohl er weit über eine Stunde geredet hat, im Laufe der Debatte des heutigen Tages konkret etwas dazu beizutragen - das könnte ja für die Regierung unter Umständen nützlich sein -, wie Europa über den schweren Rückschlag hinwegkommen kann, der in Luxemburg deutlich geworden ist. ({1}) Außer dem Zwergen-Gerede von Herrn Strauß war heute morgen zu diesem Thema nichts zu hören. ({2}) Drittens leitet sich aus der Rede von Herrn Strauß, vor allen Dingen aus dem letzten Teil, zwingend die Frage ab, mit wem er und seine Gesinnungsfreunde eigentlich jenes Europa bauen wollen, von dem sie sagen, sie bekennten sich zu ihm. ({3}) Diese Frage muß gestellt werden. Was den ersten Punkt angeht, ist es doch nicht so, als ob irgend jemand, der hinter der Regierung steht, erwartet, diejenigen, die gegen die Regierung stehen, die die Rolle der starken Opposition spielen, sollten bei solcher Gelegenheit das, was die Regierung sagt, in allen Punkten für richtig halten. Das erwartet hier niemand. Aber welchen Interessen - auch deutschen Interessen draußen in der Welt - soll es eigentlich dienen, wenn man gegen Tatsachen anrennt, die im Grund jeder von ihnen kennt und denen Sie ja auch nicht widersprechen, wenn Sie im Ausland - diejenigen von Ihnen, die herauskommen - darauf angesprochen werden. Denn Ihre Partner in den anderen Ländern fragen ja Sie wie uns auch: Wieso schafft es die Bundesrepublik, durch eine schwere Weltwirtschaftskrise besser durchzukommen als andere? ({4}) Das ist doch eine ganz andere Fragestellung, und Sie widersprechen nicht. Aber hier wollen Sie eine solche Tatsache nicht gelten lassen. Wir haben das ja hier wieder gehört, Herr Kollege Strauß. All Ihr Verunsicherungsgerede hat nicht verhindern können, daß die Deutsche Mark in der Welt immer stärker geworden ist, daß sie eine der härtesten Währungen geworden ist. ({5}) Sie werden und dürfen auch keinen Erfolg damit haben, den Rentnern, die das ganz gewiß nicht verdient haben, Unsicherheitsgefühle zu vermitteln. Die Rentner können sich darauf verlassen, daß sie Mitte des Jahres die Rentenerhöhung und für die folgenden Jahre die Dynamisierung ihrer Renten bekommen. ({6}) Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie auf diese Weise schon wieder, nachdem das andere nicht gezogen hat - jetzt zu Lasten der Älteren, die ein Leben lang hart gearbeitet haben -, Angstgefühle in diesem Volk verbreiten wollen. ({7}) - Sie können hier schreien wie die kommunistischen Zwischenrufer in Berlin und in Freiburg, Sie bringen mich trotzdem nicht vom Reden ab. ({8}) : Unerhört! Unglaublich! - Lemmrich ({9}) : Herr Brandt, ich war in meinen jungen Jahren nicht da, wo Sie standen!) - Ich wiederhole: Ich lasse mich durch Ihre Zwischenrufe, die stören sollen, genausowenig von dem abbringen, was ich zu sagen habe, wie von kommunistischen Störtrupps in Berlin oder in Freiburg. ({10}) Wer will denn hier tatsächlich widersprechen? Der Bundeskanzler hat doch die Ziffern der EG vorgetragen und festgestellt, daß die Daten über die Preissteigerungen, die Daten über die Realeinkommen und vor allen Dingen - was noch gar nicht drinstand - die Daten über die konkrete soziale Sicherung bei uns günstiger sind als bei den Partnern der Gemeinschaft. Welchen vernünftigen Interessen soll es dienen, gegen diese Tatsachen anzurennen? Herr Strauß, um ein auch Ihnen bekanntes angelsächsisches Wort abzuwandeln: Sie mögen viele Menschen während einer kurzen Zeit und wenige Menschen während einer langen Zeit an der Wirklichkeit, an den Tatsachen vorbeiführen können; es wird Ihnen nicht gelingen, viele Menschen während einer langen Zeit über die Tatsachen zu täuschen, so wie Sie es heute wieder versucht haben. ({11}) Viele von Ihnen - ich sagte és - kommen so wie wir ein bißchen in der Welt herum. Warum sprechen Sie eigentlich nicht von dem, was Ihnen dort gesagt wird? Ich meine ja nicht, daß die Tatsache, daß wir besser als fast alle anderen in Europa und in der Welt dastehen, zur Selbstgefälligkeit verleiten sollte. Ich weiß, daß wir bei allem Streit miteinander noch eine ganze Menge an Problemen vor uns haben. Da kommt die Reform der beruflichen Bildung. Dann wird man wieder sehen, ob der Bundesrat erneut als Neinsagemaschine eingeschaltet werden soll. ({12}) Da kommt das Problem der Sicherung der Arbeit für alle, von dem der Bundeskanzler gesprochen hat. Dabei geht es natürlich auch um die Bewahrung sozialer Errungenschaften vor ihrer Auszehrung durch Sonderinteressen. Jawohl, solche Probleme gibt es. Aber das ist doch etwas anderes, Herr Kollege Strauß, als das, was Sie mit den „Grenzen des Sozialstaats" bezeichneten, zwar nicht hier, leider nicht, aber gestern woanders, wie uns durch Meldungen übermittelt wurde. Darüber müssen wir uns, wenn es geht, verständigen. Ich glaube, der eigentliche Gegensatz ist der, Herr Kollege Strauß: Wir fassen den Art. 20 des Grundgesetzes als einen permanenten Auftrag auf. Er kann keine Situationsbeschreibung gewesen sein. Denn als 1949 in Art. 20 die Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Bundesstaat beschrieben wurde, war ihr Zustand ein ganz anderer als heute. Es handelt sich um den Auftrag, diesen Bundesstaat zunehmend auszubauen. Die, die immer schon gesagt haben - einige 12 und 15 Jahre vor Ihnen -, die Grenzen des Sozialstaats seien erreicht, folgen der Tradition jener Konservativen, die vor 50, 70 und 80 Jahren gesagt haben: 14-Stunden-Arbeitstag ist zu wenig, 12-Stunden-Arbeitstag ist zu wenig. Muß denn unbedingt die Kinderarbeit abgeschafft werden? Muß die Sonntagsarbeit abgeschafft werden? ({13}) Die Konservativen waren immer der Meinung, die Grenzen seien erreicht, und andere haben den sozialen Fortschritt und die Freiheit für die Millionen Menschen in diesem Lande durchsetzen müssen. ({14}) Das Ringen um das jeweils erreichbare Maß an Gerechtigkeit wird weitergehen. Die zweite Frage war, ob, nachdem Herr Strauß das nicht getan hat, die Opposition im weiteren Verlauf der Debatte vielleicht noch sagen will, was ihrer Meinung nach in dieser für Europa kritischen Situation konkret zu tun ist, und ob sie meint, daß die Bundesregierung in dieser Krise etwas versäumt hat, und wenn ja, was sie versäumt hat, was sie nach Meinung der Opposition hätte tun sollen, um in Luxemburg zu einem Erfolg statt zu einem Mißerfolg zu kommen. So billig oder so einfach geht das nicht. In Wirklichkeit ist es so: Wir haben in früheren Europa-Debatten feststellen können, daß es hier im Unterschied zu anderen Debatten mehr Übereinstimmung als Gegensätze gegeben hat. ({15}) Aber, Herr Kollege Strauß, das mit den Zwergen haben Sie anderswo ein wenig deutlicher gesagt. Warum nicht auch hier? In der „Welt" war als Ihre Auffassung zu lesen: Europa ist heute ein Haufen buntgewürfelter, verfetteter, phrasendreschender Zwerge mit großen Ansprüchen, aber ohne Potenz. Und in Sonthofen hieß das: Die Europäer sind total degeneriert. Sie sind aus der Geschichte ausgetreten. Den letzten Satz verstehe ich noch besser als das, was Sie vorher gesagt haben. Aber mit diesem konservativen Nihilismus und dieser Arroganz können Sie Europa nicht voranbringen. ({16}) Ich denke trotzdem, daß die meisten von uns in diesem Hause einig sind in dem Bedauern, daß Luxemburg ohne Ergebnis geblieben ist. Es ist wohl so, daß das Europa der Regierungen schwächer und mutloser ist als das Europa der Bürger. Viele Bürger, denen ich in unserem Lande und anderswo begegne, möchten, daß dies besser vorankommt. Aber ist das die Schuld der Bundesregierung? Wer will hier aufstehen und sagen, daß die Bundesregierung in der Frage der Kriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion, auch im einzelnen - hinsichtlich der Hilfe für schwache Währungen anderer -, daß die Bundesregierung in der Frage der politischen Zusammenarbeit auf dem Wege zur politischen Union, daß die Bundesregierung in der Frage der Direktwahlen, daß die Bundesregierung auf all diesen Gebieten nicht richtige, vernünftige Vorschläge gemacht hat? Wenn sie damit nicht durchkommt, dann ergibt es doch keinen Sinn, wenn aus lauter Opposition und Neinsagerei der eigenen Regierung das vorgeworfen wird, worüber man sich mit anderen auseinandersetzen müßte. ({17}) Dann ist es viel besser, daß Sie Ihre Gespräche im Kreis der christdemokratischen und konservativen Parteien Europas nutzen. Wir müssen ja unsere Gespräche auch manchmal nutzen, um unserer Meinung nach unvernünftige oder weniger gut beratene politische Freunde in anderen Ländern auf das hinzuweisen, wovon wir meinen, es sei richtig. Ich glaube, unseren liberalen Kollegen wird das bei ihrer Zusammenarbeit auch nicht erspart bleiben. Aber das ist doch die Situation. Herr Kollege Strauß, Sie haben an die Konferenz in Paris 1972 erinnert. Damals nannte man das noch - ich habe das immer für eine scheußliche Bezeichnung gehalten - Gipfelkonferenz. Inzwischen ist der Europäiche Rat daraus geworden. Das war die erste Zusammenkunft dieser Art, ({18}) bei der die Engländer, die Dänen und die Iren dabei waren. Für die englische Seite war damals noch Heath dabei. Dort ist jener Auftrag an den belgischen Ministerpräsidenten vorformuliert worden, den dann Tindemans von seinem Vorgänger Eyskens übernommen hat. Dieser Auftrag enthielt die vernünftige, meiner Meinung nach immer noch vernünftige Zielsetzung, für eine dann allerdings wirklich auf den Weg gebrachte Wirtschafts- und Währungsunion, für die aus einem anderen Mechanismus herauswachsende politische Zusammenarbeit - nämlich diese zu einem Stück gemeinsamer Außenpolitik entwickelte und für weitere Bereiche meinetwegen auch intergouvernemental zu vereinbarender Zusammenarbeit, d. h. für solche Bereiche, für die die Römischen Verträge nichts vorsahen - ein gemeinsames Dach zu schaffen. Das sollte die Europäische Union heißen. Herr Kollege Strauß, wir saßen damals in Paris, um z. B. den Regionalfonds und ein Stückchen gemeinsame Entwicklungspolitik zu beraten, wobei wir dem Druck unserer Kollegen ausgesetzt waren, die die Bundesrepublik nicht für so schlecht hielten wie Sie, sondern meinten, das sei ein Staat, der viel beitragen könne, mehr, als wir meinten beitragen zu sollen. Wir waren sehr zugeknöpft. Das hinderte Sie, Herr Kollege Strauß, während wir dort saßen und uns mit unseren Kollegen aus anderen Ländern auseinandersetzten, damals nicht, zu Hause zu verkünden: Die sind dorthin gefahren, um gutes deutsche Geld zu verschenken. ({19}) Insofern waren das doppelzüngige Argumente, teils nationalistisch, teils worteuropäisch. ({20}) Ich habe es sehr genau in Erinnerung, wie diese Meldungen zu uns hereinkamen. ({21}) Was Leo Tindemans vorgeschlagen hat, ({22}) was Leo Tindemans zu Papier gebracht hat, ist - nehmen Sie alles in allem - ein vernünftiges Programm. Aber hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland irgend jemanden daran gehindert, mit der Verwirklichung des TindemansBerichts Ernst zu machen? Nein. Wer wie ich und meine politischen Freunde für die Grundlinien des Tindemans-Berichts ist, ({23}) muß hier nicht die eigene Regierung angehen - dafür haben Sie Themen genug -, sondern er muß mit der eigenen Regierung zusammen und zusammen mit den Kräften, die die Regierung tragen, in Europa dafür wirken, daß es wieder vorangeht. ({24}) Dadurch, daß man im eigenen Hause, in der Bundesrepublik Deutschland, Porzellan zerdeppert, erreicht man für Europa kein Stückchen Fortschritt. ({25}) Ich muß sagen, daß mich neben anderem sehr enttäuscht hat, daß die Staats- und Regierungschefs in Luxemburg nicht einmal über die Direktwahl einig werden konnten. Dabei gehöre ich zu denen, die früher immer gesagt haben: Vielleicht ist es noch wichtiger, daß man einem indirekt zusammengesetzten Parlament Entscheidungsbefugnisse einräumt, als daß man es direkt wählt. Aber als ich die Chance sah, es könnte zu Direktwahlen kommen, habe ich gedacht, dies könnte auch der europäischen Sache zu einem neuen Impuls verhelfen. Es wäre sehr schade, wenn die jungen Menschen, die dies wohl verstanden haben, erneut enttäuscht würden. Ich glaube, daß ein direkt gewähltes Parlament auf der Linie hin zur Konstituante liegen könnte und daß dies vielleicht mehr als einen Schritt bedeuten könnte. Die europäische Entwicklung wird ja später einmal nicht nur aus kleinen Schritten nach vorn und zurück bestehen, sondern vielleicht doch irgendwo einen Sprung aufweisen, der qualitative Veränderungen mit sich bringen kann. Die Regierung sagt uns nun, wenn ich es recht verstanden habe, seit Luxemburg, sie gebe in dieser Frage nicht auf, sie bleibe an diesem Thema dran. Warum sollte ich auf Grund der Einstellung, die ich hier geäußert habe, die Regierung entmutigen? Auch wenn ich mittlerweile wieder skeptischer wäre, würde ich das jetzt nicht sagen, denn man kann der Regierung auf diesem Gebiet nur Erfolg wünschen, auch daß sie auf anderen Teilgebieten des europäischen Geschehens vorankommt, damit nicht aus dem, was neue Hoffnung zu werden schien, ein zusätzlicher Rückschlag entsteht. Meine Damen und Herren, drei Hinweise möchte ich trotzdem geben: Es führt erstens überhaupt kein Weg daran vorbei - und das hat mit Zweiklassigkeit oder sogar Dreiklassigkeit im quasi integrierten Europa nichts zu tun -, daß man sich neben Gebieten, die der strikten Integration mit gemeinsamem Tempo unterworfen sind, darüber klar werden muß, wo die Gebiete sind, auf denen einige, aber noch nicht alle mitziehen können. Das muß man ohne schlechtes Gewissen machen, das muß man machen, ohne jemand deswegen einen minderen Status einzuräumen. Aber zu erwarten, zumal wenn sich die Gemeinschaft noch durch Griechenland und andere erweitert, daß immer nur das geschehen kann, was schon alle zusammen machen können, das allein wird als Methode nicht ausreichen. Zweitens. Wenn es so ist, daß die eigentliche Integration nicht nur nicht vorankommt, sondern eher gefährdet ist, dann wird es um so wichtiger, die ökonomische Zusammenarbeit mit jenen Ländern besonders zu pflegen, die der Gemeinschaft nicht angehören, aber mit ihr so eng verbunden sind, als wären sie fast Mitglieder, weil dies im Norden und im Süden Europas ein Element zusätzlicher Stabilität in einer Phase sein kann, in der die Gemeinschaft als solche keine großen Fortschritte machen kann. Das dritte ist: Ich teile zwar nicht die Auffassung, die Herr Strauß hier soeben geäußert hat, aus amerikanischer Sicht seien die Europäer im allgemeinen und die Bundesrepublik Deutschland im besonderen als Partner ausgefallen. Das höre ich ganz anders, zumal was die Bundesrepublik Deutschland angeht; das hört man ganz anders, zumal wenn von der NATO die Rede ist. Aber obwohl ich das anders einschätze, sage ich: Ich warne vor der Auffassung, auf die man manchmal in Kommentaren draußen stößt, als wäre für die kommenden Jahre ein engeres Verhältnis zwischen Amerika und der Bundesrepublik Deutschland eine Alternative zur Entwicklung Europas. Amerika ist für uns und bleibt für uns ein wiederum durch niemanden sonst zu ersetzender Partner. Aber zu Europa gibt es keine Alternative. ({26}) Meine dritte Frage, die ich vorhin angekündigt hatte und die sich aus der Rede von Herrn Strauß ableitete, war: Mit wem will jemand mit seiner Einstellung, mit wem wollen diejenigen, die sich mit ihm politisch eng verbunden fühlen, eigentlich Europa bauen? Die Obristen in Athen sind nicht mehr dran, Herr Strauß. ({27}) Die Hausnummern haben sich geändert: ({28}) Franco ist nicht mehr dran; Spinola - ich will auf ihn keine Steine werfen - ist außerhalb des eigentlichen politischen Geschehens. ({29}) - Warum denn so nervös? Ich sage nur: mit extremen Rechten und Halbfaschisten ist in Europa kein Staat zu machen. ({30}) Mehr sage ich gar nicht. Wenn wir das feststellen, sind wir endlich einmal an einem Punkt, in dem wir uns einig sind; denn Herr Strauß sagt: Keiner hat einen Monopolanspruch auf Europa. Das sage ich auch. Das sage ich meinen Freunden immer wieder, auch wenn solche in diesem Lande oder in anderen Ländern vom „sozialistischen Europa" reden. Dann sage ich: Nein, Freunde, so haben wir nicht gewettet; ich war dagegen, diesem Europa einen karolingisch-christdemokratischen Stempel aufzudrücken, ich bin dagegen, daß eine der großen Richtungen der europäischen Demokratie dies für sich allein beansprucht. ({31}) Es muß Platz sein für die Sozialdemokraten, die Liberalen, die Konservativen, die Christdemokraten; sonst wird das nicht Europa sein. ({32}) Aber, verehrte Anwesende, wenn dies so ist - -({33}) - Was soll denn dieser Zuruf? Fragen Sie doch einmal Ihre Kollegen im heutigen Europaparlament! Ich muß den Zuruf wiederholen. ({34}) - Nein, die Zuschauer haben ein Recht darauf, zu erfahren, welche analphabetischen Argumente einem hier entgegengehalten werden. ({35}) Da gibt es nämlich auf der vordersten Bank - dort sitzt er - einen Kollegen von der Union, der nicht weiß, daß seine Kollegen im Europaparlament mit Kommunisten zusammensitzen. ({36}) - Das ist ja noch schlimmer. Jetzt höre ich, er sitzt sogar im Europaparlament, und er hat das noch gar nicht gemerkt: ({37}) Wir haben doch die da nicht hingeschickt, sondern wir sorgen dafür in diesem Land, daß hier kein Regierungschef mit dem Führer einer starken kommunistischen Partei verhandeln muß, wie Ihr Freund das in Rom tut. ({38}) Aber was soll es dann, wenn man die Frage stellt: Mit wem Europa? Was soll dann diese Gespensterformel „Freiheit oder Sozialdemokratie"? ({39}) Wissen Sie denn nicht, daß in Österreich - um ein wichtigstes Nachbarland zu nehmen - das dritte Mal der Vorsitzende der Sozialistischen Partei - so heißen dort die Sozialdemokraten; damit sind Sie auch bedient; Sie glaubten mich jetzt wegen „Sozialismus" aufs Glatteis zu führen; in Deutschland heißen demokratische Sozialisten ”Sozialdemokraten"; ({40}) das müssen die machen, wie die wollen -, Dr. Bruno Kreisky, die Mehrheit seiner Bürger hat? Wie kommen Sie eigentlich dazu, den hier zu verdächtigen, als wäre er ein Feind der Freiheit? Wie kommen Sie dazu? ({41}) In den Niederlanden sitzt als Ministerpräsident Joop den Uyl für die Partei der Arbeit, wie sie dort heißt, in Schweden Olaf Palme für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, wie sie dort heißt, in dem Nachbarland Norwegen der Sozialdemokrat Nordli für die Arbeiterpartei, wie sie dort heißt, in Dänemark - ({42}) - Verehrter Zwischenrufer, jetzt frage ich Sie, ob nicht auch Sie wissen, daß in Irland, in Luxemburg, in der Schweiz, in Portugal - ich komme gleich auf Portugal, Herr Strauß - Sozialdemokraten, demokratische Sozialisten Regierungsverantwortung tragen, daß sie in anderen Ländern eine politische Kraft von Relevanz sind. Sie werden Europa nicht bauen, wenn Sie es gegen Sozialdemokraten bauen wollen, sondern dann zerklüften Sie diesen Kontinent. Sie fügen ihm Schaden zu, wenn Sie diejenigen als Feinde der Freiheit abstempeln, die in ihren Völkern für Millionen von Menschen Freiheit erst erfahrbar gemacht haben. ({43}) Es ist ungeheuerlich, Herr Strauß, was Sie hier heute aus enger parteiegoistischer Sicht über einen Mann wir Mario Soares gesagt haben. Ich habe den Mann gekannt, als er in seinem Land verfolgt wurde und Sie mit denen umgegangen sind, die ihn verfolgten. ({44}) Die deutschen Sozialdemokraten haben dabei geholfen, daß nicht eine neue, nämlich eine kommunistische Diktatur errichtet wurde. Das müßten Sie wissen. Sie werden im Rahmen der Möglichkeiten helfen, Freiheit in ihren Ländern zu entwickeln, bevor Menschen ins Gefängnis gehen. ({45}) Was Sie dort über eine andere Partei sagen, Herr Strauß, ist doch völlig falsch. Da gibt es die Demokratische Volkspartei, die sich gelegentlich auch sozialdemokratisch nennt. Ich habe mit deren Herren gesprochen, sowohl als ich im Oktober 1974 da war, wie jetzt im Winter, als der Vorsitzende dieser Partei in der Bundesrepublik Deutschland war. Wenn ich mit einer internationalen Gemeinschaft zusammen bin, dann können - ({46}) - Was wollen Sie? ({47}) - Da war nämlich einer, dessen Analphabetismus so weit ging, daß er von Herrn Soares als einem Kommunisten sprach. - Die PPD kann nicht an einer internationalen Gemeinschaft mitwirken. Ich weiß nicht, wie es bei den Christlichen Demokraten ist. Bei den Sozialdemokraten haben wir die Regel, daß aus einem Land eine zweite Partei nur dann aufgenommen werden kann, wenn die erste zustimmt. Sonst bekommt man heillosen Trouble. Man kann mit einer anderen Partei bilaterale Beziehungen haben, aber die PPD konnte gar nicht in die Internationale der Sozialdemokraten aufgenommen werden, weil es sie zu der Zeit nicht gab, als Mario Soares gegen die Diktatur kämpfte. Ich sage damit noch nichts gegen die anderen, die dann auch ihre Partei aufgemacht haben. Manches wird dort nach den Wahlen vom 25. April ohnehin ein bißchen anders aussehen. Ich sage Ihnen nur dies: Es ist eine Verleumdung, wenn Sie Herrn Soares hier so darstellen, wie es geschehen ist. Sie haben sogar gesagt, er habe einen kommunistischen Putsch möglich gemacht. Wenn Sie die Wahrheit kennen, müssen Sie sich dessen schämen, wie Sie sie entstellen. ({48}) Wenn Sie die Wahrheit nicht kennen, bin ich gerne bereit, Ihnen dabei zu helfen, sie zu erfahren. Nach einer unglaublich harten Wahlkampagne hat dieser Mann, den Sie hier beschimpfen, gegen die Kommunisten 38 % der Stimmen bekommen. Seine Partei ist die stärkste Partei geworden. ({49}) Im November, als tatsächlich die Gefahr einer Lissabonner Kommune - dieses Wort ging hier um - und anderes abgewendet wurde, hat dieser Mann mit seinen Freunden den Buckel hingehalten. Das war in Lissabon etwas schwieriger, als in München oder in Bonn große Reden zu führen. ({50}) Noch nirgends ist im Kampf um die europäische Demokratie - und in Spanien wird es wieder so sein - denen, die sich dort wirklich rühren und für die Freiheit ihrer Völker kämpfen, durch Ihr Maulheldentum, Herr Strauß, geholfen worden. ({51}) Ich muß noch zu einem anderen Punkt meiner Empörung Ausdruck geben. Hier ist - der Name des Kollegen Wehner wurde damit in Verbindung gebracht - erneut durch Sie, Herr Strauß, wenn auch unter Berufung auf einen anderen, das Wort „Finnlandisierung" eingeführt worden. Es empört mich, daß ein tapferes kleines Volk, das sein Land unter unglaublich schwierigen Bedingungen wiederaufgebaut und die Demokratie gesichert hat, durch die Verwendung dieses Begriffes immer wieder beleidigt wird. Das gehört sich nicht. ({52}) Ich komme darauf zurück: Wenn Kreisky, Palme, den Uyl, Callaghan und all die, die in Portugal und Spanien und anderswo für die Sache der Freiheit ihren Buckel hinhalten, in Ihrem Verständnis alle tatsächliche oder potentielle Feinde der Freiheit sind in dem Sinne, wie wir es eben von Ihnen mit Bezug auf den demokratischen Sozialisten Soares vorgeführt bekommen haben, dann werden Sie mit Europa nicht vorankommen. Sie werden die Bundesrepublik im Gegenteil weiter isolieren, und das wäre in der Tat ein riskantes Umgehen mit den Interessen unseres Landes. ({53}) Ich sage es noch einmal: kein Monopolanspruch! Wir sind übrigens, Herr Strauß, für die vereinigten Staaten von Europa und stützen uns dabei auf unser Parteiprogramm seit 1925. Wir brauchen in dieser Hinsicht gar keinen Nachhilfeunterricht. Wir möchten es mit allen zusammen, die dies auch wollen, aber nicht, indem sie andere verketzern. ({54}) Wir wollen nicht zurück in die Zeit der Verketzerung, weder in unserem Land noch in Europa. ({55}) Jetzt frage ich mich und auch meine Kollegen von der Opposition: ({56}) Warum sich nicht auf den Boden der Tatsachen stellen? Das fällt schwer bei den ökonomischen Daten, das fällt schwer, wo es um die europäische Landschaft geht. Aber warum muß das so zögernd und scheibchenweise wie neulich bei den Polen-Verträgen geschehen? Warum sich nicht einen Ruck geben und sagen: Wir haben ja vieles, worüber wir mit der Regierung streiten können; aber wenn es sich um unsere Interessen in Europa und in der Welt handelt - Europa-West und Europa-Ost; und heute geht es besonders um Europa-West, nämlich die Europäische Gemeinschaft -, dann stehen wir zusammen, begleiten kritisch, wo es sein muß, die Regierung, unterstützen sie im wesentlichen und verbreiten nicht so viel Geruch von Säuernis, wir wir es an diesem Vormittag wieder haben erleben müssen. ({57}) Was wir brauchen, ist weiterhin ein Wetteifern um die besten Lösungen. Im übrigen müssen wir Sozialdemokraten unserem Volk dringend raten: Mißtraut den Schwarzmalern und haltet euch an Helmut Schmidt! ({58})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung erneut ein Bekenntnis zu Europa abgelegt. Anders, als uns der Kollege Strauß weismachen wollte, hat er nicht nur eine ungeschminkte Analyse vorgetragen, sondern auch die Vorstellungen der Regierung zur Überwindung des derzeit unbefriedigenden Zustandes entwickelt. Der Bundeskanzler hat dem dann - wie ich meine: zu Recht - eine Beschreibung des inneren Zustands unseres Landes angefügt. Wir werden unseren europäischen Beitrag nämlich nur dann mit Erfolg leisten können, wenn wir das eigene Haus gut bestellt haben. Um es auch statistisch auszudrücken: Der Bundeskanzler hat 45 Minuten seiner Rede dem Thema Europa gewidmet und dann etwa 35' Minuten über die Bundesrepublik und ihre innere Verfassung gesprochen. Das war eine gut austarierte Verteilung der Gewichte. Auf so gute Werte kommt der Kollege Strauß leider nicht. Die Fraktion der Freien Demokratischen Partei stimmt der Regierungserklärung uneingeschränkt zu. ({0}) Der Bundeskanzler hat die Aufgaben der Koalition für heute und für morgen zutreffend formuliert. Um jetzt nicht die Haushaltsdebatte vorwegzunehmen, möchte ich bei meinem Beitrag dem Aufbau der Regierungserklärung folgen. ({1}) Zum Thema Europa hat der Bundeskanzler die Aussage machen müssen, daß sich die Europäische Gemeinschaft gegenwärtig nicht in einem guten Zustand befindet. Dies ist in der Tat noch eine zurückhaltende Beschreibung der tatsächlichen Lage. ({2}) Der Weg der europäischen Staaten in die politische Union ist in der Tat mühsam und voller Rückschläge. ({3}) Mit großem Elan war die Idee von der Einheit Europas nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, konzipiert und vorangetrieben worden. Bald machte sich jedoch Ernüchterung breit, und das Engagement wurde vielfach durch Resignation abgelöst. Der europäische Gedanke schien für die Bürger in den einzelnen Staaten wieder seine Faszination zu verlieren. ({4}) : Warum wohl?) Nachdem die Europäer sich in Straßburg und Brüssel eingerichtet hatten, wuchsen zwar die europäischen Behörden, doch mit dem Machtzuwachs der Eurokratie war kein Zuwachs an Sympathie in der Bevölkerung Europas verbunden. ({5}) : Warum wohl?) Zweifel und Kritik wurden laut. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wirkte mit ihrem gemeinsamen Agrarmarkt und seinen Marktordnungen häufig eher abschreckend als werbend. Der europäische Prozeß geriet ins Stocken, trat auf der Stelle und mußte hier und da sogar Erosionserscheinungen in Kauf nehmen. ({6}) Die Entwicklung zum politischen Europa mit klaren wirtschaftlichen und finanzpolitischen Kompetenzen, mit Zuständigkeiten in der Außen- und Sicherheits16378 politik schien zum Stillstand gekommen. Jedenfalls zeichnet sich eine Echternacher Springprozession im Vergleich damit durch einen rasanten Bewegungsablauf aus. ({7}) Wenn hier dennoch nicht aufgegeben worden ist, sondern wenn in zäher Kleinarbeit immer wieder um Europa gerungen wurde und wenn die Staaten der Europäischen Gemeinschaft sich dennoch anschicken, den zweiten Schritt in die politische Einheit zu tun, dann gebührt nicht zuletzt der Regierung der Bundesrepublik Deutschland das Verdienst, sich über all die Jahre und Enttäuschungen hinweg als konsequente Europäer verhalten zu haben. Es ist deshalb nur ganz natürlich, daß die Namen Willy Brandt und Walter Scheel in Europa einen guten Klang haben. Ihr Wirken für Europa hat in den europäischen Partnerländern und in den Ländern des Atlantischen Bündnisses häufig mehr Anerkennung gefunden, als es bei uns der Fall war. Diesen Eindruck mußte man jedenfalls bei vielen Debatten hier im Haus gewinnen. Die innenpolitische Auseinandersetzung hat hier - und das auch heute wieder - Zerrbilder entstehen lassen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Meine Damen und Herren, nach dem verkündeten Glaubenssatz der Opposition darf ein Sozialdemokrat wie Willy Brandt nun einmal kein guter Europäer sein. ({8}) Deshalb werden immer wieder Zweifel an den Leistungen und an der Haltung dieses Mannes und der Regierung genährt. Auch der heutige Versuch der Verunglimpfung über den Umweg Portugal war dafür erneut ein trauriges Beispiel. ({9}) Meine Damen und Herren, die von dieser Bundesregierung verfolgte Politik der Kontinuität und Konzentration ist nicht zuletzt auf dem Gebiet der Europapolitik deutlich geworden. Das Gespann Schmidt/ Genscher hat die Europapolitik nahtlos fortgesetzt. Mit einem Blick für Realitäten und der nüchternen Einschätzung der tatsächlichen Lage wird der Versuch unternommen, für ein politisch handelndes Europa die notwendigen soliden Grundlagen einer einheitlichen Wirtschafts- und Finanzordnung zu zimmern. Dies ist bei den unterschiedlichen Ausgangspositionen der europäischen Staaten eine Sisyphusarbeit. Erfolgreich kann die Aufgabe nur angepackt werden, wenn die Regierungen der beteiligten Länder zum Konzept der Konsolidierung und Stabilität von Wirtschaft und Währung ja sagen. Ebenso müssen die nationalen Parlamente in Übereinstimmung mit der Volksmeinung bereit sein, den Regierungen auf diesem Weg zu folgen. Sie müssen ihnen die erforderliche Unterstützung dafür zuteil werden lassen. Dafür waren die EG-Gipfel sicher nützlich. Deshalb war auch ein Rambouillet nicht verzichtbar. Doch darf man nicht übersehen, daß eine gewisse Exklusivität immer wieder Besorgnis bei den kleineren Partnern der EG ausgelöst hat. In der Kommission muß dann jeweils viel Mühe aufgewendet werden, um ein von Ratstagung zu Ratstagung aufkeimendes Mißtrauen abzubauen. ({10}) Meine Damen und Herren, mögliche Fehlentwicklungen, mindestens aber unnötige Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Ebenen der EG-Instanzen könnten vermieden werden, wenn der Tindemans-Bericht zur maßgeblichen Grundlage für die Entscheidungen in der Europäischen Gemeinschaft gemacht würde. Hier handelt es sich um eine realistische Bestandsaufnahme mit praktischen Lösungsvorschlägen aus einem Guß. Aus dieser großartigen Arbeitsunterlage sind unschwer die Leitlinien für die künftige Europapolitik zu entwickeln, dies um so mehr, als die Arbeit des belgischen Ministerpräsidenten weitgehend Zustimmung gefunden hat. ({11}) Die positive Beurteilung durch die Bundesregierung wird voll und ganz von der Opposition geteilt. ({12}) Hier darf die erfreuliche Anmerkung gemacht werden, daß bislang, trotz des heraufziehenden Wahlkampfs - und vielleicht die heutige Rede des Kollegen Strauß ausgenommen -, ein Stück Gemeinsamkeit quer durch alle Parteien bewahrt werden konnte. Auch aus anderen Ländern sind ähnlich positive Stellungnahmen zu vermerken. Diese europaweite Akklamation wirkt fast schon beängstigend; denn soviel Übereinstimmung gibt die Wirklichkeit keineswegs her. ({13}) Im Weinkrieg in der EG bis hin zum Fischereikrieg in der NATO scheint sonst alles mehr auf Streit als auf Harmonie gestimmt. Und doch ist der Tindemans-Bericht ein neuer Silberstreif am europäischen Horizont. Um mit einem Begriffsbild aus der Welt der Technologie zu sprechen: die zweite Generation der Europäer hat sich an die Arbeit gemacht, das europäische Weltbild, das Männer wie de Gasperi, Schuman und Adenauer entworfen haben, praxisnah zu formen und zu vollenden. ({14}) Auch dieser zweiten Generation werden Rückschläge nicht erspart bleiben. Die Bundesregierung ist vom Europäischen Rat gerade mit einer herben Enttäuschung zurückgekehrt. Die für den 5. Mai 1978 projektierten Direktwahlen zum Europäischen Parlament geraten wegen innenpolitischer Schwierigkeiten in den einzelnen EG-Ländern nun doch in Gefahr. Für den anvisierten Zeitpunkt ist das Europäische Parlament zwar noch nicht verloren - und wir werden auch nicht aufgeben -, aber es zeigt sich eben erneut, daß das nationale Hemd die Entscheidung der nationalen Parlamente stärker beeinflußt als der europäische Rock. Wir sollten uns darüber nicht mokieren und sollten schon gar nicht den europäischen Schulmeister spielen wollen. Unser politischer Beitrag in Europa darf nicht aus wirtschaftlicher Kompetenz, sondern muß sehr viel mehr aus europäischer politischer Gesinnung abgeleitet sein. Dies gerade wegen unserer wirtschaftlichen Stärke, die niemand leugnen will und auf die wir als Gemeinschaftsleistung von Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Gewerkschaften, Regierung und Parlament stolz sein können. Wenn wir aber hier nicht behutsam vorgehen, wenn wir nicht die Bereitschaft zur dienenden Mitwirkung glaubhaft machen können, werden wir nur Ressentiments wecken und keine Freunde und Partner dazugewinnen können. Die Attribute „Zucht" und „Schulmeister" kann man sich schnell zulegen oder zugelegt bekommen; als werbende Markenartikel werden sich diese Attribute für uns aber ganz gewiß schlecht eignen. Auch im Umgang mit Freunden tut manchmal ein bißchen Psychologie Wunder. Mit „Schirm, Charme und Melone" konnte das Fernsehen den ganzen Kontinent begeistern. Vielleicht versucht es auch der Bundeskanzler einmal mit Schwung, Charme und Schiffermütze. Dies könnte auch im Umgang mit der Bürokratie in Brüssel nützlich sein. Ganz besonders vordringlich scheint mir die Klimaverbesserung bei den deutschen Mitarbeitern in der Kommission zu sein. Wer sich einmal in Brüssel umgetan hat, wird unschwer feststellen, daß dort der „Frust" umgeht. Es wäre schade, wenn bei dieser Gruppe praktizierender Europäer Begeisterung in Verbitterung umschlagen würde. Daß die innenpolitischen Interessengegensätze in einigen Partnerländern den Weg zu Europa zu einem Hindernislauf werden lassen, ist gewiß zu beklagen, aber letztlich wird hier nur der Stand der europäischen Bewußtseinsbildung demonstriert. Wie sehr regionale und parteipolitische Egoismen häufig den Weg zu vernünftigen Lösungen verbauen, erleben wir schließlich im eigenen Lande zur Genüge. Ein Beispiel sei für viele angeführt: Die grundgesetzlich verordnete, von allen Parteien gutgeheißene, wirtschaftlich und politisch notwendige und wissenschaftlich untermauerte Neugliederung des Bundesgebietes kommt keinen Schritt weiter. Das interfraktionelle Besitzstandsdenken und die wenig ausgeprägte Neigung zum Machtverzicht lassen überkommene Strukturen fortbestehen, mögen sie auch noch so zufällig entstanden sein und sich als politisch willkürliche und wirtschaftlich unsinnige Gebilde herausgestellt haben. Wer aber nicht in der Lage ist, Probleme der Neugliederung im eigenen Land zu lösen, weil Widerstände quer Beet vorhanden sind, sollte Verständnis für die Schwierigkeiten der anderen auch in Europa haben. ({15}) Toleranz und Geduld müssen den Weg nach Europa ständig begleiten. Für die nächste Phase europäischer Politik verspricht man sich viel oder sogar fast alles von den Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Ein direktgewähltes Parlament wird sich - so meint man - politische Kompetenzen erstreiten. Mit ausreichenden parlamentarischen Befugnissen gegenüber der Kommission und gegenüber den nationalen Parlamenten soll jene Energie wiedergewonnen werden, die zur Vollendung der europäischen Einheit dringend gebraucht wird - eine große Erwartung, ein hoher Anspruch, der hoffentlich dann auch erfüllt werden kann. Deshalb bleibt in der Tat die Direktwahl zum Europäischen Parlament das vorrangige Thema. Auch wenn wir für die Bundesrepublik Deutschland einvernehmlich mit allen Fraktionen eine positive Entscheidung dazu herbeigeführt haben und diese Frage für uns schwerwiegende innenpolitische Probleme nicht mehr bereithält, darf nicht übersehen werden, daß das Verfahren der Entsendung der Berliner Vertreter nach Europa noch zu klären bleibt. Wir wissen um die Zugehörigkeit von Berlin ({16}) zur Europäischen Gemeinschaft; wir wissen auch um die Proteste der Sowjetunion. Wir wollen die sowjetische Regierung gewiß nicht provozieren und wir werden auch die Belastbarkeit des Viermächteabkommens nicht testen. Aber wir können es nicht zulassen, daß sich die Stellung der Berliner Vertreter in den europäischen Gremien verändert - und dies in einem Europa, das sich klar zu diesem Berlin bekannt hat. Gerade in einer Zeit, in der die Sowjetunion gegenüber Berlin ihre Politik der Isolierung besonders betont und in der sie ihre alte These von der Drei-Staaten-Theorie wieder neu belebt, müssen wir sorgfältig darauf achten, daß die Integration Berlins in Europa nicht beeinträchtigt wird. ({17}) Die Wahl zum Europäischen Parlament muß auch für die Berliner Abgeordneten zu einer konfliktfreien Selbstverständlichkeit werden. Schließlich gilt der EG-Vertrag von Anbeginn ohne Einwände in Berlin. Beanstandungen hat es dazu auch später nicht gegeben. Berlin genießt von daher als Teil der EG z. B. die Vorteile des Regionalfonds ebenso wie die des Sozialfonds. Die Bundesregierung hat für Berlin handeln können; sie hat Berlin im Zusammenhang mit der Bundesrepublik Deutschland in den Geltungsbereich der Römischen Verträge gebracht. Das Viermächteabkommen hat diesen Zustand bestätigt. Es ist deshalb nicht zuviel verlangt, sich ohne Einschränkung auf den Boden des Viermächteabkommens zu stellen. Wenn es in Berlin daher auch keine Direktwahl geben wird, so ist es wegen der Zugehörigkeit Berlins zum Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem des Bundes andererseits gerechtfertigt, die Berliner Abgeordneten aus der Kompetenz des Bundestages nach Europa zu entsenden. Nur so können Mißdeutungen und Fehlinterpretationen pro futuro verhindert werden. Es muß, meine Damen und Herren, mit letzter Sicherheit ausgeschlossen sein und ausgeschlossen bleiben, daß Berlin durch die Hintertür doch noch zum zehnten EG-Land wird. In einer solchen Lösung läge auch ein Stück offensiver Berlin-Politik. Gefährdete Bereiche wären mit dieser Lö16380 sung abgeschirmt. Bei der aggressiven Politik des Ostblocks können wir darauf nicht verzichten. Im übrigen hat ja nicht nur die ideologische Auseinandersetzung schärfere Formen angenommen, sondern die militärischen Anstrengungen des Warschauer Paktes gehen damit einher. Sie haben 1976 ein Ausmaß erreicht, das das Verteidigungsbedürfnis der Länder des Warschauer Pakts bei weitem übersteigt. Wir werden uns gleichwohl nicht in einen Rüstungswettlauf stürzen. Uns wird man nicht als Antreiber in einem Wettbewerb um militärische Stärke finden. Niemand sollte aber unsere Entschlußkraft und unsere Fähigkeit bezweifeln, mit dem Schritt zu halten und darauf zu antworten, was an Bedrohung um uns herum aufgebaut wird. Wo es gilt, der Offensivkraft des Warschauer Paktes mit einem starken Verteidigungsbündnis entgegenzutreten, werden wir dies auch mit einem Sparhaushalt durchführen und sicherstellen. Unsere Streitkräfte sind kontinuierlich mit modernen Waffen, mit modernem Gerät ausgerüstet worden. Der Verteidigungshaushalt ist seit 1970 stets gewachsen. Wir sind darauf nicht stolz und darüber nicht glücklich, aber es macht deutlich, daß wir keine Träumer sind, sondern daß wir die Aufrüstung der Staaten des Warschauer Paktes zur Kenntnis genommen und darauf angemessen reagiert haben. Meine Damen und Herren, solche Tatarenmeldungen, wie sie hier und da verbreitet wurden, nach denen die Streitkräfte des Warschauer Paktes in 24 Stunden am Rhein stehen, können deshalb als Militärschocker dem Märchenprogramm der Kinderstunde zugeordnet werden. Verteidigungsminister Leber hat dazu treffend bemerkt, daß das drohend geschilderte Ereignis nur dann Wirklichkeit werden könne, wenn wir die ganze Bundeswehr zur Verkehrsregelung für die Durchfahrt der Streitkräfte der kommunistischen Staaten einsetzten. Diese Absicht besteht nun ganz gewiß nicht. Dies weiß die Sowjetunion sehr genau, und auch bei uns sollte sich dies herumgesprochen haben. Doch werden solche törichten Behauptungen immer wieder verbreitet. Die Lust am Untergang scheint sich nun ausgerechnet bei jenen Gruppen und Publikationsorganen einzustellen, die sonst sehr betont den Antikommunismus pflegen und die notwendige Stärkung der inneren und äußeren Abwehrbereitschaft predigen. Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungswille können aber nur dort entstehen,. wo der dazu erforderliche Einsatz des Lebens nicht von vornherein aussichtslos und deshalb sinnlos erscheint. Genau diesen Defätismus aber verbreiten jene, die glauben, zum Kreuzzug gegen die Kommunisten aufrufen zu müssen. ({18}) Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben dagegen immer gewußt, daß unsere Welt nicht so friedlich ist, daß man auf Verteidigungskraft und Verteidigungsbereitschaft verzichten könnte. Nur das atlantische Bündnis ist die notwendige Ergänzung zu den politischen Bemühungen um Ausgleich und Entspannung in Europa. Die erforderliche Stärke zur Wahrung des Gleichgewichts der Kräfte können wir nur im atlantischen Bündnis erlangen. Militärische Sicherheit ist national nun einmal nicht mehr zu haben. Ohne die NATO ist besonders die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr denkbar. Wir sind keine Militärmacht, die dem Warschauer Pakt Paroli bieten könnte. Die nuklear-strategische Rüstung der Sowjetunion kann nur durch die nuklear-strategische Macht der Vereinigten Staaten aufgewogen werden und durch nichts anderes. Sosehr die äußere Verteidigung ihren anerkannten Rang für die existenzielle Sicherung der Lebensinteressen des deutschen Volkes und des freien Europa hat, so zentral ist doch zugleich die Sicherung der inneren Lebensbedingungen. Kein Wunder also, daß die Probleme der Ordnung und Gesundung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse in Luxemburg bei der Ratstagung im Vordergrund standen. Mit Recht hat der Bundeskanzler die Partner beschworen, sich um den nötigen Gleichklang der Wirtschafts- und Währungspolitik zu bemühen und Stabilitätsbewußtsein zu zeigen. Tatsächlich werden wir Europäer bei den Vorstellungen, die Tindemans entwickelt hat, nur weiterkommen, wenn es zuvor gelingt, zu einem besseren Gleichgewicht auf den Gebieten der Wirtschaft und der Währung zu kommen. Gewiß ist die Bundesrepublik Deutschland hier einen kräftigen Schritt voraus. Wir haben allerdings auch nicht nur vom Sparen und der Stabilität geredet, sondern wir haben danach gehandelt und uns dabei häufig Kritik von seiten der Betroffenen zugezogen. Die Auseinandersetzungen um das Haushaltsstrukturgesetz mit seinen einschneidenden Maßnahmen dürfte noch allen in guter Erinnerung sein. Aber, meine Damen und Herren, es hat sich gelohnt, und es hat sich ausgezahlt: Nicht nur der Haushalt ist auf den richtigen Weg gebracht, um seine strukturellen Schwächen zu überwinden und die gefährlichen Haushaltsdefizite abzubauen, auch die Wirtschaft hat wieder Tritt gefaßt. In der Etatberatung - davon bin ich überzeugt - wird es uns gelingen, die Marke für die im Haushaltsjahr 1976 aufzunehmenden Kredite unter die 25-MilliardenDM-Grenze zu drücken. Dies ist mehr als nur ein wichtiges Signal. Die oppositionellen Formeln vom Staatsbankrott und vom Offenbarungseid dieser Regierung können damit in den Papierkorb wandern. ({19}) Der konjunkturelle Aufstieg ist nicht bloß Hoffnung und Wunsch. Wir brauchen ihn nicht herbeizureden; er ist da. Die Arbeitnehmer spüren es. Die Arbeitgeber und ihre Verbandsvertreter bestätigen eine sichtbare und durchgreifende Belebung. Der Erfolg einer nüchternen Wirtschaftspolitik der Regierung kann nicht mehr wegdiskutiert werden. ({20}) Nach den maßvollen Tarifabschlüssen, nicht zuletzt auch in der Metallindustrie, für die den Tarifpartnern Dank zu sagen ist, dürfen wir auch davon ausgehen, daß der Aufschwung nicht durch überhöhte Lohn- und Tarifabschlüsse gefährdet wird. Dies darf aber auch nicht dadurch geschehen, daß die Unternehmer den Spielraum für Preiserhöhungen unnötig und über Gebühr strapazieren. Natürlich sind Gewinne notwendig für die so dringend erforderlichen Erweiterungsinvestitionen. Deshalb ist es auch nicht zu beanstanden, daß dort höhere Preise festgesetzt werden, wo die Unternehmer in den roten Zahlen stecken. Aber der Aufschwung nach Maß verlangt auch hier maßvolles Handeln. Es wäre fatal, müßten sich die Arbeitnehmer über kurz oder lang düpiert fühlen. Es scheint jedoch so, daß dies auf allen Seiten begriffen wurde und daß unserem Land der Aufschwung erhalten bleibt, der für die Gesundung der Volkswirtschaft so wichtig ist. Ich will nicht mit dem Deutschen Bankenverband darüber streiten, in welcher Etage der Konjunkturfahrstuhl gerade angelangt ist. Einvernehmen besteht jedenfalls darüber, daß er aus dem Kellergeschoß heraus ist. Unsere Wirtschaftspolitik hat damit das rettende Ufer erreicht. Wir dürfen dabei keineswegs übersehen, daß die Zahl der Arbeitslosen nach wie vor erschreckend hoch ist. Trotz sinkender Tendenz ist hier für alle Verantwortlichen die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate vorgezeichnet. Die schwierige Lage wird durch die bedenkliche Komponente der Jugendarbeitslosigkeit noch besonders verschärft. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften stehen hier vor ihrer Bewährungsprobe und damit zugleich unser System der sozialen Marktwirtschaft. Ich bin sicher, daß unsere Marktwirtschaft auch dieses Problem bewältigen wird. Aber alle Parteien sollten endlich erkennen, daß es nicht darauf ankommt, sich auf dem Rücken der Arbeitslosen und insbesondere auf dem Rücken der arbeitslosen Jugendlichen zu profilieren. Taktisches Verhalten aus innenpolitischen Erwägungen ist hier absolut fehl am Platze. Wenn es in unserer aktuellen Situation so etwas wie eine Verpflichtung zu solidarischem Handeln über die Parteigrenzen hinweg überhaupt gibt, dann in dieser Frage. Wir werden die Arbeitslosigkeit und die Probleme der Jugendarbeitslosigkeit sicher nicht bis zum Wahlkampf und bis zum Wahltag beseitigen können. Zeigen wir aber den Betroffenen, daß wir in der Lage sind, gemeinsame Lösungen für sie anzubieten! Gehen wir dazu gemeinsam an die Arbeit! ({21})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Klepsch.

Dr. Egon Alfred Klepsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001127, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einer meiner Vorredner hat mit Recht gesagt, daß die Europadebatten in diesem Hause in der Vergangenheit mehr Übereinstimmung gezeigt hätten, als das bisher heute der Fall gewesen sei, ({0}) obwohl die meisten von uns erwartet hätten, daß das auch heute so sein könnte. - Herr Kollege, um auf Ihren Zwischenruf zu antworten: Das ist die etwas merkwürdige Form der Regierungserklärung, die Herr Schmidt, unser Bundeskanzler, hier abgegeben hat, wobei ich annehme, daß sie noch ein wenig im Strudel des zurückliegenden Wahlkampfes gelegen hat. ({1}) - Sie hören nicht gern, daß Herr Strauß dann auf die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers eingegangen ist. Aber das, was wir anschließend von Herrn Brandt gehört haben, hat uns auch in vielem nicht nähergebracht. Ich möchte den Versuch machen, zunächst auf zwei Fragen des Kollegen Brandt zu antworten. Er hat gefragt, mit wem denn das Europa gebaut werden soll, von dem Herr Strauß gesprochen hat. Ich gehe davon aus, daß er dessen Ausführungen nicht ganz gefolgt ist. Franz Josef Strauß hat nämlich völlig klar hier dargelegt, daß der Bau der Vereinigten Staaten von Europa, um die es uns geht, erfolgen muß, gestützt auf alle demokratischen Kräfte in Europa, auf die Sozialdemokraten, die er ausdrücklich aufgeführt hat, auf uns oder die Liberalen oder die Konservativen oder wen auch immer. Zu diesem Satz stehen wir. Allerdings hat der Kollege Brandt hinsichtlich der Darstellung der Kräfte, mit denen zusammen wir Europa aufbauen wollen, eine etwas merkwürdige Form gewählt. ({2}) - Das war eben eine der Entgleisungen, die wir von ihm gewohnt sind. ({3}) Er hat von den griechischen Obristen und von Halbfaschisten gesprochen. Er hat eine etwas merkwürdige Form der Einstufung der Opposition in diesem Hause gewählt. Die CDU hat ja immerhin in Baden-Württemberg 57 % der Wähler hinter sich. Ich möchte mit allem Nachdruck sagen: Wenn wir darüber reden, welche Möglichkeiten der Einflußnahme wir haben, um der Regierung bei ihrer Arbeit für Europa als Opposition zu helfen, so muß ich feststellen, daß es ganz sicher - neben der Diskussion in diesem Hause - die Möglichkeiten des Ausnutzens der Verbindungen sind, die wir im internationalen Raum zu gleichgesinnten und gleichdenkenden politischen Gruppierungen haben. Diese Möglichkeiten nutzen wir, und zwar mit Nachdruck. Der Kollege Brandt hätte sich bei dieser seiner Betrachtung vielleicht ein wenig an die eigene Nase fassen sollen. ({4}) Er hätte sich die Frage stellen sollen, wie weit es ihm denn nun gelungen ist - er hat ja Regierungschefs, die zum Teil auch Parteiführer sind, aufgezählt -, in den vielen Treffen, die mit großem Gepränge veranstaltet und vom Fernsehen über16382 tragen wurden -- ich nenne das Zusammentreffen der Sozialistischen Internationale, die Zusammentreffen auf bilateraler Ebene mit Herrn Mitterand und wem auch immer zur Vorbereitung und Einstimmung der großen Gipfelkonferenz in Luxemburg -, diese Übereinstimmung herzustellen. Da müssen wir doch - und das sage ich mit Nachdruck - auf das hinweisen, was der Kollege Strauß hier vorhin vorgetragen hat. Die Schwierigkeit in Italien - und ich benutze die Gelegenheit, ein Wort dazu zu sagen - liegt nicht darin, daß die Democrazia Cristiana den compromesso storico betreibt. Wer dieses Unternehmen betreibt, das sind die Kommunisten, die sich entschlossen haben, lieber die Christlichen Demokraten als die Sozialisten als Koalitionspartner auszusuchen. Die Democrazia Cristiana ist das Bollwerk in Italien, die dem bis zum heutigen Tage und bis zur Stunde widersteht. Wenn es einen solchen Druck in Italien gibt, so ist das das Werk der Sozialisten, ({5}) des Parteiführers di Martino und seiner Leute - und der Kollege Brandt kann das doch nicht ganz übersehen haben -, die sich auf ihrem Parteikongreß dazu entschlossen haben, zu bestimmen, daß sie nicht bereit sind, die Koalition mit den Christlichen Demokraten fortzusetzen oder eine christlich-demokratische Minderheitsregierung in Italien zu unterstützen, wenn nicht die Kommunisten einbezogen werden. ({6}) Das ist die Koalitionsbedingung der Partner, um mit dem Kollegen Brandt zu sprechen, die er in Italien hat, und das ist der Grund, wieso es dort so schwer möglich ist, eine Mehrheit der Demokraten, die stabile Politik betreiben kann, zu formen. Ich möchte deshalb diese Geschichtsklitterung mit allem Nachdruck zurückweisen. Ich möchte auch darauf verweisen, daß die Form, in der Herr Brandt mit Herrn Mitterand die Entscheidung vorbereitet hat, auch der Erwähnung verdient. Ich schweife ungern ab, möchte aber sagen: Ein damaliges Mitglied des Kabinetts, der heutige amtierende Finanzminister, Herr Apel, hat seinerzeit während des französischen Präsidentschaftswahlkampfes mit allem Nachdruck die Wahl von Herrn Mitterand, dem Kandidaten der Volksfront, als das Erstrebenswerte und Bessere betrieben und unterstützt. ({7}) Das wird doch wohl noch in Erinnerung gerufen werden dürfen, ({8}) zumal auch jetzt wieder die Erfolge der Volksfront vom Kollegen Brandt keineswegs kleiner gesehen werden wollen, als sie in Frankreich tatsächlich eingetreten sind. Ich möchte deshalb an dieser Stelle sagen: Das Hauptproblem beim Bau Europas liegt für uns in der weitgehenden Rücksichtnahme, die die deutsche Sozialdemokratie im Sinne einer Kaschierung von Volksfrontaktionen ihrer Partner in den anderen europäischen Ländern übt. Wir wissen sehr wohl, daß wir da den sehr drastischen Hintergrund für die Probleme finden, um die auf den Gipfelkonferenzen gerungen wird. Ich kann nur noch einmal wiederholen, was der Kollege Strauß gesagt hat: Wir sind bereit, die europäische Einigung mit allen Demokraten Europas gemeinsam zu betreiben. Wenn man uns nun aber fragt, wie wir die gegenwärtige Lage beurteilen, so muß ich allerdings sagen, daß die Erwartungen, mit denen wir das Jahr 1976 begonnen haben, nicht mit der Situation zu vergleichen sind, die wir vorfinden. Wie sieht es nach dem Gipfel in Luxemburg aus, einen Gipfel, für den umfangreiche Vorbereitungen getroffen worden sind? Es war tatsächlich so, daß auf diesem Gipfel drei zentrale Fragen zur Erörterung standen. Diese drei zentralen Fragen waren einmal die Möglichkeiten, sich in der gegebenen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialsituation über eine gemeinsame Konzeption auseinanderzusetzen, zum zweiten die Frage der europäischen Direktwahl und zum dritten die Beschlußfassung über den Tindemans-Bericht. Diese drei großen Themen standen zur Erörterung. Wenn ich nun das Ergebnis der Konferenz betrachte, so fällt mir ein markanter Beschluß auf: Man hat Jean Monnet zum Ehrenbürger Europas gemacht. Ich habe große Achtung vor Jean Monnet, und ich beglückwünsche ihn dazu genau wie wir alle. Das ist aber als Ergebnis eines solchen Gipfels etwas wenig. Ich möchte gerade den Herrn Bundeskanzler, der mit Kritik an den europäischen Institutionen nie sehr sparsam gewesen ist, darauf hinweisen, daß sein Gedanke, den Gipfel in einer gewissen Regelmäßigkeit zusammentreten zu lassen, um ihn als ein europäisches Krisenmanagement zu benutzen, allerdings, wenn man ihn auf seine Wirksamkeit untersucht, ein mehr als enttäuschendes Ergebnis erbracht hat; denn der Einigungsspielraum der Macher, derer, die als die Chefs auf diesem Gipfel zusammentreten, um politische Entscheidungen zu treffen, ist offensichtlich minimal. Nimmt man die drei Themen, über die man sich unterhalten hat, so muß man die Frage stellen - und dies muß die Opposition tun -, in welchem Umfange die Regierung diese Konferenz vorbereitet hat. Es fand ja ein sorgfältig vorbereitetes Zusammentreffen mit der französischen Regierung statt, es hat eine Reihe anderer Vorbereitungen gegeben. Noch bis wenige Tage vor der Konferenz haben wir sehr optimistische Kommentare über das zu Erwartende gehört. Das nimmt auch nicht wunder; denn eigentlich hat sich diese Konferenz zumindest in zwei von diesen drei Punkten mit Themen beschäftigt, die sie sich selber gestellt hatte. Ich sage zunächst ein Wort zur europäischen Direktwahl. Hier ist die Überraschung sicher am größten, daß es zu keiner Einigung gekommen ist. Denn man erinnert sich vielleicht daran, daß es die urDr. Klepsch eigene Idee der Regierungschefs gewesen ist, diesen Gedanken in den Vordergrund zu bringen, einen Gedanken, von dem viele vorher, als er aufkam, gedacht hatten, er würde als eine Art Ablenkungsmanöver, als ein Feigenblatt für sonstige Untätigkeit in der europäischen Einigungspolitik benutzt werden. Aber wir haben alle gesehen, daß er sein Eigengewicht bekommen hat, daß der Gedanke der direkten Wahl des Europäischen Parlaments auch die Diskussion über die Weiterführung der politischen Einigung Europas angefacht und Bewegung herbeigeführt hat, z. B. dadurch, daß sich die politischen Gruppierungen in Europa bemühten, sich im Hinblick auf dieses Ereignis enger zusammenzuschließen. Er hat dadurch Bewegung gebracht, daß man die Vorbereitung einer Wahlauseinandersetzung auf europäischer Ebene in den politischen Gruppen betrieb. Er hat dadurch Bewegung gebracht, daß man diesen Prozeß im Zusammenhang mit den Vorschlägen sah, die der belgische Premierminister Tindemans im Auftrag der Regierungschefs vorgelegt hat. Diese Bewegung ist vielleicht dem einen oder anderen unerwünschter gewesen, als er es zunächst gesehen hat. Aber ich erinnere Sie daran, daß noch im Dezember des vergangenen Jahres in Rom grundsätzlich der Termin und das Unternehmen direkte Wahl des Europäischen Parlaments festgelegt wurden. Nun komme ich auf den Gedanken zu sprechen, um den es mir besonders geht. Das Europäische Parlament hat nahezu einstimmig einen Entwurf für die Wahl des Europäischen Parlaments vorgelegt. Es war ein Kompromiß. Sie wissen, daß sowohl meine Fraktion im Bundestag als auch meine Fraktion im Europäischen Parlament in der Frage der Sitzzuteilung der Auffassung waren, daß es etwa für Deutschland durchaus kein sehr günstiger Kompromiß ist; auch der dort zustande gekommen ist. Das hat uns nicht daran gehindert, diesen vom Europäischen Parlament getragenen und beschlossenen Entwurf mit zur Grundlage unserer Aussage zu machen, und das hat uns auch nicht daran gehindert, als unmittelbar vor dem Gipfel das Europäische Parlament erneut zusammentrat, -um sich dazu zu äußern, den gleichen Vorschlag, den gleichen Kompromiß mit Nachdruck zu unterstützen. Ich kann es eigentlich nicht verstehen, daß, nachdem der Rat Arbeitsgruppen eingesetzt hatte, die mehrere Monate lang tätig gewesen sind, um die technischen Details der Entscheidung vorzubereiten, das Ergebnis so gewesen ist, daß man sich in Luxemburg noch lange darüber hat unterhalten müssen, ob man die Wahlfrist von Donnerstag bis Sonntag abend oder von Donnerstag bis Montag abend festlegt. Ich glaube, es ist der Regierungschefs unwürdig, ({9}) sich langatmig über diese Sache auseinanderzusetzen. Herr Thorn hat uns versichert, daß es kein einfaches Problem war, diese Entscheidung zu treffen. Das hätte nun wirklich bei der Vorbereitung bewältigt sein können. Merkwürdig ist auch, daß man in zwölfter Stunde immer neue Vorschläge über die Zusammensetzung des Parlaments hört, wo der Wille des Parlaments selber, aller beteiligten politischen Gruppen in Europa, auch aller Gruppen, auf deren Schultern, ob seitens der Regierung oder der Opposition, die dort vertretenen Regierungschefs ruhen, klar ist. Deshalb, mit Verlaub zu sagen, bin ich nicht der Auffassung, daß man darüber einfach hinweggehen kann. Klar ist: dieser Vorschlag ist die Diskussionsgrundlage, und daran können eigentlich nur ganz geringfügige Änderungen vorgenommen werden, wenn man den politischen Kräften in Europa und dem Parlament nicht sagen will: es handelt sich ausschließlich darum, daß ein Konventikel von Regierungschefs allein die Verantwortung für die Entwicklung übernimmt. Lassen Sie mich hinzufügen, daß sich der Rat als Entscheidungsgremium ohnehin nur sehr, sehr unvollkommen bewährt hat. Die Hoffnungen, die wir an ihn gerichtet haben, sind nicht erfüllt worden. Das muß man heute einmal feststellen. Wenn der Rat etwa den Tindemans-Bericht einer noch größeren Zahl von Fachkräften und Arbeitsgruppen überweist, dann frage ich mich nur, ob diese die Arbeiten in derselben Intensität und mit demselben Erfolg wie hinsichtlich der Konvention über die Direktwahl betreiben. Ich möchte fragen: Hat sich der Rat nicht damit übernommen, daß er so viele Details regeln will? Das bezieht sich insbesondere auf den Gipfel. Muß Europa nicht mehr sein als eine Aufaddierung kleinster Nenner, die die Summe der Übereinstimmung in den Arbeitsergebnissen der nationalen Bürokratien ist? ({10}) Vom Rat erwarten wir Entscheidungen. Dafür gibt es einen Gipfel, damit politische Entscheidungen getroffen werden. Aber bei den zentralen Fragen hat man sich in Luxemburg nicht einmal über das Kommuniqué zu den relevanten Fragen einigen können. Deshalb sage ich, daß das für uns alle niederschmetternd ist, weil wir so große Erwartungen in diese Gipfelkonferenz gesetzt hatten und weil wir bezüglich des Berichts, den Herr Tindemans vorgelegt hat, der bekannten Auffassung waren. Ich verstehe gar nicht, was Herr Brandt da vorhin von Herrn Eyskens gesagt hat; es war schon Herr Tindemans, der den Auftrag erhalten und fristgerecht innerhalb eines Jahres ausgeführt hat. Die Frage ist jetzt folgende. Wir, die Christlichen Demokraten, sind der Auffassung, daß der Tindemans-Bericht und seine Vorschläge eine fundierte, pragmatische, realistische, ausgewogene Basis für den Versuch darstellen, gemeinsam einen Schritt vorwärtszugehen, und zwar für den Versuch von den Sozialdemokraten bis zu den Konservativen. Dieser gemeinsame Schritt vorwärts verlangt natürlich von vielen, daß nicht alle ihre Blütenträume gleich in der Zeitspanne, für die der Entwurf gemacht ist, reifen sehen. Er verlangt aber auch von anderen, daß sie ein klein wenig weitergehen, als sie in den Vorgesprächen zu gehen bereit waren. ({11}) Da frage ich wieder. Leider kann ich den Vorsitzenden der SPD nicht ansprechen. Aber ich kann ja Sie fragen, Herr Bundeskanzler, wie weit es Ihnen gelungen ist, mit Herrn Wilson oder mit Herrn den Uyl oder mit Herrn Mitterrand zurechtzukommen. Ich sage, gerade zu Herrn Mitterrand gewandt: Mir war die Form seiner Zustimmung sehr bedenklich, die er, gebunden an seinen Volksfrontpartner, in Brüssel gegeben hat. Er hat sich für die Direktwahl unter der Bedingung ausgesprochen, daß gleichzeitig ein bestimmtes Wahlsystem, von dem er wußte, daß es die Mehrheit des französischen Parlaments ganz sicher nicht beschließen wird, eingeführt wird. Eine solche Form der Zustimmung erinnert mich fatal an eine verklausulierte Ablehnung. ({12}) - Ich danke für diesen Zwischenruf. Ich habe schon vorhin mit Interesse dem Kollegen Brandt zugehört. Ich will jetzt aber keine Retourkutsche machen. Sie wissen ja, Herr Kollege Corterier, daß es mir nicht liegt, das zu tun. Vorhin wurden ja einige Kollegen aus dem Europäischen Parlament apostrophiert und gefragt, ob sie nicht wüßten, daß dort auch Kommunisten säßen. ({13}) Ich darf Ihnen dazu dies sagen: Wir haben wirklich die leidvolle Erfahrung, daß ein Teil der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament eine gewisse Vorliebe hat, zusammen mit den Kommunisten zu stimmen. - Ich hätte es nicht gesagt, wenn Sie mich durch den Zuruf jetzt nicht dazu veranlaßt hätten. ({14}) Auf die Frage eingehend, möchte ich jetzt sagen: Jeder weiß, wer zur christlich-demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments gehört. Selbstverständlich haben wir in dieser Fraktion auch einen Partner in Frankreich; das ist die Formation des Réformateurs unter unseren Freunden Lecanuet und Poher, von denen letzterer sogar der Parlamentsfraktion angehört und Senatspräsident von Frankreich ist. Wir haben mit ihnen volle Übereinstimmung. Selbstverständlich haben wir auch zu anderen Parteien, die nicht zu unserer Fraktion gehören, Kontakte. Wir versuchen eben gerade, diese Parteien zu bewegen, in der europäischen Entwicklung mit uns mitzuziehen. Das ist gerade der Appell, den ich an Sie richte. Wir könnten die Probleme in Italien sofort lösen. Wenn die italienischen Sozialisten ihre Volksfrontpolitik aufgäben und mit der Democrazia Cristiana die Politik des Centro Sinistro fortsetzten, gäbe es gar keine Probleme. Das wissen Sie doch genau. Sie wissen auch ganz genau, daß überall in Italien, wo es möglich war, Kommunisten und Sozialisten als Volksfront nach den letzten Regionalwahlen gemeinsam die Regierung gebildet haben. Dies ist der Druck dort. Ich möchte mich aber mit all diesen Fragen gar nicht so sehr beschäftigen, weil ich noch zu zwei anderen Punkten etwas sagen möchte. Ich mußte diesen Aufwasch angesichts dessen, was vorhin über Herrn Strauß nach seinen Äußerungen über Herrn Soares gesagt wurde, aber auch erledigen. Herr Kollege Strauß hat hier nur gesagt, daß Herr Soares auf einer Kundgebung in Rom für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten eingetreten ist. ({15}) Das stimmt. Es stimmt natürlich auch, daß Herr Soares für eine große Zeitspanne zusammen mit den Kommunisten agiert hat. Erst als sie ihn selber ausschalten wollten, hat er sich mit Nachdruck dagegen gewandt. Ich will gar nicht untersuchen, was Taktik bei ihm war und welche sonstigen Motive eine Rolle gespielt haben. Das interessiert mich im Augenblick nicht. Ich bin glücklich darüber, daß wir am letzten Aprilsonntag Wahlen in Portugal haben werden. Ich bin überzeugt, daß wir in Portugal dann ein Parlament bekommen werden, das diesen Namen in vollem Umfang verdient. Ich freue mich, daß es unserer gemeinsamen Anstrengung - der Ihren wie der unseren - gelungen ist, dort eine kommunistische Machtergreifung, die schon sehr weit fortgeschritten zu sein schien, zu verhindern. Zum Problem der Direktwahl möchte ich noch einmal sagen: Wir bleiben dabei, daß der Kompromißvorschlag, den das Europäische Parlament vorgelegt hat, für uns die ausgewogenste Lösung und die Lösung, die im Augenblick durchsetzbar erscheint, ist. Sollte man auf den Text von Rom zurückgreifen wollen, so bietet sich hinsichtlich der Zahl auch die Möglichkeit, sich diesem Vorschlag des Europäischen Parlaments anzupassen. Ich räume gern ein, daß mich geringfügige Korrekturen nicht bewegen würden. Die entscheidende Frage für uns bleibt diese: In einem europäischen Wahlkampf, den wir treiben wollen, in einer Auseinandersetzung über den politischen Kurs, der in Europa einzuschlagen ist, kann man der Bevölkerung in den europäischen Ländern gegenüber natürlich nicht mit den allerkleinsten Größen operieren. Wir wollen den Tindemans-Bericht nicht in den Schubladen derselben Bürokratie verschwinden sehen, die es nicht fertiggebracht hat, eine so einfache Sache wie den bereits vorliegenden Beschluß der Regierungschefs und das von den Fraktionen des Europäischen Parlaments getragene Projekt der europäischen Direktwahl zum politischen Abschluß zu bringen. Herr Thorn hat uns versichert, daß er noch in seiner Ratspräsidentschaft versuchen wird, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Der Regierung möchte ich sagen, daß wir in dieser Frage wie auch in der Frage der Durchsetzung der Forderungen des Tindemans-Berichtes hier in diesem Bundestag eine völlig geschlossene Phalanx darstellen. Die Diskussion, die wir über Fragen der Strukturen der politischen Kräfte heute morgen geführt haben, soll keineswegs ausgeklammert werden. Wir sind durchaus der Auffassung, daß das Europa, das wir errichten wollen, jenes Europa sein soll, das eine rechtsstaatliche, demokratische, freiheitliche Ordnung hat, so wie wir sie hier in der Bundesrepublik Deutschland haben. Wir sind auch der Meinung, daß die soziale Marktwirtschaft eine vorzügliche Lösung für die Gestaltung der wirtschaftspolitischen Strukturen dieser Gemeinschaft darstellt. Ebenso sind wir der Meinung, daß es für uns darum geht, in der Zeit dieses Jahres durch die Realisierung der pragmatischen Vorschläge des Tindemans-Berichtes einen großen Schritt nach vorn zu machen. Wenn vorhin hier gesagt wurde, daß Griechenland der Gemeinschaft beitreten werde - dies ist der Fall -, so muß daran erinnert werden, daß wir uns beim Beitritt der letzten drei Mitglieder alle gesagt haben, daß das Hinzukommen neuer Mitglieder nur dann die Probleme des Zusammenwachsens der Gemeinschaft nicht verstärkt, wenn wir gleichzeitig weitere Schritte nach vorn tun. Diese Schritte weiter nach vorn können nur in neuen, zusätzlichen Maßnahmen bestehen. Ich unterstreiche mit allem Nachdruck, daß man bei dem Zusätzlichen darauf achten muß, das Vorhandene konsolidiert zu halten. Heute morgen wurde zu Recht gesagt, daß manches von dem, was wir bisher erreicht haben, in Frage gestellt zu werden droht und daß der Zustand nicht besser ist, als er je war, sondern daß wir im Augenblick leider in einer retardierenden Phase sind. Mein Ansinnen an die Bundesregierung ist, daß sie, um in der europäischen Einigung voranzukommen, dieselbe Anstrengung, dieselbe Geduld und denselben Aufwand an Einsatz erbringt, die sie etwa hinsichtlich bestimmter Maßnahmen der Ostpolitik erbracht hat. ({16}) Mein Anliegen an Sie ist, daß wir in den vor uns liegenden Wochen und Monaten gemeinsam dafür sorgen, daß sich der Schritt nach vorn ermöglichen läßt. Die Parlamente haben jetzt das Wort. Denn sie sind es, die die Tätigkeit der nationalen Regierungen auf der europäischen Ebene angeblich kontrollieren; das Europäische Parlament kontrolliert ja nur die Kommission. Deshalb ist die Stunde heute hier richtig. Es ist schade, daß wir uns mit einer Regierungserklärung auch über alle Fragen der deutschen Innenpolitik haben auseinandersetzen müssen. Es wäre diese Stunde wert gewesen, dafür zu sorgen, daß wir überall deutlich machen: Europa ist für uns keine Frage der Lippenbekenntnisse, sondern eine bittere Notwendigkeit. Wir wissen ganz genau, daß es, wenn wir die weitere Einigung Europas nicht erzielen, für unsere einzelnen Nationalstaaten in dieser Welt keine Zukunft gibt, jedenfalls keine Zukunft als freiheitlich-rechtsstaatliche Gemeinwesen. Aus diesem Grund fordere ich die Regierung auf, gestützt auf die Fraktionen dieses Bundestages die Positionen sowohl des Tindemans-Berichts in der Frage der Direktwahl des Europäischen Parlaments, aber auch die angekündigten gemeinsamen Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungspolitik mit Nachdruck voranzutreiben. Ich darf da einen kleinen Schlenker machen, Herr Bundeskanzler. Der Kollege Brandt hat seine Kritik an Ihnen vorhin in verkleideter Form mit dem Hinweis vorgetragen, es sei nicht sehr tunlich, dauernd die anderen zu ermahnen und zu kritisieren. Er hat das sehr liebenswürdig eingehüllt; aber es konnte nur an Ihre Adresse gerichtet sein. Auch ich möchte sagen: Natürlich ist es nicht sehr gut, daß der - von mir heute schon an anderer Stelle zitierte - Finanzminister Apel ständig davon redet, daß wir der Zahlmeister Europas seien, daß wir zu viel einzahlten usw. Es geht uns darum, gemeinsame Politik für Europa zu machen. Wir sind nun einmal der wirtschaftlich Leistungsfähigste in Europa. Deshalb haben wir gar nichts dagegen, daß Sie sagen, wir müßten einen entsprechenden Beitrag, und eventuell auch einen größeren Beitrag, leisten. In dem Punkt können Sie mit uns rechnen. Wir wissen, worum es bei der Arbeit um die Einnigung Europas geht. Aber wir sind nicht dafür, den Eindruck zu hinterlassen, als wollten wir die Präzeptoren sein. Uns geht es darum, dafür Sorge zu tragen, daß das Europa von morgen nicht so aussieht, wie ein Zeitungskorrespondent über den Gipfel geschrieben hat: „Keine großen Worte, keine tollkühnen Vorschläge können darüber hinwegtäuschen, daß die europäische' Wirklichkeit anno 1976 nicht nur zum Weinen, sondern zum Fürchten ist." Das ist ganz sicher richtig. Helmut Kohl hat sehr recht gehabt, als er auf dem Kongreß des Mouvement Européen in Brüssel darlegte, wo die Bremse an allererster Stelle zu suchen ist: Sie ist nicht bei einem Versagen der Arbeit der Bürokratie der Europäischen Gemeinschaft, der Kommission in Brüssel, zu suchen. Sie ist auch nicht etwa bei der Entschlossenheit des Europäischen Parlaments zu suchen, dem Willen der von ihm vertretenen Parteien, Parlamente und Völker Ausdruck zu geben. ({17}) Sie ist zu suchen bei dem Unvermögen der Regierungen, den Willen der europäischen Völker zur Einheit in die politische Tat umzusetzen. Dies ist das fortwährende, durch nichts entschuldbare Versagen der europäischen Politik der Gegenwart. Was ich von der Bundesregierung erwarte, ist, daß sie dem mit allem Nachdruck und ihren Möglichkeiten entgegenwirkt und daß sie darauf vielleicht noch mehr Kraft verwendet, als sie das bisher hat tun können. ({18}) - Aber, lieber Herr Kollege, ich gehe doch fast jeden Tag mit ihnen essen im Unterschied zu Ihnen. ({19}) Ich weiß natürlich, welche Sorte von Franzosen Sie meinen. Das sind die, bei denen Sie die Über16386 zeugungsarbeit noch zu leisten haben, daß sie die Volksfront mit den Kommunisten einstellen sollen. Da sind Sie nicht weitergekommen; da können Sie noch sehr oft essen gehen. Ich habe den Eindruck: wenn Sie so fortfahren, wie es Herr Apel tut, die Aufnahme kommunistischer Minister in eine Regierung Mitterrand als eine eigentlich ganz gute Angelegenheit zu betrachten, dann besteht natürlich die Gefahr, daß wir uns in den Auffassungen über die weitere Entwicklung sehr weit voneinander entfernen. Das will ich Ihnen mit allem Nachdruck sagen. Denn eine Volksfrontpolitik in Europa ist für uns inakzeptabel, und sie bleibt für uns inakzeptabel. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer in dieser Stunde europäischer Enttäuschung --- das geht ja durch alle Reden - über Möglichkeiten und Notwendigkeiten europäischer Politik spricht, wird zunächst die eigene Position darzulegen haben und zugleich das Gewicht und die Verantwortung des eigenen Landes in der Europäischen Gemeinschaft. Hier ist unverkennbar - und der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung mit Recht darauf hingewiesen -, daß das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Gemeinschaft - ich kann hinzufügen: innerhalb des westlichen Bündnisses und auch im Verhältnis zur Dritten Welt - von Jahr zu Jahr gewachsen ist als Konsequenz unserer steigenden wirtschaftlichen und politischen Stabilität. ({0}) Deshalb gehört in eine solche Regierungserklärung auch all das hinein, was Ursache und Voraussetzung dieser steigenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland ist. ({1}) Deshalb war der Bundeskanzler gut beraten, seine Regierungserklärung, die Würdigung des Gipfels von Luxemburg und die Zielvorstellungen der Bundesregierung einzubetten in die Außenpolitik, in die Wirtschaftspolitik, in die Gesellschaftspolitik dieser Bundesregierung, und es konnte nicht ausbleiben - auch wenn das der Opposition nicht gefallen mag -, daß deshalb diese Regierungserklärung eine Leistungsbilanz siebenjähriger sozialliberaler Regierungspolitik in diesem Land geworden ist. ({2}) Wir bekennen uns - ich sage das jetzt nicht allein in meiner Eigenschaft als Kabinettsmitglied, sondern auch als Vorsitzender meiner Partei - zu dieser gemeinsamen Leistung, einer gemeinsamen Leistung, meine Damen und Herren, von der wir genau wissen, daß sie nur möglich war mit unserer politischen Zielsetzung, aber mit der Unterstützung der Bürger in unserem Land, Arbeitnehmer wie Unternehmer wie aller Gruppen, die in der Bundesrepublik Deutschland dazu beitragen, daß dieses Land heute diese gute Position innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hat. ({3}) Wir werden deshalb auch in der Diskussion über diese Fragen nicht verschweigen wollen und auch nicht können und nicht dürfen, daß wichtige Entscheidungen, die diesen Weg bestimmt haben, gegen den prinzipiellen Widerstand der Oppositionsparteien durchgesetzt werden mußten. Das gehört auch zur Klarheit der politischen Auseinandersetzung. Man kann sich nicht gleichzeitig mit Fortschritten rühmen, die Nachteile allein der Regierung anlasten, aber im übrigen sagen, die Gesamtpolitik der Regierung sei falsch gewesen. ({4}) Daß nichts vollkommen ist auf dieser Welt, wissen wir auch, und daß große Aufgaben noch zu lösen sind, ist bekannt. Deshalb finden wir, daß die Regierungserklärung nicht nur eine Leistungsbilanz war, eine Darstellung der Vergangenheit, sondern daß sie auch ein gutes Fundament für die Arbeit in der Zukunft darstellt. Meine Damen und Herren, ich sähe über dieser heute hier vorgetragenen Regierungserklärung gern das Motto oder die Überschrift „Freiheit und Fortschritt durch Leistung". Ich denke, daß das die Alternative ist - „Freiheit und Fortschritt durch Leistung" -, mit der sich die Regierungsparteien am Ende dieser Legislaturperiode den Wählern stellen werden. Deshalb, meine Damen und Herren, sage ich Ihnen: Wir bekennen uns auch als Freie Demokraten zu dieser Arbeit. Wenn ich selbstkritisch etwas anmerken darf, was wir - hier möchte ich ausnahmsweise die Sozialdemokraten mit einbeziehen - manchmal in der Vergangenheit falsch gemacht haben, Herr Kollege Strauß, dann dies: daß wir das, was gemeinsam geleistet wurde, unter Wert verkauft haben. Das wird sich ändern; das verspreche ich Ihnen. ({5}) Herr Kollege Strauß hat heute morgen bei seinem Beitrag noch einmal zu den Polen-Vereinbarungen Stellung genommen. Das war sicher richtig. Ich begrüße es deshalb, weil es mir Gelegenheit gibt, mit einer Legende - wie ich hoffe: endgültig - aufzuräumen, die davon spricht, hier habe es unterschiedliche Positionen des Bundeskanzlers und des Außenministers gegeben. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Ich habe in keiner Phase unserer nunmehr fast zweijährigen Zusammenarbeit in dieser Position so oft, so eng und nahtlos mit dem Bundeskanzler zusammengearbeitet wie gerade in den entscheidenden Tagen und Wochen, in denen wir über die Polen-Verträge gesprochen und um ihre Annahme gerungen haben. ({6}) Das sollte auch niemand bestreiten. ({7}) Herr Kollege Strauß, lassen Sie mich ein Wort zu dem sagen, was ich heute von Ihnen eigentlich zu den Polen-Vereinbarungen erwartet hätte. Wir haben heute einen polnischen Gast in unserem Lande, den polnischen Außenminister, der sich im Augenblick im Saarland aufhält und dort sicher ein positives Wort von Ministerpräsident Röder zu den deutsch-polnischen Beziehungen hören wird. Ich hätte dieses positive Wort hier erwartet, damit die deutsche Öffentlichkeit weiß, damit aber auch die Gesprächspartner in Polen wissen, wie die Christlich-Soziale Union nun endgültig zu diesen Vereinbarungen steht. ({8}) Vor, mir liegt eine bis heute nicht zurückgenommene Pressemitteilung der CSU-Landesgruppe vom 18. März, also sechs Tage nach Ratifizierung im Bundesrat. Dort heißt es am Schluß: Deshalb ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Ratifikationsurkunden nicht hinterlegt werden dürfen, bis volle Klarheit erzielt ist, und sie nur zu hinterlegen sind, wenn die polnischen Zusagen völkerrechtlich wirksam erweitert worden sind, d. h. das Vertragswerk in diesem Sinne geändert worden ist. Meine Damen und Herren, nach dem 12. März ist nichts mehr geändert worden, konnte nichts mehr geändert werden. Alle Ministerpräsidenten waren der Meinung, das reiche so, wie es ist, für ihre einstimmige Zustimmung aus. Deshalb sind die Vereinbarungen ratifiziert worden. Die Frage ist: Steht die CSU zu dem, was die bayerische Staatsregierung getan hat, oder steht sie dagegen? ({9}) Ich finde, das wäre das klärende Wort gewesen, auf das wir heute hätten warten dürfen. ({10}) - Aber, Herr Kollege Strauß, das ist vom 18. März. Nach der Ratifikation haben Sie gesagt, die Ratifikationsurkunden dürften nicht hinterlegt werden, bevor das Vertragswerk geändert würde. Dazu sage ich Ihnen: Nach der Ratifikation ist nichts geändert worden, konnte nichts geändert werden, wird nichts geändert werden. Wir haben so hinterlegt, wie der Bundesrat - auch mit den Stimmen der bayerischen Staatsregierung - ratifiziert hat. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, kehren wir zurück zu der Frage, die uns heute gestellt ist, was Europapolitik heute bedeuten muß. Wir als Bundesregierung möchten die Europapolitik unter der Fragestellung begreifen: Wie können wir die demokratischen Strukturen in Europa stärken? Das ist die grundsätzliche Fragestellung. Wenn ich von Europa spreche, so dehne ich das bewußt aus - über die Staaten der Europäischen Gemeinschaften hinaus -, weil wir daran interessiert sind, daß alle Staaten im nichtkommunistischen Teil Europas diese Stärkung der demokratischen Strukturen, notfalls durch unsere Hilfe, erfahren. Wer sich mit diesen Fragen befaßt, muß sich natürlich auch - Herr Kollege Strauß hat mich zu Recht zitiert - mit den Problemen der Volksfront, also der Zusammenarbeit demokratischer und kommunistischer Parteien auseinandersetzen, ganz gleich ob das nun mit der Farbe Rot oder Schwarz umschrieben wird. Ich nehme doch niemanden dafür in Haft, daß seine Schwesterpartei das irgendwo tut, weil ich davon ausgehe, daß die demokratischen Parteien in diesem Lande ihre Schwesterparteien genau auf die Gefahren hinweisen; denn wir sind gebrannte Kinder, was andere in diesem Maße vielleicht nicht sind. ({12}) Deshalb wollen wir uns da gegenseitig gar nichts vorhalten. Aber ich halte es für untauglich, Herr Kollege Klepsch, wenn Sie sagen, die Christlichen Demokraten in Italien müßten deshalb mit den Kommunisten gehen, weil sich die Sozialisten verweigerten. Herr Kollege Klepsch, Sie wissen, daß die Christlichen Demokraten seit langem über den Historischen Kompromiß diskutieren und daß er auf Gemeindeebene und regionaler Ebene längst Praxis ist. Ich glaube, das gibt für unsere Auseinandersetzung nichts her, sondern wichtig ist etwas anderes. Wichtig ist, daß wir im eigenen Lande erkennen, welche Voraussetzungen in anderen Ländern dazu geführt haben, daß dort die Kommunisten überhaupt zu einer politisch relevanten Kraft werden konnten. ({13})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klepsch?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich möchte den Gedankengang gerne zu Ende führen, Herr Kollege. Deshalb war es so wichtig, daß wir in diesem Lande eine gesunde wirtschaftliche und soziale Struktur ausgebaut haben, und deshalb ist es so wichtig, daß wir sie gemeinsam erhalten; denn wir wissen aus eigener bitterer Erfahrung, daß der erste Versuch einer deutschen Demokratie eben daran gescheitert ist, daß Menschen in ihrer Verzweiflung Rattenfängern auf der einen oder anderen Seite nachgelaufen sind. ({0}) - Herr Kollege Mertes, Sie verwenden mit Recht ein Wort, das mir in dieser Lage ganz wichtig ist: das Wort gemeinsam. Das zweite ist, daß wir über der politischen Auseinandersetzung, auch in Wahlkämpfen, nicht vergessen, daß auch eine noch so harte Auseinandersetzung nie zur herabsetzenden Konfrontation führen darf, daß wir eins nie tun sollten: ({1}) uns gegenseitig die demokratische Zuverlässigkeit zu bestreiten; denn wenn wir das tun, nützen wir unseren Gegnern, den extremen Flügeln auf beiden Seiten. ({2}) Wenn wir das beherzigen, dann leisten wir, ohne belehrend zu wirken, unseren Beitrag dazu, daß in Europa Volksfrontvorstellungen nicht weiter Platz greifen können. Aber ich denke, unsere Pflichten gehen darüber hinaus. Die Bundesregierung hat sich diesen Pflichten ebenso gestellt wie die Parteien des Deutschen Bundestages. Ich nehme hier keine aus. Mit Recht ist über die Entwicklung in Portugal gesprochen worden. Meine Damen und Herren, keine Regierung ist ohne Fehl und Tadel, keine politische Partei ohne Irrtum. Ich denke, eins können wir aber als Pluspunkt gemeinsamen Bemühens der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch der Bundesregierung buchen, nämlich daß wir die ersten gewesen sind, die Portugal nach der Revolution nicht als in die Hände der Kommunisten gefallen aufgegeben, sondern die Kräfte gestützt haben, die angetreten sind, um die Kommunisten aus den eben erreichten Machtpositionen zu vertreiben. ({3}) Da hat jeder die Aufgabe, seine politischen Gesprächspartner zu stärken. Und diese politischen Partner haben jeweils unter den Voraussetzungen ihres Landes Politik zu machen. Das sind andere als bei uns. Das liegt auf der Hand, wenn Sie sehen, welche Auseinandersetzungen in Portugal geführt werden mußten, nicht allein um Wahlen zu gewinnen, sondern um die Gewerkschaften mühsam den Kommunisten zu entreißen. Wir wissen doch, meine Damen und Herren, daß die Stabilität dieses Landes, daß die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland nicht nur darauf beruht, daß die Parteien des Deutschen Bundestages in der Ablehnung des politischen Extremismus einig sind. Nein, die politische Stabilität beruht bei uns auch darauf, daß es nach dem Kriege möglich gewesen und bis heute so ist, daß wir eine demokratische, eine nichtkommunistische Einheitsgewerkschaft haben. Das war und ist eine der Voraussetzungen der Stabilität unserer Demokratie. Auch das können wir als Ratschlag anderen Ländern sagen. ({4}) Und dann ist es notwendig, daß wir die Wirtschaftskraft, die diese Bundesrepublik Deutschland hat, einsetzen und daß wir innerhalb der Gemeinschaft und außerhalb der Gemeinschaft jenen helfen, die wirtschaftliche Probleme überwinden wollen, um damit soziale und politische Stabilität zu erreichen. Deshalb war es richtig, daß wir Portugal mit erheblichen Mitteln geholfen haben - es war nicht nur die Zusammenarbeit der Parteien -, und deshalb ist es richtig, daß sich die Bundesregierung - in voller Erkenntnis der Probleme, die wir uns damit aufladen - innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mit solchem Nachdruck dafür eingesetzt hat, daß Griechenland die Tür zur Europäischen Gemeinschaft geöffnet wird. Denn wir sind daran interessiert, daß dieses eben zur Demokratie zurückgekehrte Griechenland seinen künftigen Weg in der Gemeinschaft der europäischen Völker gehen kann. ({5}) Das wird bedeuten, daß wir Opfer bringen müssen. Trotzdem sage ich: Es sind in Wahrheit keine Opfer, denn unsere zukünftigen Existenzmöglichkeiten, unsere Lebenschancen hier in der Bundesrepublik Deutschland und die Entwicklungschancen der Bundesrepublik Deutschland - all das ist abhängig davon, ob es uns gelingt, auch um uns herum eine wirtschaftlich, sozial und politisch gefestigte Umwelt zu schaffen. Das tun wir nicht nur für andere, sondern zuerst auch für uns - damit aber wiederum auch für andere. Das ist der Ansatz unserer europäischen Politik, das ist der Ansatz, wie wir uns bei Ministerkonferenzen und auch beim Europäischen Rat einstellen. Nun, meine Damen und Herren, denke ich, daß sich die Kraft einer Opposition nicht darin erschöpfen sollte, Kritik dort zu üben, wo sie angebracht ist, sondern daß die Kraft einer Opposition auch einmal darin bestehen kann, eine richtige Politik der Regierung offen anzuerkennen. Man darf doch nicht, Herr Kollege Klepsch, den Eindruck erwecken, als sei die Tatsache, daß man sich in Luxemburg nicht über europäische Wahlen oder über ein wirtschaftliches Programm oder über den Tindemans-Bericht einigen konnte, ein Versäumnis der Bundesregierung. Da können Sie doch nicht sagen: Wir habt ihr das und das vorbereitet? Sie kennen die innenpolitischen Schwierigkeiten genau, die einige Regierungen daran gehindert haben, dort so zu handeln, wie sie es eigentlich möchten. Da können Sie nicht sagen: Das hat der Bundeskanzler schlecht vorbereitet. Das Ist nicht eine Frage der Vorbereitung durch die Bundesrepublik Deutschland, sondern jetzt ist uns allen gemeinsam die Aufgabe gestellt, daß wir mit unseren politischen Freunden - wo immer sie in Parlament oder Regierung Verantwortung tragen - sprechen, um ihnen zu sagen, daß es so mit Europa nicht weitergehen kann. ({6}) Deshalb haben diejenigen recht, die jetzt mit besonderem Nachdruck von dem Europa der Bürger sprechen und die darauf hinweisen, daß es nicht ausreicht, die noch so richtigen Vorstellungen im Europäischen Parlament in Entschließungen zu verabschieden und in Ministerratssitzungen zu vertreten, sondern daß es darum geht, daß wir dieses Europa durch Zusammenschlüsse der demokratischen Parteien auch auf anderen Ebenen schaffen. Sie wissen, die liberalen Parteien haben eine Föderation geschaffen. Sie haben sie noch nicht. Aber ich sage doch nicht, daß das an den deutschen Christdemokraten liegt. Ich weiß, Sie haben auch Probleme mit Partnern der Europäischen Gemeinschaft. Wir brauchen engere Zusammenschlüsse der Gewerkschaften, der Verbände, damit denen ein bißchen auch von ihren eigenen Bürgern der Marsch geblasen wird, die in den europäischen Fragen zum Jagen getragen werden müssen. Wir müssen erkennen, daß natürlich viele Probleme in der europäischen Einigung auch daraus resultieren, daß am Kabinettstisch oder am Ratstisch Regierungen sitzen, die auf Zustimmung im eigenen Lande angewiesen sind und durch Zustimmung im eigenen Land im Amt bleiben oder wiedergewählt werden. Was uns fehlt ist eine Durchführung der großen europäischen Integrationsaufgabe und des Interessenausgleichs innerhalb europäisch organisierter Parteien. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben doch im Grund diesen Prozeß nach dem Zweiten Weltkrieg selbst erlebt, wie sich die Parteien zusammengeschlossen haben, wie sie am Ende regionale Interessen überwunden, in sich ausgeglichen und so schließlich zu einer zentralen Meinungsbildung auch hier im Parlament beigetragen haben. Das gilt auch für die europäische Ebene. Daran führt nichts vorbei. Meine Damen und Herren, wenn man über die Position der Bundesrepublik Deutschland spricht, wenn man über ihr Gewicht spricht, dann darf man nicht vernachlässigen, daß dieses Gewicht auch im westlichen Bündnis vorhanden ist. Ich sage das, weil hier in den Reden der Opposition es so durchklang, als sei dieses Europa eine Gemeinschaft von Zwergen, die essen, aber nicht bereit sind, etwas für ihre Sicherheit zu tun. Dieses Europa tut etwas für seine Sicherheit. Daß wir uns wünschten, meine Damen und Herren, daß manche unserer europäischen Partner im Bündnis mehr für die gemeinsame Sicherheit täten, das steht außer Zweifel. Aber ich denke, wir sollten vor unserer Öffentlichkeit nicht verschweigen - was überall anerkannt wird -, daß die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls ihre Pflicht im Bündnis erfüllt. Das ist auch ein Faktum. ({7}) Da Sie selbst dem Verteidigungshaushalt zustimmen, ist es doch eine gemeinsame Leistung, die wir nicht niedriger hängen wollen. Aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, unseren politischen Freunden in den anderen Partnerstaaten zu helfen, daß sie diese Vorstellungen durchsetzen; denn niemand kann ein Interesse daran haben - und ich sage das mit großem Ernst -, daß das westliche Verteidigungsbündnis de facto zu einer zweiseitigen Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland wird, sondern wir möchten, daß alle Partnerstaaten ihr Gewicht in diesem Bündnis haben, weil es ein gemeinsames Bündnis ist, ein Bündnis für die gemeinsame Sicherheit. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn ich davon gesprochen habe, daß wir mit einem gewachsenen Gewicht - und damit auch gewachsener Verantwortung - unsere Politik zu machen haben, dann gilt das auch für unser Verhältnis zur Dritten Welt. Ich erwähne es jetzt deshalb, weil der Herr Kollege Strauß heute morgen auf die Entwicklung in Angola hingewiesen hat, auf die Sorge, die er mit den Vorgängen in Angola verbindet. Das ist eine Sorge, meine Damen und Herren, die jeder haben muß. Die Frage ist nur - und die sollte auch die Opposition beantworten -: Was ist die deutsche Aufgabe in einer solchen Situation? Es genügt nicht, auf das Problem hinzuweisen, die Sorge auszusprechen, sondern es geht darum, was wir tun können, um die Ausbreitung einer Entwicklung, wie sie in Angola in Gang gekommen ist, auf andere Länder zu verhindern. Hier ist es die erklärte Position der Bundesrepublik Deutschland, daß wir auf der Seite der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten stehen, daß wir alles tun werden, um diese Unabhängigkeit zu wahren, daß wir nicht den Ehrgeiz haben, unser Wirtschafts-, Staats- oder Gesellschaftssystem in diese Länder zu exportieren - also dem Versuch der Errichtung von Einflußzonen einen solchen Versuch entgegenzusetzen -, sondern unser Ziel ist es, diese afrikanischen Staaten in ihrer Unabhängigkeit zu stärken. Sie alle wissen aus zahlreichen Gesprächen, die auch Sie mit Vertretern afrikanischer Staaten führen, wie sehr gerade die Bundesrepublik Deutschland nicht nur durch die Teilnahme an der Konvention von Lomé, sondern durch bilaterale Hilfe, durch ihre politischen Aktivitäten innerhalb der europäischen politischen Zusammenarbeit dazu beigetragen hat, daß heute dieses Europa der Neun mit einer gemeinsamen Konzeption an die afrikanischen Probleme herangeht. ({9}) - Es handelt sich um eine Konzeption, die in dieser Frage, Herr Kollege, vielleicht am weitesten entwickelt und darauf gerichtet ist, denjenigen afrikanischen Staaten mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften zu helfen, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollen; denn wir erteilen jedem Versuch eine klare Absage, auf afrikanischem Boden neue Einflußzonen zu errichten, wie es in Angola eindeutig durch die Sowjetunion und Kuba geschehen ist. ({10}) Das können wir aber nur, wenn wir in der Gemeinschaft der Neun glaubwürdige Partner der afrikanischen Staaten sind, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollen. Deshalb ist es wichtig, daß wir nicht nur Interventionen fremder Mächte in Afrika, sondern jeder Form des Kolonialismus und Rassismus auf afrikanischem Boden eine eindeutige Absage erteilen. ({11}) Auch das gehört dazu, um unsere Politik in der Dritten Welt glaubwürdig zu machen. Meine Damen und Herren, nun ist hier natürlich auch die Entspannungspolitik angesprochen worden. Der Bundeskanzler hat das Seine dazu gesagt. Unsere realistische Entspannungspolitik gründet sich auf das westliche Bündnis und auf unsere Mitwirkung in der Europäischen Gemeinschaft. Beides ist unverzichtbar. Jeder Versuch, im Alleingang Spannungen abzubauen, müßte zum Scheitern verurteilt sein und eine Gefahr für unser Land bedeuten. Es wäre gut, wenn die Opposition über ihr Bekenntnis zum westlichen Bündnis und zur Europäischen Gemeinschaft hinaus auch das richtige Verhältnis zu den Verträgen fände, die verbindlich für die Bundesrepublik Deutschland geschlossen sind. Herr Kollege Strauß hat heute eine Kolumne von mir zitiert, von der er gesagt hat, er stimme ihr zu, sie sei so richtig, daß sie eher, wie er vermutete, ein Redakteur der Zeitung geschrieben haben könnte als ich. Ich will daraus einen anderen Absatz verlesen, als er zitiert hat, damit Sie wissen, was noch in dieser Kolumne steht. Da heißt es nämlich: Die seit 1970 geschlossenen Verträge binden jede Regierung, so sagt die CDU selbst. Sie sollte deshalb die Kraft finden, in ihrer Gesamtheit nach dieser Einsicht zu handeln. ({12}) Es muß jetzt darum gehen, in der Vertragsanwendung konsequent, mit Festigkeit unsere Interessen zu verteten. Gemeinsam ist unser Gewicht stärker. Meine Damen und Herren, tun Sie diesen Schritt konsequent; dann wird unser Gewicht stärker. ({13}) Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, um. 14 Uhr beginnt die Fragestunde. Ich unterbreche die Sitzung bis dahin. ({14}) Vizepräsident von Hassel: Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir treten ein in die Fragestunde - Drucksache 7/4963 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf, zunächst die Frage 32 des Abgeordneten Hoffie: Wann beabsichtigt die Bundesregierung, die Zielsetzung des vom 5. Deutschen Bundestag in seiner 139. Sitzung am 1. Dezember 1967 einstimmig gebilligten Entschließungsantrags zu verwirklichen, in dem die Bundesregierung u. a. aufgefordert wird, die notwendigen Schritte zur Erhaltung und Fortentwicklung der deutschen Wochenschauen zu unternehmen? Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär Bölling.

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Herr Präsident, ich darf wegen des sachlichen Zusammenhangs um die Erlaubnis bitten, beide Fragen zusammen beantworten zu dürfen. Vizepräsident von Hassel: Einverstanden. Ich rufe auch Frage 33 des Abgeordneten Hoffie auf: Sieht auch die Bundesregierung einen Widerspruch darin, daß Staatssekretär Bölling in einem am 25. März 1976 in der Sendereihe „Titel, Thesen, Temperamente" des Deutschen Fernsehens ausgestrahlten Interview erklärt hat, daß die Verantwortung für das Nichteinbeziehen der Wochenschauen in die allgemeine Filmförderung bei den Zuständigen im Parlament gelegen hat, obwohl die Bundesregierung durch die erwähnte Entschließung den eindeutigen Auftrag erhielt, die Wochenschauen in die Filmförderung einzubeziehen und für deren Erhaltung und Fortentwicklung zu sorgen, und wenn ja, wie erklärt sie diesen Widerspruch?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, meine Ausführungen in der Fernsehsendung „Titel, Thesen, Temperamente" am 25. März dieses Jahres bezogen sich - und das geht aus dem Text des Interviews hervor - auf das Jahr 1967. Damals wurde der Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films, der auf Initiative der Abgeordneten Toussaint, Lohmar, Dorn und Fraktionsgenossen eingebracht worden war, abschließend im Deutschen Bundestag beraten. Bestrebungen innerhalb der Fraktionen, die Wochenschauen in das Filmförderungsgesetz einzubeziehen, konnten sich damals nicht durchsetzen, wie Sie wissen. So kommt auch ih der ersten Fassung des Filmförderungsgesetzes vom Dezember 1967 der Terminus „Wochenschau" gar nicht vor - dies als ein kurzer historischer Rückblick und nicht im Sinne einer kritischen Feststellung. Die Möglichkeiten, eine Wochenschauförderung in das Filmförderungsgesetz aufzunehmen, waren auch später sehr begrenzt, wie sich bei den Novellierungen gezeigt hat, da es sich ja um ein sogenanntes Selbsthilfegesetz handelt, bei dem auf die Interessen der Filmwirtschaft - und dazu gehören nicht zuletzt auch die Theaterbesitzer - Rücksicht zu nehmen war. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages haben deswegen in einer gemeinsamen Entschließung vom 1. Dezember 1967 die Bundesregierung aufgefordert, den Wochenschauen eine „vorübergehende staatliche Hilfe" zu gewähren, um ihnen so die Anpassung an die veränderten Verhältnisse zu erleichtern. Entsprechend dieser Entschließung des Deutschen Bundestages wurden 1970 zum erstenmal Mittel zur Wochenschauförderung im Bundeshaushalt bereitgestellt. Seitdem erhalten die Wochenschaugesellschaften jährlich Beträge von ca. 800 000 bis 900 000 DM. Leider hat diese finanzielle Unterstützung nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. 1974 gab es in der Bundesrepublik lediglich noch 600 Kinos, die eine Wochenschau zeigten, also nur noch 10 % von den 6 200 Filmtheatern, die noch 1960 eine Wochenschau im Programm hatten. Die Zuschauerzahl sank entsprechend von 500 Millionen auf 28 Millionen. Das sind, wie Sie mir wahrscheinlich zugeben werden, Herr Abgeordneter, Symptome einer Krise, die mit der Ausbreitung des Fernsehens in den 60er Jahren begann und von der die Wochenschauen sicherlich ganz hart getroffen worden sind. In ihrer eigentlichen Domäne, nämlich der Bildaktualität, können die Wochenschauen mit dem Fernsehen, das täglich mehrere Male aktuell sein kann, schon lange nicht mehr konkurrieren. Es ist deshalb verständlich, wenn sich im Verlauf dieser Entwicklung immer mehr Kinobesitzer entschlossen haben, keine Wochenschau mehr vorzuführen. Man kann die Augen nicht vor der Erkenntnis verschließen, daß die Förderungsmittel des Bundes, die ja in erster Linie zur Gesundung dieser Unternehmen beitragen sollten, den weiteren wirtschaftlichen Niedergang der Wochenschau zwar verzögern, aber schließlich doch nicht aufhalten konnten und daß dies auch in aller Zukunft mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit so sein wird. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, der Abgeordnete Hoffie.

Klaus Jürgen Hoffie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000935, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, wann und mit welchem Ergebnis hat die Bundesregierung entsprechend der Entschließung des Bundestages vom Jahre 1967 Verhandlungen mit den Bundesländern mit dem Ziel aufgenommen, Verwaltungsvereinbarungen über die Erhaltung und Fortentwicklung der Wochenschauen herbeizuführen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich nehme an, daß Sie mit Ihrer Bemerkung auf die Möglichkeit anspielen wollen, die Vergnügungssteuer zu senken. Ich weiß nicht, was Sie im Augenblick anders im Sinn haben. Dies ist allein Sache der Bundesländer. Alle Möglichkeiten, die wir uns überlegt haben, um den Wochenschauen auf die Beine zu helfen, sind schon vor langen Jahren dadurch konterkariert worden, daß die Kinobesitzer kein Interesse mehr an der Wochenschau haben, seitdem, wie ich in meiner Antwort auf Ihre beiden Fragen gesagt habe, das Interesse des Publikums am Kino überhaupt und an der Wochenschau drastisch zurückgegangen ist und weil es den Wochenschauen überdies nicht gelungen ist, für die Aktualität, die sie einfach nicht mehr liefern können, irgendeine andere Attraktion zu schaffen. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Hoffie.

Klaus Jürgen Hoffie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000935, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Können Sie, Herr Staatssekretär, Ihre Aussage in dem Bericht über die Situation der deutschen Wochenschauen, der dem Haushaltsausschuß zugegangen ist und in dem Sie ausgeführt haben, daß die Erste Novelle zum Filmförderungsgesetz, wie es hieß, ohne Einfluß war und die Zweite Novelle sogar zu einem wirtschaftlichen Rückgang bei den Wochenschauen geführt hat, dies also keine wochenschauförderlichen, sondern wochenschauschädlichen Maßnahmen gewesen sind, auch heute noch ebenso wie die Feststellung bestätigen, daß die große Mehrheit der Kinobesucher, was auch in dem Bericht zum Ausdruck kommt, beim Vorprogramm in den Kinos am allerwenigsten auf die Wochenschauen verzichten will?

Not found (Staatssekretär:in)

Nein, das kann ich nicht bestätigen,. Der Rückgang der Wochenschauen ist ein Phänomen, das sicherlich nicht auf einen einzigen Grund zurückzuführen ist. Aber der entscheidende Grund ist nach übereinstimmender Meinung aller Fachleute, daß die Wochenschau die Funktion, die sie jahrzehntelang gehabt hat, einfach nicht, mehr erfüllen kann und daß sie deshalb Zuflucht zu filmischen Spielereien oder filmischen Pointen nehmen muß, die aber nicht so stark sind, daß sie das Publikum und die Kinobesitzer - an diese denke ich vor allem - veranlassen könnten, den Wochenschauen den Vorzug vor Kulturfilmen zu geben, die durch das Filmförderungsgesetz begünstigt sind. Das Bundespresseamt hat seinerzeit, Herr Abgeordneter Hoffie, versucht, von sich aus diese Begünstigung anzuregen. Dies ist aber seinerzeit nicht gelungen. Es ist den Filmtheaterbesitzern lediglich anheimgestellt worden, entweder einen Kulturfilm oder die Wochenschau zu zeigen. Sie haben ein Marketing gemacht und sind ganz offenkundig zu dem auch in sich schlüssigen Resultat gekommen, daß das Interesse an diesem Medium nicht mehr sehr groß ist. Vizepräsident von Hassel: Eine weitere Zusatzfrage, der Abgeordnete Hoffie.

Klaus Jürgen Hoffie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000935, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, gibt es angesichts dieser Darstellung einen Regierungsbeschluß, nach dem die Förderung der Wochenschauen im Haushaltsjahr 1977 wegfallen soll, oder kann ich davon ausgehen, daß trotz Ihrer Einwände auch im Haushaltsplan für 1977 Förderungsmittel für die Wochenschauen angesetzt werden?

Not found (Staatssekretär:in)

Soweit meine Verantwortung hier angesprochen ist, Herr Abgeordneter, finde ich für meine Person und für meine Mitarbeiter, die auf diesem Felde besonders kundig sind, keine überzeugenden Argumente mehr für eine weitere Subventionierung der Wochenschau. Ich sehe nicht, wie man das weiter dahinsiechende Instrument Wochenschau sanieren soll. Mit den Subventionen, die bisher gegeben worden sind, wird eine wirtschaftliche Belebung nicht machbar sein. Es ist schwer vorstellbar, daß die Filmtheaterbesitzer, die so offenkundig desinteressiert sind und denen wir ja auch nicht qua Staat eine Zwangsvorführung verordnen wollen, ihre Position ändern. Insofern sehe ich keine Rechtfertigung dafür, auch noch im kommenden Jahr Steuergelder in das Instrument Wochenschau zu investieren. Wir werden - das darf ich gleich hinzufügen -, wenn es zu einer Einstellung der Wochenschau kommen sollte, selbstverständlich einen Sozialplan vorbereiten. Vizepräsident von Hassel: Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hoffie.

Klaus Jürgen Hoffie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000935, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, nachdem Sie in dem angesprochenen ZDF-Interview auch erklärt haben, es werde eine Art Auslandswochenschau in Ihrer eigenen Regie überlegt, möchte ich Sie fragen, ob Sie meine Auffassung teilen, daß eine derartige Absicht auch zu Überlegungen hinsichtlich der Ausgewogenheit, der Unabhängigkeit und auch der Hof fie Kontrolle eines quasi regierungseigenen Instruments der Darstellung von Politik im Ausland führen muß.

Not found (Staatssekretär:in)

Das ist sicherlich ein begründetes Bedenken, Herr Abgeordneter. Wir sind mit unseren Überlegungen über ein Substitut für den Fall, daß die Wochenschau nicht länger aus eigener Kraft und mit unseren Subventionen existieren kann, noch nicht zu Ende. Aber ich bin keineswegs der Meinung, daß dies eine regierungseigene Produktionsgesellschaft sein muß. Da lassen sich andere Konstruktionen denken, die dann allerdings auch unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit überzeugender sind als die Konstruktion, die wir jetzt haben. Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie mir darin zustimmen, daß unter den Kinobesuchern junge Menschen -- ich glaube, bis zum Alter von 27 Jahren - überwiegen? Besteht nicht gerade hier eine Möglichkeit der Ansprache der jungen Menschen, so daß sie dort, da sie wahrscheinlich nicht regelmäßig die Tagesschau sehen, mit politischen Ereignissen konfrontiert werden und sie zur Kenntnis nehmen können?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter Hupka, ich mache kein Hehl daraus, daß ich bis vor einigen Monaten davon ausging, die Situation sei etwa so, wie Sie in Ihrer Frage andeuten. Ich habe mich aber durch Zahlen korrigieren lassen müssen. Es ist leider nicht so, wie es vor einigen Jahren in zahlreichen Artikeln in den Feuilletons der deutschen Zeitungen dargestellt worden ist, daß ein großer Teil unserer jungen Leute nicht vor dem Fernseher sitzt, sondern in Ergänzung zum Fernsehen ins Kino geht. Ich habe die Zahlen hier. Ich kann sie Ihnen später in aller Ausführlichkeit berichten oder Ihnen die Unterlagen zustellen. Aber es ist so, daß sich über 80 O/o der 14- bis 29jährigen täglich vor allem durch zwei Medien, nämlich Hörfunk und Fernsehen, über die politischen und gesellschaftlichen Aktualitäten unterrichten. Die Reichweite der Wochenschau ist bei diesem Personenkreis genauso begrenzt wie bei den Alteren. Ein paar Zahlen. Kinobesuche bei 14- bis 19jährigen: 4,9 % pro Woche, 12 % pro Monat. Kinobesuche bei 20- bis 29jährigen: 2,6 % pro Woche, 7,7 % pro Monat. Die Zahlen sind also für den, der erwartet, daß der deutsche Film gerade hier seine stärksten Bataillone hat, in Wahrheit sehr trist. Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, eine Frage aus einem anderen Feld. Wäre es nicht denkbar, daß dann die beiden deutschen Wochenschauen enger kooperieren könnten, als sie es bisher tun, um überhaupt das Phänomen Wochenschau zu erhalten?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter Hupka, das Thema einer Fusion oder engeren Kooperation mit dem Ziel, eine bessere Wettbewerbsposition zu bekommen, ist nicht neu. Das wissen Sie. Nach meinen Informationen haben diese Gespräche nicht zu einem Ergebnis geführt, das uns erwarten läßt, daß die wirtschaftliche Gesundung einer solchen konzentrierten Wochenschaugesellschaft eintritt. Ich sehe da, wie ich zu meinem Bedauern sagen muß, keine Chance. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lohmar.

Dr. Ulrich Lohmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001370, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, was hat Sie dazu veranlaßt, in Ihrem ZDF-Interview von Ihrem im Grunde positiven Votum im März 1975 gegenüber dem Haushaltsausschuß in der Frage der Förderung der Wochenschau abzuweichen, ohne sich vorher mit dem Haushaltsausschuß ins Benehmen zu setzen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter Lohmar, ich habe mich in der Zeit danach noch sehr viel gründlicher, als ich es am Anfang meiner Tätigkeit tun konnte, mit der - Sie sind ja Fachmann auf diesem Feld und werden mir einräumen, daß dies richtig ist - komplizierten Problematik der deutschen Wochenschauen beschäftigt. Nachdem ich mir alle Aspekte dieses Themas genau vor Augen geführt hatte, bin ich in der Tat zu dem Schluß gekommen, daß die Perspektiven für die deutsche Wochenschau sehr düster sind. Ich habe deshalb in jenem ZDF-Interview die Meinung formuliert, daß es sich nicht verantworten läßt, im nächsten Haushaltsjahr annähernd 1 Million DM Steuergelder für ein Instrument einzusetzen, an dessen Gesundung ich und meine fachkundigen Mitarbeiter nicht mehr länger glauben können. Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lohmar.

Dr. Ulrich Lohmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001370, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich knüpfe an Ihre Einlassung von vorhin gegenüber dem Herrn Kollegen Hoffie in bezug auf das Thema der von der Bundesregierung geförderten Wochenschau oder wochenschauähnlichen Produktionen für das Ausland an. Worauf stützen Sie Ihre Vermutung, daß solche von der Regierung mittelbar oder unmittelbar geförderten Produktionen einer wochenschauähnlichen Darbietung für das Ausland im Vergleich zu den bisherigen Subventionen für die bestehenden Wochenschauen billiger wären?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter Lohmar, ich kann Ihnen dies im Augenblick nicht explizit mit Zahlen und einer richtigen Kalkulation vorführen. Es ist doch aber so, daß von den Wochenschaukopien, die z. B. nach Lateinamerika gehen, auf Grund des Vormarsches des Fernsehens auch in Lateinamerika nicht mehr soviel Gebrauch gemacht wird wie noch vor wenigen Jahren. Der Umfang wird also sicherlich geringer sein, und zwar in dem gleichen Maße, in dem auch in Lateinamerika und in anderen Ländern, die bisher beliefert worden sind, das Fernsehen Gelände gewinnt. Auftragsproduktionen, die sich auf die Berichterstattung über alle politisch und gesellschaftlich relevanten Ereignisse in der Bundesrepublik konzentrieren, lassen sich nach meiner Erfahrung - Sie wissen, daß ich auf diesem Felde einige Erfahrungen habe sammeln können - mit Sicherheit billiger herstellen. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Nagel.

Werner Nagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001580, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann man aus Ihrer letzten und vorletzten Antwort schließen, daß Sie mit mir der Meinung sind, daß die von dem Herrn Kollegen vorgetragene Frage einen Bereich trifft, der zu den technischen Fossilien gehört, seitdem, wie Sie gerade feststellten, Fernsehen und Rundfunk täglich die neuesten Nachrichten ins Wohnzimmer bringen, wodurch die Wochenschau ihre einstmalige Aktualität verloren hat?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen prinzipiell zu, möchte aber das Wort „Fossil" nicht gebrauchen, weil ich weiß, daß sich die Mitarbeiter der Wochenschau jetzt natürlich in einer schwierigen Situation befinden, weil sie keinen Hoffnungsschimmer mehr erkennen. Immerhin arbeiten dort eine Menge Leute seit vielen Jahren trotz dieser düsteren Perspektive fleißig und gut. Die objektiven Leistungen der Vergangenheit sind aber - insofern gebe ich Ihnen völlig recht - keine Rechtfertigung dafür, daß wir ein Instrument, das für die Öfentlichkeitsarbeit der Bundesregierung im Ausland nur noch einen minimalen Effekt hat, mit annähernd 1 Million DM subventionieren. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Nagel.

Werner Nagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001580, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Annahme, daß die Bundesregierung Überlegungen in der Richtung anstellt, für die Mitarbeiter, von denen Sie soeben sprachen und die eventuell in diesem Bereich nicht weiter beschäftigt werden können, einen Sozialplan aufzustellen, um ihre Zukunft in etwa zu programmieren und Härtefälle zu vermeiden?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter Nagel, Sie können davon ausgehen, daß ich mich - zumal ich mit dem Sujet „Film" über lange Jahre zu tun gehabt habe -, solange ich hier Verantwortung habe, in eigener Person sehr darum bemühen werde, daß soziale Härten abgewendet werden. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß die verschiedenen Tendenzen, die die Wochenschauen beeinträchtigen, nach dem, was Sie hier dargelegt haben, für ein bürokratisch gesteuertes vergleichbares Instrument weniger schädlich wären?

Not found (Staatssekretär:in)

Deshalb meine auch ich nicht, daß wir eine regierungseigene Filmproduktion gründen sollten, Herr Abgeordneter Kleinert. Ich habe vorhin schon gesagt, ich könne mir durchaus vorstellen, daß wir Auftragsproduktionen vergeben. Vizepräsident von Hassel: Die zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Diese Auftragsproduktion würde sich, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sicher nicht wesentlich von dem Produkt unterscheiden, was zur Zeit marktwirtschaftlich und damit meiner Überzeugung und allen Erfahrungen nach kostengünstiger hergestellt wird, als das bei einem bürokratisch auch nur initiierten Instrument der Fall wäre. Teilen Sie diese Ansicht?

Not found (Staatssekretär:in)

Es kommt darauf an, dies zu experimentieren. Im übrigen darf ich Sie, Herr Abgeordneter Kleinert, darauf aufmerksam machen, daß der Markt, den wir bisher mit der Wochenschau beliefert haben, jetzt schon zusätzlich und sogar primär durch den Austausch der Fernsehgesellschaften und auch durch andere Gesellschaften beliefert wird, an denen der Bund beteiligt ist, beispielsweise e-te-s transtel. Es entsteht also in keinem Fall eine politisch relevante Lücke, etwa wenn man an Lateinamerika denkt. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reiser.

Hermann P. Reiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bölling, woher stammen die Zahlen über den Filmbesuch, von denen Sie vorhin sprachen?

Not found (Staatssekretär:in)

Sie stammen aus dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und beruhen meines Wissens auf den Auskünften des Filmtheaterverbands. Ich kann Ihnen diese Zahlen gern besorgen. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klein ({0}).

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001115, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, welchen Sinn sehen Sie in einem Experiment mit einem - wie es der Kollege Kleinert ausgedrückt hat - bürokratisch gesteuerten Instrument, nachdem die vorhandenen Wochenschauen infolge des Ausbleibens staatlicher Förderung ausgeschlossen sind?

Not found (Staatssekretär:in)

Das wäre ein Mißverständnis, Herr Abgeordneter. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß freie Produktionsgesellschaften in aller Regel nach den Prinzipien der Marktwirtschaft sinnvoller arbeiten als staatliche Filmproduktionen. Ich habe nicht die Vorstellung, daß das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung bei einem Ende der Wochenschauen als Substitut in eigener Regie solche Filme machen soll. Aber experimentieren muß man die beste und auch unter dem ökonomischen Gesichtspunkt des Verhältnisses von Kosten und Effizienz günstigste Lösung. Vizepräsident von Hassel: Die zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Reiser.

Hermann P. Reiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär Bölling, Ihnen ist sicher bekannt, daß es einen Austauschpool für Wochenschauen gibt. Sehen Sie im Hinblick auf eine bestimmte Meinungsbildung in der Welt gewisse Gefahren darin,- wenn nur noch der „Augenzeuge" der DDR in diesem Austauschprogramm sozusagen die deutsche Wochenschau vertritt?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich sähe, Herr Abgeordneter, hierin eine Gefahr, und zwar eine Gefahr, die ich nicht unterschätzen würde, wenn die Annahme zuträfe, an die offenbar einige glauben, nämlich daß der „Augenzeuge" und überhaupt die DDR die Möglichkeit haben, mit Wochenschauen und anderen politischen Dokumentarfilmen allenthalben in der Welt aufzutreten. Meine Einsichten vermitteln mir das Bild, daß die DDR nur sehr limitierte Mittel zur Verfügung hat. Wo es notwendig ist, mit Dokumentarfilmen gegen ein verfälschtes Bild der Bundesrepublik aufzutreten, werden wir dies tun. Im übrigen wissen Sie wahrscheinlich, daß etwa zwei Drittel der ausgetauschten Wochenschauen nicht etwa zum Beispiel in Osteuropa oder in China tatsächlich vorgeführt, sondern in aller Regel für Archivzwecke benutzt werden. Politisch relevant vom Standpunkt der Bundesregierung ist im wesentlichen der lateinamerikanische Markt. Auf ihm wünschen wir aus den Gründen, derentwegen Sie fragen, auch künftig präsent zu bleiben. Vizepräsident von Hassel: Weitere Fragen liegen nicht vor. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf, und zwar zunächst die Frage 10 des Abgeordneten Dr. Klein ({0}) : Treffen Pressemeldungen zu, daß der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft sich für die Gewährung eines Zuschusses an die Vereinigten Deutschen Studentenschaften ({1}) aus Bundesmitteln ausgesprochen haben, und wenn ja, welche Haltung hat das Kabinett zu der beantragten Zuschußgewährung eingenommen? Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Glotz das Wort.

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Klein, die Pressemeldungen treffen nicht zu. Die Vereinigten Deutschen Studentenschaften, die, wie Sie wissen, mit dem Verband Deutscher Studentenschaften von früher nicht identisch sind, sondern nur die gleiche Abkürzung tragen, haben beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft beantragt, eine Arbeitstagung der Sozialreferenten der Allgemeinen Studentenausschüsse mit einem Zuschuß in Höhe von 6 300 DM zu fördern. Das beabsichtigte Thema der Tagung lautet: „Stand und Perspektiven studentischer Sozialpolitik: Ausbildungsförderung - Krankenversicherung - Parkstudium". Dieser Antrag wird zur Zeit geprüft. Das Kabinett ist mit der Angelegenheit bisher nicht befaßt worden. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Klein.

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001115, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist dies der einzige Antrag, den die VDS bisher mit dem Ziel, eine Förderung aus Bundesmitteln zu erhalten, an die Bundesregierung gestellt haben?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Bisher ist dies der einzige Antrag, der uns vorliegt. Es sind andere Anträge angekündigt worden; aber bisher liegen keine anderen Anträge vor. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Klein.

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001115, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist es richtig, daß das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft die positive Beantwortung des von Ihnen erwähnten Antrags befürwortet hat?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Klein, die Bundesregierung befindet sich zur Zeit noch im Stadium der Prüfung, und zwar insbesondere, weil die Mitgliederversammlung der VDS, die jetzt gerade stattgefunden hat, noch ausgewertet werden muß. Wenn diese Auswertung beendet sein wird, wird das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, aber auch alle anderen beteiligten Ministerien zu der Frage Stellung nehmen, ob eine solche Einzelförderung in Angriff genommen werden kann. Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Dr. Klein auf: Haben sich seit der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. VDS ({0}) wesentliche neue Tatsachen zur Beurteilung der Förderungswürdigkeit der VDS ergeben, und wenn ja, welches sind diese Tatsachen? Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Die Bundesregierung hat die Maßstäbe ihrer Prüfung in ihrer von Ihnen erwähnten Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU dargelegt. Sie hat dort ausgeführt, daß sie die VDS an ihrem künftigen Handeln messen und deshalb die weitere Entwicklung abwarten wird. Es geht dabei also nicht um „neue Tatsachen", da die Bundesregierung eine abschließende Bewertung der Förderungswürdigkeit von Vorhaben der VDS noch nicht vorgenommen hat. Die bisherige Entwicklung des neuen studentischen Dachverbandes muß im Zusammenhang mit der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung beurteilt werden, von der ich soeben gesprochen habe und die letzte Woche in Köln stattgefunden hat. Da die Bundesregierung - wie bereits mehrfach betont - an einem funktionsfähigen Dachverband aller Studentenschaften in der Bundesrepublik Deutschland interessiert ist, wird sie die Ergebnisse dieser Mitgliederversammlung sorgfältig auswerten. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Klein.

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001115, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nachdem die VDS auf der von Ihnen soeben erwähnten Mitgliederversammlung einen Vorstand gewählt haben, in dem Mitglieder des Spartakusbundes, des Sozialistischen Hochschulbundes ({0}), des Liberalen Hochschulbundes, der Juso-Hochschulgruppen und der Basisgruppen traulich beieinander sitzen, darf ich Sie fragen: Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit von der SPD und der FDP nahestehenden Studentengruppen mit kommunistischen Organisationen in diesen VDS?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Klein, ich glaube nicht, daß die Beurteilung eines Studentenverbandes oder eines Dachverbandes der Studenten ausschließlich auf Grund der formalen Zusammensetzung eines Vorstandes beurteilt werden kann, sondern dies muß auf Grund der konkreten Politik geschehen, die ein solcher Vorstand betreibt. Die Politik des ganz ähnlich zusammengesetzten Vorstandes in der letzten Zeit hat sich etwa von den Verlautbarungen der Politik, die der alte VDS gemacht hat, positiv unterschieden, allerdings noch nicht so positiv, daß man daraus irgendwelche Konsequenzen für die Finanzierung dieses Dachverbandes hätte ziehen können. Die Bundesregierung ist grundsätzlich der Auffassung, daß offene Koalitionen zwischen solchen Studentenverbänden, die Sie genannt haben, kommunistisch orientierten Studentenverbänden und demokratischen Studentenverbänden, überaus problematisch sind und daß gerade die demokratischen Studentenverbände untereinander koalitionsfähig sein sollten, aber es ist nicht die Aufgabe der Bundesregierung, solche Entwicklungen und Bewegungen im studentischen Bereich von vornherein oder auch im nachhinein zu beurteilen und zu bewerten. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Klein.

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001115, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, was Sie mit Ihrer Äußerung gemeint haben - ich zitiere die „Frankfurter Rundschau" vom 1. April 1976 -, daß für eine institutionelle Förderung des neuen Dachverbandes der Studenten zur Zeit noch keine Basis gegeben ist. Darf daraus insbesondere die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Bundesregierung in dieser Frage bald anderen Sinnes werden könnte?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Dies ist abhängig, wie ich Ihnen gerade sagte, von der Bewertung beispielsweise dieser Mitgliederversammlung, beispielsweise aber auch der ganz konkreten Politik, die dieser Verband betreibt. Ich glaube, man muß unterscheiden, Herr Kollege Klein, zwischen einer institutionellen Förderung, die einem Verband pauschal Mittel zuweist, was immer er nun damit im Rahmen bestimmter, vom Haushalt gesetzter Grenzen macht, und der Förderung in ganz bestimmten konkreten Einzelfällen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit einer mit Sicherheit sinnvollen Tagung, auf der sich ein solcher Dachverband mit Ausbildungsförderung, Krankenversicherung und Parkstudium auseinandersetzt, also mit Problemen, mit denen er sich in der Tat zu beschäftigen hat. Dies ist voneinander zu unterscheiden. Es ist allerdings denkbar, daß ein solcher Verband Äußerungen tut, eine Politik betreibt, die auch eine solche Förderung, selbst wenn sie am Punkt ist und sich nur auf die Wahrnehmung wirklicher studentischer Belange bezieht, nicht geraten erscheinen läßt, um nicht in irgendeiner Form die Förderung solcher Auffassungen auch nur möglich erscheinen zu lassen. Das war der Sinn der Unterscheidung in meiner Äußerung zwischen institutioneller und anderer Förderung. Im übrigen muß die Mitgliederversammlung überprüft werden, bevor überhaupt weitere Beurteilungsmöglichkeiten gegeben sind. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß es für die Frage, ob eine studentische Gruppe einer politischen Partei nahesteht oder nicht, nicht wesentlich auf das Selbstverständnis dieser Gruppe, sondern in erster Linie auf das der insofern in Anspruch genommenen Partei ankommt, daß dabei insbesondere die Frage von Bedeutung ist, ob ein wesentlicher Prozentsatz der Mitglieder der Gruppe überhaupt Mitglied in der betreffenden Partei ist?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Dieser Auffassung kann ich voll zustimmen, Herr Kollege Kleinert. Es ist bekannt, daß sich Gruppierungen im studentischen Raum im Titel ihrer Verbände, aber auch in den Verlautbarungen oft mit Begriffen schmükken, die identisch sind mit Begriffen der jeweiligen Parteien, die aber nicht gedeckt sind von einer konkreten Zusammenarbeit zwischen der Partei und den jeweiligen studentischen Gruppen. Damit ziehe ich allerdings keinerlei konkrete Folgerungen, weder für den liberalen Studentenverband noch für die Juso-Hochschulgruppen. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage des Abgeordneten Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002156, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, hat sich nach Auffassung der Bundesregierung die VDS bei ihrer bisherigen Arbeit auf hochschulpolitische Aktivitäten beschränkt, oder würden Sie sagen, daß sie rechtswidrigerweise ein allgemeinpolitisches Mandat wahrnimmt?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Sie hat sich in den letzten Monaten sehr viel stärker auf hochschulpolitische Probleme beschränkt, als dies früher der Fall war. Es gibt aber auch hier - die neue Mitgliederversammlung ist allerdings noch nicht voll ausgewertet; das habe ich gesagt - eine Reihe von Äußerungen und Resolutionen, die über den Bereich der Wahrnehmung des hochschulpolitischen Mandats hinausgehen. Gerade deshalb ist eine endgültige Beurteilung der Aktivitäten auch der neuen VDS noch nicht möglich. Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 12 des Herrn Abgeordneten Dr. Unland auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit ihres Sonderprogramms zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit angesichts der Tatsache, daß von den 35 Millionen DM zur Förderung berufspolitischer Maßnahmen nur 7 Millionen DM in das Land Nordrhein-Westfalen geflossen sind mit der Folge, daß von 19 Arbeitsämtern 9 Arbeitsämter keinerlei Mittel erhielten, darunter das Arbeitsamt Coesfeld, das an der Spitze der Arbeitslosenstatistik in Nordrhein-Westfalen liegt? Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Dr. Unland, für die Verteilung der 35 Millionen DM zur Durchführung zusätzlicher berufsbildungspolitischer Maßnahmen im Sonderprogramm der Bundesregierung vom 28. Januar 1976 war nicht die Arbeitslosenquote ausschlaggebend, sondern - entsprechend der Zielrichtung dieses Programms, Jugendlichen zu helfen, die bisher noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben - die Zahl der Ende November 1975 noch nicht untergebrachten Bewerber für Berufsausbildungsstellen. Nach den vorliegenden Daten ist zu berücksichtigen, daß nur ein gewisser Teil der arbeitslosen Jugendlichen unmittelbar an der Berufsausbildung interessiert ist. Auf Grund vorläufiger Mitteilungen der Arbeitsverwaltung wird das Sonderprogramm von den an der Berufsbildung Beteiligten als ein wirksamer Beitrag zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gut aufgenommen. Allerdings können im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel - das sind für Nordrhein-Westfalen 7 Millionen DM - nicht alle Projekte gefördert und nicht alle Arbeitsämter berücksichtigt werden. Bevorzugt gefördert werden solche Projekte, in denen im Hinblick auf eine spätere breite Beschäftigungsmöglichkeit der Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung in Einrichtungen mit überregionaler Bedeutung durchgeführt werden kann. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Dr. Unland, bitte.

Dr. Hermann Josef Unland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind Sie sich darüber im klaren, daß es im vorliegenden Fall einen erheblichen latenten Ausbildungsbedarf gibt, der nur dadurch verdeckt ist, daß diese jungen Leute aus Mangel an Studienplätzen zur Zeit noch weiterführende Schulen besuchen?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Selbstverständlich bin ich mir darüber im klaren, nur glaube ich, daß die Probleme der Regionalpolitik - die nicht immer auf Versäumnissen beruhen müssen - nicht durch ein Sonderprogramm wiedergutgemacht werden können, das sich spezifisch um eine ganz besondere Aufgabe kümmert, nämlich die Jugendlichen in Ausbildungsstellen unterzubringen, die seit dem letzten Schulentlassungstermin noch nicht untergebracht werden konnten. Hier müssen bei der Auswahl der Gebiete, in denen besonders gefördert wird, andere Kriterien angelegt werden als die sehr ernsthaftigen und wichtigen, von denen Sie eben gesprochen haben, Herr Kollege. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Unland.

Dr. Hermann Josef Unland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, habe ich Sie eben richtig verstanden, daß die bei der Mittelvergabe zugrunde gelegten Entscheidungskriterien ausschließlich auf dem Mißverhältnis der Nachfragezahl und der angebotenen Stellen beruht?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Nein, Herr Kollege Unland. Wie ich im zweiten Teil meiner Antwort ausgeführt habe, geht es auch um die Frage, ob etwa in einem bestimmten Bereich Ausbildungseinrichtungen und später dann auch Arbeitsmöglichkeiten, die diesen Ausbildungsmöglichkeiten korrespondieren, vorhanden sind, die einen massierten Einsatz wirklich sinnvoll erscheinen lassen. In Ihrer Frage wird im Grunde unterstellt, das entscheidende Kriterium müsse die Frage der Arbeitslosigkeit in einer bestimmten Region sein. Gerade auf diese Unterstellung mußte ich entsprechend antworten. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fiebig.

Udo Fiebig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000539, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da in der Frage des Kollegen Dr. Unland der Kreis Coesfeld angesprochen ist: Ist Ihnen bekannt, daß sich für den Neubau des Kreishauses Coesfeld keine Baufirma gefunden hat, die die Auflage der Bundesanstalt für Arbeit erfüllen konnte, 25 Maurer und Poliere neu einzustellen, daß mit anderen Worten erhebliche Konjunkturmittel der Bundesregierung nach Coesfeld zur Stützung des Arbeitsmarktes geflossen sind?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Fiebig, die Tatsache, die Sie anführen, ist sehr interessant. Sie ist mir allerdings nicht bekannt gewesen. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl ({0}).

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ein zusätzliches Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit beschlossen hat, frage ich: Wäre es nicht zweckmäßig, daß sich der Kollege aus Coesfeld einmal vertrauensvoll an die Landesregierung wendet, um aus diesem Topf etwas für seinen Arbeitsamtsbereich zu erhalten?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Das vertrauensvolle Sich-Wenden an Landesregierungen wie auch an die Bundesregierung ist selbstverständlich immer sinnvoll, Herr Kollege Stahl. Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Unland auf: Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, durch Übertragung von Mitteln aus anderen Positionen bzw. durch Einwirken auf das Land Nordrhein-Westfalen zu gewährleisten, daß auch die unberücksichtigt gebliebenen Arbeitsämter Mittel erhalten, um die dort von der Wirtschaft zugesagten zusätzlichen Ausbildungsplätze fördern zu können? Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Das Sonderprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Höhe von 300 Millionen DM sieht 200 Millionen DM für arbeitsmarktpolitische und 100 Millionen DM für zusätzliche berufsbildungspolitische Maßnahmen vor. Es handelt sich hierbei um zwei getrennt durchzuführende Programmteile, bei denen die Mittel insoweit nicht gegenseitig deckungsfähig sind. Eine Übertragung von Mitteln ist daher ausgeschlossen. Da, Herr Kollege Unland, erst Mitte April eine vorläufige Übersicht über die Verwendung der Mittel aus dem Sonderprogramm vorliegt, kann erst zu diesem Zeitpunkt entschieden werden, ob durch Umschichtungen innerhalb des berufsbildungspolitischen Teils bestimmte angemeldete, aber bisher nicht geförderte Projekte Berücksichtigung finden können. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Unland.

Dr. Hermann Josef Unland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wären Sie denn bereit, dafür einzutreten, daß bei eventuell zusätzlichen Programmen, die unter Umständen noch kommen könnten, alle jene Arbeitsamtsbezirke bevorzugt berücksichtigt werden, die bei der derzeitigen Mittelvergabe nicht berücksichtigt werden konnten?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Sicherlich ist das ein wichtiges Kriterium, Herr Kollege Unland. Auf der anderen Seite muß ein Programm immer auf die Möglichkeiten gezielt sein, die in einer ganz bestimmten Region gegeben sind. Es muß ja wirken, es muß dort angenommen werden und angenommen werden können. Diese Kriterien wird man im einzelnen sehr genau prüfen können. Deswegen möchte ich mit Zusicherungen im vorhinein, vor neuen Sonderprogrammen, sehr vorsichtig sein, ganz abgesehen davon, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß über ein Berufsbildungsgesetz eine Finanzierungsregelung durchgesetzt werden sollte und daß es nicht sinnvoll wäre, sich von einem Sonderprogramm zum anderen zu hangeln, um die Probleme damit aus der Welt zu schaffen. ({0}) Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Unland.

Dr. Hermann Josef Unland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß es für die Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungsplätze psychologisch nicht gerade sehr förderlich ist - nachdem die Sonderprogramme propagandistisch sehr breit dargestellt worden sind -, wenn es in mühevollen Verhandlungen zwischen dem Arbeitsamt und einem entsprechenden Träger gelingt, zu erreichen, daß Plätze zur Verfügung gestellt werden, es dann jedoch hinterher keinerlei Förderung gibt nach dem schönen alten Sprichwort: außer Spesen nichts gewesen?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Unland, wenn 300 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden, um ein aktuelles brennendes Problem zu lösen, so wird natürlich jeder Kundige von vornherein wissen, daß die 300 Millionen DM nicht ausreichen, um alle Probleme überall im Land zu lösen, sondern daß eine bestimmte Auswahl getroffen werden muß. Ich kann mich auch Ihrer Wertung des Begriffs Propaganda in diesem Zusammenhang nicht anschließen. Wenn ein solches Programm erstellt ist, muß ja bekanntgemacht werden, daß und welche Möglichkeiten bestehen. Die Bundesregierung hat zu keinem Zeitpunkt erklärt, mit diesen 300 Millionen DM seien alle Probleme zu lösen. Sie hat auch nie einen unmäßigen Propagandaaufwand getrieben, sondern sie hat darauf hingewiesen, welche Möglichkeiten wo gegeben sind. Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß überall in der Bundesrepublik, in allen Landkreisen, die notwendigen Bedingungen bestanden haben. Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 14 des Abgeordneten Dr. Hupka auf: Kann die Bundesregierung darüber Auskunft erteilen, ob Bundesminister Rohde während seines Besuchs in der Volksrepublik Polen auch über die Möglichkeit deutschsprachiger Schulen für die Deutschen in den Oder-Neiße-Gebieten Verhandlungen geführt oder Anregungen und Vorschläge unterbreitet hat? Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Dr. Hupka, die Antwort lautet: Ja, Bundesminister Rohde hat über die Möglichkeiten deutschsprachiger Schulen in Polen keine Gespräche geführt, da der Außenminister zur Zeit die damit in Zusammenhang stehenden Kulturverhandlungen führt. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wäre es aber nicht angebracht gewesen, Herr Staatssekretär, daß Bundesminister Rohde, wenn er schon als Chef dieses Ressorts eine Reise nach Warschau unternimmt, nicht nur die ihm angebotenen Möglichkeiten wahrnimmt, sich über die polnischen Schulverhältnisse zu informieren, sondern sich auch einmal hinsichtlich eines sehr, sehr wichtigen Problems, das vor allem die Deutschen jenseits von Oder und Neiße betrifft, kundig macht und vielleicht auch in einer bestimmten Richtung operiert?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Herr Kollege Hupka, ich glaube, hier kommt es einfach auf die Organisationsverteilung innerhalb der Bundesregierung an. Bundesminister Rohde hält selbstverständlich dieses Problem - wie es in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt - für wichtig. Er wußte aber, daß beispielsweise am 10. März der Außenminister vor dem Auswärtigen Ausschuß wörtlich erklärt hat - ich darf das zitieren -: Die Bundesregierung erklärt, daß sie entsprechend der vom Bundesminister des Auswärtigen dem polnischen Außenminister am 9. Oktober 1975 gemachten Mitteilung das Thema der sprachlichen und kulturellen Rechte für zurückbleibende Deutsche zum Gegenstand ihrer Gespräche mit der polnischen Regierung machen wird. Ich halte es für möglich, Herr Kollege Hupka, daß Herr Außenminister Genscher schon beim zur Zeit stattfindenden Besuch seines polnischen Amtskollegen die entsprechenden Gespräche führt. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, kann man dann vielleicht davon ausgehen, daß Herr Bundesminister Rohde bei den Verhandlungen über das Kulturabkommen entsprechend der Einsicht, die Sie soeben vorgetragen haben, dieses Problem mit einbringen wird?

Prof. Dr. Peter Glotz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000692

Ich glaube, es ist nicht ein Problem der Einsicht, Herr Kollege Hupka, sondern wirklich ein Problem der Aufteilung der Aufgaben zwischen zwei zuständigen Bundesministern. Ich denke, es kann nicht darauf ankommen, daß der eine es tut, wenn der andere es tut. Hier geht es wirklich um die Frage, wie die Aufgaben zwischen dem zuständigen Außenminister und dem zuständigen Bildungsminister aufgeteilt sind. Vizepräsident von Hassel: Keine Zusatzfragen. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt, Herr Staatssekretär. Ich darf Ihnen für die Beantwortung danken. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Ich rufe Frage 15 des Herrn Abgeordneten Schinzel auf: Trifft es zu, daß - wie sowohl in der Illustrierten „stern" als auch in der Wochenzeitung "Vorwärts" dargestellt - über die Bundesrepublik Deutschland indische und pakistanische Staatsangehörige illegal nach Großbritannien gebracht werden und daß dieser Menschenhandel von einer in unserem Land ansässigen Organisation betrieben wird, und wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, mit den zuständigen Stellen in Großbritannien zusammenzuarbeiten, um diesen Menschenhandel zu unterbinden? Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Baum, bitte.

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Ich möchte gern beide Fragen zusammen beantworten, wenn der Herr Abgeordnete einverstanden ist. Vizepräsident von Hassel: Keine Bedenken. Dann rufe ich zusätzlich Frage 16 des Abgeordneten Schinzel auf: Gibt es strafrechtliche oder andere gesetzliche Möglichkeiten, gegebenenfalls diesen Menschenschmuggel zu unterbinden, und - falls dies nicht der Fall ist - was gedenkt die Bundesregierung gegen diese Praktiken zu tun?

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Der Bundesregierung liegen seit Jahren Erkenntnisse darüber vor, daß indische und insbesondere pakistanische Staatsangehörige nach Westeuropa zur illegalen Arbeitsaufnahme einzureisen suchen. Hauptzielland ist Großbritannien. Dieser Personenkreis kommt zum Teil auf dem Landwege über Südosteuropa nach Westeuropa, zum Teil erfolgt die Einreise auf dem Flugwege unmittelbar aus dem Heimatland. Bei der Einreise geben sich diese Personen als Touristen aus oder stellen unter dem Vorwand, in ihrem Heimatland politisch verfolgt zu werden, bei der Einreisekontrolle einen Asylantrag. Zum Teil versucht man, die Grenzkontrollorgane durch Vorlage falscher oder verfälschter Reisepässe zu täuschen. So haben beispielsweise von Januar bis September 1975 1 016 pakistanische Staatsbürger, meistens rechtsmißbräuchlich, Asylanträge in unserem Lande gestellt. Bei der Schleusung indischer und pakistanischer Staatsangehöriger nach Großbritannien wirken sowohl Deutsche als auch in der Bundesrepublik Deutschland lebende Ausländer mit, die für die Schleusung von den zu Schleusenden zum Teil erhebliche Geldbeträge einkassieren. Die Schleusertätigkeit ist im Jahre 1975 besonders stark gewesen. Die Bundesregierung unternimmt gemeinsam mit den Bundesländern alle Anstrengungen, um die illegale Einreise indischer und pakistanischer Staatsangehöriger nach der Bundesrepublik Deutschland, aber auch nach Großbritannien zu unterbinden. Dazu gehören folgende Maßnahmen. Erstens. Die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder arbeiten schon. seit Jahren mit den zuständigen Stellen in Großbritannien eng zusammen. Zwischen der britischen Einwanderungsbehörde und der Gienzschutzdirektion werden ständig Erkenntnisse ausgetauscht. Darüber hinaus erfolgt durch das Bundeskriminalamt ein umfangreicher kriminalpolizeilicher Nachrichtenaustausch über die bestehenden Interpol-Verbindungen mit Großbritannien, Osterreich und Belgien. Zweitens. Die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs betrauten Stellen kontrollieren besonders sorgfältig alle indischen und pakistanischen Staatsangehörigen bei dem Versuch der Einreise in die Bundesrepublik. Entscheidend ist, daß verhindert wird, daß dieser Personenkreis überhaupt in die Bundesrepublik gelangt. Die Anzahl der Zurückweisungen indischer und pakistanischer Staatsangehöriger ist in letzter Zeit in starkem Maße angestiegen. Weitere Maßnahmen sind in Vorbereitung. Drittens. Bei Ausländern, die in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft sind und sich an den Schleusungen nach Großbritannien beteiligen, sind regelmäßig die rechtlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung gegeben. Viertens und letztens. Die Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland haben Ermittlungsverfahren eingeleitet. Da die Schleusung in aller Regel im Einverständnis mit den Betroffenen erfolgt, ist eine Verurteilung wegen einer Straftat gegen die persönliche Freiheit, insbesondere wegen Menschenraubs oder Verschleppung, nicht möglich. In Betracht kommen jedoch Straftaten wegen Urkundenfälschung oder Ordnungswidrigkeiten, wegen Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz der Auswanderer, das Geldbußen bis zu 40 000 DM vorsieht. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schinzel.

Dieter Schinzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001972, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung auch mit indischen Regierungsstellen in Verbindung setzen, um zu erreichen, daß nicht weiterhin indische Staatsbürger auf diesem Wege als Touristen, z. B. durch Vermittlung des Reisebüros Sonnia Travel, in die Bundesrepublik gelangen und dann nach Großbritannien weitergeschleust werden?

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Die Bundesregierung hat derartige Kontakte aufgenommen. Es ist aber nicht sehr erfolgversprechend, auf diese Weise zu versuchen, diejenigen, die als Touristen illegal in unser Land kommen wollen, um dann illegal nach Großbritannien weiterzureisen, an diesem Versuch zu hindern. Es bedarf anderer Maßnahmen. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schinzel.

Dieter Schinzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001972, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, dem Chef dieses Gangsterringes, dem zumindest nach Zeitungsberichten angeblich in Bonn als Taxifahrer arbeitenden Inder Khalon, die Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik zu entziehen?

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Ich habe schon ausgeführt, Herr Kollege, daß hier regelmäßig die Voraussetzungen für eine Ausweisung gegeben sein werden. Ich gehe davon aus, daß die zuständigen Länderbehörden von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen. Vizepräsident von Hassel: Dritte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schinzel.

Dieter Schinzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001972, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, diesen Tatbestand des Menschenschmuggels, der mit den von Ihnen soeben erwähnten Maßnahmen in der Bundesrepublik doch nur recht geringfügig bestraft wird, mit schärferen Strafen zu belegen?

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Darüber ist noch keine Entscheidung getroffen. Wir versuchen zunächst, das Problem auf die Weise zu lösen, die ich Ihnen dargelegt habe. Ich habe Ihnen ja hier angedeutet, daß weitere Maßnahmen in Vorbereitung sind, über die ich hier im einzelnen nicht sprechen möchte. Vizepräsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage. Die Frage 18 des Abgeordneten Gerlach ({0}) wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Dr. Wittmann ({1}) auf. - Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Frage 20 des Abgeordneten Grimming wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Anlage wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Kunz ({2}) auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Fragen 22 des Abgeordneten Dr. Czaja, 23 des Abgeordneten Dr. Abelein und 24 des Abgeordneten Dr. Kunz ({3}) werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Vahlberg auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 83 des Abgeordneten Dr. Hupka auf: Wie hoch ist die Summe, die die Bundesregierung für die Rückerstattung der von der Volksrepublik Polen von den Aussiedlern zur Erlangung der Ausreisepapiere verlangten Gebühren im Zeitraum von 1971 bis 1975 an die hier eintreffenden Aussiedler aufgebracht hat? Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Herr Kollege Dr. Hupka, die in Ihrer Frage angesprochenen Gebühren der Aussiedler aus Polen sind Teil der Rückführungskosten, die nach den „Richtlinien über die Verrechnungsfähigkeit der Kosten der Rückführung gem. § 15 des Ersten Überleitungsgesetzes" im Auftrag des Bundes den Aussiedlern von den Ländern erstattet werden. Es ist zwar bekannt, welche Einzelbeträge im Einzelfall für die verschiedenen Papiere - Anträge, Bescheinigungen, Pässe usw. - gezahlt werden müssen. Es werden für jeden Ausreiseantrag 100 Zloty bezahlt, für verschiedene Bescheinigungen je nach Lage des Einzelfalles insgesamt bis zu 500 Zloty. Die Paßgebühr beträgt für Personen ab 16 Jahren 5 000 Zloty, für Rentner 2 500 Zloty. Für Kinder unter 16 Jahren ist keine Paßgebühr zu entrichten. Diese Ausreisepapiere kosten also im ganzen rund 3 000 bis .5 500 Zloty oder etwa 350 bis 650 DM - nach dem hier zugrunde gelegten Umrechnungskurs. Die von Ihnen gestellte Frage nach der Höhe des von der Bundesregierung in den Jahren von 1971 bis 1975 aufgebrachten Erstattungsbetrages für Gebühren zur Erlangung von Ausreisepapieren läßt sich deshalb nicht genau beantworten, weil eine Erfassung oder statistische Nachweisung nach einzelnen Positionen der Rückführungskosten oder nach Herkunftsgebieten der Aussiedler nicht erfolgt. Eine derartige besondere statistische Aufbereitung wäre mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand verbunden. Der Betrag läßt sich auch nicht einfach aus der Gesamtzahl der von 1971 bis 1975 in die Bundesrepublik aufgenommenen 62 400 deutschen Aussiedler aus Polen ermitteln, weil die Zusammensetzung der Familien nach Erwerbsfähigkeit der Eltern und dem Alter der Kinder so unterschiedlich ist, daß sie die Höhe der Gebühren erheblich beeinflußt. Unter Berücksichtigung all dieser Unsicherheiten, Herr Kollege, komme ich an Hand des mir zugänglichen allgemeinen statistischen Materials auf einen sehr grob geschätzten Betrag von etwa 30 Millionen DM. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wenn Sie mir darin zustimmen können, daß die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Summe belastet wird, läge es dann nicht nahe, in Verhandlungen mit der Volksrepublik Polen zu klären, ob es möglich sein könnte, daß nicht derart hohe Paßgebühren - wie Sie mit Recht angegeben haben - von 5 000 Zloty für jeden, der über 16 Jahre alt ist, erhoben werden?

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Herr Kollege, wir haben es hier in erster Linie mit einer humanitären Frage zu tun und erst in zweiter Linie mit einer Finanzierungsfrage. Für die Bundesregierung steht der humanitäre Aspekt, nämlich die Aussiedlung zu ermöglichen, im Vordergrund ihrer Überlegungen. Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie werden sich doch nicht die Auffassung zu eigen machen können, daß, wenn über Geld gesprochen würde, gleich die Aussiedlung in Gefahr käme? Hier geht es darum, daß seitens der polnischen Regierung seit langem sehr hohe Gebühren erhoben werden, daß Geld in die polnische Kasse fließt, daß wir umgekehrt als Steuerzahler einen Betrag von, wie Sie geschätzt haben - und ich glaube, die Schätzung ist ganz richtig -, 30 Millionen DM für vier Jahre haben aufbringen müssen.

Gerhart Rudolf Baum (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000111

Herr Kollege, ich weiß nicht, ob wir an dieser Stelle in diesem Hause die Polen-Debatte wieder aufnehmen sollten. Dann müßte wahrscheinlich noch mehr zu dem gesamten Problem gesagt werden. Ich sage nur noch einmal: Für die Bundesregierung steht im Vordergrund ihrer Überlegungen, die Ausreise zu ermöglichen. Das geschieht in der Weise, wie ich es dargestellt habe. Erst in zweiter Linie ist dies ein finanzielles Problem. Jedenfalls ist es für die Bundesregierung kein drückendes finanzielles Problem. Vizepräsident von Hassel: Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf, und zwar zunächst die Frage 26 des Abgeordneten Dr. Jobst. - Der Fragesteller ist nicht anwesend; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten von Alten-Nordheim auf: Was gedenkt die Bundesregierung umgehend zu tun, nachdem ihr bekannt ist, daß z. Z. große Mengen Rein-Alkohol ({0}) hauptsächlich von Frankreich zu Dumpingpreisen in die Bundesrepublik Deutschland fließen, ohne daß es möglich ist, umgekehrt Alkohol nach Frankreich zu reexportieren, weil durch Maßnahmen, die den EG-Vertragsvereinbarungen und dem jüngsten diesbezüglichen Urteil des Europäischen Gerichtshofs zuwiderlaufen, die Einfuhr nach Frankreich verhindert wird? Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haehser.

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Herr Kollege, zu Ihrer Frage hat sich mein Kollege Offergeld bereits in der letzten Fragestunde auf eine ähnliche Frage des Kollegen Fiebig geäußert. Ergänzend dazu kann ich Ihnen heute mitteilen, daß der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in der Tagung der EG-Agrarminister zu Beginn dieser Woche in Luxemburg die kurzfristige Festsetzung von Ausgleichsabgaben gemäß Art. 46 des EWG-Vertrages beantragt hat. Die EG-Kommission bereitet zur Zeit eine entsprechende Verordnung vor, durch die der französische Exportpreis für unverarbeiteten Alkohol aus landwirtschaftlichen Rohstoffen auf das deutsche Preisniveau für Monopolsprit heraufgeschleust werden soll. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter von Alten-Nordheim. von Alten-Nordheim ({0}) : Was gedenkt die Bundesregierung gegen die Alkoholeinfuhren aus Italien zu tun, nachdem Sie jetzt nur die französischen Alkoholeinfuhren angesprochen haben, Herr Staatssekretär?

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Sie haben nach den französischen Einfuhren gefragt, und für die französischen Einfuhren habe ich Ihnen eine Antwort gegeben. Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter von Alten-Nordheim. von Alten-Nordheim ({0}): An welchen Verwaltungszeitbedarf denken Sie hinsichtlich der Inkraftsetzung der Ausgleichsabgabe, und wird die Bundesregierung dafür sorgen, daß diese schnellstmöglich erfolgt?

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Die Bundesregierung sieht, daß hier Interessen deutscher Staatsbürger und Firmen berührt werden. Deswegen ist es nachgerade eine Selbstverständlichkeit, daß sie sich bemühen wird, so schnell wie möglich zu Regelungen zu kommen. Ich kann Ihnen sagen, daß die von mir erwähnte Verordnung bereits in den nächsten Tagen in Kraft gesetzt werden soll. Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten von Alten-Nordheim auf: Wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß die bereits in die Bundesrepublik Deutschland geflossenen und z. Z. noch weiter hereinfließenden Mengen ohne Auswirkung auf den Umfang der deutschen Brennrechte bleiben, was für die Existenz der deutschen Brennereibetriebe von entscheidender Bedeutung ist? Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Herr Kollege von Alten-Nordheim, ich wollte Ihre Fragen getrennt beantworten. Einen Zusammenhang gibt es natürlich. Deswegen beantworte ich Ihre zweite Frage wie folgt: Unter den Umständen, die ich in meiner Antwort auf Ihre erste Frage geschildert habe, hält es die Bundesregierung für angebracht, zunächst die Entwicklung nach Festsetzung der Ausgleichsabgabe abzuwarten. Diese Entwicklung ist Ihnen soeben von mir für die nächsten Tage angekündigt worden. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter von Alten-Nordheim. von Alten-Nordheim ({0}) : Herr Staatssekretär könnten Sie Angaben darüber machen, welche Mengen Alkohol bereits hereingeflossen sind?

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Exakte Angaben, Herr Abgeordneter, liegen mir nicht vor. Die Bundesmonopolverwaltung hatte allerdings im März 1976 gegenüber dem entsprechenden Vorjahresmonat einen Absatzrückgang zu verzeichnen. Dieser läßt, auch im Zusammenhang mit anderen Ereignissen, darauf schließen, daß etwa 10 000 hl unverarbeiteten Alkohols in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden sind. Vizepräsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, Herr von Alten-Nordheim. von Alten-Nordheim ({0}) : Ist der Bundesregierung bekannt, daß von den Verbänden erheblich höhere Mengen bereits erfolgter und vor allen Dingen für zukünftige Lieferung kontrahierter Einfuhren angegeben werden, und wie wird sich die Bundesregierung gerade hinsichtlich der für die Zukunft getätigten Kontrakte, was die Ausgleichsabgabe anlangt, verhalten?

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist natürlich bekannt, daß Verbände ein Problem, das sie selber betrifft, häufig noch schwärzer malen, als es ist. Andererseits ist ihr natürlich auch zu Ohren gekommen, daß Kontrahierungen erfolgt sind. Allerdings kann ich Ihnen keinerlei Auskunft über die Höhe geben. Wie wir mit diesen Problemen fertig werden, habe ich Ihnen im Zusammenhang mit den Einfuhren selbst beantwortet: Kontrahierte Einfuhren und bereits erfolgte Einfuhren haben uns dazu veranlaßt, so vorzugehen, wie ich es Ihnen eben geschildert habe. Vizepräsident von Hassel: Ihnen steht leider keine Zusatzfrage mehr zu, verehrter Herr Kollege. von Alten-Nordheim ({0}) : Herr Präsident, ich habe das Empfinden, daß die letzte Zusatzfrage nicht vollständig beantwortet worden ist. Vizepräsident von Hassel: Ich lasse Ihnen noch eine Zusatzfrage zu, weil von den nachfolgenden Fragestellern fast niemand im Saal ist, wir also nachher sehr schnell zu einem Abschluß kommen werden. Bitte schön!

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Herr Präsident, dann muß ich aber sagen: Wenn Sie jetzt eine weitere Zusatzfrage zulassen, könnte der Eindruck entstehen, als würden Sie die Auffassung des Herrn Kollegen teilen. Vizepräsident von Hassel: Die habe ich nicht geteilt, nein.

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Dann bin ich beruhigt und sehr zufrieden. von Alten-Nordheim ({0}) : Herr Staatssekretär, es ging mir ja um die kontrahierten Mengen. Ist Ihnen bekannt, daß beispielsweise der Präsident der französischen Alkoholerzeugerverbände von rund 400 000 hl Alkohol gesprochen hat? Ich frage Sie: Wie wird sich die Bundesregierung gerade hinsichtlich der Ausgleichsabgabe in bezug auf die für die Zukunft kontrahierten Mengen verhalten?

Karl Haehser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000776

Ich habe also doch richtig gelegen mit meiner Vermutung, daß ich Ihre Frage, die ja auch nicht so kompliziert war, durchaus verstanden habe. Wir haben das Problem in seiner Gesamtheit gesehen und uns ihm in seiner Gesamtheit gewidmet, nämlich genau mit diesen Maßnahmen, die ich Ihnen vorhin geschildert habe. Ich hatte gesagt, Herr Kollege, daß die Verordnung bereits in den nächsten Tagen in Kraft treten soll. Sie gilt dann natürlich für alle Einfuhren, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens erfolgen. Vizepräsident von Hassel: Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, zunächst zur Frage 29 des Abgeordneten Hauser ({0}). - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Das gleiche gilt für die Frage 30 des Abgeordneten Hauser ({1}). Auch hier wird die Antwort als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Jens auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die nahezu gleichmäßigen prozentualen Preiserhöhungen an wenigen, aufeinanderfolgenden Tagen in wichtigen deutschen Automobilunternehmen unmittelbar nach abgeschlossenen Tarifverhandlungen, und was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu tun? Bitte zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Die Bundesregierung hat im Jahreswirtschaftsbericht 1976 darauf hingewiesen, daß die Sicherung einer dauerhaften konjunkturellen Aufwärtsbewegung mit einer fortschreitenden Stabilisierung des Preisniveaus auch voraussetzt, daß die Unternehmen ebenso wie die Tarifpartner bei ihren Entscheidungen den beschäftigungs- und wachstumspolitischen Notwendigkeiten Rechnung tragen. Dazu gehört vor allem auch, daß die Unternehmen mit ihrem Preisverhalten keine neuen Verteilungskonflikte hervorrufen, die die Aussichten für Wachstum, Beschäftigung und Stabilität wieder verschlechtern würden. Vor diesem gesamtwirtschaftlichen Hintergrund beobachtet die Bundesregierung die jüngsten Preiserhöhungen in der Automobilindustrie mit Sorge. Im übrigen überprüft das Bundeskartellamt die Preiserhöhungen zur Zeit unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, befürchten Sie nicht, daß von diesen Preiserhöhungen in der Automobilindustrie Signalwirkungen auch auf andere Wirtschaftszweige ausgehen könnten, daß damit die Gefahr besteht, daß der sich gerade deutlich zeigende Aufschwung gedämpft wird, daß der Abbau der Unterbeschäftigung etwas ins Stocken gerät, und es gilt doch wohl auch noch weiterhin, daß wir unbedingt dafür sorgen müssen, die Preise stabil zu halten, um die Unterbeschäftigung abbauen zu können? Vizepräsident von Hassel: Verehrter Herr Kollege, das waren insgesamt vier Teilfragen. Zwei dürfen Sie stellen.

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Herr Kollege, die Bundesregierung hat durch den Bundeswirtschaftsminister in der Konzertierten Aktion und im Jahreswirtschaftsbericht sehr deutlich gemacht, daß sie erwartet, daß die Verbesserung der Ertragssituation der Unternehmen in erster Linie durch eine Vollauslastung der Kapazitäten erreicht wird. Sie hat aus diesen von Ihnen angeführten Gründen mit Nachdruck davor gewarnt, etwa eine Situation heraufzubeschwören, die zu verteilungspolitischen Auseinandersetzungen Anlaß geben könnte. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wird das Bundeswirtschaftsministerium das Kartellamt drängen, unter Umständen eine Untersuchung dieser Preisbildung auf dem Automobilmarkt in Angriff zu nehmen?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Ich habe darauf hingewiesen, daß das Kartellamt diese Preiserhöhungen zur Zeit unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten prüft. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ey.

Richard Ey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, haben auch die Mitglieder der Bundesregierung, soweit sie den Aufsichtsräten und Vorständen der Automobilfirmen angehören, den Preiserhöhungen zugestimmt?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Herr Kollege, es ist nicht Sache der Aufsichtsräte, die Geschäftspolitik der Unternehmen zu betreiben. Die Bundesregierung hat bei allen Gelegenheiten klargemacht, daß sie nicht in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit der Vorstände einzugreifen gedenkt. Sie hat auf der anderen Seite unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten ihre Verpflichtungen erfüllt - und wird sie nachdrücklich erfüllen -, auf Konsequenzen bestimmter unternehmerischer Entscheidungen aufmerksam zu machen. Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Dr. Kunz ({0}) auf. Sie wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Dr. Fuchs auf. Sie wird ebenfalls auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Fragen 36 und 37 des Abgeordneten Reuschenbach sind vom Fragesteller zurückgezogen worden. Vizepräsident von Hassel Ich rufe die Frage 38 der Frau Abgeordneten Dr. Riedel-Martiny auf. Sie wird auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Geldner auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Frage 39 des Abgeordneten Kiechle wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Geldner auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Schröder ({1}) auf: Ist der Bundesregierung bekannt, daß wegen der starken Fangbeschränkungen für Seezungen in den niederländischen Küstengewässern damit gerechnet werden muß, daß niederländische Schiffe in diesem Jahr in verstärktem Maße versuchen werden, innerhalb der 12-Seemeilen-Schutzzone an der deutschen Nordseeküste Seezungen zu fangen, und was gedenkt die Bundesregierung zum Schutz der Fanggebiete und der Kutterfischerei zu unternehmen? Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.

Fritz Logemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001367

Ich möchte, wenn Sie gestatten, die Fragen 41 und 42 zusammen beantworten. Vizepräsident von Hassel: Bitte. Ich rufe dann auch die Frage 42 des Abgeordneten Schröder ({0}) auf: Ist die Bundesregierung im Hinblick auf die begrenzten Möglichkeiten der Fischereischutzboote bereit, zu diesem Zweck auch Boote des Bundesgrenzschutzes einzusetzen?

Fritz Logemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001367

Herr Kollege Schröder, der Bundesregierung ist bekannt, daß die niederländische Regierung zur Ausführung einer Empfehlung der Fischerei-Kommission für den Nordost-Atlantik, nach der für Seezungen Fangquoten vorgesehen und innerhalb von 12 Seemeilen vor der Küste nur Schiffe bis zu 50 Bruttoregistertonnen und 300 PS zugelassen sind, ins einzelne gehende Regelungen über Fangquoten und die Größe der Fangschiffe für die niederländischen Küstengewässer erlassen hat. Auch die Bundesregierung hat auf Grund der erwähnten Empfehlung der Fischerei-Kommission für den Nordost-Atlantik ein entsprechendes Verbot erlassen. Die Bundesregierung wird in den kommenden für den Seezungenfang wichtigen Wochen ein Fischereischutzboot und den Forschungskutter „Solea" zu Kontrollen in den ostfriesischen Fanggründen einsetzen. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu verhindern, daß Fischer anderer Staaten, insbesondere niederländische Fischer, mit größeren und stärkeren Schiffen an der deutschen Nordseeküste, insbesondere vor den ostfriesischen Inseln, entgegen diesen Verboten Seezungen fangen. Die acht Boote des Bundesgrenzschutzes sind in Neustadt/Holstein stationiert und werden für Aufgaben des Grenzschutzes in der Ostsee eingesetzt. Bauart und technische Ausstattung der Fahrzeuge genügen nicht den Anforderungen, die bei Einsätzen der hier genannten Art in der Nordsee außerhalb des Küstennahbereiches zu stellen sind. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, der Abgeordnete Schröder ({0}).

Diedrich Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002076, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, da Ihnen der Einsatzplan der Fischereischutzboote und auch der Fischereiforschungsschiffe bekannt sein dürfte, möchte ich Sie fragen: Glauben Sie, daß die An- und Abfahrten dieser Schiffe in Richtung Island ausreichen, um die ostfriesische Nordseeküste vor den befürchteten Übergriffen zu schützen?

Fritz Logemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001367

Wir sind der Meinung, daß ein entsprechender Schutz gewährleistet werden kann. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß wir zwei Fischereischutzboote entsprechend einsetzen werden. Vizepräsident von Hassel: Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder.

Diedrich Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002076, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Stimmt meine Information, daß insbesondere das von Ihnen zitierte Fischereiforschungsschiff „Solea" überwiegend Forschungsaufgaben durchführen soll und von seiner technischen Ausrüstung her kaum in der Lage sein wird, niederländische Kutter, die in unseren Fischereigebieten fischen, tatsächlich zu stellen?

Fritz Logemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001367

Ich bin der Meinung, daß wir mit dem Forschungsschiff „Solea", das allerdings vorwiegend anderen Aufgaben dient, auch Kontrollen durchführen können. Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen? - Dann sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Fragen 43 und 44 des Herrn Abgeordneten Zoglmann werden auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Dr. Jobst auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Horstmeier auf: Vizepräsident von Hassel Ist der Bundesregierung bekannt, ob nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte Haushaltshilfe nur gewährt wird, wenn die Witwe eines landwirtschaftlichen Unternehmers Betriebsleiterin ist, und ist sie gegebenenfalls bereit, die Rechtslage zu ändern? Der Herr Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Buschfort.

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Horstmeier, in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ist die Gewährung von Haushaltshilfe durch die Satzung des Versicherungsträgers zu regeln. Das Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte enthält dazu die Ermächtigung. Sie ist nicht auf versicherte landwirtschaftliche Unternehmer und ihre Ehegatten beschränkt; sie umfaßt auch die versicherten mitarbeitenden Familienangehörigen. Soweit mir bekannt ist, wird nach den Satzungsbestimmungen der landwirtschaftlichen Krankenkassen Haushaltshilfe nur gewährt, wenn der Haushalt von dem versicherten landwirtschaftlichen Unternehmer oder seinem Ehegatten geführt wurde. Eine Änderung dieser Satzungsbestimmungen können nur die Selbstverwaltungsorgane selbst vornehmen. Der Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen hat mir auf Anfrage mitgeteilt, daß er derzeit mit den landwirtschaftlichen Krankenkassen über eine Änderung der Mustersatzung berät. Danach soll die Haushaltshilfe auch auf die versicherten mitarbeitenden Familienangehörigen erstreckt werden, sofern sie die Aufgaben des landwirtschaftlichen Unternehmers oder seines Ehegatten ständig wahrnehmen. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Horstmeier.

Martin Horstmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000962, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist die Bundesregierung der Meinung, daß eine Änderung im vorliegenden Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz nicht notwendig ist, so daß es nur durch Änderungen der Satzungen zu bewerkstelligen ist?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Horstmeier, die derzeitige Gesetzeslage ist so, daß die Krankenkassen aus eigener Kraft eine solche Veränderung herbeiführen können. Ich sagte bereits, daß man wohl dabei ist, eine entsprechende Mustersatzung zu erarbeiten. Vizepräsident von Hassel: Die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Dr. Evers wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Dasselbe gilt für die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Dr. Böhme ({0}). Ich rufe die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann ({1}) auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen auf. Ich rufe zunächst die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Schmidt ({2}) auf: Ist die Bundesregierung bereit, Auskunft darüber zu geben, wieviel Fluggesellschaften in Deutschland das Schreiben des Bundesverkehrsministers betreffend die Einhaltung der genehmigten Beförderungsentgelte und Beförderungsbedingungen im Fluglinienverkehr unterschrieben und sich damit bereit erklärt haben, gemäß den Bestimmungen der ICAO, der IATA und den Auflagen des Bundesverkehrsministers in bezug auf die von ihm genehmigten Tarife zu verfahren? Der Fragesteller ist anwesend. Bitte, zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jung.

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Schmidt, von den 65 vom Bundesminister für Verkehr angeschriebenen Luftverkehrsgesellschaften, die Fluglinienverkehr mit der Bundesrepublik Deutschland betreiben, haben weit über die Hälfte die verlangte Verpflichtungserklärung zur Einhaltung der genehmigten Beförderungsentgelte und Beförderungsbedingungen unterzeichnet. Eine weitere Gruppe von Luftverkehrsgesellschaften hat die Aktion des Bundesministers für Verkehr grundsätzlich begrüßt und die Unterzeichnung der Erklärung in Aussicht gestellt, sobald sie entsprechende Direktiven ihrer Hauptverwaltungen erhalten haben. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ({0}).

Wolfgang Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002023, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Staatssekretär, daß der Bundesminister für Verkehr alle positiven Kräfte und deren Bemühungen, angefangen von der nationalen Fluggesellschaft bis zu den einzelnen Reisebüros, unterstützt, um den grauen Markt in Deutschland zu beseitigen?

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Ja, Sie haben richtig verstanden, Herr Kollege. Vizepräsident von Hassel: Eine weitere Zusatzfrage? ({0}) - Dann rufe ich die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Schmidt ({1}) auf: Welche Maßnahmen wird der Bundesverkehrsminister ergreifen gegen Fluggesellschaften, die sich nicht an gesetzliche Bestimmungen halten ({2}), und ist der Bundesverkehrsminister bereit, zum einen die Kontrolle zu verschärfen, zum anderer die Ordnungsstrafen von derzeit 5 000 DM pro Ereignis au. 5 000 DM für jeden gesetzwidrig beförderten Passagier festzulegen? Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege, in den letzten sechs Monaten wurden bereits Bußgelder in Höhe von rund 60 000 DM verhängt. Weitere 40 Bußgeldverfahren werden zur Zeit eingeleitet. Fluggesellschaften, welche die genehmigten Tarife nicht einhalten, müssen ferner bei Flügen, die durch die bilateralen Luftverkehrsabkommen nicht gedeckt sind, mit der Verweigerung der erforderlichen Verkehrsrechte rechnen. Mit dem Verband der in der Bundesrepublik vertretenen Flugliniengesellschaften und dem Deutschen Reisebüro-Verband wurden Maßnahmen zur verschärften Kontrolle vor allem derjenigen Gesellschaften, welche die Erklärung noch nicht unterschrieben haben, abgesprochen. Die Erhöhung des Bußgeldrahmens von derzeit 5 000 DM ist nur durch Änderung des Luftverkehrsgesetzes möglich. Die Verdoppelung dieses Betrages auf 10 000 DM für jeden einzelnen Verstoß durch entsprechende Gesetzesänderungen ist vorbereitet. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmidt.

Wolfgang Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002023, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, in Ihrem Hause und eventuell durch den Bundesrechnungshof prüfen zu lassen, ob Angebote für Linien- und Charterflüge den Vorschriften des Bundesverkehrsministers entsprechen, dies um so mehr, wenn es sich um Flüge handelt, die durch Steuermittel finanziert bzw. bezuschußt werden?

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Schmidt, ich bin gern bereit, dies prüfen zu lassen. Ich wäre Ihnen aber dankbar, falls Ihnen konkrete Hinweise vorliegen, diese mir zu übergeben, um die Prüfung zu forcieren und zu vereinfachen. ({0}) Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen? - Die Fragen 52 und 53 des Abgeordneten Löher und die Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Milz werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ebenso werden die Fragen 56 und 57 des Abgeordneten Braun auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Biehle auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 60 der Abgeordneten Frau Berger ({1}) wird auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 61 des Abgeordneten Dr. Wernitz auf. Ist der Fragesteller anwesend? - Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Ebenfalls schriftlich beantwortet wird die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Wernitz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 63 des Abgeordneten Immer ({2}) auf: Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis von der Tatsache, daß an Tankstellen Superkraftstoff verkauft wird, der zu geringe Oktanwerte enthält und sich schädlich auf die Motoren auswirkt, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um zu verhindern, daß weiterhin - insbesondere auch von Autobahntankstellen - Superkraftstoff minderer Qualität verkauft wird? Bitte zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jung.

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Immer, der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß an Tankstellen, insbesondere an Autobahntankstellen, Superkraftstoff minderer Qualität verkauft wird. An Autobahntankstellen hat sich die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen vertraglich das Recht vorbehalten, jederzeit die Qualität des Kraftstoffes überprüfen zu können. Bisherige Kontrollen haben keinen Anlaß zu Qualitätsbeanstandungen ergeben. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie kommt es, daß Ihr Kollege aus dem Innenministerium in einer Presseverlautbarung laut Presse gesagt haben soll, daß 5 % des verkauften Superkraftstoffes nicht den vorgeschriebenen Oktanwerten entspricht und sich schädigend auf die Motoren auswirkt?

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Immer, Sie haben in Ihrer Frage die Autobahnen angesprochen. Wir haben, wie gesagt, unsere Nachforschungen über die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen angestellt. Ich kenne diese Ausführungen meines Kollegen aus dem Innenministerium nicht. Aus Ihrer Zusatzfrage geht nicht hervor, ob Sie Ihre Frage lediglich auf Tankstellen an Bundesautobahnen oder auf Tankstellen ganz allgemein bezogen wissen wollen. Vizepräsident von Hassel: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.

Klaus Immer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000995, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, würden Sie im Zusammenhang mit den Untersuchungen, die bekannt geworden sind und die das Volkswagenwerk und der ADAC angestellt haben, einmal überprüfen, inwieweit dort Unterlagen vorliegen, daß eventuell auch von Tankstellen an Bundesautobahnen solche Kraftstoffe abgegeben werden, und werden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich selbst aus eigener Erfahrung berichten kann, daß an der Autobahntankstelle Siegburg - westliche Seite - ebenfalls Superkraftstoff abgegeben worden ist, der nicht den Bestimmungen entspricht?

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Immer, ich werde Ihre Anregung zu einer erneuten Überprüfung gern aufnehmen. Vizepräsident von Hassel: Die Fragen 64 und 65 des Abgeordneten Dr. Dübber werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Das gleiche gilt für die Frage 66 des Abgeordneten Dr. Evers. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 67 des Abgeordneten Geiger auf. Ist der Fragesteller anwesend? - Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Dollinger auf: Wieviel der jetzt aus dem Verkehr gezogenen Briefmarken mit der Abbildung des ehemaligen Bundespräsidenten D. Dr. Dr. Heinemann lagern noch bei der Deutschen Bundespost ({0}) und der Bundesdruckerei, wie hoch waren die Gestehungskosten der Restbestände und wieviel Marken wurden bereits vernichtet? Bitte schön, zur Beantwortung der Frage 68 des Abgeordneten Dr. Dollinger.

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Nachdem die neue Postwertzeichendauerserie „Industrie und Technik" vollständig war, sind die Restbestände der auslaufenden Dauerserie zurückgezogen worden, damit nicht die Bestände zweier Dauerserien mit insgesamt 34 zum Teil gleichen Wertstufen bereit gehalten werden müssen. Hätten die Schalter die Heinemann-Marken neben der neuen Dauerserie vorrätig gehalten, wären nach grober Schätzung innerhalb relativ kurzer Zeit Personalkosten in Höhe der Herstellungskosten des Restbestandes aufgekommen. Von den Postwertzeichen der Dauerserie „Bundespräsident Heinemann" wurden mit der Beschriftung „Deutsche Bundespost" rund 9,9 Milliarden Stück, mit der Beschriftung „Deutsche Bundespost Berlin" rund 600 Millionen Stück hergestellt. Die Restbestände betragen rund 3 % bzw. 6 % der Gesamtauflagen. Die Herstellungskosten der Restbestände belaufen sich auf rund 800 000 DM bzw. 150 000 DM. Von dem Restbestand wurden - von einem unbedeutenden Einzelfall abgesehen - keine Briefmarken vernichtet. Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Dollinger.

Dr. Werner Dollinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000403, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wie hoch waren die Gestehungskosten der vernichteten Marken einschließlich der Postkarten mit Wertaufdruck? Denn Postkarten mit dem Bilde des Herrn Bundespräsidenten kann man dann ja auch nicht mehr verwenden.

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Herr Kollege Dollinger, ich bin im Augenblick nicht in der Lage, dies im Detail zu sagen. Ich bin aber gerne bereit, diese Zusatzfrage schriftlich zu beantworten. Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Werner Dollinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000403, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Besteht die Absicht, die restlichen Marken mit dem Bild des Herrn Bundespräsidenten Heinemann wieder in den Verkehr zu geben, falls sich herausstellt, daß sich der Herr Bundespräsident am Wahlkampf nicht beteiligt?

Kurt Jung (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001038

Nein, Herr Kollege. Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen. Wir sind damit am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Als letzten Geschäftsbereich für heute rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Die Frage 69 ist von dem Fragesteller, dem Herrn Abgeordneten Josten, zurückgezogen worden. Wir kommen zur Frage 70 des Herrn Abgeordneten Dr. Todenhöfer. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Dann wird die Frage 70 ebenso wie die von dem Herrn Abgeordneten Dr. Todenhöfer eingebrachte Frage 71 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Wawrzik auf. - Der Fragesteller ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Damit sind wir am Ende der beiden Fragestunden dieser Woche angelangt. Ich unterbreche die Sitzung. Sie wird um 15.30 Uhr fortgesetzt. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort. Wir kommen zunächst zu den Anträgen des Vermittlungsausschusses, die heute morgen auf die Tagesordnung gesetzt worden sind. Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung des Abfallbeseitigungsgesetzes - Drucksache 7/4962 Berichterstatter: Senator Willms Das Wort als Berichterstatter hat der Senator Willms. Senator Willms ({1}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Gesetz zur Änderung des Abfallbeseitigungsgesetzes erstatte ich Ihnen im Namen des Vermittlungsausschusses folgenden Bericht. Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. März dieses Jahres den Vermittlungsausschuß mit dem Ziel angerufen, in einer Reihe von Punkten eine Änderung des Gesetzes herbeizuführen. Der Vermittlungsausschuß hat in seiner Sitzung am 1. April 1976 die Vermittlungsvorschläge gemacht, die Ihnen in der Drucksache 7/4962 vorliegen. Erlauben Sie mir dazu folgende erläuternde Bemerkungen. Senator Willms ({2}) Der Gesetzentwurf des Bundesrates vom 12. Juli 1974 und das vom Bundestag am 12. Februar 1976 verabschiedete Gesetz stimmen in ihrer Zielsetzung insofern überein, als an die Überwachung der Beseitigung bestimmter produktionsspezifischer Abfälle erhöhte Anforderungen gestellt werden müssen. Der Bundesratsentwurf macht das deutlich mit der gesetzlichen Anzeige- und Nachweispflicht und dem Betriebsbeauftragten für Abfall. Davon ist auch bei der vom Bundesrat vorgeschlagenen Ergänzung des § 4 Abs. 1 auszugehen, der besonderen Sorgfaltspflicht bei Transportvorgängen, die bei der in der Regel unproblematisch verlaufenden Entsorgung von Hausmüll kaum Bedeutung erlangen dürfte. Die Übereinstimmung in der Konzeption von Bundesratsvorlage und Beschluß des Bundestages bot auch die Grundlage für eine Kompromißlösung, die die Meinungsverschiedenheiten über die Notwendigkeit und die Regelungsmöglichkeiten eines herausgehobenen Abfallbegriffes ausklammert. Die vom Vermittlungsausschuß beschlossene Fassung erlaubt nach einigen notwendigen Ergänzungen einen rechtstechnischen Weg, an die Beseitigung bestimmter, noch durch Rechtsverordnung festzulegender Abfallarten nach Maßgabe des Gesetzes zusätzliche Anforderungen zu stellen, und zwar Anforderungen, die auch der Bundestag für erforderlich gehalten hat. Sie betreffen mit Ausnahme des § 6 - Aufstellung von Abfallbeseitigungsplänen - die Überwachung der Beseitigung dieser Abfälle. Gesetzestechnisch erfolgt dazu in mehreren Paragraphen - ersparen Sie mir die Aufzählung im einzelnen - eine Verweisung auf § 2 Abs. 2. Der Vermittlungsausschuß ist somit dem Begehren des Bundesrates gefolgt, auf eine Definition des Sonderabfallbegriffs im Gesetz selbst zu verzichten. Mit der jetzt gefundenen Lösung wird der Grundgedanke des § 2 des Abfallgesetzes fortgeführt, wie Abfälle möglichst schadlos beseitigt werden können, um Beeinträchtigungen des Wohls der Allgemeinheit zu vermeiden. Im übrigen ist der Vermittlungsausschuß dem Anrufungsbegehren des Bundesrates in folgenden Punkten gefolgt: erstens bei der Streichung der Regelung über Schiffsabfälle, zweitens bei der Streichung der Ermächtigung des Bundesministers des Innern, Verwaltungsvorschriften über Mindestanforderungen an die Beseitigung von Abfällen zu erlassen, und drittens bei der Streichung der Ermächtigung der Landesregierungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen über die Beseitigung von Autowracks. Folgenden Anrufungsbegehren vermochte der Vermittlungsausschuß nicht zu entsprechen: erstens der Einführung eines Genehmigungsverfahrens für den Betrieb ortsveränderlicher technischer Einrichtungen zur Abfallbeseitigung - der Ausschuß ging dabei davon aus, daß die vorhandenen Vorschriften im Bundesimmissionsschutzgesetz diesen Bereich in ausreichendem Maße abdecken - und zweitens der Rückführung des § 16 auf die Fassung der Bundesratsvorlage. Die Fassung des Bundesrates stellt nicht sicher, daß Handlungen, wie sie Gegenstand des sogenannten Hanauer Giftmüllprozesses waren, bestraft werden können. Die Vorschrift richtet sich außerdem auch nicht nach vergleichbaren modernen Straftatbeständen zum Schutz der Umwelt z. B. im Wasserhaushaltsgesetz oder im Bundesimmissionsschutzgesetz, die Vorbild für § 16 in der vom Bundestag beschlossenen Fassung sind. Ich darf Sie nach allem darum bitten, den Vorstellungen des Vermittlungsausschusses zu folgen. ({3})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Meine Damen und Herren, werden hierzu Erklärungen abgegeben? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Es ist über die Vorschläge im Antrag auf Drucksache 7/4962 gemeinsam abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, gebe das, Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Ich sehe eine Gegenstimme. ({0}) - Bitte noch einmal: Wer ist dagegen? - Eine Gegenstimme. Stimmenthaltungen? - Keine. Es ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe den zweiten Zusatzpunkt auf: Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz über den Ehe- und Familiennamen und zu dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts ({2}) - Drucksache 7/4992 Berichterstatter: Abgeordneter Jahn ({3}) Das Wort als Berichterstatter hat der Herr Abgeordnete Jahn ({4}).

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat in mehreren Sitzungen das 1. Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts, das Gesetz über den Ehe- und Familiennamen und das Gesetz zur Änderung beamtenversorgungsrechtlicher Vorschriften behandelt. Der Vermittlungsausschuß legt Ihnen heute einen Einigungsvorschlag vor, der sich auf alle drei Gesetze bezieht. Die Gesetze zur Reform des Ehe- und Familienrechts und über den Ehe- und Familiennamen werden in einem Gesetz zusammengefaßt und damit das gesamte neue Ehe- und Familienrecht wieder in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt. Der Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses geht von der Grundentscheidung aus, die vom Deutschen Bundestag mit dem 1. Ehe- und Familienrechtsreformgesetz getroffen worden ist. Grundlagen des neuen Ehe- und Familienrechts werden sein: die gleiche Rechtsstellung beider Ehepartner in der auf Lebenszeit geschlossenen Ehe, der Übergang vom Verschuldungsprinzip zum Zerrüttungsprinzip bei der Scheidung, ein Unterhaltsrecht, nach dem der wirtschaftlich Stärkere für den Schwächeren auch nach der Scheidung einzustehen hat, die Einführung des Versorgungsausgleichs und schließlich die Zusammenfassung der mit der Scheidung zu treffen16408 Jahn ({0}) den gerichtlichen Entscheidungen bei den neu zu bildenden Familiengerichten. Im einzelnen schlägt der Vermittlungsausschuß Änderungen in folgenden Punkten vor: In § 1565 BGB wird ein Abs. 2 angefügt, nach dem die Scheidung während des ersten Jahres der Trennung der Ehegatten nur dann zugelassen wird, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde. Diese Bestimmung steht in einem Sachzusammenhang mit § 614 ZPO, der dem Richter von Amts wegen die Möglichkeit gibt, das Verfahren auf Scheidung auszusetzen, wenn nach seiner freien Überzeugung Aussicht auf Fortsetzung der Ehe besteht. Die Erweiterung des § 1565 BGB rechtfertigt es, die bisher außerdem vorgesehene Aussetzung aus anderen Gründen, wenn sie billig erscheint, zu streichen. Das schlägt der Vermittlungsausschuß vor. Die Härteklausel des § 1568 BGB wird einerseits erweitert, andererseits werden die Anforderungen in ihm verschärft. Nach dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses soll danach eine gescheiterte Ehe nicht geschieden werden, wenn ihre Aufrechterhaltung im Interesse minderjähriger Kinder aus besonderen Gründen und ausnahmsweise notwendig ist. Auch materielle Härten können unter den ausnahmsweise anzuwendenden Bedingungen des § 1568 BGB berücksichtigt werden. Das Begehren des Bundesrates, auf eine zeitliche Beschränkung der Härteklausel zu verzichten, wurde nicht aufgenommen. Die Härteklausel ist nicht mehr anzuwenden, wenn die Ehegatten länger als fünf Jahre getrennt leben. Beim Unterhaltsrecht schlägt der Vermittlungsausschuß vor, es bei der vom Bundestag beschlossenen Fassung zu belassen. Die Billigkeitsklausel des § 1576 BGB wird dadurch erweitert, daß schwerwiegende Gründe einer Erwerbstätigkeit auch dann entgegenstehen können, wenn sie nicht in den ehelichen Lebensverhältnissen begründet liegen. Diese Worte werden gestrichen. Dafür wird in Satz 2 klargestellt, daß schwerwiegende Gründe nicht allein deswegen berücksichtigt werden dürfen, weil sie zum Scheitern der Ehe geführt haben. Zum Versorgungsausgleich schlägt der Vermittlungsausschuß vor, an der Konzeption der Beschlüsse des Deutschen Bundestages festzuhalten. Er hat insbesondere nicht das Begehren des Bundesrates aufgenommen, den Ehegatten die Möglichkeit einzuräumen, binnen eines Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes den Versorgungsausgleich hinsichtlich der bereits erworbenen Versorgungsansprüche durch einseitige Erklärung auszuschließen. Es sind hier vom Bundesrat verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 14 GG geltend gemacht worden. Für diese Auffassung hat sich im Vermittlungsausschuß eine Mehrheit nicht gefunden. Der Vermittlungsausschuß hat jedoch folgende Änderungen aufgenommen: § 1587 o BGB ist dahin neugefaßt worden, daß die Ehegatten im Zusammenhang mit der Scheidung eine Vereinbarung über den Ausgleich von Anwartschaften oder Anrechten schließen können, wenn die Vereinbarung notariell beurkundet und vom Familienrichter genehmigt wird sowie zu einem nach Art und Höhe angemessenen Ausgleich unter den Ehegatten führt. In § 1408 BGB wird den Ehegatten die Möglichkeit eröffnet, durch Ehevertrag eine ausdrückliche Vereinbarung zu treffen, daß der Versorgungsausgleich ausgeschlossen werden soll. Die Billigkeitsregelung, die in § 1587 c BGB vorgesehen ist, wird in Nr. 1 der entsprechenden Regelung im Unterhaltsrecht angeglichen. Entgegen den Entscheidungen des Bundestages schlägt der Vermittlungsausschuß vor, dem Begehren des Bundesrats zu folgen und an der Möglichkeit festzuhalten, daß im Erbrecht der Erblasser dem Ehegatten den Pflichtteil entziehen kann, und zwar unter den gleichen Voraussetzungen wie bei Abkömmlingen. Die entsprechende Formulierung finden Sie in der Drucksache, bezogen auf den vorgeschlagenen § 2335 BGB. Zum Namensrecht, das, wie gesagt, in das gesamte Gesetz eingefügt wird, schlägt der Vermittlungsausschuß vor, entgegen dem ursprünglichen Beschluß des Bundestages von einem Zwang abzusehen, wonach die Ehegatten eine Bestimmung über den Ehenamen treffen müssen. Wird keine Bestimmung getroffen, bleibt es beim Namen des Mannes als Ehenamen. Es bleibt dagegen bei der Entscheidung des Bundestags zu § 1355 Abs. 3, wonach ein Ehegatte, dessen Name nicht Ehename wird, seinen Geburtsnamen dem Ehenamen voranstellen kann. Die Rückwirkung, d. h. das Recht der Ehegatten bereits bestehender Ehen, von den Möglichkeiten des neuen Namensrechts Gebrauch zu machen, hat der Vermittlungsausschuß nicht beibehalten. Für die Auffassung des Bundestags, daß diese Rückwirkung verfassungsrechtlich geboten sei, fand sich keine Mehrheit. Da demnächst das Bundesverfassungsgericht auf Grund dort anhängiger Streitfälle zu dieser Frage ohnehin zu entscheiden hat, kann dieser Spruch des Gerichts abgewartet werden. Zum beamtenrechtlichen Versorgungsausgleich gibt es gegenüber der Entscheidung des Bundestags keine wesentliche Änderung. Lediglich bei der Regelung von Erstattungen ist der Vermittlungsausschuß dem Bundesrat gefolgt. Einzelheiten sollen durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats geregelt werden. Wegen der übrigen Änderungen, die entweder von geringerem Gewicht oder Folgeänderungen der vorgetragenen sind, nehme ich auf die Ihnen vorliegende Drucksache Bezug. Das Namensrecht soll, weil hierfür praktische Bedürfnisse bestehen, zum 1. Juli 1976 in Kraft treten, das übrige Gesetz zum 1. Juli 1977, d. h. das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts bisheriger Fassung und das Gesetz zur Änderung beamtenversorgungsrechtlicher Vorschriften. Hier ist für Praxis und insbesondere Gerichte nach Auffassung des Vermittlungsausschusses eine angemessene Anlaufzeit zweckmäßig. Jahn ({1}) Der Vermittlungsausschuß schlägt Ihnen gemäß § 10 seiner Geschäftsordnung vor, über alle Abänderungsvorschläge gemeinsam abzustimmen. Ich bin der Auffassung, daß mit dieser Vorlage im Vermittlungsausschuß ein regelrechter Kompromiß gefunden werden konnte, der dessen Fähigkeit, auch in einer schwierigen Frage einen Einigungsvorschlag zu unterbreiten, in einer befriedigenden Weise unter Beweis gestellt hat. ({2})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Zur Abgabe einer Erklärung hat Herr Abgeordneter Emmerlich das Wort.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion wird dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmen. Von Anfang an ist es unser Bestreben gewesen, die Eherechtsreform nicht zum Gegenstand parteipolitischer Konfrontation werden zu lassen. Wir haben es begrüßt, daß sich die Opposition schon bei den Beratungen im Bundestag den tragenden Grundsätzen unseres Reformkonzepts angeschlossen hat. Weil wir eine breite Zustimmung zur Eherechtsreform wünschen, haben wir uns bemüht, im Vermittlungsverfahren die noch verbliebenen Differenzen auszuräumen. Wir stellen mit Genugtuung fest, daß das gelungen ist. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion kann dem Vermittlungsvorschlag deshalb zustimmen, weil durch ihn keines der Ziele der Eherechtsreform aufgegeben oder in Frage gestellt wird. Diese Reform soll für die Gleichberechtigung der Frauen auch in der Ehe sorgen und die gesetzliche Fixierung der Ehefrauen auf die Hausfrauenrolle beseitigen. Der Vermittlungsvorschlag bringt insoweit keinerlei Abstriche. Die Reform muß die Benachteiligung der Hausfrauen im Scheidungsfolgenrecht beseitigen; im Unterhaltsrecht dadurch, daß der Unterhalt nicht von der Schuldfrage abhängt, sondern davon, ob ein Ehegatte nach der Scheidung nicht für sich selbst sorgen kann, bei der Alterssicherung dadurch, daß die während der Ehe erworbenen Anwartschaften und Aussichten auf eine Altersversorgung zwischen den Eheleuten geteilt werden. Auch dieses Reformziel bleibt vom Vermittlungsvorschlag unberührt. Der Versorgungsausgleich kann bei einer Scheidung nach dem Vermittlungsvorschlag zwar abbedungen werden; derartige Vereinbarungen waren jedoch schon nach dem Beschluß des Bundestages möglich, wenn auch nicht in allen . Fällen. Diese geringfügige Erweiterung der Abdingbarkeit ist akzeptabel, weil derartige Vereinbarungen in jedem Fall vom Familiengericht genehmigt werden müssen und die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn die an Stelle des Versorgungsausgleichs vereinbarte Leistung zur Sicherung des Berechtigten für den Fall der Erwerbsunfähigkeit und des Alters geeignet ist und zu einem angemessenen Ausgleich zwischen den Ehegatten führt. Nach dem Vermittlungsvorschlag kann der Versorgungsausgleich darüber hinaus zukünftig auch durch Ehevertrag ausgeschlossen werden. Wir wollten derartige Eheverträge im Interesse des sozial Schwächeren nicht. Schon in der ersten Lesung habe ich aber darauf hingewiesen, daß es nach unserer Einschätzung nicht leicht sein wird, seinen Verlobten oder seinen Ehegatten zum Abschluß eines solchen notariellen Ehevertrages zu bewegen, und daß deshalb die praktische Bedeutung dieser Änderung gering ist. Diese Einschätzung macht es uns möglich, dem Vermittlungsvorschlag auch insoweit zuzustimmen. Wir werden uns jedoch darum bemühen, daß unsere Mitbürger eindringlich über die Risiken, die mit solchen Eheverträgen verbunden sind, informiert werden. Bei den Ehescheidungsgründen kommt es darauf an, daß das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst wird, weil im Interesse der Betroffenen und aus Respekt vor der Ehe die Scheidung endgültig gescheiterter und nur noch als juristische Fiktion bestehender Ehen zeitlich nicht unbegrenzt verweigert werden darf, weil die Gerichte aus Achtung vor der Würde des Menschen und im Interesse des Ansehens der Justiz nicht gezwungen werden dürfen, in die Privat- und Intimsphäre einer Ehe einzudringen, obwohl bekannt ist, daß dabei weder mehr Wahrheit noch mehr Gerechtigkeit herauskommt. Auch dieses Reformziel wird bei Annahme des Vermittlungsvorschlages nicht gefährdet. Die Härteklausel bleibt zeitlich nur begrenzt anwendbar. Wenn an die Stelle des von uns bevorzugten Anwendungszeitraums von drei Jahren fünf Jahre treten, so handelt es sich zwar um einen quantitativen, jedoch nicht um einen qualitativen Unterschied. Der Anwendungsbereich der Härteklausel wird nur scheinbar ausgedehnt. Zwar können materielle Folgen der Scheidung und auch das Wohl der Kinder berücksichtigt werden; andererseits aber wird der Anwendungsbereich der Härteklausel gleichzeitig so eingeschränkt, daß nur ganz wenige Ausnahmefälle unter sie subsumiert werden können. Nach dem Vermittlungsvorschlag kann im ersten Jahr der Trennung die Scheidung nur erreicht werden, wenn dem Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten oder in dessen Lebensbereich liegen, nicht zugemutet werden kann, dieses Jahr abzuwarten. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach dem Beschluß des Bundestages zur Vermeidung voreiliger Scheidungen im ersten Trennungsjahr eine einverständliche Scheidung nicht möglich ist und daß der Familienrichter das Ehescheidungsverfahren für ein Jahr aussetzen konnte, selbst dann, wenn keine Aussicht auf Fortsetzung der Ehe gegeben ist, sondern die Aussetzung aus sonstigen Gründen billig erscheint. Wir wollten damit erreichen, daß dem an sich zur Fortsetzung der Ehe bereiten Ehepartner die Umstellung auf seine neue Lebenssituation erleichtert wird und daß nötigenfalls auch der erforderliche Abstand zwischen dem etwaigen Unrecht der Ehezerstörung und dem Ausspruch der Scheidung hergestellt werden kann. Diese Absicht steht auch hinter dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses, während des ersten Emmerlich Jahres der Trennung die Scheidung nur unter besonderen Voraussetzungen zuzulassen. Wir bleiben dabei, daß unser Weg, über eine prozessuale Aussetzungsmöglichkeit dieses Ziel zu erreichen, zu besseren Ergebnissen geführt hätte. Der Vermittlungsvorschlag bietet nur die zweitbeste Lösung. Er ist aber nicht mit unerträglichen Nachteilen verbunden. Zwar enthält er verschuldensähnliche Momente, diese kommen aber nur in solchen Fällen zum Tragen, in denen ein Ehegatte glaubt, die einjährige Trennung nicht abwarten zu können. Derartige Fälle sind sehr selten, zumal nur dann Aussicht auf rechtskräftige Erledigung vor Ablauf dieses ersten Trennungsjahres besteht, wenn offensichtlich ist, daß in der Person des anderen Ehegatten oder in dessen Lebensbereich liegende Gründe die Fortsetzung der Ehe unmöglich machen. Deshalb und im Interesse einer Einigung über das gesamte Reformwerk haben wir uns entschlossen, auch diesen Vermittlungsvorschlag anzunehmen. Nach dem Bundestagsbeschluß sollte die Eherechtsreform am 1. Januar 1977 in Kraft treten. Wir haben nach wie vor den Eindruck, daß das möglich wäre, wollen jedoch nicht über die Bedenken der Bundesländer, deren Gerichte das neue Eherecht anwenden müssen, hinweggehen. Wir begrüßen, daß auf Grund der Einigung im Vermittlungsausschuß ein neues Ehenamensrecht nicht nur zustande kommt, sondern bereits am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten kann. Wir bedauern es, daß der Name des Mannes der Ehename wird, wenn sich die Eheschließenden nicht anderweitig verständigen können, und daß Verheiratete keine Möglichkeit erhalten, ihren Ehe- und Familiennamen nach den neuen Bestimmungen zu wählen. Ohne die Zustimmung des Bundesrates, meine Damen und Herren, gibt es aber überhaupt kein neues Ehenamensrecht. Der im Vermittlungsausschuß gefundene Kompromiß ist angesichts dieser Situation akzeptabel, zumal die CDU/CSU ihrerseits akzeptiert, daß derjenige, dessen Geburtsname nicht zum Familiennamen wird, diesen dem Familiennamen voranstellen kann. Darauf hinzuweisen ist schließlich noch, daß das neue Eheverfahrensrecht mit dem Familiengericht völlig unverändert erhalten bleibt. Um zu einer gerechten Bewertung unserer Entscheidung zu kommen, muß klargestellt werden, daß der weitaus überwiegende Teil der Änderungsanträge der Bundesratsmehrheit ohne Erfolg geblieben ist und nur wenige dieser Anträge zu Modifikationen des Bundestagsbeschlusses führen. Aus Zeitgründen kann ich nicht alle dieser Änderungsanträge erwähnen, die die CDU/CSU fallengelassen hat. Ich will mich hier auf die gravierendsten dieser erfolglosen Änderungsanträge beschränken. Die CDU/CSU wollte, daß die Scheiternsvermutung widerlegbar ausgestaltet werden sollte. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die vom Bundestag beschlossene Unwiderleglichkeit der Vermutung zum Anlaß genommen worden ist, eine Kampagne gegen die Eherechtsreform und damit gegen uns unter Stichworten wie „Kalender- oder Fristenscheidung" zu inszenieren, angeblich um die Ehe- und Familienfeindlichkeit dieser Gesetzgebung und eine Gefährdung der Institution Ehe zu belegen. Der verleumderische Charakter dieser Kampagne tritt nunmehr offen zutage; denn es bleibt dabei, daß die Scheiternsvermutung nicht widerlegbar ist. Wir sind sehr froh darüber, daß im Vermittlungsausschuß der Versuch der CDU/CSU abgewehrt worden ist, Verheirateten zu erlauben, durch einseitige Erklärung eines Ehegatten den Versorgungsausgleich auszuschließen. Das würde im Ergebnis eine schwerwiegende Benachteiligung der schon verheirateten Frauen zur Folge haben, der Frauen also, die zu ihrer Alterssicherung bei einer Scheidung den Versorgungsausgleich besonders benötigen. Die CDU/CSU hat auch keinen Erfolg damit gehabt, im Unterhaltsrecht und im Versorgungsausgleich bei den sogenannten Härteklauseln und im Verfahrensrecht bei der Vorschrift über die Auflösung des Verhandlungs- und Entscheidungsverbundes das Schuldprinzip durch die Hintertür wieder einzuschmuggeln. Es ist der CDU/CSU auch nicht gelungen, den Vorrang des Güterrechts vor dem Versorgungsausgleich und damit eine weitgehende Aushöhlung des letzteren durchzusetzen. Die CDU/CSU wollte, daß der Versorgungsausgleich nicht von Amts wegen durchgeführt werden muß. Das wäre praktisch auf die formlose Vereinbarung des Ausschlusses des Versorgungsausgleichs im Falle der Scheidung hinausgelaufen. Die Sicherung des sozial Schwächeren dadurch, daß derartige Vereinbarungen der Genehmigung des Familiengerichts bedürfen, wäre dadurch beiseite geräumt worden. Die CDU/CSU hat schließlich einsehen müssen, daß solche Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, die Manipulationen zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung und damit zu Lasten der Beitragszahler ermöglichen, nicht zugelassen werden können. Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, zusammenfassen. Die vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagenen Änderungen der Beschlüsse des Bundestages verwässern die Eherechtsreform nicht. Durch sie wird die Reform nicht zu einer Reformruine. Festzustellen ist vielmehr, daß die Reform in ihrer Substanz unverändert und unbeschädigt erhalten bleibt. Der Vermittlungsausschuß schlägt uns Modifizierungen vor, die nicht über den Spielraum hinausgehen, der bei voller Aufrechterhaltung und Bewahrung der Reformziele gegeben ist. Wir Sozialdemokraten haben den Vorschlag des Vermittlungsausschusses sorgfältig und nicht rechthaberisch geprüft. Wir können unser Ja zu dem Vermittlungsvorschlag guten Gewissens verantworten. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lenz ({0}).

Prof. Dr. Carl Otto Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001322, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Kollege Paul Mikat hat bei der ersten Lesung des hier in Rede stehenden Gesetzes am 13. Oktober 1971 gesagt: Oberste Maxime staatlicher Reform . .. sollte sein ..., daß eine Ehe, die unwiderruflich zerstört ist, mit einem Maximum an Fairneß und Praktikabilität, einem Minimum an Bitterkeit und einem Optimum an sozialer Verantwortlichkeit gegenüber und unter allen Beteiligten geschieden werden kann. Der Gesetzesbeschluß des Bundestages - dies ist die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion - entsprach diesen Grundsätzen nicht. Die Kritik, die daran geübt wurde, halten wir infolgedessen in vollem Umfang in jedem einzelnen Punkt aufrecht, und wir weisen die Unterstellungen des Kollegen Emmerlich soeben in seinen Darlegungen, die einer Erklärung zu einem Begehren des Vermittlungsausschusses in ihrem Charakter nicht entsprachen, nachdrücklich zurück. ({0}) Die Bemühungen der CDU/CSU im Vermittlungsausschuß standen unter der Zielsetzung, die unser Freund Mikat genannt hat. Diese Bemühungen waren in wesentlichen Punkten erfolgreich. Ich möchte diese Punkte nicht alle im einzelnen wiederholen, sondern nur die Schwerpunkte ansprechen. Beim Namensrecht war einer der Hauptpunkte unserer Kritik, daß die rückwirkende Änderung von Namen für Personen, die an einem Namenswechsel Interesse hatten, weil sie in Registern standen, wo man nicht gern steht, ihnen die Möglichkeit gegeben hätte, den Namen nachträglich zu ändern. Diese Möglichkeit ist ausgeräumt. Das Gesetz tritt nämlich nicht rückwirkend in Kraft. Zweitens hatten wir es als nicht richtig empfunden, daß der Standesbeamte die Ehegatten zu einer Erklärung über ihren Ehenamen zwingen soll. Auch dieser Punkt ist in das Vermittlungsbegehren nicht aufgenommen worden. Lassen Sie mich dann zu den Scheidungsgründen kommen. Die durch Beschluß der Mehrheit des Bundestages vorgesehene Möglichkeit der sofortigen Scheidung der Ehe wegen selbstverschuldeter Zerrüttung wurde beseitigt. Bei selbstverschuldeter Zerrüttung ist eine Scheidung nach dem Beschluß des Vermittlungsausschusses erst ein Jahr nach der Trennung vom anderen Ehegatten möglich. Vorher kann die Ehe nur geschieden werden, wenn ihre Fortsetzung für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen, also nicht in der eigenen Person, liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde. Ich halte das zusammen mit meiner Fraktion für einen ganz wesentlichen Punkt; denn hierdurch konnten wir dem Rechtsgrundsatz „Niemand soll aus eigenen Rechtsverletzungen für sich günstige Rechtsfolgen herleiten können" in einer begrenzten, aber wirksamen Weise Geltung verschaffen. ({1}) Dadurch wird die Position des ehetreuen Ehegatten erheblich gestärkt; denn so wird verhindert, daß die fristlose Scheidung aus der Zerrüttungsklausel bei selbstverschuldeter Zerrüttung der Normaltatbestand bei den Scheidungen wird. ({2}) Zur Härteklausel hatten wir drei Anliegen. Erstens war uns die Befristung auf drei Jahre zu kurz. Zweitens fehlte die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Härten, und drittens fehlte die Berücksichtigung des Kindeswohls. Meine Damen und Herren, in allen drei Punkten haben wir entscheidende Verbesserungen erzielen können. Es ist heute nicht mehr so leicht möglich, zu sagen, dieses Gesetz sei kinderfeindlich; denn die berechtigten Interessen der Kinder können nach diesem Gesetz jetzt gewahrt werden. ({3}) Die meisten CDU/CSU-Mitglieder des Vermittlungsausschusses waren der Auffassung, daß mit der neuen Klausel zwar nicht alle, aber doch die allermeisten Härten berücksichtigt werden konnten, die durch Verweigerung der Scheidung einer gescheiterten Ehe überhaupt gemildert werden können. Zu dem Punkt der Unwiderlegbarkeit, den Herr Kollege Emmerlich hier angesprochen hat, erkläre ich folgendes. Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes, so wie es gefaßt ist, würde es sehr schwierig sein, nachzuweisen, wann eine Trennung angefangen hat. Infolgedessen würde es auch sehr schwierig sein, nachzuweisen, ob sie ein Jahr gedauert hat. Infolgedessen haben wir diesen Punkt, weil die Gegenseite darüber überhaupt nicht mit sich reden ließ, nicht weiter verfolgt. Nach dem Beschluß der Bundestagsmehrheit wurde der sogenannte Versorgungsausgleich obligatorisch für alle Ehen, gleichgültig, ob sie vor oder nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes geschlossen worden sind. Damit wurde der Grundsatz der Vertragsfreiheit auch über den ehelichen Güterstand, der sonst im Eherecht gilt, gröblich verletzt. Nach der Empfehlung des Vermittlungsausschusses können die Ehegatten in Zukunft in einem Ehevertrag durch ausdrückliche Vereinbarung auch den Versorgungsausgleich ausschließen. Außerdem können sie im Zusammenhang mit der Scheidung eine Vereinbarung darüber schließen. Diese muß allerdings dem Versorgungsausgleichsanspruch gleichwertig, notariell beglaubigt und vom Familienrichter genehmigt sein. Mit der Koalition waren wir stets der Auffassung, daß Manipulationen zu Lasten der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung vermieden werden müssen. Auch in diesem Punkt haben wir volle Genugtuung erfahren. Das neue Ehegesetz soll am 1. Juli 1977 in Kraft treten. Diese Frist sichert Gerichten, Rechtsanwälten und mit der Durchführung des Gesetzes sonst Befaßten die Möglichkeit, sich in die neue Materie ein16412 Dr. Lenz ({4}) zuarbeiten, was ebenfalls nach dem Beschluß der Bundestagsmehrheit nicht der Fall war. Das neue Scheidungsrecht beruht auf einem durch Erwägung der Einzelfallgerechtigkeit und der Billigkeit gemilderten Zerrüttungsprinzip. Die Unterstellung, wir hätten versucht, dem Schuldprinzip Eingang zu verschaffen, war immer falsch; sie bleibt es auch jetzt. Man hätte sich eine noch stärkere Berücksichtigung der Gesichtspunkte der Einzelfallgerechtigkeit und der Billigkeit wünschen können. Dies war jedoch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag nicht möglich. Meine Damen und Herren, die Mehrheit meiner Fraktion ist der Auffassung, daß im großen und ganzen ein Kompromiß zustande gekommen ist, mit dem man leben kann. Ich verschweige dem Hause aber nicht, daß eine Minderheit der Auffassung ist, daß die Bedingungen für eine Zustimmung nicht erfüllt sind. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.

Hans A. Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000472, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt das vorliegende Ergebnis des Vermittlungsausschusses. Wir stellen mit großer Befriedigung fest, daß auch die Opposition und die Mehrheit des Bundesrates zu der Einsicht gelangt sind, daß von der Bevölkerung eine Reform erwartet wird, die diesen Namen verdient. Nach der Proklamation einer Art Volkskrieg in der Mammutdebatte vom 11. Dezember 1975 gegen dieses Gesetz war das eigentlich in dieser Form nicht zu erwarten. Wir sind der Auffassung, daß es im Interesse der Sache begrüßenswert ist, wenn hier ein Ergebnis auf dem Tisch liegt, das in seinem wesentlichen Inhalt und in seinen Konturen vom Inhalt des Regierungsentwurfs in der Fassung, die er in den Ausschußberatungen gefunden hat, geprägt ist. Wir waren immer der Meinung, daß eine Reform des Ehe- und Familienrechts das Scheidungsrecht als Kernstück haben müsse. Wir sind in diesem Bereich mit unseren Vorstellungen im wesentlichen durchgedrungen. Es ist der Opposition nicht gelungen, das angestrebte Zerrüttungsprinzip erneut mit starken Elementen des Schuldprinzips anzureichern. Sicherlich gibt es noch einige Schönheitsfehler. In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf zu verweisen, daß die Scheidung nunmehr erst nach einjähriger Trennung möglich sein soll ({0}) und, verbunden damit, daß die Aussetzungsmöglichkeiten für den Richter beschränkt worden sind und damit für den Verfahrensablauf ganz sicherlich nicht der bestmögliche Weg eingeschlagen worden ist. Die jetzt vorgesehene Härteklausel bringt eine Fünfjahresfrist und eine das Kindeswohl betreffende Klausel, die wir von der Praxis her nicht als notwendig ansehen. Wir verkennen aber nicht, daß die Härteklausel insgesamt eine so restriktive Fassung gefunden hat, daß ohne weiteres auf die Rechtsprechung zu vertrauen ist, daß diese nach dieser Klausel nun nicht als nach einem Ersatz für den bisherigen § 48 des Ehegesetzes greift, sondern von ihr einen sehr maßvollen Gebrauch machen wird. ({1}) [CDU/CSU]: Wir vertrauen auf die Vernunft der Richter!) Wir halten es für akzeptabel, daß der Versorgungsausgleich durch Ehevertrag abdingbar ist, und zwar ganz einfach deswegen, weil eine so große Zumutung darin liegen wird, einen den Versorgungsausgleich ausschließenden Ehevertrag abzuschließen, daß ein solcher Vertrag ohne entsprechenden materiellen Ausgleich für den anderen Teil überhaupt nicht zustande kommen wird. Für die praktische Abwicklung des Versorgungsausgleichs wird es günstig sein, daß die Vergleichsmöglichkeit nunmehr wesentlich erweitert worden ist, diese aber gleichzeitig der richterlichen Genehmigung unterliegt. Wir begrüßen weiter, daß in der Frage des Namensrechtes gleichfalls eine Einigung erzielt werden konnte. Dabei erscheint uns wesentlich, daß derjenige, dessen Familienname nicht Ehename geworden ist, nunmehr seinen bisherigen Namen dem Ehenamen voranstellen kann. Damit ist unserem wesentlichen Votum Rechnung getragen, daß mit der Eheschließung der Name als ein wesentliches Merkmal der Persönlichkeit künftig nicht abgeschnitten wird. Insgesamt enthält der vorliegende Antrag des Vermittlungsausschusses das, was wir an inhaltlichen Kernpunkten in diese Reform eingebracht haben. Die Fraktion der Freien Demokraten wird dem Antrag zustimmen. ({2})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, werden weitere Erklärungen abgegeben? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zu der Abstimmung, die nach dem Beschluß des Vermittlungsausschusses gemeinsam vorzunehmen ist, was sie geschäftsordnungsmäßig sehr erleichtert. Wer dem Bericht des Vermittlungsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung mit Mehrheit angenommen. ({0}) - Waren es zwei Enthaltungen? - Bei zwei Enthaltungen mit Mehrheit angenommen. Ich komme damit zu Punkt 3 der Zusatzpunkte: Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Änderung beamtenversorgungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 7/4993 Berichterstatter: Abgeordneter Jahn ({2}) Vizepräsident Dr. Jaeger Als Berichterstatter hat der Abgeordnete Jahn ({3}) das Wort. ({4}) Der Abgeordnete Jahn ({5}) macht mich darauf aufmerksam, daß darüber schon mit berichtet worden ist. Wird zu Erklärungen hierzu das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Auch hier ist gemeinsam abzustimmen. Wer dem Antrag des Vermittlungsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich, bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Nun kehren wir zu Punkt 2 der heutigen Tagesordnung zurück. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Aigner.

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin sehr dankbar, daß der Herr Bundesaußenminister heute vormittag auch von der großen Enttäuschung gesprochen hat, die die Sitzung des Europäischen Rats in Luxemburg nicht nur bei uns, sondern auch bei ihm hervorgerufen hat. Diese Enttäuschung ist durch unsere heutige Debatte leider nicht geringer geworden. Wir hatten gestern in Luxemburg noch eine sehr lange Diskussion. Ich habe in der Beurteilung dieses Gipfels noch nie eine solche Solidarität festgestellt, und zwar über alle Fraktionen und alle nationalen Gruppen einschließlich aller Beamten und aller Organe hinweg. Warum ist diese Enttäuschung nicht geringer geworden? Weil die Bundesregierung diese europäische Diskussion - und wir haben doch so wenig Gelegenheit, über die echte Problematik Europas zu sprechen - leider Gottes benützt hat, um den Wahlkampf mit dem völlig artfremden Thema hier zu führen. Wieder einmal hat diese Bundesregierung die große Chance verspielt, europäische Problematik zu diskutieren. Wir hatten in Luxemburg einen unwahrscheinlichen Erwartungshorizont. Um nur eine Zahl zu nennen: Über 500 Journalisten aus allen Regionen dieser Welt, von den Vereinigten Staaten bis zu Rotchina, waren vertreten und warteten, was an Beschlüssen und an Konkretem herauskommt. Idi bringe nur das Zitat eines ungarischen Journalisten, das besser als jeder lange Kommentar ist: „Wenn ich vom Gipfel so berichten würde, wie er war, würde man mich der kommunistischen Propaganda bezichtigen." Herr Bundesaußenminister, mit dieser Formel ist eine Gefahr angesprochen, die auch die „Prawda" - Herr Strauß hat heute vormittag schon darauf hingewiesen - in ihrem Montag-Kommentar geäußert hat. Die „Prawda" sagt: Der europäische Gipfel ist völlig gescheitert. Die Weichen - jetzt kommt das Entscheidende für eine paneuropäische Zusammenarbeit über die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Systeme hinweg sind jetzt gestellt. Das heißt, aus dem Scheitern erhebt die östliche, die kommunistische Seite den Anspruch, nun ein anderes Europa anzusteuern und in der Integrationspolitik Europas entscheidend mitzusprechen. Ich glaube, daß leider auch der heutige Beitrag des Herrn Kollegen Brandt eine Gefahr in der kommenden Diskussion Europas ganz deutlich aufgezeigt hat. Warum ist z. B. der Gipfel wirklich gescheitert? Doch nicht deshalb, weil die Regierungschefs etwa nicht wollten! Alle sind überzeugt - mit jedem einzelnen können Sie sprechen, jeder geht davon aus -, daß dieses Europa eine Notwendigkeit ist, auch für jede Nation, auch unter nationalen Gesichtspunkten; aber sie konnten sich über keines der Themen einigen. Weder ist über den TindemansBericht ernstlich diskutiert worden, noch hat man einen Beschluß über die europäischen Wahlen fassen können. Was soll diese Ehrenbürgerschaft? Das hätte man auch in einer anderen, sogar feierlichen Form tun können. Dazu war jedenfalls der Gipfel nicht einberufen. Sie sind deshalb gescheitert, liebe Kollegen, weil die nationalen Machtstrukturen eben nicht ausreichten zur Aktion im Gipfel. Damit ist die Enttäuschung nicht nur im Fehlschlagen der politischen Diskussion zu sehen, sondern es ist leider auch ein institutioneller Fehlschlag. Denn der Grundgedanke des europäischen Gipfels war doch der, daß man sagte: Wenn schon die Nationalstaaten, die Mitgliedstaaten in der Europäischen Gemeinschaft nicht in der Lage sind, ihre Souveränitätsrechte teilweise auf eine europäische Ebene zu übertragen, dann sollen sich wenigstens die Träger der nationalen Machtstrukturen auf europäischer Ebene finden und gemeinsam in einem Organ arbeiten, das nicht einmal in den Römischen Verträgen vorgesehen ist. Das war der Grundgedanke. Nun stellen wir fest, daß auch hier selbst bei gutem Willen diese nationalen Machtstrukturen nicht ausreichen. Es war doch beschämend, daß der italienische Ministerpräsident in der Nacht telefonieren mußte, als der Kompromißvorschlag vom französischen Staatspräsidenten Giscard kam und er dann nach vielen, vielen nächtlichen Telefongesprächen feststellen mußte: „Obwohl ich bereit wäre, einem solchen Kompromiß zuzustimmen, reicht meine nationale Basis nicht aus. Sie würde zerbrechen, wenn ich zustimmen würde." Ähnlich sieht es in Frankreich aus. Giscard ist doch der Vater des Gedankens der europäischen Wahlen. Warum konnte er diesem Kompromiß im Parteienbericht - ich darf es so nennen - nicht zustimmen? Weil die nationalen Strukturen nicht ausreichten; weil hier etwas eingetreten ist, von dem er glaubte, daß es nicht stark genug ist. Es ist leider stark genug. Die Rechte und die Linke haben sich verbündet gegen Europa, die Gaullisten - und zwar die rechten, die Gralshüter, die aus der Ursteinzeit - und die Kommunisten, und unter diesem Druck von rechts und von links von der nationalen Basis her konnte er es nicht wagen, das, was er auf europäischer Ebene wollte, auch wirklich durchzusetzen. Ähnlich ist es bei den anderen. Und nub, Herr Bundesaußenminister, darf ich doch die Frage stellen: Wie muß ich denn die Verdienste oder das Versagen der Mitglieder des Gipfels beurteilen, das, was sie oben getan haben, wie kompromißbereit sie waren, oder muß ich nicht fragen: Wie weit haben sie ihren Spielraum, den sie zu Hause haben, für die europäische Aktivität mobilisiert? Wenn ich so frage, dann muß ich sagen, daß jedenfalls die deutsche Bundesregierung ihren Spielraum nicht voll ausgeschöpft hat; denn Sie haben ja zu Hause volle Rückendeckung. Sie haben für jeden weiteren Schritt in Richtung europäische Integration die volle Rückendeckung nicht nur hier in diesem Hause, sondern z. B. auch im Bundesrat. Eine französische Zeitung schrieb: Am meisten enttäuschend - ich darf diesen Ausdruck gebrauchen, wie er dort geschrieben stand - war diese penetrante Passivität der deutschen Delegation. Ich meine, deshalb sollte die Bundesregierung nicht so tun, als hätte sie nicht teil an dieser Enttäuschung über den europäischen Gipfel. Warum ist z. B. - das ist ja heute vormittag schon angeklungen - der französische Staatspräsident in diese unbewegliche Situation auf europäischer Ebene gekommen? Eine französische Zeitung schrieb: Herr Schmidt läßt Giscard fallen. Das war eine Schlagzeile. Nun, so stimmt es sicherlich nicht. Aber was steht dahinter? Dahinter steht doch die Erkenntnis, daß die deutsche Bundesregierung eben nicht mehr bereit ist, wirklich alle Kräfte zu mobilisieren, um von ihrer Position her den Partnern Rückendeckung zu geben, welche diese Bewegungsfreiheit in ihrem Innern nicht haben. ({0}) Wenn z. B. der Kollege Brandt den Herrn Mitterrand als zukünftigen Präsidenten so herzlich begrüßt, obwohl er weiß, daß gerade Mitterrand mit den Kommunisten den Sperriegel darstellt, warum Giscard unbeweglich ist, dann - ({1}) - Ich glaube, Herr Wehner, daß man die Dinge so nennen muß, wie sie sind. ({2}) Nur dann, wenn Sie die Gefahren erkennen - ich weiß natürlich nicht, ob Sie das wollen -, können Sie wenigstens versuchen, dagegen Aktionen einzuleiten.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Aigner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Corterier?

Dr. Peter Corterier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000339, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Aigner, ist Ihnen denn wirklich nicht bekannt, daß in der Frage der Direktwahl, um die es auf der Konferenz vor allem ging, die französischen Sozialisten eine positive Einstellung haben, daß der Sperriegel aus Gaullisten und Kommunisten bestanden hat?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Corterier, Sie wissen doch ganz genau - mein Kollege Klepsch hat es heute vormittag schon gesagt -, daß hier eine Klausel enthalten ist, daß auch die Sozialisten durch Herrn Mitterrand erklärt haben: Nur unter ganz bestimmten Formeln sagen wir ja dazu. Diese Formel ist so geprägt, daß mit Sicherheit keine Mehrheit in Europa zustande kommt. Das wissen Sie doch genausogut wie ich. Das scheint mir die Kernfrage zu sein: Wer Europa wirklich will, muß die Pluralität aller politischen Strömungen akzeptieren. Ich sage auch folgendes, Herr Corterier: Ein Europa ohne die Sozialdemokraten wird mit Sicherheit keine Realität werden, aber genauso auch nicht ein Europa ohne die Christdemokraten. ({0}) Eines ist aber sicher - deshalb sage ich es, gerade auch an die Adresse von Herrn Wehner -: Ein kommunistisches Europa wird und darf es mit Sicherheit nicht geben. ({1}) Ich wäre der letzte, der zustimmte, die nationale Souveränität auf eine europäische Ebene zu verlagern, wenn dort die Kommunisten praktisch die Macht ausübten. Ein Europa mit Konzentrationslagern ist nicht das Europa, daß wir unter der Identität Europas verstehen. ({2}) - Es ist ganz interessant, daß Sie so reagieren, Herr Wehner. ({3}) Nunmehr komme ich auf einen Zwischenruf von Herrn Brandt von heute vormittag zu sprechen. Herr Brandt hat mit Recht gesagt: Die Kommunisten sind aber doch eine Realität in Europa. - Das ist richtig. Die entscheidende Frage wird für uns alle, auch für diese Seite, sein: Wie verhalten wir uns zu den Kommunisten? ({4}) Wenn die Subversionspolitik Moskaus so weiterschreitet - und das wissen wir -, sind natürlich die italienischen und französischen Kommunisten eine Gefährdung dieser Pluralität. Oder sind auch die Kommunisten nur ein Beweis der Pluralität in Europa? Das ist die entscheidende Frage.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Aigner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Friedrich?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, lassen Sie mich den Gedanken zu Ende führen. Ich muß sagen, ich bin heute vormittag eigentlich am stärksten beeindruckt gewesen nicht durch das, was Herr Kollege Brandt gesagt hat, sondern davon, wie er es gesagt hat: diese innere Erregung, als er von den Freiheitskämpfen der Sozialisten, Sozialdemokraten sprach! Ich glaube, hier ist etwas Echtes spürbar gewesen; eine tragische Figur, die immer von der Einheit der Arbeiterklasse träumte, die ja dann zu der SED drüben führte. Man spürte, daß diese Gefahr, diese Illusion noch lebendig ist, leider auch in großen Teilen Ihrer Fraktion; sonst gäbe es ja auch nicht die Auseinandersetzungen in München. Das wissen Sie ganz genau. ({0}) Nun, Menschen und damit Kommunisten können sich zweifellos wandeln. Es gibt niemanden, der daran zweifelt. Aber können sich auch Irrlehren wandeln? Ich glaube nicht; Irrlehren können nur verschwinden. Es ist nicht zu bestreiten, daß mit den Kommunisten in Europa als Realität zu rechnen ist. Wie verhalten wir uns? Herr Bundesminister, wir haben im Bundestag - soviel ich weiß, einstimmig - eine Entschließung verabschiedet, in der ein diesbezüglicher Punkt enthalten ist, nämlich die Aufforderung an die Bundesregierung, daran mitzuwirken, daß die Menschenrechte - freie Wahlen, Bürgerrechte - nicht nur vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar gemacht, sondern durch die Gemeinschaft garantiert werden. Schade eigentlich, daß der Gipfel über diesen Gedanken nicht gesprochen hat. Wenn es nämlich möglich wäre, wirklich ein Instrument zu entwickeln, mit dem Europa, auch wenn es noch nicht in seiner endgültigen Form steht, in allen Regionen die Bürgerrechte und freie Wahlen zusichern könnte, garantieren könnte, könnte man mit der Realität der Kommunisten in Europa auch etwas leichter fertig werden. ({1}) - Bitte schön, Herr Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte nur zur Klärung eine Frage stellen. Herr Kollege, stimmen Sie mir in der Feststellung zu, daß auf dem Gipfel in Luxemburg nicht in einem einzigen Fall eine Einigung an der Bundesregierung, sondern in allen Fällen immer wieder an dem Widerspruch anderer Regierungen gescheitert ist?

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe ja gerade vorhin darauf hingewiesen, daß ich die Beurteilung eines Mitgliedlandes der Europäischen Gemeinschaft nicht allein danach vornehmen kann, zu welchen Kompromissen es bereit war; sondern es gibt auch Unterlassungssünden, wie Sie als Jurist wissen. Was haben Sie nicht getan? Warum haben Sie nicht mehr Mobilität entwickelt? Warum haben Sie nicht mehr Phantasie? Wenn die Bundesregierung in den letzten Jahren in der Europa-Politik so viel Energie mobilisiert hätte, wie sie es bei Fehlentwicklungen in einer anderen Richtung gemacht hat, sähe es heute, glaube ich, in Europa schon etwas anders aus. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Aigner, ich bitte Sie, langsam zum Ende zu kommen. Ich gebe Ihnen noch ein paar Minuten, weil Sie mehrere Zwischenfragen beantwortet haben. Aber kommen Sie dann bitte zum Ende. ({0})

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die europäische Einigung notwendig ist. Wir sehen jetzt, wie die regionalen Kräfte erwachen. Auf der anderen Seite entstehen die supranationalen Strukturen langsam. Das ist nicht die Frage. Wir wissen auch, wie die Welt nach diesem Europa hungert. Ich denke nur daran, wie z. B. die 46 AKP-Staaten eine politische Entscheidung für dieses Europa getroffen haben, obwohl es selbst noch keine Formen hat. Das ist zweifellos eine Realität. Aber das Entscheidende ist - damit komme ich wirklich zum Schluß, Herr Präsident -, ({0}) diese europäische Einigung ist vor allem notwendig wegen der Frage: Wie wird sich der Osten zu diesem Europa verhalten? Die größte Gefahr kommt doch aus dem Ost-West-Konflikt, und ich glaube, daß keine Idee außer dieser europäichsen Idee in der Lage ist, dem Weltrevolutionsanspruch und der kommunistischen Ideologie wirklich als Alternative entgegenzutreten. Vor dieser europäischen Idee fürchtet sich auch - das ist völlig klar - der kommunistische Weltrevolutionsanspruch; darum diese Reaktion aus Moskau. Der Herr Bundeskanzler hat heute mit Recht davon gesprochen, daß es in der ideologischen und geistigen Auseinandersetzung keinen Kompromiß geben darf. Nun, um diese geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus bestehen zu können, bedarf es der echten Realisierung der europäischen Idee. Diese Idee muß wieder Visionskraft bekommen, muß heraus aus den schwierigen Detailfragen und muß eine politische Vision nicht nur für die westeuropäischen Völker, sondern auch für die Völker im Osten werden. Ich glaube, dann entstünde aus diesem neuen Glanz Europas eine große Anziehungskraft, und damit würde eine große Gefährdung für die Welt beseitigt werden. Nach Europa hungert nicht nur dieser Kontinent, sondern wirklich die Welt! ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehrenberg.

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Aigner hat hier das Hauptgewicht seiner Ausführungen auf die Realität der Kommunisten in Europa gelegt. Herr Kollege Aigner, Sie haben bei Ihrer nicht sonderlich scharfen 1 641 6i Analyse einen Tatbestand vergessen. Sie haben vergessen hinzuzufügen, daß kommunistische Kräfte in Europa nur dort politisch mit Erfolg agieren und Stimmen gewinnen können, wo jahrzehntelang konservative Regierungen, deren sie tragende Parteien Ihnen sehr viel näher steht als uns, es versäumt haben, die Sozialstrukturen durch Reformpolitik so zu verändern, daß den Kommunisten die Agitationsbasis entzogen ist. Das gehört dazu! ({0}) Das gehört zu einer Analyse der kommunistischen Realität in Europa. Aber kommen wir von diesen Ausführungen des Kollegen Aigner zur Regierungserklärung zurück, die der Bundeskanzler heute früh hier abgegeben hat. In dieser Regierungserklärung ist sehr deutlich die Problematik der Europäischen Gemeinschaft und ist ebenso deutlich die Position der Bundesrepublik in dieser Europäischen Gemeinschaft angesprochen worden. Wenn dabei die Position der Bundesrepublik als eine besonders stabile, wenn dabei die Bundesrepublik als ein politisch und sozial stabiles Staatswesen erscheint, so ist das nicht die Selbstdarstellung eines europäischen Musterknaben, sondern gehört notwendig zu einer realistischen, zu einer objektiven Ausgangsanalyse. Wenn man über erfolgreiche Fortsetzung europäischer Politik reden will, muß man zur Kenntnis nehmen, daß die unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Entwicklungen und die mit unterschiedlichen Zielen und mit unterschiedlicher Konsequenz in den letzten Jahren betriebene Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die Hauptursachen dieser europäischen Problematik sind, die darin liegt, daß statt eines Zusammenfindens ein Auseinanderstreben zu erkennen ist. Um eine international abgestimmte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die wiederum die Grundlage für das Zusammenwachsen Europas ist, erfolgreich betreiben zu können, muß man den eigenen Standort und den Standort unserer benachbarten Freunde, vor allen Dingen die ökonomische Ausgangssituation, deutlich machen. Was der Bundeskanzler hier zur konjunkturellen Lage gesagt hat, kann nur unterstrichen werden, und es muß nach den anschließenden Ausführungen des Abgeordneten Strauß noch einmal hervorgehoben werden. Es muß hervorgehoben werden, daß zur Zeit die Auftragseingänge steil nach oben zeigen, daß wir von der schon positiven Beurteilung der Konjunktursituation im Jahreswirtschaftsbericht nicht abzurücken brauchen, sondern heute noch etwas deutlicher sehen, daß der Aufschwung Tritt gefaßt hat. Selbst bei der Opposition hat sich das inzwischen herumgesprochen; sonst könnte es kaum CDU-Parteiplakate mit der Aufschrift geben: „Den Aufschwung sichern". ({1}) - Herr Kollege, das steht auf CDU-Plakaten - ein sehr deutlicher Beweis dafür, ({2}) wie weit dieser Aufschwung inzwischen dank der erfolgreichen Wirtschafts- und Finanzpolitik gediehen ist. Aber auch wenn Herr Strauß - nur noch zögernd - gewisse konjunkturelle Frühlingsschwalben feststellen kann: die neueste Vorausschätzung der OECD zeigt leider - dieses „leider" muß dreimal unterstrichen werden - für die verschiedenen europäischen Partnerstaaten sehr unterschiedliche Entwicklungen. Mit etwa 4 bis 5 % Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts liegt die Bundesrepublik an der Spitze, gefolgt von Frankreich mit gut 4 % und allen anderen Ländern mit leider sehr viel weniger. Wir können für die Bundesrepublik mit Recht davon ausgehen, daß diese Schätzung an der Untergrenze der wahrscheinlichen Entwicklung liegt. Selbst beispielsweise der Sparkassenpräsident Geiger, sicher niemand, den man besonderer Leichtfertigkeit wird zeihen können, schätzt inzwischen für die Bundesrepublik ein reales Wachstum von gut 6 °/o. Aber vor diesem Hintergrund, vor den Darstellungen, die der Bundeskanzler in der Regierungserklärung hier sehr deutlich ausgebreitet hat, angesichts der Spitzenstellung in der internationalen Preisstatistik, der Devisenbewegungen, die bei allen europäischen Währungen zu erheblichen Verringerungen des Wertes gegenüber der Deutschen Mark geführt haben, bei aller Problematik, die sich gerade in den Devisenbewegungen als einem Spiegelbild der unterschiedlichen Entwicklung zeigt, muß hier auch darauf hingewiesen werden, daß selbst 1975, im Jahr der tiefsten Weltrezession seit 1945, in der Bundesrepublik die verfügbaren Nettorealeinkommen noch um 4,4 °/o gestiegen sind, in Frankreich auch noch um 3 °/o, in allen anderen Nationen aber gar nicht oder nur sehr wenig. Das ist ein Beweis dafür, wie sehr der stabilitätspolitische Vorlauf der Bundesrepublik genützt hat. Es ist aber auch ein Beweis dafür, wie unerträglich die ständigen unwahren Aussagen sind, die von der CDU/CSU über die wirtschaftliche Lage in diesem Lande ausgebreitet werden. Neben alledem, was sich heute in eineinviertel Stunden der Abgeordnete Strauß hier im Verbreiten von Unwahrhaftigkeiten über die Situation in der Bundesrepublik geleistet hat, muß ich hier noch einen anderen, den hessischen CDU-Führer, das Mitglied der zehnköpfigen Führungsmannschaft der Union, zitieren. Herr Dr. Alfred Dregger hat in der „Saarbrücker Zeitung" am 24. März 1976 behauptet: Die Bundesrepublik Deutschland hat in den sieben Jahren SPD/FDP-Regierung in den Fragen der Vollbeschäftigung wie der wirtschaftlichen Stabilität ihre Spitzenposition in Europa verloren. ({3}) Mehr die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen, ist nicht möglich. Es gibt in all den in der Regierungserklärung genannten Bereichen nicht eine einzige vergleichende Statistik Europas, in der die Bundesrepublik nicht den ersten Platz einnimmt. Herr Dregger aber behauptet kühn - ({4}) - Auch dort hat die Bundesrepublik den besten Platz. Lesen Sie nach, Herr Narjes! ({5}) - Verehrter Herr Narjes, ich wollte Ihnen die Zahlen ersparen. Ich kann sie Ihnen der Reihe nach vorlesen. Es ist dies keine SPD-Statistik, sondern vom International Labour Office der EG veröffentlicht. Danach ergibt sich für 1975 folgende Arbeitslosenquote: Großbritannien 4,4 %, Bundesrepublik Deutschland 4,7 %, Niederlande 4,8 %, Frankreich 5,0 %, Italien 5,7 %, Belgien 6,7 %, Dänemark 10,9%, Irland 12,2 %. Die einzige Zahl, die im Durchschnitt des Jahres 1975 um 0,3 % besser lag als bei uns, war die Zahl aus Großbritannien. Diese Zahl, verehrter Herr Narjes, ist inzwischen durch die MärzZahlen überholt: im März liegen wir bei knapp 5 %, Großbritannien bei 6 %.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Aigner.

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr!

Dr. Heinrich Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Kommission in Brüssel erklärt hat, man könne die Zahlen gar nicht vergleichen, weil sie auf verschiedenen Berechnungsgrundlagen beruhen?

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das nehme ich gern zur Kenntnis. Wenn man nämlich die Zahlen bereinigte, wenn man die europäische Statistik ebenso wie die deutsche machte, wären unsere Zahlen noch entschieden besser, als sie es sind, weil ein großer Teil der Nichtleistungsempfänger, der in der deutschen Statistik enthalten ist, von anderen europäischen Staaten in der Statistik nicht mit geführt wird.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Ehrenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Todenhöfer?

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie mich anschließend großzügig behandeln!

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich werde Sie wegen der Redezeit ebenso großzügig behandeln wie Ihren Vorredner.

Dr. Jürgen Todenhöfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002333, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ehrenberg, wären Sie bereit, die absoluten Arbeitslosenzahlen zu nennen, und würden Sie sagen, daß wir auch bei den absoluten Arbeitslosenzahlen am Ende der Rangliste in Europa stehen?

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die absoluten Zahlen kann ich Ihnen nicht nennen; ich habe kein statistisches Handbuch hier. Außerdem, verehrter Herr Kollege Todenhöfer: absolute Zahlen aus Luxemburg und der Bundesrepublik wollen Sie wohl nicht ernsthaft miteinander vergleichen. ({0}) Auch bei der Größenordnung der Niederlande oder Dänemarks wird wohl ein Vergleich der absoluten Zahlen völlig nichtssagend sein. Vernünftigerweise kann man nur den Anteil der Arbeitslosen an der Zahl der Beschäftigten miteinander vergleichen, aber nicht die absoluten Zahlen bei einem Volk mit 60 Millionen und einem Volk mit 5 oder 6 Millionen Bevölkerung. Auch ein Entwicklungspolitiker, Herr Todenhöfer, sollte so viel über Statistik wissen, daß Vergleiche dieser Art nicht gutgehen können. ({1}) Ich kann Ihnen leider ein weiteres Zitat von Herrn Dregger nicht ersparen. Herr Dregger hat vor wenigen Tagen in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" unter der Überschrift „CDU-Wahlsieg wäre Signal für ganz Europa" folgendes gesagt: Wenn wir Frankreich, Italien, die iberische Halbinsel oder auch Großbritannien betrachten, wer soll eigentlich eine neue Entwicklung einleiten, wenn nicht wir? „Wir" ist die CDU. Wenn hier am 3. Oktober die CDU an die Regierung kommt und die sozialistischen Hilfstruppen eine Niederlage erleiden, hat das Signalwirkung für ganz Europa. Ich will nicht lange Motiv- und Sprachforschung treiben, aus welcher Ecke Herr Dregger die Formulierung „sozialistische Hilfstruppen" übernommen hat. Aber in einem muß ich ihm zustimmen: Ein CDU-Sieg am 3. Oktober wäre ein Signal für Europa. Ich frage nur: Was für ein Signal wäre das für Europa, etwa ein Signal dazu, bei uns eine Entwicklung - und zwar eine politische, soziale und ökonomische Entwicklung - wie in den von Herrn Dregger beispielhaft genannten Staaten einzuleiten? - Auf dieses Signal allerdings können die deutschen Arbeitnehmer verzichten, und sie werden am 3. Oktober auf dieses Signal, das Herr Dregger anstrebt, auch verzichten. ({2}) - Warten Sie ab, was geschehen wird. Es ist notwendig, noch einige Äußerungen von Herrn Strauß zurechtzurücken. Herr Strauß hat den Bundeskanzler der Irreführung der Öffentlichkeit bezichtigt, ({3}) weil der Bundeskanzler gesagt hat, daß zu der Zeit, als Finanzminister Strauß Verantwortung trug, nämlich in den Jahren 1967/68, der Anteil der Nettokreditaufnahme am Bruttosozialprodukt höher war als in den Jahren der sozialliberalen Koalition, mit der einen einzigen Ausnahme: im Weltrezessionsjahr 1975. Herr Strauß hat das als irreführend bezeichnet. Ich hatte gehofft, daß Herr Strauß heute noch so viel aus seiner Finanzministerzeit gegenwärtig hat, daß er auch aus dem Stegreif weiß, daß die Angaben des Bundeskanzlers richtig waren. Aber da er es nicht zu wissen scheint - ich hoffe, er wird das Protokoll nachlesen -, will ich Ihnen hier die Zahlen nennen. Der Anteil der Nettokreditaufnahme des Bundes am Sozialprodukt betrug 1967 1,3 % und 1968 1,1 %, 1970 0,2 %, 1971 0,2 %, 1972 0,5 %, 1973 0,3 % und 1974 1,0 %. Ihnen allen, die Sie Herrn Strauß zugehört haben, sei empfohlen, das nachzulesen und gleichzeitig darüber nachzudenken, welch eine Irreführung der Öffentlichkeit wohl damit verbunden ist, wenn der Abgeordnete Strauß von diesem Pult aus den Saldo aus 20 Jahren Nettokreditaufnahme von 14 Milliarden DM nennt und so tut, als wäre damit der Bundeskanzler widerlegt, den Saldo aus einer Zeit, in der vier Jahre lang ein Schäfferscher Juliusturm aufgerichtet wurde, mit dem viele Infrastrukturinvestitionen, die wir nötig gebraucht hätten, verhindert wurden. ({4}) - Das zeigt an Ihrer Aussage, daß sie falsch ist. Man kann solch einen Saldo aus 20 Jahren mit der Nettokreditaufnahme eines Jahres vor allen Dingen dann nicht vergleichen, verehrter Kollege Aigner, wenn das Bruttosozialprodukt, auf das sich die Kreditaufnahme bezog, 1950 keine 100 Milliarden DM, 1968 keine 500 Milliarden DM und 1974 mehr als 1 000 Milliarden DM betrug. Bei dieser unterschiedlichen Größenordnung des Sozialprodukts kann man doch wohl nicht mit einem Saldo der Nettokreditaufnahme über zwei Jahrzehnte operieren, jedenfalls nicht dann, wenn man einmal Finanzminister war, ohne sich lächerlich zu machen. Eine Anmerkung noch zu dem, was Herr Strauß hier zur Rentenversicherung gesagt hat. Er hat sich nicht gescheut, diese von Ihnen geschürten Ängste hinsichtlich der Zukunftssicherung der Rentenversicherung zu wiederholen, obgleich auch der Abgeordnete Strauß wissen müßte, was von diesem Pult schon bei der Einbringung des Rentenanpassungsgesetzes gesagt worden ist, nämlich daß die Vorausschätzungen vom Oktober des vergangenen Jahres - über 2 Milliarden DM Defizit der Rentenversicherung - nicht eingetreten sind. Im Gegenteil, die Rentenversicherung hat 1975 sogar mit einem kleinen Überschuß abgeschlossen. ({5}) Allein aus dieser Tatsache ist die Schlußfolgerung erlaubt, und sie drängt sich geradezu auf: Wenn es selbst in dem Jahr der tiefsten Rezession, nämlich 1975, zu keinem Defizit gekommen ist, dann wird ja wohl auf Grund des besseren Konjunkturjahres 1976 und auf Grund der noch besseren Jahre 1977, 1978 und 1979 - allein von der zunehmenden Beschäftigung und den zunehmenden Beitragseingängen her - die Gewähr gegeben sein, daß die finanzielle Grundlage der Rentenversicherung so gesund bleibt wie in der Vergangenheit. Es ist unverantwortlich, wenn ein ehemaliger Finanzminister von diesem Pult aus wider besseres Wissen so viel Unsicherheit in die Bevölkerung bringt. ({6}) Der Bundeskanzler hat hier gesagt: ({7}) Soziale Sicherheit geht nicht auf Kosten der Freiheit. Soziale Sicherheit schafft Freiheit. Es hätte Ihnen sehr gut angestanden, diesem Ausspruch zuzustimmen und nicht Unsicherheit über die Rentenversicherung zu verbreiten. Sie machen jedoch mit Ihrer merkwürdig konstruierten neuen Sozialen Frage hier den Versuch, die tatsächlichen Bedingungen in diesem Lande zu vernebeln. ({8}) Wenn man sich die neue Soziale Frage und die Begründungen dazu genau ansieht und das hinzunimmt, was beispielsweise in der Grundsatzkommission der CDU in Schleswig-Holstein hinsichtlich eines künftigen Verbandsgesetzes vorbereitet wird, dann stellt sich die neue Soziale Frage als eine gezielte Diffamierung der Gewerkschaften und ihrer Organisationstätigkeit heraus, als nichts anderes! Durch die Statistik wird nämlich all das widerlegt, was Sie mit der neuen Sozialen Frage an Behauptungen bezüglich Nichtberücksichtigung nichtorganisierter Interessen aufgestellt haben. Ich hoffe, daß diese neue soziale Frage von Ihnen in diesem Sommer noch sehr oft hochgespielt werden wird, weil sich hieran ganz deutlich zeigen läßt, daß es Ihnen nicht um die weitere Festigung der sozialen Sicherung geht, daß es Ihnen auch nicht darum geht, unser stabiles Sozialklima nach Europa zu exportieren, was unser wichtigster Auftrag wäre, sondern im Gegenteil darum, es im eigenen Lande abzubauen. Lassen Sie mich zu diesem Punkt noch etwas sagen: Zumindest Sie, verehrter Herr Kollege Narjes, werden davon Kenntnis genommen haben, daß der Vizepräsident der EG-Kommission, mein Freund Wilhelm Haferkamp, den erfolgreichen Versuch unternommen hat, auch auf der europäischen Ebene Unternehmer, Gewerkschaften und die Kommission an einen Tisch zu bekommen, um in etwa nach dem Muster konzertierten Aktion - dies ist in Europa zugegebenermaßen sehr viel schwieriger als in der Bundesrepublik -, gemeinsam abzustimmen, was an Stabilitätsbeiträgen, was an Beiträgen zur Fortentwicklung Europas von den gesellschaftlichen Gruppierungen in Zusammenarbeit mit der Kommission geleistet werden kann. Ich kann den Vizepräsidenten der EG-Kommission zu diesem Versuch nur beglückwünschen und ihn ermuntern, ihn fortzusetzen. Es wäre nützlich, wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wenigstens in diesem Punkt in Übereinstimmung mit den Regierungsparteien Anerkennung zollen könnten. Die Solidarität der Demokraten in Europa hat jede Unterstützung nötig. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion kann ich voll unterstreichen, was der Bundeskanzler in der Regierungserklärung gesagt hat. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt ein stabiler Pfeiler europäischer Politik. Die eigene politische und soziale Stabilität gibt die Chance, wesentliches zur Festigung der europäischen Entwicklung leisten zu können. Darum unterstreichen wir die von Bundeskanzler Helmut Schmidt betonte Bereitschaft zu zusätzlichen ökonomischen Opfern; wir unterstreichen aber ebenso die Notwendigkeit eigener Anstrengungen der Partnerstaaten. Nach der Bilanz dieser Regierungserklärung bleibt festzuhalten, daß die Fortsetzung unserer erfolgreichen Reformpolitik, der Reformpolitik dieser sozialliberalen Koalition, nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für ganz Europa eine der wesentlichen Voraussetzungen künftiger positiver Entwicklungen ist. ({9})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bangemann.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man als engagierter Europäer diese Debatte verfolgt hat, muß man sagen: das war ein Lehrstück dafür, wie man Europa hinter nationalen Interessen verbergen kann. ({0}) Das ist mit wenigen Ausnahmen geschehen. Ich bedaure das ganz ausdrücklich, denn die Gelegenheit wahrzunehmen, zu dieser wichtigen Frage etwas zu sagen, was zwischen allen Fraktionen übereinstimmend vorhanden ist, wäre angesichts des Zustandes der europäischen Politik insgesamt bitter notwendig gewesen. ({1}) - Wer damit begonnen hat und wer dafür verantwortlich ist, will ich jetzt nicht untersuchen. In dieser Debatte ist jedenfalls mit wenigen Ausnahmen von Europa nicht die Rede gewesen. Hier wurde nationaler Wahlkampf nachgekartet, noch einmal angefangen, ({2}) und das hat mit Europa überhaupt nichts zu tun. Ich sage das hier ganz ausdrücklich als jemand, der Europa nicht erst gestern entdeckt hat, sondern der sich schon seit Jahren für dieses Europa einsetzt und sich von denselben Leuten, die heute diese Debatte benutzt haben, um eigentlich den Europäern in den Rücken zu fallen, immer wieder sagen lassen muß, daß sie im Grunde genommen für Europa seien. Wenn man hier auch als Angehöriger des Europäischen Parlaments gesessen und sich diese Debatte angehört hat, braucht man sich nicht zu wundern, warum die Bevölkerung von Europa nichts mehr hält. Natürlich besteht kein Grund zur Euphorie, selbstverständlich nicht; es besteht aber auch kein Grund zu einer Schwarzmalerei, die im Grunde genommen nur schadenfrohen Nationalisten nützen kann, nicht aber den Leuten, die wirklich an Europa interessiert sind. Hier möchte ich zunächst einmal ausdrücklich auch zu dem, was Sie, Herr Kollege Aigner, gesagt haben, feststellen: Wenn man in einer solchen Debatte jemanden von der allgemeinen Kritik an der Müdigkeit in bezug auf Europa ausnehmen muß, dann wirklich diese Bundesregierung und vor allen Dingen diesen Außenminister. Nehmen Sie doch das Beispiel des Luxemburger Gipfels. Da konstruieren Sie jetzt etwas und sagen, die Untätigkeit der Regierung und des Regierungschefs sei zu beklagen. Ja, was soll man denn z. B. in der Frage der Direktwahl mehr tun, als mit der Maxime in die Verhandlungen zu gehen: Wir werden alles akzeptieren, was überhaupt akzeptabel ist, wir akzeptieren jeden Kompromiß, nur damit die Sache vorankommt? Dann kann man doch diesen Außenminister und diese Regierung dafür nicht kritisieren. Die wahren Ursachen liegen wirklich und wahrhaftig woanders. Aber dazu komme ich noch. Nur sollten wir auch hier den Wahlkampf draußen lassen; denn es geht Ihnen ja - das weiß ich - genauso wie uns allen darum, daß es mit diesem europäischen Anliegen weitergeht, daß der Wagen wieder in die richtige Richtung rollt. Dabei nützt es uns natürlich nicht, wenn wir in eine allgemeine Euphorie verfallen, wie sie am Anfang der Europabewegung üblich war, sondern dazu bedarf es einer realistischen Analyse, einer Betrachtung vor allen Dingen auch der Hindernisse, und zwar unabhängig von einer parteipolitischen Perspektive. Ich will einmal versuchen, das an Hand von fünf Grundsätzen darzulegen, die möglicherweise die Problematik nicht erschöpfend behandeln, die aber nach meiner Meinung doch einige der wichtigsten Fragen behandeln können. Erstens. Europa, meine Damen und Herren, ist keine „blaue Blume" weltfremder Schwärmer, sondern die handfeste Grundlage dafür, daß unsere parlamentarische Demokratie überhaupt überleben kann. Wer das nicht sieht, wer nicht sieht, welche Chance, aber auch welche Notwendigkeit darin liegt, dieses Europa gemeinsam zu schaffen, damit die Grundwerte, von denen wir in den nationalen Mitgliedsländern leben, auch erhalten werden können, der hat überhaupt keinen Zugang zu diesen europapolitischen Problemen gefunden. Entweder gibt es ein vereinigtes Europa - dann gibt es in Zukunft auch demokratische Freiheiten in Europa -, oder wir versagen alle bei diesem Einigungswerk, und dann wird es auch nicht in einzelnen wirtschaftlich starken Mitgliedsländern solche demokratischen Freiheiten auf Dauer geben können. Ich will hier ganz offen sagen, daß ich den Vorschlag, den der Kollege Brandt vor einiger Zeit gemacht hat, man solle den Integrationsprozeß in Stufen oder in einzelnen Abteilungen sich vollziehen lassen - er meinte damit diejenigen Mitgliedsländer, die dazu in der Lage und bereit sind, in bestimmten Bereichen schneller voranzuschreiten als andere -, zunächst nicht sehr befriedigend fand, weil dies natürlich bedeuten würde, daß sich der gesamte Geleitzug aufteilt und dann mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorankommt. Wenn man sich aber anschaut, was tatsächlich an Fortschritten in der letzten Zeit erzielt worden ist und welche möglich gewesen wären, wenn nicht einige wenige diese Fortschritte nicht akzeptiert hätten, dann muß man sich in der Tat überlegen, ob, jetzt nicht institutionell, aber in der praktischen Politik, das eine oder andere von dem, was er vorgeschlagen hat, tatsächlich richtig ist. Ich sage das ganz offen, weil ich selber zu denjenigen gezählt habe, die ihn deswegen kritisiert haben. Eines allerdings muß man dabei vermeiden: die Haltung des Musterschülers, des Beckmessers, desjenigen, der alles besser weiß, weil er sich in einer starken wirtschaftlichen Position befindet und anderen Vorschläge macht, die, volkswirtschaftlich gesehen, vielleicht theoretisch durchaus richtig, aber in dessen konkreter Situation völlig unanwendbar sind. Meine Damen und Herren, es ist doch völlig unsinnig, daß wir das, was wir politisch bei uns tun können, etwa den Italienern vorschlagen oder zur Bedingung dafür machen, daß sie irgend etwas machen, wohl wissend, daß sie überhaupt nicht in der Lage sind, das durchzuführen, ohne in ihrem Land ein Chaos anzurichten. Also von der Position der Stärke aus anderen gute Ratschläge zu geben, setzt voraus, daß man wenigstens einmal ein bißchen das in Rechnung stellt, was der andere davon verwirklichen kann. Wenn man dieses Verständnis für die Voraussetzungen der anderen aufbringt, wird man sicher auch - darauf hat der Bundesaußenminister hingewiesen - verstehen können, warum sich das eine oder andere Mitgliedsland auf der Sitzung des Europäischen Rates in Luxemburg so und nicht anders verhalten hat. Nur muß man daraus darin wieder Konsequenzen ziehen und den Mechanismus einmal auf seine Ergebnisse hin überprüfen. Man muß sich eben eingestehen, daß diese Gipfelkonferenzen, die jetzt unter der Bezeichnung „Europäischer Rat" stattfinden, in Wahrheit nichts anderes sind als das, was sie vorher auch schon waren, nämlich der Versuch, nationale Interessen zu poolen. Dieser Versuch scheitert eben dann, wenn einer über seinen nationalen Suppentellerrand einfach nicht hinausblicken kann, was ihm gegenüber kein Vorwurf ist. Ich fand den Vorschlag, über den in Luxemburg diskutiert worden ist, gar nicht so schlecht, nämlich zu sagen: Wenn wir gemeinsame Regeln, z. B. in der Stabilitätspolitik, akzeptieren, dann müssen wir auch etwas dafür tun, daß diese Regeln eingehalten werden. Also binden wir das Einhalten oder Nichteinhalten dieser Regel an bestimmte Sanktionen. Warum sollte man das nicht tun, unter der Voraussetzung - ich sage das noch einmal -, daß man die Schwierigkeiten eines anderen Mitgliedslandes in diese Rechnung einbezieht? Zweiter Grundsatz: Die Einigung Europas ist ein Prozeß, bei dem Stillstand Rückschlag bedeuten wird. Wir dürfen diesen Prozeß nicht zum Stillstand gelangen lassen, weil das eben nicht bloß die Erhaltung des Status quo in dem Einigungswerk bedeutet, sondern damit Strukturen wieder abgebaut werden, zu denen wir schon gelangt sind. Nehmen Sie das Beispiel des Ausbleibens der Wirtschafts- und Währungsunion oder wenigstens einiger vorbereitender Maßnahmen hierfür! Dieses Ausbleiben gefährdet zunehmend den Agrarmarkt, den wir von Anfang an gehabt haben. Wir werden also dieses wichtige Stück europäischer Einigung auf Dauer gar nicht halten können, wenn es uns nicht gelingt, im Prozeß weiterzugehen und die Wirtschafts- und Währungsunion zu erreichen. Meine Damen und Herren, das hängt so eng miteinander zusammen, daß dieser Stillstand das, was wir schon erreicht haben, gefährdet; und das will wohl niemand. Dritter Grundsatz: Die Einigung Europas wird nur durch eine Reform der Institutionen gelingen. In dieser Hinsicht ist der Tindemans-Bericht in vielen Punkten ein wichtiger Hinweis dafür, was zu geschehen hat. Ich meine nicht, meine Damen und Herren, daß wir uns hier jetzt bemühen sollten, Modellvorstellungen zu entwickeln, wie die Verfassung des zukünftigen Europa aussehen könnte, mit bundesratlichen Einflüssen und was weiß ich noch alles. Darum geht es nicht. Aber es geht darum, aus dem Scheitern des Europäischen Rats, aus dem Scheitern vieler Ministerräte vorher und auch noch in Zukunft die Konsequenz zu ziehen, daß nicht richtig ist, was in der Praxis angelegt zu sein scheint, nämlich die Hoffnung, daß bei dem Zusammentragen nationaler Interessen am Schluß etwas herauskommt, was den Integrationsmechanismus befriedigend in Gang setzen kann. Da erlebt man ja die tollsten Sachen. Da berufen sich plötzlich Leute auf den Vertrag, wenn es darum geht, ob das Europäische Parlament „Parlament" heißen kann oder nicht; im Vertrag ist „Versammlung" vorgesehen. Die gleichen Leute, die sich in einer solchen nebensächlichen Frage auf den Vertrag berufen, sind aber nicht bereit, die Mehrheitsentscheidung, die ebenfalls im Vertrag vorgesehen ist, beim Ministerrat zur Anwendung zu bringen. Meine Damen und Herren, man kann zweierlei machen. Das ist nach meiner Meinung die Konsequenz, die man auch aus den Überlegungen von Herrn Tindemans ziehen muß. Entweder versucht man, über die Räte die nationalen Interessen zusammenzubringen; dann muß man für die Mehrheitsentscheidung sein. Oder aber man verstärkt die Kompetenzen des Parlaments; dann brauchen wir in den Räten keine Mehrheitsentscheidung, dann können wir dort auch mit dem Veto leben, wenn das Parlament selber als eine Institution, die für Integration ist und darauf angelegt ist, handeln kann und dafür auch die Kompetenz bekommt. Ministerpräsident Thorn hat sich in dem Bericht über den Europäischen Rat im Europäischen Parlament gestern fast entschuldigend dahin geäußert, Europa könne nicht allein Sache der Regierungschefs sein, und man sollte doch den Europäischen Rat nicht für alles tadeln, was dort nicht geschehen sei; andere Leute müßten auch etwas tun. Meine Damen und Herren, wenn ich sarkastisch sein wollte, dann würde ich sagen: Gott sei Dank ist Europa nicht allein Aufgabe der Regierungschefs. Natürlich müssen auch die anderen Leute etwas dazu tun. Aber sie müssen die Möglichkeiten dazu bekommen. Das fängt beim Bürger an. Natürlich hat es beim Bürger viel gutes Bewußtsein für Europa, viel Wille für Europa gegeben. Aber, meine Damen und Herren -- das frage ich jetzt auch angesichts von Luxemburg -, wer gefährdet denn diesen guten Willen immer wieder? Es ist ja gar nicht einmal das Schlimme, daß dort sachliche Entscheidungen ausbleiben. Das Schlimme ist, daß das Ausbleiben sachlicher Entscheidungen den guten Willen des Bürgers zum Schluß beeinträchtigen muß, überhaupt noch an Europa zu glauben. Der Bürger ist nicht schuld, wenn Europa nicht zustande kommt. Auch die Parteien sind nicht schuld, wenn Europa nicht zustande kommt, auch nicht die gesellschaftlichen Organisationen. Wir alle wollen Europa. Die große Preisfrage ist: Wer verhindert das? Ich sage: Der institutionelle Aufbau, die institutionelle Struktur, so wie wir sie jetzt haben, verhindert das. Da kommt es nicht auf den guten Willen von Einzelpersonen an. Das Scheitern der weiteren Einigung Europas ist vielmehr in dem institutionellen Aufbau angelegt, der dem Ministerrat die alleinige Gesetzgebungsbefugnis zuweist. Insofern ist der Tindemans-Bericht in diesem Punkt unbefriedigend; denn die Kompetenzen des Parlaments müssen gegenüber denen des Ministerrats sehr viel mehr verstärkt werden. Nehmen wir beispielsweise die Verkehrspolitik: Das ist doch ein Teilbereich der Politik, in dem man eine Einigung von der Sache her wirklich erwarten könnte. Wie soll man in der Verkehrspolitik, die heute viel großräumiger, weitflächiger angelegt ist, überhaupt zu Rande kommen, wenn man nicht in diesem Teilbereich einen vernünftigen Einigungsprozeß erzielen kann? Dort haben das Parlament und die Kommission Vorschläge über Vorschläge ausgearbeitet und dem Ministerrat vorgelegt. Dort liegen sie jetzt und kommen nicht weiter. Es hat sich hier ein Prozeß ergeben, der die Forderung nach Demokratisierung Europas in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Es geht nämlich nicht nur um die Verstärkung der Kompetenzen des Parlaments. Es geht heute auch darum, daß zwei wichtige Elemente der Demokratie, die heute in diesem Einigungsprozeß überhaupt nicht zur Geltung kommen, zur Geltung gebracht werden. Das ist die Verantwortlichkeit für Handlungen, und das ist die Transparenz oder, wenn Sie so wollen, die Öffentlichkeit, die bei solchen Entscheidungen gegeben sein müssen. Welche nationale Regierung, welcher Minister kann sich in ihrer bzw. seiner Verantwortlichkeit nicht hinter anderen verstecken? Dadurch wird dieses Scheitern Europas niemals Gegenstand inner-politischer Auseinandersetzungen. Das muß es werden, wenn es vorangehen soll. Dazu braucht man natürlich auch die Öffentlichkeit. Dazu braucht man die öffentliche Auseinandersetzung in einem Parlament, aber nicht das Verhandeln hinter verschlossenen Türen, wo die Minister selbstverständlich daran gebunden sind, ihre nationalen Interessen durchsetzen zu müssen und darüber nicht in einen öffentlichen Diskussionsprozeß eintreten zu können. Europa als demokratisches Europa kann nur entstehen, wenn wir zu öffentlichen Entscheidungen kommen, und wenn wir diese öffentlichen Entscheidungen kontrovers in den Parlamenten, sowohl in den nationalen Parlamenten wie im Europäischen Parlament, austragen können. Wenn das nicht gelingt, wenn wir weiter im Stile der Kabinettspolitik vergangener Jahrhunderte Europa voranbringen wollen, dann werden wir das nicht schaffen. Vierter Grundsatz: Die Einigung Europas wird nur gelingen, wenn die Bürger dieses Europa, die Inhalte, die man dabei verwirklichen will, als wichtig und als notwendig anerkennen. Das ist zunächst eine Frage nach dem Europa des Alltags. Ein gemeinsamer Paß, ein Wegfall von Zoll- und anderen Grenzkontrollen, das bedeutet für den Bürger in seinem Alltag, Europa zu erleben. Das ist wichtig, um das Bewußtsein der Bürger für Europa zu erhalten. Auch da - nicht im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion - könnte man ansetzen. Ja, meine Damen und Herren, wir sind schon ganz bescheiden geworden. Ich habe gar nicht beklagt, daß diese Entscheidungen über die Wirtschafts- und Währungsfragen und über die Fragen der Arbeitslosigkeit, die sicherlich viel wichtiger als manches andere sind, in Luxemburg ohne Ergebnis behandelt wurden. Das ist schwierig - zweifellos. Aber wenn man stundenlange Debatten darüber braucht, an welchem Tag gewählt werden soll, welche Farbe ein Paß haben soll, ob zuerst „Europäische Gemeinschaft" und dann der Name des Mitgliedslandes aufgeführt werden soll, da fragt man sich doch dann: Welches Verständnis soll der Bürger denn angesichts solcher Debatten für die Ernsthaftigkeit der Politiker haben, die mit diesen Debatten beauftragt sind? ({3}) Darüber hätten wir heute debattieren sollen, meine Damen und Herren, darüber und nicht über diesen ganzen Mist, der hier heute gesprochen worden ist. ({4}) Europa muß auch ein Europa des Bürgers in dem Sinne sein, daß es europäische Bürgerrechte gibt. Wir brauchen die gleichen demokratischen Grundrechte in Europa, und wir brauchen sie auch gerichtlich geschützt in Europa. Europa muß auch ein Europa der Partnerschaft sein. Selbstverständlich werden wir die Rolle Europas definieren müssen, und wir haben mit dem Abkommen von Lomé einen guten Anfang gemacht; denn hier ist zum erstenmal eine sogenannte Großmacht - wenigstens wirtschaftlich gesehen zu Recht so genannt - gegenüber wirtschaftlich Schwachen als Partner aufgetreten. Das gilt es jetzt fortzuset16422 zen. Das ist für mich einer der wichtigsten Vorschläge im Bericht Tindemans', daß man die Mittel für Entwicklungshilfe gemeinsam ausgeben sollte, in gemeinsamer Verantwortung, und das nicht mehr den einzelnen nationalstaatlichen Haushalten überlassen sollte, denn sonst kommt es in der gegenwärtigen Situation natürlich zu einem nationalstaatlichen Konkurrenzkampf, der nicht notwendig ist und der den Interessen der Entwicklungsländer nicht gerecht wird. Wenn uns das gelänge, würden wir beweisen können, daß dieses Europa nicht eine Großmacht alten Stils sein will, sondern ein Partner auch gerade für diejenigen, die unter ihrer Unterentwicklung noch immer leiden müssen. Für mich und, so glaube ich, auch für viele in diesem Hause gehört zu den Inhalten dieses Europas, die für den Bürger wichtig sind, auch, daß Europa das friedliche Zusammenleben in dieser Welt besser sichern können muß, als jedes nationale Mitgliedsland es alleine kann. Deswegen brauchen wir eine gemeinsame Außenpolitik, die wir in vielen Bereichen auch schon haben. Deswegen gehört zu dieser Außenpolitik auch Sicherheitspolitik. Natürlich wird das schwer sein, weil, wie Sie wissen, der Gegensatz zwischen denjenigen, die über atomare Waffen verfügen, und denjenigen, die das nicht tun können, eine politisch schwerwiegende Entscheidung beider Partner voraussetzt, eine Entscheidung, die übrigens nur am Ende eines solchen Prozesses stehen kann. Aber daß wir das Element der Sicherheitspolitik in eine gemeinsame Außenpolitik einführen müssen, daß die Sicherheitspolitik dort ihren Platz hat und daß man Außenpolitik nicht ohne solche Elemente betreiben kann, erleben wir in der Wirklichkeit doch jeden Tag. Wenn die Europäische Gemeinschaft im Nahostkonflikt Stellung bezieht, wenn die Europäische Gemeinschaft im Streit zwischen Griechenland und der Türkei irgend etwas sagen muß, was anderes ist denn dann von uns verlangt als sicherheitspolitische Überlegungen? Deswegen müssen wir auch dieses Europa des Friedens zum Inhalt einer zukünftigen europäischen Union machen, wenn wir den Bürger dafür begeistern wollen. Fünfter und letzter Grundsatz: Die Einigung Europas wird nur gelingen, wenn wir es alle gemeinsam, soweit es irgend geht, über Parteigrenzen hinweg versuchen. Es ist nicht gut, Europa zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen und Monopolansprüche zu machen. ({5}) - Das hat Herr Strauß ausdrücklich gesagt, und Herr Brandt hat es hier wiederholt. Ich möchte nur daran erinnern - ich war selbst Teilnehmer des Kongresses des Mouvement Européen in Brüssel -, daß der einzige, der dort einen solchen Anspruch erhoben hat, Herr Mitterrand war. ({6}) Europa kann nicht allein ein Europa der Liberalen werden, es kann aber auch nicht allein ein Europa der Konservativen oder der Sozialisten werden. Wer sagt, er wolle zwar Europa, er wolle aber ein konservatives Europa, wer sagt, er wolle zwar Europa, er wolle aber nur ein liberales Europa, oder wer sagt, er wolle Europa, er wolle aber nur ein sozialistisches Europa, der verhindert Europa. ({7}) Die Durchsetzung bürgerlicher Rechte, der Freiheit, Partnerschaft und des Friedens, die Schaffung eines besseren Zusammenlebens der Menschen in Europa - das ist eine Aufgabe aller Parteien. Wer sich dieser Aufgabe entziehen will, der soll solche Monopolansprüche erheben. Wer sich aber daran beteiligen will, der soll heute anfangen zu arbeiten; denn es ist höchste Zeit. ({8})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blumenfeld.

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte feststellen, daß heute die Redner der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, vom Bundeskanzler angefangen, ein ungewöhnlich hohes Maß an Nachholbedarf an politischer und moralischer Wiederaufrüstung hier in dieser Debatte an den Tag gelegt haben. Insofern gehe ich völlig mit dem einig, was mein Kollege Bangemann bezüglich einer Qualifikation der Debatte gesagt hat.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Blumenfeld, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bangemann?

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne, Herr Bangemann.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege, sollte Ihnen entgangen sein, daß ich vermieden habe, bei dieser Qualifizierung Namen zu nennen? Falls es Ihnen entgangen sein sollte, würden Sie dann die Freundlichkeit besitzen, Herrn Strauß mitzunennen?

Erik Bernhard Blumenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000206, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bangemann, es ist mir völlig klar, was Sie damit sagen wollen. Nur möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt der Anlaß dafür gewesen ist, daß sich der erste Vertreter der Oppositionspartei, nämlich der Kollege Strauß, mit diesen sehr langatmigen, sehr breit angelegten Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers auseinandersetzen mußte, da man das nicht einfach so im Raume stehenlassen konnte. Darum ging es doch. ({0}) Herr Strauß war darauf vorbereitet, eine europapolitische Debatte für die Opposition zu beginnen, ({1}) nicht aber einen Wahlkampf nachzukarten, mit dem der Bundeskanzler hier begonnen hat. Ich stelle hier also nur ein ungewöhnlich hohes Maß an Nachholbedarf seitens des Bundeskanzlers und der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion fest. Gestern hat das Europäische Parlament ganztägig auch über den Luxemburger Gipfel debattiert. Ich möchte einen Satz erwähnen, den der amtierende Ratspräsident, Herr Thorn, am Schluß in der Zusammenfassung gesagt hat. Er meinte, daß die Ergebnisse des Luxemburger Gipfels aus seiner Sicht als Ratspräsident vielleicht gar nicht einmal so schlecht gewesen wären, wie manche Leute glaubten und wie manche Zeitungen geschrieben haben. Aber Europa, so sagte er mit aller Bestimmtheit, geht es sehr viel schlechter, als die meisten, einschließlich der Regierungschefs, glauben. Ich finde, das ist eine bemerkenswerte Feststellung, die Herr Thorn da getroffen hat. Ebenso symptomatisch ist, für mich heute, daß der Tindemans-Bericht, der die Grundlage der Beratung des Europäischen Gipfels sein sollte, kaum oder nur ganz kursorisch erwähnt worden ist. Ich habe zwar nicht erwartet, daß die Regierungschefs nun in aller Breite diesen Bericht diskutieren; aber ich hatte erwartet, daß sie zumindest - das wäre ihre Aufgabe gewesen - die politischen Prioritäten und die zeitliche Abfolge der Durchführung solcher politischer Aufgaben festgestellt und den Fachministern zur weiteren Behandlung überwiesen hätten. Herr Kollege Brandt hat heute vormittag an die Opposition die Frage nach ihren konkreten Vorstellungen gestellt. Mich wundert diese Frage eigentlich. Das muß ich in aller Offenheit sagen. Ist er denn nicht in Brüssel dabeigewesen, als Helmut Kohl die Auffassungen der CDU/CSU zu Europa in aller Deutlichkeit dargelegt hat? Ist er nicht dabeigewesen, als wir vor wenigen Wochen hier im Parlament in der parlamentarischen Form einer Großen Anfrage unsere Auffassungen nicht nur zu Europa und den Grundvorstellungen, sondern auch den nacheinander abzulaufenden Prioritäten dargelegt haben? Weiß er nicht, daß wir ganz deutlich gesagt haben, wie wir uns Europa vorstellen? Ich darf an Herrn Kollegen Brandt die Frage richten, warum er, nachdem er das alles so dargestellt hat, nicht mit uns allen der Meinung ist, daß dieses Europa zu bauen eine gemeinsame Aufgabe ist. Warum fragt er dann in dieser Stunde nach unseren konkreten Vorstellungen? Ich will ihm sagen, daß unsere konkreten Vorstellungen darin gipfeln - ich hoffe, auch seine -, daß die Direktwahlen - das ist jetzt die Aufgabe der Regierungschefs und der Regierungen - und die Kompetenzen eines direkt gewählten Parlaments nun in den nächsten Wochen ganz beschleunigt beschlossen werden. Denn ohne Direktwahlen, ohne ein direkt gewähltes Parlament mit entsprechenden Kompetenzen - ich sage ausdrücklich: mit entsprechenden Kompetenzen - wird in Europa nichts laufen. ({2}) Ich finde es in diesem Zusammenhang doch verwunderlich, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung den aus der Not seiner innenpolitischen Situation erfolgten Vorschlag des französischen Staatspräsidenten als einen intelligenten Vorschlag gekennzeichnet hat. Mich wundert es, daß die Regierungschefs, die doch in den meisten Ländern der Europäischen Gemeinschaft auch Parlamentarier sind, mehr als ein Jahr den Vorschlag des Europäischen Parlaments, von Parlamentariern aus den nationalen Parlamenten vorgelegt, nicht diskutiert oder sich nicht die Mühe gegeben haben, ihn nun so weit vorzubereiten, daß sie eine Entscheidung treffen konnten. ({3}) Ich empfinde das als eine Mißachtung der nationalen Parlamente. Ich appelliere hier mit allem Nachdruck auch an die Bundesregierung, sich darüber im klaren zu sein und sich dessen bewußt zu sein, daß sie hier eine politische, parlamentarisch-demokratische Aufgabe hat und daß sie sie nicht genügend erfüllt hat. ({4}) Ich sage weiterhin, daß eines aus dem Tindemans-Bericht ganz klar geworden ist, für jedermann handgreiflich vorliegt: daß man, ohne die politischen Grundsätze und Grundvorstellungen, ohne die Politik ganz nach vorne zu stellen, auch in den wirtschaftlichen Fragen, überhaupt nicht weiterkommt. In der wirtschaftlichen Integration kann man solange nicht wirklich weiterkommen, bis die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Dies wird in der Währungspolitik und in der Außenhandelspolitik besonders deutlich. Beschlüsse auf diesen Gebieten sind letztlich hochpolitische Entscheidungen und kommen ohne den unabdingbaren politischen Konsensus, verbunden mit echten Gemeinschaftskompetenzen, nicht zustande. Der Bundeskanzler hat sicherlich recht gehabt, bei der Luxemburger Tagung darauf hinzuweisen, daß die angestrebte und immer wieder von Rückschlägen betroffene gemeinsame Währungspolitik ohne eine gemeinsame Wirtschafts-, Fiskal- und Konjunkturpolitik auf die Dauer nicht funktionieren kann. Aber, so muß man doch fragen: Was hat der Bundeskanzler denn konkret und aktiv getan, um erstens in bilateralen Verhandlungen - vor allen Dingen mit Frankreich - die reellen Chancen für eine solche Politik zu schaffen, und um zweitens den Gemeinschaftsorganen die unabdingbaren entsprechenden Befugnisse zu geben und die notwendigen Voraussetzungen für die Verbindlichkeit von wirtschaftspolitischen Leitlinien zu schaffen? Vizepräsident Haferkamp hat noch kurz vor der Luxemburger Konferenz gefordert - ich darf das wörtlich zitieren -: Die Kommission muß jetzt durch den Europäischen Rat die Entscheidungen bekommen, damit endlich Dinge bewegt werden. Wenn die Regierungen das im Rat nicht tun, sollen sie gefälligst aufhören, auf diejenigen zu schimpfen, die Vorschläge machen, über die sie selbst nicht entscheiden. Wen er damit gemeint hat, meine verehrten Damen und Herren, möchte ich Ihrer Phantasie überlassen. In diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zur Landwirtschaftspolitik. Herr Lardinois, der für die Landwirtschaft zuständige Kommissar, hat in der vorigen Woche mit großer Sorge darauf hingewiesen, daß die Agrarpolitik der Gemeinschaft, das vielberufene sogenannte Bindeglied der Gemeinschaft, dieses Jahr 1976 nicht überleben werde, wenn das Währungsgefüge der Gemeinschaft nicht harmonischer würde. ({5}) Ich will zu dieser späten Stunde nicht noch in die Währungspolitik einsteigen. Ich will nur eines sagen. Aus den von der Kommission den Regierungschefs vorgelegten Daten über die gesamtwirtschaftlichen Divergenzen in der Gemeinschaft, über die unterschiedlichen Lohnstückkosten in der Industrie, über die Verbraucherpreise, über die Bruttolöhne und -gehälter usw. geht ganz eindeutig die ungeheuere Diskrepanz innerhalb der einzelnen Länder Europas hervor. Zweitens geht daraus sehr deutlich hervor, daß die europäische Wettbewerbsfähigkeit die nächsten Jahre nicht wird überleben können, wenn es nicht gelingt, diese Dinge zusammenzuführen. Das Verhältnis zu den USA und anderen Ländern ist hiermit angesprochen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zum Europäischen Rat sagen. Was ist er eigentlich? Ist er im Selbstverständnis der Regierungschefs, die ihn ja erst vor relativ kurzer Zeit eingerichtet und ihn zu dem gemacht haben, was er eigentlich sein sollte, nämlich ein Entscheidungsorgan, ist er im Rahmen der institutionellen Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft ein solches Organ? Oder welche Aufgabe hat er sich eigentlich gestellt? Hier ist die Frage nach der „raison d'être" des Europäischen Rats gestellt; denn das, was augenblicklich läuft, sind bessere Kamingespräche, aber nicht das, was sich Kommission und Parlament von der Institution des Europäischen Rats, des Gipfels, erwarten. Eine letzte Bemerkung, Herr Präsident. Ich meine, der Kollege Bangemann hat recht gehabt, wenn er zum Schluß seiner Ausführungen die auch für mich entscheidende Frage gestellt hat: Welches Europa von morgen wollen wir denn eigentlich? Welches Europa von morgen wollen die einzelnen Regierungen? Hier liegt die ganz grundsätzliche Problematik und auch die akute Gefahr für Europa. Sind wir bei dem Stillstand, den wir nunmehr durch den Rückschlag in Luxemburg feststellen müssen, auf dem Weg zurück zu einer Zollunion, zu einer EFTA, mit einigen Kompetenzen ausgestattet, dafür aber leider Gottes mit sehr teuren Begleiterscheinungen? Was geschieht eigentlich, Herr Bundesaußenminister und Herr Bundeskanzler, wenn weitere Mitglieder beitreten, ohne daß die Institutionen der Gemeinschaft gestärkt worden sind? Auch wir begrüßen die angebliche Attraktivität Europas, die darin zum Ausdruck kommt, daß Griechenland nunmehr seinen Beitritt angekündigt hat und vielleicht in absehbarer Zeit Portugal und Spanien folgen werden. Was geschieht dann angesichts einer solchen Erweiterung? Ist die Gemeinschaft dann überhaupt noch handlungsfähig? Kann sie dann in der Sicherheitspolitik, in der Verteidigungspolitik und damit auch in der Außenpolitik noch der gewaltigen, der tödlichen politischen Gefahr der sowjetischen Bedrohung widerstehen? Oder was werden wir erleben? Hier, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, muß neben verbalen Ausführungen und Erklärungen, die Sie innerhalb und außerhalb europäischer Institutionen abgeben, von der Regierung nun wirklich die Frage beantwortet werden: Welche politischen Prioritäten haben Sie sich gesetzt? Wie glauben Sie die Frage nach der Erweiterung Europas und der vorher zu vollziehenden Stärkung der Institutionen beantworten zu können? Und sind Sie wirklich bereit, meine Damen. und Herren der Regierungskoalition - vor allen Dingen richte ich diese Frage an die sozialdemokratische Fraktion -, Souveränitäten an gemeinsame Institutionen abzugeben? Denn wenn wir dazu nicht bereit sind, brauchen wir uns in diesem Hause auch nicht mehr über weitere europäische Anstrengungen zu unterhalten. ({6})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zunächst einmal darf ich für die Fraktion der FDP feststellen, daß wir die Erklärung, die Sie, Herr Bundeskanzler, heute abgegeben haben, vom ersten bis zum letzten Wort und Satz unterschreiben. ({0}) Das gilt sowohl für den europäischen Teil wie für den Teil Ihrer Ausführungen, den Sie der deutschen Politik gewidmet haben. Ich glaube - Herr Blumenfeld, es ist zu einfach, vom Nachholbedarf des Wahlkampfes zu sprechen -, daß es schon wesentlich ist, darauf zu verweisen, wie wichtig die häusliche Grundlage der Bundesrepublik für mögliche Fortschritte sowohl wirtschaftlich wie institutionell - da sind wir uns ja einig - in Europa sein muß und ist. Wir wollen nicht das, was Herr Strauß heute die „Kalorien-Gemeinschaft" genannt hat. Wir wollen mit Ihnen politische Entscheidungen. Aber wir wissen auch, daß Europa ohne wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der wesentlichen Partner nicht vorwärtskommen kann. Das gilt in besonderem Maße, Herr Blumenfeld, für den Fall der Vergrößerung Europas, die Sie aus außenpolitischen und weiterreichenden, auch sicherheitspolitischen, Gründen begrüßen, die wir unterstützen, die aber natürlich, weil wir ja nicht gerade starke Partner neu hinzu bekommen, erhöhte Anforderungen an die Bundesrepublik und ihre Leistungsfähigkeit stellt. Deswegen ist es einfach wichtig, diese Leistungsbilanz und diesen Standard in eine solche Betrachtung einzubeziehen. Da kommt man nun einmal, wenn man korrekt ist, nicht um das Ergebnis herum, daß die Bundesrepublik - gerade im Vergleich mit den europäischen Partnern - am besten durch die weltweite Rezession der letzten Jahre in Europa gekommen ist. Das ist eine Feststellung, die auf Grund der Zahlen nicht bestritten werden kann, es sei denn, man will ernsthaft die absoluten Arbeitslosenziffern von Luxemburg mit denen der -Bundesrepublik vergleichen. Ich will mich mit dem, was der Kollege Strauß hierzu ausgeführt hat, nach den Richtigstellungen, die dringend notwendig waren und die Herr Ehrenberg vorgenommen hat, nicht beschäftigen. Wie notwendig sie waren, Herr Kollege Ehrenberg, konnte man ja daran feststellen, daß Zwischenrufe aus den Reihen der Opposition erkennen ließen, daß man nicht begreift, daß man nicht Nettosalden für Nettokreditaufnahmen vortragen kann, sondern sie in Beziehung setzen muß zum Bruttosozialprodukt, weil man sonst in der Öffentlichkeit ein völlig falsches Bild hervorruft. Leider müssen wir annehmen, daß man es auch hervorrufen will. Ich bedaure sehr, meine Damen und Herren, daß der Kollege Strauß es nicht für notwendig befunden hat, nach seinen üblichen Rundumschlägen den zweiten Teil dieser Debatte wahrzunehmen. ({1}) Und ich frage mich, was die Bekenntnisse zum Ausbau des europäischen Parlamentarismus eigentlich bedeuten sollen, wenn sich Abgeordnete in diesem Parlament ihren eigenen Kollegen gegenüber in dieser Form verhalten. ({2}) Herr Strauß hat heute morgen vorgetragen, er habe rechtzeitig, nämlich 1969, gewarnt und empfohlen, die Kaufkraft nicht unnötig zu erhöhen. Wie denn? Ist es nicht Herr Strauß gewesen, der die Aufwertung verhindert hat und dadurch für Zufluß von Kaufkraft und Geldmenge in einem Ausmaß wie nie jemand zuvor und nie jemand danach gesorgt hat? ({3}) Meine Damen und Herren, ich habe hier in einer der letzten Debatten eine Reihe von Fragen an den Kollegen Strauß in seiner Eigenschaft als früherer Finanzminister gestellt. Er hat diese Fragen nicht beantwortet. Er hat heute erklärt, es sei ja unerhört, daß wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung nunmehr auf 3 % gebracht hätten. Ja, da frage ich ihn: War er denn Bundesfinanzminister, als das Arbeitsförderungsgesetz mit den Stimmen seiner Fraktion verabschiedet wurde, das uns vor die Notwendigkeit gestellt hat, nunmehr die Bestände aufzufüllen? ({4}) Wir werden die Rentendynamisierung und die Rentenformel eines Tages - darüber gibt es keinen Zweifel - zu erörtern haben. Aber ich wiederhole die Frage: Kann er sich denn hinstellen und einfach so tun, als wäre dieser Beschluß nicht zu seiner Zeit von ihm als Kabinettsmitglied mitgefaßt worden? Und um noch einmal darauf zurückzukommen: Ist es denn nun eigentlich Herr Strauß gewesen, der durch die Verhinderung der rechtzeitigen Aufwertung entscheidende Impulse für die Fortsetzung der Inflationswelle gesetzt hat? ({5}) - Ja, „alter Hut", aber die Frage wird nicht beantwortet, meine Damen und Herren. Es geht doch nicht an, sich hier hinzustellen und zu sagen, „seit 1969 habt ihr alles falsch gemacht", und die Voraussetzungen für viele dieser Fehlentwicklungen dabei unter den Tisch kehren zu wollen; ({6}) jedenfalls geht das nicht in der Form, daß man das hier vom Stapel läßt und dann verschwindet. ({7}) Ist es denn eigentlich der Finanzminister Strauß gewesen, der auf einem Inflationssockel, wie wir heute alle wissen, überflüssige Eventualhaushalte gebilligt und mit diesen Eventualhaushalten dazu beigetragen hat, daß sich die Inflation weiterentwickelt hat? ({8}) Ist eigentlich der Bundesfinanzminister Strauß derjenige gewesen, der im Jahre 1967, nämlich in der Rezession, Steuererhöhungen um etwa 3,3 Milliarden DM und 1968 solche um 5,5 Milliarden DM in der Bundesrepublik vorgenommen hat? War das Herr Strauß, oder war er es nicht, meine Damen und Herren? ({9}) Wir möchten auf diese Fragen Antworten haben, und wir möchten Antworten von dem früheren Bundesfinanzminister Strauß hören. Wir werden diese Fragen wiederholen und wieder und wieder stellen. ({10}) - Na, was Wunder mit solchen Steuererhöhungen! Da kann ich auch volle Kassen hinterlassen. ({11}) - Wie bitte? Vielleicht, Herr Franke, sollte Ihnen in Erinnerung sein, daß die Steuerreform des Jah16426 res 1974 der öffentlichen Hand etwa 14 bis 15 Milliarden DM Steuermindereinnahmen gebracht hat. ({12}) - Das glauben Sie ja selber nicht, Herr Franke, und das glaubt Herr Fredersdorf im Zweifel auch nicht. Es ist auch keine Steuerrechnung, die Herr Fredersdorf aufgemacht hat - auch dies alles wissen Sie sehr genau -, sondern Herr Fredersdorf hat administrierte Preise - wie ich meine, in überhöhten Positionen - dagegengerechnet, und der Nettobetrag, der übriggeblieben ist, liegt etwa zwischen 8 und 10 Milliarden und nicht wesentlich darunter. ({13}) Meine Damen und Herren, ich kann, alles zusammengenommen, nur wiederholen: Die Bundesrepublik Deutschland ist, jedenfalls zur Zeit - und damit zurück nach Europa, denn das ist ja der Kern dieser Debatte oder sollte es sein -- ({14}) - Ja, sollte, aber die Betrachtung der Entwicklung in der Bundesrepublik ist --- ich wiederhole es - in diesem Zusammenhang wichtig. Die Bundesrepublik ist die stärkste wirtschaftliche Potenz in Europa, und daraus folgen selbstverständlich für die Bundesrepublik auch Pflichten, Pflichten, die wir übernommen haben und die wir zumeist gemeinsam übernommen haben. Das Wort von den sogenannten Vorleistungen stammt ja aus einer Zeit, die lange zurückliegt, und es war schon damals falsch. Diese „Vorleistungen" haben sich alle bezahlt gemacht. ({15}) - Sie wissen, daß ich die Zahlmeister-Formulierung kritisiert habe. Dabei bleibe ich auch. Denn z. B. unsere großzügige Behandlung des Regionalfonds ist richtig. Wenn man einen Regionalfonds nicht großzügig dotiert, wenn man nicht auch über dieses Mittel dafür sorgt, daß das Einkommens- und Lebensstandardgefälle in der Gemeinschaft beseitigt oder zumindest versucht wird, es anzugleichen, können Sie keine gemeinsame Konjunktur-, Währungs- und Wirtschaftspolitik betreiben, weil Sie vielleicht im Rhein-Main-Zentrum eine Arbeitslosigkeit von 4 % mit harter Kreditpolitik hätten und im Mezzogiorno eine Arbeitslosigkeit von 35 %. Dies ist politisch eben nicht tragbar und nicht durchhaltbar. Meine Damen und Herren, es ist diese Bundesregierung gewesen, die dafür gesorgt hat, daß die Gemeinschaftsanleihe; bei der doch die Bundesrepublik den Hauptteil der Haftungslast trägt, eines der größten Kreditvorhaben, das überhaupt je zustande gekommen ist, in den vergangenen Wochen placiert werden konnte. Dennoch sage ich: Bei aller Großzügigkeit - Herr Blumenfeld, der Zahlmeister-Vorwurf muß natürlich irgendwo auch relativiert werden, wenn jemand auf der Kasse zu sitzen hat, und dies ist das Amt des Finanzministers -: Der Bundesfinanzminister hatte völlig recht, als er die Frage der Berechnungsgrundlage der Rechnungseinheiten zur Diskussion gestellt hat. Ich glaube aber, er hatte ebenso recht, als er gesehen hat, daß dies zur Zeit zu unabsehbaren politischen Schwierigkeiten führen würde und vermutlich nicht durchführbar wäre, - ({16}) - Natürlich muß dies jemand anders zahlen. Aber, Herr Blumenfeld, ich bin dafür: Wenn wir Hilfeleistungen und Subventionen in Europa erbringen - dies tun wir, und dies sollten wir tun -, sollten wir es auf ehrliche und offene Weise tun und nicht über falsche Wechselkurse und falsche Rechnungseinheiten. Dies ist nicht der korrekte Weg. Nur, hier brauchen wir nun wirklich nicht mehr zu kämpfen, weil 1978 die Berechnungsgrundlage auf das Bruttosozialprodukt abgestellt wird und die Dinge dann ohnehin in Ordnung kommen. Deswegen war es auch richtig, daß der Bundesfinanzminister schließlich gesagt hat: „Ich habe wichtigere Streitfragen zu lösen." Aber alles dies, was wir tun, alles dies, wozu wir uns verpflichtet haben und was wir zahlen, geht natürlich nur, wenn wir es auf dem Grundegedanken der Stabilität aufbauen. Was der Bundeskanzler heute hier an Geldmengenzahlen unserer Nachbarn genannt hat, an Lohnstückkostenzahlen unserer Partner, an Preissteigerungsraten unserer Partner, ist - daran kann man doch nicht vorbeisehen - erschreckend. Daß dies Folgen für den Außenwert der Deutschen Mark haben muß, daß dies zu Schwierigkeiten im Währungsgefüge führen muß - nicht nur im Währungsgefüge der Schlange mit festen Wechselkursen, sondern natürlich, was die Handelsbeziehungen anlangt, auch im Währungsgefüge der europäischen Partner untereinander bei flexiblen Wechselkursen -, ist völlig klar. Aber hier gilt doch die alte Melodie: Muß sich denn eigentlich der Gesunde dem Kranken anpassen, oder müssen wir sehen, daß diejenigen, die nach wie vor nicht gesund sind, sich langsam darum bemühen, auf den Leistungsstand unserer Volkswirtschaft und unserer Währungspolitik zu kommen. Die europäische Wettbewerbsfähigkeit, Herr Blumenfeld, ist natürlich beeinträchtigt, wenn Sie dies als einen Handelsblock sehen. Es ist aber kein Handelsblock. Ich gebe jedoch zu, daß auch der Austausch untereinander zu den Überlegungen der Integration und der Zusammenarbeit gehört. Dieser Austausch wird erschwert, wenn die Zahlen immer weiter auseinanderlaufen. Die Frage aber heißt: Wie kann die Bundesregierung unsere Partner dazu bewegen, sich hier auf mehr Zusammenarbeit, d. h. auf mehr Stabilitätspolitik, auf mehr Harmonisierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik, einzurichten? ({17}) - Nun gut, das ist doch die Aufgabe. Herr Healey fängt an. Ich habe dieses Weißbuch eines LabourSchatzkanzlers mit großem Interesse gelesen und finde es einen Fortschritt. Aber Sie können doch beim besten Willen nicht die Frage stellen, sozusagen mit kritischem Unterton: Was hat der Bundeskanzler in Luxemburg getan? Herr Blumenfeld, Sie wissen so gut wie ich und wie wir alle, daß er mit seinem Zureden so weit gegangen ist, daß er langsam in die Gefahr geriet, daß ihm die Partner dies übelnahmen. Da ist doch die Grenze dessen, was wir tun können. Die innenpolitischen Rücksichten, die andere nehmen müssen - leider, sage ich - und die wir ja nicht einfach beiseite fegen können, setzen uns natürlich gewisse Schranken und stellen Hindernisse dar, bis zu denen wir aktiv werden können, bis zu denen wir unsere Überredungsversuche - vielleicht sogar noch etwas mehr - fortsetzen dürfen. Meine Damen und Herren, die Frage ist, ob dieses Zureden reicht. Ich fand außerordentlich interessant, was der Herr Bundeskanzler heute morgen in seiner Rede zitiert hat. Er hat Hans-Dieter Kloss von der Stuttgarter Zeitung zitiert, nach dessen Ansicht es versäumt wurde, das kapitalistische Wirtschaftssystem rechtzeitig so zu verändern und dem Fortschritt anzupassen, daß es auch von denen mitgetragen wird, die zum notwendigen Kapital die notwendige Arbeit liefern. Herr Strauß hat dem entgegengesetzt, wir hätten das auf dem Wege der sozialen Marktwirtschaft erreicht und das Problem damit gelöst. Ob es schon gelöst ist, lasse ich dahingestellt. Daß ich den Weg der sozialen Marktwirtschaft für richtig halte und die Mittel, die wir dafür eingesetzt haben, begrüße, wissen Sie alle; das tut meine Fraktion, das tut die ganze Freie Demokratische Partei. Aber ist das alles unsere eigene Leistung? Man wird darüber nachdenken müssen, so merkwürdig das klingt - ich weiß, daß man das sehr mißverstehen kann, und bitte um guten Willen der Zuhörer, um nicht mißverstanden zu werden -: Haben wir nicht vielleicht das Glück gehabt, zwei Kriege zu verlieren, zwei Inflationen zu erleben, eine Völkerwanderung zu erleben? Haben wir nicht das Glück gehabt, daß wir eine durchlässige Gesellschaft bekommen haben, daß es eine Klassengesellschaft in unserem Lande kaum noch gibt? Sind das nicht die Probleme, mit denen Engländer oder Italiener - denken Sie doch an Ihre Freunde in der Democrazia Cristiana; was ist dies doch für eine Klassenpartei, was ist dort noch für eine Klassengesellschaft - nicht so schnell fertig werden können? Wir konnten von der Stunde Null anfangen. Wir haben diese Chance genutzt, das ist völlig richtig. Aber es ist eine unvergleichbare Situation zwischen uns und anderen Ländern. Ich wünsche niemandem den Einstieg, den wir nehmen mußten, weiß Gott nicht. Aber ich meine, man muß feststellen, daß es so gewesen ist. Ich finde allerdings auch, wir sollten trotz aller Klagen und aller Beschwerden nicht verkleinern, was wir von der Gemeinschaft haben. Wir, die Bundesrepublik Deutschland haben es zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Politik und der deutschen Volkswirtschaft mit einem großen Markt von 250 Millionen Verbrauchern zu tun gehabt, und wir haben - dies sei dazu gesagt -, alle, die wir am wirtschaftlichen Prozeß in der Bundesrepublik beteiligt waren, diese Chance wirklich bis zum letzten genutzt. Es ist doch ein großer Teil unseres Wohlstands, der auf diesem Umstand beruht, der auf der Zollunion beruht, der darauf beruht, daß wir in diesen großen Markt hinein liefern können. Dies ist der große Vorteil, den Deutschland, den die Bundesrepublik aus der Europäischen Gemeinschaft gehabt hat. Dafür haben wir nicht zuviel bezahlt, obwohl wir immer wieder klagen über Agrarmarktzahlungen, über Subventionen und obwohl uns die Haare zu Berge stehen - soweit man noch genügend davon zur Verfügung hat -, wenn wir an die Überschußfinanzierung und an ähnliches denken. Aber insgesamt gesehen, wenn Sie den Saldo ziehen, ist dieses Europa für die Bundesrepublik auch - ich darf es einmal so nennen - wirtschaftlich und finanziell ein gutes Geschäft gewesen. Betrachten Sie einmal einige Einzelheiten der letzten Zeit. Ich habe die Gemeinschaftsanleihe schon erwähnt. Obwohl vieles so holprig geht, obwohl vieles so mühsam ist, ist diese Gemeinschaftsanleihe auf die Beine gestellt worden. Es gibt kein Vorbild für ein solches Unternehmen. Die europäische Energiepolitik hat durch den Europäischen Rat vom Dezember 1975 wichtige Impulse erhalten. In der Regionalpolitik haben wir den Regionalfonds aufgebaut; er arbeitet für drei Jahre. In der Wettbewerbspolitik ist der Europäische Gerichtshof in der Auslegung der Art. 86 und 87 vorbildlich und fortschrittlich gewesen. Wir bedauern, daß wir keine Einigung über die Fusionskontrolle erzielen können. Aber wir stehen auch hier nicht vor dem Ergebnis Null. Es mag merkwürdig und kleinlich klingen - wie oft, Herr Kollege Narjes, ärgern wir uns im Wirtschaftsausschuß über diese komischen Richtlinien und Empfehlungen, die wir alle beschließen sollen; Sie kennen die alle viel besser, ich stolpere immer etwas darüber -: Am Montag und Dienstag dieser Woche ist vom Rat in Brüssel ein GATT-Mandat für tropische Erzeugnisse verabschiedet worden. Dies ist ein wesentlicher Schritt, um bei GATT endlich auf einem Gebiet weiterzukommen, das für die Handelsbeziehungen in der Welt ungeheuer schwierig ist. Es ist eine europäische Entscheidung gewesen, die uns vorwärts gebracht hat und vorwärts bringen kann. Niemand darf auch vergessen, daß das Abkommen von Lomé ein erster und, wie wir glauben vorbildlicher Schritt - der bisher ebenfalls in der Welt einzig dasteht - für die Zusammenarbeit von Industrieländern und Rohstoffländern gewesen ist. Es ist ein erster Versuch, aber ein intelligenter und erfolgversprechender Versuch, etwas für Rohstoffsicherung auf der einen Seite und Erlösstabilisierung auf der anderen Seite zu tun. Dies ist doch wirklich praktische und sinnvolle Entwicklungspolitik. Ein letzter Punkt. Die Europäische Gemeinschaft hat es verstanden - und dies scheint mir außerordentlich wesentlich zu sein -, in drei Jahren Rezession dafür zu sorgen, daß protektionistische Maßnahmen in der Außenhandelspolitik in den Bezie16428 hungen zwischen diesen Ländern so gut wie nicht vorgekommen sind. Wer sich an die 30er Jahre erinnert, wer sich daran erinnert, daß in den kleinen Ländern die Importbeschränkungen - das Herunterlassen von Zollschranken - angefangen haben, den Welthandel zu deroutieren und das Elend auszubreiten, der kann doch dieses Ergebnis - dieses Verhindern von solchen Maßnahmen - gar nicht hoch genug einschätzen. Ich sage dies alles nicht, weil ich damit zum Ausdruck bringen möchte, daß wir etwa mit dem Zustand Europas zufrieden wären, weil wir etwa glaubten, wir könnten uns nun die Angelegenheit in Ruhe weiter betrachten. Aber ich sage es, um deutlich zu machen, wie wichtig dieses Europa für uns, für die Bundesrepublik ist. Wer einigermaßen objektiv und gerecht die Mitarbeit der Bundesregierung an diesem Europa beurteilen will -- an einem Europa, das wir alle, Opposition und Koalition gemeinsam, wollen -, der muß zugestehen, daß die Bundesrepublik Deutschland, daß die Bundesregierung in den letzten Jahren eine führende Rolle in diesem Europa gespielt hat, daß die Initiative von uns ausgegangen ist, daß es an uns gelegen hat, diese Entwicklung vorwärtszutreiben, manchmal bis zu einem Grade, der uns aus allgemein politischen Gründen schon wieder eher etwas bedenklich erschienen ist, weil wir uns doch nicht eine politische Führungsrolle Nummer 1 anmaßen oder übernehmen wollen. Wir wollen ja die Gemeinschaft, das Nebeneinander und das Miteinander der Europäer in einem neuen Europa. Die Bundesregierung, so glaube ich, hat unter den bestehenden Umständen, unter den obwaltenden, sicherlich nicht immer erfreulichen Begleiterscheinungen ihr Bestes getan, um Europa vorwärtszubringen. Ich sage noch einmal: Das Ergebnis befriedigt niemanden, am allerwenigsten ganz sicherlich die Bundesregierung. Aber die Arbeit, die geleistet worden ist, die Methode, mit der diese Arbeit angegangen worden ist, der politische Wille, der dahintersteht, sollten uns - so meine ich-Anlaß geben, dem Bundeskanzler, dem Außenminister und dieser Bundesregierung zu danken. ({18})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, wir haben noch eine ziemlich lange Rednerliste. Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidt ({0}). ({1})

Adolf Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verspreche es, wenn es von der anderen Seite auch so gehandhabt wird. Der Teil der Debatte, der sich mit dem europäischen Abschnitt der Regierungserklärung befaßt, zeigt das Parlament - so scheint mir - weitgehend einig. Wir alle wollen Europa. Wir alle begrüßen die Initiativen und die Aktivitäten unserer Bundesregierung, aus unserem Lande hin zu Europa. Wir alle beklagen die Schwierigkeiten und die Probleme, die wir allein allerdings in aller Regel nicht aus dem Wege räumen können. Ich ziehe aus diesem Abschnitt das Fazit, daß die beste Europapolitik von uns aus immer noch die beste Deutschlandpolitik ist. Diese Politik hat unsere Bundesregierung gemacht; sie hat sie vertreten. Ich kann Graf Lambsdorff nur aus vollem Herzen zustimmen: Ihr gebührt dafür Respekt, Anerkennung und Dankbarkeit. ({0}) Wenn aber die beste Europapolitik, die wir aus unserem Lande heraus machen können, zugleich die beste Deutschlandpolitik ist, dann drängen sich, jedenfalls mir, einige Fragen auf: Wer macht sie, und wie sieht sie aus? An sich wollte ich nicht gern auf den doch mehr wortgewaltigen Beitrag des Kollegen Dr. Strauß eingehen. Aber seine Einladung, geschichtsredlich zu bleiben, will ich gern aufnehmen. So gut ich das aus meiner geschichtlichen Erinnerung kann, will ich geschichtsredlich bleiben. Deshalb muß ich zunächst einige Bilder geraderücken, die der Kollege Dr. Strauß doch sehr angerempelt hat, damit sie schief hängen. Zugegeben, es sind kleine Bilder, aber die Politik ist ja nie etwas Großes, Abstraktes, sie setzt sich aus tausend Kleinigkeiten und Einzelheiten zusammen. Da bedrückt mich, was zu meiner Betroffenheit schon bei der dritten Lesung des Mitbestimmungsgesetzes vorgetragen wurde und was der Kollege Dr. Strauß heute wiederholt hat, daß die Montanmitbestimmung nämlich ein Werk christdemokratischer Politik sei. Richtig ist, daß die Montanmitbestimmung in der Zeit christdemokratischer Regierungsverantwortung verabschiedet worden ist. Richtig ist auch - und wer die Geschichte nicht klittern will, der muß sich um der vollen Wahrheit willen an die Dinge erinnern -, daß nicht nur große Teile der CDU/CSU-Fraktion, sondern auch alle ihre Verbündeten in der ersten Legislaturperiode gegen die Montanmitbestimmung gestimmt haben. Die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die geschlossen für die Montanmitbestimmung gestimmt hat und sie daher mitgeschaffen hat, ist die deutsche Sozialdemokratie. ({1}) Ich sage das nicht, um nachzukarten, aber wer nicht will, daß Geschichte geklittert wird, darf dies nicht unwidersprochen stehen lassen, und ich möchte es nicht. Ich möchte auch nicht, daß falsche Eindrücke stehenbleiben. Was soll das Gerede von Dr. Strauß, der es eigentlich wissen müßte, und was steckt wohl hinter solchem Gerede, wenn er sagt, Eugen Loderer, der Vorsitzende der IG Metall, beschließe auf der einen Seite als Aufsichtsratsmitglied der VW-Werk AG die Preiserhöhungen und beklage sie zugleich am anderen Ende als Gewerkschafter? Richtig ist - und das ist nicht Geschichte, das ist Gegenwart -, daß die Geschäftspolitik im Aufsichtsrat nicht gemacht, sondern kontrolliert wird, daß die Preise im Vorstand beschlossen und dem Aufsichtsrat mitgeteilt werden. Schmidt ({2}) Dann sagt Dr. Franz Josef Strauß an einer anderen Stelle mit Blick auf das Jahr 1969, das Jahr der Begründung der sozialliberalen Koalition: „... wenn der Bettelmann aufs Roß kommt". Er meinte die Finanzen. Richtig ist, als die Staatsfinanzen der Bundesrepublik Deutschland zum erstenmal total kaputt waren, schrieben wir das Jahr 1966, und die deutsche Sozialdemokratie mußte in die Koalition eintreten, um zu helfen, daß sie wieder in Ordnung kamen. ({3}) Das ist Geschichte. Alle haben die Möglichkeit, dies nachzulesen und darüber nachzudenken. ({4}) Dann kommt der Abschnitt, der mit einem Fragezeichen versehen war, ob nicht die SPD, in zwei Gruppen gespalten, die sich haßerfüllt gegenüberstehen, am Ende doch eine große Gefahr für dieses Land sei. Das wird gesagt vor dem Hintergrund: hie Freiheit und hie Sozialismus, also Unfreiheit. Wie kann ein erwachsener christlicher Mitteleuropäer in einer so bedeutenden Frage so oberflächlich denken? Diese Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren, meine Kolleginnen und Kollegen, ist das Land, in dem insbesondere und gerade die Arbeitnehmer die Zielgruppe jener Systemüberwinder von links sind. Unsere Bundesrepublik Deutschland ist zugleich das Land, in dem die Kommunisten fast überhaupt keine Rolle spielen. Dieser Umstand ist durch den Freiheitssinn und durch die Überzeugung der deutschen Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften im Geiste und im Sinne unseres Grundgesetzes erreicht worden. ({5}) Wir sollten eigentlich alle miteinander stolz darauf sein und glücklich darüber sein, daß ausgerechnet jene Menschen in unserem Lande, die für die Bolschewiken am linken außerdemokratischen Ufer der größte, der verderblichste Feind sind, nämlich unsere Arbeitnehmer, diesen Feind draußen halten. ({6}) Ausgerechnet diesen Menschen, diesen Arbeitnehmern, die sich, in großen Fabriken arbeitend, ({7}) häufig mit bezahlten Mitarbeitern von anderswo auseinandersetzen müssen und dabei sehr erfolgreich sind, den Hintertreppenvorwurf machen zu wollen, sie seien unter dieser Formel am Ende doch für Sozialismus und damit Unfreiheit, ({8}) ist nicht nur unredlich, sondern ist auch „ungeschichtlich" . Ich will Ihnen gerne, wenn Sie wollen, ein detailliertes Beispiel nennen. Wir haben hier im Januar 1974 über eine Regierungserklärung debattiert, die der Bundeskanzler nach seinem ersten Staatsbesuch in Washington abgegeben hatte. Damals hatte der Bundeskanzler eingeführt - er hat es Gott sei Dank und lobenswerterweise bis heute durchgestanden -, daß nicht nur Männer aus dem Staatsapparat, sondern auch Menschen aus dem Arbeitsleben und Industrielle in seiner Begleitung sind. Nun hören Sie mir einmal einen Augenblick zu; jetzt kommt nämlich das, was, denke ich, eine Antwort auf Ihre Frage ist. Ich sage es, auch wenn Sie nicht zuhören. ({9}) Herr Zimmermann meinte seinerzeit in einem großen Debattenbeitrag, rhetorisch ganz toll angelegt, er begrüße es, daß deutsche Gewerkschafter - es waren Karl Buschmann, der Vorsitzende der Gewerkschaft Textil und Bekleidung, und Adolf Schmidt, der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie, also ich - mit nach Washington hätten reisen können, um von George Meany - so sinngemäß - im Umgang mit Kommunisten belehrt zu werden. Wären alle von Ihnen, meine Damen und Herren, im Umgang mit Kommunisten so erprobt und so erfolgreich wie Karl Buschmann und Adolf Schmidt, gäbe es wahrscheinlich überhaupt keine mehr. ({10}) Das andere, was ich Ihnen kurz sagen möchte, auch der Einladung von Dr. Franz Josef Strauß folgend, ist: Stellen wir uns doch redlich, so redlich, wie wir können, vor unsere Geschichte und prüfen wir die Leistungen der Regierungen! Es gibt ja keine Partei in diesem Hause, die noch nicht regiert. hat, obwohl man in Sorge geraten kann, wenn man die heutige Opposition hört, ({11}) daß sie dabei allzuviel nicht gelernt hat. Wir erleben im Augenblick die schwerste Krise, eine Weltwirtschaftskrise. Wir werden unser Quentchen Anteil daran haben, daß es sie gibt, wie alle anderen. Aber auf die entscheidenden Faktoren dieser Weltwirtschaftskrise, der ersten nach dem Krieg, haben wir keinen oder fast keinen Einfluß. Sozialliberale Regierungsverantwortung bzw. das sozialliberale Regierungsbündnis hat die Menschen in Deutschland besser als alle anderen - Herbert Ehrenberg hat das mit Zahlen belegt und mit Worten deutlich gemacht - vor Schaden in dieser fürchterlich schweren Krise bewahrt. ({12}) Wir haben 1973 eine fürchterlich schwere Herausforderung gehabt, als am 17. Oktober die Mächtigen der Länder um den Persischen Golf beschlossen, daß wir fast kein 01 mehr bekommen und daß das, Schmidt ({13}) was wir bekommen, den vierfachen Preis von vorher kostet. Kein Land der westlichen Welt, nein, kein Land der Welt hat diese Herausforderung ohne so geringen Schaden für die Menschen in unserem Lande überstanden wie wir durch sozialliberale Regierungsverantwortung. ({14}) Auch das ist nicht die erste Schwierigkeit. Von 1957 bis 1969 gab es eine Strukturkrise bei den Primärenergieträgern. Das war eine Krise, deren Zustandekommen zwar nicht vermeidbar war, die aber fast zu einer gesellschaftlichen Krise geworden wäre, weil Sie, meine Damen und Herren, zögernd und wartend zuschauten und den Dingen ihren Lauf ließen, bis im Ruhrgebiet und in anderen Steinkohlerevieren hohe Staatsverdrossenheit entstanden war. Das ist auch ein Teil der Geschichte, die Sie führend zu verantworten haben. ({15}) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einmal an 1966/67 denken. Ich will nicht nachkarten, sondern es geht mir um die Überlegung: Wie bestellen wir unser Haus am besten, damit wir die günstigste Möglichkeit haben, auf dem kürzesten Weg zu Europa zu kommen? ({16}) Auch damals, 1966/67, hatten Sie die Regierungsverantwortung. Sie wurden dann auch abgewählt. Es wurde die Große Koalition gebildet, aber erst, meine Damen und Herren, als in mehreren deutschen Landesparlamenten bereits Nationaldemokraten eingezogen waren. Auch das ist Geschichte, die unter Ihrer Führungsverantwortung zu vertreten ist. Daraus ziehe ich die Schlußfolgerung, an Europa denkend, an das, was wir offenbar alle wollen: Das Haus dieses bundesrepublikanichen Vaterlandes und seiner Menschen ({17}) bestellen am besten die, die durch diese Leistungen er- und bewiesen haben, daß sie es besser können als die, die an diesen Leistungen ständig herumnörgeln. ({18})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat Herr Abgeordneter von Hassel. von Hassel ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer zu dieser Zeit angesichts einer großen Tagesordnung das Wort nimmt, tut gut daran, sich auf weniges zu beschränken. Die Hoffnung, die ich hatte, daß vielleicht alle Redner - vom vorigen an - darauf verzichten würden, in dieser Debatte fortzufahren, hat sich leider nicht bestätigt. Vielleicht ist es ganz gut, daß es nicht so gekommen ist, weil ich bei meinem Vorredner mit zwei Vorbemerkungen beginnen möchte. Ihre Betrachtung, daß die NPD auf Grund des Verschuldens der Regierung Erhard, der ChristlichDemokratischen und der Christlich-Sozialen Union gekommen sei, darf Ihnen vielleicht damit beantwortet werden, daß eines der höchsten Wahlergebnisse für die NPD damals ein Arbeiterviertel von Bremen gebracht hat. Zweitens hat der damalige, jetzt hier sprechende Bundestagspräsident am Abend vor der Wahl 1969 die Wähler in einem beschwörenden Appell aufgefordert, ihre Stimme nicht radikalen Parteien - nicht der NPD und auch nicht den Kommunisten - zu geben. Später haben mir viele geschrieben, daß ich daran schuld gewesen sei, daß die NPD nur, ich glaube, 4,6 % der Stimmen bekommen hätte. Fangen Sie in einer Europadebatte jetzt bitte nicht mit dem Thema NPD an. Verehrter Herr Kollege Schmidt ({1}), Sie sagten weiterhin, ein gesunder christlicher Mitteleuropäer könne nicht so oberflächlich im Deutschen Bundestag sprechen, wie es Franz Josef Strauß heute morgen getan habe. Sie fügten in Ihrer Betrachtung hinzu, daß die Staatsfinanzen zum erstenmal im Jahre 1966 total zerrüttet gewesen seien und daß sie erst in Ordnung gebracht worden seien, als die Sozialdemokraten in die Regierung eingetreten seien. ({2}) - So sieht es nicht aus, verehrter Herr Kollege Schäfer. Ich war damals Mitglied des Bundeskabinetts, und im Bundeskabinett wurde der Haushalt für das Jahr 1967 beraten. In diesem Haushalt bestand noch eine Deckungslücke von 440 Millionen DM. Seitens des Bundeskanzlers und des Finanzministers wurde damals vorgeschlagen, diese 440 Millionen DM durch zwei Maßnahmen besonderer Art zu decken: a) durch die Erhöhung der Tabaksteuer, b) durch die Erhöhung der Branntweinsteuer. Außerdem gab es noch ein paar Positionen nebenbei. ({3}) Die Freien Demokraten haben Steuererhöhungen damals abgelehnt. Es war auch ihr gutes Recht, zu sagen: Wir wollen keine Steuererhöhungen. Sie haben ein Gegenpaket an Einsparungsmaßnahmen vorgeschlagen. Im Kabinett wurden diese Vorschläge Punkt für Punkt behandelt, und man hat festgestellt, daß diese Einsparungsvorschläge nicht greifen würden. Dies ist es, was Sie unter „total zerrütteten Finanzen" verstehen. Sie können es in den Annalen nachlesen. Dort ist diese Zahl angegeben. Sie wären heute glücklich, wenn Sie derartige Finanzen aufweisen könnten. ({4})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer? von Hassel ({0}) : Bitte schön, Herr Kollege Schäfer.

Dr. Friedrich Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001930, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr von Hassel, erinnern Sie sich an die Sitzung des Bundesrates Ende Oktober 1966, in der der Bundesrat einstimmig, also auch mit den Stimmen der CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, der damaligen CDU/CSU-Bundesregierung den Entwurf des Haushaltsplanes 1967 mit der Aufforderung zurückgab, ihn entsprechend der Verfassung auszugleichen und neu vorzulegen? von Hassel ({0}) : Ich sage Ihnen noch einmal, daß das Defizit 440 Millionen DM betrug und daß zum Ausgleich des Defizits die Vorschläge gemacht wurden, die ich hier dargelegt habe. Man kann also nicht so leichtfertig sein zu sagen, damals hätten total zerrüttete Staatsfinanzen geherrscht, die die Sozialdemokraten dazu veranlaßt hätten, in die Regierung einzutreten und praktisch den Staat zu retten. Daß die Freien Demokraten damals aus der Koalition unter Erhard ausschieden, hat andere Gründe, die wir hier im einzelnen nicht zu behandeln brauchen. Ich möchte lediglich darauf verweisen, daß es eine Legende ist, wenn von total zerrütteten Staatsfinanzen gesprochen wird, und daß sich der Sachverhalt so darstellt, wie ich es eben hier erläutert habe.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer? von Hassel ({0}) : Nein. ({1}) - Verehrter Herr Kollege Schäfer, da Sie besonders viel vom Bundesrat halten, wie ich aus Ihren Einlassungen entnehmen konnte, kann ich mir vorstellen, daß Sie nunmehr den Bundesrat zitieren.

Dr. Friedrich Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001930, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In der Tat! Herr von Hassel, ist es richtig, daß der Bundesrat den vorgelegten Haushaltsentwurf einstimmig als nicht behandlungsfähig zurückgegeben hat? von Hassel ({0}) : Diese Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Auch wenn dies ein Grund für seine Rückgabe gewesen sein sollte: Es handelte sich um ein Defizit von 440 Millionen DM. Angesichts eines solchen Defizits kann man nicht von total zerrütteten Finanzen sprechen. Meine verehrten Damen und Herren, wenn der Bundesrat den Haushaltsentwurf zurückgibt, wird er sich auf das Grundgesetz beziehen können, in dem es heißt, der Etat sei auszugleichen. Für die damalige Entscheidung waren aber nicht etwa total zerrüttete Finanzen der Grund.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? von Hassel ({0}) : Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. h. c. Gerhard Reddemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001790, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von Hassel, stimmen Sie mir darin zu, daß der Repräsentant einer Partei, deren Finanzminister im Augenblick 30 Milliarden DM Schulden macht, Fragen über die Situation des Jahres 1967 eigentlich überhaupt nicht stellen dürfte? ({0}) von Hassel ({1}) : Ich glaube, meine verehrten Damen und Herren, das Thema wird von Herrn Schmidt nicht mehr behandelt werden, weil er festgestellt hat, daß es sich im nachhinein als Legende prächtig verkaufen läßt, daß aber der, der die Verhältnisse genau kennt, ihn auf die Klippe fahren läßt, die er eben hier in dem Meer gesehen hat. Meine verehrten Damen und Herren, die Beratung des heutigen Themas „Europa" hat durch den Bundeskanzler einen Einstieg bekommen, den einige der Redner bereits bedauert haben. Der Einstieg war so, daß von einer etwa eineinhalbstündigen Rede nur knapp ein Drittel der Frage „Europa" gewidmet war. Alles andere war eine Darstellung der inneren Situation, die in vielen Details unstreitig interessant war, aber mit der Frage „Europa" nichts zu tun hatte. ({2}) Wenn wir der Meinung sind, daß man Europa zu schaffen hat, dann ist es zwar ein ungeheurer Vorteil, wenn es beispielsweise unter starker Mithilfe eines Landes geschaffen wird, das im Innern gesund ist. Wenn Sie es aber, wie es der Koalitionspartner in Gestalt des Außenministers in seiner Rede darstellt, als eine große Leistung herausheben, daß in der Wirtschaft, in der Politik und in der sozialen Ordnung die Stabilität gewachsen sei, dann darf man vielleicht doch die Frage aufwerfen, ob diese Stabilität nicht zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, daß die Opposition im Bundestag und durch ihre Haltung im Bundesrat die Regierung auch zu dieser Stabilität im besonderen immer wieder veranlaßt hat. Über das, was uns Europa bringen soll, über die nächsten Maßnahmen und über die Stationen, die wir uns auf dem Weg zu diesem Ziel zu setzen und die wir im einzelnen anzusteuern haben, hat uns, soweit ich es gesehen habe, der Bundeskanzler heute morgen überhaupt keine irgendwie konkreten Details gesagt. Sie sollten sowohl auf seiten der Regierungsbank als auch auf seiten der Koalitionsfraktionen anerkennen, daß wir uns in unseren Debatten von einem Übermaß an Kritik nach Luxemburg freigehalten haben. Wir hätten tonnenweise Papier und Rundfunk- und Fernsehkommentare über das zitieren von Hassel können, was in der gesamten europäischen Öffentlichkeit über Luxemburg gesagt wird. Wir haben darauf verzichtet. Wir haben ganz bewußt unsere europäischen Freunde in den Vordergrund der europäischen Auseinandersetzungen gestellt. Es geht um die Frage, wie wir gemeinsam von der Stelle kommen. Wenn wir heute vom Außenminister eine Rede gehört hätten, wie er sie am vergangenen Sonnabend bei der Eröffnung der Saarmesse in Saarbrücken gehalten hat, dann würde es zwischen Ihnen - der Herr Kollege Bangemann ist im Moment nicht da -, dem Herrn Außenminister und uns keine Differenzen darüber geben, wie dieses Europa auszusehen hat und was wir zu diesem Zweck zu tun haben. Herr Brandt hat uns heute morgen gefragt, was wir jetzt oder überhaupt tun sollten, um mit Europa weiter von der Stelle zu kommen. Er hat uns zweitens gefragt, was wir täten, wenn wir die Verantwortung hätten. Man kann Herrn Brandt nur sagen: Wir haben in all den Jahren seit 1969 die Bundesregierung und die Koalitionsparteien beschworen, in den Fragen der europäischen Politik und des Baues der Vereinigten Staaten von Europa mit der Opposition zusammenzuarbeiten, sich das Potential der Opposition nutzbar zu machen, die Schritte gemeinsam mit uns zu gehen. Aber wir haben - wie es in der Außenpolitik immer noch für jeden sichtbar ist - das Gefühl gehabt: Man braucht uns nicht; wir stören nur; man will uns nicht; man will diesen Weg allein gehen. Gerade Herr Brandt müßte gefragt werden, was er denn in den Jahren, als er Bundeskanzler war, für Europa getan hat. ({3}) - Verehrter Herr Kollege Wehner, Sie kommen - das weiß ich schon - nachher als Redner; dann können Sie sich damit auseinandersetzen. - Der Herr Kollege Brandt hat seine hier immer wieder kritisierte Generallinie der Politik darauf angelegt, seine ganze Kraft auf die Ostpolitik und die Deutschlandpolitik zu konzentrieren. Unsere Forderung, die der Vorsitzende der Fraktion immer wieder vorgetragen hat - ({4}) - Bitte, verehrter Herr Kollege Wehner, unsere Mahnung, wenn er einen Schritt nach dem Osten gehe, müsse er zwei Schritte in Richtung Europa gehen, hat er in den Wind geschlagen. Sie bestreiten doch nicht, Herr Kollege Wehner, daß Herr Brandt z. B. im Dezember 1974 gesagt hat, er sei im Grund genommen kein leidenschaftlicher Europäer. ({5}) - Das können Sie unter den vielen Äußerungen nachlesen, die Herr Brandt gemacht hat. Bei dem berühmten Interview in London hat er doch - das ist damals überall kritisiert worden - gesagt: „Das Schaffen der Vereinigten Staaten von Europa ist nicht eine Sache nur dieser Generation, sondern der nachfolgenden Generation muß diese Aufgabe überlassen werden." ({6}) Das hat Herr Brandt gesagt. Und wenn Herr Brandt, verehrter Herr Wehner, uns fragt: „Was sollen wir denn tun?", dann können wir ihm bei dem großen internationalen Ansehen, das Herr Brandt hat, nur sagen - ({7}) Wir haben ihn doch in Brüssel erlebt - Herr Bangemann ist nicht mehr da -, wie er dort hereinkam. Er ging ja nicht, er schritt herein. Er stand dort auf dem Podest, das nach oben geht, und wurde mit einer Laudatio begrüßt. Er stand dort wie ein Vizekönig. ({8}) - Verehrter Herr Wehner, - ({9}) - Ein Neid? ({10}) - Verehrter Herr, wer eigentlich soll von uns neidisch sein auf Herrn Brandt? ({11}) Das Ansehen, das er in der Bundesrepublik Deutschland hat, hat ja genügend gelitten. Daran haben alle teilgenommen, auch gerade Sie! Was er international für ein Ansehen hat, ist in der Tat frappierend. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber es ist so. Wenn das so ist, Herr Wehner, dann sind wir nur der Meinung, daß er dieses Ansehen einsetzen muß. Dann müssen wir ihn bitten, nach Italien zu gehen und mit seinen sozialistischen Freunden darüber zu sprechen, daß sie wieder in eine Koalition eintreten, die sie mit den Christlichen Demokraten jahrelang getragen haben. Ich habe bisher nur gesehen: er war mit seinen großen Freunden Europas, den europäischen Sozialisten, in Portugal. Das war übrigens im Farbfernsehen sehr eindrucksvoll. ({12}) - Aber hören Sie einmal! Strauß in Portugal, das war ein großer Unterschied. Brandt in Portugal unter einem Meer von roten Fahnen mit geballter Faust - das war in hohem Maße eindrucksvoll. Was wir bei Herrn Brandt in Portugal nur vermißten, ist, daß er seinem Freund Soares nicht beschwörend sagte, was wir unseren Freunden sagen: „Laßt die Hände weg von den Kommunisten! Macht die Sache allein, oder sucht andere Partner, mit denen ihr in diesen Staaten die Regierung übernehmt, aber laßt die Hände weg von den Kommunisten!" Das sagen wir unseren Freunden. - Sie schütteln den Kopf, Herr von Dohnanyi. ({13}) - Verehrter Herr von Dohnanyi, was heißt hier Naivität? Sie können es urbi et orbi lesen, daß man zwar auf seiten des Parteivorsitzenden sich nach von Hassel außen von den Kommunisten absentiert - es ist auch meine Überzeugung, daß man sich ehrlich darum bemüht -, aber daß unter der Decke vieles geschieht, was im Grunde auch Ihnen eines Tages leid tun wird. Gleichgültig, Herr von Dohnanyi, ob Sie naiv oder ob Sie nicht naiv sind, Sie werden eines Tages sehen, was das für Sie bedeuten könnte und was es für Sie bedeuten würde, wenn sich die Sozialisten beispielsweise in Italien nur dann wieder an der Regierung beteiligen, wenn sie bei dieser Gelegenheit auch die Kommunisten irgendwie näher an die Verantwortung heranbekommen. Dort liegt Ihre Aufgabe! Das Rotlicht leuchtet, und ich möchte zum Schluß nur eines noch einmal zusammenfassen. Eine Reihe von Rednern - auch der Herr Bundeskanzler, auch der Herr Außenminister - haben gesagt: Wir müssen dieses politische Europa schaffen, unter anderem dadurch, daß wir nicht nur von Regierung zu Regierung, sondern auch von Politikern zu Politikern innerhalb der Parteien große Gruppierungen schaffen, mit denen dieses Europa zuwege gebracht werden kann. Es ist völlig zu Recht von einem Sprecher der Freien Demokraten gesagt worden: es ist nicht nur Sache der Regierung, es ist Sache der Politiker und der politischen Parteien. Sie haben den ersten Schritt vor etwa 14 Tagen in Stuttgart getan. Die Christlichen Demokraten werden ihn sehr bald tun. Wir haben heute morgen von Herrn Brandt gehört, daß ihn die Sozialisten seit langem getan haben. Jeder bejaht es in dieser Runde, aber wenn es dann zum Beispiel zu der Frage kommt, wie man denn die simpelsten Voraussetzungen dafür schaffen kann, daß es europäische, übergreifende, große politische Parteien und nicht 40 oder 50 einzelstaatliche Parteien gibt, große politische Parteien, denen man dann auch die Strukturen dazu gibt, und wenn man dann im Haushaltsausschuß den Versuch unternimmt, dafür gewisse Mittel bereitzustellen - ({14}) - Ja, Sie schütteln das aus dem Handgelenk! Ich kann Ihnen nur sagen: diejenigen auch auf Ihrer Seite, die daran zu arbeiten haben, werden mit mir beklagen, daß der Deutsche Bundestag in seinem Haushalt nicht bereit ist, die simpelsten Voraussetzungen finanzieller Art für die Bildung dieser drei großen Parteien - der liberalen Parteien, der christlichen Parteien und der sozialdemokratischen Parteien - zu schaffen. Deshalb, so scheint mir, sollte man bei dieser Gelegenheit auch einmal darüber nachdenken, was wir Parteien denn selber für diese Fragen der künftigen europäischen Direktwahl schon heute und nicht erst dann, wenn der Wahltag anberaumt ist, tun können. ({15})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege von Hassel, lassen Sie mich gleich mit dem letzten Punkt beginnen: Ich habe volles Verständnis dafür, daß Sie erwarten, daß, wenn man europäische Parteien bildet, wenn man europäische Politik treiben will, auch die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Aber aus dem, was Sie hier sagten, mußte man den Eindruck gewinnen, als sei im Haushalt für diese europäische Arbeit beim Deutschen Bundestag nichts eingesetzt. Dies ist nicht richtig. Wir haben einen Betrag in Höhe von - wenn ich es richtig im Gedächtnis habe - 1 Million DM im Haushalt stehen. Es geht nur um die Frage, ob mit Blick auf die möglichen europäischen Wahlen dieser Betrag in diesem Jahr schon erhöht werden soll oder erst zu einem Zeitpunkt, wo wir genau wissen, wann die Direktwahlen des Europäischen Parlaments stattfinden. Wir haben die Meinung vertreten: In diesem Jahr steht es nicht fest, deshalb soll in diesem Jahr diese Position genauso erhöht werden wie jede andere; eine überdurchschnittliche Erhöhung in diesem Jahre ist nicht notwendig. Nichts anderes ist der Gegenstand unserer gemeinsamen Überlegungen gewesen. ({0}) Nun, Herr von Hassel, Sie haben auch einen Ausflug in die Vergangenheit gemacht. Ich will ihn nur ganz kurz aufgreifen: Als 1966 die Frage des Ausscheidens der Freien Demokraten aus der Koalition anstand, ging es auch um Steuererhöhungen. Es ging aber auch darum, daß Sie Ihren damaligen Bundeskanzler um jeden Preis loswerden wollten, weil Sie glaubten, mit ihm nicht mehr weiterzukommen. Das war der Ausgangspunkt der ganzen Auseinandersetzung. Das können Sie heute nicht mehr beschönigen. Es ging um Erhards Sturz, um nichts anderes. Dazu haben Sie dann einige mögliche Begründungen gefunden. Daß alles andere dann etwas anders lief, als Sie dachten, das brauchen wir heute im Detail nicht mehr zu untersuchen. Sie haben dann davon gesprochen, daß der Einstieg in diese Debatte kaum dem Thema gewidmet war. Herr Kollege von Hassel, ich würde Ihnen raten, doch nur einmal die Rede des Bundeskanzlers durchzublättern. Dann werden Sie nämlich feststellen, daß sich von den 74 Seiten der Erklärung des Bundeskanzlers 43 mit Europa und den außenpolitischen Auswirkungen und 31 mit den Fragen der Innenpolitik, deren Lösung Voraussetzung für eine vernünftige Europapolitik ist, befassen. Ich verstehe nicht, wie Sie dann zu einem Drittel kommen. Wenn Sie immer so rechnen, dann wundere ich mich allerdings nicht mehr, wieso in Ihren Reihen so viele Fehlrechnungen zustande kommen können. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist hier gesagt worden, wir hätten in den letzten Jahren, insbesondere in den Jahren seit 1969, keine bewußte Europapolitik getrieben. Aber Herr Kollege von Hassel: Haben Sie denn völlig vergessen, daß genau in diese Jahre der Beitritt weiterer Länder zur Europäischen Gemeinschaft fällt, daß es während der sozialliberalen Regierungszeit war, als diese Barrieren über16434 wunden werden konnten, daß England beitrat, daß Dänemark beitrat, daß Irland beitrat. Das ist doch in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition geschehen, nicht zu einem anderen Zeitpunkt. ({2})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Hassel?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. von Hassel ({0}) : Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Mischnick, daß die Zustimmung Pompidous zu dieser Entwicklung bereits die Regierung Kiesinger bekommen hat? ({1})

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehen Sie, das Interessante ist nur, daß wir damals immer etwas von Zustimmung und Bereitschaft gehört haben, daß dies aber erst durch unsere Initiative vollzogen wurde, nachdem wir die Regierung gebildet hatten. ({0}) Wir haben eben diese europäische Politik nicht isoliert gesehen, sondern sie durch eine vernünftige Ostpolitik abgestützt und damit Voraussetzungen auch für die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen. Dies ist so selbstverständlich wie nur irgend etwas. Sie wollen es nur nicht wahrhaben. ({1}) Oder muß man hier befürchten, es hier mit Gedächtnisschwund zu tun zu haben, ({2}) wenn man das alles, was in den letzten sechs Jahren an Positivem in dieser Richtung geschehen ist, nicht wahrhaben will?. Wenn sie jetzt, vor wenigen Minuten, wieder die Kollegen der Sozialdemokratischen Partei beschworen haben, sie sollten dafür sorgen, daß nicht ähnliche Entwicklungen, wie wir sie in Italien haben, auch in Portugal eintreten, dann möchte ich Ihnen empfehlen, doch einmal die heutige ap-Meldung zu lesen, in der es heißt: Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei Portugals, Mario Soares, hat am Donnerstag das Wahlprogramm seiner Partei vorgelegt, in dem eine Wiederbelebung der privaten Unternehmertätigkeit als notwendig bezeichnet wird. Dem Werben der Kommunistischen Partei um eine Volksfront erteilte er eine klare Absage, indem er auf einer Pressekonferenz erklärte, die Sozialisten würden keine Bündnisse, weder offen noch geheim, mit der Kommunistischen Partei eingehen. Warum dann hier diese Beschwörungen? ({3}) Was steckt dahinter? Doch immer wieder der erneute Versuch, so zu tun, als würde eine sozialliberale Zusammenarbeit versteckt auf ein Infiltrieren durch Kommunisten abzielen und damit die Basis der Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Lande gefährden. Dies ist eine Art, die wir nicht nur zurückweisen müssen, sondern die für diese parlamentarische Demokratie gefährlich werden kann, wenn Sie das so weitertreiben. ({4}) Es ist heute sehr vieles über optimistische, realistische und auch skeptische Betrachtungen der europäischen Entwicklung vorgetragen worden. Wir sind keine überzogenen Optimisten, aber auch keine Pessimisten. Wir meinen, daß ein realistischer Optimismus, der in praktischen Handlungen zum Ausdruck kommt, der heutige Situation am ehesten gerecht wird, wohl wissend, daß wir ständig wieder Rückschläge erleben werden, daß es aber notwendig ist, sie zu überwinden. Wir wollen die Direktwahl 1978. Wir wissen, daß sie noch nicht sicher ist. Es bestehen Gefahren, daß sie nicht stattfindet. Das kann uns aber nicht daran hindern, alles, was wir für notwendig halten, zu tun, um diese Direktwahl zu ermöglichen. Wenn der eine oder andere etwas skeptischer ist, dann ist er es doch nicht, weil er sie nicht will, sondern weil er versucht, hier die Gesamtentwicklung nicht nur realistisch zu sehen, sondern alle Kräfte zu mobilisieren, damit wir das gesteckte Ziel auch wirklich erreichen können. Die Bewegungsmöglichkeiten, die wir hier gesdiaffén haben und die bewirkt haben, daß überhaupt eine Direktwahl des Europäischen Parlaments mit Terminen in Aussicht genommen werden kann, ist doch nicht zuletzt dadurch möglich geworden -ich möchte das noch einmal unterstreichen -, weil nunmehr auch unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft wissen, daß ein solches direktgewähltes Parlament, eine weiter ausgebaute Gemeinschaft nicht in der Gefahr sind, in einer totalen Konfrontation zu den Ostblockstaaten, den Warschauer-PaktStaaten, zu stehen. Das ist doch der Grund gewesen, weshalb manche unserer westlichen Partner mit einer gewissen Sorge auf eine größere Integrität geschaut haben. Deshalb müssen wir beides in der gleichen Weise fortsetzen, wie es bisher geschehen ist. Nun hat der Herr Kollege Strauß heute vormittag viel in Vergangenheit gewühlt. Er tat dies offensichtlich, weil für ihn die Zukunft bereits vorüber ist; denn das, was morgen und übermorgen geschehen soll, wie er andere Akzente setzen will, hat er nicht zum Ausdruck gebracht. Er hat aber davon gesprochen, es würde von der Koalition und von der Regierung mit gezinkten Karten gespielt. Wer spielt denn wirklich mit gezinkten Karten? Das ist doch die Union, wenn sie beispielsweise bei der Haushaltsberatung die Mehrwertsteuer ablehnen will. Da spielt sie doch mit gezinkten Karten. Sie weiß ganz genau, daß dies notwendig ist. Aber mit dem Blick auf den Schlitz der Wahlurne will man dem Bürger weismachen, man bewahre ihn vor Steuererhöhungen. In Wahrheit weiß man ganz genau, daß man selbst, wenn man an der Regierung wäre, den gleichen Schritt tun müßte. Dies ist ein Spiel mit gezinkten Karten, aber nicht das, was wir hier offen auf den Tisch legen. ({5}) - Wenn Sie mir entgegenhalten, die Mehrwertsteuer sei unsozial, so ist dazu zu sagen, daß es völlig richtig ist, daß die Mehrwertsteuer in ihrer Belastung breite Wirkungen hat. Nur, wenn das so ist, dann ist es doch immerhin verwunderlich, daß es Ihr Finanzminister Strauß war, der die Erhöhung von 10 % auf 11 % vorschlug zu einem Zeitpunkt, in dem man über eine Mehrwertsteuererhöhung mindestens hätte genau so streiten können wie jetzt. Das kann doch wohl nicht wahr sein: In der Opposition ist es unsozial, in der Regierung ist es eine Notwendigkeit. Diese Doppelzüngigkeit werden Sie bei uns nicht erleben. Da können Sie sicher sein. ({6}) - Wir haben gar keinen Grund, uns zu entschuldigen. ({7}) - Lieber Herr Kollege Carstens, ich wundere mich, daß Sie jetzt diese Zahlen so einbringen. Wenn Sie einmal genau nachrechnen, dann werden Sie feststellen, daß die Steuerbelastungsquote in den letzten beiden zurückliegenden Jahren - das wird auch für das Jahr 1976 gelten - eben nicht weiter gestiegen, sondern wieder abgesunken ist. Daß sie möglicherweise dann wieder steigt, wenn die Mehrwertsteuer kommt, ist unbestritten. Aber wir sind nie über 25 % als Höchstgrenze hinausgegangen. Im Gegenteil, wir sind lange unter 24 %, ja sogar unter 23 % geblieben. Wenn Sie jetzt die ganzen sozialen Abgaben in Ihre Gesamtbetrachtung einbeziehen, dann kann ich Ihnen, verehrter Herr Kollege Carstens, nur sagen: Als wir, d. h: Ihre Kollegen und wir, noch gemeinsam in einer Regierung saßen und ich damals, 1963, bereits darauf hinwies, daß 18 % Beitrag für die Rentenversicherung notwendig sein würden, hat Ihr damaliger Kollege Blank erklärt, daß sei Schwarzmalerei, eine Verdächtigung, eine Unterstellung. Sie hätten sichergestellt, daß der Beitrag bei 14 % bleibe. So ist die Wahrheit. Wir haben damals, als Sie Entscheidungen mit uns gemeinsam trafen, schon gewußt und darauf hingewiesen, daß diese Belastung kommt. Sie können das heute nicht uns, dieser Regierung, anrechnen. Wenn der Kollege Strauß von „Geschichtsredlichkeit" gesprochen hat, kann ich nur sagen: Zu dieser Redlichkeit gehört eben - offensichtlich hat es weh getan, daß der Bundeskanzler das heute hier vorgetragen hat -, daß man folgendes ins Gedächtnis zurückrufen muß. Als wir zusammen in einer Koalition saßen und uns darum bemühten, die Rentenversicherung für die Selbständigen zu öffnen, scheiterte das am Widerspruch der Union. In der Koalition mit den Sozialdemokraten haben wir das durchgesetzt. ({8}) Als es darum ging, für die Angestellten oberhalb der Versicherungspflichtgrenze einen Arbeitgeberbeitrag zu erreichen, scheiterte das in der Koalition mit der CDU. In der Koalition mit den Sozialdemokraten ist es durchgesetzt worden. ({9}) Als wir die Dynamisierung der Kriegsopferrenten wollten, waren Sie dagegen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit Ihrer früheren Kollegin Probst beim damaligen Bundeskanzler Erhard darum kämpfen mußte, daß die Kriegsopferrenten erhöht werden. In dieser Koalition ist die Dynamisierung der Kriegsopferrenten beschlossen worden. Das haben wir erreicht. ({10}) Ich will das hier alles nicht im Detail aufzählen. ({11}) Ich weiß aber, daß die Art, wie Sie draußen immer wieder versuchten, das, was faktisch erreicht worden ist, herabzusetzen, auf Dauer keinen Erfolg haben wird. Wenn wir wirklich eine nüchterne und sachliche Betrachtungsweise anwenden, ({12}) so ist festzustellen, daß wir nie auf die Idee gekommen sind, zu sagen: Jeder einzelne Punkt, jeder einzelne Satz, jedes einzelne Gesetz sei von A bis Z nur das Beste gewesen. Auch wir haben Fehler gemacht. ({13}) Aber das, was diese Regierung insgesamt bis zum heutigen Tag an Leistungen vorzuweisen hat, ({14}) ist ein Beweis dafür, daß sich bei einer vernünftigen Partnerschaft, bei einer realistischen Betrachtungs16436 weise zwei unterschiedliche Parteien wie die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten ({15}) doch zu fairen Kompromissen im Interesse des gesamten Volkes finden und sie auch durchsetzen können. ({16}) Und daß wir sie durchgesetzt haben, ist doch genau das, was Ihnen so zu schaffen macht. ({17}) Wenn Sie in der Lage sind, in Ihren eigenen Reihen so viel Gemeinsamkeit bei der praktischen Beschlußfassung zu erreichen, wie sie diese Koalition erreicht hat, dann haben Sie noch einen weiten Weg vor sich. ({18})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Narjes.

Dr. Karl Heinz Narjes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nach der Rede des Kollegen Mischnick ist es mir ein besonderes Bedürfnis, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich in der Beurteilung dieser Debatte mit seinem Kollegen Bangemann übereinstimme. Auf dem Umwege über politische, soziale und wirtschaftliche Stabilität kann man in der Tat jedes Thema in eine Europa-Debatte einführen und diese Debatte ad absurdum führen. ({0}) Ich unterstelle gern, daß die SPD nach der Niederlage in Baden-Württemberg einen erheblichen Nachholbedarf an politischem Selbstvertrauen hat und in dieser Richtung einiges tun möchte. Aber was hier heute unter Mißbrauch der Europa-Debatte zu diesem Thema getan worden ist, geht über jedes erlaubte Maß hinaus, Herr Bundeskanzler. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt?

Dr. Karl Heinz Narjes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Helmut Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002007, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie, Herr Kollege Narjes, so liebenswürdig sein, nicht nur formal, sondern auch innerlich zur Kenntnis zu nehmen, daß ich niemals die Absicht hatte, eine ausschließlich europapolitische Regierungserklärung abzugeben, sondern daß die Absicht bestand; den ganzen Bereich der äußeren und inneren Politik unseres Staates Ihnen in dieser Regierungserklärung darzulegen?

Dr. Karl Heinz Narjes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, ich nehme das gern zur Kenntnis. Nur, die Überschrift der heutigen Tagesordnung lautete anders. ({0}) - Herr Bundeskanzler, immerhin haben Sie eine solche Fülle von Themen eingeführt, daß, um Europa hier auch nur noch halbwegs zur Geltung zu bringen, ich aus den Themen, die Sie gebracht haben, zwei herausgreifen will. Erstens haben Sie in der Schönfärberei der Gegenwart bis an den Rand der Skrupellosigkeit Tatsachen und Zusammenhänge dargestellt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. ({1}) - Hören Sie erst mal zu, Herr Kollege Ehrenberg! - Sie, Herr Bundeskanzler, haben Tatsachen dargestellt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Ich meine die Gegenüberstellung von Freiheit und sozialer Sicherheit als Alternative - so sollte es herauskommen -, als ob das eine das andere ausschließt. Tatsächlich macht doch Freiheit überhaupt erst eine menschenwürdige soziale Sicherheit möglich, ({2}) wie es in dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft angelegt ist. Soziale Sicherheit ohne Freiheit wäre nur als eine sozialistische Totalbetreuung denkbar, totale Bevormundung, totale Bürokratur. Das aber - das kann ich Ihnen sagen - werden wir mit allen Kräften, wo immer es möglich ist, ablehnen. Es ist nicht zu übersehen, daß der Herr Bundeskanzler bei seinem Bericht über soziale Sicherheit das Wort „Vermögensbildung" nicht erwähnt und von der freiheitsgarantierenden Funktion des Eigentums kein einziges Wort gesagt hat. Dieses war die erste Bemerkung.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?

Dr. Karl Heinz Narjes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Rücksicht auf die Zeit darf ich auf weitere Zwischenfragen nicht eingehen. ({0}) Das zweite, was angesprochen worden ist, ist die wiederholte Behauptung, daß die relativ bessere Position Deutschlands so gut sei, als ob es besondere Probleme hier nicht gebe und als ob es einer besonderen politischen Aktion deshalb nicht bedürfe. Ich darf dazu feststellen: Wir wissen um die Zahlen, die Sie gebracht haben. Wir wissen auch um die Arbeitslosigkeit heute. Wir wissen aber auch um die Arbeitslosigkeit, wie sie uns für morDeutscher Bundestag - 7. Wahlperiode gen und übermorgen prognostiziert wird. Wir wissen um die Investitionsschwäche, und wir wissen auch, daß diese Investitionsschwäche noch nicht überwunden ist. Wir wissen um 100 bis 110 Milliarden DM Investitionslücke in der Vergangenheit, und wir wissen, daß wir aus diesem Grunde eine Schrumpfung unseres Wachstumspotentials haben, die die vielleicht ernsteste langfristige Gefährdung des Netzes der sozialen Sicherheit bedeutet, auf das" Sie sich heute viel zu sehr und zu Unrecht berufen haben. Wir wissen aber auch um den Finanznotstand in Deutschland - aller öffentlichen Haushalte, aber auch der Sozialversicherungshaushalte. Herr Kollege Ehrenberg, Ihnen würde ich empfehlen, Ihre Darstellung der Sozialversicherungslage zunächst einmal Ihrem Koalitionspartner klarzumachen; er hat in der Rentendebatte einen anderen, realistischeren Standpunkt vertreten. Wir wissen um die Notwendigkeit, das Gesundheitswesen, die Verkehrsträger Bahn und öffentlicher Personennahverkehr sowie den sozialen Wohnungsbau finanziell zu sanieren, und wir wissen auch um die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Dies alles hätte in einen Gesamtvergleich der Stabilität hineingehört. Von alledem war aber keine Rede, insbesondere auch nicht von der Achillesferse jeder deutschen Wirtschafts- oder Sozialpolitik, nämlich der noch immer fehlenden Stabilität der Preise, der immer noch existierenden inflationären Entwicklung. Wir haben also unsere eigenen schweren Probleme in Deutschland, und diese werden nicht dadurch leichter oder etwa dadurch gelöst, daß unsere Partner in ihren Ländern schwerere haben. Jedes dieser Probleme ist nämlich für sich geeignet, genau die Stabilität zu gefährden, die Sie heute morgen mehrfach beschworen haben. Nun zum Tindemans-Bericht. Es ist meine Absicht, nur mit wenigen Bemerkungen zusätzlich zu dem, was gesagt worden ist, auf Entwicklungen oder Umstände hinzuweisen, die in der Diskussion über diesen Bericht, die hoffentlich in den Ausschüssen ernsthaft geführt werden wird, nicht untergehen sollten. Herr Tindemans hat als Kollege für Kollegen geschrieben und dementsprechend seine Kollegen Staats- und Regierungschefs in seiner Ausdrucksweise sehr geschont und insbesondere alles vermieden, was in bezug auf die Vergangenheit irgendwelche Ursachenketten oder gar Schuld oder Verantwortung für Fehlentwicklungen nachweisen könnte. Dies wird in Deutschland in den Parlamenten nachzuholen sein. Herr Tindemans war insbesondere sehr vorsichtig in der Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen Situation, die uns ja nicht plötzlich überfallen hat, sondern das Ergebnis eines langen Verfallsprozesses gewesen ist. Solange wir diesen Verfallsprozeß - das Wort „Verfall" wird von Herrn Tindemans gebraucht - nicht im einzelnen analysiert haben, wissen wir nicht, warum und woran wir kranken. Wenn wir nicht wissen, warum und woran wir kranken, können wir auch nicht wissen, wie wir heilen sollen. Wenn schon die europäische Einigung ein vitales Interesse Deutschlands ist, dann muß jeder einzelne Teil, jede einzelne Lagebeschilderung des Ministerpräsidenten Tindemans für uns von vitalem Interesse sein und verdient entsprechende Beachtung. Die erste Feststellung, die ich treffen möchte, ist, daß Herr Tindemans nicht deutlich genug herausgestellt hat, daß die von allen sechs Gründungsmitgliedern verabredete Strategie der Einigung, die von 1965 bis 1969 unterbrochen worden ist, nach 1969 niemals wieder konsequent aufgegriffen worden ist. Was nach 1969, insbesondere nach Den Haag, begonnen worden ist, ist nicht die Fortsetzung der Strategie, so wie sie einmal 1956/57 verabredet worden ist. Insbesondere alles, was damals zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Beitrittsproblematik gesagt worden ist, entsprach nicht der inneren Logik und der inneren Gesetzmäßigkeit der ursprünglich angelegten Integrationspolitik. Zweite Feststellung: Herr Tindemans zitiert mit Recht Herrn Marjolin, der in einem Bericht nachweist, daß insbesondere zwei Gründe für die Fehlentwicklung des wirtschaftlichen Einigungsprozesses verantwortlich sind. Der erste ist der Mangel an politischem Willen. Ich möchte hinzufügen: Neben dem Mangel an politischem Willen ist die Schwäche der Regierungen, noch irgendwelche Anpassungsmaßnahmen durchzuführen - das sind meist Reformmaßnahmen - mindestens so mitursächlich wie die fehlende Bereitschaft dazu. Der andere Aspekt des mangelnden politischen Willens ist heute schon mehrfach angeklungen: die mangelnde Bereitschaft, der Integrationspolitik Priorität vor anderen Zielen der Staaten zu geben, insbesondere in den Jahren 1969 bis 1972/73 Priorität vor der Ostpolitik. Soviel zur ersten Bemerkung. Die zweite Bemerkung, die Herr Tindemans macht, bezieht sich auf das ungenügende Verständnis der Regierungen vom Wesen einer Wirtschafts- und Währungsunion und den Voraussetzungen für ihr Zustandekommen und ihren Fortbestand. Dahinter verbirgt sich schlicht ein Unfähigkeitsurteil in bezug auf die Staats- und Regierungschefs - im Wege eines Zitats. Auch dieses Urteil verdient ernst genommen zu werden. Insbesondere verbirgt sich dahinter die Feststellung, daß die Staats- und Regierungschefs es erstens immer übersehen oder nicht erkannt haben, daß wirtschafts- und währungspolitische Einigung untrennbar miteinander verbunden sind und nur parallel, nebeneinander, verwirklicht werden können, und daß es zweitens untrennbare Zusammenhänge zwischen dem institutionellen Aufbau der Gemeinschaft und der Art der gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Währungspolitik gibt, zu der man sich entschließt. Mit einer Diplomatenkonferenz kann man keine Globalsteuerung der Nachfrage in Europa organisieren. Umgekehrt: Will man nur eine Diplomatenkonferenz konzedieren, muß man sich zu Kooperationsformen entschließen, von denen man nur eines mit Gewißheit weiß, nämlich daß sie niemals zu einer gemeinschaftlichen europäischen Währungs- und Wirtschaftspolitik führen. Die dritte Bemerkung zum Tindemans-Bericht kommt vom neuen englischen Ministerpräsidenten Callaghan. Er hat vor einigen Wochen in Hamburg eine Rede gehalten und insbesondere die Staats16438 und Regierungschefs getadelt für die völlige Unseriosität in der Art der Terminplanung, in der Art ihrer Programmgestaltung und in der Art, wie sie in ihren Kommuniqués feierliche Absichten dargestellt und die Bereitschaft zu ihrer Verwirklichung vorgetäuscht haben. Diese Sätze des jetzigen englischen Ministerpräsidenten möchte ich allen, auch der deutschen Bundesregierung, mit auf den Weg geben, insbesondere auch dem Herrn Bundeskanzler, der von dieser Bereitschaft zum Mitwirken beim Mißbrauch von Kommuniqués für Public-Relations-Zwecke nicht frei gewesen ist. Noch 1974 hat er das Kommuniqué des Jahres 1972 feierlich bekräftigt, wohl wissend, daß 1974 nicht die geringste Chance bestand, dieses schon 1972 überzogene Kommuniqué in irgendeiner Form fristgerecht zu realisieren. Der nächste Punkt, der sehr deutlich gemacht werden sollte, betrifft die Fragwürdigkeit der Institution des Europäischen Rates. Dieser Europäische Rat, der zunächst als eine Runde am weißen Tisch begann, ist in seiner Weiterentwicklung genau den Weg gegangen, den alle Kenner ihm vorhergesagt haben: Er verliert sich genauso im Gestrüpp der Details, im Gestrüpp der Technokratie wie vorher die Ministerräte auch. Das eigentliche Thema wird dadurch nur verschleiert, denn das ist nicht die Frage Europäischer Rat oder die Frage Ministerrat, sondern das eigentliche Thema ist, daß die Regierungen in Europa insgesamt im Augenblick denkbar schwach sind, daß Verantwortung und Macht in vielen Staaten so weit auseinanderfallen, daß diejenigen, die die Verantwortung haben, nicht mehr die Macht haben, das, was sie verantwortlich zu gestalten sich vielleicht verpflichten, durchzuführen, während umgekehrt diejenigen, die Macht haben, nicht bereit sind, die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Über solche Mißstände können auch keine Europäischen Räte, Gipfelkonferenzen u. ä. hinwegtrösten. Hier liegen die Strukturschwächen in den nationalen Verfassungen selbst. Der Europäische Rat kann solche Mängel allenfalls vorübergehend verbergen, nicht aber beheben. Ein letzter Punkt zum Europäischen Rat. Manche seiner Formulierungen erwecken den Eindruck, als ob der Europäische Rat - entgegen anderen Bekundungen an anderer Stelle - praktisch doch die Rolle der Kommission -der Europäischen Gemeinschaften einschränkt, indem er ihr Weisung gibt, wie sie ihr Initiativrecht auszuführen hat, statt es ihr zu überlassen, was und wie sie etwas anfaßt und welche Probleme sie auf den Tisch bringt. Ein weiteres Thema - auf die Zukunft bezogen, es ist heute mehrfach angesprochen worden - betrifft die Zusammenarbeit und die Mitwirkung von Kommunisten in europäischen Regierungen. Wenn ich den früheren Bundeskanzler Brandt heute morgen, als er von seinen Verbindungen mit dem portugiesischen Sozialisten Soares sprach, richtig verstanden habe, deutet er die Vorwürfe in Richtung auf Zusammenarbeit mit Kommunisten dahin, daß man sich, wenn man diese Volksfrontlage nicht anerkenne, selbst in die Isolierung setze. Wenn dies - von ihm aus gesehen - die Alternative ist, dann muß ich doch die Frage stellen, ob Herr Brandt überhaupt noch den Gedanken kennt, daß man statt mit Kommunisten auch mit anderen demokratischen Parteien in den betroffenen Ländern zusammenarbeiten kann und daß es eine erhebliche Priorität der Verpflichtung gibt, sich um Regierungen ohne Kommunisten zu bemühen, bevor man sich aus linker Ideologie heraus oder aus sonstigen Gründen nur noch auf die Bündnisse mit den Kommunisten fixiert. ({1}) Wenn in der Tat die Isolierungsfurcht sein Motiv sein sollte, kann ich nur fragen: Wo wäre die SPD heute, wenn Kurt Schumacher aus demselben Motiv heraus 1945/46 der SED zugestimmt hätte? ({2}) Das war ein anderer Geist und eine andere Kampfentschlossenheit, als sie heute bei der SPD vorhanden ist. Ein anderer Punkt ist bei der Volksfrontthematik übersehen worden. Unabhängig vom Willen der Beteiligten dürfte es doch wohl klar sein, daß sich, sobald sich irgendwo eine kommunistische Regierungsbeteiligung herausstellt, sehr schnell Sachzwänge einstellen werden, die diese Regierung zur Verhinderung von Kapitalflucht, zur Verhinderung des Abzugs von fremdem Investitionskapital, zur Verhinderung der Auswanderung oder aus anderen Gründen dazu zwingen werden, eine Fülle von Grenzen wieder zu errichten, damit sie überhaupt ihre wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit wahren kann. Wenn das aber so ist - und Kenner bestreiten nicht, daß es so sein muß -, dann wird jeder Staat, der Kommunisten in die Regierung hineinnimmt, sich selbst aus einer Gemeinschaft herauslösen und sich vom großen Binnenmarkt isolieren. Das geht viel weiter, als Schreibtischstrategen, die sich dieses Themas nur vom Ideologischen her annehmen, es im Augenblik realisieren. Ich möchte deshalb die eindringliche Warnung aussprechen - und dieses auch über unsere Grenzen hinaus; denn vor einiger Zeit hat der „Economist" eine ähnliche These vertreten -, so zu tun, als ob man nach einer Beteiligung der Kommunisten an der Regierung genauso weitermachen könne wie zuvor. Diese Dinge lagen mir am Herzen. Mit Rücksicht auf die Zeit bitte ich, mir weitere Ausführungen zu ersparen. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das Verdienst des Bundeskanzlers, in der Regierungserklärung überzeugend dargelegt zu haben, daß unsere Bundesrepublik die europäische Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit in Einklang hält und in Einklang zu halten bemüht bleiben wird. Das ist eine Richtlinie der Politik, die sich daraus erklärt, daß es nach unserer Auffassung eine Lebensnotwendigkeit für unWehner ser Land ist, den europäischen Zusammenschluß zu fördern. Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, in welchem Zusammenhang und in welchem Wechselwirkungsverhältnis sich die europäischen Entwicklungen und unser eigenes Haus, wenn ich das so bildlich sagen darf, befinden. Wenn das internationale Gewicht der Bundesrepublik Deutschland zugenommen hat, wie das aus den Darlegungen des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung auch belegt zu vernehmen war, so ist es auch wahr, daß sie ein Faktor geworden ist, der gefragt und gehört wird. Wir konzentrieren uns und unsere Kräfte auf genau das, was ausmacht, daß wir als ein Faktor, der gefragt und gehört zu werden verdient, betrachtet werden. Wir konzentrieren uns auf das, um es weiterzuentwickeln. Da haben wir dem sozialen Ausgleich, der sozialen Stabilität die große Bedeutung beigemessen, wie es heute hier mit Recht in der Regierungserklärung geschehen ist. Deswegen irren diejenigen Damen und Herren, die der Meinung waren, das hätte doch „eigentlich" eine Europadebatte sein sollen. Wenn wir nichts anderes zu behandeln und zu berichten hätten als gewisse andere Länder, dann könnte man zwar trefflich über europäische Lyrik und über europäische Architektur reden, käme aber keinen Millimeter in der Entwicklung und im Aufbau weiter. Hier ist von dem Herrn Kollegen Blumenfeld eine Frage gestellt worden - sie ist nicht an mich allein, sondern sie ist sozusagen an die Sozialdemokraten, an die Koalition gestellt worden -, ob wir zur Abgabe von Souveränitäten an die Gemeinschaft bereit wären und dies auch vollziehen würden. Nun, gerade weil wir dazu bereit sind und weil wir wissen, daß es lebensnotwendig ist, die Kooperationsgemeinschaft und die Kooperationsfähigkeit in Einklang zu halten, gehen wir so behutsam mit dem um, wofür die Regierung und die Koalition die Verantwortung gegenüber den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in unserem Lande und auch in jenen Ländern tragen, mit denen wir das Zusammenwirken enger gestalten wollen. Ich gehöre zu den Gründern des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa und habe seit der Gründung 1955 zu denen gehört, die eng mit Jean Monnet zusammengewirkt haben. Als sich der Kreis der Mitglieder dieses Komitees gegen Ende' 1975 auf Einladung und nach vorheriger Verständigung durch Herrn Tindemans in Brüssel zusammenfand, um dort über die Probleme und auch die Konturen des Berichts zu sprechen, der amtlich noch nicht vorlag, war ich dabei. Ich schwelge nicht in solchen Sachen. Nur, es ist so: wir waren in den Fragen der Entwicklung dessen, was wir offen als Ziel - Europäische Vereinigte Staaten - bezeichnen, von Anfang an dabei. Sehen Sie, es ist natürlich ganz seltsam: für Sie sind nur tote Sozialdemokraten zitierenswert. Soeben hat hier der Herr Narjes mit einer, ich muß sagen, bewundernswerten Naivität, wie mein neben mir sitzender Kollege meinte - ich hätte es lieber anders ausgedrückt; aber lassen wir es bei Naivität - ({0}) . Nun hören Sie mal, mit Ihnen muß ich doch hier nicht auch noch herumquatschen. ({1}) Nein, Sie erwähnten Schumacher und sagten, der sei von ganz anderem Kaliber gewesen. Über das Kaliber streite ich mit Ihnen nicht; nur haben Sie ihn natürlich völlig mißverstanden. Jetzt zitiere ich aus dem, was er zuletzt geschrieben hat: Die schwerste Versündigung am deutschen Volk ist nicht von der alliierten Seite selbst, sondern von den Parteien der heutigen - das ist 1952, unmittelbar vor seinem Tod, geschrieben worden Regierung erfolgt, als sie die Formel aufstellten: Christentum oder Marxismus, nach der das eine das andere ausschließen soll. Dann hat er hinzugefügt, lächelnder Herr Narjes: ({2}) Das ist die Zerreißung auch des Volkes der Bundesrepublik in zwei Teile. Es ist unmöglich, daß der eine Teil bestimmt, wer Christ und was unter Marxismus zu verstehen ist. Da die Zeit es nicht zuläßt, weiter zu zitieren, muß ich Sie bitten, falls Schumacher Sie wirklich so interessiert, daß Sie es für wert halten, ihn uns hier entgegenzuhalten, das einmal nachzulesen. Ich leihe Ihnen dieses vergilbte Heft gern aus, Herr Narjes. ({3}) Einen Satz noch: Die Grundlage des Antimarxismus ist völlige Unwissenheit und Unkenntnis der Materie. Die sogenannten Antimarxisten von heute übernehmen die Propagandaformeln, mit denen die Hitlerdiktatur zur Macht gekommen ist. ({4}) Das war Kurt Schumacher, Herr. ({5}) Ich könnte Ihnen noch mehr vorlesen. Aber lassen wir das jetzt sein. Bei Ihnen gibt es ja eines: Man sucht nach etwas. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung auf eine ganz interessante Schrift verwiesen und daraus zitiert. Es ist kein Buch, es ist eine Art interne Weisung der Geschäftsstelle eines CDU-Kreisverbandes. Da wurde nicht mehr bestritten, daß wir zu einer Zeit lebten, in der sich der Konjunkturhimmel aufhelle. Ich will das hier aber nicht noch weiter zitieren; Sie werden es in der Regierungserklärung nachlesen können. Dann kommen diese Absurditäten, zu denen Sie Unionisten sich sozusagen genötigt sehen: Weil Ihnen die Tatsachen nicht recht geben, muß das Bewußtsein der Menschen manipuliert werden. Das ist das einzige, was Sie können. ({6}) In dieser Schrift der Geschäftsstelle des Fachausschusses Wirtschaft und Finanzen der CDU in Ludwigshafen steht es so: Mit der verfehlten Ostpolitik hat die SPD die letzte Bundestagswahl gewonnen. Mit der katastrophalen Wirtschafts- und Finanzpolitik will sie die nächste gewinnen. Ich kann nur hellauf lachen, wie komisch Sie bei Ihren gymnastischen Bemühungen sind, das Bewußtsein der Menschen zu manipulieren. ({7}) Da kommen Sie zu dem, worauf es Ihnen ankommt, zu dem, was jener Geschäftsführer oder Geschwätzführer schreibt: Wir müssen den Wählern klarmachen, daß die deutsche Bevölkerung darüber zu entscheiden hat, ob dem Sozialismus ein Halt gesetzt werden soll. Das ist das, woran Sie sich dann halten wollen, dieses Schauboxen gegen Sozialismus! Selbst wenn Sie hier über Europa sprechen und es alle beklagen, daß hier „nicht nur" über Europa gesprochen worden ist, müssen Sie immer über den Zaun und an den Tisch der anderen Leute heranbringen, daß Sie besser wüßten, was für gefährliche Marxisten, Sozialisten und sonstige Volksfeinde dort am Werke seien. ({8}) Es interessiert Sie andererseits nicht, daß wir hier ein Land haben, in dem nicht eine Partei wie die Kommunistische Partei Italiens die einzige Alternative zu jener seltsamen Partei Demo-Cristiani ist, die seit Ende des Krieges das ganze Land in einer Weise verwaltet hat, daß ich das überhaupt nicht charakterisieren will. ({9}) Ich hätte mich gern mit Herrn Strauß und seiner heute ein wenig angeschlagen wirkenden Kunst des Manipulierens befaßt. Aber so viel Zeit hat man ja nicht. Da gibt es eine Zeitung, die Ihnen allen sehr nahesteht und wohlgesonnen ist, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", FAZ. Da hieß es am 6. April, daß er immer recht hat, nämlich besagter Herr Strauß. Sie haben es natürlich gelesen, obwohl es nicht im Wirtschaftsteil steht. Aber im Wirtschaftsteil des Tages vorvorher stand: „Schwarzfärber Strauß". Wenn ich Ihnen das jetzt vorläse, würden Sie sagen: „Ein solch boshafter Knilch! Daß er sich auch noch diese Sache herausholt, die den Strauß in der - richtigen! - Weise charakterisiert" - in diesem Fall zugunsten anderer Flügel in der Flügelpartei Union, die sich ja nicht gern Partei nennt! Ich habe heute morgen gemerkt, wie immer wieder versucht wurde, mit dem Gerede „Baden-Württemberg" zu locken. Ich muß Ihnen mal sagen - ({10}) - Im Gegenteil, ({11}) ich weiß doch, wie es in der Woche nach der vorigen Landtagswahl in jenem Land hier war, wo Sie gedacht haben: Jetzt alle Mann aufs Pferd, aufs Pferd! ({12}) Da haben Sie hier ein sogenanntes konstruktives Mißtrauensvotum gemacht und sind damit auf den Bauch gefallen. ({13}) Diesmal geht das nicht, weil die Verhältnisse hier nicht mehr so sind. ({14}) Da müssen Sie etwas anderes suchen. ({15}) Und was ist das andere? Das ist Ihre große Sehnsucht nach der Rückkehr dessen, was in den 50er Jahren war. Da waren es aber andere Leute als Sie, Sie komischer Nachmacher, der Sie mir hier dazwischenreden! ({16}) Das war die große Sehnsucht, wieder die 50er Jahre beleben zu können, als es die Plakate gab und als es hier so dargestellt wurde: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau." - Das ist doch Ihre Nostalgie. Sie wollen das wieder zum Feldgeschrei machen. Die Leute sollen nicht über das reden, was es an sozialer Sicherheit gibt, sollen nicht über das reden, was uns davor bewahrt hat, genauso gebeutelt zu werden wie andere Länder, die ich hier jetzt nicht aufzuzählen brauche, die aber sonst strukturell mit uns vergleichbar sind. ({17}) Nein, Sie wollen das Sozialismus-Gespenst so blutrot wie damals erscheinen lassen. ({18}) Die 50er Jahre, Sie Papen-Verschnitt, waren eben vorbei, ({19}) da ließ der große Meister Konrad Adenauer bei der SPD, und zwar bei dem, der hier steht, fragen und untersuchen, ({20}) ob es denn nicht denkbar sei oder ob es völlig ausgeschlossen sei, daß die Sozialdemokraten auch mit der CDU/CSU koalierten. Das war ganz am Anfang der 60er Jahre. Die 50er Jahre mit Ihrer unverWehner schämten Sozialistenhetze, die Sie damals getrieben hatten, waren gerade vorbei. Sie waren im Besitze der absoluten Mehrheit - ein einziges Mal, im Jahre 1957 -, ({21}) als uns das in den Knochen steckte, was Ihnen in Sachen Atombewaffnung - wogegen wir uns damals wandten - zuzutrauen war. ({22}) - Wenn ich mal so viel Redezeit habe wie der große Vorsitzende der kleineren Unionsschwester, kann ich Ihnen das ja einmal erzählen, und zwar ganz genau. Sie werden sich wundern: Ich habe noch ein Gedächtnis, weil ich das miterlebt habe. ({23}) Das war am Beginn. ({24}) Sie reden gegenüber den anderen so, als ob Sie alle Leute in allen möglichen Partnerländern nach Ihrem kläglichen Schnittmuster - Sie sind noch nicht einmal eine Partei; Sie sind doch nur ein Unionsklub - gleichschalten könnten. So gehen Sie mit den anderen um. ({25}) Nun noch eine letzte Bemerkung an den besonders edlen Herrn von Hassel, der hier den Eindruck zu erwecken sich bemüht hat - ({26}) - Nein, ich habe hier die Regierungserklärung Ihres Parteifreundes und damaligen Bundeskanzlers KurtGeorg Kiesinger, und zwar das angegilbte Exemplar. ({27}) - Herr von Hassel hat mit Zahlen jongliert. Ich verzeihe ihm ja, daß er hier ein schlechtes Gedächtnis und eine gute Absicht paart, nämlich die Absicht, sich von dem reinzuwaschen, was den Leuten damals mit Recht vorgeworfen worden ist. Damals hieß es: Unsere nächstliegende Sorge ist, den Haushalt 1967 auszugleichen. Dies muß rasch geschehen. Das Finanzplanungsgesetz, das Steueränderungsgesetz 1966, das Ergänzungshaushaltsgesetz 1967 reichen nicht aus, um die Deckungslücken des Haushalts voll zu beseitigen ... In den kommenden Jahren bietet die Finanzlage des Bundes ein noch düstereres Bild. Im Jahresdurchschnitt drohen Deckungslücken, die etwa so groß sind wie das gesamte Haushaltsvolumen eines der finanzstärksten Länder der Bundesrepublik, und dies trotz der vom Hohen Haus inzwischen verabschiedeten drei Gesetze. So geht es immer weiter. Dann folgen die Zahlen. ({28}) - Ach, Knabe, Sie sind noch nicht einmal schön. ({29}) Am Schluß dieses Teils hat Herr Kiesinger erklärt: Das ist die Wahrheit, die wir uns eingestehen müssen und unserem Volke nicht vorenthalten dürfen. Wäre von vornherein das getan worden, was wir nunmehr tun müssen, wären nicht jene Erwartungen und Gewöhnungen entstanden, die heute enttäuscht werden. Wir werden ja Gelegenheit haben, darüber noch eingehend zu sprechen, weil Sie ja die Zeitabläufe so drehen und kneten und massieren möchten, als ob wir, wie Sie gesagt haben, von Ihnen 1969 gewissermaßen volle Kassen übernommen und dann verpraßt hätten. ({30}) Wir sind 1966 eingestiegen, um zusammen - ({31}) - Sie waren es nicht, Sie, Carstens mit C, waren es auch nicht. ({32}) Wir sind damals eingestiegen, um in die Speichen zu greifen und den Wagen - ({33}) - Ich bin nicht auf einem Dampfer, sondern auf festem Boden, und ich sage Ihnen: wir werden darüber bald einmal konkret reden. Und dann wird der Herr von Hassel etwas dumm aus der Wäsche gucken. Etwas anderes bleibt ihm ja nicht übrig. ({34}) Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, das, was man heute modisch „Strategie" nennt, nämlich die Art und Weise, wie man den Gegner verunglimpft, schwarz darstellt und zu jemand macht, auf den man die Hunde hetzen kann, das machen Sie zwar; ({35}) aber es wird Ihnen nicht gelingen. ({36}) In Niedersachsen haben Sie sich einen gekauft. Das ist ganz einfach. Das ist ja keine Kunst. Das ist ja keine Kunst, edler Herr! ({37}) Nicht Sie persönlich! Das können Sie gar nicht. Da gibt es andere, die das für Sie machen. Das weiß ich. Nein, nein! Das ist die Woche nach der Wahl. Und die Wahl im Oktober wird Sie ebenso enttäuschen wie die Wahl im November des Jahres 1972. Das kann ich Ihnen voraussagen. ({38})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache über die Regierungserklärung. Ich rufe den Punkt 3 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte ({0}) - Drucksache 7/4722 -a) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 7/4998 -Berichterstatter: Abgeordneter Krampe Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2}) - Drucksache 7/4951 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schellenberg ({3}) Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? - Das Wort hat der Berichterstatter Professor Schellenberg.

Dr. Ernst Schellenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001954, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! In Ergänzung des schriftlichen Berichts möchte ich drei Bemerkungen machen. Erstens. Die Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über das Neunzehnte Rentenanpassungsgesetz konzentrierten sich vor allem auf die gegenwärtige und die zukünftige Finanzlage der Rentenversicherung. Hierzu hat der Ausschuß als Sachverständige Vertreter der Rentenversicherungsträger, des Bundesversicherungsamts, der Bundesbank und des Sozialbeirats gehört. Unter Berücksichtigung des Urteils der Sachverständigen ist der Ausschuß einstimmig der Auffassung, daß eine Anpassung der Renten um 11 %, die mit einem Aufwand von 10,1 Milliarden DM verbunden ist, mit der Finanzlage der Rentenversicherung vereinbar ist. Was die zukünftige Finanzgestaltung der Rentenversicherung betrifft, so sind nach Ansicht des Ausschusses keine gesetzgeberischen Maßnahmen erforderlich, insbesondere deshalb, weil der Jahresabschluß 1975 der Rentenversicherung praktisch ausgeglichen ist und weil ihr Vermögen mit 43 Milliarden DM einen hohen Stand erreicht hat. Der Ausschuß hält es jedoch für notwendig, daß die Bundesregierung in Zukunft im Rahmen der Rentenanpassungsberichte die Informationen über die kurz- und über die mittelfristige Finanzlage der Rentenversicherung erweitert und insbesondere die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftssituation auf die Liquiditätslage der Rentenversicherung darstellt. Ein entsprechender, einstimmig gefaßter Entschließungsantrag liegt dem Plenum unter Ziffer 3 des Ausschußantrags vor. Zweite Bemerkung. Durch das Rentenanpassungsgesetz werden 11,4 Millionen Renten der gesetzlichen Rentenversicherung, über eine Million Renten der Unfallversicherung und 570 000 Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte um 11 bzw. 7 % erhöht. Dadurch wird das Rentenniveau weiter verbessert. Das Altersruhegeld eines Durchschnittsrentners wird zum 1. Juli 1976 bei 40 Versicherungsjahren 66 % und bei 49 Versicherungsjahren 81 % des Nettoarbeitsentgelts eines gleichartig Beschäftigten betragen. Damit ist das höchste Rentenniveau seit Bestehen der deutschen Rentenversicherung erreicht. Dritte Bemerkung. Im Zusammenhang mit der Rentenanpassung hat der Ausschuß auch die Auswirkungen des Rentenreformgesetzes von 1972 beraten und die Bundesregierung um Aktualisierung ihres Berichtes gebeten. Daraus ergibt sich u. a., daß bis Ende 1975 1,4 Millionen Kleinrenten nach den Vorschriften über Renten nach Mindesteinkommen um durchschnittlich 105 DM monatlich erhöht worden sind ({0}) und daß 417 000 Rentner flexibles Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. bzw. als Schwerbeschädigte des 62. Lebensjahres erhalten. Von der Möglichkeit einer Nachentrichtung von Beiträgen zur Schließung von Beitragslücken wurde in großem Umfang Gebrauch gemacht. Bis Ende 1975 sind von den Versicherungsträgern 660 000 Anträge auf Nachentrichtung genehmigt worden. Darüber hinaus sind in den letzten Tagen des Jahres 1975 bei den Rentenversicherungsträgern 1,2 Millionen Anträge auf Beitragsnachentrichtung eingegangen. Dieses große Interesse an der Beitragsnachentrichtung ist ein Beweis für das große Vertrauen unserer versicherten Bevölkerung in die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung. Im Namen des Ausschusses bitte ich, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wir kommen zur allgemeinen Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Franke ({0}).

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor zum Neunzehnten Rentenanpassungsgesetz etwas sage, möchte ich ein paar Bemerkungen zu meinem Herrn Vorredner machen. Wenn ich das richtig sehe, lieber Herr Kollege Schellenberg, war das - vielleicht - Ihre letzte Rede, die Sie hier halten werden. Ich jedenfalls will folgendes hier sagen: Sie waren - wenn es Ihre letzte Rede war; nehmen wir es einmal für die letzte - immer ein unbequemer und ein sehr kenntnisreicher Gegner, aber oft hat es auch Spaß gemacht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Mir ist es ein Bedürfnis, das an dieser Stelle zu sagen. ({0}) Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Anpassung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ab 1. Juli 1976 an die Entwicklung der Löhne und Gehälter sowie der Anpassung der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab 1. Januar 1977 sowie der Anpassung der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte ab 1. Januar 1977 zu. Diese Rentenanpassung bewirkt im Bereich der Rentenversicherung eine Mehrausgabe von 10,1 Milliarden DM, und man ist schon bei der ersten Lesung erneut auf die ernste Frage der finanziellen Sicherung der Rentenversicherung aufmerksam gemacht worden, und man hat darauf hingewiesen. Seit dem Nachlassen der wirtschaftlichen Entwicklung und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit ergeben sich finanzielle Probleme in der Rentenversicherung. Um unsere soziale Sicherheit finanzieren zu können, brauchen wir Jahr für Jahr mindestens eine Steigerung des realen Bruttosozialprodukts von 4 %, d. h. bei einer Inflationsrate von 6 bis 7 % einen nominalen Zuwachs des Bruttosozialprodukts von 11 bis 12 %. Diesen Zuwachs gibt es seit Jahren nicht mehr. Ich muß diese Zahlen, obwohl ich sie schon oft genannt habe, noch einmal wiederholen. 100 000 Arbeitslose, grob gerechnet, erhalten bei einjähriger Arbeitslosigkeit 1 Milliarde DM Arbeitslosenunterstützung. 250 000 Arbeitslose zahlen 1 Milliarde DM weniger in die Kassen der Rentenversicherung. Das heißt, daß derjenige, der in die Kassen der Rentenversicherung nicht einzahlt, eines Tages auch darunter zu leiden hat. Das bedeutet zweitens, daß derjenige, der Inflation nicht bekämpft, sondern die Inflation duldet, Arbeitslosigkeit produziert. Wer Arbeitslosigkeit nicht bekämpft, bekämpft damit auch nicht die Schwierigkeiten, die sich für die Sicherheit unseres sozialen Sicherungssystems ergeben. Mit dieser Meinung, die hier gerade ausgedrückt wurde, stehen wir nicht allein. Das ist nicht das Malen eines Horrorgemäldes, Herr Minister Arendt, seitens der Opposition, sondern hier befinden wir uns in guter Gesellschaft insbesondere mit vielen Sachverständigen, auch der vielen Sachverständigen, die in den letzten Tagen in den Zeitungen darüber geschrieben haben. Die Sachverständigen aus dem Bereich der Rentenversicherung sagen, daß die Beiträge nicht bei 18 % stehenbleiben können. Ob das der Verband der Rentenversicherung, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, der Sozialbeirat oder die Deutsche Bundesbank ist - alle sagen übereinstimmend: Die 18 % Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung sind nicht zu halten. Zwischen 20 % und 21 % müssen künftig die Beitragssätze liegen, wenn der Leistungskatalog aufrechterhalten bleiben soll. Auf rund 20 %, also um ca. zwei Prozentpunkte, muß so oder so erhöht werden. Das heißt: Kommt die Neuregelung der Krankenversicherung der Rentner nicht, müssen die Beiträge auf 21 % erhöht werden. In Zahlen ausgedrückt: Die Bundesbank rechnet schon für 1977 mit einem Defizit von 15 Milliarden DM, oder aber man regelt die Krankenversicherung der Rentner mit einem kassenmäßigen Defizit von 10 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, außer den Sachverständigen aus der Rentenversicherung, aus der Bundesbank und aus dem Sozialbeirat, deren Aussagen bei der Anhörung vor 14 Tagen ich gerade knapp zusammengefaßt wiedergegeben habe, haben auch die sachverständigen Journalisten in den letzten Tagen und Wochen gesagt, daß die Rentenversicherung in eine finanzielle Krise geraten ist. Ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus dem „Münchner Merkur" zitieren. Dieser schrieb am 3. April: „Rentenversicherung bald in Zahlungsnot, Erhöhung der Beiträge wird erwogen" . Nun können Sie sagen: Na ja, der „Münchner Merkur" muß das so schreiben. Lassen Sie mich zitieren, was heute die „Süddeutsche Zeitung" sagt: „Rentenpolitik des Verschweigens". ({1}) - Verehrter Herr Minister, ich habe Ihren Zwischenruf nicht ganz verstanden. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt heute: „Rentenpolitik des Verschweigens". Sie sagt über Walter Arendt wörtlich folgendes: „Das solide finanzielle Fundament, von dem Arendt spricht, ist in Wahrheit nicht vorhanden." Es heißt weiter: „Arendts Versäumnis, das inzwischen zu einem Ärgernis geworden ist, liegt nicht in seinem Verzicht aufs Handeln, sondern in seiner Weigerung, die Betroffenen über den wahren Sachverhalt zu informieren." Wenn wir, meine Damen und Herren, darauf hinweisen, wie die Lage bei den Rentenversicherungsträgern ist - von der Krankenversicherung habe ich in diesem Zusammenhang noch gar nicht gesprochen -, dann beschimpft uns der Arbeitsminister, wir zeichneten hier ein Horrorgemälde. Wir tun nichts anderes, als auf die Lage hinzuweisen, als die Argumente der Sachverständigen kritisch zu prüfen und hier mit in die Debatte einzuführen. Lassen Sie mich die Überschrift aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitieren: „Die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung vom kommenden Jahr an in Gefahr", oder aber die „Süddeutsche Zeitung" vom 3. April: „Die Rechnung mit dem Wunder", oder „Der Spiegel" Nr. 3/1976: „Renten: So schön wird es nie wieder". Sie können alle Franke ({2}) Zeitungen nehmen, welche Sie auch wollen. Alles das ist unter anderem durch die Aussagen der Sachverständigen untermauert, die wir vor 14 Tagen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gehört haben. Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zu dem sagen, was in letzter Zeit über die Rücklagen gesagt wird. Ich habe den Bundeskanzler von den Wahlkampfveranstaltungen in Baden-Württemberg noch im Ohr und im Auge, wo er gesagt hat: Die Rentenversicherung war noch nie so gut; wir haben dort 43 Milliarden DM. ({3}) - Nein, den kleinen Mann habe ich nicht im Ohr. - Und weiter der Bundeskanzler: Noch nie hat es eine so hohe Rücklage gegeben. Oder er sagt - ich glaube, in dem „Spiegel"-Interview aus dieser Woche -, wiederum unter Bezugnahme auf die 43 Milliarden DM: Noch nie so viele Rücklagen seit Bismarcks Zeiten. Wissen Sie, das ist das gleiche Rechenbeispiel wie das mit seinen 5 % zu 5 %. Man muß nämlich die Zahlen ins Verhältnis setzen ({4}) - da sitzt der Bundeskanzler -, und zwar ins Verhältnis setzen zu Bismarcks Zeiten. Zu Bismarcks Zeiten hatten wir ein Bruttosozialprodukt von etwa 20, 22, 25 Millarden DM. Heute haben wir ein Bruttosozialprodukt, grob gerechnet, von 1 100 Milliarden DM. Wir haben eine Rentenausgabe pro Jahr von 105 Milliarden DM und eine Krankenversicherungsausgabe pro Jahr von etwa 60 Milliarden DM. Und wir haben eine Rücklage von 43 Milliarden DM pro Jahr. Herr Bundeskanzler, das ist natürlich eine große Zahl. Aber diese Rücklage kann man doch nur richtig sehen - und Sie wissen diese Zahl richtig zu deuten, Sie verwenden die Argumente und Zahlen nur in einem anderen Sinne -, wenn man berücksichtigt, was der Gesetzgeber vorgeschrieben hat, nämlich Rücklagen von vier Monatsausgaben bei den Rentenversicherungsträgern zu bilden.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Franke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schmidt ({0}), bitte.

Helmut Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002007, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muß eine lange Frage formulieren, Herr Kollege, um im Einklang mit der Geschäftsordnung zu bleiben: ({0})

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie sich erinnern, habe ich das gerade gesagt.

Helmut Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002007, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eben.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur verwenden Sie sie anders.

Helmut Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002007, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie sich erstens vorstellen, daß ich der Meinung bin, daß auch im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt die gegenwärtige Vermögensanhäufung in den Rentenversicherungen voll ausreicht, können Sie sich zweitens vorstellen, daß ich aus volkswirtschaftlicher Erfahrung weiß, daß auf 15 Jahre in die Zukunft gemachte Prognosen, die sich im wesentlichen von einer Basisperiode der letzten 15 Monate beeinflussen lassen, heute bei Ihnen ins Negative genauso irreführend sind, wie Sie von Ihrem eigenen Freund Hans Katzer im Sommer 1972 ins Positive irregeführt wurden, können Sie sich drittens vorstellen, daß das, was Sie als Vorwurf an mich richten, vielleicht heute morgen bei den absoluten Zahlen, die ich ja nur nenne, um Ihrer schamlosen Propaganda, die Renten seien nicht gesichert, entgegenzutreten - obwohl Sie der 11%igen Erhöhung heute zustimmen; ({0}) das ist ja Ihre Doppelzüngigkeit; aber ich muß im Kontext meiner Fragestellung bleiben, und deswegen muß ich von dieser eingefügten Bemerkung wieder zu meiner Frage zurückkehren -, ({1}) das heißt bei den nicht ins Verhältnis zu Bruttosozialprodukten gesetzten Zahlen Ihres Kollegen Strauß, wesentlich besser am Platz gewesen wäre? ({2}) - Ja, Sie haben das Fragezeichen nicht gehört. Daher sage ich noch einmal ausdrücklich: Fragezeichen am Schluß. In Wirklichkeit protestieren Sie doch bloß, weil das Argument auf Sie Eindruck macht. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Franke.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt ({0}), der Sie zur Zeit noch der amtierende Bundeskanzler sind, ({1}) ich will noch einmal sagen: Ich habe diese Zahlen ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt gesetzt, was Sie nicht getan haben. Ich habe diese Zahlen ins Verhältnis zu der Zahl zu Bismarcks Zeiten gesetzt, ({2}) Franke ({3}) und ich habe diese Zahlen ins Verhältnis gesetzt zu den Rentenausgaben pro Jahr von 105 Milliarden DM, ({4}) und ich will Ihnen jetzt mit dem antworten, was ich mir entgegen meiner sonstigen Gewohnheit - weil man es der Presse übergeben mußte - aufgeschrieben habe. Ich will jetzt nämlich eine Relation zu den Monatsausgaben der Rentenversicherungsträger herstellen und einen Vergleich zu den vergangenen Jahren anstellen, und damit habe ich alle Ihre Fragen in diesem Zusammenhang beantwortet; auf einen Teil komme ich aber gleich noch zurück. Die Rücklagen waren, gemessen an Monatsausgaben, seit 1968 und sogar seit der Einführung der Rentenreform im Jahre 1957 noch nie so niedrig wie in diesem Jahr. ({5}) Nun lassen Sie mich die Zahlen nennen, Herr Kollege Schmidt ({6}). ({7}) - Nein, Herr Kollege Wolf, Sie können ihm ja zu Füßen fallen, aber von dort unten kann nur ein Abgeordneter und nicht ein Mitglied der Regierung sprechen, ({8}) und er bekommt hier also diese Antwort. Wenn sich der Bundeskanzler auf die Regierungsbank setzt, werde ich ihm hier selbstverständlich auch den ihm zustehenden Titel gewähren. ({9}) Jetzt unterhalte ich mich mit dem Kollegen Schmidt ({10}), und er erwartet das auch gar nicht anders. Seien Sie also, Herr Wolf, nicht schmidtscher als Schmidt! 1974 entsprachen die Rücklagen in Höhe von 44,4 Milliarden DM 8,6 Monatsausgaben. 1973: 39,9 Milliarden gleich 9,3 Monatsausgaben. 1972: 34,8 Milliarden ebenfalls gleich 9,3 Monatsausgaben. 1971: 29,5 Milliarden gleich 8,1 Monatsausgaben. 1970: 24 Milliarden gleich 8,0 Monatsausgaben. 1969: 22,2 Milliarden gleich 8,3 Monatsausgaben. Und schließlich 1968: 21,5 Milliarden gleich 9,1 Monatsausgaben. Für das Jahr 1975/76 gibt es nur eine Deckung in Höhe von 7,2 Monatsausgaben, meine Damen und Herren, ({11}) und - Herr Kollege Schmidt, wenn ich eben um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf - ich kann verstehen, daß Sie die Protokolle über die Sachverständigenanhörung nicht nachgelesen haben; das werfe ich Ihnen gar nicht vor. Aber alle Sachverständigen, auch die Sachverständigen des Verbandes der deutschen Rentenversicherungsträger - und der amtierende Vorsitzende dieses Verbandes ist im Augenblick Gerd Muhr; für die nicht ganz Informierten: das ist der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der in diesem Jahr turnusmäßig den Vorsitz führt -, ({12}) sagen ganz eindeutig: Wenn hier keine Wandlungen und Handlungen vollzogen werden, müssen wir ab 1977 die Beiträge erhöhen. Auf diese Ihre Schönfärberei hat sich der Verband überhaupt nicht eingelassen; er kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. ({13}) Lassen Sie mich noch etwas sagen. ({14}) - Das gehört noch zur Beantwortung des ersten Teils der Frage. ({15}) - Ich habe eigentlich immer gehofft, daß er sich hier meldet. Das ist das Allerbeste. Laßt ihn ruhig noch ein bißchen reden. - Wir müssen also diese Zahlen noch zu dem in Verhältnis setzen, was künftig an Beiträgen zuwächst. Die Vertreter der Deutschen Bundesbank und die Vertreter des Sozialbeirates - Herr Professor Meinhold hat das selbst auch so formuliert - vertreten die Meinung: Auch wenn sich jetzt ein beginnender Aufschwung abzeichnet, hat das überhaupt nichts mit der Sanierung der Kassen der Rentenversicherung zu tun, denn es geht hier nicht nur um die Frage der Entgeltsteigerungen, sondern auch um die Erhöhung der Zahl derjenigen, die im Arbeitsleben beschäftigt werden. Entscheidend sind die strukturellen Schwierigkeiten in unserer Wirtschaft bei einer Vernichtung vor etwa einer Million Arbeitsplätzen. Das heißt also, wir schleppen ein schon vorprogrammiertes Defizit mit in das nächste Jahr hinein, auch wenn sich in diesem Jahr die Arbeitslosenzahlen Gott sei Dank etwas verbessern. Aber wir haben ein so vorprogrammiertes Defizit, daß wir an dieser Schwierigkeit nicht vorüberkommen. Alle Sachverständigen sind also ganz anderer Meinung als Sie; sie ziehen ganz andere Schlüsse als Sie, sie setzen die Zahlen ins Verhältnis und argumentieren nicht so leichtfertig mit den 42,1 Milliarden DM, wie Sie es während des Wahlkampfes in Baden-Württemberg gemacht haben. ({16}) Bitte schön!

Helmut Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002007, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde das alles gern wiederholen, was ich dort im Wahlkampf gesagt habe, nur erlaubt mir das die Geschäftsordnung im Augenblick nicht. Die erlaubt mir nur, eine Frage zu stellen, Herr Kollege. Das möchte ich tun, wenngleich Sie nicht auf alle Bestandteile der vorigen Frage eingegangen sind, ({0}) z. B. auf das Problem, das ich wiederhole, nämlich ob Sie sich darüber klar sind, daß die 15jährige Extrapolation von Tatbeständen, die durch die Er. Schmidt ({1}) eignisse der letzten 15 Monate besonders beeinflußt worden sind, nicht reichlich fragwürdig ist, nicht nur für Experten auf diesem Felde, sondern auf allen Feldern? Eine Frage hätte ich dann noch anzuschließen: Wenn Sie diesen Experten - es gibt 15 verschiedene Modelle; ich weiß das sehr wohl - so viel Bedeutung beimessen, wie Sie es zu tun scheinen, frage ich Sie: Wo nehmen Sie dann eigentlich Ihre Begründung dafür her, daß sie gleichwohl der von uns für richtig gehaltenen 11%igen Rentenerhöhung zustimmen?

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber meine Damen und Herren, lassen Sie mich das hier doch einmal ganz deutlich sagen: Für dieses Jahr stehen die 10 Milliarden DM, die für die Erhöhung erforderlich sind, zur Verfügung. Ich habe nicht über das Jahr 1976 gesprochen, sondern ich habe mich nur dagegen gewandt, daß der Arbeitsminister und sein Unterstützer, der Bundeskanzler, draußen den Eindruck erwecken, als seien goldene Zeiten ausgebrochen. Die - goldenen Zeiten sind nicht ausgebrochen. Die Finanzierung der Rentenversicherung ist in Gefahr. Nichts anderes habe ich hier wiederholt, und nichts anderes werden Sie hier von mir hören. ({0}) Nun zu diesem 15jährigen Vorausschätzungszeitraum - Herr Kollege Schmidt ({1}), lassen Sie mich das hier noch einmal sagen -: Der Wert der 15jährigen Vorausschätzung ist von uns im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, sagen wir einmal, unter mehreren Gesichtspunkten beleuchtet worden, und wir - wir von der Fraktion der CDU/ CSU - haben im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung den Antrag gestellt, hier einen kürzeren Zeitpunkt zu wählen, um die aktuellen Daten z. B. an die mittelfristige Finanzplanung anpassen zu können und hier etwas deutlichere Aussagen zu haben. Was haben die Kollegen von der Koalition gemacht? Sie sind uns ein kleines Stück entgegengekommen, indem sie mit uns zusammen eine Entschließung gefaßt haben, weil sie selber von einer ganz bestimmten Unruhe darüber erfaßt sind, daß dieser 15jährige Zeitraum eben nicht ausreicht, um für die nächsten Jahre eindeutige Vorausschätzungen und Zahlen als Grundlage des politischen Handelns zu ermitteln. Also ist die Bundesregierung in einer Entschließung aufgefordert worden - und das wird hier sicherlich einstimmig über die Bühne gehen -, einen kürzeren Vorausschätzungszeitraum zu nehmen, damit das Parlament und die Sachverständigen konkretere Daten erhalten und hier eine Entscheidungshilfe an die Hand bekommen. Das heißt also: Die Unruhe ist auch bei Ihren Kollegen in der SPD-Fraktion und insbesondere bei den Kollegen in der FDP-Fraktion vorhanden. Natürlich habe ich alles das, was der Kollege Schmidt ({2}) gesagt hat - das hat er im Namen der FDP in erster Lesung gesagt -, noch einmal nachgelesen, und das habe ich hier präsent. Die FDP-Fraktion - und Herr Kollege Schmidt ({3}) hat für die FDP-Fraktion gesprochen - hat die gleichen Sorgen, wie sie vor einiger Zeit die Sachverständigen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ausgedrückt haben. Wir, meine Damen und Herren, tun nichts anderes als unsere Pflicht, indem wir die Bundesregierung auf diese Daten hinweisen. Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen machen. Nicht nur im Bereich der Rentenversicherung - ich möchte hier noch einmal den Zusammenhang erwähnen - gibt es Schwierigkeiten. Es war ein Minister der CDU, der mit einem viel kleineren Apparat als dem, über den die Bundesregierung verfügt, ein Krankenversicherungsbudget aufgestellt hat und es von Sachverständigen bis zum Jahre 1980 hat fortschreiben lassen. Hier gibt es bei dem jetzigen Beitragssatz zur Krankenversicherung im Jahre 1978 eine Deckungslücke von 23 Milliarden DM. Die kann in der Krankenversicherung nur durch Beitragserhöhung geschlossen werden. Dann sind wir in der Krankenversicherung bei einer Beitragshöhe von durchschnittlich 14,5 %, meine Damen und Herren, und das alles nur, weil die Bundesregierung diese Dinge verschönt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Wir sind bereit, gemeinsam mit Ihnen auch noch in dieser Legislaturperiode die Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um Rentenversicherung und Krankenversicherung wieder gesunden zu lassen. Aber kommen Sie mir nicht mit der vorwurfsvollen Frage - und der Kollege Sund wird gleich nach mir sprechen -: Wo sind denn hier die Fingerzeige der Opposition? Sie fahren mit Mercedes und Blaulicht durchs Land und - ich wiederhole, was Rainer Barzel hier einmal gesagt hat - „markieren die dicken Männer". Wir sollen in einer ganz bestimmten Arbeitsteilung für Sie die Kastanien politisch aus dem Feuer holen. Das können Sie von uns nicht erwarten. Gut, Herr Kollege Schmidt, lassen Sie sich erst einmal von Ihrem sachverständigen Kollegen - jetzt meine ich Schmidt ({4}) - informieren. Da gibt es ganz andere Aussagen. Ich will das hier nicht verdeutlichen. Lassen Sie mich hier ganz eindeutig sagen, daß wir bereit sind, auch unpopuläre Maßnahmen mit zu tragen. So hat es hier der Kollege Katzer vor einigen Wochen, am 20. Februar, gesagt. Wir halten es für unsere Pflicht, im Interesse der Rentner, im Interesse der Beitragszahler und im Interesse einer solide geführten Finanz- und Sozialversicherungspolitik hier auch Verantwortung mit zu tragen. Wir sind dazu bereit. Sie müssen dieses Angebot eben nur aufgreifen. Es liegt im Interesse der davon Betroffenen und der Beitragszahler, diese Fragen solide zu regeln. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sund.

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich glaube, es lohnt sich, an das Frage- und Antwortspiel, das wir eben gehört haSund ben, noch einmal anzuknüpfen; denn es ist doch eine merkwürdige Sache: Mit dem Neunzehnten Rentenanpassungsgesetz werden die Renten für die Sozialrentner mit Wirkung vom 1. Juli 1976 um 11 % erhöht. Die Unfallrenten werden ab 1. Januar 1977 erhöht und die Altersgelder für die Landwirte ab 1. Januar 1977 ebenfalls um 11 %. Die CDU/CSU stimmt zu. Gleichzeitig veranstaltet sie aber ein Dauerspektakel darüber, daß die Finanzen der Rentenversicherung nicht in Ordnung sind. Dieses Dauerspektakel hat seine übliche Ergänzung durch den Zahlen-Rastelli, den Kollegen Franke, gefunden, der hier mit einem Wust von Zahlen auftritt und den Eindruck erwecken will, als ob sich diese Situation in der Finanzlage der Rentenversicherung auch tatsächlich so belegen lasse, wie er es uns hier weismachen will. Wie ist es denn nun eigentlich? Wenn man wirklich begründete Sorgen um die Rentenkasse hätte, dann dürfte man doch nicht einer Erhöhung zustimmen. Als aber im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung das Neunzehnte Rentenanpassungsgesetz verabschiedet wurde, wurde noch ein weiterer Gesetzentwurf behandelt. Er wurde allerdings mit den Stimmen der Koalition abgelehnt. Der Bundesrat hatte den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rentenniveausicherungsklausel vorgelegt, der schon 1974 eingebracht wurde und dem die Opposition im Ausschuß zustimmte. Wäre dieser Entwurf in Kraft getreten, dann hätte er schon von 1974 bis jetzt 4,1 Milliarden DM zusätzlich gekostet. Er würde weitere erhebliche Mehrbelastungen für die Zukunft bedeuten. ({0}) Die CDU hätte sich ja diesen Gesetzentwurf nicht zu eigen machen müssen; aber nein, sie wollte ihn. Damit haben wir das ganze Grundmuster dieser Rentendebatte, so wie sie von Ihnen geführt wird. Erste Masche : Leistungserhöhungen stimmt man besser zu, weil man sich sorgt, man verlöre sonst beim Publikum. ({1}) Zweite Masche: Um eines taktischen Vorteils willen bringt man den Rentnern das Fürchten bei, ihre künftigen Renten würden nicht oder nicht mehr voll gezahlt werden. Dritte Masche: Wo es paßt, überbietet man die Vorschläge der Koalition, die verantwortungsbewußt bemessen und finanziert sind, durch kostenträchtige Anträge in Milliardenhöhe. Vielleicht, so meint man, dankt einem das Publikum dies. Ich meine, diese Maschen ergeben ein grausliches Gestrick, ({2}) das durch die Ausrüstung, um in der Fachsprache zu bleiben, mit scheinbar wissenschaftlich belegten Expertisen und Methodenstümpereien nicht besser wird, die einem gerade das glaubhaft machen wollen, was paßt. In Wirklichkeit ist das aber ein frevelhaftes Spiel. Sie verunsichern nämlich Menschen, die doch zu Recht Vertrauen in ihre Rentenversicherung haben. ({3}) Selbst wenn man den Menschen Stück um Stück beweist, daß die angebliche Finanzmisere sachlich nicht begründet ist, bleibt angesichts der wortreichen Schlachten und der für keinen Laien verständlichen Streitereien in der Verkleidung von höchstem Sachverstand doch immer ein Dorn des Zweifels zurück. -Das ist das Verwerfliche an der Sache. Man spielt mit den Menschen und ihrem Vertrauen; man spielt mit der Grundlage ihrer Erwartungen, ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte. Sie zum Verzicht auf dieses Spiel aufzufordern, wäre sicherlich nicht erfolgreich. Sie verfolgen damit eine Strategie, meine Damen und Herren von der Opposition, die doch aber auch Ihnen letztlich nicht nützen kann. Denn niemandem ist auf Dauer mit einer Emotionalisierung der Rentenpolitik gedient. Die gesetzliche Rentenversicherung ist nun einmal eine der wichtigsten und für die gesellschaftliche Stabilität entscheidenden Institutionen in unserem Land. Sie beruht auf der Solidarität der Generationen, die nicht von Wahlkämpfern, von Sensationsmachern und von Verächtern des Sozialstaatsprinzips zerredet werden darf. ({4}) Eine vernünftige Sozialpolitik ist nur möglich, wenn unabhängig von wirtschaftlichen Wechsellagen das Vertrauen in diese Generationensolidarität bestehenbleibt, und zwar sowohl das Vertrauen der jüngeren als auch das Vertrauen der älteren Generation. Derjenige, der um eines kurzfristigen politischen Vorteils willen die aktiven Versicherten mit Schlagworten wie „Last der Wohltaten" oder „Bürde des Sozialkonsums" irreführen will, derjenige, der versuchen will, den Rentnern einzureden, daß in der Bundesrepublik Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, eine abklingende Rezession unsere Alterssicherung zum Einsturz bringen könnte, untergräbt - ob er das will oder nicht - die Generationensolidarität. Deshalb, meine Damen und Herren, sollten wir uns an die Tatsachen halten. Tatsache ist vor allem, daß das Finanzierungssystem unserer Rentenversicherung, Herr Kollege Franke, doch bewußt auf Langfristigkeit angelegt ist. Als im Sommer 1969 alle drei Bundestagsfraktionen gemeinsam das Dritte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz, das heutige Finanzierungsverfahren der Rentenversicherung, beschlossen haben, war es jedenfalls die erklärte Absicht, dafür zu sorgen, daß etwaige Rezessionen von der Rentenversicherung ohne Leistungskürzungen und ohne Beitragserhöhungen bei voller Dynamisierung durchgestanden werden können. Deshalb wurde das Umlageverfahren eingeführt - das war vernünftig - und gleichzeitig die Bildung einer Rücklage vorgeschrieben, die bewußt für den Zweck gedacht war, in schwierigen Zeiten auch angegriffen zu werden. Damit sollten konjunkturbedingte Beitragsausfälle und die Auswirkungen der zyklischen Schankungen des Rentenniveaus aufgefangen werden. Unser Finanzierungsverfahren, meine Damen und Herren, ist sozialpolitisch richtig, weil man die Folgen einer Rezession nicht auf dem Rücken der Rentner austragen darf. Unser Finanzierungsverfahren ist ökonomisch richtig, weil es die konjunkturelle Entwicklung stabilisiert. Es ist letztlich auch deshalb richtig, weil es - bei richtiger Anwendung - die Rentenversicherung aus der Belastung mit konjunkturpolitischen Problemen heraushält und verhindert, daß die Solidarität von Arbeitnehmern und Rentnern im Wechselbad der wirtschaftspolitischen Tagesdiskussionen und Tagesentscheidungen strapaziert wird. Der Gesetzgeber darf sich nicht durch hektische Tagesdiskussionen zu Maßnahmen verleiten lassen, die die antizyklische Wirkung der Rentenversicherungsfinanzen geradezu ins Gegenteil verkehren. Er muß zeigen, daß die langfristige Finanzierbarkeit der Renten eben nicht von kurzfristigen konjunkturellen Störungen und vorübergehendem Auf- und Abbau des Vermögens abhängt, sondern entscheidend nur davon, ob es langfristig, d. h. im Durchschnitt über die Konjunkturzyklen hinweg, ein Gleichgewicht zwischen den laufenden Beitragseinnahmen und den laufenden Rentenzahlungen gibt.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Sund, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burger?

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Herr Kollege.

Albert Burger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000310, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sund, Sie haben wiederholt das Wort „langfristig" gebraucht: Beunruhigt Sie bei der langfristigen Beurteilung der Sicherheit für unsere Rentner nicht die Tatsache, daß wir seit Jahren eine sehr geringe Geburtenrate haben? Im vergangenen Jahr wurden nur 500 000 deutsche Kinder geboren. Nochmals meine Frage: Beunruhigt Sie dieser Tatbestand nicht?

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Burger, es ist bekannt, daß diese veränderten demographischen Daten durchaus ihre Bedeutung haben. Nur, es ist eben nicht das einzige Datum, um das es dabei geht und das man berücksichtigen muß. Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Daten. Diese alle zusammen ergeben einen Sinn, und der ist auch in die Überlegungen und Rechnungen mit eingestellt. Es gibt offenbar nicht nur zyklische Krisen in der Volkswirtschaft, sondern auch so etwas wie zyklische Krisen in den Denkabläufen. ({0}) Wir haben nämlich festgestellt, daß bei Schwierigkeiten in der Wirtschaft sofort die Forderung nach einer grundsätzlichen Veränderung in unserem Rentensystem, nach eilfertigen Korrekturen erhoben wurde, die angestellt werden sollten. Mancher Aufsatz aus vergangenen Jahren, den man heute noch nachlesen kann, ist außerordentlich hilfreich, wenn es darum geht, zu erkennen, daß es hier auf eine langfristige Betrachtungsweise ankommt und eben nicht auf dieses Wechselbad, wie ich es soeben bezeichnet habe. Beispielsweise kann man in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 10. Juni 1967 aus der Feder eines renommierten Fachjournalisten, der auch heute gern die Finanzlage der Rentenversicherung grau in grau zeichnet, lesen: Die schrittweise Anhebung der Beitragssätze auf 20 % bis zum Jahre 1974 ist also zumindest zu erwarten. Wahrscheinlich wird man höher gehen müssen. Angesichts dieser ungeheuren zusätzlichen Belastungen muß man sich bestürzt fragen, wie ein Minister, wie die gesamte Garde der Sozialpolitiker den Mut aufbringen kann, jede Änderung der heutigen Rentenformel glatt abzulehnen. Dies wurde 1967 geschrieben. Als es dann in einer anderen Situation zu Eingriffen gekommen ist, und zwar zur Zeit der großen Koalition, und als dann die Einsparungen viel größer waren, als man eigentlich erwartet hatte, wurde das Entgegengesetzte getan. 1972 haben wir dann die Situation gehabt, daß über die Grenzen des Vernünftigen hinaus Leistungen entwickelt worden sind, die wir zurückschrauben mußten, als dieser Bundestag zusammengetreten war. Es ist also alles schon einmal dagewesen, nur haben diejenigen, die damals Krokodilstränen über die Rentenfinanzen vergossen haben, bis heute aus ihren Erfahrungen nichts gelernt. Fassen wir zusammen: Wir sind erstens dank des Rücklagevermögens in der Rentenversicherung in der Lage, ({1}) einen Konjunktureinbruch ohne Beitragserhöhung und Leistungskürzung durchzustehen und daher die Renten völlig planmäßig Jahr für Jahr zu erhöhen. ({2}) Zweitens. Entscheidend für die langfristige Sicherheit der Renten ist nicht der aktuelle Stand der Rücklagen, sondern das strukturelle Gleichgewicht von laufenden Beitragseinnahmen und laufenden Renten. Drittens. Wir haben keinen Anlaß anzunehmen, daß alle die Faktoren, die in dem vorhin vom Kollegen Burger in seiner Frage angesprochenen Zusammenhang zu berücksichtigen sind und die in einer 15-Jahresrechnung ihre Berücksichtigung finden müssen, sich ungünstig entwickeln werden. Konjunkturschwankungen und daraus resultierende Beitragsausfälle berechtigen keinesfalls zu der Unterstellung, daß im gesamten nächsten Jahrzehnt eine schlechte wirtschaftliche Situation herrschen wird und die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung auf Dauer nicht für die Rentenzahlung ausreichen. Wir müssen, auch wenn wir gerade eine Rezessionsphase durchlaufen haben, für die lange Frist mit einer normalen Entwicklung rechnen. - Herr Kollege Franke.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sund, würden Sie so nett sein, auf mein Argument einzugehen und hier einmal das Problem der strukturellen Veränderungen in unserer Wirtschaft erörtern und sich nicht nur auf die konjunkturellen Entwicklungen und auf die Entgeltsätze einstellen.

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Franke, es kommt darauf an - ich hatte darauf hingewiesen -, daß wir ein strukturelles Gleichgewicht von laufenden Beitragseinnahmen und laufenden Renten haben. Es ist völlig richtig, daß das nicht nur von unmittelbar wirtschaftlichen Faktoren abhängt, die allesamt auf das Rentenniveau Einfluß haben. Es hängt auch von der Rentnerdichte ab, es hängt ab vom Beschäftigungsgrad, es hängt ab vom Problem der Ausländerbeschäftigung, von der Dauer der Ausbildung, von der Erwerbstätigkeit der Frauen und von anderen Daten der strukturellen Arbeitsmarktsituation. Nur - und das versuchte ich gerade darzutun - ist niemand in der Lage, diese Einflüsse exakt für 15 Jahre im voraus zu quantifizieren. Ich versuchte darzutun, daß es falsch wäre, zu unterstellen, daß sich diese Daten in einer solchen Entwicklung alle zum Negativen wenden müssen. Das spräche gegen jede wirtschaftliche Erfahrung, gegen jede soziale Erfahrung. Prognosen - das lassen Sie mich viertens sagen - für die nächsten 15 Jahre sind absolut unmöglich. Deshalb muß sich jeder, der mit Hilfe von Computern Rechnungen über die langfristigen Rentenversicherungsfinanzen anstellt und die Ergebnisse dann als Prognosen auf den Markt bringt oder auf den Markt bringen läßt oder Aussagen als Prognosen bewerten läßt, den Vorwurf der Scharlatanerie gefallen lassen. Fünftens. Keiner der im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Herr Kollege Franke, angehörten Sachverständigen hat nachgewiesen - Sie sollten hier nicht den Eindruck erwecken, als ob dies so hätte gewesen sein können - oder auch nur nachzuweisen versucht, daß für die nächsten 15 Jahre im Durchschnitt mit einem ungünstigeren Verhältnis von Beitragseinnahmen und Rentenausgaben gerechnet werden muß als in der Vergangenheit. ({0}) - Sie wissen genau, daß ich da gewesen bin. ({1}) - Sie wissen auch, daß das bei mir nicht der Fall ist. ({2}) Sechstens. Falls es hingegen zu kurzen Liquiditätsschwierigkeiten kommen sollte - ich glaube, das ist der Punkt, an dem wir dauernd auseinanderlaufen -, so ist dies kein Grund, eine Änderung der Rentenformel oder des Beitragssatzes in Erwägung zu ziehen. Die von allen Fraktionen 1969 beschlossene Rentenfinanzierungssystematik erfordert zwingend, daß etwaige kurzfristige Liquiditätsprobleme dann unter Heranziehung des Kapitalmarkts, unter Umständen auch mit Hilfe des Bundes oder der Bundesbank, gelöst werden.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne vorher meinen Gedanken zu Ende bringen: Die Notwendigkeit einer Änderung des Beitrags- oder Leistungsrechts kann aus aktuellen Liquiditätsschwierigkeiten nicht abgeleitet werden.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Bitte, Herr Abgeordneter.

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sund, darf ich in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß z. B. Herr Dr. Schlesinger in der Sachverständigenanhörung - das ist von allen anderen Sachverständigen unterstrichen worden - gesagt hat: Für 1977 rechnen wir mit einem Defizit von 15 Milliarden DM, - ich ziehe den Gedanken weiter: die dann nachher von der Rücklage verbraucht werden wenn es zu keiner Regelung der Krankenversicherung der Rentner kommt. Wenn es zu dieser Regelung für das ganze Jahr käme, rechnen wir mit 10 Milliarden DM Defizit. Ich kann nach den Informationen, die uns zugänglich sind, nur sagen, daß dabei natürlich ein erhebliches Liquiditätsdefizit verbleibt, das man, wenn das Kassendefizit 10 Milliarden DM betrüge, mit etwa 5 Milliarden DM zu veranschlagen hätte, wenn sich das Kassendefizit auf 15 Milliarden DM beliefe, mit 9 oder 10 Milliarden DM.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Können Sie ein Fragezeichen setzen?

Heinrich Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000571, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, verehrte Frau Präsidentin. - Darf ich noch einmal fragen: Herr Kollege Sund, ist Ihnen diese Äußerung noch in Erinnerung, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß das, was dieser Sachverständige, und zwar unwidersprochen von allen anderen Sachverständigen, dort gesagt hat, ein ernstes Signal ist? ({0})

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das -ist mir natürlich in Erinnerung; außerdem steht es ja im Protokoll, wie wir wissen. Nur ist mir auch in Erinnerung, daß derselbe .Sachverständige zunächst einmal darauf hingewiesen hat, daß wir uns mitten in einem kräftigen Aufschwung befänden. Das waren seine Worte. ({0}) - Aber, ich bitte Sie, natürlich! Denn der Sinn der Ausführungen, die ich hier zur Methodik gemacht habe, verehrter Herr Kollege, ist doch gerade der, daß ich den Sachverständigen vorwerfe, im Grunde alle aus dem Stand gerechnet und eben nicht das getan zu haben, worauf es hier ankommt, nämlich die Fünfzehnjahresfrist-Betrachtung, die LangzeitBetrachtung, anzustellen und - das ist, wie Sie wissen, auch der Kernpunkt der Auseinandersetzung mit den Sachverständigen gewesen - zwischen Vermögensproblemen, die auftreten, auf der einen und Liquiditätsproblemen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wenn Sie sich die Rücklagen ansehen, Herr Kollege, wird Ihnen klar, daß sie so beschaffen sind, daß im Falle von Beitragsrückgängen mit diesen Rücklagen solche Einbrüche ausgeglichen werden können. Dafür sind sie ja da.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Olaf Sund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Franke, wir sollten jetzt darauf verzichten, ({0}) das mit den Fragen hier weiterzutreiben; denn wir machen uns als Sozialpolitiker bei unseren Kollegen sonst nicht sehr beliebt. ({1}) - Ich glaube, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, um mich zu provozieren. ({2}) - Mit Ihrer Stentorstimme mögen Sie hier zwar den Raum füllen, aber sonst auch gar nichts. ({3}) - Er guckt mich so bittend an. Aber trotzdem, Herr Kollege Franke, ich bleibe dabei.. ({4}) Das alles, meine sehr verehrten Damen und Herren, klingt auch technisch genug, was wir miteinander ausgetauscht haben. Aber in seiner Summe bedeutet es schlicht und einfach: Die Renten sind sicher und die Rentenerhöhungen sind sicher. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Zur zweiten Beratung liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Wer §§ 1 bis 24 sowie Einleitung und Überschrift zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - So beschlossen. Wir kommen zur dritten Beratung. Das Wort hat Herr Bundesminister Arendt,

Walter Arendt (Minister:in)

Politiker ID: 11000044

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen vor der Verabschiedung der Rentenanpassungsgesetze. Für fast 15 Millionen Menschen in unserem Lande sind diese Gesetze von großer Bedeutung. Sie stellen sicher, daß alle Renten auch in diesem Jahr wie in den Vorjahren an die Lohn- und Gehaltsentwicklung angepaßt werden. Das heißt: Alle Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, alle Renten aus der Kriegsopferversorgung und alle Altersrenten der Landwirte sowie alle Unfallrenten werden erhöht. Das bedeutet einen echten Einkommenszuwachs, das bedeutet einen Zuwachs an Kaufkraft. Vielleicht, Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, daß ich aus Zeitgründen gleich auch noch ein paar Bemerkungen zum Achten Anpassungsgesetz mache?

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich kann es nicht extra aufrufen. Aber es steht Ihnen frei, auszuführen, was Sie in dem Zusammenhang sagen möchten.

Walter Arendt (Minister:in)

Politiker ID: 11000044

Vielen Dank, Frau Präsidentin. An dem Achten Anpassungsgesetz wird besonders deutlich, wie die sozialliberale Koalition von Anfang an um einen gerechten Ausgleich für alle Gruppen unserer Gesellschaft bemüht war. 1970 haben wir die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung eingeführt. Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß die Einführung der Dynamisierung in der Kriegsopferversorgung eine der wirkungsvollsten und nachhaltigsten Verbesserungen seit Bestehen des Bundesversorgungsgesetzes war. Keine andere Maßnahme hat den Rechtsanspruch der Kriegsopfer auf eine gerechte Versorgung so gefestigt wie diese. Wer dies leugnet, wird sich des Vorwurfs bewußter Vergeßlichkeit nicht erwehren können. Die Dynamisierung der Kriegsopferrenten hat der Unsicherheit über eine zeitgemäße Anpassung der Rentenleistungen ein Ende gemacht. Sie hat den früheren und, wie ich finde, würdelosen Auseinandersetzungen über die Verbesserungen der Leistungen ein Ende gesetzt. Die Kriegsopfer brauchen heute nicht mehr auf die Straße zu gehen, um für Rentenerhöhungen zu kämpfen. Sie können darauf vertrauen, daß die Renten Jahr für Jahr angepaßt, d. h. erhöht werden. Auch das gleich zu behandelnde Gesetz ist ein erneuter Beweis dafür. Mit diesem Gesetz werden seit 1969 die Renten des Bundesversorgungsgesetzes zum achten Male an die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung angepaßt. Damit werden die im Bundesversorgungsgesetz festgesetzten Rentenbeträge um über 117 %, die für Witwen maßgebenden Beträge sogar um über 134 % höher, als sie es im Jahre 1969 waren. Das bedeutet praktisch, daß die volle Grund- und Ausgleichsrente eines erwerbsunfähigen Beschädigten zusammen mit dem vollen Berufsschadensausgleich innerhalb von 61/2 Jahren von 1 040 DM auf 2 262 DM gestiegen sind. Im gleichen Zeitraum hat sich die höchstmögliche Witwenrente von 550 auf 1 248 DM erhöht. Mit rund 17,8 Milliarden DM schlagen in den Jahren 1970 bis 1976 die Leistungsverbesserungen im Bereidi des Bundesversorgungsgesetzes im Bundeshaushalt zu Buche. Etwa 151/2 Milliarden DM entfallen davon allein auf die Rentendynamisierung. Der Rest von immerhin mehr als zwei Milliarden DM verteilt sich auf eine Reihe weiterer struktureller Verbesserungen. Die elfprozentige Anhebung der Rentensätze des Bundesversorgungsgesetzes zum 1. Juli 1976 erfordert allein in einem Halbjahr Mehraufwendungen des Bundes von über 400 Millionen DM. Meine Damen und Herren, das Bundesversorgungsgesetz ist heute mit seiner Leistungsbreite und Leistungshöhe in der Lage, angemessene, nach sozialen Gesichtspunkten ausgerichtete Entschädigungen zu leisten. Gewiß haben an dieser Entwicklung auch Gesetze friiherer Legislatu Perioden eiren nicht geringen Anteil Aber es wird niemand lernen können, daß gerade die Rentendynamisierung und eine ganze Reihe struktureller Leistungsverbesserungen den entscheidenden Durchbruch in diesem Bereich vollzogen haben. Das Recht der sozialen Entschädigung hat damit in unserem vielgliedrigen System der sozialen Sicherheit seinen festen Platz erhalten. Das findet auch darin seinen Ausdruck, daß es als eine der sozialen Säulen in das Sozialgesetzbuch aufgenommen worden ist. Für die vielen Kriegs- und Wehrdienstopfer und alle anderen Personenkreise, die eine soziale Entschädigung erhalten, ist diese Entwicklung ein beachtlicher Erfolg. Sie gibt ihnen die Gewißheit, daß ihre Leistungsansprüche gegen die staatliche Gemeinschaft, die sie auf Grund einer besonderen gesundheitlichen Schädigung erworben haben, gesichert sind. Diese positive Bilanz wird keineswegs dadurch geschmälert, daß wir uns infolge der Haushaltslage gezwungen sahen, im Rahmen des Haushaltsstrukturgesetzes gewisse Korrekturen vorzunehmen. Dabei haben wir die entschädigungsrechtlichen Grundprinzipien des Bundesversorgungsgesetzes beachtet und jeden Eingriff in die Substanz des Gesetzes vermieden. ({0}) Persönliche Besitzstände wurden gewahrt. Echte Entschädigungsansprüche blieben unangetastet. ({1}) Meine Damen und Herren, es kann gar nicht oft genug - insbesondere an die Adresse der Opposition - gesagt werden, daß unser Netz der sozialen Sicherung weit gespannt und dicht geknüpft ist. In der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition ist dieses Netz engmaschiger und dichter geknüpft worden. Es bietet Schutz für alle Bürger - und dieses Netz hält. Wir alle wissen, daß sich unsere Kriegsopfer ebenso wie viele andere Bürger unseres Landes mehrfacher Sicherungen erfreuen können. Das wissen auch Sie, Herr Maucher. Es muß unser Bemühen bleiben, eine solche mehrfache Inanspruchnahme von Sozialleistungen in ein ausgewogenes Verhältnis zum Gesamtsystem der sozialen Sicherheit zu bringen. Von diesen Überlegungen haben wir uns beim Haushaltsstrukturgesetz leiten lassen, besonders im Hinblick auf die Neugestaltung der Witwen- und Waisenbeihilfe. Ich versichere, daß wir die Auswirkungen dieses Gesetzes sehr sorgfältig beobachten werden. Das gilt für alle getroffenen Maßnahmen. Sollten sich echte Härten ergeben, werden wir nicht zögern, die erforderlichen Gesetzesänderungen vorzuschlagen. Meine Damen und Herren, haben Sie bitte Verständnis, wenn ich auf diese Probleme nochmals kurz hingewiesen habe. Es ging mir darum, deutlich zu machen, daß wir die berechtigten Interessen der Kriegsopfer beachten. Dies gilt für die Gesetzgebung wie für die verwaltungsmäßige Durchführung der Gesetze. Für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes sind die Länder zuständig. Das wissen Sie. Mein Ministerium hat sich immer wieder darum bemüht, eine einheitliche und dem Geist des Gesetzes entsprechende Anwendung durch entsprechende Empfehlungen zu gewährleisten. Wie wichtig das ist, zeigt sich gerade in der Kriegsopferfürsorge. Die diesbezüglichen Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes wurden zwar seit 1965 im wesentlichen nicht geändert, wenn man von den finanziell bedingten Änderungen durch das Haushaltsstrukturgesetz absieht. Das seit 1965 bestehende Recht hat jedoch weder zu besonderen Schwierigkeiten in der Durchführung geführt noch sind den betroffenen Kriegsopfern notwendige Leistungen vorenthalten worden. Dies beweist allein schon der jährlich steigende Aufwand für die Kriegsopferfürsorge. Es ist der besondere Vorzug des geltenden Rechts, daß es flexibel angelegt ist und daß damit auch ohne Rechtsänderungen den sich wechselnden Verhältnissen Rechnung getragen werden kann. Seine Leistungen können auf die besondere Situation des einzelnen Kriegsopfers ausgerichtet werden. Diese Anpassungsfähigkeit des Redits hat sich voll bewährt. Im Interesse einer möglichst einheitlichen und damit gerechten Anwendung der Rechtsvorschriften und zur vollen Ausschöpfung bestehender Ansprüche haben wir in enger Zusammenarbeit mit den obersten Landesbehörden Richtlinien ausgearbeitet und veröffentlicht, Besprechungen mit den Ländern durchgeführt und empfehlende Rundschreiben herausgegeben. Wir sind also auch auf diesem Gebiet nicht untätig gewesen. Es soll aber nicht verkannt werden, daß auch hier Überlegungen über eine Weiterentwicklung anzustellen sind. Solche Überlegungen ergeben sich schon aus der Veränderung der Verhältnisse, aus der Weiterentwicklung verwandter Rechtsgebiete sowie aus Änderungen in der Struktur der Anspruchsberechtigten. Wir hätten das gern schon in dieser Legislaturperiode in Angriff genommen. Die damit verbundenen Kosten standen dem jedoch entgegen. Wir werden aber auch diese Fragen zu gegebener Zeit an16452 packen, und wir werden sie befriedigend lösen. Das versichere ich. Die Bundesregierung hat bisher vielfältig bewiesen, daß sie die Interessen der Kriegsopfer sehr ernst nimmt, und das wird so bleiben. Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zum 19. Rentenanpassungsgesetz machen. Durch diese Anpassung werden sich die Renten seit 1969 mehr als verdoppelt haben. Anders ausgedrückt: Aus je 100 DM Rente im Jahre 1969 werden jetzt rund 203 DM. ({2}) - Herr Maucher, von dieser Steigerung können Sie ruhigen Herzens die Preiserhöhung abziehen. Jedenfalls bleibt unter dem Strich eine fühlbare Einkommensverbesserung. ({3}) Ich finde es - auch das darf ich einmal sagen - bedauerlich, daß immer wieder versucht wird, die finanziellen Grundlagen der Renten in Zweifel zu ziehen. Vor sechs Wochen, am 20. Februar, habe ich an dieser Stelle den Vorschlag der Bundesregierung zur diesjährigen Rentenanpassung begründet und sinngemäß zum Ausdruck gebracht, daß das finanzielle Fundament der gesetzlichen Rentenversicherung geordnet und solide ist. Von dieser Aussage brauche ich heute nichts zurückzunehmen. Im Gegenteil: Das Vertrauen in eine gesicherte finanzielle Zukunft der Rentenversicherung ist durch inzwischen eingetretene Tatsachen noch verstärkt worden. Ich will Ihnen diese Tatsachen kurz nennen: Das im Oktober 1975 für das Jahr 1975 vorausgesagte Defizit bei den Rentenversicherungsträgern in Höhe von rund 1,3 Milliarden DM ist nicht eingetreten. Schon bei der Sachverständigenanhörung durch den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Anfang März dieses Jahres haben die Vertreter der gesetzlichen Rentenversicherung nur noch mit einem erheblich geringeren Defizit von 500 Millionen DM gerechnet. Jetzt erscheint die Situation noch günstiger. Nach den Meldungen der Rentenversicherungsträger steht jetzt fest, daß die Einnahmen nur um 200 Millionen DM hinter den Ausgaben zurückgeblieben sind. Der Jahresabschluß für 1975 wird sich möglicherweise durch eine Forderungsberichtigung, die das Jahr 1974 betrifft, noch verändern. Dabei kann sogar mit einem Überschuß für 1975 gerechnet werden. Im Jahr 1976 und möglicherweise auch in den folgenden Jahren wird sich die Rücklage der gesetzlichen Rentenversicherung voraussichtlich vermindern. Das wird von der Bundesregierung weder verschwiegen noch verharmlost. Aber, meine Damen und Herren, wir alle wissen doch, wie die jeweilige aktuelle Konjunkturlage solche Ergebnisse schnell verändern kann. ({4}) - Verehrter Herr Franke, wenn Sie das schon so betonen, dann müssen Sie doch auch folgendes sehen: Wenn es strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft gibt, dann ist das auch zu einem großen Teil damit verbunden, daß Arbeitnehmer in höher qualifizierte Stellungen hineinwachsen und damit auch höhere Beiträge zahlen. Dann wird man das unter dem Strich ganz anders sehen müssen. ({5}) Schon das Jahr 1975 macht das deutlich, und außerdem muß man dann ja fragen, wenn das wirklich so wäre: Wozu ist eine in Zeiten der Hochkonjunktur angesammelte Rücklage denn da, wenn nicht dazu, in Zeiten, in denen die Beitragseinnahmen vorübergehend geringer steigen,. zur Finanzierung der gestiegenen Ausgaben eingesetzt zu werden? Die Rücklage ist doch kein Selbstzweck, meine Damen und Herren. ({6}) Jetzt werde ich noch ein Wort zur Liquiditätslage sagen. ({7}) Wir brauchen uns derzeit auf Grund der neuesten Entwicklung keine Sorgen zu machen. ({8}) Im Jahre 1976 werden sich Liquiditätsprobleme mit Sicherheit nicht ergeben. Für das Jahr 1977 wollten die Sachverständigen auf Grund ihrer vorsichtigen Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung Liquiditätsprobleme nicht ausschließen. Es gab da recht unterschiedliche Beurteilungen. Einig waren sich die Sachverständigen aber darin, daß die Liquiditätsengpässe um so geringer sein werden - oder überhaupt nicht auftreten -, je stärker sich der wirtschaftliche Aufschwung auf die Finanzen der Rentenversicherung auswirkt. Und daß wir uns in einem wirtschaftlichen Aufschwung befinden, wird heute ja von niemandem mehr bezweifelt. Der Kaufkraftzuwachs, den die 19. Rentenanpassung bei einem großen Teil unserer Bevölkerung bewirkt, wird dazu beitragen, diesen Aufschwung noch zu stützen. Meine Damen und Herren, ich darf nach all der Kritik, die in den letzten Monaten zu lesen und zu hören war, feststellen - und hierin haben die Sachverständigen die Auffassung der Bundesregierung übereinstimmend bestätigt -, daß angesichts der Ungewißheit über das Ausmaß des wirtschaftlichen Aufschwungs im gegenwärtigen Zeitpunkt keine Entscheidungen getroffen werden sollten. Bevor der Gesetzgeber Beschlüsse faßt, muß er sich erst über den notwendigen Umfang der zu ergreifenden Maßnahmen Klarheit verschaffen. Das aber ist erst bei Kenntnis der Entwicklung des Jahres 1976 möglich. Wir müssen daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt Aktionen vermeiden, die sich schon im nächsten Jahr als überzogen, gewissermaßen als „Überreaktionen" erweisen könnten. Ich gebe Ihnen zu, Herr Franke, daß ich nicht so viele Zitate mitgebracht habe wie Sie ; aber ich darf auch einmal aus dem „General-Anzeiger" vom 8. April 1976 wenige Sätze zitieren. ({9}) - Ja, aber dicke Körner, Herr Müller. Da heißt es: Es wäre jedoch falsch, aus dem sich abzeichnenden Defizit der Rentenversicherungsträger schon ernsthafte Konsequenzen ziehen zu wollen, die später möglicherweise wieder bereut werden. Niemand vermag nämlich heute korrekt Konjunkturverlauf und Arbeitsmarktentwicklung vorauszuschätzen und daraus gültige Folgerungen zu ziehen. Entscheidungen für eine mögliche Sanierung der Rentenversicherungsträger können relativ schnell beschlossen werden. Die verantwortlichen Politiker müssen eben die Finanzentwicklung sehr sorgfältig beobachten. Unnötiges Hochspielen von Problemen schadet jedoch dem einzelnen genauso wie das Verschweigen von bereits bekannten oder sich abzeichnenden Schwierigkeiten. ({10}) Es gab bereits zweimal - und damit meine ich Sie, verehrter Herr Kollege Franke eine „Rentenpanik" in der Bundesrepublik - und anschließend enorme Überschüsse in den Kassen der Rentenversicherungsträger .. Ich habe wirklich die Bitte: Lassen Sie einmal in der Öffentlichkeit diese Schwarzmalerei sein, und machen Sie die Rentner und auch die Beitragszahler nicht unsicher. Es ist in Ordnung! ({11}) Die Bundesregierung wird auch in Zukunft den geraden Weg weitergehen. Wir werden auch weiterhin dafür sorgen, daß die Rentner am wirtschaftlichen Wachstum Anteil haben. Wir werden dafür sorgen, daß die Beitrags- und Steuerzahler nicht überfordert werden. ({12}) Die Bundesregierung wird daher Maßnahmen, die auch nur das Risiko weiterer erheblicher Mehrbelastungen mit sich bringen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder vorschlagen noch unterstützen. Von dieser Haltung haben sich die Koalitionsfraktionen auch leiten lassen, als sie im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzesantrag, der eine Änderung der geltenden Rentenniveausicherungsklausel zum Ziel hat, abgelehnt haben. Dieser Gesetzesantrag birgt das Risiko erheblicher zusätzlicher Mehrbelastungen für die Rentenversicherung in sich. Ich hätte es begrüßt, wenn sich die Opposition bei der Abstimmung über diesen Gesetzesantrag des Bundesrats auch von diesen Sacherwägungen hätte leiten lassen. Nun noch ein Wort zu dem vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einstimmig empfohlenen Entschließungsantrag zum Inhalt des künftigen Rentenanpassungsberichts. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß der Gesetzgeber bei seinen Entscheidungen über die jährlichen Rentenanpassungen, die von großer finanzieller Tragweite sind - immerhin sind es fast 11 Milliarden DM Erhöhung -, auch die mittelfristige Finanzsituation und die Liquiditätslage der Rentenversicherung berücksichtigen muß. Dies gilt gerade in Zeiten, in denen ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum sich auch auf die Einnahmen der Rentenversicherung auswirkt. Für die Bundesregierung wird es daher eine Selbstverständlichkeit sein, dem Wunsch des Deutschen Bundestages nach mehr Information über die Finanzsituation der Rentenversicherung, wie er in diesem Entschließungsantrag zum Ausdruck kommt, zu entsprechen. Für bedenklich hielte es die Bundesregierung dagegen, die gesetzlichen Vorschriften über die Vorlage des jährlichen Rentenanpassungsberichts - wie es die CDU/CSU-Fraktion vorschlägt - in der Weise zu ändern, daß außer den 15jährigen Vorausberechnungen auch noch Fünfjahresberechnungen vorgelegt werden müßten. Solche Vorausberechnungen würden neben den Modellrechnungen der neueren Art nur Verwirrung stiften und dem Gesetzgeber jedenfalls keine zusätzliche Entscheidungshilfe bieten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend folgendes feststellen. Erstens: Die bruttolohnbezogene dynamische Rente hat sich bewährt. Zweitens: Die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger ist nicht gefährdet. Drittens: Es besteht kein Anlaß zu irgendwelchen Änderungen. Viertens: Jede Rente wird auch in Zukunft pünktlich und ungekürzt gezahlt, ab 1. Juli sogar erhöht gezahlt. Meine Damen und Herren, ich darf annehmen, daß Sie diesen Feststellungen zustimmen, und dafür danke ich Ihnen sehr. ({13})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Müller ({0}).

Adolf Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich rede zum Tagesordnungspunkt 3 in der dritten Lesung und nicht zu den Anpassungen in der Kriegsopferversorgung. Dazu werden andere Fraktionskollegen Ausführungen machen, zumal wir dort auch noch Anträge zu stellen haben. Zum neunzehnten Mal verabschieden wir heute ein Gesetz, das die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter anpaßt, und zum neunzehnten Mal wird damit auch ein Versprechen eingelöst, das der Deutsche Bundestag mit der Verabschiedung der Rentenreform von 1957 eingegangen ist. Zum neunzehnten Mal erleben die Rentner mit der Realisierung dieses Gesetzes, daß sie auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben an der Entwicklung des Lebensstandards teilhaben und daß damit ihre Arbeitsleistung auf Dauer anerkannt wird. Müller ({0}) Es war die CDU/CSU-Regierung Konrad Adenauers, es war der von uns unvergessene Arbeitsminister Anton Storch, mit dessen Namen die Rentenreform von 1957 untrennbar verbunden ist, die die weltweit anerkannte dynamische, leistungsorientierte und bruttolohnbezogene Rente eingeführt haben. Hier wurde der Grundstein gelegt, die Solidarität der Generationen zum Leitmotiv gegenseitiger sozialpolitischer Verantwortung zu machen. Die heutigen Rentner haben während der Zeit ihres Arbeitslebens im Rahmen ihrer damaligen Möglichkeiten wichtige Voraussetzungen für die Wirtschaft und den Bestand der sozialen Sicherung erbracht, so daß die heutigen Beitragszahler, die heutigen Arbeitnehmer, ihren Beitrag zahlen, damit die Rentner entsprechend ihrer eigenen Vor- und Lebensleistung auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß den erarbeiteten Lebensstandard halten können. Die Versicherten tun das in der sicheren Erwartung, daß, wenn sie selbst das Rentenalter erreicht haben, die dann arbeitende Generation in der gleichen Solidarität die notwendigen Voraussetzungen für die dann fälligen Renten schafft. Die Rentenreform von 1957 - das sollte an diesem Tage in Erinnerung gerufen werden - war kein rein technischer Vorgang der Umstellung des Leistungssystems in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, sondern war das Ergebnis eines sozialpolitischen Gestaltungswillens, die Lebensleistung des Menschen auch im Alter anzuerkennen, das Alter ohne Not zu garantieren, um damit deutlich zu machen, daß die Alterssicherung das Kernstück der gesamten Sozialpolitik ist. Nicht das liberal-kapitalistische Denken, das der Rentengesetzgebung alter Prägung zugrunde lag, war die Leitschnur dieser aus christlich-sozialem Geist geprägten Reform, sondern der Wille, neben dem Gedanken der Leistung die für das menschliche Zusammenleben unverzichtbare Solidarität zur Grundlage unserer Alterssicherung zu machen. ({1}) Dieser Gedanke ist auch in den folgenden Jahren bei notwendigen Änderungen von Anspruchsvoraussetzungen, bei notwendigen Verbesserungen vieler Einzelfragen beibehalten worden. Ebenfalls 1957 haben wir das Gesetz über die Altershilfe für Landwirte gestaltet. 1960 haben wir die Handwerker in die Rentenversicherung einbezogen. Die Weiterführung der Rentenreform von 1972 mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze, der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen wurde von der CDU/CSU wesentlich geprägt. Daß wir seit diesem Zeitpunkt die Rente nach Mindesteinkommen haben, die insbesondere eine Anhebung der kleinen Renten gebracht hat - eine Maßnahme, die rund 80 0/o der Frauen zugute kam -, ist ausschließlich der Union zu verdanken. ({2}) Ebenso darf daran erinnert werden, daß es die Union durchsetzte, die jährliche Rentenanpassung um ein halbes Jahr vom 1. Januar auf den 1. Juli vorzuverlegen. Herr Minister, wenn am 1. Juli dieses Jahres die Renten erhöht werden, dann wollen wir die Rentner hieran erinnern. Damit konnten wir die Rentenanpassungen wenigstens zu einem Teil näher an das Tarifgeschehen heranführen. Diese konsequente Haltung der Union in der Sicherung des Alters ohne Not soll gerade bei dieser neunzehnten Rentenanpassung noch einmal in jedermanns Erinnerung gerufen werden, weil die Vaterschaft in der Propaganda draußen von vielen beansprucht wird. Ich wollte festhalten: Vater der Rentenreform ist und bleibt Anton Storch. ({3}) Seine Nachfolger im Amt, die von der CDU gestellt wurden, Theo Blank und Hans Katzer, haben sein Erbe bewahrt. ({4}) Sie haben die Position verbessert und die Finanzen der Rentenversicherung in Ordnung gehalten. ({5}) Als Hans Katzer 1969 infolge der geänderten Mehrheitsverhältnisse in diesem Haus seine allgemein anerkannte Tätigkeit als Arbeitsminister aufgeben mußte, hinterließ er geordnete Finanzen in der Rentenversicherung und hatte im Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetz die Voraussetzungen für eine gesunde Finanzentwicklung gegeben. Dieses 1969 verabschiedete Gesetz war überhaupt erst die Grundlage dafür, daß wir 1972 die Rentenreform in den bekannten Positionen fortschreiben konnten. Fast könnte man meinen, meine Damen und Herren, ich sei von einer Nostalgiewelle erfaßt, ({6}) wenn ich diese guten Zeiten in Erinnerung rufe. Aber nicht so sehr die Freude an der Nostalgie als die Sorge um die künftige Entwicklung hat mich zu diesem Rückblick veranlaßt. Wir sagen ja zur neunzehnten Rentenanpassung mit der Erhöhung der Bestandsrenten um 11 %, weil auch wir davon ausgehen, daß diese Rentenanpassung finanziell gesichert ist. ({7}) Was uns bedrückt und belastet, ist die immer lauter werdende Frage aller Sachverständigen nach der Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung in den kommenden Jahren. Inflation, Rezession, Arbeitslosigkeit und die insgesamt verfehlte Wirtschaftspolitik dieser Regierung brachten Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Staat und Rentenversicherung an die Grenze der Belastbarkeit. Erstmals weisen die Bilanzen der Rentenversicherung ein Defizit aus, und die Rentenfinanzen sind in Gefahr. Der mit dem Rentenanpassungsgesetz vorgelegte Rentenanpassungsbericht, den wir heute gemäß dem Antrag des Ausschusses zur Kenntnis nehmen sollen, schweigt sich darüber aus. ({8}) Miller ({9}) Dieser neunzehnte Rentenanpassungsbericht kommt dem gesetzlichen Auftrag nicht nach, und er entspricht nicht den bestehenden Rechtsgrundlagen. Es werden Modellrechnungen und nicht Vorausschätzungen vorgelegt. Die Annahmen decken sich nicht mit denen der mittelfristigen Finanzplanung. Die Rentenzahlungen sind nach den günstigsten Modellrechnungen nur bis 1978 gesichert. Der Bericht unterstellt, daß die Krankenversicherung der Rentner zu Lasten der Krankenversicherung geregelt wird. ({10}) Die finanzielle Belastung der Rentenversicherung durch den Polen-Vertrag bleibt unberücksichtigt. ({11}) Die Ausgaben für Gesundheitsmaßnahmen durch die Rentenversicherung wurden unbegründet um 20 v. H. gekürzt. Es fehlen Angaben über die Höhe des zukünftigen Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung. Der neunzehnte Rentenanpassungsbericht hat nichts mit einer wissenschaftlich fundierten, verantwortungsvollen Prognose, wohl aber sehr viel mit Wahltaktik und mit Verschleierungsmanövern zu tun. ({12}) Die Union hat einen realistischen, dem Gesetzesauftrag angemessenen Nachtrag zum Anpassungsbericht für 1976 gefordert. Er wurde uns verweigert. Der Verband deutscher Rentenversicherungsträger - das ist sowohl in der ersten Lesung am 20. Februar als auch bei der vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung durchgeführten Sachverständigenanhörung unmißverständlich zum Ausdruck gebracht worden - geht von anderen Schätzungen der Rentenfinanzen aus als die dafür verantwortliche Regierung. Offen werden Änderungen des materiellen Rechts gehandelt; nur die dafür zuständige Regierung spielt den toten Mann. Der Bundeskanzler und sein Arbeitsminister sagen in ihrer Selbstbeweihräucherung, die Rentenpolitik der Bundesregierung sei solide, die Renten seien gesichert. Besorgte Stimmen, basierend auf den von Fachleuten unbestrittenen Aussagen des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger, werden als Unwahrheiten dargestellt, und der Bundeskanzler versteigt sich sogar zu der Wahlkampfbeschimpfung von den „Lügen der Union im Namen Jesu Christi". Seine in Friedrichshafen geäußerte Auffassung, die CDU/CSU sei in Fragen der Sozialpolitik, der Gesellschaftspolitik und des sozialen Ausgleichs in einer Verfassung, die es nicht erlaube, ihr eine gesetzgeberische Verantwortung zu übertragen, haben allerdings die Wähler in Baden-Württemberg in der die Menschen dieses Landes auszeichnenden Souveränität beantwortet. ({13}) Meine Damen und Herren, mit Beschwörungen und Gesundbeterei werden die Finanzen der Rentenversicherung nicht in Ordnung kommen, ({14}) und auch auf ein Wunder sollte man nicht warten; das überlasse ich dann lieber der Theologie. Die Äußerungen eines verantwortlichen Mannes der Selbstverwaltung des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger, man wolle vor dem 3. Oktober den Parteien die heißen Kohlen nicht aus dem Feuer holen, kennzeichnen den wahren Grund dieser Verschleierungstaktik. Man möchte über den 3. Oktober hinwegkommen, möglichst anderen den Vorwurf der sozialen Demontage anhängen, dem Wähler die Wahrheit vorenthalten, um vor diesen entscheidenden Wahlen nicht das Eingeständnis einer verfehlten Politik machen zu müssen. Aus diesem Grunde fragen wir hier und heute bei der Verabschiedung des von uns mitgetragenen und bejahten Anpassungsgesetzes die Bundesregierung: Wie ist die wahre Situation der Finanzen der Rentenversicherung? Um welche der 15 Modellrechnungen sollen wir würfeln? Was für Absichten hat die Bundesregierung, den offensichtlichen Widerspruch zwischen den unbestreitbaren Zahlen der Fachleute der Rentenversicherung und ihren eigenen Schlangenbeschwörern aufzulösen? Der Antrag des Ausschusses lautet, den Rentenanpassungsbericht zur Kenntnis zu nehmen. Wir möchten für uns hier deutlich machen, daß wir einen völlig unzureichenden und dem gesetzlichen Auftrag nicht entsprechenden Rentenanpassungsbericht zur Kenntnis nehmen. ({15}) Meine Damen und Herren, wir werden auch in den kommenden Monaten die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Wir werden es nicht zulassen, daß die Rentner und die Wähler hinters Licht geführt werden. Die von uns gestaltete - ich wiederhole das -, weltweit anerkannte dynamische und bruttolohnbezogene Rente ist heute die wichtigste Sicherung der Bürger. Die Renten sind damit die Grundpfeiler der inneren Stabilität unseres Volkes. - Herr Kollege Lutz, ich würde Ihnen das gern für Ihren „Brief aus Bonn" zur Verfügung stellen. - Wir werden daher unsere ganze Kraft daransetzen, die Renten zu sichern. ({16}) - Ich bin doch kein Meßjunge, um wie bei der Mitbestimmung ein unzulängliches Gesetz zu beweihräuchern. ({17}) Noch nie ist so deutlich geworden wie in diesen Monaten, wie eng Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik miteinander verknüpft sind. Ohne eine gute Wirtschaftspolitik, ohne gesunde Finanzen gibt es auf Dauer keine gesicherte Sozialpolitik. Die Sozialpolitik ihrerseits ist Voraussetzung einer stabilen Wirtschaftsentwicklung. Wenn wir heute in einer schwierigen Finanzsituation sind, dann ist das nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß wir nun schon seit 15 Monaten in der Bundesrepublik Arbeitslosenzahlen haben, die weit über 1 Million liegen. Nimmt man die in ihre Heimatländer zurückgewanderten ausländischen Arbeitnehmer hinzu, so haben uns in den vergangenen Monaten fast 2 Millionen Beitragszahler in der Sozialversicherung gefehlt. Müller ({18}) Hier zeigt sich die Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik am deutlichsten. Hier muß also zunächst angesetzt werden: bei einer Verbesserung der Arbeitsmarktsituation, einer Beseitigung der Arbeitslosigkeit, einer Verbesserung unseres gesamtwirtschaftlichen Ergebnisses. Lassen Sie mich zusammenfassen. Erstens. Die Fraktion der CDU/CSU stimmt dem Neunzehnten Rentenanpassungsgesetz mit der Erhöhung der Renten aus der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ab 1. Juli 1976 um 11 %, der Anhebung der Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab 1. Januar 1977 um 7 % und der Anhebung der Altersgelder in der Altershilfe für die Landwirte ab 1. Januar 1977 um 11 % ausdrücklich zu. ({19}) Auch die sonstigen im Gesetz vorgesehenen Regelungen finden unsere Zustimmung, vor allem auch die Honorierung des Tarifabschlusses in der Bauwirtschaft durch eine Erweiterung der Bezugszeit für Wintergeld. Zweitens. Der Rentenanpassungsbericht wird in seinen Aussagen von uns nicht anerkannt, weil er weder dem gesetzlichen Auftrag nachkommt noch den bestehenden Rechtsgrundlagen entspricht. ({20})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Geiger.

Hans Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000646, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Geehrte Herren! Zur Verabschiedung des Neunzehnten Rentenanpassungsgesetzes möchte ich im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion folgende Erklärung abgeben. Erstens. Wir begrüßen die Erhöhung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1976 um 11 % und der Unfallrenten zum 1. Januar 1977 um 7 % sowie der Altersgelder in der Landwirtschaft, ebenfalls zum 1. Januar 1977, um 11 %. Mit Befriedigung stellen wir fest, daß das Rentenniveau, gemessen am durchschnittlichen Bruttoarbeitseinkommen der Arbeitnehmer, mit dieser Rentenerhöhung einen Höchststand seit dem Jahre 1960 erreichen wird. Gemessen an dem Nettoeinkommen der Arbeitnehmer, wird das Rentenniveau höher sein als jemals zuvor in der 85jährigen Geschichte der deutschen Rentenversicherung. Die SPD-Bundestagsfraktion ist stolz auf das, was sie bis jetzt in der Alterssicherung erreicht hat. Durch die Sozialpolitik der SPD-geführten Koalition ist das Alter sorgenfreier und sicherer geworden. Die Rentenreform von 1972 und das Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung sind nur die wichtigsten Schritte in dieser Entwicklung. Sie haben die soziale Sicherung und den Freiheitsraum der älteren Menschen vergrößert. ({0}) Zweitens. Die vernünftige und erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Koalition, Herr Kollege Müller und Herr Kollege Franke, hat die Rentenversicherung sicher durch die schwierigste Phase der weltwirtschaftlichen Krise hindurchgesteuert. Wir haben in der Rezession das Netz der sozialen Sicherheit nicht angetastet, obwohl nicht kleine konservative Kreise und auch die Opposition uns und der Offentlichkeit ständig eine Art Brüningsche Notverordnungspolitik auf Kosten der Rentner empfohlen haben. ({1}) Wir sind diesem Rat nicht gefolgt und werden ihm auch nicht folgen, ({2}) und zwar nicht nur, weil das eine wirtschaftspolitische Torheit wäre, sondern auch weil das unserer Überzeugung als Sozialdemokraten widersprechen würde. Wir haben das Netz der sozialen Sicherheit in der Krisenzeit nicht aufgeknüpft, sondern fester gemacht. Wir wissen, daß die Löhne und Renten von heute nicht nur Kosten sind, sondern auch die Kaufkraft von morgen darstellen. Drittens. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird auch weiterhin Beitragserhöhungen, Einschnitte ins Leistungsrecht und Manipulationen an der bruttobezogenen Rentendynamik ablehnen. Dazu besteht auch kein Anlaß, weil die Finanzierung der Renten gesichert ist. Der Rentenbericht hat das ausgewiesen, trotz aller Versuche der Opposition, das anders darzustellen. Für den Fall, daß die rezessionsbedingten Schwierigkeiten andauern würden, ist eine Rücklage angesammelt worden, die ausreichen würde, um daraus mehr als ein halbes Jahr lang die laufenden Renten zu bezahlen, ohne die Beitragseinnahmen in dieser Zeit in Anspruch zu nehmen. Dazu wird es aber keinesfalls kommen, weil wir, wie uns auch die Deutsche Bundesbank bei der Sachverständigenanhörung bestätigt hat, uns bereits spürbar in der Phase eines konjunkturellen Aufschwungs befinden. Der Konjunkturaufschwung wird alsbald, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen. Die konjunkturbedingten Beitragsausfälle der Rentenversicherung werden dann wieder aufgefüllt, der durch die ungünstige Arbeitsmarktlage verursachte verstärkte Rentenzugang wird aufhören. Darüber hinaus wird die in der Rentenformel eingebaute zeitliche Verzögerung der Rentenanpassung gegenüber den aktuellen Lohnerhöhungen bewirken, daß die Beitragseinnahmen schneller steigen als die Rentenausgaben. Auch das wird stabilisierend wirken; ein Grund mehr, die sogenannte Aktualisierung nicht nur als überflüssig, sondern sogar als nachteilig für die finanzielle Solidität der Rentenversicherung abzulehnen. Viertens. Mit allem Nachdruck weist die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Unterstellung zurück, die Rentenversicherung befinde sich in einer langfristigen strukturellen Krise, die nur durch einschneidende Maßnahmen zu beheben sei; der Rentenanpassungsbericht beweist in seinen Darlegungen, daß diese Unterstellung nicht zutrifft. Diese Auffassung von der einschneidenden Krise ist zwar moGeiger disch, und es ist deshalb kein Wunder, daß die Opposition aus wahltaktischen und parteiegoistischen Gründen versucht, die Angst vor einer Strukturkrise der Sozialversicherung zu schüren. Es ist unverantwortlich, daß die CDU/CSU gegen besseres Wissen Angst in die Reihen der älteren Menschen trägt. ({3}) Das Gerede von einer Strukturkrise in der Rentenversicherung beruht nicht immer auf ungenügender Sachkenntnis und auf der naiven Verwechslung kurzfristiger konjunktureller Störungen der Rentenversicherungsfinanzen mit einem langfristigen Ungleichgewicht. ({4}) Dieses Gerede ist parteitaktisch motiviert.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burger?

Hans Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000646, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön!

Albert Burger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000310, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Geiger, kennen Sie den Artikel in der SPD-Zeitung „Vorwärts" unter der Überschrift „Es führt kein Weg daran vorbei: Auch die Rentner müssen zur Kasse gebeten werden"?

Hans Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000646, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber, lieber Herr Kollege Burger, wir werden uns in der Sorge um die Solidität in der Rentenversicherung von niemandem übertreffen lassen. Daran besteht gar kein Zweifel. ({0}) Warum sollte in einer sozialdemokratischen Zeitung nicht auch ein Artikel stehen, der sich kritisch mit Problemen auseinandersetzt! Lieber Herr Kollege Burger, da unterscheiden wir uns doch gerade von Ihnen. ({1}) Wir betreiben doch keine Gesundbeterei, wie Sie das tun. ({2}) Wegen des Umlageverfahrens werden die laufenden Renten aus den laufenden Beitragseinnahmen bezahlt. Das Vermögen dient nicht zur Deckung der normalen laufenden Rentenzahlungen, sondern lediglich als Rücklage zur Überbrückung zeitweiliger gesamtwirtschaftlicher Störungen, weil es sozial- und konjunkturpolitisch notwendig ist, die Renten auch in einer Rezession ohne Abstriche und Beitragserhöhungen weiter zu zahlen. Ein vorübergehender rezessionsbedingter Abbau der Rücklagen, der bis jetzt noch nicht einmal stattgefunden hat, beeinträchtigt also überhaupt nicht die langfristige Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung. Entscheidend für die dauerhafte Sicherheit der Renten ist einzig und allein das langfristige Verhältnis der laufenden Renten zu den laufenden Beiträgen. Es besteht aber nicht der geringste Anlaß, aus den gegenwärtigen Finanzschwierigkeiten auf eine grundsätzliche und andauernde Störung des Gleichgewichts von Beitragseinnahmen und Rentenausgaben zu schließen. Bereits heute ist sichtbar, daß wir wirtschaftlich über den Berg sind, daß sich die Lage am Arbeitsmarkt langsam bessert und daß die deutsche Volkswirtschaft am Ende der Weltrezession eher noch wettbewerbsfähiger ist als vor ihrem Beginn. Deshalb entbehrt der Pessimismus bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung jeder Grundlage. Wir haben allen Grund zum Optimismus, auch für die Finanzlage der Rentenversicherung. Wenn so getan wird, als würde das heutige ungünstige Verhältnis von Beiträgen und Renten in aller Zukunft fortbestehen, so ist das ein konjunkturpsychologisch zu erklärender Irrtum. Man muß sich vor der fatalen Neigung hüten, die augenblickliche Situation zu verabsolutieren, in günstigen Zeiten für die Zukunft alles rosig und in weniger günstigen Zeiten alles rabenschwarz zu sehen. Ich meine das jetzt gar nicht parteipolitisch, obwohl sich auch dort einige diesen Schuh anziehen könnten. Meine Damen und Herren, es ist auch bedauerlich, daß jene, denen die ganze Richtung der sozialen Sicherheit und des größeren Freiheitsraumes nicht paßt, jede Störung im Wirtschaftsablauf zum Anlaß nehmen, ihre Forderungen auf Abbau der sozialen Leistungen zu erheben. Fünftens. Eine soziale und wirtschaftspolitisch vernünftige Rentenpolitik kann man nicht aus der Froschperspektive der augenblicklichen Stimmungsschwankungen und aus der Tagessituation heraus machen. Sie bedarf langfristiger Perspektiven. Diese Perspektiven für die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und der ökonomischen Grundlage unserer Alterssicherung sind durchaus nicht ungünstig. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird deshalb das einzig Richtige tun, nämlich weiterhin die Renten nach der bewährten Formel zu erhöhen. Wir halten es für erforderlich, mit Gelassenheit und Weitblick den automatischen Konjunkturstabilisator, der im Finanzierungssystem der Rentenversicherung mit gutem Grund eingebaut ist, voll wirken zu lassen. Hektische Überreaktionen könnten lediglich die vernünftige Konstruktion der Rentenfinanzierung, die vom Fünften Deutschen Bundestag beschlossen worden ist, ins Gegenteil verkehren. Sechstens. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sich in ihrer soliden Rentenpolitik im Interesse sowohl der Rentner als auch der Beitragszahler als auch der Stabilität unserer Volkswirtschaft und der öffentlichen Finanzen nicht durch die Versuche der CDU/CSU beeindrucken lassen, Hysterie und Verunsicherung in der Sozialpolitik zu verbreiten. Die Rentner und die Beitragszahler können sich auf die Sozialdemokratie verlassen. Ihre Renten werden auch in Zukunft sicher sein. Meine Damen und Herren, ihren Ruf als Hüter solider Sozialversicherungsfinanzen hat die CDU/ CSU schon längst ruiniert, spätestens, seit sie um des Wahlvorteils willen ihre Zufallsmehrheit im Herbst 1972 dazu mißbraucht hat, die Rentenreform in unverantwortlicher Weise finanziell zu überdrehen. Lieber Herr Kollege Müller, wenn Sie schon von Nostalgie sprechen und in Ihrer Geschichte zurück bis zum Storch gehen, dann sollten Sie sich auch an diese Zeit erinnern, wo Sie aus wahltaktischen Gründen vor den Bundestagswahlen mit Ihrer Mehrheit von einer Stimme Gesetze beschlossen haben, die wirklich zum Ruin der Rentenversicherung geführt hätten. ({3}) Auch das gehört ein bißchen zur neueren Nostalgie, die Sie gern vergessen machen möchten und an die Sie nicht gerne erinnert werden. ({4}) Sie haben damals Gesetze beschlossen, obwohl Sie genau wissen mußten und auch wußten, daß die von Ihnen beschlossenen Leistungsverbesserungen nicht finanzierbar sein würden. Das war ein Täuschungsversuch gegenüber den Rentnern und den Beitragszahlern, der unvergessen ist. Er muß deshalb in Erinnerung gerufen werden, weil er nicht einmalig war, sondern auch in dieser Legislaturperiode mit zahlreichen Schaufensteranträgen fortgesetzt wurde, ({5}) sogar noch vor wenigen Tagen, als die CDU/CSU im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung dem Rentenniveaugesetz des Bundesrates - der Arbeitsminister hat es schon erwähnt - zustimmte, das die Rentenversicherung mit Sicherheit in Zukunft mit unabsehbaren Milliardenaufwendungen belastet hätte. Meine Damen und Herren, solange sich die Opposition dieses Doppelspiel erlaubt, ({6}) muß sie sich auch vorhalten lassen, daß ihre zur Schau gestellte Sorge nicht den Rentenversicherungsfinanzen, sondern einzig und allein dem Wahlergebnis vom 3. Oktober gilt. ({7}) Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten stimmen dem Vorschlag der Bundesregierung zu, die Renten aus der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ab 1. Juli 1976 um 11 % zu erhöhen. Damit wird das Einkommen der Rentner im kommenden Jahr um über 10 Milliarden DM verbessert. Hinzu kommen fast eine Milliarde DM aus der ebenfalls ab 1. Juli 1976 um 11 % erhöhten Rente aus der Kriegsopferversorgung und im Jahre 1977 ca. 500 Millionen DM aus der Erhöhung der Altersrenten für die Landwirtschaft um ebenfalls 11 % sowie der Erhöhung der Unfallrenten. Auch diese Kaufkrafterhöhung für diesen Personenkreis wird wesentlich zur konjunkturellen Stabilität beitragen. Meine Damen und Herren, alle diese Leistungen auch in der schwierigen wirtschaftlichen Situation reihen sich in die sozial- und gesellschaftspolitischen Verbesserungen der sozialliberalen Koalition ein. Die flexible Altersgrenze in der Rentenversicherung, die Rente nach Mindesteinkommen, das Kindergeld für alle Kinder, die Steuererleichterungen für die kleineren und mittleren Einkommen machen das Netz der sozialen Sicherheit ebenso dichter und stärker wie die dynamische Gestaltung der Kriegsopferrenten und das dynamische Altersgeld in der Landwirtschaft und die Krankenversicherung der Landwirte - um nur einige zu nennen -, bei der der Bund die hohen Kosten für die Krankheitsbehandlung der Altenteiler trägt. Meine Damen und Herren, die Sozialdemokratische Partei und die sozialliberale Koalition haben den Auftrag des Grundgesetzes, einen sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen, ernst genommen. ({8}) Die Opposition hat jetzt eine Chance, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen. Ich bin nach dem, was Sie alles gesagt haben, gespannt. Wenn Sie Ihre Orakel über die Zukunft der Rentenversicherung ernst genommen wissen wollen - wir haben heute eine beredte Schilderung gehört -, dann sollten Sie jetzt auch den Mut haben, den Rentenanpassungen Ihre Zustimmung zu verweigern. Wir stimmen der dynamischen Erhöhung der Renten zu und sichern auch für die Zukunft die Renten für die Beitragszahler von heute und die Rentner von morgen. Auf die Sozialdemokraten können sich Beitragszahler und Rentner auch in Zukunft verlassen. Herzlichen Dank für die Geduld des Zuhörens! ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt ({0}).

Hansheinrich Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002006, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Haase, befürchten Sie nicht, daß ich so lange spreche wie meine Vorredner. ({0}) Ich habe es mir für die Freien Demokraten schon versagt, in der zweiten Lesung noch einmal zu sprechen, weil ich der Meinung war, daß die heutige Verabschiedung des 19. Rentenanpassungsgesetzes, die einstimmig im Ausschuß erfolgte und die die klare Antwort für 1976 insofern ist, als die Rentendynamik und die Finanzierung dieser Anpassung gesichert sind, es eigentlich nicht hätten erwarten lassen, daß man im Zusammenhang mit dieser klaren Aussage heute für die Anpassung zum 1. Juli nun wieder die am 20. Februar hier geführte Debatte von neuem eröffnet. Sie kann und sollte erst wieder eröffnet werden, wenn wir die nächsten Berichte vorliegen haben und wenn wir uns bei diesen nächsten Berichten der Verantwortung für die Zukunft klar sein müssen. Ich bin der Auffassung, daß es heute einmal darauf ankommt, den Rentnern Schmidt ({1}) deutlich zu machen, das sie selbst und die Beitragszahler für die Zukunft keine Sorge zu haben brauchen, daß es aber notwendig ist, daß wir verantwortungsbewußt über die Probleme, die hier vor uns liegen, nachdenken. ({2}) Deshalb versage ich ès mir, zu einer Reihe von Äußerungen über „eilfertige Korrekturen", „Hektik" und dergleichen hier etwas zu sagen. Ich habe den Standpunkt der Freien Demokraten in dieser Frage am 20. Februar hier von dieser Stelle zum Ausdruck gebracht. Dieser Standpunkt in bezug auf die zukünftigen mittelfristigen und langfristigen Fragen hat sich seitdem nicht geändert. Ich bitte das nachzulesen. Ich bin nicht der Meinung, daß man durch Wiederholung alles dessen unbedingt klüger wird. Wir Freien Demokraten und, so glaube ich, jeder Verantwortliche in diesem Hohen Hause - dazu möchte ich allerdings etwas sagen - sollte eigentlich die Verantwortung für die Zukunft der Renten, die Verantwortung für unsere Beitragszahler und deren spätere Renten etwas weniger leichtfertig sehen, als es leider Gottes immer wieder aus den Äußerungen der Opposition deutlich wird. ({3}) Es hat zunächst vorhin der Kollege Franke wieder angefangen, das Horrorgemälde zu malen. ({4}) - Lesen Sie es doch nach. Vielleicht waren Sie nicht da, als der Kollege Franke sprach. Anschließend hat der Kollege Müller ({5}) in der dritten Lesung wieder einmal deutlich gemacht, daß doch eigentlich all das, was gut ist, aus der Zeit der Herren Storch, Blank und Katzer kommt, und all das andere später gewesen ist. ({6}) - Ja, Herr Kollege Müller ({7}), wenn Sie schon eine so schöne Liste über die Zeit vom Storch bis zur Rente - ich darf das einmal so sagen - hier vorlegen, dann dürfen Sie dabei allerdings einiges nicht vergessen, z. B. daß es der von Ihnen so gerühmte und von mir sehr geschätzte Kollege Katzer war, der bereits zu seiner Zeit die Beiträge von 14 auf 18 % anheben mußte. Das haben Sie in diesem Zusammenhang schamhaft verschwiegen. ({8}) Sie haben auch schamhaft verschwiegen, Herr Kollege Müller ({9}), daß einer der Gründe, weshalb wir alle heute gewisse Sorgen haben und weshalb wir die Aussagen der Sachverständigen und die nächsten Zahlen, die sich entwickeln werden, sehr sorgsam betrachten werden, die von Ihnen veranlaßte erste Durchbrechung der Systematik der Anpassung war, nämlich die Vorziehung des halben Jahres 1972. Wir bräuchten über manches nicht nachzudenken, wenn Sie damals diesem Hohen Hause diese Entscheidung nicht aufgezwungen hätten. ({10}) - Sie stimmen ja heute auch zu und sagen, es ist alles schlecht. Herr Kollege Müller, ich wiederhole es: Wir bräuchten über manches nicht nachzudenken, wenn Sie diesem Hohen Hause damals diese Entscheidung nicht aufgezwungen hätten. ({11}) - Natürlich, ich habe das schon ein paar Mal gesagt. Natürlich haben wir zugestimmt. ({12}) Ich habe festgestellt: aufgezwungen hätten. ({13}) - Warten Sie doch einmal ab. Sie können bei mir nie abwarten. Gott sei Dank weiß ich ja schon immer im voraus, was Sie wissen wollen. Deshalb habe ich es mir vorher überlegt. Ich habe damals, am 22. September, von dieser Stelle aus - ich habe mir das Datum sehr gut gemerkt - vor der Vorziehung des halben Jahres und der damit zusammenhängenden Präjudizierung gewarnt. Sie können das nachlesen. Ich habe damals - so wie Sie auch - für die Freien Demokraten erklärt: Wir werden dem zustimmen, weil es sozialpolitisch - darüber kann man ja immer reden - in der damaligen Situation eine gute Sache war. Aber vom System her, von der langfristigen Finanzierung her, von der Gesamtsituation her wäre es richtiger gewesen, es nicht zu tun. Im übrigen sehen ja zur Zeit auch Kollegen aus Ihrer Fraktion eine Möglichkeit, das wieder zu ändern. ({14}) Ich kann mich erinnern, daß Sie, Herr Kollege Müller, einen Namensvetter haben, der nicht aus Remscheid kommt. ({15}) Er kommt woanders her, aber er sitzt vielleicht etwas näher bei der BfA und hat da vielleicht das Ohr manchmal etwas näher an den Dingen. Sie haben das jedenfalls bei der Aufzählung vergessen. Sie haben auch vergessen, daß es eine nicht gerade sehr bedeutsame Leistung Ihres damaligen Ministers Katzer war, daß seinerzeit sämtliche Rentner in die Krankenversicherung der Rentner aufgenommen wurden, auch solche, die in Wirklichkeit keinen Anspruch aus der Krankenversicherung hatten und die heute - auch das müssen wir sehen - mit zu den Überentwicklungen in diesem Bereich beigetragen haben. Wenn wir hier schon aufzählen, dann sowohl Positives als auch Negatives. Über Korrekturen können wir uns dann hinterher unterhalten. Denn, meine Damen und Herren, wenn man - ich habe das letzte Mal über die Verantwortung, wie wir sie sehen, hier gesprochen - die Verantwortung Schmidt ({16}) so sieht, wenn man sich hier hinstellt und behauptet, das geht alles in die und die Richtung - auch Zahlen bringt -, dann muß man hier auch einmal sagen, was man dafür tun will, dann muß man einmal die Antwort auf diese Fragen geben und nicht bloß die Fragen in den Raum stellen und dann hinterher noch sagen: Das war ja alles von uns; wenn es nicht mehr klappt, sind die anderen, die Bösen, schuld; aber wir haben ja die Weichen gestellt. Die Weichen, daß manches heute nicht mehr so einfach ist, haben Sie genauso mitgestellt. Und wir müssen wahrscheinlich gemeinsam über manches verantwortlich nachdenken.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hansheinrich Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002006, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön!

Adolf Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich bei dem Versuch der Aufklärung zwischen den Aussagen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und denen der Regierung darauf hingewiesen habe, daß meine Aussagen zu den Finanzen der Rentenversicherung nicht die Auffassung meiner Fraktion, sondern die der Sachverständigen wiedergegeben haben, die Sie - genau wie ich - im Ausschuß für Arbeit gehört haben?

Hansheinrich Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002006, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müller ({0}), ich habe vorhin schon einmal betont: Auch ich habe die Tatsachen, die die Sachverständigen vorgelegt haben, sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen. Ich habe dazu von dieser Stelle hier schon einiges gesagt, als die Sachverständigen noch nicht im Ausschuß gewesen waren. Ich möchte das gar nicht wiederholen. Das ist auch nicht notwendig. ({1}) Aber, Herr Kollege Müller, ich habe für die Freien Demokraten mögliche Ansatzpunkte angesprochen. Sie stellen immer nur Zahlen in den Raum - diese oder jene -, sagen aber nicht, was Sie tun wollen. ({2}) Denn wenn einmal die Möglichkeit dieser oder jener Korrektur angesprochen wird, dann kommt von Ihnen sofort die Antwort: Nein, das nicht, das auch nicht und das auch nicht. Dennoch sagen Sie, es müsse etwas geschehen. ({3}) - Frau Kollegin, ich werde Ihnen das Protokoll über die Sitzung vom 20. Februar zuschicken. In dieser Sitzung habe ich dies nämlich alles ausführlich dargestellt. Sie finden das sogar ganzseitig im „Parlament" abgedruckt. Ich schicke es Ihnen gern. Dann können Sie alles nachlesen. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen. ({4}) - Nein, bei meinem Vorredner brannte bereits die rote Lampe. Bei mir brennt sie noch nicht. Wenn Sie immer Zwischenfragen stellen und Zwischenrufe machen, dauert meine Rede außerdem ein bißchen länger. Mir macht das Spaß. Ich habe nichts dagegen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, namens der Freien Demokraten erkläre ich abschließend in der dritten Lesung des Neunzehnten Rentenanpassungsgesetzes folgendes. Wir stimmen diesem Gesetz, das voll finanziert ist, das 1976 keine Probleme für die Rentenversicherung bringt, das eine normale Anpassung bringt, das - was wir sehr begrüßen - keine Kürzungen in irgendwelcher Form und keine Nivellierungstendenzen bringt, voll zu. Wir gehen dabei davon aus, daß die weiteren Überlegungen, die nach Vorliegen neuer Zahlen angestellt werden müssen, die Dynamik und die Lohnbezogenheit nicht in Gefahr bringen dürfen ({5}) und darüber hinaus weder die Beitragszahler überfordern noch die Gesamtbelastungsgrenze unserer Wirtschaft überschreiten dürfen. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Danke schön. Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist in der dritten Lesung einstimmig angenommen. Es liegen noch drei Anträge des Ausschusses vor. Wer dem Antrag des Ausschusses in Drucksache 7/4951 unter Ziffer 2, die Berichte der Bundesregierung in den Drucksachen 7/4250 und 7/2046 zur Kenntnis zu nehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Danke schön. Der Antrag ist angenommen. Wer der in Drucksache 7/4951 unter Ziffer 3 aufgeführten Entschließung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe. - Enthaltungen? - Dieser Antrag des Ausschusses ist ebenfalls einstimmig angenommen. Wer dem Antrag des Ausschusses in Drucksache 7/4951 unter Ziffer 4, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes ({0}) - Drucksache 7/4653 - Präsident Frau Renger aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 ,der Geschäftsordnung - Drucksache 7/4999 -Berichterstatter: Abgeordneter Krampe bb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2}) - Drucksache 7/4960 Berichterstatter: Abgeordneter Maucher ({3}) b) Zweite Beratung des von den Abgeordneten Geisenhofer, Maucher, Burger, Dr. Althammer, Müller ({4}), Höcherl, Ziegler, Franke ({5}), Dr. Mikat, Dr. Jobst, Freiherr von Fircks, Braun, Dr. Fuchs, Krampe und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes - Drucksache 7/4585 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 7/4999 - Berichterstatter: Abgeordneter Krampe bb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({7}) - Drucksache 7/4960 Berichterstatter: Abgeordneter Maucher ({8}) Die Berichterstatter wünschen nicht das Wort. Wir treten in die zweite Beratung ein. In der Aussprache hat der Herr Abgeordnete Burger das Wort.

Albert Burger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000310, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die Kriegsopferrenten sollen am 1. Juli 1976 um 11 % angehoben werden. Wir stimmen dieser Erhöhung zu. Wir haben uns ja auch für die gleichzeitige Rentenanpassung in der Kriegsopferversorgung sehr stark gemacht. Durch die jährliche Rentenanpassung ist es vor allem gelungen, angesichts der Preissteigerungen der letzten Jahre die Kaufkraft der Renten zu erhalten. Wenn die Anpassungsquote jetzt 11 % beträgt, während die Preissteigerungsrate und die Lohnerhöhungen nur etwa die Hälfte dieses Anpassungssatzes ausmachen, so bedeutet dies nicht, daß es darum geht, die Kriegsopfer besonders zu begünstigen. Hier wirkt sich die rund dreijährige Zeitversetzung in der Anpassung aus. Die zurückliegenden hohen Steigerungsraten der Arbeitseinkommen schlagen jetzt durch. Zum Ausgleich werden die Kriegsopfer in den kommenden Jahren bei hoffentlich verbesserter Konjunktur mit denjenigen bescheideneren Anpassungsraten zufrieden sein müssen, die sich aus den jetzigen Rezessionsjahren mit den geringeren Lohnerhöhungen ergeben. Gerechterweise müssen beide Seiten der Medaille aufgezeigt werden. Es muß also auch auf diese Konsequenzen unseres Systems der Dynamisierung hingewiesen werden. Meine Damen und Herren, auch das einseitige Operieren - dies hat insbesondere der Bundesarbeitsminister heute wieder getan - von Bundesregierung und Koalitionsparteien mit eindrucksvollen Prozentzahlen und enormen Leistungen in Milliardenhöhe auf Grund der Rentendynamisierung täuscht die Öffentlichkeit, die das komplizierte Rentenrecht nicht kennt. So wird der falsche Eindruck vermittelt, daß sich das Realeinkommen der Kriegsopfer in den letzten Jahren stärker als das Einkommen der aktiven Arbeitnehmer erhöht hätte. Der Bundesarbeitsminister hat einige Höchstrenten genannt. Diese Zahlen vermitteln ein völlig falsches Bild. Bei den Kriegsopfern sind es nur wenige - vielleicht drei oder vier - Prozent, die diese Höchstrenten erhalten. ({0}) - Diese Beträge, Herr Kollege Geiger, stehen praktisch auf dem Papier. Herr Arbeitsminister, Sie wissen genau, daß es vor allem Rentner, Kriegsopfer, Doppelamputierte und Querschnittsgelähmte sind, die in den Genuß der Höchstrenten kommen. Für diese Schwerstbehinderten sind die Beträge angemessen. Ihre Aussage, Herr Minister, das Netz der sozialen Sicherheit sei dichter gemacht worden, steht im Widerspruch zu der Entwicklung bei der Sozialhilfe. Wir alle haben die Mitteilungen erhalten, wie stark die Sozialhilfe-Ausgaben gestiegen sind, weil immer mehr Menschen zur Sozialhilfe gehen müssen. Hier stimmt etwas nicht; hier ist irgendwo etwas falsch gelaufen. Deshalb müssen wir dem Problem gründlich nachgehen. Bei einem Systemvergleich zwischen dem Ansteigen der Kriegsopferrenten und dem Ansteigen der Einkommen wird deutlich, daß die Kriegsopferrenten in den letzten Jahren den Steigerungsraten der Einkommen mit einer Phasenverschiebung zwar gefolgt sind, jedoch nicht in dem Umfang, wie ihn die Prozentzahlen klarmachen, die did Bundesregierung in den sozialpolitischen Informationen bekanntgegeben hat. Dort kann man zum Beispiel lesen, daß am 1. Juli 1976 durchschnittlich 117,6 % über dem Stand von 1969 gezahlt werden. Diese Angabe ist insofern nicht die lautere Wahrheit, als man den Vergleichszeitraum ab dem 1. Juli 1967 nehmen muß. Wenn Sie für diese zehn Jahre einen Vergleich mit den gestiegenen Löhnen ziehen, dann erkennen Sie, daß hier gewiß eine sinnvolle Entwicklung stattgefunden hat, aber nicht irgend etwas Überproportionales, wie Sie es mit diesem Zahlenspiel hinstellen. Wenn Sie mit diesen Prozentzahlen arbeiten, erwecken Sie einen gewissen Neidkomplex und erweisen den Kriegsopfern einen schlechten Dienst. Tatsache ist auch, daß die fortschreitende Entwicklung der Renten weithin durch die inflationäre Entwicklung der letzten Jahre wettgemacht wurde. Renteneinkommen sind durch Preissteigerungen ja stärker betroffen, weil die Teuerungen sich im Bereich der unteren und der mittleren Einkommen stärker auswirken. Darauf hat insbesondere die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände hingewiesen. Für uns besteht kein Anlaß, das System der Dynamisierung zu kritisieren. Aber die Gerechtigkeit den Kriegsopfern gegenüber gebietet, festzuhalten, daß nach dem Ergebnis eines längerfristigen Vergleichs vor allem die Kaufkraft der Versorgungsleistungen erhalten blieb. Der Etat von 11 Milliarden DM bei 2,3 Millionen Versorgungsberechtigten ergibt bei Umlegung auf das einzelne Kriegsopfer eine Durchschnittsrente von rund 399 DM. Diese Durchschnittszahl sagt zwar über den Einzelfall nichts aus. Doch zeigen der Vergleich und die Größenordnung, daß die Addition von Prozenten ein falsches Bild ergibt. Dieser Stil ist mir auch aus dem Bereich des Tarifrechts nicht bekannt. Deshalb sollten wir diese Sitte nicht in diesen Vergleich einführen. In den Becher der Freude fallen einige Wermutstropfen. Besonders die finanzielle Enge des Bundeshaushalts verhindert, daß vorhandene Lücken, Mängel und Rechtsnachteile im Versorgungsrecht beseitigt werden können. Für strukturelle Verbesserungen ist kein Geld da. Im Versorgungsrecht gibt es ja nicht die Rente schlechthin. Vielmehr sieht der Leistungskatalog des Bundesversorgungsgesetzes zunächst eine Grundentschädigung vor, die sich der Höhe nach von der Bewertung des erbrachten Opfers ableitet und die unabhängig vom Vermögen und vom Einkommen gewährt wird. Daneben stehen einkommensabhängige Rentenleistungen, zum Beispiel die sogenannten Ausgleichsrenten und der Schadensausgleich. Vor allem in den Neuordnungsgesetzen der 50er und 60er Jahre ist die Struktur des BVG entscheidend verbessert worden, während in den letzten Jahren eine wesentliche Fortentwicklung nicht möglich war. Durch das Haushaltsstrukturgesetz mußten sogar schmerzliche Eingriffe hingenommen werden. ({1}) - Lieber Kollege, ich bin ständig dabei. Ich rede über das ganze Bundesversorgungsgesetz. ({2}) Die Dynamisierung deckt auch die anderen Probleme nicht zu. Wir wissen, daß es auch noch strukturelle Probleme gibt, Kollege Geiger, und diese kann man mit der Leistung der Dynamisierung nicht zudecken, und die Fortentwicklung muß auch im strukturellen Bereich angestrebt werden. Sie wissen das ganz genau. ({3}) Erneut haben über das Wochenende, meine Damen und Herren, Sprecher aller Kriegsopferverbände gefordert, daß die schmerzlichen Kürzungen wieder korrigiert werden müssen. Die CDU/CSU wird dies heute im Falle der Witwenbeihilfe vorschlagen. Wir meinen, daß es sich vor allem bei dieser Einsparung nicht um die Beseitigung von Leistungsvorteilen handelt, die nicht mehr begründet sind, sondern um eine Einengung des Kausalitätsgrundsatzes. ({4}) Mein Kollege Maucher wird diesen Antrag besonders begründen. Die CDU/CSU ist grundsätzlich der Auffassung, daß Rentenansprüche - seien sie durch Beiträge, seien sie durch Sonderopfer begründet - die Qualität eines Eigentumsanspruches haben und Besitzstände sind, die nicht angetastet werden dürfen. Meine Damen und Herren, das bewährte Bundesversorgungsgesetz, seit über 25 Jahren in Kraft, ist in das soziale Entschädigungsrecht weiterentwickelt worden, und es wird im Sozialgesetzbuch nicht nur integriert, sondern auch für neue Personenkreise geöffnet. Diese Ausweitungen dürfen aber nicht zu Rechtsverschlechterungen für die Kriegsopfer führen, die durch ihr Sonderopfer besondere Leistungsansprüche begründet haben. Die Zahl der Kriegsopfer vermindert sich jährlich um mindestens 60 000. Meine Damen und Herren, allein im Jahre 1974 sind 94 000 Versorgungsberechtigte verstorben. Der prozentuelle Anteil des Kriegsopferetats ist heute vielleicht noch halb so groß wie vor zehn Jahren. Beschädigte und Witwen sind älter geworden. Deshalb meint die CDU/CSU: Keine Experimente bei der Kriegsopferversorgung! Die Politik der CDU/CSU will durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik und eine solide Finanzpolitik das Rentenrecht des Bundesversorgungsgesetzes langfristig absichern. Wir fordern heute abend die SPD und die FDP auf, den Anträgen der CDU/CSU, die noch begründet werden, zuzustimmen. Lieber Kollege Geiger, Ihr praller Optimismus und auch Ihre Voraussagen, Herr Arbeitsminister, geben mir jetzt die Hoffnung, Sie zu prüfen. Sie können jetzt den Beweis erbringen, daß Sie es ernst meinen. Es geht hier um 18 Millionen DM oder vielleicht um ein paar Millionen mehr, und wenn Sie es ernst gemeint haben mit Ihren Voraussagen über die Konjunktur und über eine verbesserte Finanzlage, mit Ihrem Optimismus, wenn Sie das nicht nur verbal und in Worten gemeint haben, dann können Sie jetzt unserem Petitum zustimmen ({5}) zur Verbesserung einer Regelung, die Sie eingeführt haben und die Ihnen nichts bringt als Unruhe in den nächsten Jahren, Verwaltungszunahme, gerichtliche Tätigkeiten, Unruhe unter den Kriegsopfern. Wenn Sie es ernst gemeint haben mit Ihrem Optimismus, dann stimmen Sie jetzt unserer Initiative zu! ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort in der allgemeinen Aussprache wird nicht weiter begehrt. Ich rufe Art. 1 Nummern 1 bis 18 auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so angenommen. Ich rufe Art. 1 Nr. 19 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 7/4988 Präsident Frau Renger vor. Das Wort dazu hat der Herr Abgeordnete Maucher. Sie begründen gleich alle Änderungsanträge? ({0}) - Der Herr Geschäftsführer hat mir gesagt, daß Sie alle Änderungsanträge begründen.

Eugen Maucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte, sich zunächst mit diesem Antrag zu befassen. Dann werde ich die weiteren zwei Änderungsanträge zusammen begründen. So habe ich es eben dargelegt. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß zunächst feststellen: es ist tragisch, daß wir um 21.30 Uhr über die wichtige Frage der Kriegsopferversorgung noch diskutieren müssen. Man könnte die Feststellung treffen, daß eigentlich der Bundeskanzler selbst die Schuld trägt. Hätte er sich nämlich auf sein Thema der Europapolitik beschränkt, wäre die Diskussion wie vorgesehen um 13 Uhr beendet gewesen. ({0}) So war es vorgesehen. Ich möchte der Frau Präsidentin und dem Vorstand den Vorschlag machen: Wenn ein Thema auf diese Weise überschritten wird, dann sollte der zweite Teil dieser Diskussion an den Schluß des parlamentarischen Tages gestellt werden, damit die Rentenversicherung und die Kriegsopferversorgung ausgiebig behandelt werden kann, wie es dem Rang dieser Themen entspricht. So hat man ein schlechtes Gewissen: Jeder einzelne denkt bei jedem Satz „Wird er bald aufhören?". Man kann nicht so eingehend über die Fragen diskutieren, wie es eigentlich notwendig wäre. Der Herr Bundesarbeitsminister hat den Sachverhalt im Zusammenhang mit der Kriegsopferversorgung dargelegt. Herr Bundesarbeitsminister, man könnte sagen: Mein Gott, Walter, wärst du katholisch, würde ich dir gratulieren, denn heute ist dein Namenstag! Immerhin, es wäre eine Möglichkeit, zu etwas zu gratulieren. Das nur nebenbei bemerkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist die Aufgabe übertragen worden, die von uns beantragte Änderung des § 48 des Bundesversorgungsgesetzes zu begründen. Ich bedauere außerordentlich, daß wir weder im Ausschuß noch hier ausreichend Zeit hatten, uns mit der Problematik, der Bedeutung und der Auswirkung für die Betroffenen eingehend auseinanderzusetzen. Ich habe den Eindruck, daß ein weiter Teil gar nicht begriffen hat, um was es sich hier handelt. Der § 48 hat eine große geschichtliche Entwicklung. Schon im Reichsversorgungsgesetz hat man diesem Paragraphen mehr Bedeutung zugemessen, als er jetzt in den Augen dieser Bundesregierung und der Regierungskoalition hat. Im Jahre 1948/49 in Bebenhausen hat diese Regelung eine besondere Rolle gespielt. Wir haben im Laufe der Jahre im Bundesversorgungsgesetz die Witwenbeihilfe für Frauen von Beschädigten ausgedehnt. Die letzte entscheidende Änderung war im Jahre 1964. Damals ist man von 80 % auf 70 % MdE heruntergegangen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege Maucher, entschuldigen Sie einen Moment. Wir sind nicht mehr in der allgemeinen Aussprache. Ich möchte Sie herzlich bitten, sich etwas kürzer zu fassen und sich auf die Begründung des Antrags zu beschränken. ({0})

Eugen Maucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht einzig und allein um § 48; über nichts anderes rede ich. Ich werde gar nicht vom Thema abweichen. Ich sagte ausdrücklich: Im Jahre 1964 hat man den § 48 ausgeweitet. Die Sozialdemokraten haben damals mit Leidenschaft für diese Regelung gekämpft. Ich empfehle Ihnen, Ihre Reden im Ausschuß und sonstwo darüber nachzulesen. Da müssen Sie sich fragen, wieso Sie heute zu dieser Problematik genau das Gegenteil behaupten können. Die Freien Demokraten waren böse; sie waren in der Koalition. Sie stellten bei der Besprechung mit dem Bundeskanzler Erhard sogar die Koalitionsfrage, weil sie nicht darüber unterrichtet wurden, daß ich diesen Antrag, der Mehrausgaben von damals 10 Millionen DM bedingte, einbrachte. Ich weise nur darauf hin, daß diese Regierung durch ihren Vorschlag, daß diese Koalition durch diese Beschlüsse nach 25 Jahren zum erstenmal eine Rechtsverschlechterung im Bundesversorgungsgesetz - und das für die Frauen von Schwerbeschädigten - vorgenommen hat. Das ist in der Bundesrepublik einmalig; in der ganzen Welt kennt man diesen Vorgang in der Nachkriegszeit nicht. ({0}) Was ebenso schlimm ist: Es tritt nicht nur eine Rechtsverschlechterung ein, sondern es ist auch gleichzeitig die Gleichbehandlung entscheidend verletzt. Ich darf feststellen, daß im Jahre 1976 in der Bundesrepublik Deutschland 5 000 Frauen von Schwerbeschädigten mit einer MdE zwischen 70 und 90 % der Witwenbeihilfe nicht mehr erhalten werden, die sie bisher bekommen haben. Nach der Berechnung des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg - die Herren Kollegen aus Baden-Württemberg haben ja auch vom VdK Briefe bekommen, in denen das steht; ich weiß nicht, wie viele Kollegen aus Baden-Württemberg da sind - werden davon in Baden-Württemberg etwa 500 Frauen betroffen sein. Der Grundgedanke, mit dem die Regierung das begründet, ist folgender. Sie sagt, eine Witwenbeihilfe könne nur gewährt werden, wenn ein kausaler Zusammenhang vorliege, d. h. wenn der Tod die Folge der Beschädigung sei oder auf Grund der Beschädigung ein Mindereinkommen der Witwe vorliege. Mit diesem Grundgedanken hat sich die Bundesregierung nach 25jähriger Dauer der bisherigen Regelung durchgesetzt. In Bebenhausen hat man gesagt, man unterstelle, daß ein zu 50 % Beschädigter nicht in der Lage sei, für das Alter vorzusorgen, wie das der Gesunde könne. Die Kausalität wird 16464 Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode Maucher mindestens ab 70 % unterstellt. Damit haben wir in einem hohen Ausmaß zweierlei Recht, was unvertretbar ist. Ich will es mir aus Zeitgründen ersparen, auf diese Problematik näher einzugehen. Ich muß aber global sagen: Nach dieser Regelung haben wir jetzt sechs Gruppen von Witwen, die unterschiedlich behandelt werden. Ein Wirrwarr ohnegleichen! Das hat man mehr oder weniger aus finanziellen Gründen getan. Im Ausschuß hat diese Koalition den Antrag gestellt, eine Auffanggrenze in das Gesetz einzubauen. Bisher haben die Abgeordneten dieser Koalition behauptet: nur diejenigen werden eine Witwenbeihilfe bekommen, deren Einkommen 1 500 DM nicht überschreitet. Und siehe da, jetzt stellt diese Koalition einen Antrag, nach dem diejenigen, deren Einkommen 276 DM nicht überschreitet, die Witwenbeihilfe bekommen. Hier wird nicht mehr die Kausalität geprüft, sondern die Bedürftigkeit. Im Grunde genommen helfen Sie den Leuten gar nicht, sondern Sie greifen dort auf die Sozialhilfe zurück, wo sie gewährt wird. Ein Vorgang - das sage ich Ihnen ganz offen -, der in der Geschichte der Sozialpolitik einmalig ist. ({1}) Kollege Gansel, Sie haben die Frage angesprochen, und Kollege Glombig, Sie haben von einem Skandal gesprochen, nämlich von dem Skandal, daß der Vorschlag der CDU/CSU eine Einkommensgrenze ab 1. Januar 1976 von 3 000 DM vorsehe. Wenn ich diese Diskussion mit der im Ausschuß vergleiche, muß ich Ihnen das Zeugnis ausstellen, daß Sie keinen blassen Dunst vom Bundesversorgungsgesetz haben; ({2}) sonst könnten Sie eine solche Darstellung überhaupt nicht geben. Ich darf Ihnen sagen: In § 33 des Bundesversorgungsgesetzes ist die Einkommensgrenze für alle Leistungen, die für den Lebensunterhalt gewährt werden, mit 276 DM festgelegt. Diese Einkommensgrenze ist gezogen worden, um Härten zu vermeiden. Nach dem Bundesversorgungsgesetz wird hier eben nur die Grundrente - nur in Höhe von zwei Dritteln - zugrunde gelegt. In allen anderen Bereichen kennt die Grundrente die einkommensgleiche Grenze nicht, weil dort nicht der Lebensunterhalt gesichert werden soll, sondern der entstandene Schaden ausgeglichen wird. Darin liegt die Problematik, die Sie - ich muß das außerordentlich bedauern - verkennen. Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch ganz kurz ein Wort zur Finanzierung sagen. Die CDU/CSU-Fraktion hat in elf Positionen - und zwar auf dem Gebiet der Aufwendungen für Propaganda - entsprechende Finanzierungsvorschläge gemacht. Ich bin der Meinung, daß diese 18 Millionen DM durchaus zugunsten der Witwen von Beschädigten abgezweigt werden können. ({3}) Ich weise ausdrücklich darauf hin: Wenn Sie das ablehnen, müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß Sie auf Kosten der Kriegerwitwen Propaganda machen. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage Ihnen vorweg: Sie sprechen von Mehraufwendungen, aber es sind in der Tat keine; denn eine solche Witwenbeihilfe wird dann gewährt, wenn vorher eine Beschädigtenrente, die höher ist, wegfällt, und deshalb entstehen gar nicht wirklich die Kosten, die immer wieder genannt werden. Es wird auch behauptet, die Kosten seien höher. Wenn das der Fall wäre, wären damit die Bundesregierung selbst und die Koalition Lügen gestraft; wir haben, was die Kosten anlangt, Ihre Zahlen übernommen. Ich darf feststellen, daß die CDU in ihrem Bemühen nicht nachlassen wird, das geschaffene Unrecht wiedergutzumachen. Ich bin befugt, im Namen meines Kollegen, des ehemaligen und künftigen Arbeitsministers Hans Katzer zu erklären: ({5}) Wenn die CDU Verantwortung trägt, wird es eine der ersten Aufgaben sein, dieses Unrecht zu beseitigen. ({6}) Und Sie können dann nicht mehr nachkommen, den Antrag so schnell wie möglich einzubringen, den Sie jetzt - was ich außerordentlich bedaure - ablehnen wollen. Wenn ich mir die Rede von Bundeskanzler Schmidt von heute vormittag vergegenwärtige ({7}) und wenn er vor diesem Hause sagt - er ist nicht mehr da -, die Witwen brauchten nicht mehr vor die Tore dieses Hauses zu treten und zu protestieren, ({8}) dann sage ich Ihnen: sie haben 1974 auf dem Marktplatz gegen diese Regierung protestiert. Wenn dieser Bundeskanzler am 10. Mai 1975 gegenüber dem Präsidium des VdK Deutschlands erklärt, bei den Kriegsopfern gebe es keine Abstriche, und nachher dem Kabinett einen Beschluß mit Kürzungen von 150 Millionen DM vorlegt, dann muß ich fragen - ich sage jetzt nicht „Lüge" ; das darf man hier nicht sagen -: Wer sagt die Wahrheit? ({9}) Ein Letztes. In der Frage, wer bei den Kriegsopfern recht hat und wer ihnen helfen will, können wir die Probe bestehen. Sie wären gut beraten, wenn Sie in -diesem Fall mit uns helfen würden, dieses Unrecht zu beseitigen. Ich bitte daher, diesem Antrag zuzustimmen. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Rede, die wir eben hörten, war, wie ich fast erschüttert feststellen muß, wohl mit großer Wahrscheinlichkeit die letzte Rede unseres Kollegen Eugen Maucher in diesem Hause. ({0}) - Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, die Zwischenrufe des Kollegen Maucher oder seine Reden. Diese letzte Rede jedenfalls kann ich eigentlich nicht bewundern. Das tut mir sehr leid, weil ich ihm den Dank für die jahrelange und jahrzehntelange Arbeit auch im Interesse der Kriegsopfer in diesem Hause aussprechen wollte, und ich glaube, das sollte man bei dieser Gelegenheit auch unter politischen Gegnern tun. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, das, was sich der Kollege Maucher hier geleistet hat, war natürlich eine Propaganda auf Kosten der Kriegerwitwen, und das war nicht gut. ({2}) - Ja, auf Kosten der Kriegerwitwen. Er hat hier versucht, auf Kosten der Kriegerwitwen ganz billig politisches Terrain zu erhaschen. Ich finde, das ist ihm nicht gelungen. Er hat es wohl auch gemerkt. Nun, meine Damen und Herren, wenn der alte Bundesarbeitsminister - ich meine „alt" in Anführungsstrichen: der, der bis zum Jahre 1969 Bundesarbeitsminister war - es bis dahin nicht geschafft hat, die Ungerechtigkeiten in der Kriegsopferversorgung zu beseitigen, so würde er, würde er wieder Bundesarbeitsminister werden, was ich nicht glaube und nicht hoffe, es ganz gewiß auch 1976/77 nicht schaffen. Denn sonst hätte er ja damals die Dynamisierung der Kriegsopferrenten eingeführt. Das hat er leider versäumt. Nun aber zu dem Antrag des Kollegen Maucher. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel?

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber schnell, Herr Kollege; wir haben nicht viel Zeit.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Glombig, können Sie vielleicht den Kollegen Maucher darüber aufklären, daß sich der ehemalige Arbeitsminister Katzer gegen die Behauptung, er würde das eines Tages sofort wieder ändern wollen, nur deshalb nicht wehren konnte, weil er bei dieser Debatte gar nicht anwesend ist?

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er war vorsichtig genug, nicht hier zu sein. Das ist wahr. Aber ich habe so etwas auch in irgendeiner Zeitung gelesen. Das liest sich gut, und es schreibt sich auch gut. ({0}) - Herr Kollege Maucher, lassen wir dieses Spielchen! Das hat doch keinen Sinn. Jetzt möchte ich einmal zu Ihrem Antrag etwas sagen. Es ist ja höchste Zeit. Vorweg möchte ich doch einmal feststellen, daß angesichts des nahenden Wahltermins die Opposition ihr sozialpolitisches Arsenal, das bisher ausgesprochen dürftig bestückt ist, mit dem einen oder anderen Gegenstand anreichern möchte. Wohl wissend, daß sie in den vergangenen Jahren bei der Politik zugunsten der Kriegsopfer tatsächlich im Abseits gestanden haben - das läßt sich beweisen -, versuchen CDU und CSU nun, durch Gesetzesanträge - wir haben das hier erlebt; das geht dann noch weiter zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes die Beschädigten und Hinterbliebenen zu beeindrucken. Mit diesem Antrag jedenfalls konnte der Kollege Maucher uns nicht beeindrucken. Der Gesetzentwurf der Opposition auf Drucksache 7/4584 bezieht sich auf die Bestimmungen des Bundesversorgungsgesetzes, die die Beihilfen für Witwen und Waisen regeln. Als Ziel ihres Gesetzentwurfs - ich darf das einmal übersetzen, Herr Kollege Maucher - gibt die CDU/CSU-Fraktion fälschlicherweise vor, den Anspruch auf Witwen- und Waisenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz wiederherstellen zu wollen, als würde er hier völlig verschwinden, was natürlich Unsinn ist. Es wird also so getan, als sei durch die Änderung des § 48 des Bundesversorgungsgesetzes im Rahmen des Haushaltsstrukturgesetzes die Witwen- und Waisenbeihilfe völlig weggefallen. Das ist keineswegs der Fall, und das festzustellen, ist wichtig. Richtig ist vielmehr, daß durch das Haushaltsstrukturgesetz ab 1. Januar 1976 lediglich die Anspruchsvoraussetzungen für die Witwen- und Waisenbeihilfe teilweise geändert worden sind. Aber es wurden auch neue Ansprüche geschaffen. Davon hat der Kollege Maucher nicht ein Wort gesagt; er hat es wissentlich verschwiegen. Bei dieser Gelegenheit aber sollte man ihn daran erinnern. Den Gesetzentwurf auf Drucksache 7/4585 hat nun die Opposition offensichtlich fallengelassen und dafür einen Änderungsantrag zu § 48 des Bundesversorgungsgesetzes im Zusammenhang mit dem Achten Anpassungsgesetz eingebracht. Nur so kann ich ja das, was sich hier vollzieht, verstehen. Dieser Antrag ist allerdings identisch mit dem Gesetzentwurf, der im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung keine Mehrheit fand. Um die tatsächlichen Zusammenhänge darzulegen und die falschen Darstellungen von CDU und CSU zu korrigieren, sind folgende Hinweise notwendig. Die Witwen- und Waisenrenten werden nach wie vor ungeschmälert gegeben. Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang noch einmal auf eine der widersprüchlichen Ausführungen des Kollegen Burger eingegangen werden, der z. B. gesagt hat: Es gebietet aber die Gerechtigkeit, den Kriegsopfern gegenüber festzuhalten, daß der längerfristige Vergleich ergibt, daß die Kaufkraft der Versorgungsleistung im wesentlichen erhalten blieb. Das ist nicht nur eine Untertreibung, sondern das ist ganz und gar falsch. Nun möchte ich Ihnen das einmal an einem Beispiel klarmachen, damit wir mit diesen völlig unsinnigen Behauptungen wirklich einmal aufräumen. Eine Vollwitwenrente betrug im Jahre 1969 150 DM. Am 1. Januar 1976 betrug sie 352 DM, eine Steigerung von 134,77 %; so genau - ich wundere mich selbst - kann auch ich rechnen, wenn es sein muß, aber auf Grund der Zahlen, die das Statistische Bundesamt gegeben hat; ich phantasiere sie nicht. Der Preisindex der Rentner und Sozialhilfeempfänger ist in derselben Zeit um 37,32 % gestiegen. Fazit: Die reale Kaufkraftsteigerung für die Kriegerwitwen beträgt 59,25 %, und das ist exakt gerechnet. Das sieht doch ganz anders aus als das, was Sie hier so schlicht, aber falsch behauptet haben. Die Witwen- und Waisenbeihilfen werden unter bestimmten Voraussetzungen nur dann gezahlt, wenn kein Anspruch auf Witwen- oder Waisenrente besteht, d. h. nur in den Fällen, in denen kein Zusammenhang zwischen dem Tod des Ernährers und der anerkannten Schädigungsfolge gegeben ist, nur dann. Durch das Haushaltsstrukturgesetz wurde die Beihilferegelung stärker am Ziel der sozialen Entschädigung, nämlich am Ziel der Kausalität ausgerichtet. Die Beihilferegelung setzt voraus, daß sich die Schädigungsfolge mindernd auf die Hinterbliebenenversorgung auswirkt und daß die Hinterbliebenenversorgung nicht bereits durch andere Einkünfte sichergestellt ist. War der Schwerbeschädigte infolge seiner Beschädigung daran gehindert, eine ausreichende Versorgung für seine Hinterbliebenen aufzubauen, und haben seine Hinterbliebenen nicht genügend Einkommen, dann haben sie im Gegensatz zur Regelung vor dem 1. Januar 1976 sogar ohne Ausnahme einen Rechtsanspruch auf Beihilfe. Das ist neu, und das sollten Sie nun endlich einmal zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren von der Opposition, und das hier nicht wohlweislich verschweigen. Die Hinterbliebenenversorgung ist gemindert, wenn der Beschädigte infolge seiner Schädigung nur beschränkt erwerbstätig sein konnte. Dies wird generell bei Erwerbsunfähigen, bei Pflegezulageempfängern und bei Beschädigten, die mindestens fünf Jahre lang Anspruch auf Berufsschadensausgleich hatten, ohne weitere Prüfung unterstellt. Für die Beurteilung der Bedürftigkeit wurden im Gesetz klare, an die allgemeine Bemessungsgrundlage der gesetzlichen Rentenversicherung geknüpfte Einkommensgrenzen gezogen. Die Anbindung an die allgemeine Bemessungsgrundlage bedeutet also, daß nur solche Hinterbliebenen von der Beihilfe ausgeschlossen werden, deren anzurechnendes Einkommen derzeit - und nun hören Sie einmal zu gegenüber dem, was der Kollege Maucher hier gesagt hat - 1 531 DM monatlich übersteigt. Das ist die Voraussetzung für den Entzug der Witwenbeihilfe. Diese Einkommensgrenze ist dynamisiert. ({1}) Sie wird daher ab 1. Juli dieses Jahres etwa 1 700 DM betragen. Den Hinterbliebenen von erwerbsunfähigen Beschädigten, zum Beispiel Kriegsblinden, steht weiterhin ungeachtet der Höhe ihres Einkommens eine Beihilfe zu. Eine Ubergangsvorschrift stellt zudem sicher, daß durch die Neuregelung nur Fälle betroffen werden, in denen der Beschädigte nach dem Inkrafttreten der Änderung gestorben ist. Das heißt, daß niemandem, der eine Beihilfe bezieht, durch diese Regelung auch nur ein Pfennig genommen wird. Das ist eine weitere Tatsache. Der Opposition geht es darüber hinaus um die Versorgung der Hinterbliebenen von Beschäftigten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 bis 90 v. H., deren wirtschaftliche Lage durch die Schädigung des Mannes oder Vaters tatsächlich nicht beeinträchtigt worden ist. Diese Hinterbliebenen würden gegenüber den anderen Hinterbliebenen ohne ersichtlichen Grund bessergestellt werden. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß das ausreicht, um zu beweisen, daß dieser Antrag der CDU/CSU von uns abgelehnt werden muß. Es drängt sich gerade auch bei dieser Ablehnung die Frage nach der neuen Einkommensgrenze der Opposition auf, die jetzt sogar 2 760 DM bzw. 3 060 DM betragen soll. Wenn wir bedenken, daß die Witwe eines Rentners, bei dem die Rente nach 50jähriger Berufstätigkeit, nach einem vollen Erwerbsleben und bei einer persönlichen Bemessungsgrundlage von 150 v. H. berechnet worden ist, zur Zeit monatlich 1 031 DM bekommen würde, so stellen wir gleichzeitig fest, daß dieser Betrag noch unter der Einkommensgrenze des Gesetzesvorschlages der Regierungskoalition liegt. Ich meine, daß das ausreicht, Sie wirklich davon zu überzeugen, daß dieser Antrag der Opposition weit über das hinausgeht, was wir verantworten können. Was den Finanzierungsvorschlag angeht, so kann ich nur sagen: Das ist nun wirklich das Unseriöseste an Finanzierungsvorschlägen überhaupt, diesen Antrag, der durch nichts begründet ist, mit dem Betrag zu finanzieren, der dem Bundesarbeitsminister für die Aufklärung der Versicherten und der Versorgungsberechtigten zusteht. Ich bitte Sie, diesen Antrag abzulehnen. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich lasse abstimmen über Drucksache 4988, Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. ({0}) Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer dem Art. 1 Nr. 19 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich rufe auf Art. 1 Nrn. 20 bis 25. Wer den aufgerufenen Bestimmungen in der Fassung des Ausschußantrages zuzustimmen wünscht, den bitte ich Präsident Frau Renger um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich rufe Art. 1 a Nr. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 4989 unter Buchstabe a ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Das Wort zur Begründung hat Herr Abgeordneter Maucher. ({1})

Eugen Maucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist an sich bedrückend, diese Ungeduld zu sehen, wenn es um Probleme der Kriegsopfer und der Behinderten geht und ein Antrag dazu begründet wird. Warum diese Ungeduld? Wir haben den ganzen Tag sehr viel Zeit für die Diskussion über die Europapolitik verwandt. Wir sollten deshalb jetzt noch etwas Geduld haben und uns der Fragen, die bezüglich der Behinderten anstehen, noch annehmen. ({0}) Ich glaube, auch draußen wird es verfolgt, wie wir darüber denken. ({1}) Ich will jetzt in aller Ruhe und Sachlichkeit darauf hinweisen, daß wir über die Ausweise überraschend einen Antrag von der Koalition im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgelegt bekamen. Wir haben diskutiert und haben eingehend beraten. Ich habe eine Reihe von Fragen gestellt und war durchaus der Meinung, man könnte dieses Gesetz in dieser Form passieren lassen. Das Hohe Haus hat die Behindertengesetze in voller Einmütigkeit beraten und gestaltet. Nach der Beratung habe ich aber keine Ruhe gehabt. Ich habe mich mit den Fachleuten unterhalten und alle Bestimmungen eingehend überprüft. Ich kam dann zu dem Ergebnis, daß es sich in Art. 1 a um ein Problem von ganz besonderer Bedeutung handelt. Hier geht es vor allem darum, daß für die Behinderten der gleiche Rechtszug gewährleistet werden soll, wie er für die Kriegsbeschädigten gilt. Es ist nämlich vorgesehen, daß nur dann die Berufung beim Landessozialgericht zugelassen werden soll, wenn es sich um die Grundsatzfrage handelt, ob die Behinderteneigenschaft anerkannt wird, nicht aber, wenn es um eine höhere Erwerbsminderung geht. Ich will ein Beispiel geben: Wenn einer von 70 nach 80 % gestuft werden soll, würde das bedeuten, daß die Berufung nicht mehr zugelassen wird. Wenn ein Kriegsbeschädigter von 70 auf 80 % will, wird die Berufung zugelassen. Es ist in der Tat so, daß es hier ebenso um materielles Recht geht, weil damit die Frage im Zusammenhang steht, ob eine gewisse Steuererleichterung in Betracht kommt oder nicht. Zweitens erhebt sich die Frage, ob in diesem Falle auch bei der künftigen Gestaltung der Personenbeförderung mit 70 oder 80 % ein entsprechender Anspruch geltend gemacht wird. Aus diesem Grunde sind wir der Meinung, daß, wie von uns beantragt, die Sätze 3 und 4 gestrichen werden sollen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich auch noch den letzten Antrag begründen. Da geht es darum, in Art. 1 a die Nr. 2 zu streichen. Durch die Formulierung, die der Ausschuß beschlossen hat, soll die Regierung ermächtigt werden, durch Rechtsverordnung nähere Vorschriften über die Verwendung der Ausgleichsabgabe zu erlassen. In der Ausschußberatung habe ich ausdrücklich gefragt, ob die Länder mit dieser Regelung einverstanden seien. Die Antwort lautete ja. Hierzu darf ich feststellen, daß in der Tat auf Grund der Mitteilung auch ich selbst der Meinung war, man könne diese Formulierung passieren lassen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir aber, daß ich als Begründung nicht meine persönliche Meinung sage, sondern die Meinung der Hauptfürsorgestellen, wie sie in Kassel damals verabschiedet wurde: Eine solche Ermächtigung, von der mit Sicherheit Gebrauch gemacht wird, ist meines Erachtens - so schreibt der Vorsitzende aus grundsätzlichen Erwägungen im Hinblick auf die föderative Durchführung des Schwerbeschädigtengesetzes bedenklich und schränkt die Möglichkeiten, über die Ausgleichsabgabe vor Ort - das scheint mir wesentlich zu sein im Rahmen der regional gegebenen, ländermäßig durchaus unterschiedlichen Notwendigkeiten zu verfügen, stark ein, ganz abgesehen von der Einschränkung der in § 29 Abs. 1 des Schwerbehindertengesetzes festgelegten entsprechenden Funktionen des beratenden Ausschusses für Behinderte bei der Hauptfürsorgestelle. Sicherlich wird es erforderlich sein, auch im Hinblick auf den durch die Rechtsverordnung nach § 8 Abs. 4 Satz 2 des Schwerbehindertengesetzes vorgesehenen sogenannten Finanzausgleich weitgehend einheitliche Maßstäbe bei bestimmten Leistungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe festzulegen, so z. B. bei den Hilfen zur Beschaffung von Kraftfahrzeugen zur Erreichung von Arbeitsplatz usw. Ich darf feststellen, um das abzukürzen: Sie sind übereinstimmend der Meinung, daß die Zeit noch zu kurz ist, um auf Grund der Erfahrungen einer solchen Ermächtigung zuzustimmen. Ich bin aber ebenso überzeugt, daß der Bundesrat eine solche Bestimmung wahrscheinlich nicht passieren lassen wird. Deshalb möchte ich Sie höflich bitten, daß Sie in diesem Fall diesen beiden von mir begründeten Anträgen zustimmen. Damit könnten wir die Gemeinsamkeit der Auffassungen zum Behindertenrecht miteinander fortsetzen. Die Anträge sind überlegt, und ich darf feststellen, nicht nur ich, auch verschiedene Kriegsopferverbände, VdK, Kriegsblindenbund, haben diese meine Auffassung. Ich habe die Dinge auch in anderen Kreisen besprochen. Ich glaube, es liegt im Sinne der Betroffenen, wenn Sie diesem Antrag zustimmen. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre sicherlich für uns alle und nicht zuletzt auch für mich einfacher gewesen, wenn der Kollege Maucher den Vorschlag der Frau Präsidentin aufgenommen und alle Anträge zusammen begründet hätte. Dann hätte sich hier alles zweifellos viel reibungsloser abwickeln lassen. Zu dem Antrag, der soeben begründet worden ist, ist zu sagen, daß die Beschränkungen der Berufungsmöglichkeit auf Fälle, in denen vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit die Schwerbehinderteneigenschaft und die Gleichstellungsmöglichkeit abhängen, bereits im geltenden Schwerbehindertengesetz geregelt sind. Damals haben sowohl die CDU/ CSU-Fraktion als auch die Bundesländer ihre Zustimmung zu dieser Regelung gegeben. Ich verstehe deswegen die ganze Aufregung nicht und weiß auch wirklich nicht, warum die Opposition nicht ihre Zustimmung zu dieser Parallelbestimmung beim Ausweis- und Vergünstigungswesen geben will. Die Entlastung der Landessozialgerichte von Berufungsverfahren ist bisher ein unstrittiges Anliegen aller Fraktionen gewesen. Offenbar möchte sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion durch ihren Antrag von dieser Haltung in der Vergangenheit distanzieren. ({0}) - Anders kann man das gar nicht werten. Die neue Bestimmung bedeutet für die Behinderten keine unzumutbare Belastung. Sie haben nämlich ausreichend Gelegenheit, im Feststellungsverfahren, im Widerspruchsverfahren und in der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit den Grad ihrer Behinderung feststellen und überprüfen zu lassen. Der Ausschuß hat zudem beschlossen - meine Damen und Herren, ich muß Sie daran erinnern -, die Bundesregierung zu ermächtigen, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Verwendung der Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz zu erlassen. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung, die Sie jetzt bestreiten, Herr Kollege Maucher, wurde im Ausschuß ausführlich - übrigens für Sie zum Mitschreiben; ich kann mich sehr genau daran erinnern; das Protokoll weist das aus - dargelegt und es tut mir sehr leid, daß Sie die Argumente nicht begriffen haben und daß wir jetzt das ganze Plenum damit noch einmal aufhalten müssen -, und zwar mit dem Ergebnis - Sie werden staunen, wenn Sie das jetzt hören -, daß sich auch die Opposition dem Antrag der Koalitionsfraktionen im Ausschuß voll angeschlossen hat. ({1}) - Ich meine, dann ist das, was Sie hier machen, doch völlig witzlos. Daher ist und bleibt es unverständlich, weshalb die Opposition jetzt die Streichung dieser Vorschrift fordert. Die Notwendigkeit, nähere Regelungen auch über die Verwendung des Teils der Ausgleichsabgabe zu treffen, der den Hauptfürsorgestellen zufließt, liegt doch auf der Hand. Nun soll das noch einmal wiederholt werden. Sie ist auch von den Ländervertretern im Beirat für die Rehabilitation der Behinderten, sogar von dem Vertreter Baden-Württembergs, ausdrücklich anerkannt und gebilligt worden. Ich weiß gar nicht, was dieser Aufstand soll. Es muß nämlich sichergestellt werden - das haben auch die Länder anerkannt -, daß. die Hauptfürsorgestellen bei der Verwendung der Ausgleichsabgabe bundeseinheitlich verfahren. Diese Einheitlichkeit ist zum einen im Interesse gleicher Leistung für alle Behinderten geboten; sie ist zum anderen erforderlich, um die beabsichtigten Förderungszwecke zu erreichen. Vor allem muß eine sinnvolle Abstimmung mit den Mitteln des Ausgleichsfonds beim Bundesarbeitsminister und mit sonstigen Förderungsmitteln zur beruflichen Rehabilitation gewährleistet sein. Lassen Sie es mit diesen Begründungen genug sein, die, meine ich, zwangsläufig zur Ablehnung Ihres Antrages führen müssen. Ich bedaure es, daß Sie uns heute abend hier derart in Atem halten. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/4989, Buchstabe a. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer Art. 1 a Nr. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Ich lasse jetzt über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/4989, Buchstabe b abstimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer Art. 1 a Nr. 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Vorschrift ist angenommen. Ich rufe Art. 1 a Nrn. 3 bis 5, Art. 1 b, Art. 2 bis 5 in der Fassung des Ausschußantrags sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - In zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung. Das Wort hat Herr Abgeordneter Geisenhofer.

Franz Xaver Geisenhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000653, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich den Vorwurf, den heute früh der Herr Bundeskanzler und vorhin auch der Herr Bundesarbeitsminister erhoben haben, daß die Kriegs- und Wehrdienstopfer zu Unionszeiten die Bittsteller der Nation gewesen sind, mit Nachdruck zurückweisen. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben soeben gesagt, die Kriegsopfer brauchten nicht mehr auf die Straße zu gehen. Abgesehen davon, daß das eine Unwahrheit ist, muß ich sagen: Dann sind die friedlichen Bittsteller von damals zu Demonstranten gegen die SPD/FDP-Regierung von heute geworden. ({0}) Tatsache ist, daß die Kriegsopfer und der VdK heute demonstrieren müssen, weil die SPD/FDP-Koalition die Leistungen, die den Kriegsopfern durch eine CDU/CSU-Regierung gewährt wurden, jetzt in einer Höhe von 150 Millionen DM wieder weggenommen hat. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist auch eine traurige Tatsache, daß man bei den Kriegsopfern Millionenbeträge in einer Zeit kürzt, wo man den Propagandahaushalt der Bundesregierung um Millionen erhöht. ({2}) Herr Arbeitsminister Arendt hat heute in seinen Ausführungen wieder ein Wohlstandsbild für die Kriegsopfer gezeichnet, das in der Realität einfach nicht zutrifft. Durch die prozentualen Hochrechnungen propagandistischer Art, ohne die Inflationsrate abzuziehen und ohne zu sagen, daß infolge von Anrechnungsbestimmungen das, was die eine Hand gibt, in vielen Fällen die andere Hand wieder wegnimmt, wird ein falsches Bild über den Wohlstand der Kriegsopfer gezeichnet. Das verursacht draußen große Verbitterung. ({3}) Ich darf noch folgendes hinzufügen. Es wird von Milliardenerhöhungen gesprochen. Millionen davon fließen aber in die Verrechnungsstellen der Sozialhilfe. Auch das muß gesagt werden. Meine Damen und Herren, die Kriegsopfer leben einfach nicht von Propagandaprozentsätzen der Regierung, sondern von der Kaufkraft des Geldes, und die hat unter Ihrer Regierungszeit hart gelitten. Lassen Sie mich, damit man die Dinge in diesem Hohen Hause auch einmal von der Basis her überlegt, mit Nachdruck sagen: Die Inflationsrate trifft die Kriegsopferrentnerhaushalte wesentlich höher und härter, weil die Mieten sowie die Preise für Grundnahrungsmittel, Heizung, Strom und Gas viel stärker gestiegen sind als um die Durchschnittsinflationsrate von 6 %. In den kleinen Haushaltungen sind Teuerungen von fast 11 bis 12 % eingetreten. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Entwurf eines Achten Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes zu, bedauert aber zutiefst, daß der Antrag zu § 48 - Herr Kollege Maucher hat den Antrag begründet, er wurde abgelehnt - betreffend Wiederherstellung des alten Rechts für Witwen- und Waisenhilfen von Ihnen niedergestimmt worden ist. Nach unserer Auffassung verlieren dadurch - und nun hören Sie zu, was Sie angerichtet haben! - allein im Jahre 1976 5- bis 6 000 Witwen und Waisen ihren Anspruch auf Witwen- und Waisenbeihilfe. In Zukunft werden die Hinterbliebenen von Beschädigten, die nach dem 31. Dezember 1976 verstorben sind, wesentlich schlechter behandelt als die Hinterbliebenen von vorher Verstorbenen. Sie haben dadurch zweierlei Recht geschaffen, und wer zweierlei Recht in ein und derselben Sache schafft, schafft immer ein großes Unrecht. Meine Damen und Herren, Herr Glombig hat soeben versucht, die Auswirkungen Ihres unsozialen Handelns zu verniedlichen. Wäre Ihre Behauptung richtig, Herr Glombig - sie wurde auch im Ausschuß so aufgestellt -, daß ab 1. Januar 1976 nur die Witwen ihre Beihilfe verlieren, deren Einkommen 1 530 DM übersteigt, so würde die von der Bundesregierung allein für 1976 angesetzte Einsparung in Höhe von 18 Millionen DM niemals erreicht werden. Ihr heute vorgelegter Mini-Verbesserungsantrag wäre im übrigen ohne die CDU/CSU-Gesetzesinitiative niemals eingereicht worden. Wir haben ihm zugestimmt, weil wir für jede Mark Verbesserung für die Kriegsopfer dankbar sind. Dies ist jedoch beschämend: Auf der einen Seite streichen Sie 18 Millionen DM, und auf der anderen Seite gewähren Sie zusätzlich 100 000 DM. Das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Es ist bedauerlich - die heutige Debatte hat dies gezeigt -, daß gerade die SPD-Sprecher krampfhaft nach Argumenten gesucht haben, um die Verschlechterung im Bereich der Witwen-. und Waisenbeihilfe um 18 Millionen DM zu rechtfertigen. Ich habe den Eindruck, Sie haben ein ganz ungutes Gefühl wegen Ihres unsozialen Handelns. Sie sind doch angeblich angetreten, den sozial Schwachen zu helfen. Quo vadis? SPD, wohin gehst du? ({4}) Hätte eine CDU/CSU-Regierung so gehandelt, würden Sie landauf, landab ziehen und uns der sozialen Demontage bezichtigen. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU stimmt dem Achten Anpassungsgesetz zu. Für Ihre ablehnende Haltung gegenüber unserer Forderung zu § 48 betreffend Wiederherstellung der Witwen- und Waisenbeihilfe haben wir kein Verständnis. Nehmen Sie zur Kenntnis: Auch die geschädigten Kriegsopfer haben dafür kein Verständnis. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Jaschke.

Günter Jaschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001021, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon 22 Uhr durch, und war haben noch zwei umfangreiche Tagesordnungspunkte zu bewältigen. Ich hatte zwar auch eine, wie ich glaube, gute Rede vorbereitet; da aber, wie ich sehe, die Helden rechts und links müde sind, will ich mich auf zwei, drei Bemerkungen - ich hoffe, in einer Minute - beschränken. Da die Sachargumente für dieses Gesetz bereits von unserem Bundesarbeitsminister und von meinem Kollegen Glombig vorgetragen worden sind, hätte ich sie in vielen Fällen ohnehin nur wiederholen können. Vielleicht kann man es mit einem Satz sagen: Seit Bestehen der Bundesrepublik hat immer der Wehretat den Vorrang gehabt; er war von jeher der größte in unserem Haushalt. Seitdem diese Bundesregierung im Amt ist und dieser Bundesarbeitsminister das Ressort führt, ist erstmals der Sozialhaushalt der stärkste. Ich glaube, dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen. ({0}) Ich sage nicht mehr, als daß ich alle bitte - dies ist ja schon von den Vorrednern und auch von der Opposition gesagt worden -, diesem Gesetz zuzustimmen. Dann tun Sie etwas Gutes für unsere Kriegsopfer. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordnete Schmidt ({0}).

Hansheinrich Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002006, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zur dritten Lesung des Achten Kriegsopferversorgungs-Anpassungsgesetzes drei Bemerkungen seitens der Freien Demokraten. Erstens. Ich stimme dem Kollegen Maucher darin zu, daß es keine sehr gute Sache ist, zu so später Abendstunde über die Kriegsopferversorgung zu beraten. Ich muß aber sagen, angesichts dessen, was hier im Rahmen der zweiten Lesung an Antragsbegründungen geboten wurde, ist es gut, daß wir zu so später Stunde über diesen Punkt beraten, weil die Kriegsopfer das, was hier gesagt wurde - wenn sie die Debatte verfolgt hätten -, nicht kapiert hätten. ({0}) Meine zweite Bemerkung. Herr Kollege Geisenhofer, Sie haben von Demonstrationen gesprochen. Dazu muß ich nochmals eine Feststellung treffen. ({1}) Herr Kollege Geisenhofer, nun wollen wir ganz nüchtern reden, wenn Sie mich schon ansprechen. Das, was Sie Demonstration nannten, war eine Zusammenkunft von Funktionären des VdK und keine Demonstration. Dort haben wir darüber diskutiert. Das wollte ich klarstellen. Auch ich bin Mitglied des VdK. Aber das war keine Demonstration. ({2}) -- Meine zweite Bemerkung soll kurz sein. Doch Sie können sie durch Ihre Zwischenrufe verlängern. - Wenn es echte und notwendige Demonstrationen gab, dann lagen sie vor 1969, als um die Anpassungen auf der Straße gekämpft werden mußte, aber nicht nach 1969. Das wollen wir hier ganz klar festhalten. Meine dritte und zugleich letzte Bemerkung. Wir Freien Demokraten stimmen diesem Gesetz zu, weil damit zum achtenmal im Rahmen der sozialliberalen Koalition eine Anpassung erfolgt - eine Anpassung mit folgenden Größenordnungen: 1976 418 Millionen DM, 1977 817 Millionen DM, 1978 799 Millionen DM und 1979 780 Millionen DM. Bei diesen insgesamt 2,8 Milliarden DM zusätzlicher Leistungen aus dem Kriegsopferetat halte ich es für beschämend, daß man um 10 Millionen DM ein solches Theater macht. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen. Es liegen weitere Ausschußanträge vor. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/4960 unter Nr. 2, den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes durch den soeben gefaßten Beschluß für erledigt zu erklären, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Ausschußantrag ist angenommen. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/4960 unter Nr. 3, den Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Ausschußantrag ist angenommen. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/4960 unter Nr. 4, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Ausschußantrag ist angenommen. Die Fraktion der CDU/CSU beantragt auf Drucksache 7/4990 die Annahme einer Entschließung. Dazu wird die Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beantragt. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Damit ist zu beschlossen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines . . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 7/4958 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Ich rufe diesen Punkt auf. Präsident Frau Renger Das Wort wird nicht begehrt. Es ist Überweisung an den Rechtsausschuß als federführenden Ausschuß und an den Innenausschuß zur Mitberatung vorgeschlagen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist diese Überweisung so beschlossen. Nun rufe ich die Punkte 5 a und 5 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes - Drucksache 7/3730 - aa) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 7/4843 - Berichterstatter: Abgeordneter Krampe bb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) - Drucksache 7/4841 Berichterstatter: Abgeordneter Biermann ({4}) b) Zweite Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes - Drucksache 7/4206 Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 7/4811 Berichterstatter: Abgeordneter Biermann ({6}) In der allgemeinen Aussprache hat der Abgeordnete Biermann das Wort.

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der von den Koalitionsfraktionen am 20. Juni 1975 eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes steht heute, nachdem sich der Verteidigungsausschuß, der Innenausschuß und der Haushaltsausschuß mitberatend und der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung federführend damit befaßt haben, zur Verabschiedung in zweiter und dritter Lesung in diesem Haus an. Ziel dieses Gesetzes war und ist, dem jungen Staatsbürger bei der Wahrnehmung des Grundrechts, den Kriegsdienst zu verweigern, nicht noch länger die rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätze vorzuenthalten, ({0}) Grundsätze, die in anderen Rechtsbereichen selbstverständlich sind. Wir wollen nicht länger hinnehmen, daß Recht noch weiter vorenthalten werden kann. Wir würden - so meine ich - in diesem Zusammenhang einen wichtigen Artikel unserer Verfassung selbst nicht ernst nehmen. Kein Mensch will doch ernsthaft bestreiten, daß die derzeitigen Prüfungsverfahren, ihre Durchführung, unserem Rechtsstaat nicht angemessen sind. Ich sage hier von dieser Stelle noch einmal: Die Gewissensentscheidung eines jeden einzelnen Bürgers ist letztlich ein interner Vorgang und entzieht sich damit naturgemäß der unmittelbaren Kontrolle durch andere. Die Prüfungsgremien waren immer auf nach außen wirkende Indizien angewiesen, und Fehlentscheidungen mit uns allen bekannten tragischen Folgen waren daher unvermeidlich. Diese bisherige Verfahrensregelung, die allein vom Antragsteller, vom Bürger, der ein Grundrecht für sich in Anspruch nehmen wollte, den Nachweis für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung forderte, legte die Entscheidung praktisch in das freie Ermessen der Prüfungsgremien. Die Ausübung dieses Ermessens hing dabei weitgehend von der Zusammensetzung der Prüfungsgremien ab und war deshalb je nach Tag und Ort unterschiedlich. Auch Stimmungen, festgelegte Ausgangspositionen, Vorurteile, unsichere Verfahrensweisen, unklare Fragestellungen, Fangfragen ließen zunehmend den Eindruck willkürlicher Entscheidungen entstehen. ({1}) Sie machten aber auch ebenso deutlich, daß alle an solchen Verfahren Beteiligten einfach überfordert waren, und wer mit denen, die in diesen Ausschüssen und Kammern tätig sein mußten, einmal Gespräche geführt hat, wird deutlich festgestellt haben, wie unwohl man sich fühlte, wenn man in dieser Weise tatsächlich urteilen - um es einmal so auszudrücken - sollte. ({2}) Selbst die Verwaltungsgerichte beklagten sich immer wieder über die unzulänglichen und unzureichenden Unterlagen, die ihnen von den Prüfungsgremien für deren Entscheidungsgründe überlassen wurden. Diese Unzulänglichkeiten und damit - so kann man wohl sagen - diese Unzumutbarkeiten für einen Antragsteller können Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrem Entwurf ganz sicher nicht beseitigen. ({3}) Dies können Sie auch dadurch nicht, daß Sie - ich würde es so nennen - einen Vorsortierer nach Aktenlage oder - vielleicht etwas höflicher ausgedrückt - einen Einzelrichter vorschalten wollen. Hierfür wollen Sie schließlich die bisherigen Prüfungsausschüsse abschaffen. Ihr Entwurf hilft nach meiner Rechtsauffassung auch nicht der Rechtsstaatlichkeit, sondern bestenfalls der Beschleunigung dieses Verfahrens. Er beseitigt keinesfalls das derzeit noch vorhandene Lotteriespiel, das nach Ihrem Entwurf so weitergehen würde. ({4}) Ich bin sicher, Frau Tübler, Sie werden gleich vortragen, daß Ihr Entwurf und Ihre Anträge nicht ernsthaft geprüft worden seien. Wenn Sie an den Beratungen im federführenden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung teilgenommen hätten, dann hätten Sie Ihre Kollegen aus Ihrer Fraktion erleben können, wie sie zu unseren Anträgen und auch zu unserem Entwurf nichts zu sagen hatten. Sie haben sich in Enthaltung geübt. Das war auch die einzige Übung, die sie dort fertigbrachten, und zum guten Schluß haben sie gegen unseren Gesetzentwurf und für ihren Entwurf gestimmt. Es war eine wirklich „aufschlußreiche" Beratung, die wir in diesem Zusammenhang erleben konnten. Wenn man in diesem Zusammenhang von Ernsthaftigkeit spricht: Mein Gott, ich habe mir immer etwas anderes darunter vorgestellt. Ich will Ihnen das nur sagen. Die Koalitionsfraktionen, deren Entwurf hier zur Verabschiedung ansteht, ziehen meines Erachtens aus dem bisherigen Debakel die richtig abgewogene Konsequenz. Mit diesem Gesetz bleibt die gesetzlich festgelegte Wehrpflicht uneingeschränkt erhalten. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bleibt unangetastet; sie wird meines Erachtens zudem zusätzlich gesichert. Das würden Sie erfahren, wenn Sie einmal in die Truppe hineinsähen, wenn Sie insbesondere mit denen sprächen, die sich dort mit diesen Bereichen zu beschäftigen haben. Dem Verfassungsgebot, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu achten, wird in einer verfassungsgemäßen Form Rechnung getragen, oder besser gesagt, Geltung verschafft. Das bisherige mangelhafte Verfahren wird durch eine Regelung abgelöst, die in abgewogener Form dem Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes ebenso entspricht wie den Notwendigkeiten der Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr. Kurz formuliert würde ich sagen: Dieses Gesetz sichert die Freiheit der Gewissensentscheidung so weit wie möglich und erfüllt die Sicherstellung des Verteidigungsauftrags so weit wie nötig. ({5}) - Wissen Sie, Herr Dr. Wörner, Ihre Fragen kenne ich. Aber solange sie in dieser oberflächlichen Art beibehalten werden, halten wir sie gut aus. Lassen Sie mich zu den wesentlichen Inhalten dieses Gesetzes kommen. Dieses Gesetz sieht erstens vor, die Prüfungsverfahren überall dort nicht mehr durchzuführen, wo es nicht unbedingt notwendig ist. Das heißt, für ungediente Wehrpflichtige, die noch nicht zur Bundeswehr einberufen worden sind und sich auf das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes berufen, wird das Verfahren nicht abgeschafft, sondern ausgesetzt. Sie gelten dann als anerkannte Kriegsdienstverweigerer, wenn sie den Zivildienst leisten oder wenn vom Tag der Antragstellung an zwei Jahre vergangen sind. Das ausgesetzte Prüfungsverfahren kann durch Rechtsverordnung von der Bundesregierung für ungediente Wehrpflichtige, deren Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch nicht festgestellt ist, wieder eingeführt werden, wenn die Sicherstellung der Verteidigungsbereitschaft dieses erfordert. Allerdings kann der. Bundestag die Aufhebung einer solchen Rechtsverordnung innerhalb von sechs Wochen verlangen. Zweitens. Für Wehrpflichtige, die bereits zum Wehrdienst einberufen sind, für Soldaten und für Reservisten wird ein Prüfungsverfahren in modifizierter Form grundsätzlich beibehalten. Das Wehrdienstverhältnis eines den Kriegsdienst verweigernden Soldaten kann jedoch auch ohne Verfahren in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt werden. Die Dienstzeit bei der Bundeswehr wird natürlich auf die Zivildienstzeit angerechnet. Drittens. In Fällen, in denen ein Verfahren zur Prüfung der Berechtigung, den Kriegsdienst zu verweigern, stattfindet, tritt an die Stelle dieses Anerkennungsverfahrens nach dem Wehrdienstgesetz ein Feststellungsverfahren nach dem Zivildienstgesetz. Die Entscheidungen treffen Ausschüsse, deren Vorsitzende, wenn auch nicht stimmberechtigt, so doch vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung - im Gegensatz zu heute, wo dies von seiten des Bundesministers der Verteidigung geschieht - bestellt werden. Die Prüfungskammern entfallen nach unserem Entwurf. Viertens. Bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Grundrechts vorliegen, steht die Prüfung der Ernsthaftigkeit und damit die der Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Vordergrund. Der Antragsteller hat das dazu Erforderliche dem Ausschuß darzulegen. Dabei kommt es in Zukunft nicht mehr auf die Ausdrucksfähigkeit an; etwaige Mängel der Aussagefähigkeit werden durch die besondere Aussprache, die an die Stelle der bisherigen Anhörung tritt, ausgeglichen. Ist nach dem Gesamtverhalten der Antragsteller nicht glaubhaft, kommt eine Feststellung seiner Berechtigung, den Kriegsdienst zu verweigern, auch nicht in Betracht. Eine ablehnende Entscheidung - wir meinen, das ist rechtsstaatlich - ist zu begründen. Die Entscheidungstatsachen - ich weiß, daß es Sie von der Opposition stört, wenn es so ist - müssen gerichtlich nachprüfbar sein. Um es noch einmal kurz zu sagen: Nach diesem neuen Feststellungsverfahren können die Prüfungsausschüsse künftig auf Grund von unpräzisen Beurteilungen, die lediglich auf einem negativen Eindruck fußen, keinen Antragsteller mehr zurückweisen. Die Zivildienstzeit soll jedoch in Zukunft 18 anstatt bisher 16 Monate betragen. Neben diesen wesentlichen Inhalten möchte ich noch auf drei Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf hinweisen. Erstens. Bis zur Feststellung durch den Ausschuß hat der Antrag für ungediente Wehrpflichtige aufschiebende Wirkung für die Heranziehung zum Wehrdienst. Zweitens. Dem Anliegen der Träger von Versöhnungsdiensten ist insoweit Rechnung getragen, als Wehrpflichtige diesen Dienst nur noch 18 Monate - bisher 24 Monate - leisten müssen, um den Kriegsdienstverweigerern gleichgestellt zu werden. Drittens. Während der Dauer eines Arbeitskampfes, durch den die Beschäftigungsstelle unmittelbar betroffen ist, darf der Zivildienstleistende nicht mit einer Tätigkeit beschäftigt werden, die in der Beschäftigungsstelle infolge des Arbeitskampfes nicht ausgeübt wird. Meine politischen Freunde und ich wollen mit diesem Gesetz ein Stück mehr Rechtsstaatlichkeit verwirklichen. Wir wollen hiermit, ohne unsere Sicherheit zu gefährden, die bisherigen unzulänglichen Verfahren für Kriegsdienstverweigerer beseitigen. Wir wollen viele jungen Menschen nicht mehr in Gewissensnöte bringen. Wir wollen nicht mehr, daß jemand, der seinem Gewissen folgt, seines Gewissens wegen verurteilt und eingesperrt wird ({6}) oder, was wohl noch schlimmer sein kann, die Konsequenz zieht, unsere Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Wir wollen den Eltern dieser jungen Menschen deutlich machen, ({7}) daß ihre Söhne nicht als Vorbestrafte durch ihr weiteres Leben gehen müssen. ({8}) Ebenso machen wir deutlich, daß von uns auf dem zivilen Sektor für die Gemeinschaft ein Dienst in allgemeinen Krankenhäusern, in Psychiatrischen Kliniken, in Alten- und Pflegeheimen, in Altenwohnanlagen, beim Krankentransport, beim Unfallrettungsdienst, in Heimen für Behinderte, in Rehabilitationseinrichtungen, in Sonderschulen und in vielen Bereichen mehr gefordert wird. Diese Dienste sind weiß Gott keine Drückebergerposten. Es sind Dienste für diese Gemeinschaft, für die Menschen in unserem Lande. ({9}) Ich will diese Dienste nicht überbewerten. Ich will sie auch nicht höher bewerten als den Dienst der Soldaten in der Bundeswehr für unseren äußeren Frieden. Das braucht uns auch nicht bei jeder Gelegenheit von der Opposition deutlich gemacht zu werden. Wir wissen selbst nur zu gut, daß ohne äußeren Frieden ein innerer Friede praktisch unmöglich ist. Ich möchte nur, daß Worte wie Drückeberger oder Feiglinge - oder wie sie alle heißen mögen - aus dem Vokabular der öffentlichen Meinung, aber auch aus dem einiger Kollegen im Parlament verschwinden. ({10}) In diesem Zusammenhang wird es mir erlaubt sein, allen unseren jungen Staatsbürgern, ob im Zivildienst oder in der Bundeswehr, für ihren Einsatz und für ihre Leistungen recht herzlich zu danken. ({11}) Ich muß noch ein Wort zu der Kritik sagen, die Personengruppen und Verbände zur Verlängerung des Zivildienstes auf 18 Monate vorgebracht haben. Mit der Zivildienstzeit von 18 Monaten werden die über die 15 Monate dauernde Wehrdienstzeit hinausgehende Zeit der Verfügungsbereitschaft der Soldaten, die bis zu drei Monaten dauernde Zeit der Wehrübungen, aber auch der mögliche, zeitlich unbefristete Bereitschaftsdienst abgegolten. Das heißt auch, ein Zivildienstleistender kann in seinen Planungen persönlicher Art nach Ableistung des Zivildienstes nicht mehr beeinträchtigt werden. Ich darf hier auch anfügen und zur Kenntnis bringen, daß wir zur Zeit allein im sozialen Bereich über 28 300 Zivildienstplätze verfügen und wir davon ausgehen können, daß wir am 1. Juli über 30 000 Plätze verfügen können. Frau Tübler, es wird Ihnen schwerfallen, davon zu sprechen, daß 1976 nur 16 000 Plätze vorhanden wären und wir davon ausgegangen wären, auf 20 000 Plätze zu kommen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, ich möchte Sie an das Ende Ihrer Redezeit erinnern. ({0})

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Schluß. Meine Damen und Herren, noch eine kurze Begründung zu unserem auf Drucksache 7/4981 vorliegenden Antrag, das Datum des Inkrafttretens auf den 1. Oktober 1976 festzusetzen: Den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen, dieses Gesetz ab 1. Oktober in Kraft treten zu lassen, möchte ich damit begründen, daß es im Ältestenrat ein Antrag der CDU/CSU war, die für den 18. März vorgesehene zweite und dritte Beratung von der Tagesordnung abzusetzen, Frau Tübler, und daß Sie in der darauffolgenden Ältestenratsitzung nicht beantragt haben, dieses Gesetz auf die Tagesordnung der Sitzung am 1. April 1976 zu bringen, ({0}) weil Übereinstimmung darin bestand, daß nur ein halber Tag Plenum sein sollte und die andere Zeit für Ausschußberatungen zur Verfügung stehen sollte. Jetzt allerdings müssen wir davon ausgehen, daß der Bundesrat dieses Gesetz, auch wenn es nicht zustimmungsbedürftig ist, erst am 14. Mai beraten wird und daß dadurch notwendige Verwaltungsvorbereitungen bis zum 1. Juli nicht mehr erfolgen können. Ausschließlich und allein das ist der Grund dafür, daß wir diesmal den 1. Oktober vorsehen müssen. ({1}) - Herr Wörner, das ist gar kein Zufall. ({2}) - Herr Wörner, wenn hier jemand ein schlechtes Gewissen zu haben hat, dann sehen Sie sich Ihren Entwurf an, den Sie uns anbieten. Dann können Sie Ihr schlechtes Gewissen damit wirklich und weiß Gott zum Ausdruck bringen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir sind davon überzeugt, daß wir mit diesem Gesetz endlich eine Lücke in der Rechtsstaatlichkeit schließen können. Ich darf sagen, meine Fraktion stimmt diesem Gesetz zu. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Tübler. ({0})

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher haben Sie recht, Herr Kollege Biermann, wenn Sie sagen, daß die Öffentlichkeit in unserem Lande seit nahezu zwei Jahren von unserem Parlament die Neuordnung der Anerkennungsverfahren für Wehrdienstverweigerer erwartet. ({0}) Es ging dabei aber um mehr als das Recht einer kleinen Gruppe von Antragstellern. Es ging um die Abwägung von Verfassungsnormen, um den Rang des Gewissens, um die Garantie unserer äußeren Sicherheit und um das Verständnis vom Dienst für die Gemeinschaft. Kurzum, es stand eine Frage von einem solchen Gewicht zur Beratung an, daß man sich um gewissenhafteste Arbeit mit breitestem parlamentarischen Rückhalt hätte bemühen sollen. Ich mache darauf aufmerksam, daß neben einem ersten Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 14. Mai 1974 und seiner konkreten Ausfüllung ({1}) durch den Gesetzentwurf der CDU/CSU bei der Beratung nur der Gesetzentwurf der SPD und der FDP zugrunde lag. Selbstverständlich hatte die CDU/CSU mit diesem Gesetzentwurf keine Extremposition vertreten, sondern bewußt eine Lösung vorgeschlagen, die bei sachlicher Prüfung breiteste Zustimmung im Parlament hätte finden können. Das wissen Sie auch, Herr Kollege Biermann. Sie haben jedoch unsere Vorschläge nicht einmal ernsthaft geprüft, und ich möchte Ihnen hier ganz energisch widersprechen, wenn Sie von meinen Kollegen etwas anderes behauptet haben als eine ernsthafte Prüfung. ({2}) Sie haben sich mit der Mehrheit Ihrer Stimmen wider besseres Wissen an Ihren eigenen, mangelhaften Entwurf geklammert. Sie haben die Warnungen hochqualifizierter Beamter rücksichtslos in den Wind geschlagen. Ich darf daran erinnern, daß der zuständige Referent im Verteidigungsministerium einfach versetzt wurde. Einen mitarbeitenden Juristen, der sich ebenfalls eine andere Meinung erlaubte, haben Sie deshalb in Ihrem rotgefärbten Parlamentarischen Pressedienst vom 12. Mai 1975 unter voller Namensnennung attackiert, alles unter dem Satz - das darf ich vielleicht noch hinzufügen -: mehr Demokratie! ({3}) In der ersten Beratung Ihres Gesetzentwurfs vom 20. Juni 1975 hat mein Kollege Dr. Kraske für unsere Fraktion eindringlich schwerwiegende Bedenken vorgetragen. Heute legen Sie uns Ihren Gesetzentwurf zur zweiten und dritten Beratung vor, ohne auch nur eine einzige nennenswerte Verbesserung eingearbeitet zu haben. Sie legen einen Gesetzentwurf vor, für den Sie nicht einmal die Wehrdienstgegner gewinnen konnten. Diese werfen Ihnen nämlich vor, daß Sie leichtfertig mit der Gewissensfrage umgehen, wenn Sie die Wiedereinführung Ihrer Prüfungsverfahren allein von der Zahl der Antragsteller abhängig machen, daß Sie plötzlich die Dauer des Zivildienstes auf 18 Monate verlängern, während wir an 16 Monaten festhalten, und daß Sie die zahl der Zivildienstplätze im Jahre 1976 von 16 000 auf 20 000 anheben wollen. Ich war sehr erstaunt, Herr Kollege Biermann, daß Sie ganz plötzlich von 28 000 Plätzen sprechen, obwohl Sie ganz genau wissen, daß bereits seit 1972 mehr als 30 000 Antragsteller vorhanden sind.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biermann?

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Tübler, wenn Sie uns heute die 18 Monate vorwerfen, darf ich Sie fragen, wieso ein nicht unbeträchtlicher Teil Ihrer Fraktion bei der Beratung des Zivildienstgesetzes 24 Monate Zivildienstzeit gefordert hat. ({0})

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will folgendes sagen, Herr Biermann. Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich ja wesentlich voneinander. Wenn Sie mir noch etwas länger zuhören, werden Sie auch diesen Unterschied begreifen lernen. Sie haben wahrscheinlich unseren Gesetzentwurf nicht genau genug gelesen. ({0}) Sie wissen aber außerdem, daß Sie bei 18 Monaten Zivildienst eineinhalbmal soviel Plätze haben müßten, als Anträge vorgelegt werden. Das bedeutet auch, daß der Gesetzentwurf von völlig falschen Voraussetzungen in bezug auf den finanziellen Mehrbedarf ausgeht. Sie haben angegeben, daß Sie von 1977 bis 1979 jährlich 60 Millionen DM haben müssen. Ich stelle fest, daß dieser Betrag nicht ausreicht. Wir werden bei der nächsten Haushaltsberatung erleben, daß der Mehrbedarf, wenn Sie Ihr Ziel erreichen wollen, 100 bis 150 Millionen DM pro Jahr betragen wird. ({1}) Auch im Amt des Wehrbeauftragten macht man sich, wie in der „Welt" vom 13. Februar 1976 zu lesen steht, Sorgen um die Entwicklung der steigenden Zahl der Wehrdienstverweigerer und auch um den künftigen Personalersatz in der Bundeswehr. ({2}) Daß dafür Gründe vorliegen, belegen nicht zuletzt die jüngsten Zahlen über die Zunahme der Anträge. Ich will Ihnen einige Zahlen nennen, und ich glaube, es wird höchste Zeit, daß die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht wird: Im Januar 1976 stieg die Zahl der Anträge gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres um 16,1 % auf insgesamt 6957.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann?

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, Frau Präsidentin.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Tübler, wären Sie so liebenswürdig, darauf hinzuweisen, daß nach dem von Ihnen zitierten Bericht in der „Welt" über die vermeintliche Verlautbarung des Wehrbeauftragten sehr eindeutig von diesem klargestellt worden ist, daß diese Meldung in der „Welt" eine unzutreffende Meldung, - oder in anderem Sprachgebrauch - eine Ente, war?

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Möllemann, Sie sollten sich jetzt noch weiter die Zahlen anhören. Ich bin allerdings der Meinung, daß die „Welt" das nicht mit Einverständnis des Wehrbeauftragten so interpretiert hat, aber von der Sache her doch recht gehabt hat. ({0}) Ich möchte weiterkommen. Im Februar 1976 ist die Zahl der Antragsteller um 21,6 % auf 6 071 und im März - meine Damen und Herren, hören Sie gut zu - von 3 331 auf 5 017 gestiegen. Wenn wir das einmal zusammenzählen, ergibt sich im ersten Quartal eine Steigerung von insgesamt 14 381 Antragstellern im Jahre 1975 auf 18 045 im Jahre 1976. ({1}) Das ist ein Anstieg von 25 %. Herr Biermann, meine folgenden Ausführungen befassen sich jetzt mit dem, was Sie vorhin bei uns bemängelt haben. Das Grundgesetz - und darauf möchte ich Sie noch einmal nachdrücklich aufmerksam machen - kennt nicht nur den Art. 4 Abs. 3, sondern auch den Art. 87 a. Wir werfen Ihnen vor, daß Ihr Gesetzentwurf in verschiedenen Bestimmungen mit dem Art. 87 a des Grundgesetzes nicht in Einklang gebracht worden ist. Es fehlt jeder Hinweis darauf, unter welchen konkreten Bedingungen die Erfüllung des Verteidigungsauftrages der Streitkräfte nicht mehr sichergestellt wäre und demnach das Verfahren für alle Antragsteller wieder eingeführt werden müßte. Sie wissen auch ganz genau, daß bei der Personallage für bestimmte Verwendungen in der Bundeswehr schon jetzt Schwierigkeiten bestehen, daß es sogenannte Mangelsymbole gibt. Sie lassen das einfach unberücksichtigt. In dem vorliegenden Gesetzentwurf ist vorgesehen - und hier möchte ich den § 26 Abs. 2 zitieren -: Wenn und so lange die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen aus den aufgerufenen Jahrgängen nicht ausreicht, die Erfüllung des Verteidigungsauftrages der Streitkräfte sicherzustellen, ' wird durch eine Rechtsverordnung die Überprüfung der in Absatz 1 genannten Wehrpflichtigen, ... angeordnet ... Es folgt dann wieder eine Uberprüfung. So steht es sinngemäß in dem Gesetzentwurf. Wer garantiert uns aber, meine Damen und Herren, daß der Verteidigungsminister den Mut hat, diese Rechtsverordnung im Kabinett zu beantragen? ({2}) Wer garantiert uns, daß das Kabinett dem Antrag zustimmt? Wo ist der Fall geregelt, wenn das Kabinett seiner Pflicht zum Erlaß der Rechtsverordnung nicht nachkommt, daß das Parlament die Bundesregierung zur Erfüllung gemäß Art. 87 a des Grundgesetzes anhalten kann? Unverständlicherweise wollen Sie nur das Gegenteil regeln.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biermann?

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. Obwohl Herr Biermann seinen Vortrag vorhin in Ruhe halten konnte, ist er scheinbar nicht gewillt, mir zuzuhören. Aber bitte, Herr Kollege Biermann.

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin - abgesehen davon, daß ich sehr wohl zuhöre, sonst könnte ich nicht fragen -, ich möchte in diesem Zusammenhang jetzt wirklich fragen, ob Sie es einem von der CDU/CSU gebildeten Kabinett nicht zutrauen würden, diese Notbremse zu ziehen?

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Biermann, ich habe das Gefühl, daß Sie davon ausgehen, daß die Konsequenzen dieses Gesetzes einer von uns getragenen Regierung zugemutet werden sollen; denn sonst könnte ich Ihre Frage nicht verstehen. ({0}) Unterstellen wir, daß die Rechtsverordnung tatsächlich erlassen wird, dann stellt sich die Frage: Wo haben Sie dafür vorgesorgt, daß ganz plötzlich statt 3 000 30 000 Wehrdienstverweigerer geprüft werden müssen? Wie wollen Sie den dann notwendigen Verwaltungsapparat von heute auf morgen bereitstellen? Selbst hier möchte ich noch unterstellen, daß Ihnen das alles gelingt. Dennoch bleibt festzustellen, daß Sie mit Ihrem Gesetz das zukünftige Anerkennungsverfahren zur Farce machen werden. ({1}) Mit der Umkehr der Beweislast ist die Ablehnung von Anträgen nämlich künftig nur noch möglich, wenn der Ausschuß selbst die Unglaubwürdigkeit ,des Antragstellers bei seiner Berufung auf die Gewissensentscheidung mit gerichtlich nachprüfbaren Tatsachen belegen könnte. Das heißt, die von Ihnen vorgeschlagene Lösung ist völlig wirklichkeitsfremd, weil praktisch jeder Antragsteller anerkannt werden muß. Wir werfen Ihnen hier vor, daß Sie eine schnelle Beseitigung der im alten Prüfungsverfahren erkannten Mängel bis heute nicht ernsthaft wollen. Sonst hätten Sie den entsprechenden Antrag meiner Fraktion vom Mai 1974 frühzeitig beraten. Außerdem haben Sie es unterlassen, sich mit dem Gesetzentwurf unserer Fraktion gründlich zu befassen, der unseren Antrag konkret ausgefüllt hätte. ({2}) Verwundert sind wir auch über die Verzögerung des Termins. Sie haben es vorhin selbst angesprochen, Herr Kollege Biermann. Wenn ich mir die Tagesordnung der Sitzung vom 1. April ansehe, wo wir sehr zeitig mittags fertig waren, und wenn ich jetzt feststellen muß, daß wir diese wichtige Frage heute noch um 23 Uhr diskutieren müssen, dann meine ich, daß es besser gewesen wäre, wenn die Vertreter aller Fraktionen im Ältestenrat dafür gesorgt hätten, daß dieser Antrag und diese Gesetzentwürfe bereits in der vorigen Woche behandelt worden wären. ({3}) Sie haben nämlich - darauf möchte ich Sie noch aufmerksam machen - bei Ihrem Vertagungsantrag gefordert, daß wir keinen Widerspruch erheben sollten, die Angelegenheit am 9. April, also morgen, im Bundesrat zu behandeln. Heute lesen wir in der von Ihnen vorgelegten Drucksache, daß dieses Gesetz erst zum 1. Oktober 1976 in Kraft treten soll. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, das erinnert mich an 1972, wo man ganz plötzlich vor der Bundestagswahl die Verkürzung der Wehrdienstzeit herbeiführte, angeblich um hier mehr Wehrgerechtigkeit zu erreichen. In Wirklichkeit wollte man aber der jungen Generation ein Wahlgeschenk machen. Ich habe das Gefühl, daß hier der Wiederholungsfall vorliegt. ({4}) Herr Biermann, Sie haben vorhin sehr stark betont, daß die Federführung beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung liegt. Über Zuständigkeiten kann man sich eventuell noch streiten. Meine Fraktion hätte zumindest erwartet, daß der Bundesminister der Verteidigung heute auf der Regierungsbank sitzt. Er hätte die Wichtigkeit dieses Gesetzes durch seine Anwesenheit bekunden müssen. ({5}) Wir werfen Ihnen vor, daß Sie heute einen Gesetzentwurf unterbreiten, von dem Sie selbst - ({6}) - Er ist auch nicht da. Das ist sehr interessant. Meine Damen und Herren, ich habe allmählich das Gefühl, daß Sie dieses Gesetz gar nicht mehr wollen. Sonst würden Ihre Minister es wahrscheinlich ernster nehmen. ({7}) Wir werfen Ihnen vor, meine Damen und Herren, daß Sie heute einen Gesetzentwurf unterbreiten, von dem Sie selbst wissen, daß er junge Menschen zum Mißbrauch eines Grundrechts verleitet und die Gewissensproblematik nicht löst, sondern nur ausklammert. ({8}) Obwohl Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nur die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen erlaubt, lassen Sie es zu, daß künftig unter Vortäuschung von Gewissensgründen auch beliebige andere Gründe problemlos zur Anerkennung führen. Ich habe Ihnen vorhin die sprunghaft angestiegenen Zahlen der Antragsteller genannt. Ich glaube, Sie können deutlich sehen, daß hier auch andere Gründe als Gewissensgründe eine Rolle spielen. Wir werfen Ihnen weiterhin vor, daß Sie die Garantie unserer äußeren Sicherheit einem waghalsigen Experiment aussetzen und daß Sie uns mit dieser unverändert mangelhaften Vorlage erneut zu einem Nein zwingen. Ich werde den Verdacht einfach nicht los, daß Sie das mit Vorsatz tun, daß Sie überhaupt keine bessere Lösung wollen. Es durfte von Ihnen erwartet werden, daß Sie sich in dieser zentralen Frage um frühzeitige Zusammenarbeit mit der Opposition bemühen. ({9}) Der Ernst der zu verhandelnden Sache hätte dieses dringend geboten. Unser Nein zu Ihrem mangelhaften Gesetzentwurf haben Sie nun selbst zu verantworten. Noch während unserer Ausschußberatungen hat der Bundesminister der Verteidigung auf dem Verwaltungswege Erleichterungen für Wehrdienstverweigerer im Einberufungsverfahren angeordnet. Er hielt es nicht für nötig, den Verteidigungsausschuß über seine Maßnahme zu informieren. ({10}) Unabhängig davon, daß die getroffenen Anordnungen ein Meisterstück an Unklarheit und mangelnder Praktikabilität darstellen, lag hier erneut eine eklatante Mißachtung des Parlaments vor. ({11}) Der Wehrbeauftragte hat diesen Vorgang in seinem jüngsten Jahresbericht zu Recht deutlich kritisiert, und mein Kollege Ernesti wird nachher darauf zurückkommen. Insgesamt bewerten wir die Qualität des vorgelegten Gesetzentwurfes als zutiefst enttäuschend. Nicht der wird dem Gewissensschutz gerechter, der die bestehenden Probleme und auch den möglichen Mißbrauch durch Experimente und Nichtbeachtung umgeht, sondern der, der den Gewissenskonflikt ernst nimmt und diese Ernsthaftigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 GG auch bei jedem Antragsteller erfahren will. Ein Gewissenskonflikt ist erfahrbar, die Gewissensbildung abhängig vom Wissen um sittlich Gutes und Böses. Es gibt auch zweifelnde und irrende Gewissen. Es kann aber auch das Gewissen belasten, die Mitbürger schutzlos fremder Gewalt auszuliefern. Die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Anerkennungsverfahrens steht außer Zweifel. Viele Antragsteller haben sich überdies erst wegen der Existenz des Verfahrens ernsthaft mit der Frage des Kriegsdienstes und des Wehrdienstes befaßt. Viele haben dann ihre Anträge zurückgenommen. Die entscheidende Sorge des Antragstellers, im Kriegsdienst notfalls töten zu müssen, stellt sich im Frieden nicht. Wer aus Gewissensgründen die Befreiung vom Kriegsdienst beantragt, wird auch Verständnis dafür aufbringen, daß die Gemeinschaft die Ernsthaftigkeit seiner Überzeugung belegt wissen will. ({12}) Es hätte in unserer Beratung darum gehen sollen, die bestehenden Mängel im derzeitigen Verfahren zu beseitigen, nicht aber darum, das Verfahren, wie Sie sagen, auszusetzen, Herr Biermann. Der Westdeutsche Rundfunk und der Norddeutsche Rundfunk sprechen aber schon den ganzen Tag in ihren Nachrichten von der Abschaffung der Verfahren. ({13}) So wird es eben in der Öffentlichkeit gesehen. Sie sind dieser Aufgabe nicht gerecht geworden, Sie werden nur zusätzlich der Gefährdung unserer äußeren Sicherheit freien Lauf geben und damit letztlich wiederum Recht, Möglichkeit und Freiheit der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen schwächen. Das, meine Damen und Herren, ist für mich ein sehr, sehr ernstes Problem. Demgegenüber - und das möchte ich noch einmal sagen - wollten wir mit unserem Gesetzentwurf sicherstellen, daß viele Anträge zu einer schnellen Erledigung gebracht werden, in eindeutigen Fällen die Entscheidung nach Aktenlage erfolgen kann, daß die Beweislast des Wehrpflichtigen unter Berücksichtigung der vieljährigen praktischen Erfahrung in dem gebotenen Umfang gemildert wird - der Wehrpflichtige sollte nur dann die Folgen der Nichterweislichkeit seiner Gewissensgründe tragen, wenn noch nicht einmal eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß er eine Gewissensentscheidung getroffen hat -, daß die Überprüfung eines Antrags nur noch erfolgt, wenn der Betroffene überhaupt für die Einberufung zur Bundeswehr vorgesehen war, daß noch nicht anerkannte Antragsteller bei der Truppe einen waffenlosen Dienst leisten, sofern dies ohne ernsthafte Gefährdung der Einsatzbereitschaft der Truppe möglich ist, und daß die Einführung zusätzlicher Verfahrensregeln und die Berufung der Vorsitzenden aus dem Bereich der Justiz zur Gleichbehandlung aller Antragsteller beitragen. Insgesamt kam es der CDU/CSU darauf an, das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 unbedingt zu wahren und die Anerkennung echter Kriegsdienstverweigerer sicherzustellen, zugleich aber auch die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht nicht zu gefährden. ({14}) Die Ableistung oder die Umgehung des Wehrdienstes dürfen nicht zur Disposition des Wehrpflichtigen gestellt werden, wie es der Entwurf der SPD und FDP möglich macht. ({15}) Sie haben - und das mache ich Ihnen noch einmal zum Vorwurf - unsere Vorschläge nicht ernsthaft geprüft. Lieber Herr Kollege Biermann, hier möchte ich Ihnen eines sagen: Dieser Gesetzentwurf ist unter Mitwirkung aller Beteiligten, auch der Vertreter der Kriegsdienstverweigerer, entstanden, und diese haben ihn für gut gehalten. ({16})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Frau Kollegin Tübler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nur noch einige Sätze, Frau Präsidentin, die ich gern noch zu Ende bringen möchte. Sie wollen nun Ihren eigenen mangelhaften Entwurf zum Gesetz erheben, ohne unsere schwerwiegenden Bedenken berücksichtigt zu haben. ({0}) Da ist vielleicht eine vordergründige Demonstration von Einheit, aber keine verantwortungsvolle Politik für unser Land. ({1}) Zwei Jahre kostbarer Zeit sind vergangen. Sie haben diese Zeit nicht gewissenhaft genutzt. Sie dürfen sicher sein, daß Sie auch hierfür die Quittung bekommen. ({2})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hölscher.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs zur Aussetzung und Neuregelung der Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen schließen wir heute, so hoffe ich, ein Kapitel ab, das über Jahre hinweg die Gemüter bewegt hat. Es waren Kriegsdienstverweigerer, Eltern, Juristen, Gewerkschaftler, Bürgerinitiativen, kirchliche Institutionen und viele andere, die uns immer wieder auf die Problematik der Gewissensüberprüfungen hingewiesen haben. Kein anderer Staat der Welt hat das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in seiner Verfassung verankert; aber auch kein anderer Staat der Welt macht die Wahrnehmung eines Grundrechts vom erfolgreichen Bestehen eines Prüfungsverfahrens abhängig. Ich darf aber noch einmal feststellen: eine Gewissensentscheidung ist ein sehr interner Vorgang, der sich meist äußerem Einblick entzieht und daher auch nur in den seltensten Fällen überprüfbar ist. Wir stellen auch nach der Rede der Frau Kollegin Tübler mit Genugtuung fest, daß die Mängel dieses Prüfungsverfahrens von allen Fraktionen erkannt wurden, so daß auf allen Seiten dieses Hauses der politische Wille zu einer Änderung vorhanden ist. Sie, Frau Kollegin Tübler - es fällt mir schwer, dies jetzt nach Ihrer Rede zu sagen -, haben sehr vieles gesagt. ({0}) Sie haben Presseberichte zitiert, Sie haben den Wehrbeauftragten im Zusammenhang mit dem Artikel in der „Welt" zitiert, obwohl der Wehrbeauftragte schon längst bestritten hatte, daß in seinem Hause derartige Äußerungen gefallen seien, haben aber kein einziges Wort zu der Gewissensnot gesagt, in die in unserem Staat junge Menschen geraten können. ({1}) Dies enttäuscht mich, Frau Kollegin Tübler, denn ich hätte eigentlich mehr Substanz erwartet - bitte, nehmen Sie das nicht persönlich -, ({2}) wenn wir hier einen Gesetzentwurf zu einer Materie zum Abschluß bringen, die nicht nur die Kriegsdienstverweigerer selbst, sondern - das müßten Sie auch aus der Post wissen, die Sie sicher bekommen haben - ganze Familien mit ins Unglück gestürzt hat. Ich glaube, hier darf man sich nicht darauf beschränken, den Dingen mit rein formalrechtlichen Argumenten zu begegnen. Wir haben zweifellos erhebliche Meinungsverschiedenheiten gehabt, was den Weg angeht, und dies ist auch politisch zu ertragen. Ich kann nur bedauern, daß die Opposition auf sehr polemische Weise die Diskussion auch heute wieder mit der Unterstellung belastet hat, durch unseren Gesetzentwurf würden die Wehrpflicht aufgehoben und die Verteidigungskraft der Bundeswehr geschwächt. ({3}) Dabei ist doch gerade der vorliegende Gesetzentwurf ein Kompromiß, der sowohl den Schutz der Gewissensentscheidung von Kriegsdienstverweigerern als auch die Funktionsfähigkeit der Verteidigung sicherstellt. Manch einer hat sich - das darf ich in aller Offenheit hier sagen - deshalb auch gefragt, ob es denn noch vertretbar ist, letztlich die freie Wahrnehmung eines Grundrechts indirekt von verteidigungspolitischen Belangen abhängig zu machen. Dennoch stimmen wir diesem Kompromiß zu, weil die Aussetzung dieser peinlichen Gewissenserforschungen und die völlige Neuregelung der Verfahren für kriegsdienstverweigernde Soldaten ein großer Schritt zu mehr Liberalität in unserer Gesellschaft bedeuten. ({4}) Ich habe bereits in der ersten Lesung ausführlich auf die Situation der Kriegsdienstverweigerer und die Problematik der bisherigen Prüfungsverfahren hingewiesen und möchte es in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit nicht wiederholen. Aber lassen Sie mich bitte noch einige Anmerkungen zu den Kernpunkten der Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen machen. Erstens. Ungediente Wehrpflichtige können nach Inkrafttreten des Gesetzes gegenüber den Kreiswehrersatzämtern erklären, daß sie aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern. Prüfungsverfahren finden für diesen Personenkreis nicht mehr statt. Diese Wehrpflichtigen leisten Zivildienst an Stelle des Wehrdienstes. Es ist nicht richtig, wie es Herr Dr. Kraske in der ersten Lesung getan hat, von einer freien Wahl zu sprechen; denn solange kein Zivildienstverhältnis besteht oder solange eine Frist von zwei Jahren für die Annahme zum Zivildienst nicht abgelaufen ist, sind die Betreffenden keine anerkannten Kriegsdienstverweigerer und stehen der Bundeswehr notfalls als Wehrpflichtige zur Verfügung. Es wird natürlich dem Gesetzgeber unbenommen bleiben, sich darüber Gedanken zu machen - ich meine, er sollte das zu gegebener Zeit sogar tun -, ob den Wehrpflichtigen nicht die freie Option zwischen verschiedenen Diensten eingeräumt werden kann, sei es die Bundeswehr, sei es der Zivildienst oder seien es andere vorhandene oder noch zu schaffende soziale und zivile Dienste. Denn wir tragen alle gemeinsam die Verantwortung für die Sicherung des inneren und äußeren Friedens. Die Verteidigung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung kann sich nicht auf die Sicherung des äußeren Friedens beschränken. Natürlich fehlt es noch an einem einheitlichen und umfassenden Konzept für ein nach dem Prinzip der Freiwilligkeit ausgestaltetes System von Diensten zur Sicherung des äußeren und inneren Friedens, bei dem jeder nach seinen Neigungen und seinem Gewissen den Platz für seinen Dienst für die Gesellschaft wählen kann. Dieser Gesetzentwurf hat nichts mit freier Wahl zu tun. Er dient diesem Ziel jedenfalls nicht. Er dient dem Ziel - hierauf kam es uns an -, mit dem unwürdigen Zustand bei der Wahrnehmung eines Grundrechts Schluß zu machen. Manchmal hat man den Eindruck, daß die Opposition, wenn es verfassungsrechtlich ginge, Art. 4 Abs. 3 GG am liebsten zum Verschwinden bringen würde. ({5}) Zweitens. Wehrpflichtige, die bereits einberufen sind -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ohne auf Ihre Anschuldigung, von der Sie selber am besten wissen, daß sie nicht zutrifft, eingehen zu wollen, darf ich Sie fragen, ob Sie sich nicht dazu bekennen, Mitglied einer Partei zu sein, deren ehemaliger Vorsitzender und nachmaliger Bundespräsident Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat dafür eingetreten ist, jenes Grundrecht eben nicht in das Grundgesetz aufzunehmen? ({0})

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber Herr Dr. Wörner, was erwarten Sie für eine Antwort auf diese Frage? Wir haben damals eine Debatte gehabt, die sich im Gegensatz zu heute durch mehr Sachlichkeit ausgezeichnet hat. ({0}) Hier ist nicht so ohne weiteres dem politischen Gegner unterstellt worden, daß er durch die Einführung der Neuregelung die Verteidigungskraft dieses Staates in Gefahr bringen würde. ({1}) Ich kann mich an eine derartige Polemik jedenfalls nicht erinnern. Ich werde noch einige Worte zu Ihrem Gesetzentwurf sagen. Ich finde, gerade die fehlende Substanz Ihres Gesetzentwurfs zeigt, daß Sie die Verfassung nicht dynamisch, sondern statisch verstehen; ({2}) sonst hätten Sie zu anderen Schlußfolgerungen kommen müssen. Tatsache ist, daß Sie in der Praxis die Wahrnehmung eines Grundrechts nicht mehr unbehindert vornehmen lassen wollen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Arndt?

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat diese Meinung damit begründet hat, daß sonst bei der Prüfung ein Massenverschleiß von Gewissen eintreten würde, genau das, was durch dieses Gesetz verhindert werden soll?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Arndt, ich bestätige dies gern. Ich bin überzeugt, wenn Theodor Heuss noch leben würde und noch Mitglied dieses Hauses wäre, wäre er ein entschiedener Verfechter der Änderung der Praxis draußen. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu der zweiten Anmerkung kommen. Wehrpflichtige, die bereits einberufen sind, sowie Soldaten und Reservisten werden, wenn sie den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern, einem modifizierten Prüfungsverfahren unterzogen. Natürlich ist die Frage berechtigt - Herr Dr. Kraske hat sie in der ersten Lesung zu Recht gestellt -, warum für einen ungedienten Kriegsdienstverweigerer nicht das gleiche gelten soll wie für einen kriegsdienstverweigernden Soldaten, nämlich der Verzicht auf Prüfungsverfahren. Auch einem Soldaten muß ja zugebilligt werden, daß ihm erst bei der Bundeswehr bewußt wird, daß er den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen nicht leisten kann. Dies hat Kollege Dr. Kraske in der ersten Lesung als Ungleichheit in der Behandlung bezeichnet, und er hat damit, wie ich meine, recht. Er hat allerdings die falschen Schlußfolgerungen gezogen. Es ist im Prinzip richtig, daß alle Kriegsdiensverweigerer gleichbehandelt werden sollten. Unter „Gleichbehandlung" dann aber die Aufrechterhaltung der alten Gewissensinquisition für alle zu verstehen, erscheint mir fast zynisch. ({1}) - Ich komme noch darauf zurück. Meine Damen und Herren, wir sind auch hier den verantwortungsbewußten Weg des Kompromisses gegangen, indem wir nur für den verschwindend geringen Teil kriegsdienstverweigernder Soldaten noch Prüfungsverfahren beibehalten. Entscheidend hierbei ist aber, daß diese Prüfungsverfahren mit den alten nicht mehr zu vergleichen sind. Die Ausschüsse prüfen zwar nach wie vor die Ernsthaftigkeit der Berufung auf das Grundrecht und stellen fest, ob die Voraussetzungen der Inanspruchnahme vorliegen. Bleiben aber Zweifel bestehen, wird an Hand von Tatsachen geprüft, ob der Kriegsdienstverweigerer nach seinem Gesamtverhalten glaubhaft ist. Eine etwaige Ablehnung darf dann nur auf gerichtlich nachprüfbare Tatsachen gestützt werden. Damit wird mit den groben Mängeln des alten Verfahrens Schluß gemacht, in dem ja, wie wir wissen, eine Ablehnung lapidar damit begründet werden konnte, daß der Antragsteller keinen ernsthaften Eindruck mache. Wo sind eigentlich die konkreten Vorschläge der Opposition zur inhaltlichen Verbesserung der Verfahren? Warum billigen Sie, meine Kollegen von der Opposition, einem jungen Menschen, der ein Grundrecht wahrnehmen will, nicht die gleichen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze zu, die in anderen Rechtsbereichen selbstverständlich sind? Lassen Sie mich auf einen dritten Punkt zu sprechen kommen. Die neuen modifizierten Prüfungsverfahren können unter Mitwirkung des Bundestages durch Rechtsverordnung auch für ungediente Kriegsdienstverweigerer eingeführt werden, wenn es die Erfüllung des Verteidigungsauftrags verlangt. Wie kann uns die Opposition eigentlich den Vorwurf machen, den Auftrag der Bundeswehr zu gefährden, wenn durch diese Notbremse zur Verhinderung von Mißbrauch bei der Wahrnehmung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung die Gefahr für die Bestandssicherung der Bundeswehr ausgeschlossen werden kann? ({2}) - Das wissen Sie doch nicht, Herr Dr. Wörner. Ich bin überzeugt, daß diese Bremse wirken wird und daß eine Wiedereinführung gar nicht notwendig sein wird. Lassen Sie mich auch auf folgendes zurückkommen, Frau Kollegin Tübler. Auch die in den letzten zwei Monaten zweifellos gestiegenen Zahlen - daß die Zahlen gestiegen sind, wird ja gar nicht bestritten - lassen keineswegs die Schlußfolgerung zu, daß der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr gefährdet wird und daß wir die Verfahren wieder ein16480 führen müssen. Hier ist doch etwas passiert, was wir erst nach Inkrafttreten des Gesetzes erwartet hatten. Der zu begrüßende Erlaß des Bundesverteidigungsministers, auf die Einberufung von Kriegsdienstverweigerern zu verzichten, hat zum Anstieg der Zahlen geführt. Ich persönlich gehe davon aus, daß nach Inkrafttreten des Gesetzes keine nennenswerten Steigerungen mehr zu verzeichnen sind, weil durch den Erlaß des Verteidigungsministers vom November vorigen Jahres praktisch die Wirkungen des Gesetzes vorweggenommen wurden. Wir wissen doch auch auf Grund der in Dänemark gemachten Erfahrungen, daß zwar kurz nach Einführung einer solchen Neuregelung die Zahlen der Kriegsdienstverweigerer steigen, die Kurve dann aber wieder sehr schnell abflacht, unter anderem auch deshalb, weil sich manche auch heute noch - auch bei uns - falsche Vorstellungen darüber machen, was Zivildienst eigentlich bedeutet. Meine Damen und Herren, die Beratungen im Arbeits- und Sozialausschuß haben keine Änderungen im Kern ergeben. Wir begrüßen dies. Wir begrüßen aber auch, daß in einigen Punkten den Wünschen der freiwilligen Dienste noch besser Rechnung getragen werden konnte, so daß künftig nicht nur eine größere Zahl von Zivildienstleistenden z. B. bei den Trägern von Versöhnungsdiensten arbeiten kann, sondern diese Dienste ihren wichtigen Aufgaben in Zukunft auch noch besser gerecht werden. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU konnte für uns nun allerdings wirklich keine Alternative sein. Denn die grundsätzliche Beibehaltung dieser absurden Prüfungsverfahren ohne irgendeine nennenswerte Verbesserung der Rechtsstellung der Antragsteller hätte in Zukunft zu keiner Änderung der unerträglichen Situation geführt. ({3}) Ich halte den Entwurf der Opposition sogar für eine Verschlechterung gegenüber dem geltenden Recht. Denn wenn es nach der Opposition ginge, würden den Kriegsdienstverweigerern nicht einmal mehr die unabhängigen Beisitzer der Prüfungsausschüsse zugestanden. Ein Beamter des Kreiswehrersatzamts soll ja nach diesem Entwurf je nach Bedarfslage der Bundeswehr allein entscheiden, wer geprüft wird und wer ohne Prüfung zum Zivildienst kommen kann. ({4}) Das würde in der Praxis wohl dazu führen, daß der von der Bundeswehr nicht benötigte Hilfsarbeiter seiner Gewissensentscheidung ohne jede Behinderung nachkommen kann, während der Techniker sich einer fragwürdigen Prüfungsprozedur unterziehen muß. Welch ein seltsames Jonglieren mit unserer Verfassung! Und welch eine Zumutung für die Beamten des Kreiswehrersatzamts, denen man die Anwendung der Verfassung nach berufsspezifischen Maßstäben abverlangt! ({5}) Lassen Sie mich zum Schluß auf ein ungelöstes Problem zu sprechen kommen: die Bestrafung von Kriegsdienstverweigerern bei der Truppe wegen Delikten wie eigenmächtige Abwesenheit, Fahnenflucht, Ungehorsam, Gehorsamsverweigerung usw. Unbestritten hat nach der Rechtsprechung auch ein Kriegsdienstverweigerer bis zu seiner unanfechtbaren Anerkennung alle Pflichten eines Soldaten zu erfüllen. Dennoch - ich möchte wiederholen, was ich schon in der ersten Lesung gesagt habe ({6}) können die Folgen von Fehlentscheidungen von Prüfungsinstanzen nicht ohne weiteres mit formalrechtlichen Argumenten abgetan werden. In vielen Fällen wurden Kriegsdienstverweigerer vom Prüfungsausschuß nicht anerkannt und dann zur Bundeswehr einberufen; dort verweigerten sie den Dienst, weil sie es mit ihrem Gewissen einfach nicht vereinbaren konnten, sich an der Waffe ausbilden zu lassen. Was muß in einem jungen Menschen vorgehen, der nach seiner subjektiven Erkenntnis konsequent seinem Gewissen folgt, den Befehl verweigert, deswegen eingesperrt wird und dann im abschließenden Anerkennungsverfahren bescheinigt bekommt, daß er nach seinem Gewissen gar nicht anders handeln durfte.? Diese jungen Menschen werden nicht viel von unserem Rechtsstaat halten, der ihnen einerseits ein Grundrecht gibt und andererseits - so wird es subjektiv gesehen - wegen der konsequenten Wahrnehmung dieses Grundrechts ins Gefängnis schickt. Wir begrüßen daher den Entschließungsantrag, der die Bundesländer bittet, Härtefälle, die sich aus der Anwendung des geltenden Rechts im Zusammenhang mit Strafverfahren gegen Kriegsdienstverweigerung ergeben haben, im Weg der Einzelbegnadigung zu bereinigen. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Gestatten sie eine Zwischenfrage?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern.

Irma Tübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002347, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hölscher, können Sie mir sagen, was mit den jungen Leuten geschieht, die ins Ausland gegangen sind, also hier gar nicht einsitzen? Wollen Sie ihnen mit diesem Antrag die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland verwehren?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Tübler, ich wäre auf dieses Problem noch zu sprechen gekommen. Sie haben sich, wie ich gehört habe, dazu vorgestern Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Hölscher in einem Fernsehinterview geäußert. Dabei sollen Sie für die CDU/CSU-Fraktion ein Amnestiegesetz befürwortet haben. Diesem Interview, das morgen nachmittag gesendet wird, sehe ich mit großem Interesse entgegen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie dort für Ihre Fraktion eine solche Erklärung abgegeben hätten. Ich möchte dazu etwas kritisch anmerken - und ich hoffe, Ihnen damit eine befriedigende Antwort geben zu können -. ({0}) Wir können alle nur hoffen, daß die Länder dieser Empfehlung nachkommen. Ich persönlich bin der Meinung - ich hoffe, daß das auch Ihre Meinung ist, die Sie angeblich im Fernsehen sogar für Ihre Fraktion erklärt haben; ich werde mit Ihren Ausführungen im Fernsehen einschalten -, daß wir in den nächsten Wochen weiter prüfen sollten, ob nicht zusätzlich ein Amnestiegesetz die bessere und sauberere Lösung ist. Ich kenne natürlich die formalrechtlichen Einwendungen der Rechtspolitiker. Auch verkenne ich nicht die Schwierigkeiten bei der Eingrenzung der möglichen Fallgruppen. Sie, Frau Kollegin Tübler, nannten gerade eine sehr schwierig abzugrenzende Fallgruppe, nämlich die Fahnenflüchtigen. Dennoch sollten wir nichts unversucht lassen, denen zu helfen, die unter einem inneren Gewissenszwang straffällig werden mußten, obwohl sie bereit waren, ihren Dienst für die Gesellschaft zu leisten, nur eben aus Gewissensgründen nicht bei der Bundeswehr. Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Vorrangig für unsere Initiative in dieser Sache war die Beseitigung der Rechtsunsicherheit bei der Wahrnehmung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung, wie es in Art. 4 Abs. 3 unserer Verfassung niedergelegt ist. Wenn hierbei sowohl dem Schutz der Gewissensentscheidung des einzelnen als auch der Funktionsfähigkeit der Verteidigung Rechnung getragen werden konnte, so zeigt dies, daß wir realistisch und solide gearbeitet haben. Wir werden darüber hinaus in Zukunft dem Zivildienst besondere Beachtung schenken. Hier ist zweifellos noch manches zu tun, auch im Zusammenhang mit der von mir erwähnten Einbettung aller Dienste in eine gesamtgesellschaftliche Verteidigung nach außen und nach innen. Das heute verabschiedete Gesetz stellt hierbei einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer umfassenden, nach dem Prinzip der Freiwilligkeit gestalteten Bürgerverantwortung im Dienste des äußeren und des inneren Friedens dar. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wird das Wort zur allgemeinen Aussprache in der zweiten Beratung noch gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Einzelberatung. Wer Art. 1 bis 6 die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das erstere war die Mehrheit. Zu Art. 7 liegt ein Änderungsantrag vor. Er braucht wohl nicht mehr begründet zu werden. Wir stimmen über den Änderungsantrag auf Drucksache 7/4981 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich bitte aufzustehen; dann ist das Abstimmungsergebnis vielleicht besser zu erkennen. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das erstere war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen. Wir kommen damit zur Abstimmung über Art. 7 in der nunmehr vorgeschlagenen Fassung. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit der gleichen Mehrheit angenommen. Wir haben noch abzustimmen über Einleitung und Überschrift. - So beschlossen. Damit haben wir die zweite Beratung abgeschlossen. Wir kommen nunmehr zur dritten Beratung. Meine Damen und Herren, darf ich vielleicht zuvor ein Wort sagen. Es ist eine alte Erfahrung, daß gegen Mitternacht es für den Redner immer schwerer wird, weil die Unruhe im Hause wächst. Da wir alle daran interessiert sind, daß auch bei strittigen Debatten der Redner zu hören ist, bitte ich alle, sich entsprechend darauf einzurichten. ({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Kraske.

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre eine verlockende Aufgabe, dem Kollegen Hölscher wenigstens jetzt im nachhinein zu sagen, was er seit vielen Monaten hätte nachlesen können, ({0}) nämlich, was in unserem Gesetzentwurf steht. Aber die Stunde ist wahrhaftig zu spät dafür, und deswegen erlauben Sie mir nur eine Bemerkung an die Adresse des Kollegen Hölscher. Herr Kollege, wir brauchen von niemandem und auch nicht von Ihnen irgendwelche Nachhilfe über die Bedeutung des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes. ({1}) Wir stehen zu diesem Grundgesetz, wir stehen zu diesem Artikel, und wir lassen uns in unserer Überzeugung in dieser Sache am wenigsten von Leuten angreifen, die heute von der Inquisition des Gewissens sprechen, die aber selber sagen, wenn Not am Mann sei, dann müsse eine solche Prüfung natürlich wieder eingeführt werden. ({2}) Wer in dieser Sache so wenig Logik und so wenig Grundsatztreue beweist, der soll erst einmal über sein eigenes Verfassungsverständnis nachdenken und nicht das anderer Leute angreifen. ({3}) Der Kollege Hölscher hat in seinem Beitrag zugleich zu einem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen Stellung genommen, der zur dritten Lesung vorgelegt wurde, aber noch nicht begründet worden ist. Aber Sie erlauben mir sicher, daß ich auch für meine Fraktion dazu Stellung nehme. Selbstverständlich sind auch wir der Meinung, daß in dem Augenblick, in dem ein neues Gesetz in Kraft getreten ist, im Interesse des Rechtsfriedens alles geschehen sollte, um da, wo das möglich und vertretbar ist, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Aber wir, der Bundesgesetzgeber, können diese Aufgabe nicht einfach auf die Länder abschieben. ({4}) Wer will dann eigentlich verhindern, daß von Land zu Land ganz unterschiedliche Praktiken Platz greifen und gerade dadurch der Rechtsfrieden wieder gestört wird? ({5}) Wir haben uns, Herr Kollege Hölscher, seit langem gewundert, warum sich die Bundesregierung nie zu diesem Thema geäußert hat. Wir meinen, sie hat hier als erste ihre Vorstellungen zu entwickeln. Wir sind nicht bereit, sie aus ihrer Verantwortung und Verpflichtung in dieser Frage zu entlassen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen wendet sich an den falschen Adressat, und schon deswegen können wir ihm unsere Zustimmung sicher nicht geben. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nach den monatelangen Beratungen im Ausschuß und nach dieser Debatte zum Abschluß für meine Fraktion folgendes feststellen. Wir lehnen den von der Koalition vorgelegten Gesetzentwurf im wesentlichen aus drei Gründen ab. Wir lehnen ihn zum ersten deshalb ab, weil er -ich wiederhole, was wir in der ersten Lesung gesagt haben - die faktische Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht bedeutet. ({6}) Herr Kollege Hölscher hat - Herr Biermann hat wohl ähnliches gesagt - erneut bestritten, daß es sich hier um Wahlfreiheit handelt. Meine Damen und Herren, ich berufe mich auf die Bundesregierung. Der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium hat erklärt, er begrüße die Vorschläge, solange es möglich sei, die Wahl zwischen dem Dienst mit der Waffe und dem Zivildienst freizustellen. Ist das nun Wahlfreiheit, oder ist das keine Wahlfreiheit? ({7}) Meine Damen und Herren von der Koalition: Das Ministerium dieses Staatssekretärs, das Ministerium von Herrn Leber, hat eine Umfrage gestartet, in der die entscheidende Frage lautet: „Die Bundeswehr plant, das bisherige Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer aufzugeben, so daß jeder frei zwischen Wehrdienst und Zivildienst entscheiden kann; welche Entscheidung würden Sie treffen?" ({8}) Das fragt das Verteidigungsministerium, und es reflektiert damit ja nur, wie diese Entscheidung in der Öffentlichkeit, in der jungen Generation verstanden wird, ({9}) nämlich als Wahlfreiheit. Meine Damen und Herren, Ihr Gesetzentwurf stellt es in das Belieben jedes einzelnen, ob er seinen Grundwehrdienst leisten will oder nicht. Wer das noch „allgemeine Wehrpflicht" nennen will, der mag das tun; wir können es nicht tun. Wir bleiben dabei: Dies ist der einschneidendste Eingriff in die Wehrverfassung seit 20 Jahren. Ich kann nur wiederholen: Ich finde es erschütternd, daß der Bundesverteidigungsminister weder bei der ersten Lesung noch heute die Notwendigkeit empfand, hier anwesend zu sein, und daß es auch bei den Ausschußberatungen im Verteidigungsausschuß einiger Mühe bedurfte, ihn um seine Anwesenheit zu bitten. ({10}) Wir lehnen diesen Gesetzentwurf zum zweiten ab, weil er - ob das seine Verfasser wollen oder nicht; ich unterstelle ihnen, daß sie es nicht wollen - zur Drückebergerei ermuntert. ({11}) Der Kollege Biermann hat von 28 000 Plätzen gesprochen. Offenbar hat er den Haushalt nicht gelesen. Im Haushalt des Jahres 1976 sind 20 000 Plätze ausgewiesen. Der Haushaltsausschuß hat im Unterschied zur Bundesregierung höchstens 50 Millionen DM für die nächsten Jahre zur Verfügung gestellt. Das ermöglicht eine Aufstockung um weitere 5 000 Plätze. 25 000 Plätze reichen bei eineinhalbjähriger Dienstzeit für 17 000 bis 18 000 Zivildienstleistende aus. Wir haben in den letzten Jahren 32 000 bis 35 000 Anträge mit steigender Tendenz gehabt. Der Zivildienstbeauftragte Iven hat vor dem Verteidigungsausschuß selber angekündigt, man müsse in der ersten Zeit mit einer Steigerung bis zu 60 000 rechnen. Die Umfragen des Verteidigungsministeriums kündigen sogar 100 000 an. Das bedeutet in der Auswirkung, daß bei dieser Wahlfreiheit in den nächsten Jahren zwar jeder Grundwehrdienstleistende damit rechnen muß, einberufen zu werden, aber der, der sich als Kriegsdienstverweigerer meldet, eine Chance von 1 : 3 bis 1 : 4 hat, ganz freizukommen. Das nenne ich Korrumpierung der jungen Generation. ({12}) Schließlich lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab, weil die von Ihnen vorgesehene Möglichkeit, ein neues Anerkennungsverfahren einzuführen, wenn sich unsere Warnungen bestätigen - und ich fürchte, I sie werden sich bestätigen -, nicht praktikabel ist. Wer heute - das haben Sie in den letzten zwei Jahren wahrhaftig bis zum Überdruß getan - jedes Anerkennungsverfahren als unzumutbare Gewissensinquisition diskreditiert, wird niemals die politische Kraft haben, es ausgerechnet dann wieder einzuführen, wenn Not am Mann ist. ({13}) Selbst wenn er sie hätte: Das für diesen Fall vorgesehene Verfahren ist so unzulänglich, daß mit ihm praktisch niemandem die Anerkennung mehr verweigert werden könnte. Der Gesetzentwurf der Koalition schwächt also unsere Verteidigungsbereitschaft, er fördert den Mißbrauch, er korrumpiert junge Menschen, und er enthält keinerlei brauchbare Sicherungen für den Verteidigungsfall. Die CDU/CSU hat ihre Vorstellungen für eine Verbesserung und für eine Beschleunigung des Anerkennungsverfahren vorgelegt. Der Gesetzentwurf der Koalition bietet dazu keine brauchbare Alternative. Deswegen lehnen wir ihn ab. ({14})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Möllemann. ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Reddemann, ich hätte mich wirklich sehr gewundert, wenn Sie sich nicht auch bei diesem Punkt, bei dem man wie bei allen anderen bei Ihnen profunde Unkenntnis voraussetzen darf, schon zu Wort gemeldet hätten, bevor etwas gesagt worden ist. Das ist das von Ihnen praktizierte Verfahren und charakterisiert Ihre Kenntnis der Sache. ({0}) - Üblicherweise sind Sie um diese Zeit - ich sehe, daß auch Herr Jenninger lacht - ja wohl im „Steakhouse" beschäftigt. Vielleicht sollten Sie sich wieder dorthin begeben. ({1}) - Ich denke, Ihr eigenes Verhalten unterstreicht die Qualität Ihrer nicht vorhandenen Argumente. Machen Sie nur ruhig so weiter! ({2}) - Diese Einleitung können Sie sich wirklich sparen! Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Kraske hat hier deutlich gemacht, daß der von uns vorgelegte Lösungsvorschlag für die Einführung einer besseren Regelung in der Frage der Wehrdienstverweigerung nach seiner Auffassung und nach Auffassung der Opposition deswegen keine Zustimmung finden kann, weil nach Ihrer Auffassung die Interessen des Staates und die Sicherheitsinteressen der Bundeswehr zu gering und der individuelle Anspruch der Berufung auf ein Grundrecht zu hoch eingeschätzt wird. Dies ist nach unserem Verständnis allerdings charakteristisch. Wir haben hier in der Tat zwei konkurrierende Ansprüche, auf der einen Seite den Anspruch der jungen Bürger, die ein Grundrecht, das Grundrecht auf Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe, wahrnehmen wollen ({3}) - ich habe zitiert; im Grundgesetz heißt es in Art. 4: Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe; Sie sollten das Grundgesetz lesen, bevor Sie dazwischenrufen -, auf der einen Seite also die Inanspruchnahme dieses Grundrechts -

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Möllemann, woher wissen Sie denn, wenn es keine Prüfung mehr gibt, eigentlich, ob der junge Mann, der da herkommt und diesen Antrag stellt, ein Grundrecht wahrnimmt oder sich nur um seinen Wehrdienst drücken will? ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Jäger, in der Verfassung steht in Art. 4: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. ({0}) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Wir haben dieses Bundesgesetz, in dem festgelegt wird, daß diese Gewissensentscheidung überprüft werden soll, und darüber sprechen wir heute. Weder Sie, Herr Kollege Jäger, noch ein anderer hier im Hause tätiger Kollege - und dies sollte man doch ehrlicherweise zugeben - hat bisher ein vernünftiges Verfahren, ein vernünftiges Kriterium dafür aufzeigen können, wie man denn die Gewissensentscheidung eines Menschen wirklich soll nachprüfen können. ({1}) An diesem Problem ändern Sie mit Ihren Aussagen keinen Deut. Wenn Sie hier sagen könnten: ich weiß, was Gewissen ist und wie man es prüft, könnte man ja vernünftig darüber sprechen. Dies aber gelingt Ihnen-nun einmal nicht.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wörner?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Möllemann, was in aller Welt bringt Sie denn, wenn dem so ist, in Ihrem Gesetzentwurf selbst zu der Regelung, daß eben jene Prüfung wieder eingeführt werden soll, wenn Not am Mann ist? ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wörner, genau darauf wollte ich eingehen, und genau darauf habe ich abgezielt, als ich eingangs sagte: Wir haben hier eine Konkurrenzsituation zwischen zwei Ansprüchen, die beide aus dem Grundgesetz ableitbar sind. ({0}) - Nein, das habe ich von vorneherein gesagt. Und wir versuchen hier eine Regelung zu finden, die dieser Konkurrenzsituation auf eine möglichst vernünftige Art und Weise gerecht wird. Nun begründen Sie ja Ihre Ablehnung der von uns vorgeschlagenen Regelung damit, daß nach Ihrer Auffassung eine zahlenmäßige Ausuferung der Gruppe derer zu erwarten sei, die dann - und das unterstellen Sie jetzt ja gerade durch Ihre Zwischenrufe sehr deutlich - unbefugterweise eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe für sich in Anspruch nehmen. Wenn Sie das so sehen und meinen, dann sagen Sie doch von vornherein deutlich, daß Sie es im Grunde niemandem zubilligen, unter Berufung auf sein Gewissen den Dienst mit der Waffe zu verweigern. ({1}) - Ich komme noch dazu. Ich würde Sie bitten, mir die Gelegenheit zu geben, das auch ausführen zu können. Wir sind der Auffassung, daß in einer Situation, in der die Zahl derer, die zum Wehrdienst anstehen, mehr als ausreicht, um die vorhandenen Plätze zu besetzen, auf das bisherige Verfahren verzichtet werden kann, ohne daß der Auftrag der Bundeswehr gefährdet wird. Dies ist unsere Überzeugung, die zweifellos auf einer hypothetischen Argumentation beruht. Das geben wir ja gern zu. Die Zukunft wird erweisen, ob wir von richtigen Annahmen ausgehen. Aber wir lassen uns nicht dadurch widerlegen, daß Sie hier sagen: Es gibt möglicherweise schon heute eine gewisse Zahl von jungen Leuten, die den Wehrdienst verweigern und die dann keinen Zivildienst werden leisten müssen. Wo bleibt denn Ihr genauso lautstarker Protest dagegen, daß wir heute und in den kommenden Jahren eine ganz dramatische Zahl von solchen haben, die wehrdienstfähig sind, aber nicht einberufen werden können, weil nicht genug Plätze bei der Bundeswehr vorhanden sind? Ich meine, Wehrgerechtigkeit oder Zivildienstgerechtigkeit ist in beiden Fällen ein relativer Begriff. Wir werden auf Grund der Zahlen, die wir kennen, und auf Grund der Entwicklung, die wir abschätzen können, weder alle diejenigen, die eigentlich Wehrdienst leisten müßten, zur Bundeswehr einziehen können, noch wahrscheinlich alle diejenigen, die Ersatzdienst leisten müßten, zum zivilen Ersatzdienst einziehen können. Damit müssen wir leben. Dies ist auch bekannt. ({2})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Biehle?

Alfred Biehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000176, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß dies nicht eine Frage der Gewissensentscheidung ist, sondern eine Frage der Wehrgerechtigkeit?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben recht: Das ist eine Frage der Wehrgerechtigkeit. Aber Sie haben hier vorhin durch Ihren Kollegen Kraske vortragen lassen, es erscheine Ihnen problematisch, wenn eine ungenügende Zahl von Zivildienstplätzen einer steigenden Zahl von Wehrdienstverweigerern gegenüberstehe. Ich habe dazu soeben inhaltlich Stellung genommen. Ich denke, das ist notwendig, wenn der Kollege eine solche Frage hier in den Raum stellt.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Kraske? Dr. Kraske ({0}); Herr Kollege Möllemann, ist Ihnen klar, daß Sie nach den vorliegenden Zahlen, wenn die Umfrageergebnisse zutreffen, in den nächsten drei Jahren den Anspruch der Bundeswehr nicht einmal quantitativ erfüllen können und daß Sie, wenn sich die Schätzungen von Herrn Iven mit 60 000 als richtig erweisen, jeden, der sonst zur Verfügung steht, zur Bundeswehr einziehen müssen, daß es also den von Ihnen behaupteten Überhang überhaupt nicht geben wird?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kraske, das ist nicht zutreffend. Ich sollte Ihnen vielleicht einmal die konkreten Zahlen sagen. Wir haben in diesem Jahr 394 000 junge Männer, die zur Einziehung heranstehen. Im Geburtsjahrgang 1961 steigt diese Zahl auf 478 000 und im Geburtsjahrgang 1965 auf 508 000. Diese Steigerungsrate erlaubt es uns unter Umständen - Sie sind bei Ihrer Auffassung genauso auf Hypothesen angewiesen wie wir auf Umfrageergebnisse über ein prognostiziertes Verhalten -, die Tatsache in Kauf zu nehmen, daß sowohl die Zahl der Wehrdienstverweigerer ansteigt - das registrieren wir im Augenblick - als auch auf der anderen Seite die Zahl derer, die eigentlich zum Wehrdienst heranstehen, aber nicht eingezogen werden können.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Biehle?

Alfred Biehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000176, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ist Ihnen denn nicht bekannt, daß es in der Zwischenzeit schon Kreiswehrersatzämter gibt, die nicht mehr in der Lage sind, den Bedarf nach den Anforderungen der Truppe in bezug auf Wehrpflichtige, die eingezogen werden sollen, zu erfüllen, und daß schon intern ein Austausch erfolgen muß, um den Bedarf tatsächlich zu decken? ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So pauschal trifft diese Aussage nicht zu. In Einzelbereichen hat es dies immer gegeben, daß bei spezifischen, konkret fachbezogenen Anforderungen ein Austausch vorgenommen werden mußte. Als allgemeine Erscheinung aber trifft das, was Sie sagen, nicht zu. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte darüber hinaus noch ein weiteres sagen; ich nehme das für mich in Anspruch. Ich halte es nicht für zulässig, daß Sie hier den Eindruck erwecken versuchen, als wollten wir, die wir uns darum bemühen, ein auch von Ihnen als unerträglich bezeichnetes Verfahren zu verbessern, die Verteidigungsfähigkeit, die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr und derer, die in ihr dienen, herabsetzen. Dies ist, wie ich Ihnen soeben sagte, auf Grund der steigenden Jahrgangszahlen nicht der Fall. Ich möchte Ihnen weiterhin noch sagen, was ich an Ihrer Argumentation, Herr Kollege Kraske, nicht verstehe. Ich habe in den Festschriften zum 25jährigen Bestehen der Bundeswehr auch von Ihren Autoren gelesen, daß Sie stolz darauf sind, daß die junge Generation ein so gewandeltes Verständnis von ihrer Pflicht, bei der Bundeswehr zu dienen, also von ihrer Einstellung zur Wehrpflicht hat. Wenn Sie hier aber die Nadelprobe bestehen sollen, lassen Sie gleichzeitig unterschwellig immer wieder durchkommen, daß die Angehörigen der jungen Generation aber nun, da wir ihnen dieses Gewissensrecht freier zur Verfügung stellen, so quasi als Drückeberger den Wehrdienst verweigern werden. ({1}) Das entlarvt eigentlich, daß Sie Ihre Festschriften nie ernst gemeint haben; wahrscheinlich sind sie wahltaktisch begründet und insofern abzulehnen. ({2}) - Herr Vogel, natürlich machen auch wir Wahltaktik. Ich bin ja in Warendorf in einem Bereich tätig, wo ich lange genug Ihr Wirken habe beobachten können. Allzulange kann ich es nicht nur Ihnen überlassen, wahltaktisch vorzugehen. ({3}) - Über den Erfolg wollen wir uns dann im Oktober unterhalten. Ihre Prophezeiungen und unsere Prophezeiungen gehen ein bißchen auseinander. Wir sollten das in aller Ruhe dem Wähler überlassen, der das schon entscheiden wird. ({4}) Ein weiteres, Herr Kollege Kraske, und dies entspricht im Grunde Ihrer Forderung. Wir haben aus dem militärischen Interesse heraus zweierlei getan, weil gewisse kritische Anmerkungen berechtigt sind. Zum einen haben wir gesagt, daß für die bereits bei der Bundeswehr Dienenden das allerdings jetzt modifizierte Verfahren weiterhin Gültigkeit haben soll. Dies schützt die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. Zum anderen - das haben wir bewußt gewollt - kann im Bedarfsfall, also dann, wenn der Grundgesetzauftrag aus Artikel 87 a nicht anders erfüllt werden kann, diese Regelung in Kraft gesetzt werden. Dies wäre dann eine unbefriedigende Perspektive, wenn man wirklich damit rechnen müßte. Aber auch dies unterscheidet uns eben. Wir gehen davon aus, daß dies nicht wird der Fall sein müssen. Ich muß unterstreichen, was hier der Herr Kollege Hölscher ({5}) - Herr Kollege Hösl, Sie werden noch einen Moment Geduld haben; ich nehme nicht mehr Zeit als Ihre Kollegen in Anspruch - zu Ihrem Vorwurf gesagt hat, wir behandelten die noch nicht Dienenden und die bereits bei der Bundeswehr Dienenden bewußt und unzulässigerweise ungleich. Ich finde es nicht berechtigt, so zu argumentieren, denn wir können wegen der von Ihnen geltend gemachten Bedenken eben nicht die Verfahrensweise aussetzen bei denen, die schon bei der Bundeswehr sind. Daher entsprechen wir ja gerade Ihren Bedenken. Ich finde es nicht gerechtfertigt, wenn Sie das auf diese Art und Weise kritisieren, wie Sie es hier getan haben. Abschließend ist festzustellen: 1. Durch die Initiative der Koalition, die heute hier zur Abstimmung steht, wird die Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG erleichtert. 2. Unerträgliche Verfahren der Gewissensprüfung und Gesinnungsschnüffelei werden weitgehend abgeschafft. 3. Die Situation der Bundeswehr und die Ansprüche in puncto Sicherheit werden nicht vernachlässigt. 4. Die aus dem bisherigen Verfahren resultierenden Probleme für die Truppe, insbesondere Probleme disziplinarischer Art, werden verringert. 5. Der hier vorliegende ausgewogene Kompromiß zwischen verschiedenen Interessen entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel. ({6}) 6. Wir sind zuversichtlich, daß der Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht, wie von Ihnen befürchtet wird, massenweise mißbraucht wird. 7. Die schlüssigste Regelung im Blick auf die vorliegende Entschließung wäre unseres Erachtens in der Tat eine der veränderten Rechtslage entsprechende Amnestie. Sie ist aber auf zu viele Rechts16486 bedenken gestoßen. Von daher stimmen wir der Entschließung ebenso wie dem Gesetz zu. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wir haben zur dritten Beratung keine Wortmeldung mehr vorliegen. Wir kommen damit zur Abstimmung in der dritten Lesung. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist angenommen. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Nr. 2 des Ausschußantrages, den Gesetzentwurf Drucksache 7/4206 abzulehnen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das erste war die Mehrheit. Wir kommen zur Abstimmung über Nr. 3 des Ausschußantrages, die Petitionen für erledigt zu erklären. - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Entschließungsantrag auf. Dazu hat Herr Abgeordneter Lutz das Wort.

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aussetzung des Prüfungsverfahrens hat natürlich sofort die Frage aufgeworfen - und das ist hier schon angesprochen worden -, was nun mit jenen Kriegsdienstverweigerern geschehen soll, die als solche von den Prüfungsausschüssen nicht anerkannt wurden, die aber gleichwohl, als sie eingezogen wurden, den Dienst bei der Bundeswehr und den Dienst mit der Waffe verweigert haben. Diese Personengruppe ist nach geltendem Recht zu Haftstrafen verurteilt worden. Wir schätzen, daß derzeit etwa 150 bis 180 Personen eine Freiheitsstrafe verbüßen. Ich will Ihnen sagen, daß meine Fraktion ursprünglich eine gesetzlich verankerte Amnestieregelung für diese Kriegsdienstverweigerer angestrebt hat. Im Verlauf der Beratungen hat sich jedoch gezeigt, daß eine solche Regelung auf erhebliche rechtliche Bedenken stieß, die wir in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht überwinden konnten. Folgendes sprach dagegen: Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil die Grenzen deutlich gemacht, die dem Gesetzgeber bei der Verabschiedung eines Amnestiegesetzes gezogen sind. Ich bin kein Jurist. Ich möchte den Tenor dieser Entscheidung auf die Formel vereinfachen, daß die Tatbestände, die unter die Amnestie fallen, zweifelsfrei formuliert und von jenen Tatbeständen abgegrenzt sein müssen, die nicht zur Strafbefreiung führen. Zwar wird mit dem soeben beschlossenen Gesetz im Regelfall die Gewissensentscheidung des Kriegsdienstverweigerers nicht mehr im Prüfungsverfahren getestet und im anderen Fall dem Verweigerer ein wesentlich faireres Verfahren eingeräumt. Wir führen den Kriegsdienstgegner nicht dadurch in neue Gewissenskonflikte, daß wir ihn vor einer endgültigen Entscheidung in die Bundeswehr zwingen. Wir produzieren so nicht mehr Straftaten, die aus dem Gewissenskonflikt entstehen, also Fahnenflucht und Befehlsverweigerung sozusagen als Kriegsdienstverweigerung mit anderen Mitteln. Aber Fahnenflucht, Befehlsverweigerung und ähnliche Delikte aus anderen Motiven werden ja weiterhin und sollen auch weiterhin mit Strafe bedroht sein. Im abstrakten Gesetzesdeutsch bei einer Amnestie diese beiden Straftatbestände säuberlich voneinander zu trennen, erwies sich als kaum lösbar. Deshalb haben wir einen anderen Weg gewählt und Ihnen seitens der Koalitionsfraktionen die Entschließung auf Drucksache 7/5002 zur Annahme empfohlen. Sinn dieser Entschließung ist es, auf dem Gnadenwege jenen 150 bis 180 Mitbürgern zu helfen, die derzeit wegen ihrer Gewissensentscheidung eine Freiheitsstrafe verbüßen. Das ist möglich; das muß möglich sein, weil es sich ja hier nicht um Fälle, sondern um Einzelschicksale handelt. Begnadigungen aber kann der Bund nicht vornehmen; dies ist Sache der Länder. Deshalb ergeht unsere Bitte an die Landesregierungen. Bei der politischen Vielfalt unserer Bundesländer sind allerdings - ich verhehle das nicht - nicht grundsätzlich Zweifel in der Richtung auszuschließen, daß es zu einer unterschiedlichen Handhabung der Gnadenpraxis kommen könnte. Deshalb bitten wir den Herrn Bundesjustizminister, fußend auf dieser Entschließung auf der Justizministerkonferenz eine einheitliche Regelung anzustreben. ({0}) Der Herr Bundesjustizminister hat uns wissen lassen, daß er dazu bereit ist. Wir danken ihm dafür, und wir sind sicher, daß sich auch seine Kollegen aus den Bundesländern dieser unserer Bitte nicht verschließen werden. Es gibt noch ein Problem, das ich nicht verschweigen will. Es ist vorstellbar, daß von jenen Kriegsdienstverweigern, die derzeit eine Freiheitsstrafe verbüßen, einige keinen Gnadenerweis erbitten werden, weil sie für das von Ihnen subjektiv empfundene Unrecht keine Gnade erbitten, sondern Recht fordern. Wir haben uns davon überzeugt, daß auch in diesen Fällen die Länderregierungen Wunden heilen und Ungerechtigkeiten, die aus jedem Stichtag, an dem eine neue gesetzliche Regelung in Kraft tritt, zwangsläufig erwachsen, beseitigen können. Das rechtliche Instrumentarium dafür liegt bereit. Wir erwarten, daß der Herr Bundesjustizminister und seine Kollegen in den Ländern auch in dieser Frage zu einvernehmlichen Lösungen kommen werden, denn die Ungerechtigkeit von Stichtagen potenziert sich immer da, wo sie an die Frage der Weiterführung des Freiheitsentzugs gebunden ist. Wir sind sicher, daß auch die Länder das abstrakte Recht nicht vor das sittliche Gebot der Menschlichkeit rücken werden. Deshalb sind wir auch sicher, daß die Ihnen vorliegende Entschließung dazu beitragen wird, das, was wir hoffentlich alle gemeinsam wollen, auch in die Praxis in allen Ländern von Schleswig-Holstein bis Bayern umzusetzen. Nun gibt es noch eine, wenn auch kleine Gruppe von Kriegsdienstverweigerern, die sich dem Prüfungsverfahren und einer möglichen Einberufung zur Bundeswehr durch Verlassen der Bundesrepublik entzogen haben. Wenn dieser Personenkreis jetzt zurückkäme, wäre es nicht sinnvoll, ihn zuerst einmal nach bislang geltendem Recht zu bestrafen und anschließend eine Begnadigung vorzunehmen. Wir gehen davon aus, daß die Staatsanwaltschaften und die Gerichte von einer Strafverfolgung dieser Gruppe von Mitbürgern Abstand nehmen und das heute beschlossene neue Recht sinngemäß anwenden. Um Annahme des Entschließungsantrages bitte ich namens der Koalitionsfraktionen. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort dazu wird gewünscht. Ich stelle den Entschließungsantrag zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das erste war die Mehrheit; es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung auf: a) Beratung des Berichts und des Antrags des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Jahresbericht 1974 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages - Drucksachen 7/3228, 7/3762 - Berichterstatter: Abgeordneter Rommerskirchen b) Beratung des Jahresberichts 1975 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages - Drucksachen 7/4812 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß Meine Damen und Herren, der Herr Wehrbeauftragte hatte vor drei Minuten noch Geburtstag. Da er nun heute unter uns ist, sollten wir - ich hatte gedacht, dies würde noch vor Mitternacht möglich sein - ihm die Glückwünsche des Hauses aussprechen. Ich hole dies hiermit nach. ({1}) Das Wort hat der Abgeordnete Schlaga.

Georg Schlaga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001974, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktionen sollten sich darauf einigen - ich halte das für möglich -, daß die erste Lesung des Berichts des Wehrbeauftragten wie üblich nur aus einer Überweisung besteht und die zweite Lesung dann die Aussprache enthält. Ich denke, wir sollten im Ausschuß darauf zurückkommen und das künftig so praktizieren. Es war aber vereinbart worden, daß bei der ersten Lesung einige Anmerkungen gemacht werden sollten. Es handelt sich hier um den ersten Bericht eines sozialdemokratischen Wehrbeauftragten. Wir sind begreiflicherweise stolz darauf und dankbar für die geleistete Arbeit, denn es war schließlich ein Gedanke, eine Idee der Sozialdemokraten, eines sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten, des Abgeordneten Ernst Paul, der in seiner schwedischen Emigration die Einrichtung des Wehrbeauftragten kennengelernt und diese hier initiiert hat. Im übrigen hat die Bundeswehr als einzige NATO-Armee einen Wehrbeauftragten. Auch das berechtigt uns sicherlich, stolz zu sein. Der vorliegende Bericht zeichnet sich tatsächlich durch Kürze, Übersichtlichkeit, Lesbarkeit und Sachgerechtigkeit aus, ({0}) und er bleibt in dem dem Wehrbeauftragten gesteckten Rahmen. Er enthält keine Sensationen. Er bewegt sich eher von der Sprache her im Understatement. Die Erfahrungen, die der Wehrbeauftragte Karl Wilhelm Berkhan im Bundesministerium der Verteidigung gesammelt hat, nützen zweifellos seiner jetzigen Arbeit. Wenn dann Kollegen von der Opposition - ich fand das nicht gut - sagen, er spreche gerade deswegen, weil er im Verteidigungsministerium tätig gewesen ist, sozusagen die Sprache seines ehemaligen Herrn, ({1}) dann suchen Sie wirklich, Herr Ernesti - Sie haben das heute im „Deutschland-Union-Dienst" Ihrer Partei geschrieben - bei Nacht in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze und rufen, Sie hätten sie, obwohl Sie genau wissen, daß sie nicht darin ist. Herr Berkhan hat einen viel zu gesunden und individualistischen Menschenverstand, als daß er dieser Versuchung erliegen könnte oder würde. Wer den Wehrbeauftragten kennt, der weiß, daß er eine soziale, aber auch eine - warum sollte das verheimlicht werden? - sozialdemokratische Grundeinstellung hat, der weiß ihn an seinem Lebensweg und seinen Erfahrungen zu messen, der kennt sein Engagement, seine Fähigkeit zum Engagement, sein Wissen und seine Unabhängigkeit, und der kennt seinen tiefen Respekt vor der Würde des Menschen. ({2}) Ich halte ihn für einen nahezu idealen Wehrbeauftragten. ({3}) Im ersten Jahr seiner Tätigkeit hat der Wehrbeauftragte sichtbare und wirksame, für jeden erkennbare Kontakte aufgenommen, die vorher in diesem Maße zweifellos nicht vorhanden waren: zum Verteidigungsausschuß, zur Präsidentin des Hauses, zu den Fraktionen, zu den Arbeitsgruppen und zu den Arbeitskreisen. Er hat als erster Wehrbeauftragter eine Sprechstunde eingerichtet. Ich darf an dieser Stelle eine kleine Empfehlung aussprechen und die Abgeordneten daran erinnern, daß diese Sprechstunde stattfindet und daß Sie mehr davon Gebrauch machen sollten, als es jetzt schon geschieht. Die interessanteste Anmerkung, die der Wehrbeauftragte in seinem Bericht gemacht hat, befindet sich auf Seite 4. Man sollte sie an dieser Stelle einmal zitieren dürfen. Dort heißt es: Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplätzen, Numerus clausus an den Hochschulen, wirken sich auf das Gemüt junger Menschen bedrückend aus. Dies spüre ich auch bei den Soldaten, die dazu neigen, berechtigte Klagen und Forderungen - wenn überhaupt - nur allzu zögernd und zurückhaltend vorzutragen. Zwar erfordert der militärische Dienstbereich unter anderem Anpassungsfähigkeit. Aber Anpassungsfähigkeit allein vermag nicht mitdenkenden Gehorsam zu wecken, eigenverantwortliches Mittun zu fördern. Unsere Streitkräfte brauchen nicht die Mitläufer und Jasager, sondern eigenverantwortliche Soldaten. Nun, das könnte ein typischer „Berkhan" sein; das wäre möglich. Gerade in seiner Unabhängigkeit ist er in der Lage, das so zu formulieren. Es mag auch sein, daß das umstritten ist. Wenn das aber so gesehen wird oder so gesehen werden könnte bzw. wenn das so ist oder so sein könnte und wenn noch Zweifler vorhanden sein sollten, dann sollte man im Einvernehmen mit dem BMVg einen Forschungsauftrag an das sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr mit der Bitte vergeben, sich einmal um die Gründe, die hier angesprochen werden, zu kümmern, ({4}) sie zu erforschen, sie gegebenenfalls zu erhärten und nach Möglichkeiten für Abhilfe zu suchen. Da der Wehrbeauftragte in dem Passus, der hier eben zitiert worden ist, sagt, daß nur allzu zögernd und zurückhaltend von der Möglichkeit, sich an ihn zu wenden, Gebrauch gemacht werde, meinen Kritiker hier und da schon äußern zu sollen, wenn der Wehrbeauftragte das so sage, dann wolle er wohl mehr Eingaben haben, um seine Existenzberechtigung zu beweisen. Ich halte das für ein schwaches bis gefährliches Argument; denn das tangiert die Institution Wehrbeauftragter. Ich warne davor, so weiter zu verfahren. Der Wehrbeauftragte stellt dann ganz lapidar fest: Schwere Verstöße sind nicht zu berichten. Das ist für den ganzen Bericht eigentlich kennzeichnend. Kein Wunder, wenn der Wehrbeauftragte von Verstößen nur Beispiele bringt oder bringen kann, die manchmal als fast harmlos zu bezeichnen sind! Es würde mich reizen, die Beispiele aufzuzählen. Die Zeit erlaubt es aber nicht. Über Umfang und Art der in dem Bericht zitierten Strafen mag mir eine Anmerkung erlaubt sein. Man kann immer darüber rechten. Da wird der Fall eines Soldaten dargestellt, der mehrfach zu spät aufgestanden ist und daraufhin von seinem Disziplinarvorgesetzten mit fünf Wochen Nachtausgangsverbot belegt worden ist. Dieser Fall wurde dem Wehrbeauftragten vorgetragen. Der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte hat die Strafe dann auf 16 Tage reduziert. Dazu wage ich die Anmerkung zu machen: Warum ist es eigentlich nicht möglich, daß der eine oder andere Disziplinarvorgesetzte von sich aus, vielleicht dank besserer Einsicht, dazu kommt, Strafen einmal herabzusetzen? Das würde, wie ich meine, seine Autorität überhaupt nicht schädigen, sondern ihn menschlicher gegenüber den Soldaten und glaubwürdiger machen können. Man sollte darüber diskutieren, zumindest einmal nachdenken. Im Zusammenhang mit einer ausgesprochenen Strafe bei dem Versagen eines Soldaten während eines 20 km langen Leistungsmarsches fiel mir wieder eine lange zurückliegende Sache ein, nämlich Nagold. In diesem Zusammenhang meine Bitte, den Sport in der Bundeswehr etwas mehr zu systematisieren. Wenn es damals richtig war - ich nehme an, die Verhältnisse sind heute etwas anders -, dann gab es in der Fallschirmjägereinheit in Nagold ganze drei Sportabzeichenträger, und die Hälfte der Einheit bestand aus Nichtschwimmern. Man sollte das gerade unter diesem Aspekt einmal untersuchen, damit es nicht zu ungerechtfertigten Strafen kommen muß. Besondere Beachtung verdienen in diesem Bericht die Änderungsvorschläge und Anregungen des Wehrbeauftragten. Da ist einmal der sicher schwierige Komplex des Tragens von Uniform während politischer Veranstaltungen, dessen Beratung wir uns besonders angelegen sein lassen solllten.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Berger?

Lieselotte Berger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, würde es Sie stören, wenn ich Sie frage, ob Sie nicht bereit sind, um 15 Minuten nach Mitternacht davon auszugehen, daß die hier Anwesenden den Bericht Drucksache 7/4812 durchaus gelesen haben, insoweit also über das, was Sie hier vortragen, voll informiert sind?

Georg Schlaga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001974, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich danke Ihnen für die Anregung. Die Geschäftsführer der Fraktionen haben vorhin den Versuch gemacht, dahin übereinzukommen, daß wir das auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Das hat sich aber nicht ermöglichen lassen. Ich wäre gern damit einverstanden. So wie man bei vielen anderen Vorlagen davon ausgehen kann, daß sie gelesen worden sind, unterstelle ich, daß das auch hier der Fall ist. Ich bin mit Ihnen völlig einer Auffassung. Ich werde mich bemühen, sofort zum Schluß zu kommen. Es geht darum, daß die Änderungsanträge, die der Wehrbeauftragte stellt, hier noch einmal erwähnt werden. Es ist üblich das bei allen Vorlagen so zu handhaben, daß man das Besondere noch einmal herausstellt. Wir könnten ja die PleSchlaga narsitzung völlig einstellen, wenn wir davon ausgehen, daß jeder alles gelesen hat und die Abstimmung dann im stillen Kämmerlein per Rundspruch vollzieht. Im übrigen fasse ich mich tatsächlich kurz. In dem Bericht sind einige Anregungen vorgebracht worden, das Tragen von Uniform bei politischen Veranstaltungen noch einmal zu überdenken und eventuell zu einem generellen Verbot zu kommen. Wir werden das eingehend prüfen und sehen, ob das so gehandhabt werden kann. Eine weitere Anregung des Wehrbeauftragten betrifft die komplizierte Frage, den Disziplinarvorgesetzten Erläuterungen und Auslegungsregeln für die Entscheidungshilfen bezüglich der Entscheidung über die Befreiung von der unmittelbaren Bedienung der Waffe zu geben. Diese Anregung bezieht sich also auf das Gebiet, das eben hier behandelt worden ist. Schließlich geht es um die Nachdienregelung und um die Einsichtnahme in Prüfungsunterlagen. Ich halte diesen Vorschlag für sehr erwägenswert. Wir sollten u ns die Realisierung dieses Vorschlages angelegen sein lassen. In dem Bericht ist darüber hinaus ein Änderungsvorschlag betreffend die Pauschalierung der Ermäßigungen für Bundeswehrurlauberfahrkarten enthalten. Dies ist ein sehr interessanter und bedeutender Vorschlag. Die Vorschläge, die der Wehrbeauftragte gemacht hat, sind, wie ich meine, alles in allem maßvolle, aber wirkungsvolle Vorschläge. Wir werden sie in unserer Fraktion prüfen. Ich bin sicher, daß wir sie, soweit sie zu verwirklichen sind, dann auch zur Verwirklichung vorschlagen werden. Die sozialdemokratische Fraktion weiß die Arbeit des Wehrbeauftragten zu würdigen und zu schätzen. So wie dieser Wehrbeauftragte arbeitet, haben wir uns die Arbeit auch vorgestellt, als das Amt des Wehrbeauftragten seinerzeit eingeführt wurde: geräuschlos, effektiv, aufrichtig, schnell. Unser Dank gilt dem Wehrbeauftragten Karl Wilhelm Berkhan. Wir werden uns seiner Arbeit in besonderer Weise widmen und ihn weiterhin unterstützen. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Ernesti.

Leo Ernesti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000491, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schlaga, ich glaube, Sie haben dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages und damit unserem Wehrbeauftragten in diesem ,Parlament keinen Gefallen getan, als Sie ihn hier zum sozialdemokratischen Wehrbeauftragten stempelten. ({0}) Wir verkennen nicht, daß der Wehrbeauftragte Sozialdemokrat ist. Da wir ihn aber schätzen, haben wir ihn mit gewählt, und wir möchten deswegen auch, daß er der Wehrbeauftragte dieses Parlaments bleibt. ({1}) Ich habe allerdings den Eindruck, daß Sie sich bei dem Zustand Ihrer Partei vielleicht einen Ombudsman leisten. Dann haben Sie einen sozialdemokratischen Beauftragten. ({2}) Meine Damen und Herren, der neue Wehrbeauftragte legt seinen ersten Jahresbericht vor, der zunächst durch seine Kürze auffällt. Die konzentrierte Zusammenfassung und die Aufzeigung von Tatbeständen symptomatischer Bedeutung finden unsere Zustimmung. Hiermit und mit der Unterbreitung von Abstellungsvorschlägen und der Angabe von Beachtung oder Nichtbeachtung früherer Anregungen greift der Herr Wehrbeauftragte Vorschläge auf, die mein Kollege Rommerskirchen im Namen der CDU/CSU-Fraktion anläßlich der Beratung des Jahresberichtes am 18. April 1975 vor dem Deutschen Bundestag nannte. Auch die Anregung, bei der künftigen Gestaltung der Jahresberichte auf den Charakter umfassender wissenschaftlicher Studien zu verzichten, fand dankenswerterweise Verwirklichung. Die Absicht, enge Verbindung zum Parlament, insbesondere zum Verteidigungsausschuß und zu den Fraktionen zu halten, den Kontakt ständig zu pflegen und eine fortwährende enge Verbindung sicherzustellen, ist von uns sehr begrüßt worden. Diese einleitende Feststellung kann indessen nicht im Widerspruch zu den kritischen Anmerkungen stehen, die ich namens meiner Fraktion anschließend vortrage. Sosehr die Kürze dieses Berichtes auch zu begrüßen ist, darf sie jedoch nicht dazu führen, wesentliche Aussagen unter den Tisch fallen zu lassen. Wir verkennen dabei nicht, daß es für den Wehrbeauftragten, der vorher in der Pflicht der Exekutive stand, in der Übergangsphase sehr schwierig sein kann, nunmehr Kritik aus dem Gesichtswinkel der parlamentarischen Kontrolle auch an solchen Maßnahmen zu üben, an denen er als Parlamentarischer Staatssekretär selbst mitgewirkt hat. Insofern ist der Bericht nicht umfassend und daher teilweise lückenhaft. Mangelnde Kritik an der Exekutive wurde bei der Vorstellung dieses Berichtes durch den Wehrbeauftragten durch seine Feststellung ersetzt, daß die Bundeswehr „fast zu brav" sei. Bei dieser Aussage des Wehrbeauftragten könnte man leicht der Versuchung erliegen, ihn zu fragen, ob er sich nicht selbst in seiner Zurückhaltung vor dem Bundesministerium der Verteidigung zu brav verhält. Gelegentlich nimmt sich der Bericht fast als Tätigkeits- und Rechenschaftsbericht des Verteidigungsministeriums aus. ({3}) Es drängt sich der Eindruck auf, noch die Stimme seines früheren Herrn, des Verteidigungsministers, selbst zu vernehmen. Dieser behauptete oft genug auch an dieser Stelle, die Bundeswehr sei nie so stark, nie so groß, nie so diszipliniert gewesen wie im Augenblick. Wie bekannt, duldet sein früherer Minister in diesen Dingen keinen Widerspruch. Wenn heute anläßlich der Überweisung des Jahresberichts 1975 meine Fraktion davon absieht, auf Ernest! einzelne Streitfragen näher einzugehen, dann geschieht dies ausschließlich im Interesse einer um so gründlicheren Beratung im dafür zuständigen Verteidigungsausschuß. Einige kritische Bemerkungen seien indessen heute schon an dieser Stelle vorweggenommen. Zum Beispiel vermissen wir, daß auf die Problematik, die das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung betrifft, näher eingegangen wird. Das Änderungsgesetz zum Wehrpflichtgesetz nach den Vorstellungen der Bundeswehr, über das hier vorhin entschieden worden ist, enthält unbefriedigende Regelungen. Sie werfen ihre Schatten bereits voraus, und sie haben in weiten Kreisen, denen die wirksame Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik in besonderem Maße am Herzen liegt, schon zu großer Beunruhigung geführt. Dazu zählen in erster Linie auch die Soldaten. Hier hätte sich das Frühwarnsystem, wie die Institution des Wehrbeauftragten mit Recht bezeichnet wird, bewähren können. Das Gesetz wird dem Rang des individuellen Grundrechts der Gewissensfreiheit und Gewissensverantwortung nicht gerecht, weil es generell unterschiedliche Regelungen für verschiedene Personengruppen enthält. ({4})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schlaga?

Leo Ernesti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000491, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Rücksicht auf die fortgeschrittene Zeit möchte ich keine Fragen beantworten, Frau Präsidentin. Wir sind der Auffassung, daß der Wehrbeauftragte, dem der Schutz der Grundrechte im Zusammenhang mit dem Wehrdienst als unmittelbarer Auftrag gegeben ist, sich mit dieser bedenklichen Regelung hätte befassen müssen. Er darf sich in diesem Zusammenhang nicht seiner Verpflichtung entziehen und sich nicht als inkompetent erklären. Es ist nicht verständlich, daß der Wehrbeauftragte hierauf nicht näher eingegangen ist. Denn er muß wie wir wissen, daß die vorgesehenen Regelungen ernsthafte Folgen sowohl auf das innere Gefüge als auch auf den Bestand unserer Bundeswehr haben müssen. Auch die mit Recht an dem G 1-Hinweis Nr. 9/75 vom 26. November 1975 geübte Kritik reicht nicht aus, zumal da sich dieser lediglich mit der Behandlung der Personen befaßt, die als Soldaten den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern. Allerdings stimmen wir voll der Auffassung des Wehrbeauftragten zu, wenn er beklagt, daß wieder einmal die Verantwortung auf die untere Führungsebene abgeschoben wird. Die politische Betätigung der Soldaten ist an dem Fall der Information für Kommandeure Nr. 1/73 aufgezeigt. Dieser befaßt sich allerdings lediglich mit dem Tragen der Uniform bei Großkundgebungen von Berufsorganisationen. Wir können uns der vom Wehrbeauftragten vertretenen Ansicht, das Tragen der Uniform bei Großkundgebungen von Berufsorganisationen generell zu verbieten, so nicht anschließen. Wir halten dieses Problem, so wichtig es auch sein mag, hinsichtlich der Fragen politischer Betätigung für nicht sehr entscheidend. Dagegen muß mit Sorge auf die fortschreitende einseitige Politisierung der Bundeswehr hingewiesen werden. Hierbei weise ich zum Beispiel auf Versuche hin, die auf Grund des Amtsmißbrauchs von Angehörigen des Bundesministeriums der Verteidigung betrieben werden, in der Truppe politische Meinung zu beeinflussen. Sowohl das Soldatengesetz als auch der Erlaß über „Politische Betätigung von Soldaten" zieht deutliche Grenzen. Diese werden leider - meist vor Wahlen - mißachtet. Ich empfehle daher dem Wehrbeauftragten, diesem Mißstand in Zukunft seine Aufmerksamkeit zu widmen. Mit besonderem Interesse nahm meine Fraktion die Feststellungen im Bericht zur Kenntnis, mit denen der Wehrbeauftragte die Probleme aufgriff, die seit langem Ursache großer Beunruhigung und Verbitterung in der Truppe und bei den Betroffenen sind und die wir durch geeignete Initiativen einer entscheidenden Verbesserung zuführen wollten. Ich meine damit die Fragen, die mit dem Arbeitsplatzschutzgesetz für Wehrpflichtige, mit der Verwendung und Beförderung der Soldaten und mit den Folgen bei der Heraufsetzung der besonderen Altersgrenzen im Zusammenhang stehen. Hierbei verweise ich auf den von meiner Fraktion eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsplatzschutzgesetzes. Wir stimmen der Beanstandung durch den Wehrbeauftragten zu, denn auch wir halten es für unvertretbar, daß jährlich Tausende junger Männer um jede Dienstleistung herumkommen, während andere ihrer gesetzlich geforderten Dienstpflicht nachkommen müssen. Für völlig unerträglich halten wir es aber, daß die Dienstleistenden neben dieser ungleichen Behandlung und vielfältigen dienstlichen Belastung angesichts der verschlechterten Wirtschaftslage nun auch noch damit rechnen müssen, daß ihr Arbeitsplatz aus Anlaß des Wehrdienstes gefährdet ist und sie wenige Wochen nach Wiedereintritt in die zivile Arbeitswelt ihre Kündigung erhalten. Meine Damen und Herren, mit der Kritik am Entschluß des Bundesministeriums der Verteidigung, das sich bisher weigerte, die Einweisungsrichtlinien für Hauptfeldwebel zu ändern, wird im Jahresbericht eine von meiner Fraktion im Verteidigungsausschuß wiederholt vertretene Auffassung aufgegriffen. Wenn auch unsere Absicht, 25 % der vorhandenen Planstellen auf A 9 anzuheben, durch Beschluß des Verteidigungsausschusses auf 15 % herabgesetzt wurde, macht das Verteidigungsministerium nur für etwa 10 % hiervon Gebrauch. Wir begrüßen daher, daß sich der Wehrbeauftragte unseren Bemühungen anschließt. Bei dieser Diskussion setzen wir uns wieder dafür ein, gleichzeitig mit diner solchen Lösung auch den Spitzendienstgrad des Stabsfeldwebels wieder einzuführen. ({0}) Der Wehrbeauftragte setzt sich im Zusammenhang mit den als Folge des Haushaltsstrukturgesetzes verfügten Einschränkungen, die im Bereich des Verteidigungsressorts zur Heraufsetzung der besonderen Altersgrenze um ein Jahr führten, für eine Übergangsregelung für Offiziere und Unteroffiziere ein. Wir begrüßen dies und tun dies nicht erst heute, denn wir haben bei den Beratungen im Verteidigungsausschuß eine bessere Regelung vorgeschlagen. Die heutige Überweisungsberatung läßt keine Zeit, über den Rahmen der angesprochenen Probleme hinaus die Vielzahl der Einzelfragen zu behandeln. Dies liegt in der Zuständigkeit des Fachausschusses, der diesen Bericht einer gründlichen Beratung unterziehen sollte. Der Zeitbedarf, meine Damen und Herren, der dafür angesetzt werden wird, sollte sich ausschließlich aus der Sache ergeben. Wir schlagen allerdings dort eine Beschränkung auf das Wichtigste vor und regen heute schon zur Behandlung folgende Komplexe an. Den Fragen der inneren Führung sollte, nachdem die Begriffs- und Prinzipiendiskussion beendet ist, besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf hinreichende Vorbereitung der Vorgesetzten, insbesondere auf der Ebene der Kompanie-, Zug- und Gruppenführer, gewidmet werden. So hilfreich und bedeutungsvoll die Leitsätze der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 für das Führungsverhalten der Vorgesetzten sind, kommt zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Fähigkeit zur Menschenführung erhöhte Bedeutung zu. Bei der Beratung dieser Fragen im Verteidigungsausschuß sollten - wie von meinem Kollegen Rommerskirchen schon bei der ersten Beratung des Jahresberichts 1974 vorgeschlagen - Sprecher des Beirates für Fragen der inneren Führung teilnehmen. Die Lehrgangsschwemme infolge der Neuordnung des Ausbildungswesens führt zu hohen Abwesenheitszahlen bei der Truppe und wirkt sich dort sehr nachteilig aus. Bei den vom Hochschulstudium an den Bundeswehr-Hochschulen zur Truppe zurückkehrenden Offizieren ohne Studienabschluß ist ein sehr geringer Ausbildungsstand festzustellen. Die Erstattung eines Zwischenberichts zu diesem Sachverhalt durch das Bundesministerium der Verteidigung wäre hier angebracht. Auf dem Gebiet der Fürsorge fällt auf, daß sie mit 4 253 Eingaben weit an der Spitze aller Eingaben liegt. Dies verwundert um so mehr, als man erwarten konnte, daß sich auf diesem Gebiet auf die Dauer die Tätigkeit der inzwischen groß ausgebauten Sozialabteilung des Bundesministeriums der Verteidigung positiver auswirken würde. Um der Unruhe und Verstimmung in der Truppe auf diesem Gebiet wirksam entgegenzuwirken, schlagen wir weiter vor, bei den Beratungen im Verteidigungsausschuß folgenden Komplexen erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen: Wohnungsfürsorge, Gesundheitswesen, Wehrgerechtigkeit und unzumutbare Dienstzeitbelastung Wir hatten gehofft, meine Damen und Herren, das leidige Thema „Kompetenzen des Wehrbeauftragten" durch eine Novellierung des betreffenden Gesetzes abschließen zu können, und wir haben uns an den Bemühungen konstruktiv beteiligt. Zu unserem. Bedauern dürfte das insofern zumindest vorerst gescheitert sein, als voneinander stark abweichende Rechtsgutachten neuer Erörterungen und Abklärungen bedürfen. Lassen Sie mich zum Schluß bei aller Kritik feststellen, daß wir dem Wehrbeauftragten und damit auch seinen Mitarbeitern für die geleistete Arbeit unseren Dank aussprechen. ({1}) Er kann auch weiter davon ausgehen, daß er in seiner verantwortungsvollen Tätigkeit als überparteilicher Sachwalter im Dienst am Soldaten, dem wir alle ein hohes Maß an Pflichterfüllung abverlangen, jederzeit unserer ganzen Unterstützung sicher sein kann. Wir schlagen vor, den Jahresbericht 1975 des Wehrbeauftragten gemäß dem Vorschlag des Ältestenrats dem Verteidigungsausschuß zur Beratung zu überweisen. Hinsichtlich des Jahresberichts 1974 des Wehrbeauftragten, der auch noch auf der Tagesordnung steht, schließt sich die CDU/CSU-Fraktion dem damaligen Vorschlag des Berichterstatters gemäß der Bundestagsdrucksache 7/3762 an, diesen seitens des Hohen Hauses zur Kenntnis zu nehmen. ({2})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Freien Demokraten begrüßen den Bericht des Wehrbeauftragten. Sie halten ihn für so wichtig, daß er zu einem anderen Zeitpunkt in anderer Qualität diskutiert werden muß, als dies jetzt hier möglich sein kann. Ich denke, es ist vernünftig, zu sehen, daß um diese Tageszeit eine angemessene Diskussion nicht mehr erfolgen wird. ({0}) - Wer jetzt hier protestiert, Herr Kollege Vogel, redet an der Wirklichkeit vorbei. Sie tun das in diesem Fall ganz sicherlich wieder einmal. Wir danken dem Wehrbeauftragten. Wir meinen auch, daß ein Mann, der in dieser Funktion bis vor wenigen Minuten auch noch Geburtstag gehabt hat, jetzt vielleicht das Recht haben sollte, den Abschluß des Tages anders zuzubringen als bei dieser Debatte. Wir stimmen der Überweisung an den Ausschuß zu. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag des Verteidigungsausschusses. Er liegt in drei Punkten vor. Können wir der Einfachheit halber darüber gemeinsam abstimmen? - Wer dem Ausschußantrag zustimmen will, gebe bitte das Vizepräsident Frau Funcke Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Bezüglich des Punktes 6 b - Jahresbericht 1975 - ist die Überweisung an den Verteidigungsausschuß vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes ({0}) - Drucksache 7/3494 - a) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 7/4539 - Berichterstatter: Abgeordneter Walther b) Bericht und Antrag des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 7/4534 - Berichterstatter: Abgeordneter Gerster ({3}) Abgeordneter Pensky ({4}) Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Lesung. Dazu liegt ein Änderungsantrag vor, der mehrere Paragraphen umfaßt. Ich glaube, wir sollten zu Beginn diesen Änderungsantrag begründen lassen und dann in die Abstimmung eintreten. Zur Begründung hat Herr Abgeordneter Gerster das Wort. ({5})

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wäre dankbar gewesen, wenn die weise Einsicht des Kollegen Möllemann, zu so später Stunde nicht so wichtige Themen dieser Art zu erörtern, auch hinsichtlich des Bundesgrenzschutzes Gültigkeit gehabt hätte. So aber werden wir mit Sicherheit der Bedeutung und der Auswirkung des Personalstrukturgesetzes für den Bundesgrenzschutz nicht gerecht. Ich möchte es sogar als eine Unmöglichkeit bezeichnen, daß die Koalitionsparteien wider jede Vernunft und Einsicht die Schlußberatung heute überraschend auf die Tagesordnung gesetzt haben, mit der Folge, daß wir um 24.30 Uhr dieses Gesetz beraten. Die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes, die sicherlich diesem Gesetz besondere Aufmerksamkeit schenken wollten, haben nicht die Gelegenheit, hier teilzunehmen. Zum anderen muß diese Beratung unter Zeitdruck erfolgen, obwohl nach der Sommerpause Zeit genug gewesen wäre, dieses Gesetz ohne Zeitdruck und dennoch rechtzeitig vor Inkrafttreten am 1. Juli 1976 zu verabschieden. ({0}) Ich halte dieses Verhalten der Koalitionsparteien für nicht besonders verantwortungsvoll gegenüber dem Bundesgrenzschutz, wenn hier fast in einer Nacht- und Nebelaktion dieses Gesetz jetzt beraten wird. ({1}) Lassen Sie mich zu folgenden Punkten Stellung nehmen. Erstens. Durch dieses Gesetz soll die Personalstruktur des Bundesgrenzschutzes an die Struktur der Polizeit der Länder angeglichen werden. Diese Absicht ist folgerichtig, da der Bundesgrenzschutz die Polizei des Bundes ist. Wer allerdings die künftige Struktur des BGS mit der der Länderpolizeien vergleicht, wird weiterhin Unterschiede, auch gerade zu Lasten des Bundesgrenzschutzes, feststellen. Hier bleibt das Gesetz hinter den Versprechungen, den dadurch geweckten Erwartungen und hinter seinem eigenen Ziel zurück. Bei weitem sind nicht alle berechtigten Forderungen erfüllt. Weiteres muß zukünftig mit Sicherheit noch getan werden. Zweitens. Durch dieses Gesetz soll der Bundesgrenzschutz nach den selbstgefälligen Worten der Bundesregierung zu einer leistungsfähigen und stets einsatzbereiten Polizei ausgestaltet werden. Ich zweifle nicht an der Leistungsbereitschaft der Angehörigen des Bundesgrenzschutzes. Ich weiß jedoch, daß künftig weite Bereiche der Verbände nicht einsatzbereit sein werden, wenn die Bundesregierung mit diesem Gesetz ihre Ausbildungskonzeption durchsetzt. An die Stelle der bisherigen Kurzausbildung soll ein dreieinhalbjährige Ausbildung treten. Ausbildung, zumal bessere Ausbildung, ist sicherlich vorteilhaft. Die Frage ist aber, wer diejenigen Beamten, die zukünftig auf der Schulbank sitzen werden, auf Dauer im Bundesgrenzschutz in den Einsatzabteilungen ersetzen wird. Der Ausbildungsreferent des Bundesinnenministeriums hat auf einer internen Tagung in KasselFuldatal eine interessante und zugleich alarmierende Rechnung aufgemacht. Er glaubt, daß von bisher 23 Einsatzabteilungen ganze zehn im östlichen Grenzbereich übrigbleiben werden, daß dann, wenn die Beamten auch im zweiten Jahr auf Grund ihrer polizeifachlichen Ausbildung nicht für Einsätze zur Verfügung stehen was durchaus wünschenswert sein könnte -, sogar nur ganze vier Einsatzabteilungen übrigbleiben werden. Der Ausbildungsreferent entkräftet damit den offizielen Bericht der Bundesregierung gegenüber dem Innenausschuß, die eine Schwächung des Bundesgrenzschutzes bis heute bestreitet. Selbst wenn diese Darstellung des Ausbildungsreferenten - und er müßte als Praktiker die Auswirkungen ja am besten kennen - dennoch angezweifelt wird, bleibt gleichwohl die Frage - ich darf sie wiederholen -: Woher kommt Ersatz für die große Zahl benötigter Ausbilder und für die Beamten im Bundesgrenzschutz, die zukünftig eben nicht ein, sondern dreieinhalb Jahre ausgebildet werden müssen? Die Bundesregierung weicht dieser Frage aus und vernebelt den Sachverhalt mit der Gerster ({2}) Feststellung, daß der Bundesgrenzschutz heute die größte Leistungsfähigkeit und Einsatzstärke erreicht hat. Das stimmt sogar, wenn man berücksichtigt, daß der Bundesgrenzschutz inzwischen über 21 000 Angehörige zählt. Es stimmt aber eben nicht, wenn man die wahre Einsatzstärke im östlichen Grenzbereich in Rechnung stellt. So sind inzwischen durch die ständige Übertragung neuer Aufgaben im Landesinnern von den 21 000 Beamten des Bundesgrenzschutzes nur noch knapp 13 000 Beamte in den Verbänden an der Grenze zur DDR und zur CSSR. Die absolute Gesamtstärke des Bundesgrenzschutzes sagt daher noch gar nichts über die Präsenzstärke im östlichen Grenzbereich aus. Diese ist heute allenfalls bedingt zufriedenstellend und darüber hinaus durch die Ausbildungspläne der Bundesregierung stärker gefährdet. Wir sind der Auffassung, daß die Bundesregierung ihre Ausbildungsvorstellungen teilweise umstellen muß, damit nicht die Voraussage ihres eigenen Ausbildungsreferenten wahr wird, nämlich daß die Einsatzkraft des Bundesgrenzschutzes insbesondere in der Anfangsphase geschwächt wird. Drittens. Die Unionsfraktion unterstützt nach wie vor den Versuch einer dienstrechtlichen Ausgestaltung des Berufes des Polizeivollzugsbeamten im Bundesgrenzschutz und einer entsprechenden Angleichung an die Polizeien der Länder, lehnt aber die damit parallel laufende Veränderung des Bundesgrenzschutzes durch administrative Maßnahmen, die durch dieses Gesetz noch beflügelt werden kann, ab. Der Bundesgrenzschutz feiert in diesen Tagen sein 25jähriges Jubiläum. Trotz Höhen und Tiefen in seiner Entwicklung hat er sich grundsätzlich bewährt, und es ist sicherlich hier und heute der richtige Ort und die richtige Zeit, allen Angehörigen des Bundesgrenzschutzes, die dieses positive Bild mitgefördert haben, Dank auszusprechen. ({3}) Die ursprüngliche Aufgabe des Bundesgrenzschutzes - der Dienst an der Grenze im Verband wie im Einzelvollzug - ist nicht entbehrlich geworden; sie ist heute so aktuell wie eh und je, auch wenn andere wichtige Aufgaben hinzugekommen sind. Wenn der ursprüngliche Auftrag jedoch geblieben ist, wenn die Notwendigkeit des Bundesgrenzschutzes als einer Verbandspolizei heute wie früher anerkannt wird, ist die Frage zu stellen, warum die Bundesregierung den Bundesgrenzschutz eben durch administrative Maßnahmen - ich nenne hier nur ein Beispiel, das Problem der Ausrüstung - umkrempelt. Die Frage ist: Was hat sich eigentlich nicht bewährt? Vernebelt hier nicht nach wie vor eine unrealistische Entspannungseuphorie weiterhin den klaren Blick für die Gegebenheiten? Kuscht man eventuell vor den unsachlichen Tiefschlägen des SPD-Mitgliedes und früheren Gewerkschaftsvorsitzenden Kuhlmann? Die Koalition benutzt das Personalstrukturgesetz offensichtlich, um die verwaltungsintern eingeleitete Veränderung des Bundesgrenzschutzes weg vom Verband im Grenzbereich voranzutreiben. Anders ist es nicht zu verstehen, daß SPD und FDP den von der Unionsfraktion beantragten Wegfall des einfachen Dienstes schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes ablehnen und der Einführung einer neuen Uniform den Vorrang einräumen. Die Koalitionsparteien verhindern damit die frühzeitige Aufbesserung der von A 1 bis A 4 eingestuften Beamten des einfachen Dienstes, die etwa 5,5 Millionen DM kosten würde, zugunsten einer neuen Uniform, die in den nächsten Jahren 30 Millionen DM kosten wird. Wenn bei den. Koalitionsparteien die dienstrechtliche Angleichung der Beamten tatsächlich im Vordergrund stünde, müßte man unserem Vorschlag folgen, jetzt die Anhebung der Stellen von A 1 bis A 4 vorzunehmen und später dann die neue Uniform einzuführen. ({4}) Viertens. Die CDU/CSU wird dem Personalstrukturgesetz wegen der erforderlichen Verbesserungen für die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes zustimmen, glaubt aber, daß im Interesse der Beamten und im Interesse eines sachbezogenen Ausbaus des Bundesgrenzschutzes als einer Verbandspolizei folgende Änderungsanträge, die bereits im Innenausschuß gestellt wurden, angenommen werden müßten. Zu § 3: die Einrichtung der Laufbahn der Polizeiwachtmeister und -meister und der Laufbahn der Polizeioffiziere mit entsprechenden Amtsbezeichnungen. Dieser Antrag folgt den Erfordernissen, die die verbandsspezifische Organisation des Bundesgrenzschutzes stellt. Ebenfalls zu § 3: die Beibehaltung der Ämter der Stabsmeister und Oberstabsmeister, die für den Bundesgrenzschutz unentbehrlich und aus sozialen Gründen geboten sind. Diesen Zielen dient auch der Ihnen vorliegende Änderungsantrag zu Art. II. Zu § 7: die gesetzliche Klarstellung, daß die Aufgaben des Bundesgrenzschutzes eine verbandspolizeiliche Organisation und einen verbandsmäßigen Einsatz erfordern und daß darauf die Ausbildung abzustellen ist. Zu § 8: die Sicherstellung der Bundesgrenzschutzbeamten insoweit, als sie nur mit ihrer Zustimmung zu anderen Bundesbehörden versetzt werden sollen. Der Antrag zu § 13, der den Beamten auf Widerruf das Verbleiben im Bundesgrenzschutz ermöglichen sollte, wird nicht wiederholt, da die Koalitionsparteien im Ausschuß immerhin bereit waren, diesen unseren Vorstellungen wenigstens in etwa entgegenzukommen. Wenn die gefundene Regelung auch nicht voll unseren Wünschen entspricht, glauben wir doch, daß eine gewisse Erleichterung geschaffen wurde, die im Interesse der Beamten erforderlich war. Der Antrag zu Art. II mit dem Ziel des sofortigen Wegfalls der Besoldungsgruppen A 1 und A 4 ist Teil einer Entschließung und wird daher an dieser Stelle nicht wiederholt. Gerster ({5}) Die CDU/CSU ist weiterhin der Auffassung, daß mindestens die derzeitige Stärke des einsatzbereiten Personals und die Verbandsorganisation des Bundesgrenzschutzes im Grenzbereich zur DDR und zur CSSR erhalten bleiben müssen und daß der Bundesgrenzschutz jederzeit zum grenzpolizeilichen Schutz des Bundesgebietes uneingeschränkt mit allem dazu erforderlichen und geeigneten Material ausgerüstet sein muß. Zur Klarstellung dieser politischen Forderung bittet sie um Annahme der vorgelegten Entschließung. Das Personalstrukturgesetz bringt notwendige Änderungen im Dienstrecht der Beamten. Es bringt dabei neue Probleme, die jedoch gelöst werden können, ohne daß die Einsatzstärke und die Einsatzbereitschaft dadurch gemindert werden müssen. Man muß dies nur politisch wollen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Mit Hilfe dieses Gesetzes könnten die Verbände aber auch demontiert werden. Jetzt gilt es, das Gute, nämlich die besoldungsrechtlichen Änderungen, mit dem Notwendigen, nämlich der Erhaltung und dem Ausbau der Verbände, zu verbinden. Die Union sagt zu beidem ja, wird aber mit wachsamen Augen zu verhindern wissen, daß die Bundesregierung mit ihren Vorstellungen im Personalstrukturgesetz etwa die Einsatzstärke und Einsatzbereitschaft des Bundesgrenzschutzes vermindert. Die Regierungsparteien sollten durch die Annahme unserer Anträge beweisen, daß sie die gleichen politischen Absichten und Ziele verfolgen. ({6})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Pensky.

Heinz Pensky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001689, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesgrenzschutz hätte es sicherlich verdient, daß wir uns hier ausführlich, auch vor der deutschen Öffentlichkeit, über die Konzeption und über die Leistungen, die wir begrüßen und für die wir uns beim Bundesgrenzschutz bedanken, unterhalten. Aber in dieser frühen Morgenstunde ist das sicherlich nicht möglich. Ich hatte allerdings geglaubt, daß sich der Kollege Gerster wirklich auf Themen dieses Gesetzes beschränken würde. ({0}) Aber das, was ich früher gelesen habe, hat sich heute teilweise bestätigt: daß er an dem Kern dieses Gesetzes vorbeiredet. Er redet hier von Ausrüstung, von weg vom Verband, von Stärke, von Demontage und dergleichen mehr, beispielsweise davon - wie in seinen Äußerungen im Deutschland-UnionDienst -, daß man in den Zeiten osteuropäischer Aufrüstung nicht ohne Ersatz auf das Sicherheitspotentials des Bundesgrenzschutzes als Verband verzichten könne. ({1}) Das alles geht am Kern dieses Gesetzes vorbei. Denn Sie, Herr Kollege Miltner, wissen doch, daß es sich hier um ein beamtenrechtliches Gesetz handelt, daß wir die Konsequenzen aus dem ziehen, was im Jahre 1972 hier einstimmig beschlossen worden ist: die neue Aufgabenzuweisung an den Bundesgrenzschutz und die eindeutige Ausweisung als Polizei sowohl an der Grenze als auch im Innern des Landes. ({2}) Es hat deshalb gar keinen Sinn, daß ich mich mit Ihnen hier weiter auseinandersetze über das, was wir beispielsweise auch in der Deutschen Nationalzeitung nachlesen können. Wenn Sie es wünschen, kann ich auch das hier tun. Aber ich glaube, das hat sicherlich keinen Zweck. ({3}) Was ich in dieser frühen Morgenstunde lediglich feststellen kann, ist dies.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege Pensky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerster? - Bitte.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pensky, könnten Sie mir bestätigen, daß mit diesem Gesetz, auch hinsichtlich des Zeitpunkts des Inkrafttretens, die Ausbildung des Bundesgrenzschutzes verändert wird und daß natürlich eine längere Ausbildung unmittelbare Auswirkungen auf die Stärke der Einsatzabteilungen haben wird, daß also insofern diese beiden Dinge miteinander verbunden sind?

Heinz Pensky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001689, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hätte ich jetzt in dem nächsten Satz gesagt. - Dieses Gesetz entspricht genau der Entschließung des Deutschen Bundestages von 1972 zum Bundesgrenzschutzgesetz, wonach der Bundesgrenzschutz zu einer Polizei ausgebaut werden soll. In dieser Entschließung ist ganz konkret gesagt, daß dazu eben die beamtenrechtlichen und laufbahnrechtlichen Maßnahmen gehören. Das wissen Sie doch ganz genau. Das, was wir gemeinsam beschlossen haben, deckt sich im übrigen auch mit dem einheitlichen Sicherheitskonzept des Bundes und der Länder aus dem Jahre 1972. Auch das spricht ganz konkret von der Angleichung des Beamtenrechts und der Laufbahn an die der Polizeien der Länder. Das haben wir alle gemeinsam für sinnvoll gehalten. Das haben die Innenminister, auch die Ihrer Couleur, einheitlich unterschrieben. Deshalb lassen Sie mich hier nur feststellen: Diese Neuregelung hat eine ganze Reihe von Vorzügen. Die muß man doch sehen. Erstens. Das polizeiliche Berufsbild der Beamten des Bundesgrenzschutzes wird weiter verdeutlicht. Zweitens. Der Dienst im Bundesgrenzschutz wird durch eine aufgabengerechte Bewertung attraktiver. Damit werden vor allem die Voraussetzungen zur Gewinnung eines qualifizierten Personalersatzes veLbessert. Drittens. Nach Überwindung - und da nehme ich zu Ihrer Frage Stellung - einer Anlaufzeit werden gut ausgebildete Polizeivollzugsbeamte im Bundesgrenzschutz nach ihrer Ausbildung der Dienststelle für mehrere Jahre zur Dienstleistung zur Verfügung stehen. Dadurch erhöht sich auch ganz erheblich der Einsatzwert dieser Beamten, was wiederum der Verbesserung der Inneren Sicherheit insgesamt zugute kommt. Viertens. Hierdurch leistet der Bund den Ländern auch eine finanzielle Hilfe, indem er ihnen ausgebildete Polizeivollzugsbeamte zur Verfügung stellt, für die die Länder dann eben keine Ausbildungskosten mehr zu tragen haben. Wir sind davon überzeugt, daß es sich um eine gute Konzeption handelt, die aber - und das wünschen wir - mehr und mehr mit Leben erfüllt werden muß. Wir hoffen sehr, daß die im Dienst des Bundesgrenzschutzes stehenden Beamten daran tatkräftig mitwirken. Wir haben überhaupt keine Zweifel, daß das geschehen wird. Aber was Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen - und das ist hier wieder unter Beweis gestellt worden -, kann man kurz wie folgt ausdrücken: Sie wollen den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben, und gar nichts anderes. Das wollen Sie. ({0}) Was soll denn das, daß Sie auf der einen Seite eine Polizeikonzeption anstreben und auf der anderen Seite militärische Dienstgrade und eine Verquickung zwischen Militär und Polizei beibehalten wollen? ({1}) Das wollen wir nicht. ({2}) Das wollten Sie angeblich auch nicht, weil Sie der Entschließung zum Bundesgrenzschutzgesetz zugestimmt haben und weil auch Sie zu dem gemeinsamen Sicherheitskonzept von Bund und Ländern ja gesagt haben. Nein, das wollen wir nicht. ({3}) Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab und stimmen der Regierungsvorlage in der durch den Innenausschuß geänderten Fassung zu. ({4})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002557, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kurz vor 25 Uhr, wenn ich in der Terminologie meines verehrten Vorredners von der CDU/CSU-Fraktion fortfahren darf. Der neue Tag hat begonnen. ({0}) - Wir haben also genug Zeit, Herr Gerster, um uns über dieses Gesetz zu unterhalten - fast 23 Stunden. Ich werde es aber sehr kurz machen. Das Gesetz über den Bundesgrenzschutz vom 18. August 1972 stellt den Charakter und die Aufgaben des Bundesgrenzschutzes als Polizeiorgan des Bundes deutlich und klar heraus. Als Konsequenz dieses Gesetzes legen wir jetzt die Änderung der Personalstruktur, des Laufbahnrechtes und der Ausbildung vor. Diese Änderung beinhaltet die Gleichstellung mit den Positionen der Länderpolizeien. So ist ein wichtiger Gegenstand der Regelung die Angleichung des Personalrechts an die entsprechenden Regelungen für die Länderpolizeien, verbunden mit den entsprechenden besoldungsrechtlichen Regelungen. Ich will jetzt nicht weiter auf die positiven Inhalte des Gesetzes eingehen. Herr Pensky hat das schon intensiv getan. Ich möchte aber zu den Änderungsanträgen der Opposition Stellung nehmen, einmal zu dem Änderungsantrag, die bisherigen Amtsbezeichnungen beizubehalten, jedenfalls in entsprechender Beziehung. Die Angleichung des Dienstrechtes an das der Polizeien der Länder wäre unvollständig, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn inhaltlich gleiche Ämter nicht auch gleich zu bezeichnen wären. Hinzu kommt, daß das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zur Richterbesoldung festgestellt hat, daß Dienstbezeichnungen anredefähig sein müssen. Die Bezeichnung „Brigadegeneral der Polizei im Bundesgrenzschutz" würde diesen Kriterien ganz sicher nicht entsprechen. ({1}) Zu § 7 verlangen Sie eine Änderung, ({2}) - aber, Herr Kollege! - die überflüssig ist; denn schon die jetzige Fassung des § 7 bestätigt ausdrücklich die Befähigung für die Verwendung im Polizeivollzugsdienst des BGS als Ausbildungsziel. Ferner verlangen Sie die Zustimmung des Beamten bei Versetzungen. ({3}) Wir meinen, daß der Vorschlag, die Versetzung hier von der Zustimmung des Beamten abhängig zu machen, dem Grundsatz des § 26 Abs. 1 Satz 3 des Bundesbeamtengesetzes widerspricht. Im Gesetz ist schon vorgesehen, daß der Beamte angehört werden kann. Wir meinen, das reicht aus und das berücksichtigt seine Interessen. Schließlich unterliegt die Versetzung den personellen Mitbestimmungsrechten der Personalvertretung. Auch dort kann der Beamte seine Vorstellungen vertreten. Wir werden deshalb Ihren Änderungsanträgen nicht zustimmen. Die Umstellungsphase beim BGS erfordert die Bemühungen und Anstrengungen aller an diesem Ver16496 Wolfgramm ({4}) fahren Beteiligten. Wir meinen, es bedarf intensiver Anstrengungen, um diese Umstellungsphase glücklich zu überstehen. Die FDP begrüßt, daß der vorliegende Gesetzentwurf dazu beiträgt, daß der BGS in den Stand gesetzt wird, seine Aufgaben und Pflichten, die sich aus dem Gesetz vom 18. August 1972 ergeben, hier in der Funktion und in der Aktion voll wahrzunehmen. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Lesung. Können wir über die Änderungsanträge gemeinsam abstimmen? - Dann rufe ich zunächst die Änderungsanträge auf Umdruck 7/5003 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit; die Anträge sind abgelehnt. Wir kommen damit zur Abstimmung in zweiter Beratung über die Artikel 1 bis 6, Einleitung und Überschrift. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung, im übrigen einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung. Das Wort hat Herr Abgeordneter Wörner. Er war hier gemeldet. ({0}) - Bitte? ({1}) - Das können Sie gern, und das sollten Sie auch. Wenn hier ein Antrag auf Beschlußunfähigkeit gestellt wird, könnte er laut gestellt werden. Aber ich nehme ihn gern auch in schriftlicher Form an. Er wird mit der Abstimmung verbunden. Wir werden also bei einer Abstimmung darüber entscheiden; so sieht es die Geschäftsordnung vor. Deshalb hat, bevor eine solche Abstimmung erfolgt, der für die dritte Lesung gemeldete Abgeordnete Wörner das Wort. ({2})

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf zugleich auch im Namen meines Kollegen Handlos und anderer Kollegen erklären: Audi wir begrüßen die Verbesserungen, die es für einzelne Gruppen der Angehörigen des Bundesgrenzschutzes in diesem Gesetz gibt. Wenn wir dennoch gegen dieses Gesetz zu stimmen beabsichtigen, dann deswegen, weil auch in diesem Gesetz eine Tendenz zum Ausdruck kommt, die wir für verhängnisvoll halten, nämlich den Bundesgrenzschutz systematisch seines Charakters als Polizeitruppe zu entkleiden und damit die Einsatzbereitschaft dieses Bundesgrenzschutzes gerade für solche Fälle zu schwächen, für die wir ihn dringend brauchen, um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland aufrechterhalten zu können. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Frau Präsidentin, weil ich nämlich jetzt sofort zum Ende komme. Wenn mich irgend etwas in der Richtigkeit meiner Annahme bestärkt hat, dann waren es die glanz- und lichtvollen Ausführungen des Kollegen Pensky, die mir eben bestätigt haben, daß gerade das die Absicht ist, die offensichtlich in Kreisen der Koalition vorhanden ist. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Pensky.

Heinz Pensky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001689, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hätte sich vielleicht ein Dialog ermöglichen lassen, wie er parlamentsüblich ist, nämlich durch eine Frage an den Kollegen Wörner. Er sollte mir nur eine Auskunft dazu geben, wo seiner Meinung nach die Schwächen liegen und was er glaubt, für welche Aufgaben der Bundesgrenzschutz vorgesehen sei. Herr Kollege Wörner, dann hätte ich dazu hier mehr aussagen können. Ich kann Ihnen aber, wenn Sie es wünschen, einmal das gemeinsame Sicherheitskonzept von Bund und Ländern überreichen. Wenn Sie hier als Verteidigungspolitiker sprechen, nehme ich an, daß Sie meinen, daß dieser Bundesgrenzschutz einen Verteidigungsauftrag habe. Ich gehe davon aus. Sie haben mich leider nicht fragen lassen. Aber wenn es so ist - und ich nehme das zunächst einmal als Hypothese an, weil es nicht anders möglich ist -, darf ich Ihnen vielleicht vorlesen, was unter 4.2.1 in diesem gemeinsamen Sicherheitskonzept zu dieser Frage steht. Das ist mit den Worten „Einsatz an der Grenze" überschrieben. Hier heißt es: Die militärische Verteidigung der Grenzen gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesgrenzschutzes. Der Zeitpunkt seiner Herauslösung aus dem Grenzraum kann deshalb weitmöglichst vorverlegt werden. Herr Kollege Wörner, ich kann Sie als Verteidigungspolitiker, der Sie in dieser Debatte das Wort genommen haben, zu dieser Frage nicht einfach aus einer Antwort entlassen, was Sie darunter verstehen. Da Sie in Ihren Ausführungen auch den Kollegen Handlos angeführt haben, darf ich gleichzeitig an einen Artikel erinnern, den er im „Rheinischen Merkur" geschrieben hat. Das ist so eine Phalanx; das war der „Rheinische Merkur", das war „Bild am Sonntag", das war der „Bayernkurier", und das war die „Nationalzeitung". Da war überall in etwa Gleiches zu lesen. Deshalb würde ich gerne hören, was Sie als Verteidigungspolitiker glauben, wozu Sie den Bundesgrenzschutz überhaupt heranziehen können. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wird das Wort noch begehrt? - Bitte schön, Herr Bundesminister Maihofer.

Prof. Dr. Werner Maihofer (Minister:in)

Politiker ID: 11001414

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur ein kurzes Wort des Dankes sagen und zwei Sätze zu dem, was hier in der Debatte ausgeführt worden ist, anfügen. Sie werden mit Ihrem Gesetzesbeschluß heute, wie ich hoffe, die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß der BGS noch stärker und noch besser seine vielfältigen Aufgaben einer Polizei des Bundes erfüllen kann, die ihm durch diesen Bundestag einmütig übertragen worden sind. In Ihre Richtung, Herr Wörner, gesagt - denn das kann ich hier nicht stehenlassen -: ({0}) Sie haben ganz offenkundig den Gegenstand der Debatte verwechselt, die wir hier führen. Wir führen nämlich eine Debatte über eine Polizei des Bundes. ({1}) Herr Kollege Pensky hat vollkommen recht, wenn er Sie daran erinnert; das wissen Sie ganz genau. Deshalb kann ich Ihre Bemerkungen überhaupt nicht nachvollziehen. Einmütig hat dieser Bundestag beschlossen, den Bundesgrenzschutz in allen Hinsichten der Personalstruktur, der Ausbildungskonzeption sowohl im Verbandsdienst als auch im Einzeldienst zu einer Polizei des Bundes zu entwickeln. Ich halte es für eine ganz unglaubliche Unterstellung, daß Sie eine Regierung, die getreulich diesen Auftrag Punkt für Punkt vollzieht, mit einer solchen Verdächtigung überziehen. ({2}) Dafür gibt es überhaupt nicht den geringsten Anhalt. Der Bundesgrenzschutz ist schon zahlenmäßig noch nie in seiner Geschichte so stark gewesen wie jetzt: Er war noch nie - das wird sich im nächsten Jahr zeigen - so gut ausgebildet, und zwar auch für den Verbandseinsatz. Das, was Sie hier über den Verbandscharakter des Bundesgrenzschutzes vorführen, ist schlicht eine Gespensterschlacht. ({3}) Die dreieinhalb Jahre ausgebildeten Grenzschutzbeamten im Verbandsdienst werden den Verbandseinsatz dieser Polizei besser gewährleisten als jemals zuvor. Weil Sie dies sehr genau wissen, kann ich Ihre Unterstellungen nur als ganz unerhört zurückweisen. ({4}) Sie werden es schon in diesem und im nächsten Jahr erleben: der Bundesgrenzschutz wird besser sein als jemals zuvor. Sie werden sich im Rückblick auf die heutige Debatte sagen lassen müssen, daß Sie sich dieser Entwicklung, die Sie seinerzeit gemeinsam mit uns beschlossen haben, hier bei der Abstimmung verschlossen haben, und werden das - ich hoffe es - eines Tages bedauern. ({5}) Abschließend möchte ich den Kollegen dafür danken, daß wir mit den Beratungen heute endlich den Weg dafür öffnen, daß das neue Personalstrukturgesetz am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten kann, um die Entwicklung des Bundesgrenzschutzes zu einer Polizei des Bundes zu vollenden. ({6})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung in der dritten Lesung. Dazu habe ich zweierlei mitzuteilen. Erstens ist von den Fraktionen der FDP und der SPD namentliche Abstimmung beantragt worden. ({0}) Zweitens müssen noch redaktionelle Änderungen vorgenommen werden. Ich darf sie verlesen: 1. In der Einleitung des Art. 1 ist die Fundstelle zu ergänzen. Es muß jetzt heißen: „durch das Haushaltsstrukturgesetz vom 18. Dezember 1975 ({1})". Die gleiche Ergänzung muß in Art. 2 § 1 erfolgen. 2. In Art. 4 müssen in der Einleitung die Worte „zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Zivildienstgesetzes vom 15. August 1935" ersetzt werden durch die Worte „zuletzt geändert durch das Gesetz ... vom ... ({2})". Ich bitte, diese rein formalen Änderungen entsprechend zu werten. Ich eröffne nunmehr die namentliche Abstimmung. Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. Es sind hier Unklarheiten über die Antragsberechtigung oder Richtigkeit der Antragstellung aufgekommen. Den Antrag haben gestellt die Abgeordneten Vogel ({3}), Windelen, Stahlberg, Sauer ({4}) und Reddemann. Fünf Abgeordnete mußten es sein; ich sage das nur, damit hier keine Unklarheiten bestehen. Es ist ordnungsgemäß die Zahl der Antragsteller festgestellt worden. ({5}) Wir haben nunmehr das vorläufige Ergebnis der namentlichen Abstimmung vorliegen. Mit Ja haben Vizepräsident Frau Funcke 175 uneingeschränkt stimmberechtigte und 5 Berliner Abgeordnete gestimmt, mit Nein 9 voll stimmberechtigte Mitglieder und kein Berliner Abgeordneter; Enthaltungen gab es nicht. Insgesamt haben sich somit 189 Abgeordnete an der Abstimmung beteiligt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 182 und 5 Berliner Abgeordnete; davon ja: 173 und 5 Berliner Abgeordnete nein: 9 Ja SPD Amling Anbuhl Dr. Arndt ({6}) Baack Dr. Bardens Becker ({7}) Biermann Blank Börner Brandt ({8}) Buchstaller Büchner ({9}) Buschfort Dr. Bußmann Conradi Dr. von Dohnanyi Dürr Eckerland Dr. Ehmke Frau Eilers ({10}) Ewen Dr. Fischer Friedrich Geiger Gerstl ({11}) Glombig Grobecker Grunenberg Halfmeier Hansen Hauck Dr. Hauff Höhmann Horn Jahn ({12}) Jaschke Jaunich Junker Kaffka Kern Koblitz Konrad Kratz Krockert Lambinus Dr. Lauritzen Lemp Lenders Lutz Mahne Marquardt Marschall Matthöfer Meinike ({13}) Metzger Möhring Müller ({14}) Müller ({15}) Dr. Müller-Emmert Müntefering Neumann Dr.-Ing. Oetting Pawelczyk Pensky Peter Polkehn Reiser Frau Renger Reuschenbach Rohde Sander Saxowski Scheffler Scheu Frau Schimschok Schmidt ({16}) Dr. Schöfberger Schonhofen Schreiber Schulte ({17}) Dr. Schweitzer Dr. Schwenk ({18}) Simon Dr. Sperling Spillecke Stahl ({19}) Frau Steinhauer Tietjen Frau Dr. Timm Tönjes Urbaniak Vahlberg Vogelsang Wehner Wendt Dr. Wernitz Westphal Wilhelm Wimmer Wittmann ({20}) Wolf Wolfram ({21}) Würtz Wüster Wuwer Zeitler Berliner Abgeordnete Egert Frau Grützmann Löffler Frau Schlei CDU/CSU von Alten-Nordheim von Bockelberg Böhm ({22}) Burger Carstens ({23}) Eigen Engelsberger Dr. Eyrich Gerlach ({24}) Gerster ({25}) Hösl Dr. Jahn ({26}) Dr. Jenninger Krampe Kroll-Schlüter Lagershausen Lemmrich Löher Dr. Miltner Nordlohne Pfeffermann Pfeifer Rawe Dr. Ritgen Dr. Ritz Röhner Sauer ({27}) Sauter ({28}) Prinz zu Sayn-WittgensteinHohenstein Dr. Schäuble Schetter Schmidhuber Schmitt ({29}) Frau Schroeder ({30}) Schröder ({31}) Stahlberg Dr. Stark ({32}) Susset Vogel ({33}) Windelen Wissebach Frau Dr. Wolf Ziegler FDP Dr. Böger Frau Funcke Hof fie Jung Dr. Dr. h. c. Maihofer Mertes ({34}) Mischnick Opitz Peters ({35}) Schleifenbaum von Schoeler Frau Schuchardt Wolfgramm ({36}) Wurbs Berliner Abgeordnete Hoppe Fraktionslos Emeis Nein CDU/CSU Damm Gierenstein Haase ({37}) Handlos Dr. Riedl ({38}) Rommerskirchen Spilker Damit ist festgestellt, daß das Haus nicht beschlußfähig war. Ich berufe nunmehr für den heutigen Tag auf 9 Uhr eine neue Sitzung mit der gleichen Tagesordnung ein. Interfraktionell wurde vereinbart, daß wir mit dem Berufsbildungsgesetz beginnen und im Anschluß an die dort vorgesehene namentliche Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt die weitere Tagesordnung abwickeln. Die Geschäftsordnung sagt, daß, wenn zu einer Abstimmung, bei der die Beschlußunfähigkeit des Hauses festgestellt wurde, namentliche Abstimmung beantragt worden ist, dieser Antrag auch für eine Wiederholungsabstimmung gilt. Das heißt, wir werden heute auch zu diesem jetzt angeschnittenen Punkt eine namentliche Abstimmung durchführen. Meine Damen und Herren, ich berufe das Haus auf heute, den 9. April 1976, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.