Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/20/1975

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Die Sitzung ist eröffnet. Als Nachfolger für den Abgeordneten Wurche ist mit Wirkung vom 18. Juni 1975 der Abgeordnete Grimming in den Bundestag eingetreten, und als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Heyen ist mit Wirkung vom 19. Juni 1975 der Abgeordnete Männing in den Bundestag eingetreten. Ich begrüße die Kollegen und wünsche ihnen eine erfolgreiche Arbeit im Deutschen Bundestag. ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die in der vorliegenden Liste aufgeführte Vorlage ergänzt werden: Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Änderung des Gerichtskostengesetzes, des Gesetzes über Kosten der Gerichtsvollzieher, der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte und anderer Vorschriften - Drucksache 7/3803 -Berichterstatter: Abgeordneter Kleinert Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß dieser Punkt heute als erster aufgerufen wird. Gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht rückt der Abgeordnete Dr. Weber ({2}) für den Abgeordneten Wehner, der sein Mandat im Wahlmännerausschuß niedergelegt hat, aus der Reihe der nicht mehr Gewählten als Mitglied im Wahlmännerausschuß nach, nachdem der Abgeordnete Dr. Schmude auf seine Mitgliedschaft im Wahlmännerausschuß verzichtet hat. Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 12. Juni 1975 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Schulte ({3}), Dr. Müller-Hermann, Lemmrich, Sick, Tillmann, Dr. Stavenhagen, Vehar, Dr. Waffenschmidt und der Fraktion der CDU/CSU betr. Eurocontrol und Flugsicherung - Drucksache 7/3684 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3799 verteilt. Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 18. Juni 1975 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat: Verordnung ({4}) des Rates über den Abschluß eines Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Griechenland infolge des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Beschluß des Rates betreffend die Einleitung von Verhandlungen mit Griechenland über ein Interimsabkommen infolge des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu der Gemeinschaft - Drucksache 7/3457 -Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und dem Staat Israel im Hinblick auf den Abschluß eines Abkommens im Rahmen des Gesamtkonzepts für den Mittelmeerraum Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die Verhandlungen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Staat Israel im Hinblick auf den Abschluß eines Abkommens im Rahmen der Gesamtlösung für den Mittelmeerraum Empfehlung einer Verordnung ({5}) des Rates über den Abschluß eines Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Staat Israel - Drucksache 7/3533 Ich rufe nun den eben genannten Zusatzpunkt auf: Beratung des Antrags des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Gesetz zur Änderung des Gerichtskostengesetzes, des Gesetzes über Kosten der Gerichtsvollzieher, der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte und anderer Vorschriften - Drucksache 7/3803 Berichterstatter: Abgeordneter Kleinert Das Wort hat der Herr Berichterstatter.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das vom Bundestag in seiner 152. Sitzung am 27. Februar 1975 beschlossene Gesetz hat dem Bundesrat Veranlassung gegeben, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Es handelt sich um die Regelung umfangreicher Gebiete aus den eben genannten verschiedenen Gesetzen. Es hat deshalb im Vermittlungsausschuß und auch in einem eigens dafür eingesetzten Gesprächskreis von Mitgliedern beider Seiten des Vermittlungsausschusses ausführliche Beratungen gegeben, die erhebliche Zeit und Anstrengung in Anspruch genommen haben. Es ist dann der Ihnen vorliegende Vorschlag erarbeitet worden, der versucht, den verschiedenen, einander völlig widerstreitenden Interessen in diesem Bereich wenigstens einigermaßen gerecht zu werden. Es handelt sich darum, daß der Fiskus durch die ständig steigenden Aufwendungen im Bereich der Justizhaushalte belastet ist und eine Entlastung, mindestens aber keine größere Belastung wünscht, daß im Bereich der Rechtsanwaltschaft, besonders bei kleinen und mittleren Praxen, inzwischen, vom Vergleich der Umsatzzahlen mit den rasant gestiegenen Kosten her gesehen, Zustände eingetreten sind, die den Zugang zumindest zu diesen Bereichen der Rechtsanwaltschaft für junge Assessoren nicht mehr wünschenswert erscheinen lassen, und schließlich - nicht zuletzt, sondern insbesondere - muß versucht werden, den Rechtsuchenden in allen Streitwertbereichen den Zugang zu den Gerichten zu erhalten und nicht etwa durch die Berücksichtigung der Bedürfnisse der beiden erstgenannten Gruppen hier zu einer sogenannten Rechtswegsperre zu kommen. Das ist versucht worden - um nur die wesentlichsten Punkte herauszugreifen -, indem die vom Bundestag beschlossene Tabelle in der Anlage zum Gerichtskostengesetz im Interesse der Länder noch um ein gewisses, unserer Ansicht nach vertretbar erscheinendes Maß angehoben worden ist. Die Gebührentabelle in der Anlage zur Rechtsanwaltsgebührenordnung ist gegenüber dem Beschluß des Bundestages nach langen Erörterungen unverändert geblieben, weil man nicht sehen konnte, wie ein Mehraufkommen hätte erreicht werden können, ohne im mittleren gehobenen Bereich sehr erhebliche Verbesserungen vorzunehmen, nachdem man andererseits im Interesse der Rechtsuchenden in dem unteren Bereich praktisch keinerlei Veränderungen vorgenommen hat, um den Rechtsweg nicht zu sehr zu erschweren. Eine für die Praxis wesentliche Bestimmung ist anders gefaßt worden. Sie betrifft die Festsetzung des Streitwerts in sogenannten immateriellen Streitigkeiten, zu denen in erster Linie die Ehestreitigkeiten zählen. Hier ist von der starren Fixierung auf einen Regelwert, über den im übrigen Unstimmigkeit zwischen den beiden Seiten herrschte, abgegangen worden. In stärkerem Maße, als bisher üblich war, hat man auf das Nettoeinkommen der beiden Ehepartner Bezug genommen, um die notwendigen Verbesserungen durch Belastung derjenigen zu erreichen, die diese am besten tragen können. Die Belastung wird nun im Verhältnis zu dem Einkommen getragen. Der Begriff des Nettoeinkommens erschien uns sozial angemessener als die bisherige Regelung. Er bezeichnet nach ganz allgemeinem Verständnis das Einkommen nach Steuern und Sozialabgaben, also das, was den Parteien für alle Zwecke tatsächlich zur Verfügung steht. Wir glauben nicht, daß es bei dieser Sachlage zu Auslegungsschwierigkeiten kommen kann. In einer Reihe anderer Punkte werden Interessierte feststellen können, daß gewisse mittlere Zahlen aus den beiderseitigen Vorstellungen entstanden sind, die den Gesamtausgleich nicht so wesentlich berühren. Ein weiteres Ziel der Bemühungen um einen Kompromiß im Vermittlungsausschuß war, zu erreichen, daß in Zukunft die gesetzlich zulässige Vereinbarung von Gebühren zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten möglichst stark zurückgeht und wieder die seltene Ausnahme wird, die sie früher einmal war. Das hoffen wir mit der jetzigen Regelung erreicht zu haben. Daraus dürfte sich auch ergeben, daß sich die für die Gesamterhöhung der hier entstehenden Aufwendungen genannten Zahlen relativieren, weil nämlich die Zahl der jetzt schon auf höherer Ebene getroffenen Vereinbarungen erheblich zurückgehen dürfte. Im übrigen entsteht dann wieder das Bild, das unserer Rechtsordnung eigentümlich ist, daß nämlich eine ausgesprochen soziale Handhabung stattfindet, bei der ohne wesentliche Rücksichtnahme auf die Leistung im Einzelfall die großen Sachen die kleinen Sachen mittragen müssen. Dadurch wird dazu beigetragen, daß unsere Rechtsprechung für jedermann, auch für den Schwächeren, im wesentlichen zugänglich bleibt. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. - Das Wort zur Aussprache wird nicht gewünscht. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag des Vermittlungsausschusses. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 31 der Tagesordnung auf: Beratung des Berichts und des Antrags des Haushaltsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Unterrichtung des Bundestages über erhebliche Änderungen der Haushaltsentwicklung - Drucksachen 7/3360, 7/3716 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. von Bülow Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Dann gebe ich das Wort in der Aussprache Herrn Abgeordneten Leicht.

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundesfinanzminister sprach noch während der Haushaltsdebatte im März von einer hervorragenden Finanzlage des Bundes. ({0}) Inzwischen wird Tag für Tag deutlicher, wie sehr er damit unrecht hatte. Die Finanzlage ist für das Jahr 1975 kritisch, für das Jahr 1976 und folgende muß befürchtet werden, daß sie dramatisch wird. Es bestehen ernste Zweifel, ob die Regierung angesichts dieser Situation genügend tut, um der Lage Herr zu werden. Dem Parlament und dem Bürger muß ungeschminkte Aufklärung gegeben werden, die es ihm ermöglicht, die harten Maßnahmen zu begreifen, die unausweichlich näherrücken. Bevor das Parlament in die Sommerpause geht, muß der Offentlichkeit deutlich gemacht werden, welche Probleme in den kommenden Monaten die innenpolitische Szene beherrschen werden. ({1}) Dazu ist die Bundesregierung nach dem Gesetz verpflichtet, das bestimmt: Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag und den Bundesrat über erhebliche Änderungen der Haushaltsentwicklung und deren Auswirkungen auf die Finanzplanung. Welche Gesichtspunkte sind es, die eine Unterrichtung des Bundestages notwendig erscheinen lassen? Schon die jetzigen Planzahlen des im März verabschiedeten Haushalts 1975 sind nur noch halbe Wahrheit. ({2}) Das Defizit soll in Höhe von 22,8 Milliarden DM durch neue Schulden gedeckt werden; der Finanzminister mußte aber schon zugeben - allerdings nicht hier in diesem Parlament, sondern gegenüber dem „Stern" -, daß die Annahme einer Neuverschuldung 1975 von 30 Milliarden DM nicht unrealistisch ist. Man kann sich unter diesen Zahlen schon nichts mehr vorstellen, aber 30 Milliarden DM Schulden machen bedeutet, daß der Bund pro Tag von den Banken 120 Millionen DM bekommen muß, und zwar Tag für Tag das Jahr über, wenn er seine Verpflichtungen erfüllen will. ({3}) Die zusätzlichen Mehrbelastungen 1975 - ich kann nur Stichworte nehmen: Arbeitslosenversicherung, Steuerausfälle, Ausfälle bei den Verhandlungen über die Umsatzsteueranteile usw. - führen zwangsläufig auch zu gewaltigen Mehrbelastungen ab 1976. Die Opposition kann wegen der Geheimnistuerei der Regierung natürlich keine Rechnung vorlegen, sondern nur überschlägige Größenordnungen angeben. Das Defizit 1976 erhöht sich schon bei Berücksichtigung von nur bezifferbaren Mehrbelastungen, wie Auswirkungen der Steuerschätzung, Belastung durch die Investitionszulage, weitere Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit, auf etwa 23 Milliarden DM. Darin sind noch nicht einmal die heute schon zu erkennenden nichtbezifferbaren Mehrbelastungen enthalten wie zusätzliche Steuerausfälle, eventuell Mehrbedarf der Bundesbahn, höhere Ausgaben für den Schuldendienst, der im nächsten Jahr allein für Zinsen 10 Milliarden DM betragen wird, und noch einiges mehr. Ich gehöre nicht zu denen, die das Wort vom „Gerede der zu hohen öffentlichen Verschuldung" gebrauchen. Ich sehe aber in einer zu hohen - und ich betone die Worte „zu hohen" - öffentlichen Verschuldung eine große Gefahr. ({4}) Gewiß, die Bürger sparen wie noch nie. Aber warum? Doch aus Angst um ihre Zukunft! ({5}) Deshalb und nur deshalb können die riesigen Kredite, die die öffentlichen Hände brauchen, im Moment ohne allzu große Schwierigkeiten am Kreditmarkt noch beschafft werden. Auf der anderen Seite muß man aber auch betonen, daß nicht bei den Ausgaben gekürzt werden darf und kann, die öffentliche und private Investitionen beleben, denn ein angemessenes Wachstum ist Voraussetzung für sichere Arbeitsplätze, d. h. im Augenblick Abbau der Arbeitslosigkeit, das heißt aber auch, daß die Finanzierung der sozialen Leistungen insgesamt, das alles, was wir als „die Qualität des Lebens" bezeichnen, gesichert bleibt. Zur Wiedergewinnung eines höheren Beschäftigungsstandes aber ist, wie wir alle wissen, ein mittelfristiges reales Wirtschaftswachstum von 3 bis 4 % erforderlich. Aus gutem Grund setzt das Grundgesetz eine Obergrenze für die zulässige Verschuldung des Bundes, nämlich die Summe der Investitionen im jeweiligen Haushaltsjahr. Nur während einer Rezession kann diese Obergrenze zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie das Gesetz sagt, überschritten werden. ({6}) Kommt es zu einem Wiederaufschwung, den wir ja alle erhoffen - nur kommt er noch nicht -, dann ist dies Obergrenze unabdingbar. Dann also ist es dem Bund durch die Verfassung verboten, sich höher zu verschulden. Für 1976 sollen sich die Investitionen des Bundes nach dem Finanzplan auf 23,3 Milliarden DM belaufen. Das Defizit auf Grund nur der bezifferbaren Mehrbelastungen übersteigt diese Obergrenze im nächsten Jahr um etwa 10 Milliarden DM oder, anders ausgedrückt, um den Gegenwert einer Mehrwertsteuererhöhung um etwa zwei Prozentpunkte. ({7}) Was tut die Regierung eigentlich, um dieser Lage Herr zu werden? Wie lange noch will sie dem Bürger ein verschleiertes Bild von der Finanzsituation geben? Wie lange noch will sie die Offenbarung der Wahrheit und alle unangenehmen Beschlüsse, die notwendig sein werden, vor sich herschieben? Diese Fragen bedürfen der Antwort. Nur umfassende Aufklärung ermöglicht es dem Bürger, die Maßnahmen zu begreifen, die als Folge jahrelanger Fehlentscheidungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik unausweichlich näherrücken. Das ist der Grund, weshalb wir es für erforderlich halten, daß die Regierung dem Parlament, bevor es in die Sommerpause geht, ein ungeschminktes Bild der Finanzlage gibt, gewissermaßen Kassensturz macht und die Karten auf den Tisch legt. ({8}) Der Öffentlichkeit muß endlich deutlich gemacht werden, welche Probleme in den kommenden Monaten vor uns stehen. Was ist eigentlich der wirkliche Grund für die Weigerung, Auskunft zu erteilen? Was ist der Grund für die permanente Verletzung des Gesetzes, das der Regierung diese Auskunft als Pflicht auferlegt? Die SPD/FDP übernahm die Regierungsgeschäfte mit dem Versprechen, mehr Transparenz zu schaffen, mehr Information zu geben und mehr Demokratie zu wagen. In der Wirklichkeit hat die Regierung genau das Gegenteil getan. Die Zahlen des Haushalts und ihre Absichten behandelt sie als Staatsgeheimnis, Fragen der Opposition faßt sie als störende Belästigung auf. ({9}) Auf einen sachlich gefaßten Fragenkatalog der Opposition zur Haushaltsentwicklung 1976, die auch das eigentliche Thema des heutigen Antrags ist, erklärte sie vorige Woche, sie habe nicht die Absicht, sich vor ihrer Beschlußfassung über den Haushalt 1976 auf eine Diskussion einzelner Fragen einzulassen. ({10}) Diese Antwort, meine Damen und Herren, ist eine Zumutung. Sie offenbart Mangel an Demokratieverständnis. ({11}) Mit Recht hat Herr Wilhelm Papenhoff im sicherlich nicht der Opposition nahestehenden Westdeutschen Rundfunk gestern diese Antwort als Affront nicht nur gegen die Opposition, sondern gegen den gesamten Bundestag als Institution bezeichnet. Er hat recht. ({12}) Der wirkliche Grund für die Geheimniskrämerei war vor dem 4. Mai das Streben der Regierung, aus Angst vor dem Urteil der Wähler über die verheerenden Auswirkungen von mehr als fünfjähriger SPD/FDP-Finanzpolitik in Bonn alles rosarot zu malen. Mit falschen Aufschwungparolen, mit zurückhaltenden sowie mit unvollständigen und daher falschen Zahlen über Arbeitsmarkt und Konjunktur sollte der Bevölkerung vorgemacht werden, der Aufschwung sei schon da oder er stehe unmittelbar bevor. ({13}) Der Bundeskanzler selbst sagte in der „Neuen Ruhr-Zeitung" noch am 3. Mai 1975 wörtlich - ich darf zitieren, Frau Präsidentin -: Gar kein Zweifel: Die größten Sorgen liegen hinter uns. Es geht jetzt nicht mehr bergab. Es geht jetzt ganz eindeutig aufwärts. Die aufwärtsgerichteten Zeichen mehren sich. Ich bleibe bei meiner Frühsommer-Prognose. ({14}) Zu diesem Bild hätte natürlich die Wahrheit über die trostlose Lage der Staatsfinanzen wie die Faust aufs Auge gepaßt. Der Kollege Haehser hat vor einer Woche in der Fragestunde des Bundestages zwar eine Äußerung des Bundeskanzlers im Fernsehen zitiert, aus der er herauslesen will, auch der Bundeskanzler habe vor den Landtagswahlen am 4. Mai 1975 Steuererhöhungen für den Fall angekündigt, daß es uns wieder besser geht. Aber diese Äußerung ist sehr vage und vieldeutig formuliert. Ihr stehen eine ganze Reihe von Äußerungen verantwortlicher Politiker der SPD und auch der FDP gegenüber, in denen die Absicht einer Mehrwertsteuererhöhung oder anderer Steuererhöhungen für die überschaubare Zukunft eindeutig dementiert wurde, so z. B. von dem für Haushaltsfragen zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär am 27. Januar, der sagte - ich darf zitieren -: Wir denken nicht an Steuererhöhungen, auch nicht an die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Oder eine Äußerung des früheren Finanzstaatssekretärs und jetzigen Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion am 12. Februar 1975: Es ist weder von der Regierung noch von der sozialdemokratischen Fraktion eine Erhöhung der Steuern geplant. Das gilt für die Jahre, die man überblicken kann. Oder wieder eine Äußerung des Kollegen Haehser am 23. Februar 1975: Auch 1976 werden wir ohne Steuererhöhungen über die Runden kommen. Der Bundesfinanzminister selbst erklärte noch am 15. April 1975, daß alle Behauptungen über Steuererhöhungspläne, wie er sagte, jeder konkreten Grundlage entbehrten, reine Spekulation seien, die völlig fehl am Platze und sinnlos sei. Das ist derselbe Finanzminister, meine Damen und Herren, der genau einen Monat nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland erklärt - ich zitiere wörtlich -: Wenn es uns wieder besser geht, dann werde ich im Kabinett höhere Steuern beantragen. ({15}) Er selbst gibt damit zu, daß SPD und FDP in den Wochen vor der Wahl den Wählern über ihre Steuerpläne nicht die Wahrheit gesagt haben. ({16}) Das ist auch das, meine Damen und Herren, was wir als Wahlbetrug bezeichnet haben. ({17}) Ein Kollege von uns hat in der letzten Woche einen Ordnungsruf erhalten, weil er in diesem Hohen Hause die Regierungsvertreter der Lüge bezichtigt hat. Ich beschränke mich darauf, einige Zitate zu diesem Thema aus der Presse zu bringen, die SPD und FDP vorgeworfen hat, „die Bürger an der Nase herumzuführen" - FAZ - und „arglistig getäuscht" - Handelsblatt -, ({18}) den Staatsbürger „verschaukelt" zu haben und usw. ({19}) Selbst SPD-Mitglied Jens Feddersen erhebt in der SPD-nahen „Neuen Rhein-Zeitung" vom 13. Juni 1975 den Vorwurf der Unredlichkeit. ({20}) Wenn es eine rationale Erklärung für die noch immer bestehende Weigerung der Regierung zur OfLeicht fenbarung der ganzen Wahrheit in der Finanzpolitik gibt, dann kann diese nur in der Unentschlossenheit und Ratlosigkeit derjenigen liegen, die sich sonst so gern als Macher feiern lassen. Nur aus der Presse erfahren wir - das ist zu bedauern-, worüber man in der Regierung nachdenkt. ({21}) Da ist die Rede von einer Liste mit 19 Gesetzen, die der Bundeskanzler den Ministerpräsidenten der Länder übergeben hat. Ich frage: welche Absichten verbergen sich dahinter, wenn der Kanzler mit dieser Liste bisher als so wichtig angesehene, fast sämtlich zu Reformen hochstilisierte Gesetzesvorhaben zur Disposition stellt wie z. B. das Strafvollzugsgesetz, die Ehescheidungsreform, das Ergänzungsgesetz zu § 218, die sogenannte Arzneimittelreform, die sogenannte Bodenrechtsreform und auch eine ganze Reihe von Sozialmaßnahmen wie z. B. die Krankenversicherung der Studenten und die unentgeltliche Beförderung Behinderter? ({22}) - Ich zeige Ihnen die Liste. Es muß auch Besorgnis bei den Betroffenen erwecken, wenn die Regierung auf die von der CDU/ CSU gestellte Frage, ob für 1976 Beitragserhöhungen bei der Arbeitslosenversicherung in Erwägung gezogen werden, die Antwort verweigert.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Arndt?

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Leicht, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Bundeskanzler in loyaler Auslegung des Prinzips der Bundestreue den Herren Ministerpräsidenten der Länder eine Liste aller Gesetze übermittelt hat, die gegenwärtig in der Beratung sind, also nur Fakten festgestellt hat, die gegenwärtig hier in diesem Hause zur Beratung stehen? ({0})

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie auch die Absicht, Herr Kollege Arndt, warum er dies getan hat? Dann fragen Sie bitte mal die Ministerpräsidenten der Länder.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogel?

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön!

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Leicht, können Sie bestätigen, daß in dieser Liste auch Gesetze enthalten sind, die bereits verabschiedet sind?

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch das kann ich bestätigen. ({0}) Ich wiederhole die für Arbeitnehmer und Wirtschaft bedeutsame Frage auch an dieser Stelle: gilt die Erklärung des Regierungssprechers vom 25. Mai 1975, daß eine Erhöhung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung nicht in Betracht komme, auch für das Jahr 1976? Ebenfalls nur aus der Presse haben wir von Erwägungen der Bundesregierung gehört, das Arbeitsförderungsgesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetz für Schüler und Studenten sowie die Graduiertenförderung für den akademischen Nachwuchs zu kürzen. Wie steht es damit, und welche Einsparungen lassen sich daraus erzielen? Das ist eine Frage, die wir auch als Opposition stellen können und die uns interessiert. Ich frage weiter, inwieweit Pressemeldungen richtig sind, wonach die Bundesregierung sich durch Einschränkungen auf dem Gebiet der Renten und der Krankenversorgung Einsparungen erhofft. ({1}) Ich fürchte, daß selbst diese Einsparungen, die jetzt, aus der Presse zu entnehmen, in den Überlegungen sind, bei weitem nicht ausreichen, die ab 1976 zu erwartende Defizite auf ein einigermaßen vertretbares Maß herabzusetzen. Das böse Wort von der sozialen Demontage ({2}) ist nicht von der CDU/CSU in die Diskussion eingeführt worden, sondern vom SPD-Parteivorsitzenden und seinen Helfershelfern, die hier ganz offenbar nach der Methode „Haltet den Dieb!" handeln. ({3}) Die wahren sozialen Demonteure sind diejenigen, die für die Inflation und für die Arbeitslosigkeit und für die gefährlichen Wachstumsverluste, die doch unser ganzes Sozialsystem gefährden, verantwortlich sind. ({4}) In diesem Jahr werden wir überhaupt kein Wachstum, sondern das Gegenteil, eine schrumpfende Wirtschaft haben. Das ist nämlich dieses „Minus-Wachstum": eine schrumpfende Wirtschaft. ({5}) Wie der Wirtschaftsminister kürzlich bestätigt hat, ist aber zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und zur Sicherung der gegenwärtigen sozialen Leistungen mittel- und langfristig - wir geben ihm darin recht - ein reales Wirtschaftswachstum von etwa 3 bis 4 % im Durchschnitt der Jahre erforderlich. Ich glaube nicht, meine Damen und Herren - und das nehmen Sie jetzt auch als ernste Aussage von uns -, daß ohne Korrektur an der Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich eine längerfristige Sicherung der Arbeitsplätze möglich ist. Mit anderen Worten: Auch wir meinen - das haben wir als Opposition schon oft gesagt, nur sind wir dann als Panikmacher usw. hingestellt worden -, daß ohne Abstriche von den staatlichen Leistungen das beschäftigungspolitische Gleichgewicht nicht herzustellen ist. Um Einsparungen finanzieller Art kommt der Staat nicht herum, und es ist Aufgabe der Regierung, konkrete Maßnahmen und Gesetzesvorhaben vorzulegen. Dann reden wir darüber. Man hat auf seiten der Koalition - ich habe es schon gesagt - in den letzten Wochen immer wieder versucht, den Spieß umzudrehen und uns ob dieser Einstellung soziale Demontage vorzuwerfen. Dieser Vorwurf ist lächerlich und töricht. Soziale Demontage betreibt - ich konkretisiere es noch einmal -, wer in Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge Fehlentwicklungen zuläßt, ({6}) wer ideologisch motivierte Prioriäten - mögen sie noch so edel sein - über die wirtschaftspolitische Vernunft setzt. ({7}) Dies aber ist in den letzten Jahren zur Genüge geschehen. Ich fürchte, daß sich die soziale Demontage, die jetzt erst allmählich in Teilbereichen unseres Systems der sozialen Sicherung spürbar wird, im vollen Ausmaß erst noch zeigen wird, sei es bei den Leistungen oder Kosten der Renten- oder Krankenversicherung, sei es im Bereich der individuellen Altersvorsorge. Die Verantwortung dafür kann der Bundesregierung niemand abnehmen. ({8}) Sie allein trägt auch die Verantwortung für die dringend notwendigen Maßnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen, die eingeleitet werden müssen. Die Debatte heute morgen soll der Regierung Gelegenheit bieten, uns erstmals Aufklärung zu geben, damit wir nicht immer nur auf Zeitungsberichte angewiesen sind. ({9})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete von Bülow. ({0})

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da gibt es viele Möglichkeiten. ({0}) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ( Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat in der dritten Lesung des Bundeshaushalts 1975 am 13. März dieses Jahres den Antrag auf Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates über die Auswirkungen der zwischenzeitlich sichtbar gewordenen Änderungen der Haushaltsentwicklung auf die Finanzplanung für die Jahre ab 1976 gestellt. Der Haushaltausschuß hat diesen Antrag mit 14 : 7 Stimmen, also mit Zweidrittelmehrheit, abgelehnt, weil derzeit noch keine abschließenden neueren Erkenntnisse vorliegen, ({1}) die die Bundesregierung veranlassen müßten, zur Zeit eine derartige Information zu geben. Es besteht kein Zweifel daran, meine Damen und Herren, daß die Entwicklung des Haushalts 1975 in gewissem Umfang von dem abweichen wird, was wir vor wenigen Monaten beschlossen haben. ({2}) Die Annahmen hinsichtlich der Steuereingänge dürften sich trotz mehrfacher Korrektur nach unten als zu hoch erweisen, ({3}) die Ausgaben für die Bundesanstalt für Arbeit dürften sich um einen erheblichen Betrag erhöhen. Dies ist zwischen den Haushaltsexperten aller Fraktionen völlig unbestritten. Die Unterrichtung über diese Abweichung wird Ihnen in Form eines Nachtragshaushalts - wahrscheinlich unmittelbar nach der Sommerpause - gegeben werden.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern, Herr Althammer.

Dr. Walter Althammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von Bülow, wären Sie wenigstens bereit, diesem Hohen Hause das mitzuteilen, was heute in den Zeitungen zu lesen ist, nämlich daß der Herr Bundesfinanzminister gestern vor einem anderen Gremium in München erklärt hat, daß wir mit etwa 10 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen zu rechnen haben?

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind Schätzungsgrößen; ich komme gleich darauf zurück. ({0}) - Warten Sie doch noch einen Moment ab! Eine Unterrichtung zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch über die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die mittelfristige Finanzplanung könnte nur ungewisse und damit unsolide Prognosen und Darstellungen zum Gegenstand haben. Wir glauben, daß der Weg des Nachtragshaushalts - von Ihnen in vielen Debattenbeiträgen mit Inbrunst gefordert ({1}) und von uns mit unterstützt - der richtige sein wird. Mit dem Nachtragshaushalt muß gewartet werden, bis die Bundesanstalt für Arbeit ihrerseits den von ihr in Aussicht genommenen Nachtragshaushalt verabschiedet hat. Welche Daten wollen Sie denn einsetzen? Sie müssen doch die Daten, die von der Bundesanstalt für Arbeit in dem von ihr im Juli vorzulegenden Nachtragshaushalt festgelegt werden, in diesen Nachtragshaushalt übernehmen. Dann haben Sie solide und klare Daten dazu. ({2}) Die Veränderungen in den Steuereinnahmen müssen jedenfalls zeitnah und wirklichkeitsbezogen geschätzt werden. ({3}) Wenn man die Schwierigkeiten sieht, mit denen die Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung - insbesondere auf den Weltmärkten - verbunden sind, kann man ermessen, wie schwer es zur Zeit ist, eine solche exakte Prognose über die von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängigen Steuereinnahmen zu erstellen. Der Antrag der CDU/CSU war weder damals in der dritten Lesung des Haushalts zweckdienlich, noch ist er es heute. ({4}) Er wurde gestellt, um Angst über die Entwicklung der Staatsfinanzen bei der Bevölkerung zu schüren. Er mußte deshalb abgelehnt werden. ({5}) Im übrigen, meine Damen und Herren von der Opposition, haben wir natürlich ebenso wie Sie das größte Interesse daran ({6}) - Herr Oberbürgermeister, würden Sie dann bitte Zwischenfragen stellen -, daß dieses Parlament laufend über die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklungen dieses Landes unterrichtet wird. Daran hat es in den letzten Wochen und Monaten nicht gefehlt. Der Haushalt 1975 ist noch in zweiter und dritter Lesung im März an die letzten Entwicklungen der Einnahmen- und Ausgabenseite angepaßt worden. Ein Betrag von 3 Milliarden DM als Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit ist noch nachträglich eingesetzt worden. Das ganze Parlament erhält monatlich einen Bericht des Bundesfinanzministeriums über die Entwicklung der Steuereingänge. Am 28. Mai, also vor etwa drei Wochen, erhielten Sie den letzten monatlichen Bericht über die Entwicklung des Bundeshaushaltsplans, der die Zeit von Januar bis April 1975 umfaßte. Sie erhalten über den Haushaltsausschuß Kenntnis von Haushaltsüberschreitungen in Form von über- und außerplanmäßigen Ausgaben. Eine der letzten betraf die zusätzlichen Ausgaben für die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg in Höhe von zusätzlich 887 Millionen DM. Die Vorlage stammt vom 10. Juni dieses Jahres. Sie sind unterrichtet worden über den Jahreswirtschaftsbericht und über die daran anschließende Entwicklung, ebenso wie über die Situation der Bundesbahn und der Bundespost. Hinzu kommen Informationen im kleinsten Kreis, wo Ihnen genau dargelegt worden ist, was in etwa für den Nachtragshaushalt in Aussicht genommen wird. ({7}) Über die Haushaltsentwicklung des Bundes im Jahre 1975 wurden Sie auf Grund der Anfrage unterrichtet. ({8}) - Das ist kein Staatsgeheimnis; das wird ja offen gehandelt. Dies ist doch alles nur for show, was Sie hier machen, und dient nicht der Sachaufklärung. ({9}) Der Vorwurf also, diese Regierung genüge ihrer Informationspflicht nicht, kann wahrlich nicht erhoben werden. Mit dem Nachtragshaushalt im Herbst werden wir eine genaue, auf einigermaßen verläßliche Prognosen aufgebaute Abschätzung der Gesamtentwicklung in Einnahmen und Ausgaben haben. Dann kann auch die Frage nach der Auswirkung dieser Entwicklung auf die mittelfristige Finanzplanung gestellt werden. Die Neufassung der mittelfristigen Finanzplanung wird mit dem Haushalt 1976 ebenfalls um diese Zeit herum im Parlament eingebracht werden. Schließlich kann man auch davon ausgehen, daß der noch aus der Steuerreform bestehende Streit zwischen Bund und Ländern um die Aufteilung der Kosten dieser Steuerreform entschieden sein wird. Der Ausgang dieser Revisionsverhandlungen, bei denen für den Bund etwas über 5 Milliarden DM auf dem Spiel stehen, dürfte eine wichtige Voraussetzung für die Vorlage des Haushalts 1976 sein. Meine Damen und Herren, was die 19 Gesetzesvorhaben anbelangt, ({10}) so ist es folgendermaßen, daß die Vertreter der Länder in der gemeinsamen Verhandlungskommission, die sich mit der Steuerneuverteilung befaßt, den Wunsch geäußert haben, zu erfahren, welche Gesetzgebungsvorhaben des Bundes mit Auswirkungen auf Länder- oder Gemeindefinanzen zur Zeit im Gesetzgebungsgang sind. Der Bundesfinanzminister hat eine entsprechende Liste zusammengestellt und den Ländervertretern zur Verfügung gestellt. Sie enthält weder politische Schlußfolgerungen noch eine politische Bewertung der in der Übersicht enthaltenen Vorhaben. Sie zeigt lediglich, welche zahlenmäßigen Auswirkungen sich für die Länder- und Gemeindehaushalte errechnen. Eine politische Wertung der Vorhaben in der Liste ist in den Gesprächen über die Steuerneuverteilung bisher weder vom Bund noch von den Ländern vorgenommen worden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zur aktuellen finanzpolitischen Lage machen. Der Bund befindet sich genau wie die Länder und Gemeinden in einer schwierigen finanzpolitischen Situation. Darüber besteht Einigkeit. Eine schwache Konjunktur mit hoher Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, nicht ausgelasteten Kapazitäten, unzureichender Nachfrage, Erschütterung der Weltwirtschaft in Verbindung mit der Ölkrise und den daraus resultierenden Preiserhöhungen bewirken zwangsläufig geringere Steuereinnahmen. Gegenüber der ersten Steuerschätzung für 1975, die im Sommer 1974 vorgenommen wurde, mußten die Steuererwartungen inzwischen für Bund, Länder und Gemeinden um 18,5 Milliarden DM zurückgenommen werden. Weitere 3 bis 4 Milliarden DM Ausfall dürften sich aus den letzten Konjunkturprognosen ergeben. Der Bund hat allein hiervon 7,5 bzw. 10 Milliarden DM, wenn man den letzten Trend noch mit einrechnet, zu verkraften. Hinzu kommen die 14 Milliarden DM aus der Steuer- und Kindergeldreform. Dazu müssen auf der Ausgabenseite die Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit gerechnet werden. Sie betragen 7 Milliarden DM mehr als vorgesehen. ({11}) Auch dies ist eine direkte Folge der Konjunkturentwicklung. ({12}) - Ich nehme an, daß Sie das auch wissen, Herr Oberbürgermeister. ({13}) Wie kann nun der Bund, wie kann die öffentliche Hand insgesamt dieses aufgerissene Einnahmeloch stopfen? Da gibt es eine Empfehlung, die lautet: „Radikale Ausgabenkürzung", z. B. von Herrn Althammer vorgetragen. „Vor allem Überprüfung des sozialen Bereichs", lautet die Empfehlung. Dieser Empfehlung zu folgen wäre nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion falsch. In der konjunkturellen Situation, in der wir uns befinden, ist es eine entscheidende Aufgabe des Staates, mit seinen Haushaltsmitteln die ungenügende private Nachfrage zu stützen und anzuregen oder sie gar zu ersetzen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Althammer?

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Walter Althammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von Bülow, wollen Sie hier im Ernst behaupten, daß ich irgendwann und irgendwo gefordert hätte, den sozialen Bereich mit dem Ziel von Kürzungen zu überprüfen?

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe in bezug auf Ihre Person gesagt: „Radikale Ausgabenkürzungen." Wenn Sie sich das Spektrum der Ausgaben des Bundes anschauen, kommen Sie zu weiteren Schlußfolgerungen, wenn Sie das ernsthaft verfolgen wollen. ({0}) Eine Sparpolitik à la Brüning wie in den 30er Jahren wäre ein verhängnisvoll falsches Konzept. Das Umgekehrte, nämlich antizyklische Finanzpolitik, ist zur Zeit notwendig, d. h., wir müssen im Jahre 1975 wie schon im Vorjahre dafür eintreten, die geplanten staatlichen Ausgaben voll zu verwirklichen und die fehlenden Steuermittel durch Kreditaufnahme zu ersetzen. Ich war vor wenigen Wochen in den Vereinigten Staaten. Beim Studium der dort wesentlich größeren wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Vergleich zu unserem Lande wurde einem deutlich vor Augen geführt, wie unverzichtbar die soziale Absicherung für die arbeitende Bevölkerung in der Bundesrepublik ist. Anders etwa mit einem, wie manche Beobachter meinen, dramatischen Umbau der wirtschaftlichen Strukturen, wäre in schwierigen wirtschaftlichen Phasen in unserem Lande der soziale Frieden, aber auch der Fortschritt in die Zukunft nicht zu halten. ({1}) Die Abwehr wirtschaftlicher Rückschläge kann und darf nicht auf dem Rücken der wirtschaftlich Schwachen, seien es die Rentner, die Arbeitslosen, die Kurzarbeitenden, die kinderreichen Familien, ausgetragen werden. ({2}) Die politischen Konsequenzen wären sonst nicht zu übersehen. - Meine Damen und Herren, lesen Sie doch den letzten Bundesbankbericht. Daraus können Sie entnehmen, daß es keine Demontage gegeben hat, sondern daß eine erhebliche Zunahme der Einkommen gerade in den Arbeitnehmerhaushalten und in kinderreichen Familien dank der Kindergeldreform eingetreten ist. ({3}) - Dann bedienen Sie sich doch dieser Daten. Auch die Aussagen über die Steuerreform widerlegen Dr. von Billow glatt all das, was Sie hier behauptet haben, daß eine Entlastung überhaupt nicht eingetreten sei. ({4}) Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgerichtig die größere Bedeutung einer Finanzierung des öffentlichen Haushalts durch Kreditaufnahme. Seit dem Vorjahr ist die Neuverschuldung des Bundes stark angewachsen. Aber diese Tatsache spricht nicht für eine fehlgeschlagene Finanzpolitik des Bundes, sie ist vielmehr Ziel und gewollter Bestandteil der antizyklischen Haushaltspolitik. ({5}) So hat der Bund 1974 und 1975 - wie schon in vorausgegangenen Jahren, z. B. 1967 und 1968 - dazu beigetragen, durch höhere Kreditaufnahme die fehlende private Nachfrage auszugleichen. Umgekehrt wurde in Zeiten wirtschaftlicher Überhitzung, so z. B. 1973, die staatliche Verschuldung stark gedrosselt und wurden zusätzlich sogar Steuereinnahmen bei der Bundesbank - Konjunkturbremsen - stillgelegt, immerhin ein Betrag von 8 Milliarden DM. Der Schuldenstand der Bundesrepublik ist derzeit keineswegs besorgniserregend. Er betrug Ende 1974 insgesamt 70 Milliarden DM; er wird bis Ende 1975 auf etwas mehr als 90 Milliarden DM anwachsen. ({6}) Diese sehr hoch erscheinenden Summen sind jedoch an Vergleichsgrößen zu messen. Mißt man z. B. die Bundesschulden am Bruttosozialprodukt, so zeigt sich, daß sich ihr Anteil seit 1962 mit geringfügigen Schwankungen auf der gleichen Höhe von etwa 7 % bis 8 % bewegt. Bei einem weiteren Größenvergleich ergibt sich eine ähnliche Entwicklung. Die Bundesschulden, gemessen an den Jahresausgaben des Bundes, ergeben eine Quote, die um 50 % pendelt, 50 % eines Jahreshaushalts. In den Rezessionsjahren 1967/ 1968 stieg sie auf 56 % bis 60 % an, wurde 1972/1973 auf unter 50 % zurückgeführt und wird nunmehr für 1974/1975 wieder auf 52 % bis 57 % angehoben, weil wir den Einsatz der Neuverschuldung als wirtschaftspolitisches Steuerungsinstrument für richtig und für notwendig halten. Die Verschuldungspolitik des Bundes verläuft also in durchaus normalen Schwankungsbreiten. Auch bei Betrachtung der gesamten Staatsverschuldung der Bundesrepublik, also Bund, Länder und Gemeinden zusammengenommen, ergeben sich ähnliche Entwicklungen. Im internationalen Vergleich mit anderen wichtigen Industrienationen ist unsere Pro-KopfVerschuldung niedrig und gibt keinen Anlaß zu Besorgnissen. Es bleibt, meine Damen und Herren, ein Ausblick auf das Jahr 1976 und die mittelfristige Finanzplanung. Die Bundesregierung wird den Haushalt 1976 mit gutem Grund etwas später als in den Normaljahren üblich einbringen. Sie muß sich zusammen mit den daran beteiligten Sachverständigen auf dem Boden einer einigermaßen verläßlichen Konjunkturprognose bewegen können. Von dieser Konjunkturprognose aus kann sie einigermaßen zuverlässig das Ausmaß der Steuereinnahmen abschätzen. Das Grundproblem bei den Einnahmeerwartungen dürfte sein, daß uns auf Grund der sehr stark international bedingten Abschwächung der Wirtschaftskonjunktur der wirtschaftliche und damit finanzielle Zuwachs, der für 1975 vorgesehen war, fehlen wird. Da sind wir uns völlig einig in der Analyse. Dieses fehlende Wachstum wird mittelfristig möglicherweise ausgeglichen werden können, kurzfristig, d. h. bezogen auf das Jahr 1976, wird dies mit Sicherheit nicht möglich sein. Dies dürfte eine Problematik sein, die auch den Art. 115 Abs. 2 des Grundgesetzes berührt, der ja für Normaljahre die Höhe der Kreditaufnahme an die Summe aller Investitionsleistungen aus dem Bundeshaushalt knüpft, jedoch in Jahren des wirtschaftlichen Ungleichgewichts Ausnahmen von dieser Regel zuläßt. Da sich konjunkturelle Schwankungen des Wirtschaftsablaufs und damit auch die hiervon beeinflußten Steuereinnahmen nicht an die jährlichen Haushalte des Bundes in ihrer zeitlichen Folge festbinden lassen, entsteht die Frage, wie denn ein auf die moderne Konjunkturpolitik zugeschnittener Artikel 115 des Grundgesetzes im Rahmen einer mittelfristigen Abwehr von Wirtschaftsungleichgewichten auszulegen sein wird. Ich will das Thema hier nur anschneiden, ohne Lösungsvorschläge zu geben. Ein weiteres Problem ist der Steuerausfall in Höhe von 14 Milliarden DM auf Grund der Steuerreform, der 1976 für alle Gebietskörperschaften zu verkraften sein wird. Es war die Auffassung aller Steuerexperten des Bundestages - sei es in der Regierung oder in der Opposition -, die eine derartige Steuerentlastung und damit gleichzeitig Belastung des öffentlichen Haushalts durch Kreditaufnahmen für tragbar erklärt haben. Auch hiermit muß die Bundesregierung fertigwerden, wenn sie den Haushalt 1976 vorlegt. Damit verbunden ist, wie schon erwähnt, die Revisionsklausel, die Frage nach der Steuerneuverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden - ebenfalls eine Folge der Steuerreform. Es ist also noch eine Fülle von schwierigen Fragen Schritt für Schritt, ohne Hektik, ohne Panik zu erledigen, bevor der Haushalt 1976 von der Regierung und später dann von diesem Parlament verabschiedet werden kann. Oberstes Gebot der nächsten Jahre wird es sein, in allen öffentlichen Haushalten äußerste Sparsamkeit walten zu lassen. Gleichzeitig muß jedoch unbedingt den konjunkturpolitischen Notwendigkeiten Rechnung getragen werden. Ob darüber hinaus Maßnahmen zur Einnahmeverbesserung der öffentlichen Haushalte notwendig sein werden, muß dann zur rechten Zeit mit aller Nüchternheit entschieden werden. Meine Damen und Herren, zur Panik besteht keinerlei Anlaß. Wir beantragen, den Antrag der Opposition abzulehnen. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.

Victor Kirst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001103, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann natürlich fragen, welchen Wert eine solche Debatte heute morgen bei dieser Besetzung hat, durch die die Finanzlage des Bundes sicher nicht um eine Mark verbessert wird. ({0}) - Aber, Herr Gerster, lassen Sie mich sagen: Wenn wir die Debatte so führen, wie sie mit Ausnahme weniger Passagen - ich sage: weniger Passagen - vom Kollegen Leicht auch mit geführt worden ist - auf diese wenigen Passagen muß ich nachher natürlich eingehen -, dann kann diese Debatte doch einen guten Zweck haben. Sie müßte nämlich so angelegt sein, daß das Bewußtsein für die Haushaltslage bis hin in die letzte Amtsstube unserer Verwaltungen, in das letzte Verbandssekretariat - auch da wird immer über Wünsche an die öffentlichen Hände gebrütet - und - ich sage das bewußt, wenn ich so an manche Kollegen aller Fraktionen denke - auch bis in das letzte Abgeordnetenbüro - wenn sie schon nicht hier sind - dringt. ({1}) Wenn dies der Sinn dieser Debatte ist, dann hat sie wirklich einen Zweck erfüllt. Meine Damen und Herren, wir haben im Gegensatz zu dem, was hier wohl teilweise unterstellt wurde, bei der zweiten und dritten Lesung des Haushalts 1975 überhaupt keinen Zweifel daran gelassen, daß zwar von Finanzkrise und Finanzchaos keine Rede sein kann, daß aber die Finanzlage schwierig ist und sicher im Jahre 1976 nicht leichter wird. Das ist hier offen von uns allen ausgesprochen worden. Ich darf dabei in aller Bescheidenheit auch an meine eigenen Ausführungen in der zweiten und dritten Lesung, die wirklich deutlich gewesen sind, erinnern. Man kann wohl sagen, daß nach den Jahren, in denen die Steuerquellen immer munterer sprudelten, als wir es selbst zunächst annehmen konnten, Haushaltspolitik wieder auf das zurückgeführt wird, was im wahrsten Sinne des Wortes darin steckt, nämlich Haushalten, haushälterisch mit dem Geld umgehen, das uns die Bürger treuhänderisch durch die Abgaben zur Verfügung gestellt haben. Ich sage ganz offen: 1975 markiert einen fundamentalen Wandel der finanzpolitischen Situation. Ich glaube, das können wir alle ganz gemeinsam feststellen. Nun kommen wir aber zu den Gründen. Ich sagte vorhin, Herr Leicht, über große Strecken haben Sie hier eine realistische Schilderung der Situation gegeben. Aber ganz am Schluß - und an einigen anderen Punkten auch -, da mußte natürlich der nötige Schuß Polemik sein. Sie haben wieder behauptet - und doch wider besseres Wissen behauptet -, daß die Schuld für diese finanzielle Situation diese Regierung und die sie tragenden Parteien träfe. ({2}) Herr Leicht, Sie wissen genau, wie falsch das ist. ({3}) - Dann müssen wir eben noch einmal ein paar Minuten auf die Klärung der Ursache dieser - wie ich sagte - fundamentalen Veränderung der finanzpolitischen Situation verwenden. Herr Bülow hat es schon gesagt. ({4}) - Herr Gerster, Sie verstehen mehr von anderen Dingen. ({5}) - Manchmal jedenfalls gut, Herr Arndt! Da ist zunächst einmal die Steuerreform. Da muß man es Ihnen eben zum hundertstenmal sagen. Sie können sich aus der Verantwortung für diesen Einnahmeausfall von 14 Milliarden nicht herausmogeln. Im Gegenteil: Sie haben ja über den Bundesrat noch kräftig dazu beigetragen, daß die Steuerreform noch einmal ein bis zwei Milliarden DM teurer wurde, als ohnehin geplant war. ({6}) - Ich gebe Ihnen ja nicht die Alleinschuld. Aber Ihre Mitverantwortung in diesem Hause und im Bundesrat an diesem Steuerausfall ist ja nun einmal historisch nachweisbar. ({7}) Ich gehe jetzt allerdings noch einen Schritt weiter: Sie haben mit Ihren Anträgen von 1973, die nebenbei bemerkt konjunkturpolitisch blödsinnig waren, ({8}) die finanzpolitischen Preise für die Steuerreform verdorben; denn wir sind einmal von einer aufkommenneutralen Steuerreform ausgegangen. ({9}) - Ich stelle ja nur fest: Wir haben das gemeinsam gemacht. ({10}) - Wir drücken uns nicht vor der Verantwortung. Wir wollen nur vermeiden, daß Sie sich aus Ihrer Mitverantwortung geschickt herausstehlen. ({11}) Sie wissen ja genau, daß diese Gesetze ohne den Bundesrat nicht zustande kommen konnten, Herr Wohlrabe. Und Sie wissen, wie dort - leider noch immer - die Mehrheitsverhältnisse sind. ({12}) Ich meine nur, Herr Leicht: Wir, die wir gemeinsam im Haushaltsausschuß sitzen, sind sicherlich in der Lage, über die Dinge sehr nüchtern und sehr ruhig zu sprechen und sie auch darzustellen. Dann sollte man doch auf solche Dinge verzichten und nicht wieder davon sprechen, das sei ja alles die Folge der Inflation, diese Inflation sei das Ergebnis der Politik dieser Regierung und diese Inflation sei von dieser Regierung auch gewollt. ({13}) - Herr Vogel, Sie sind wieder einmal zu schnell gewesen ({14}) mit dem Beifall, der Ironie sein sollte und nur von Unkenntnis zeugte. Meine Damen und Herren, der konjunkturelle Rückgang, der der zweite entscheidende Grund für die schwierige Finanzsituation ist, ist ja nicht von ungefähr gekommen. Dieser konjunkturelle Rückgang - das ist hier häufig genug dargestellt worden, und bis zu einem gewissen Grade ist diese Debatte ja auch die Fortsetzung der Aktuellen Stunde vom 11. Juni 1975 mit anderen Mitteln - und sein Anhalten sind zum Teil Folge außenwirtschaftlicher Einflüsse. Aber er ist auch - das sollten wir offen sagen - die Folge einer gewollten Politik der Stabilisierung. Auch da hat es niemanden in diesem Land gegeben, der diese Stabilisierung nicht wollte. Im Gegenteil: Sie haben uns, als wir das aus Gründen, die wir nicht zu vertreten hatten, noch nicht so erfolgreich tun konnten, ja immer dafür geprügelt, daß wir genau das nicht getan haben, was wir dann taten, was aber wiederum zu diesen Folgen geführt hat. Auch hier ist dann doch wohl von einer allgemeinen Mitverantwortung zu sprechen. Man kann eben nicht alles gleichzeitig haben. Man kann nicht Preisstabilisierung und überfließende Finanzquellen der öffentlichen Hände haben. Das muß man einmal erkennen. Wir haben diese Zusammenhänge nie geleugnet und sind insofern auch nicht überrascht. Nun, es ist bemängelt worden, daß der Nachtragshaushalt erst nach der Sommerpause vorgelegt wird. Das ist schon wiederholt kritisiert worden. Man kann daran zweifeln, ob diese Debatte erforderlich ist; denn die Motive der Bundesregierung, warum eben erst nach der Sommerpause ein Nachtragshaushalt vorgelegt werden kann, sind, z. B. in den Fragestunden, deutlich geworden. Daß die Regierung den Nachtragshaushalt jetzt noch nicht vorlegt, geschieht ja nicht aus Faulheit, sondern aus der nach unserer Auffassung richtigen Einsicht, daß der Zeitpunkt dafür eben erst nach der Sommerpause kommen wird. Da spielen verschiedene Dinge eine Rolle: die noch immer andauernden Verhandlungen mit den Ländern. Wir wünschen der Bundesregierung bei diesen Verhandlungen weiterhin vollen Erfolg. Wir haben den Eindruck, daß die Chancen inzwischen ein bißchen besser stehen, auch was die Einsicht der Länder anlangt. Ich will dazu deshalb nichts weiter sagen, um diesen Prozeß nicht zu gefährden. Dann spielt eben auch die Entwicklung der Konjunktur eine entscheidende Rolle, von der, wie wir wissen, die Entwicklung der Steuern wiederum entscheidend abhängt. Man muß eben feststellen - ich will mich jetzt nicht unter die Konjunkturpropheten begeben; das ist auch nicht so sehr meines Amtes -, daß bessere Übersichten, bessere Erkenntnisse erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein werden. Dies alles - und nicht die böse Absicht, irgend etwas zu verschleiern, was doch ohnehin jeder weiß, Herr Leicht - und die Absicht, so fundiert, wie es eben möglich ist, einen Nachtragshaushalt vorzulegen, führen dazu, daß dies erst im September, nach Ende der Sommerpause, möglich sein wird. Und dies begründet eben auch, warum wir Ihren Antrag hier ablehnen werden. Wir hoffen, daß wir dann zuverlässigere Steuerschätzungen haben werden. Es ist j a dann auch nötig, eine neue Finanzplanung - auf die Ihr Antrag abzielt - aufzustellen. Machen wir uns aber - ich sage das ganz freimütig, denn ich war gegenüber Finanzplanungen schon immer skeptisch, weil ich sie nur als Momentaufnahmen angesehen habe - nichts vor: Auch die Finanzplanung, die mit dem Haushalt 1976 vorgelegt wird, wird in ihrer Aussagekraft nicht lange halten. Das liegt aber nicht an der Regierung; das wäre bei jeder anderen Regierung auch so, es sei denn, wir hätten eine absolute statische Situation. Denn nur wenn sich die dieser Planung zugrunde liegenden Daten nicht verändern, kann diese Planung für den Zeitraum Gültigkeit besitzen, für den sie aufgestellt worden ist. Das heißt: wir müssen auch einer fortgeschriebenen mittelfristigen Finanzplanung, was ihren Aussagewert anlangt, mit Skepsis gegenüberstehen oder, was die Möglichkeit ihrer Veränderung anlangt, vielleicht mit mehr Zuversicht als Skepsis; das hängt eben von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Eines aber, meine Damen und Herren, steht auf jeden Fall fest, wie immer sich vor oder hinter dem Komma die Zahlen des Haushalts 1976 und die Zahlen des Nachtrags 1975 gestalten werden: Die Finanzdecke bleibt - und das nicht nur 1976 - knapp, sehr, sehr knapp; darüber müssen wir alle uns im klaren sein. Manchmal tauft man ja Haushalte, gibt ihnen einen Namen. Ich würde sagen, schon bevor er geboren ist, verdient der Haushalt 1976 sicher den Namen „Haushalt der Ernüchterung" ; das ist eine völlig wertfreie Feststellung. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang - Herr Leicht hat davon gesprochen - auch noch ein Wort zur Steuererhöhungsdebatte sagen. Er hat hier versucht, einen Widerspruch aufzuzeigen a) zwischen Äußerungen innerhalb der Regierung und b) zwischen Äußerungen vor und nach dem 4. Mai. Ich kann nur sagen, ich habe vor dem 4. Mai und nach dem 4. Mai dasselbe gesagt, ({15}) und das trifft für andere auch zu. Und dies, was wir dazu gesagt haben, ist im Kern unverändert auch heute richtig: daß man ja nur von den derzeitigen Erkenntnissen ausgehen kann, und dies nur für eine derzeit überschaubare Zeit. Ich wiederhole: die uns derzeit vorliegenden Erkenntnisse führen für eine überschaubare Zeit zu der Auffassung, daß es nicht erforderlich ist, zu Steuererhöhungen zu kommen. Dabei habe ich in der Aktuellen Stunde mit Interesse vernommen, daß der Bundesfinanzminister bewußt oder unbewußt nicht von Steuererhöhungen, sondern von Einnahmeverbesserungen gesprochen hat. Denn darin liegt - ich sage das zunächst einmal für mich persönlich - z. B. die Möglichkeit der Überlegung - so deute ich das -, daß es ja auch andere Einnahmeverbesserungen als Steuererhöhungen gibt, vielleicht stärker zweckgebundene Einnahmeerhöhungen. Man muß sich darüber im klaren sein, daß Steuererhöhungen zwar die positive Seite haben, daß sie die Kassen füllen, aber möglicherweise die negative Seite haben, daß sie das Preisniveau beeinflussen, daß sie die gerade anlaufende konjunkturelle Entwicklung vielleicht wieder gefährden, und sie bringen vor allen Dingen, wenn man über sie redet, zunächst einmal die Gefahr, daß das Bewußtsein für die Schwierigkeit der Haushaltslage bei den anderen Ressorts nicht so geschärft wird, wie es nötig ist. Ich glaube, daß dies möglicherweise zunächst einmal das Entscheidende ist: bei allen, die Verantwortung tragen, das Bewußtsein für die Schwierigkeiten der Haushaltslage zu schärfen. Ich meine, für 1975 ist die Kreditfinanzierung - auch ihre Ausweitung durch den Nachtragshaushalt - absolut vertretbar. Es wird ja allgemein anerkannt, auch von Fachleuten außerhalb der Regierung, außerhalb des Koalitionslagers, von der Bundesbank, daß dies möglich ist. Dann stellt sich die Frage, ob es nicht 1976, wenn sich die wirtschaftliche Tätigkeit belebt, möglich ist, vorgesehene Kredite gegen Steuereinnahmen, die dann mehr fließen, sozusagen auszutauschen. Denn wir wissen alle: 1 % Bruttosozialprodukt entspricht 2,5 Milliarden DM Steuern, wovon etwa die Hälfte auf den Bund entfällt. Dies alles ist noch zu untersuchen und wird im einzelnen Gegenstand der Haushaltsberatungen sein. Nun zu dem Wort „soziale Demontage". Sicherlich beabsichtigt niemand soziale Demontage. Nur möchte ich hier jedenfalls einmal sehr deutlich sagen, daß dieses neue Schlagwort auch nicht zur Schutzbehauptung für diejenigen werden sollte, die so denkfaul sind, daß sie nicht bereit sind, über mögliche Einsparungen nachzusinnen. ({16}) Hier gibt es quer durch alle Fraktionen Meinungsverschiedenheiten, lieber Kollege Althammer. Das wollen wir einmal ganz offen sehen. Aber wenigstens sollten wir, die wir mit dem Haushalt tagtäglich zu tun haben, uns einig sein. ({17}) - Das Wort ist schon zehn Jahre alt. Es ist alles nicht so neu, wie es manchmal wirkt. Mindestens vor zehn Jahren hat es das Wort auch schon einmal gegeben. Ich meine, wir sind zufrieden. - Was heißt zufrieden? ({18}) - Es lacht sich immer am besten über Dinge, von denen man nichts versteht. ({19}) Wir sind schon sehr weit, wenn es uns erst einmal gelingt, wirklich hart und streng dafür zu sorgen - und das ist, glaube ich, über die Fraktionsgrenzen hinaus eine Aufgabe derer, die in diesem Hause Haushaltspolitik machen -, daß keine neuen Ausgaben beschlossen und laufende Ausgaben nicht erhöht werden. § 96 der Geschäftsordnung muß für uns in zunehmendem Maße nicht nur Formsache, sondern eine ganz ernste Verpflichtung sein. Der Haushaltsausschuß sollte notfalls schon sehr bald Ernst machen und sagen: Über § 96 ist das nicht möglich. Ich glaube, damit werden wir einiges zur Stabilisierung der finanzpolitischen Situation tun. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Politik ist und bleibt die Kunst des Möglichen. Das heißt heute eben - gerichtet an die Adresse all derer, die es angeht, an die Fraktionen und an wen auch immer -: Wer, wo auch immer, seine politische Aufgabe heuzutage noch im Erfinden von Geldausgeben sieht, hat das Gebot der Stunde nicht erfaßt. Dies sollte unser gemeinsames Anliegen sein. Ich werde jedenfalls nicht müde werden, das in den nächsten Wochen und Monaten, solange es nötig ist, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu sagen. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Bundesminister Apel.

Dr. Hans Apel (Minister:in)

Politiker ID: 11000043

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem Punkt beginnen, der mit der jetzigen Debatte direkt nichts zu tun hat. Es handelt sich um die famose Liste, Herr Kollege Leicht, die Sie hier erneut in die Debatte eingeführt haben. Nach meiner Meinung können wir so im Parlament wirklich nicht miteinander umgehen. Am 18. Juni hat der Sprecher der Bundesregierung, Herr Staatssekretär Bölling, den Tatbestand erneut deutlich gemacht. Das hat gestern in allen Zeitungen gestanden. Aber Sie führen heute den Tatbestand erneut so ein und benutzen ihn als Verdächtigung, obwohl Sie inzwischen genau wissen, wie es wirklich war. ({0}) Wie es wirklich war, will ich Ihnen erzählen, damit Legendenbildungen in dieser Frage nun endgültig aufhören. ({1}) Die Ministerpräsidenten, insbesondere die der CDU-regierten Länder, haben uns in der Sechserkommission, in der wir über den Ausgleich der Konsequenzen der Steuerreform reden, gesagt: Da kommen doch noch schlimme Belastungen auf Grund von Gesetzgebungsvorhaben auf uns zu, die noch nicht beschlossen, aber im Gesetzgebungsgang sind. Wir haben gesagt: Das ist gar nicht so schlimm, aber wir sind durchaus bereit, alles aufzulisten. Es handelt sich um insgesamt 19 Gesetze, die wir darstellen können. Wir können eine Rechnung darüber aufmachen, was sie in den Haushaltsjahren 1975 bis 1978 den Bund, die Länder und die Gemeinden kosten. So hört z. B. diese Liste auf - wie Sie sicherlich wissen, da Sie, wie Sie sagen, die Liste haben - mit Punkt 19: Reform der Körperschaftsteuer, ein Gesetzgebungsvorhaben, das in jedem Falle in dieser Legislaturperiode nicht mehr in Kraft treten wird. Wir haben über dieses Vorhaben - das hat Herr von Bülow bereits dargestellt - in dieser Gruppe nicht debattiert. Es gibt inzwischen allerdings Fernschreiben einzelner Bundesländer, die zu einzelnen Positionen ihre Meinung sagen. Dieses ist der Stand der Dinge. Nun möchte ich wirklich dieses Parlament bitten, insbesondere die Opposition, mit dieser Liste nicht Verdächtigungen zu betreiben. Diese ist ein nüchterner Tatbestand, weiter nichts, und nun muß damit Schluß sein, draußen so zu tun, als würden hier böse Dinge gemacht. Wir werden immer und jederzeit derartige Listen mit derartigen Kostenvorausschätzungen machen müssen, weil dies die Pflicht des Finanzministers ist. In dieser Liste stehen die merkwürdigsten und buntesten Gesetze hintereinander, z. B. die Körperschaftsteuerreform, die erst frühestens ab 1977 in Kraft tritt. Ich glaube, jetzt sollten wir Schluß machen. Auch Sie, Herr Leicht, haben jetzt hoffentlich offiziell zur Kenntnis genommen, wie der Tatbestand ist. ({2}) Nun zur Sache selbst. Sie haben hier Fragen gestellt, und ich will Ihnen die Fragen so beanworten, wie sie sich aus heutiger Sicht darstellen. Wir geben Ihnen die Informationen, die wir haben, und es ist falsch, Herr Kollege Leicht, wenn Sie sagen, wir weigerten uns, Informationen zu geben. Sie erhalten diese Informationen jetzt von mir, obwohl, wie Herr Kirst zu Recht gesagt hat, Sie diese Informationen auf vielfältige Weise - auch hier im Deutschen Bundestag - wiederholt bekommen haben. Punkt 1. Wir wissen heute und jetzt, daß wir am Ende dieses Jahres ca. 300 Millionen DM für das Kindergeld mehr ausgegeben haben werden. Dies liegt im wesentlichen daran, daß wir davon ausgegangen sind, daß das Kindergeld nur zu 95 % in Anspruch genommen werden wird. Es wird - ich füge hinzu: Gott sei Dank - zu einem höheren Prozentsatz in Anspruch genommen. Hier folgt jetzt eine Nachforderung an den Bundeshaushalt. Diese werden wir bei Ihnen einzubringen und um Genehmigung nachzusuchen haben. Punkt 2. Wir verhandeln mit den Bundesländern über den Ausgleich der Konsequenzen der Steuerreform. Wir werden uns am 11. Juli wieder treffen. Ich hoffe sehr, daß wir am 11. Juli einig werden, denn alle Beteiligten können eigentlich kein Interesse daran haben, daß sich diese Frage nun immer weiter ins Jahr verlängert; wir müssen ja irgendwann einmal zum Schwur kommen. Hier liegt ein Haushaltsrisiko für den Bund. Ich hoffe, daß das Haushaltsrisiko so klein wie möglich ist. In jedem Falle kann ich Ihnen heute - dafür werden sie hoffentlich Verständnis haben- keine Zahlen nennen. Aber hier liegt ein Risiko, das gegebenenfalls in einem Nachtragshaushalt berücksichtigt werden muß. Punkt 3. Die Bundesanstalt für Arbeit wird im Juli einen Nachtragshaushalt beschließen. Dieser Nachtragshaushalt hat direkt Konsequenzen für den Bundeshaushalt, und wir werden Ihnen dann die Summen, die hier zusätzlich von uns gefordert werden, um das Netz sozialer Sicherheit bis zum Jahresende finanzierbar zu erhalten, in Form eines Nachtragshaushaltes mit der Summe X - die genaue Summe ist mir nicht bekannt, aber es werden mehrere Milliarden DM sein, wie wir alle wissen - präsentieren. Schließlich werden wir - das hat Herr Kollege von Bülow bereits angesprochen - davon ausgehen müssen, daß die nächste Steuerschätzung dazu führen wird, daß Bund, Länder und Gemeinden 1975 erneut mit weniger Steuereinnahmen rechnen müssen. Dies wird ebenfalls, wenn Sie so wollen, als vierte Position in den Nachtragshaushalt eingebracht werden. Hier kann man mir die Frage stellen: Warum hat das Finanzministerium nicht, wie ursprünglich geplant, Mitte Juni eine Steuerschätzung gemacht? Nur, Herr Leicht: wir sind uns, glaube ich, darüber einig, daß wir Steuerschätzungen nicht im luftleeren Raum machen. Steuerschätzungen machen wir mit einem Ziel. Das Ziel, das wir mit diesem Datum hatten, war, einen Finanzplanungsrat von Bund und Ländern Mitte/Ende Juni vorzubereiten, um uns alle Daten zu geben. Dieser Finanzplanungsrat wiederum hatte aber nur einen Sinn und einen Zweck, wenn wir uns vorher über die Revisionsverhandlungen, über den Ausgleich der Konsequenzen der Steuerreform einig geworden waren, weil das das zentrale Datum ist, das zwischen Bund und Ländern strittig ist. Aus diesem Grunde haben wir die Steuerschätzung verschoben. ({3}) - Aber natürlich hat es damit zu tun! Die Steuerschätzung kommt dann, wenn der Finanzplanungsrat das nächste Mal tagt. Dem muß die Sitzung des Finanzplanungsrates - Herr Kollege Vogel, Sie sind kein Fachmann auf diesem Gebiet; insofern verstehe ich Ihr ungläubiges Kopfschütteln - so dicht wie möglich folgen, damit niemand sagen kann: Inzwischen sind die Zahlen erneut obsolet geworden. So rollt das Ganze ab. Ich darf noch einmal zusammenfassen: Die Bundesanstalt für Arbeit legt ihren Nachtragshaushalt vor - dann haben wir die Zahlen -, die Revisionsverhandlungen sind abgeschlossen - dann haben wir hoffentlich unsere Zahlen -, wir machen eine neue Steuerschätzung kurz vor der nächsten Sitzung des Finanzplanungsrates, kurz vor der Aufstellung des Nachtragshaushalts - dann kriegen wir unsere Zahlen; 300 Millionen DM Kindergeld, das wissen wir in etwa schon -, und dann bekommen Sie einen Nachtragshaushalt vorgelegt, bei dem Sie, meine Damen und Herren im Deutschen Bundestag, alle Gestaltungsmöglichkeiten haben. S i e beschließen doch diesen Nachtragshaushalt, nicht die Bundesregierung. Insofern bin ich auch nicht der Meinung, daß Sie um irgendeines Ihrer Rechte gebracht seien. Im Gegenteil, Sie werden dann die Möglichkeit haben zu entscheiden. Ich will Ihnen allerdings heute bereits meine Meinung sagen. Ich werde Sie aus der Verantwortung, die ich als Bundesfinanzminister habe, bitten, den Nachtragshaushalt voll über eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme des Bundes zu finanzieren. Ich werde Ihnen also keinerlei Vorschläge machen, die darauf hinauslaufen könnten, z. B. die obligatorische Konjunkturrücklage dafür einzusetzen, z. B. bei den Ausgaben etwas zu kürzen, geschweige denn, etwas bei den Einnahmen zu machen, sondern ich werde Ihnen einen Nachtragshaushalt vorlegen und Sie bitten, die Nettokreditaufnahme erneut anzuheben, weil die Nettokreditaufnahme - dies haben beide Sprecher der Koalitionsfraktionen deutlich gemacht - in die konjunkturpolitische Landschaft dieses Jahres hineingehört. Wenn wir einmal einen Blick über die Grenzen unseres Vaterlandes werfen, dann werden wir feststellen, daß die Nettokreditaufnahme - ({4}) - Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege Leicht? - Ja, bitte schön!

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Bitte schön, Zwischenfrage! ({0})

Dr. Hans Apel (Minister:in)

Politiker ID: 11000043

Ja, entschuldigen Sie!

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich konnte den Fragesteller leider nicht sehen.

Dr. Hans Apel (Minister:in)

Politiker ID: 11000043

Das weiß nun Herr Vogel wieder besser. Sehen Sie, so lernen wir voneinander. ({0}) - So ist es. - Bitte, Herr Kollege Leicht!

Albert Leicht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001309, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Apel, eine objektive Frage. Sie haben gesagt, Sie würden nicht vorschlagen, die Konjunkturausgleichsrücklage anzugreifen. Diese Konjunkturausgleichsrücklage kann ja nur unter ganz bestimmten Verhältnissen freigegeben werden. Ich stelle mir nun die Frage: Muß man sich nicht überlegen, ob der Zeitpunkt, der zur Freigabe zwingt, nicht - ich will mich jetzt nicht festlegen - in absehbarer Zeit gekommen ist, und daß der Betrag, der für Bund und Länder immerhin, wenn ich mich recht entsinne, bei rund 4 Milliarden DM liegt, bei seinem Einsatz für die Konjunkturentwicklung eine entscheidende Rolle spielen könnte?

Dr. Hans Apel (Minister:in)

Politiker ID: 11000043

Herr Kollege Leicht, diese Frage habe ich mir auch gestellt, und Sie werden verstehen, wenn ich sage, daß Sie als Ausschußvorsitzender und ich als Finanzminister zu gegebener Zeit darüber zu sprechen haben werden, wenn auch sicherlich nicht heute und jetzt im Deutschen Bundestag. Aber die Frage ist in ihrer Stoßrichtung genau richtig und voll berechtigt. Ich möchte also, wie gesagt, die Nettokreditaufnahme des Bundes entsprechend erhöhen, weil ich das konjunkturpolitisch für notwendig halte. Die Herren Redner der Koalitionsfraktionen haben deutlich gemacht, daß das durchaus finanzierbar ist und durchaus auch in die konjunkturpolitische Landschaft paßt. Aber, Herr Kollege Leicht, jetzt wende ich mich an Sie. Was mich eigentlich an Ihrer Intervention gestört hat, war, daß ich als Finanzminister wieder nicht erkenne, was nun die Position der Opposition ist. Sie beklagen die hohen Defizite des Bundes. Sie geben aber keine Antwort auf die Frage, was Sie denn eigentlich an die Stelle dieser hohen Defizite setzen wollen. Sie können, Herr Kollege Leicht, in dieser Situation, in dieser rezessiven Situation, doch nicht ernsthaft meinen, es wäre an der Zeit, etwas auf der Ausgabenseite des Bundes zu tun. Wenn Sie nun mit dem Argument kommen, die Defizite heute und jetzt seien die Konsequenz vergangener Politik, so wissen Sie genau, daß dies Demagogie und daß dies falsch ist. ({0}) Insofern hat es doch keinen Zweck - darauf komme ich in der Debatte noch zu sprechen -, so zu reden. Aber, Herr Kollege Leicht, eines sollten wir dann wenigstens gemeinsam tun. Wenn Sie schon die hohen Defizite beklagen, dann sollten Sie Mitgliedern Ihrer Fraktion sagen, daß sie dann bitte aufhören möchten, draußen immer bei verschiedenen Verbandstagungen und anderen Gelegenheiten auch noch Steuersenkungen in dieser Lage zu verlangen. ({1}) Das ist doch dann wirklich der Höhepunkt an Unlogik. Dann bitte Schluß mit dieser Debatte, weil sie Sie, Herr Leicht, in der Tat noch in größere Schwierigkeiten mit Ihrer eigenen Argumentation bringen würde. Ich stelle fest: Die Rezession hält an. Wir tun alles, um diese Rezession zu überwinden. Dazu gehört auch die hohe Neuverschuldung, die wir beim Nachtragshaushalt erneut anheben werden. Der Artikel 115 läßt das durchaus zu, weil wir in der Rezession sind. Herr Kollege von Bülow hat darauf hingewiesen, daß wir unserem Bürger ehrlich und offen sagen können: Bei uns sind die Finanzen trotz der hohen Nettokreditaufnahme in Ordnung. ({2}) - Ja, Herr Schröder, darüber können Sie gern lachen. Das ist so. Wir haben über viele Jahre, von 1970 bis zum Eintreten der Rezession, den Bundeshaushalt zu fast 100 % aus Steuereinnahmen finanziert. Jetzt machen wir in der Rezession antizyklische Politik. Auf Grund dieser Tatsache ist eben die Schuldenlast des Bundes so gering wie nirgends im internationalen Bereich. Hören wir doch einmal damit auf, mit dem Finanzchaos Angst zu machen, es sei denn, Sie wollten eine irrationale Debatte führen. Das will ich nicht. ({3}) Es bleibt also von dem Antrag und dem Debattenbeitrag der Opposition ein Argument nach - alle anderen Argumente sind nicht zutreffend -, nämlich das Argument, wir hätten mit einer Zahlung von 900 Millionen DM an die Bundesanstalt für Arbeit im Mai das Haushaltsbewilligungsrecht des Parlaments tangiert. Ich akzeptiere diese Argumentation nicht. Wir haben das übliche Verfahren im Haushaltsausschuß eingehalten. Die Zahlungen waren unabweisbar; die Bundesanstalt für Arbeit brauchte das Geld. Die Resistenz der Arbeitslosigkeit war bei der Haushaltsverabschiedung nicht vorhersehbar. Deswegen waren diese Zahlungen notwendig. Einige letzte Bemerkungen zum Haushaltsentwurf 1976. Hier gibt es zwei offene Fragen. Erste offene Frage: Wie werden die Revisionsverhandlungen ausgehen? Das ist eine ganz wichtige Frage. Immerhin geht es hier um Milliarden. Die Größenordnungen der Milliardenbeträge muß ich kennen, ehe ich mit meinen Kollegen über den Haushalt 1976 reden kann. Zweitens. Die Konjunkturentwicklung und der damit bereits in Verbindung gebrachte Art. 115. Herr Kollege Leicht, ich glaube nicht, daß Sie hier der Bundesregierung Vorwürfe machen können, daß wir Ihnen heute oder - genauer gesagt - auf Ihre Kleine Anfrage keine detaillierten Auskünfte über den Haushalt 1976 geben. Es gibt eine verfassungsmäßig genau definierte Reihenfolge der politischen Verantwortung. Das steht in der Verfassung folgendermaßen: Der Bundesfinanzminister fängt mit seinen Arbeiten an. Er geht dann in das Bundeskabinett und läßt dort - das wird in diesem Jahre, so denke ich, mit viel Mühen verbunden sein - einen Haushaltsentwurf 1976 beschließen. Schließlich geht dieser Haushaltsentwurf an dieses Parlament, und Sie haben alle Rechte und alle Möglichkeiten, dazu Stellung zu nehmen und unseren Entwurf zu ändern. Sie können aber doch nicht allen Ernstes verlangen, daß wir hier vorab einzelne Elemente debattieren und darstellen. Wo kommen wir denn da hin. ({4}) - Ich komme gleich darauf zurück. Herr Kollege Leicht, darüber sind wir uns doch wohl einig - auch Herr Kirst hat darüber gesprochen -, daß Einnahmen und Ausgaben im Bundesetat eine Sache sind. Nun haben Sie erneut gesagt, der Finanzminister hätte vor den Wahlen anders geredet als jetzt. Ich zitiere meine Erklärung vom Donnerstag letzter Woche aus der Aktuellen Stunde. Da habe ich folgendes erklärt: Deswegen werden wir nach der Rezession nicht umhinkönnen, auch über Einnahmeverbesserungen der öffentlichen Hände offen zu sprechen. Allein der Art. 115 des Grundgesetzes kann uns dazu zwingen. ({5}) Ich habe in meinen Äußerungen der letzten Monate immer wieder auf diesen Tatbestand hingewiesen. Ich verweise insbesondere auf Erklärungen auf einer Pressekonferenz in Hamburg am 14. April 1975. Deswegen ist der Vorwurf der Verschleierung vor den Wahlen unrichtig. ({6}) - Ja, dies ist genau das, was im Endeffekt auch im „Stern" gesagt worden ist. ({7}) - Ich bitte Sie, da habe ich auch gesagt: Einnahmeverbesserungen werden dann notwendig. ({8}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich folgendes zum Abschluß sagen. In dieser Debatte, Herr Kollege Leicht - ich sage das ohne Vorwurf -, habe ich festgestellt, daß Sie manche alte Vokabel wieder ausgegraben und aufgegriffen haben, alte Platten aufgelegt haben: von der falschen Wirtschaftspolitik, von der falschen Finanzpolitik. Sie wissen, daß das Gegenteil richtig ist. Wenn Sie sich die Haushaltsrechnung 1973 angucken - das ist der nächste Tagesordnungspunkt, 73! -, dann werden Sie feststellen, daß wir in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme von gut einer Milliarde hatten, gleichzeitig aber Steuermittel stillgelegt haben. Sie sehen also, daß dieser letzte Haushalt vor Beginn der Rezession ein typischer Haushalt finanzpolitischer Solidität gewesen ist. Was sollen also diese Sprüche, die Sie immer machen? Was sollen also diese Sprüche? Lassen Sie doch diese Sprüche! ({9}) Tatsache ist, daß wir hier in einer weltweiten tiefen Rezession sind, daß diese Rezession nicht von irgendeiner Regierung verursacht, sondern die Konsequenz Ihnen bekannter Tatbestände ist. Wenn es ein Land gibt - das wissen Sie doch genausogut; deswegen schauen doch die Nachbarn auf uns -, das in einer besonders günstigen Situation ist, das am ehesten die Chance hat, schnell aus der Rezession herauszukommen, dann sind wir das. Was sollen den immer diese pauschalen Vorwürfe, die durch nichts zu belegen sind? ({10}) Ich schließe ab. Wir werden die Haushaltspolitik 1975 wie die Haushaltsaufstellung 1976 unter die Überschrift stellen: Es kommt darauf an, die Rezession zu überwinden und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Die Haushaltspolitik der Defizite wird mit diesem Ziel betrieben. Ein ausgeglichener Haushalt ist kein Ziel an sich, sondern Teil des wirtschaftspolitischen Zieles, und das heißt: Überwindung der Rezession. ({11})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höcherl.

Hermann Höcherl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Heren! Ich kann ja verstehen, Herr von Bülow und Herr Kirst und auch Herr Bundesfinanzminister, daß Ihnen solche Aussprachen peinlich sind. Es geht nämlich um sehr, sehr peinliche wirtschafts- und finanzpolitische Tatbestände. ({0}) Zum erstenmal habe ich aus dem Regierungslager gehört, daß wir in einer Rezession leben. Das mußte Ihnen die Bundesbank vor wenigen Tagen sagen. Bis vor kurzem waren wir noch im Aufschwung mittendrin. „Im Frühsommer", hieß es. Wir stehen unmittelbar davor; wir müssen wahrscheinlich den Frühsommer etwas verlängern, weil wir nicht ganz zurechtkommen mit den beiden Daten. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie sagen: endlich einmal einen kleinen Ansatz zu versuchen! Ja, wir sind leider in einer Rezession. Auch alle Propheten, die Sie aufgeboten haben, sagen es. Selbst die Bundesbank hat sich - das kann man nur mit Bedauern feststellen - an solchen Prognosen beteiligt, die schon innerhalb weniger Monate von Bericht zu Bericht revidiert werden mußten, und gestern oder vorgestern war aus dem jüngsten Bericht zu hören, daß wir nach wie vor nicht nur in einer Rezession sind, sondern daß wir uns nach wie vor in einem fortgesetzten Schrumpfungsvorgang unserer wirtschaftlichen Entwicklung mit all den finanz- und haushaltspolitischen Auswirkungen befinden. Merkwürdig ist für meine Vorstellung der Vorschlag, Binnennachfrage und Exportnachfrage so ohne weiteres auszutauschen. Das scheint mir nicht ganz möglich zu sein. Man kann sie schon wegen der Qualitätsunterschiede nicht wie ein Hemd wechseln.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?

Hermann Höcherl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich.

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege Höcherl, dürfte ich Sie, wenn Sie schon Konjunkturforschungsberichte und Äußerungen der Bundesbank zitieren, bitten, auch auf den Bericht des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, geleitet von dem renommierten Professor Giersch, hinzuweisen, in dem etwas ganz anderes steht. ({0})

Hermann Höcherl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Es ist keine Entschuldigung für die Regierung und ihre Anhänger, wenn sich auch andere irren. Sie haben sich auf jeden Fall geirrt, und es erhebt sich die Frage, ob nicht grobe Fahrlässigkeit oder gar eine gewisse Art von Vorsatz bei Ihren Irrtümern eine Rolle gespielt hat. ({0}) Das scheint mir das Problem zu sein. ({1}) - Ja, nachdem Sie die Stimmen der irregeleiteten Wähler eingesammelt haben, sind Sie jetzt, weil es bis zur nächsten Wahl noch 15 Monate sind, bereit, ganz kleine Zugeständnisse zu machen. Das reicht aber noch nicht aus. Sie, Herr Bundesfinanzminister, hätten einen Rat Ihres Fraktionskollegen, Herrn Möller, befolgen und hier im Büßergewand der Bescheidenheit erscheinen sollen; ({2}) das wäre der angemessene Abschluß für diesen Sitzungsabschnitt gewesen. Alles das, was heute finanz- und haushaltspolitisch vorgetragen wurde, ist ja nichts anderes als ein Spiegelbild der wirtschaftspolitischen Entwicklung. Sie können sich nicht hinstellen und sagen, andere Faktoren seien schuld. Sie haben das ja sehr reichlich gemacht. Einmal war es die Ölkrise, ein anderes Mal die OECD. Dabei muß man wissen, wie OECD-Gutachten zustande kommen: Unter starkem deutschen Druck wurden dort die Zahlen manipuliert. Heute wird die OECD für schuldig erklärt. Und neuerdings ist es der Sparer. Der Sparer war früher eine sehr angesehene Persönlichkeit. Sie haben ihn sehr dringend nötig, weil Sie in diesem Jahr 60 bis 70 Milliarden DM und im nächsten Jahr vielleicht 80 bis 90 Milliarden DM brauchen, die Ihnen nur der Sparer zur Verfügung stellen kann. Den Höhepunkt aber hat sich einmal der Bundeskanzler - das ist dem Hause fast entgangen - hier geleistet, als er sagte, wir seien deshalb schuld an der wirtHöcherl schaftlichen Entwicklung, weil wir den Vertrag von Bretton Woods unterschrieben hätten, der 1973 dann dazu geführt habe, daß 30 Milliarden DM über unsere Grenzen geflossen und in unser Land gekommen seien. ({3}) Ein Sündenbock nach dem anderen wurde vorgeführt und geschlachtet - immer wieder ein neuer! ({4}) Sie haben immer wieder einen neuen gefunden. Aber ich habe noch niemals gehört, daß die Bundesregierung oder die sie tragenden Fraktionen auch nur den geringsten Anteil an dieser verhängnisvollen und peinlichen Entwicklung haben. Das geht Ihnen einfach nicht über die Lippen, weil Sie ja der Öffentlichkeit vorgemacht haben: für Sie gibt es doch keine Probleme, für Sie ist alles machbar. ({5}) Ich bin überzeugt, Sie haben das Wesen dieser Krise, die ja weiter reicht als nur in unsere Binnenverhältnisse hier, bis heute noch nicht erkannt. Sie haben doch schon das dritte Konjunkturprogramm vorgelegt. Mit jedem Programm haben Sie sich den Anschein gegeben: Jetzt haben wir das richtige Mittel, das richtige Instrument, wir werden die Sache in Ordnung bringen. - Es war nichts damit. Dann kam das zweite Programm. Ich weiß noch, wie sich Herr Friderichs hier hingestellt und gesagt hat: Das ist nun die wirkliche Lösung. ({6}) Dann kam im Dezember das dritte. In wenigen Tagen läuft die Frist ab, und schon nach sechs Monaten stellt sich heraus, daß dieses sehr kostspielige hier durchgepeitschte Programm die Erwartungen leider nicht erfüllt hat. Das können Sie doch gar nicht leugnen. Warum haben Sie denn nicht den Mut, einmal zuzugeben, daß Sie Mißgriffe tun und dieses Geschäft nicht verstehen; wir haben es 20 Jahre hindurch verstanden! ({7}) Es ist auch interessant, welche Doppelstrategie Sie führen, eine Doppelstrategie, die wir nicht nur bei jedem Wahlkampf im eigenen Haus erleben, sondern auch draußen, wenn Ihre ersten Vertreter draußen sind. Der Herr Bundeskanzler hat bei der letzten NATO-Tagung die weltwirtschaftliche Situation - wie ich meine: zu Recht - mit zur entscheidenden Frage gemacht. Zu Hause ist alles in Ordnung, aber draußen stellt man sich ganz anders dar. Wir möchten eine einheitliche, wahrheitsgemäße, offene Sprache. Wenn Sie bereit wären, einmal etwas zuzugeben, könnte man, meine ich, da oder dort gemeinsam etwas unternehmen. Aber Sie sind dazu nicht bereit; nein, das verletzt Ihren Stolz. Die meisten haben es jetzt schon gemerkt, und es werden noch mehrere merken: Sie beherrschen die Geschäftsführung einer solchen Volkswirtschaft nicht. ({8}) - Herr Wehner, Sie haben ja einen großen Anteil daran, daß solche Kombinationen und solche Koalitionen zustande gekommen sind, wie wir sie jetzt sechs Jahre lang nicht zu unserem Vorteil erleben müssen. ({9}) Ich weiß nicht, ob Sie mit diesem Ergebnis zufrieden sind. Wenn Sie zufrieden sein sollten, hätte Ihre Bescheidenheit den Nullpunkt erreicht. ({10}) Hier ist schon einige Male ein neuer Begriff benutzt worden. Ich möchte Sie warnen, jetzt schon das große Thema, das Sie für 1976 vorhaben, nämlich das der „sozialen Demontage", als Popanz aufzubauen ({11}) und unter vollständiger Verkehrung aller Zusammenhänge zu sagen: Das soll Ihr nächstes Thema sein. - Sie haben mit dem Thema schon begonnen mit der schlechten Wirtschaftspolitik, mit Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, an der Sie einen erheblichen Anteil von Schuld haben. So stehen die Dinge. Das mit der Liste von 19 Gesetzen, Herr Bundesfinanzminister, war eine Nuance anders. Sie haben die Länder, die auf Grund dieser wirtschaftlichen Entwicklung noch größere Haushaltssorgen haben - die Gemeinden haben wahrscheinlich noch größere -, etwas unter Druck setzen wollen: Hier sind 19 Gesetze, wir müssen eingreifen, wenn das Ergebnis der Auseinandersetzungen nicht so oder so aussieht. Dasselbe haben Sie mit den Gemeinschaftsaufgaben versucht, die ja auch einen sozialen und strukturellen Charakter haben. Das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit; Sie haben hier nur die einfache Wahrheit zitiert. Das ist die reine. ({12}) - Es kommt darauf an, welche man gebraucht. Wir nehmen die lautere und Sie die einfache, schlichte. ({13}) Wenn Sie sich Ihre Zielsetzung, meine Damen und Herren von der Koalition, noch einmal vor Augen führen und in Erinnerung zurückrufen, müssen Sie folgendes feststellen. Sie haben erklärt: 12750 Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode Wiederherstellung der Stabilität; eingetreten ist eine fortgesetzte Inflation. Sie haben des weiteren vom Ausbau des sozialen Sicherheitssystems gesprochen. Sie alle wissen doch genauso wie wir - wir wissen es gemeinsam -, daß unser soziales Sicherungsnetz auf Grund seiner inneren Struktur ein vernünftiges Wachstum und eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung voraussetzt. Ich gebe durchaus zu, daß in die aufgetretenen Schwierigkeiten katalytisch weltwirtschaftliche Umstände mit hineinspielen ({14}) - mit hineinspielen! -, aber Sie sollten einmal Ihren eigenen Schuldanteil zugeben, so meine ich. ({15}) Die Vorhersage eines Aufschwungs - ich habe es schon gesagt - auf Grund des letzten Konjunkturprogramms war eine Fehlleistung. Wir haben Sie gewarnt. Sie haben nicht gesehen und wollen es auch heute noch nicht sehen: Wir brauchen zur Sicherung der Arbeitsplätze und zum Abbau der Kurzarbeit Investitionsbereitschaft innerhalb der Wirtschaft. Diese leitet sich ab aus einer vernünftigen Ertragskraft und aus vernünftigen Aussichten. Sie haben diesen entscheidenden Punkt - andere Länder praktizieren es doch auch - nicht gesehen. Sie sind mit der Gießkanne durch das Land gezogen und haben gedacht: Jetzt auf einmal sprießen die Investitionen. Damit wurden 8 bis 10 Milliarden DM vertan, die Sie 1976 zusätzlich zu Ihren bisher schon bestehenden Verpflichtungen aufbringen müssen. So ist doch die Lage. Der frühere Bundeskanzler sprach von soliden Finanzen. Sie haben aber die größten Haushaltsdefizite. Sie sagen im Schuldenmachen seien Sie ganz bescheiden, man solle doch einmal mit anderen Ländern vergleichen. Darauf muß man erwidern: die haben nicht zweimal eine totale Inflation gehabt. Sie können mit einem Dollar aus dem Jahre 1910 heute noch bezahlen, wenn man von der Kaufkraft jetzt einmal absieht. Nehmen wir einmal die absolute und die relative Schuldenentwicklung. Für Haushaltszwecke wurden in 20 Jahren beim Bund 15 Milliarden DM Schulden aufgenommen. Sie haben allein in einem Jahr 30 Milliarden DM für Haushaltszwecke aufgenommen, ({16}) und beim nächsten Mal sind es vielleicht 40 Milliarden DM und noch mehr. ({17}) Dies sind kurzfristige Schulden mit relativ hohen Zinsen. Ich bestreite nicht, daß sich die Zinspolitik etwas günstiger entwickelt hat. Aber die achtjährige Laufzeit bringt doch Verpflichtungen und Haushaltslasten ({18}) und schafft einen ganz neuen und entscheidenden Tatbestand. Sie sagen immer, dies sei die einzige Möglichkeit, antizyklisch zu handeln. Ja, wenn Sie es nur täten und mit diesem Geld Investitionen finanzierten! Dann wäre es ja in Ordnung. Sie sind nicht freiwillig in diese Lage gekommen, sondern Sie sind hineingeschlittert, hineingeschlittert durch die Unfähigkeit, die uns allen soviel Sorge macht. Herr Bundesfinanzminister, Ihr löblicher Vorsatz, Rezession und Arbeitslosigkeit zu beseitigen, findet unsere Zustimmung. Fangen Sie endlich an! Wir warten seit Jahr und Tag darauf. ({19})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Höcherl, es ist ja nicht das erstemal, daß wir zum Abschluß einer Debatte am mittleren Freitagvormittag das Vergnügen haben, Ihre erheiternden Darlegungen anhören zu können. Ich frage mich nur, ob das, was Sie hier als die einfache Wahrheit oder auch als die schlichte Wahrheit bezeichnet haben, nicht auch an die etwas schlichten Gemüter unter Ihren Zuhörern gerichtet war. Ob es davon so viele gibt, weiß ich nicht. ({0}) Jedenfalls, Herr Höcherl, Sie haben mit Ihrer bildhaften Sprache, die auch außerhalb Ihres Heimatlandes gut verstanden wird, schon immer dafür gesorgt, daß in der Unterhaltung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigblieb. Sie meinen, daß die „Geschäftsführung der Volkswirtschaft" - auch dies ist ein köstlicher Ausdruck - von der Regierung nicht beherrscht werde. Sie haben ein Sammelsurium von alten Vorwürfen und Kritiken zusammengefaßt aufgetischt, über die wir in den vergangenen Jahren so häufig gestritten haben. Ich kann Ihnen allerdings nicht den Vorwurf ersparen, Herr Kollege Höcherl, daß wir noch vor wenigen Tagen in der Aktuellen Stunde genau alles das abgehandelt haben, was Sie heute aufgewärmt haben, und daß Sie offensichtlich nicht dabei waren oder nicht zugehört haben. ({1}) - Natürlich, Herr Kollege Vogel. ({2}) - Man kann fehlerhafte Behauptungen nicht oft genug sagen in der Hoffnung, daß sie dann vielleicht doch einmal geglaubt werden. Das ist eine altbekannte propagandistische Methode. ({3}) - Meinen Sie jetzt Höcherls Wahlkampf in Bayern, oder welchen meinen Sie? ({4}) Meine Damen und Herren, wir haben uns in der Aktuellen Stunde über die konjunkturelle Situation und deren Entstehung unterhalten. Jetzt hören wir von Herrn Höcherl - und insofern schließt sich dies dem an, was Herr Müller-Hermann in der vorigen Woche gesagt hat -, daß weltwirtschaftliche Umstände denn doch hineinspielen. ({5}) Das haben Sie bis vor kurzem mit Nachdruck bestritten und haben es niemals glauben wollen. Inzwischen wird endlich zugegeben, daß wir nicht alleine auf der Insel der Seligen leben, weder in Bayern noch in der Bundesrepublik. Sie fordern uns auf, die eigene Schuld und die eigenen Versäumnisse zuzugeben. Wir haben niemals bestritten, daß ein Anteil hausgemachter Inflation durch viele Jahre in der Bundesrepublik - ({6}) - Da gibt es gar keinen Grund, „aha" zu schreien. Wenn Sie nicht hier gewesen sind, dann sehen Sie sich die alten Protokolle des Bundestages an. Ich wiederhole: Wir haben niemals bestritten, ({7}) daß es einen Anteil hausgemachter Inflation gegeben hat, die teilweise eine Inflation von uns allen mitproduzierter und mitgeweckter Ansprüche war, ({8}) die das Bruttosozialprodukt überforderten. Nur, Herr Kollege Höcherl, da Sie meinen, sich hier hinstellen und uns mitteilen zu sollen, mit gemeinsamer Anstrengung könne man der Probleme Herr werden, wäre ich doch sehr dankbar, wenn Sie das auch draußen verkünden und nicht an anderer Stelle erklären würden, an all dem sei diese Regierung schuld, die solle nun den Laden auch alleine in Ordnung bringen; irgendeine Hilfe dazu werde ihr nicht geleistet. Zusammenarbeitsangebote - gerade auf dem Gebiete der Konjunkturpolitik - haben nur dann Sinn, wenn sie nachhaltig durchgehalten werden. Dies ist aber nicht der Fall: Von Zeit zu Zeit treten sie in dieser Rolle auf, beim nächsten Mal treten Sie wieder in der Rolle des Anklägers auf, der mit dem Finger auf die Regierung zeigt und sagt: Das müßt ihr alles selber und alleine in Ordnung bringen. Das tun Sie dann ja auch - wiederum in Ihrer erheiternden Sprache - in einem Ihrer letzten Interviews, aus dem ich mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren darf. Sie äußern sich da über den Bundeswirtschaftsminister: Aber Friderichs tritt gut auf, kann gut reden und die Leute mit seinen treubraunen Rehaugen überzeugen. Ich habe ihn schon ein paarmal ,abgebürstet', weil er uns gegenüber sehr arrogant ist. Trotzdem, der Friderichs ist nicht ungefährlich. ({9}) Meine Damen und Herren, dieses Interview ist überhaupt lesenswert. Herr Kollege Wehner, Sie kommen darin auch vor. Frage: „Wie ist Ihr Verhältnis zu Herbert Wehner?" Antwort: „Also, Weihnachten schreiben wir uns." - Das Ganze im „Playboy", meine Damen und Herren. In dem Stile hat er es hier auch heute betrieben. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden uns, wie ich meine, in der konjunkturpolitischen Diskussion denn doch etwas ernsthafter miteinander unterhalten müssen, und wir werden das auch versuchen. ({11}) - Verehrter Herr Franke, er hat! ({12}) Er hat sogar ein freundliches Wort gesagt, aber ich zitiere diese freundlichen Worte über mich nicht gerne hier vom Rednerpult; Herr Höcherl weiß, was er gesagt hat. ({13}) Meine Damen und Herren, er hat gesagt: Der Lambsdorff ist mir lieber als der Friderichs. Säße ich da und Herr Friderichs dort, hätte er es selbstverständlich umgekehrt gesagt; daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Höcherl, nun möchte ich noch einmal auf den einen Hinweis eingehen: 8 bis 10 Milliarden DM mit der Gießkanne über das Land verteilt. Darüber haben wir häufig gesprochen. Wir haben auch häufig darüber diskutiert, warum wir im vorigen Jahr zu dieser Form der Investitionszulage gegriffen haben - der Sie letztlich dann ja auch zugestimmt haben - und warum wir uns auf alle die Vorschläge, die Sie dagegensetzen wollten, nicht einlassen konnten. Wir konnten uns nicht auf den Vorschlag einlassen, höhere Abschreibungen zuzulassen. Wir konnten uns nicht auf den Vorschlag einlassen, andere wesentliche Steuererleichterungen vorzuschlagen, weil das ja doch die Haushaltslage, Herr Kollege Leicht, die Sie beklagt haben, noch weiter verschärft hätte. ({14}) - Ja, auf Dauer. ({15}) - Aber selbstverständlich! Allein nach der Rechnung in dem berühmten „Handelsblatt"-Artikel - geschrieben von Herrn Vogel, gezeichnet von Herrn Strauß - wären Sie auf eine Gesamtsumme von 14 Milliarden DM gekommen, noch dazu, wie Herr Ehrenberg mit vollem Recht gesagt hat, auf eine dauerhafte Belastung. Vor allem aber - dies war doch der Ausgangspunkt der Situation; Herr Höcherl, Sie haben ja soeben noch einmal gesagt: „eine verbesserte Ertragslage gibt Anlaß zu Investitionen" - kann man doch Abschreibungen erst dann benutzen, wenn man vor12752 her Gewinne erzielt hat. Gerade diese nicht vorhandene Gewinnsituation haben wir mit der Investitionszulage zu verbessern versucht. Nun, meine Damen und Herren, halte ich es für einen unzulässigen Hinweis, Herr Höcherl, wenn von Ihnen - natürlich auch von anderen Mitgliedern der Opposition - erklärt wird: Das hättet ihr euch alles sparen können; das hat ja nicht den schnellen und wirksamen Erfolg gehabt, den ihr erstrebt hattet. Meine Damen und Herren, bitte stellen Sie sich doch einmal die Frage, was geschehen wäre, wenn wir diese Investitionszulage nicht angeboten hätten, wenn wir diese zusätzliche Hilfe nicht zur Verfügung gestellt hätten, wo wir denn dann mit der Binnennachfrage wären. Denn in der Tat ist es doch so, daß die Konjunkturpolitik in der Binnennachfrage eine durchaus sich langsam zufriedenstellend - ich will nicht sagen: erfreulich-zeigende Entwicklung bewirkt hat. Was uns im Augenblick fehlt, ist die Außennachfrage, und die können Sie mit den konjunkturpolitischen Mitteln, die uns binnenwirtschaftlich zur Verfügung stehen, nicht so ankurbeln, daß der Außennachfrageausfall ersetzt würde. Hier ist die Abhängigkeit, die weltwirtschaftliche Abhängigkeit, die Sie vorhin so global und pauschal zitiert haben, wirklich gegeben. Meine Damen und Herren, wir wollen heute die konjunkturpolitische Debatte nicht uferlos fortsetzen. Aber es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als nach wie vor eine Konjunkturpolitik der ruhigen Hand durchzuführen. Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als mit Geduld eine Entwicklung abzuwarten, die ich hier in der Aktuellen Stunde - ich glaube, mit der weitgehenden Zustimmung der Zuhörer - so formuliert habe: In der zweiten Hälfte dieses Jahres werden wir die ersten für uns alle spürbaren und sichtbaren Erholungszeichen aus der Rezession sehen, die in einen Aufschwung im Jahre 1976 überleiten werden. Dies scheint mir vor dem weltwirtschaftlichen Hintergrund, auch vor dem Hintergrund der sehr interessanten und von Herrn Ehrenberg vorhin in einer Zwischenfrage erwähnten Analyse des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel und neuer amerikanischer Untersuchungen, eine realistische und vernünftige Beurteilung der Lage zu sein. In diesem Zusammenhang ist die Haushaltspolitik, nämlich die Verschuldung im Jahre 1975, nicht nur vertretbar, sondern konjunkturpolitisch zu begrüßen. Das ist auch im Hinblick auf den sich vermutlich langsam entwickelnden Aufschwung im Jahre 1976, von dem wir heute schon sagen müssen, daß er die Kraft vergleichbarer Aufschwünge früherer Jahre - etwa 1968 - nicht erreichen kann, der Fall. Es wird vermutlich auch 1976 konjunkturpolitisch keine ernsthaften Bedenken gegen eine nochmalige hohe Kreditaufnahme der öffentlichen Hand geben, Herr Leicht. Konjunkturpolitisch gesehen, wohlgemerkt! Aber ganz so einfach, Herr Kollege Höcherl, wie Sie sich die konjunkturpolitische Beurteilung gemacht haben, ist es eben nicht. Es geht nicht so, wie es einmal ein italienischer Dichter gesagt hat: Manche Politiker gleichen den Meteorologen, die sagen: Die Wettervorhersage ist richtig, aber das Wetter ist falsch. Wir werden auf die Wettervorhersage bauen können und hoffen, daß sich die Wetterlage zufriedenstellend entwickelt. Ich glaube, daß wir mit dieser Zuversicht, aber auch mit der Kraft, diese Geduld aufzubringen, in die Sommerpause gehen sollten. ({16})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Haushaltsausschusses, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Erste war die Mehrheit. Der Antrag des Haushaltsausschusses ist angenommen. Wir kommen nunmehr zu Punkt 32 der Tagesordnung: Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen betr. Entlastung der Bundesregierung wegen der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1973 ({0}) - Drucksache 7/3585 -Überweisungsvorsdilag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß Wird das Wort dazu gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Haushaltsausschuß. - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr Punkt 33 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes - Drucksache 7/3730 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Verteidigungsausschuß Innenausschuß Haushaltsausschuß Das Wort hat der Abgeordnete Biermann.

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen legen Ihnen heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes vor, mit dem die erheblichen Mängel des derzeitigen Anerkennungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer beseitigt werden sollen. Dieses derzeitige Anerkennungsverfahren hat meines Erachtens deutlich die Schwierigkeiten der praktischen Gewissensprüfung aufgezeigt. Die Gewissensentscheidung ist letztlich ein innerer, ein interner Vorgang. Er entzieht sich meines Erachtens damit naturgemäß der unmittelbaren Kontrolle durch andere. Die Prüfungsgremien waren auf nach außen wirkende Indizien angewiesen. Gute Ausdrucksformen begünstigten einen Antragsteller. Fehlentscheidungen mit uns allen bekannten tragischen Folgen waren bei diesem Verfahren leider unvermeidbar. Diese bisherige Verfahrensregelung, die allein vom Antragsteller den Nachweis für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung forderte, legte die Entscheidung praktisch in das freie Ermessen der Prüfungsgremien. Die Ausübung dieses Ermessens hing dabei weitgehend von der Zusammensetzung des jeweiligen Prüfungsgremiums ab, und das Verfahren war deshalb nach Tag und Ort sehr unterschiedlich im Ausgang. Auch Stimmungen, festgelegte Ausgangspositionen, Vorurteile, unsichere Verfahrensweisen, unklare Fragestellungen ließen zunehmend den Eindruck willkürlicher Entscheidungen entstehen. Es wurde aber auch deutlich, daß alle an solchen Verfahren Beteiligten oftmals überfordert waren. Diese Eindrücke sind meines Erachtens der Gewissensfreiheit und damit Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes abträglich. Hiermit konnte, so meine ich, eine positive Einstellung der jungen Generation zur Landesverteidigung ganz sicher nicht gefördert werden. Der Ihnen heute in erster Lesung vorliegende Koalitionsentwurf geht davon aus, daß es angezeigt ist, die Prüfungsverfahren überall dort nicht mehr durchzuführen, wo es nicht unabdingbar notwendig ist. Im übrigen soll das Verfahren so reformiert werden, daß die Entscheidungen in Zweifelsfällen nicht grundsätzlich zu Lasten des Antragstellers gehen müssen. Unter dem Gesichtspunkt des Verteidigungsauftrages, der Präsenz, der Kampfkraft und der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr erscheint jedoch die grundsätzliche Beibehaltung des Prüfungsverfahrens bei den Soldaten und Reservisten sowie auch dann erforderlich, wenn die Zahl der Wehrpflichtigen auf andere Weise nicht ausreicht, die Erfüllung des Verteidigungsauftrages sicherzustellen. In allen anderen Fällen wird das Prüfungsverfahren nach diesem Entwurf durch die Erklärung des Wehrpflichtigen ersetzt, daß er sich der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen Staaten aus Gewissensgründen widersetzt und deshalb den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert. Er hat dann allerdings den Zivildienst zu leisten. Um die Zahl der verfügbaren Zivildienstplätze zu erhöhen, werden die Zivildienstausnahmen nach diesem Entwurf durch Ableistung anderer Dienste sowie durch freiwillige Arbeitsverhältnisse erweitert. Lassen Sie mich nun auf den wesentlichsten Inhalt des Gesetzentwurfes zu sprechen kommen. Erstens. Für ungediente Wehrpflichtige, die noch nicht zur Bundeswehr einberufen sind und sich auf das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes berufen, wird das Prüfungsverfahren ausgesetzt. Sie werden dann als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, wenn sie a) den Zivildienst leisten oder b) seit ihrer Antragstellung, die frühestens mit Vollendung des 18. Lebensjahres erfolgen kann, zwei Jahre vergangen sind. Zweitens. Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ,das Prüfungsverfahren für ungediente Wehrpflichtige, deren Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch nicht als festgestellt gilt, wieder einzuführen, wenn die Sicherstellung der Verteidigungsbereitschaft das erfordert. Der Bundestag kann die Aufhebung dieser Rechtsverordnung allerdings binnen sechs Wochen nach ihrer Verkündung verlangen. Drittens. Für Wehrpflichtige, die bereits zum Wehrdienst einberufen sind, für Soldaten und für Reservisten wird das Prüfungsverfahren in modifizierter Form grundsätzlich beibehalten. Die Bundesregierung wird jedoch ermächtigt, auch für diesen Personenkreis das Prüfungsverfahren zu suspendieren, wenn dadurch der Verteidigungsauftrag nicht gefährdet ist. Das Wehrdienstverhältnis eines den Kriegsdienst verweigernden Soldaten kann nach diesem Entwurf auch ohne Verfahren in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt werden, wenn der Dienst mit der Waffe für den Soldaten eine unzumutbare oder auf andere Weise nicht behebbare Härte bedeuten würde oder das Verfahren des antragstellenden Soldaten nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten abgeschlossen ist. Die Dienstzeit bei der Bundeswehr wird hier auf die Zivildienstzeit angerechnet. ({0}) Viertens. In den Fällen, in denen ein Verfahren zur Prüfung der Berechtigung, den Kriegsdienst zu verweigern, stattfindet, tritt an die Stelle des bisherigen Anerkennungsverfahrens nach dem Wehrpflichtgesetz ein Feststellungsverfahren nach dem Zivildienstgesetz. Die Entscheidungen treffen Ausschüsse, deren Vorsitzende nicht mehr vom Bundesminister der Verteidigung, sondern vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bestellt werden. Eine Beschleunigung des Verfahrens soll dadurch erreicht werden, daß die bisherige Prüfungskammer als zweite Instanz entfällt; der Antragsteller kann gegen die Entscheidung des Ausschusses unmittelbar das Verwaltungsgericht anrufen. Fünftens. Bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Grundrechts vorliegen, steht die Prüfung der Ernsthaftigkeit und damit der Glaubhaftigkeit der Behauptung des Antragstellers, in einer Kriegshandlung nicht entgegen seiner Gewissenüberzeugung einen anderen töten zu können, im Vordergrund. Der Antragsteller hat das dazu Erforderliche dem Ausschuß darzulegen. Dabei kommt es nicht auf seine Ausdrucksfähigkeit an; etwaige Mängel der Ausdrucksfähigkeit werden durch die besondere Aussprache, die an die Stelle der bisherigen Anhörung tritt, ausgeglichen. Ist die Berufung auf die Gewissensentscheidung nach dem Gesamtverhalten des Antragstellers nicht glaubhaft, kommt eine Feststellung seiner Berechtigung zur Kriegsdienstverweigerung auch nicht in Betracht. Eine ablehnende Entscheidung ist allerdings zu begründen, und die Entscheidungstatsachen müssen gerichtlich nachprüfbar sein. In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren von der Opposition, von einer „Umkehr der Beweislast" zu sprechen, ist meines Erachtens schlichtweg unsinnig und, meine ich, auch juristisch nicht haltbar. Es ist jedoch - das sage ich hier - von uns gewollt, daß Anträge auf Kriegsdienstverweigerung von den Prüfungsausschüssen künftig nicht mehr wie bisher auf Grund von unpräzisen Beurteilungen, die lediglich auf einem negativen Eindruck fußen, zurückgewiesen, d. h. abgelehnt werden können. Sechstens. Die Dauer des Zivildienstes beträgt 18 Monate. Meine Damen und Herren, dieser hier von mir in seinen wesentlichen Inhalten skizzierte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, der sowohl der Gewissensentscheidung junger Staatsbürger als auch dem Sicherheitsinteresse unseres Staates und seiner Bürger Rechnung trägt wie auch die strikte Einhaltung unserer Bündnisverpflichtungen unbeeinträchtigt läßt, wurde, wie es ja seit langem nicht anders zu erwarten ist, bereits einen Tag, nachdem er in meiner Fraktion beschlossen war, von Sprechern der Opposition in einer Weise bewertet, die ich als ebenso leichtfertig wie verantwortungslos bezeichnen möchte. ({1}) Die Pflichten, die dem Bürger unseres Landes obliegen, werden durch Gesetze geregelt. Das Wehrpflichtgesetz steht, und aus ihm folgen die für die Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft der Bundesrepublik notwendigen grundsätzlichen Entscheidungen. Wir Sozialdemokraten brauchen uns von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nicht darüber belehren zu lassen, daß der eigene Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft ein wesentlicher Bestandteil des westlichen Bündnisses ist und wir daran festhalten werden. Daran wird auch durch dieses Gesetz - um es ganz deutlich zu sagen - nichts geändert. Es ist daher, wie ich schon sagte, meines Erachtens leichtfertig und verantwortungslos, wenn der verteidigungspolitische Sprecher der Union u. a. vom „Abschied von der allgemeinen Wehrpflicht" spricht - ich frage mich, wo das in diesem Entwurf steht -, wenn er von „Aufweichung der Verteidigungsbereitschaft" spricht, wenn er davon spricht, daß die Bundesregierung der NATO in den Rücken fällt. Ich habe das Gefühl, hier ging es nicht um die Sache, hier ging es um Schlagzeilen, und das gleiche trifft zu, wenn es heißt, daß die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch zahlenmäßig nicht sichergestellt werden könnte. Ich nehme an, meine Damen und Herren, Sie haben die Zahlen des Verteidigungsministeriums auf Grund einer Anfrage der Opposition zur Verfügung, die hier einiges deutlicher und anders ausdrückt. Ich frage mich auch, womit Sie das, was man in dem deutschen Blätterwald so erfahren konnte, belegen wollen. Darüber hinaus frage ich, wieviel Mißtrauen man gegenüber unserer jungen Generation haben muß, wenn man in dieser Weise in der Öffentlichkeit verfährt. Herr Dr. Wörner, es ist Ihr Irrtum, daß Herr Minister Leber angeblich unter Druck habe nachgeben müssen. Es mag in der Union so sein, daß man sich gegenseitig unter Druck setzt. Ich glaube, auch heute bringen Schlagzeilen dies wieder sehr deutlich zum Ausdruck. Ich kann Ihnen hier nur versichern, daß Minister Leber in seiner Verantwortung als Verteidigungsminister diesen Gesetzentwurf unterstützt. Ein anderes, Herr Dr. Wörner. Sie haben gesagt, daß die Zivildienstplätze bereits heute nicht ausreichen. Sie wissen sehr wohl, daß wir mit Inkrafttreten dieses Gesetzes ganz sicher über 40 000 Plätze verfügen. Aber wenn Sie bereits heute davon sprechen, muß ich Sie fragen, ob Sie das mit den zur Zeit 8 000 unbesetzten Dienstplätzen begründen wollen oder womit sonst. Herr Dr. Wörner, was heißt es eigentlich, wenn in Ihrem Pressedienst vom 5. Juni folgendes zu lesen ist? Ich darf hier zitieren: Die Notwendigkeit, sich einem Examen zu unterziehen, bewog zudem alle, die ihre Anerkennung als Pazifisten begehrten, dieses Examen zunächst vor sich selbst abzulegen. Wollen Sie das derzeitige Lotteriespiel bei den Anerkennungsverfahren tatsächlich als „Examen" bezeichnen? Diejenigen, die es betrifft, können dies - ich sage es hier hart - nur mit Hohn quittieren. Es ist auch kein Wahlgeschenk, was hier gemacht wird, Herr Dr. Wörner. Hier geht es darum, daß ein Parteitagsbeschluß, den meine Partei in Hannover schon vor zwei Jahren gefaßt hat, in die Praxis umgesetzt wird. ({2}) Dies geschieht, ohne die Sicherheit unseres Staates anzutasten. Ich bedauere sehr, Herr Dr. Wörner, daß Sie mit Ihren Auslassungen die politische Diskussion in diesem Bereich erheblich erschwert haben. Noch mehr bedauere ich allerdings, daß Ihnen als dem verteidigungspolitischen Sprecher der Union zu diesen wesentlichen Verbesserungen des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung nicht e i n m a l das Wort von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingefallen ist. Meine Damen und Herren, meine Fraktion stimmt dem Vorschlag des Ältestenrats betreffend Überweisungen zu. ({3})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat Herr Abgeordneter Kraske.

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der Rede des Kollegen Biermann könnte man annehmen - und das ist doch wohl auch seine Überzeugung -, heute gehe es ausschließlich um die Änderung des Verfahrens für die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern. Nach unserer Überzeugung geht es hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen dieses Gesetzes um die einschneidendste Änderung in unserer Wehrstruktur in den letzten 20 Jahren. ({0}) Deswegen, meine Damen und Herren, habe ich trotz der hinter ihm liegenden anstrengenden Reise überhaupt kein Verständnis dafür, daß der Herr Bundesverteidigungsminister an dieser Debatte nicht teilnimmt. ({1}) Wenn ich richtig unterrichtet bin, hat die CDU/ CSU-Fraktion ihre Zustimmung dazu, daß dieses Problem am heutigen Freitag noch behandelt wird, nur gegeben, weil der Verteidigungsminister heute - und nur heute - dabei sein könne. ({2}) Ich erkläre ausdrücklich, daß ich mich in dieser Frage getäuscht fühle. Ich kann nur sagen: Bei der Rolle, die der Herr Bundesverteidigungsminister in diesem Zusammenhang gespielt hat, kann ich ihn trotz seiner Abwesenheit aus den Auseinandersetzungen, die wir hier zu führen haben, nicht ausnehmen. ({3}) Meine Damen und Herren, entgegen den Ausführungen des Kollegen Biermann geht es in dieser Debatte um nichts Geringeres als um die Einschränkung, ja, um die faktische Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. ({4}) Auch wenn der Herr Bundesverteidigungsminister wie eben Herr Biermann dieser Behauptung mit aller Entschiedenheit entgegentritt und auch wenn das seine feste Überzeugung sein mag, so stammt der Gesetzentwurf, den wir heute hier verhandeln, eben nicht von der Bundesregierung und dem Bundesverteidigungsminister, sondern er stammt von den Koalitionsfraktionen, und ihre Beurteilung dieses Entwurfs, wie wir sie seit Monaten hören, ist für die Auslegung seiner Folgen entscheidend. ({5}) Meine Damen und Herren, Minister Leber hat sich mit großer Leidenschaft dagegen verwahrt, mit ,dieser geplanten Neuregelung solle die Wahlfreiheit zwischen Wehrdienst und Zivildienst eingeführt werden. Er hat im Verteidigungsausschuß - die Kollegen werden sich daran erinnern - daraus geradezu einen Point d'honneur für seine Person gemacht. Ich verstehe das, meine Damen und Herren. Denn wenn Worte noch einen Sinn haben sollen, dann verträgt sich doch wohl die allgemeine Wehrpflicht nicht mit der Freiheit, zu wählen zwischen dem einen oder dem anderen Dienst. ({6}) - Herr Kollege Wehner, ich werde darauf schon noch zurückkommen, keine Sorge! Aber, meine Damen und Herren, Minister Leber steht mit dieser Interpretation wie mit manchen anderen ganz allein. Sein eigener Parlamentarischer Staatssekretär hat ausdrücklich von dieser Wahlfreiheit gesprochen und sie begrüßt, und der Zivildienstbeauftragte, Herr Iven, erklärt uns seit Wochen und Monaten, in Zukunft solle der Wehrpflichtige frei optieren können; er müsse sich nicht mehr gegen die Ableistung von Waffendienst aussprechen, er könne sich für die Ableistung von Zivildienst aussprechen. Meine Damen und Herren, wer dabei noch behaupten will, dies sei allgemeine Wehrpflicht, mit dem ist, wie ich meine, über Begriffe nicht mehr zu streiten. ({7}) Die wohlwollendste Auslegung des uns heute vorgelegten Gesetzentwurfs läuft auf die Umwandlung der allgemeinen Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht hinaus. Aber eine solche allgemeine Dienstpflicht - darin stimmen wir sicher überein - steht und fällt damit, daß genügend Dienstposten zur Verfügung stehen. Herr Iven will nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf die Zahl der Zivildienstplätze auf 30 000 erhöhen. Aber, meine Damen und Herren, bei allem Respekt vor der bisherigen Arbeit von Herrn Iven halte ich das für völlig ausgeschlossen; denn es würde die Verdoppelung der Zahl der heute faktisch bestehenden Plätze innerhalb eines einzigen Jahres bedeuten, und dafür fehlen bis heute alle finanziellen, fast alle organisatorischen und wohl auch etliche sachliche Voraussetzungen. ({8})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Herr Kollege!

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kraske, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir zur Zeit über 23 000 Zivildienstplätze verfügen, daß allerdings nur 15 000 besetzt sind - ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege, fragen Sie bitte!

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt keinen Einstellungsstopp in diesem Bereich; das kann ich Ihnen sagen, Herr Dr. Wörner. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Fragen Sie bitte! ({0})

Günter Biermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000180, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- - und daß darüber hinaus wir als Ziel nicht 30 000, sondern 40 000 Zivildienstplätze anstreben?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Biermann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich mich vor wenigen Wochen bei Herrn Iven, der mich sehr freundlich und aufgeschlossen empfangen und informiert hat, darüber unterrichtet habe, daß es netto zur Zeit eben nur 16 000 Plätze gibt und daß Ihre Ankündigung, die auch Herr Iven gemacht hat, diese Zahl nun gar auf 40 000 zu erhöhen, noch unwahrscheinlicher ist als die Erhöhung auf 30 000?

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Dr. Kraske, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wörner?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr!

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kraske, sind Sie bereit, mir zu bestätigen, daß wir bereits bei der Beratung des Haushaltsplanes 1974 auf Ersuchen von Herrn Iven von der CDU/CSU aus die Bitte geäußert und den Antrag gestellt haben, die personellen und die finanziellen Aufwendungen für die Schaffung zusätzlicher Plätze im Zivildienst zu erhöhen, und daß dies von der Koalition abgelehnt wurde?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann das nur bestätigen. Ich füge hinzu, daß jeder, der die vorangegangene Debatte verfolgt hat, die größten Zweifel haben wird, ob es im nächsten Haushalt eher möglich sein wird, solche Plätze auszuweisen. Aber, meine Damen und Herren, unterstellen wir einmal, daß die Zahl tatsächlich erreicht werden könnte. Wer sagt uns eigentlich, daß es nach Einführung der unbeschränkten Wahlfreiheit bei der bisherigen Zahl von 35 000 Antragstellern bleiben würde? Alle vorliegenden Umfrageergebnisse deuten keineswegs darauf hin, und daran wird nicht einmal die von Ihnen geforderte Verlängerung des Zivildienstes auf 18 Monate etwas ändern. Ich bitte Sie, an das dänische Beispiel zu denken, wo sich trotz eines drei Monate längeren Zivildienstes die Zahl der Kriegsdienstverweigerer nach Einführung der Wahlfreiheit vervierfacht hat. ({0}) Was geschieht dann eigentlich? Dann entsteht aus der Wahl zwischen zwei Diensten die Wahl zwischen der relativen Gewißheit, dienen zu müssen, nämlich als Wehrpflichtiger, und der beachtlichen Chance, frei auszugehen, nämlich als Kriegsdienstverweigerer. Sobald sich das aber einmal herumgesprochen hat, wird eine Kettenreaktion eintreten, die das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Bewerber und den Unterbringungsmöglichkeiten immer noch krasser werden läßt. Hier hat es, Herr Kollege Biermann, wenig Sinn, von Vertrauen in die junge Generation zu sprechen. Das haben Sie, und das haben wir auch. Aber Sie überfordern jeden, ob jung oder alt, ob aus unserer' Generation oder aus einer neuen Generation, wenn Sie ihn vor die freie Wahl zwischen einer Pflicht und einem Vorteil stellen. Sie überfordern ihn nicht nur; Sie korrumpieren ihn. ({1}) Meine Damen und Herren, nun sieht Ihr Gesetzentwurf die Möglichkeit einer Wiedereinführung des Prüfungsverfahrens auch für ungediente Wehrpflichtige vor. Ich will nicht verschweigen, daß das für Minister Leber geradezu eine Conditio sine qua non gewesen ist. Aber was hat es eigentlich mit dieser Bestimmung auf sich? Sie greift erst, wenn - ich zitiere - „die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen aus den aufgerufenen Jahrgängen nicht ausreicht, die Erfüllung des Verteidigungsauftrages der Streitkräfte sicherzustellen". Gegen erkennbaren Mißbrauch sind Sie also mindestens so lange wehrlos, wie nicht der Auftrag der Streitkräfte buchstäblich gefährdet ist. Aber selbst dann - und das scheint mir wichtig zu sein - wird ausschließlich von Zahlen gesprochen. Daß es bei der Bundeswehr nicht nur um quantitative, sondern auch um qualitative Probleme geht, daß die Bundeswehr je nach Tauglichkeit, Eignung und Vorbildung auf manche Gruppen mehr, auf andere weniger angewiesen ist, daß also die Erfüllung des Verteidigungsauftrages längst ernsthaft gefährdet sein kann, ehe Zahlenprobleme auftreten, das hat für die Verfasser dieses Entwurfs offenbar überhaupt keine Rolle gespielt. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, lassen wir auch das einmal beiseite. Glauben Sie wirklich, daß in dieser Lage und in der politischen Situation dieser Koaliton das Prüfungsverfahren sich je wieder einführen ließe, wenn es einmal aufgegeben ist? ({3}) Was man in dieser Koalition von der Wiedereinführungsklausel in Wirklichkeit hält, will ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen. Herr Kollege Schinzel, der ja wohl zu den Initiatoren dieses Entwurfs gehört, hat neulich in einer Rundfunkdiskussion die Wiedereinführungsklausel schlichtweg als eine „an sich verfassungsfeindliche und -widrige Forderung, die dort eingebaut worden" sei, bezeichnet. ({4}) Sogar Herr Iven sieht in dieser Klausel offenbar nicht viel mehr als Augenwischerei. In derselben Diskussion hat er nämlich wörtlich gesagt: Der Entwurf ist zustande gekommen vor einem bestimmten Datum, nämlich vor dem 4. Mai. ({5}) Wir mußten ein Konzept entwickeln, welches unterhalb der Bundesratszustimmungsbedürftigkeit blieb. Ob die Landschaft insofern jetzt verändert ist, vermag ich jetzt und hier nicht zu beurteilen. Ob man jetzt etwas anderes hineinschreiben kann, kann man darüber diskutieren, wird man auch sicher darüber diskutieren. Meine Damen und Herren, was soll man nun eigentlich von einer für die politische Gesamtbeurteilung dieses Entwurfs und seiner Intentionen so entscheidenden Bestimmung halten, wenn der eine sie schlankweg für verfassungswidrig hält, der andere sie als einen Trick bezeichnet, zu dem man vor einer wichtigen Landtagswahl Zuflucht genommen habe, und wenn dazu noch eine der beiden Koalitionsfraktionen, die leider nicht mehr vertreten ist, ({6}) hier erklärtermaßen und entschlossen gegen eine solche Wiedereinführungsklausel gewesen ist? ({7})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege Kraske, der Herr Kollege Hölscher möchte Sie darauf aufmerksam machen, so nehme ich an, daß er anwesend ist.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, wären Sie so liebenswürdig, festzustellen, daß ich nicht der CDU/ CSU-Fraktion angehöre. Das wäre mir etwas peinlich. ({0})

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hölscher, es liegt mir nichts ferner, als zu glauben, daß Sie zur CDU/CSU gehören. ({0}) Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf nehmen Sie, auch wenn Sie das noch so nachhaltig bestreiten, in der Sache bewußt und gewollt Abschied von der allgemeinen Wehrpflicht. ({1}) Sie tun das ohne ausreichende Sicherheit für den künftigen Bestand der Bundeswehr, ({2}) allein auf Ihren guten Glauben hin. Sie gefährden damit - so gern ich Ihnen diesen Glauben unterstelle - unsere Sicherheitsinteressen in einer Weise, die ich für unverantwortlich halte. ({3}) Der Bundesverteidigungsminister hat nun voller Entrüstung erklärt - und er wird das immer wieder erklären -, daß er der erste Verteidigungsminister sei, der die Bundeswehr auf ihre volle Friedensstärke gebracht habe, und daß man ihm deshalb doch wohl vertrauen könne. ({4}) Meine Damen und Herren, ich finde, der Herr Bundesverteidigungsminister sollte bei solchen Behauptungen gelegentlich daran denken, daß er seine Politik streckenweise nur hat machen können, weil er sich auf die loyale und geschlossene Unterstützung der Opposition mehr hat verlassen können als auf seine eigene Fraktion. ({5}) Außerdem sollte er bei solchen sehr selbstbewußten Erklärungen daran denken, daß Personen und erst recht Minister wichtig sind, daß es aber in der Politik um Mehrheiten geht. Wie dieses Gesetz ausgelegt werden wird, bestimmt nicht er, sondern die Mehrheit, von der wir dazu ja schon etliches gehört haben. ({6}) Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, mit diesem Gesetzentwurf würde im besten Fall die allgemeine Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht umgewandelt. Lassen Sie mich darauf zurückkommen und unterstellen, nach dem Platzangebot sei eine solche Dienstpflicht möglich. Gewiß würden dann manche unserer Bedenken fortfallen, gewiß spräche manches für eine solche Lösung. Sie ist ja vor Jahren auch in unseren Reihen diskutiert worden. Aber wenn ich an das Klima denke, das heute herrscht, dann frage ich mich: Sind eigentlich überhaupt die Voraussetzungen gegeben, um junge Menschen vor die freie Wahl zwischen dem Dienst in der Bundeswehr und einem Zivildienst zu stellen, ohne dabei eine ganze Generation in eine heillose Polarisierung zu treiben? ({7}) Ist man wirklich überall bereit, den Dienst in der Bundeswehr wie den Zivildienst gleichermaßen zu respektieren? Das Wort „Friedensdienst" als Kontrapunkt zu dem Wehrdienst mit der Waffe sollten wir, soweit das geht, aus unserem Wortschatz zu entfernen versuchen. ({8}) Ich bin Ihnen, Herr Kollege Wehner, für dieses Wort, das Sie auf Ihrem Parteitag in Hannover gesprochen haben, sehr dankbar. Aber es bestand doch wohl Anlaß, dieses Wort dort zu sprechen. Es ging ja nicht nur um die Diskussion auf Ihrem Parteitag.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Kraske, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber natürlich!

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wenn Sie sagen „Es bestand doch wohl Anlaß", so habe ich die Frage an Sie zurück zu stellen: Sie können doch wohl nicht - oder können Sie es? - bestreiten, daß die Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei für Verteidigung und Bündnispolitik ist?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das will ich nach dem Ergebnis dieses Parteitages nicht bestreiten, Herr Kollege. Aber wenn Sie mit warnender Stimme gesagt haben: „Laßt uns hier nicht von Friedensdienst sprechen in dieser falschen Gleichsetzung", dann be12758 stand doch wohl Anlaß dazu, das zu sagen. Nur darauf will ich ja hinaus. ({0}) - Herr Kollege Wehner, man versucht doch überall, den Zivildienst als den eigentlichen Friedensdienst auszugeben. Die Bundeswehr kann doch in vielen Fällen von Glück sagen, wenn sie bei solchen Diskussionen nicht geradezu als die „Killer-Schule der Nation" diffamiert wird. Wie soll es dann erst werden, wenn nicht mehr dem halbwegs Normalen die Ausnahme gegenübersteht, sondern wenn jeder ausdrücklich vor die freie Wahl gestellt wird? Ich zitiere noch einmal Herrn Iven: In Zukunft - sagt er wird der junge Handwerker oder der ungelernte junge Arbeitnehmer auch den Weg - er spricht vorher von den höheren Schülern des Zivildienstes gehen, nicht nur auf Grund seiner Gewissensbedrängnis, sondern auch - und das gehört auch einmal öffentlich gesagt - wegen eines immer stärker werdenden sozialen Engagements, wegen des Antriebs, irgendwo im sozialen Bereich etwas Sinnvolles zu tun. Ich frage mich: haben unsere jungen Soldaten eigentlich kein soziales Engagement, ({1}) ganz abgesehen davon, daß von Gewissensbedrängnis hier plötzlich nur noch ziemlich am Rande die Rede ist? ({2}) Dies ist doch nur ein Beispiel dafür, in welche verheerende Frontstellung wir geraten, wenn wir Ihren Vorstellungen folgen. Bitte, meine Damen und Herren, tun Sie das nicht als Schwarzmalerei ab. Ich weiß, wovon ich rede. Hier geht es nämlich nicht nur um gezielte Aktionen einer ganz bestimmten Seite. Hier geht es um nicht weniger als Einfluß und Verantwortung des Staates selber. Sehen Sie sich doch einmal den Film „Entscheidung mit 18" an, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung in Düsseldorf. Da haben Sie alle diese Klischees, sozusagen staatlich verordnet, auf eine Formel gebracht: Dem sozialen Friedensdienst gehört die Zukunft, der Dienst mit der Waffe hat noch immer in den Krieg geführt. ({3}) So etwas wird unter der Verantwortung einer sozialdemokratisch geführten Landesregierung hergestellt. Es läuft, es wirkt, und es zeigt Methode. Wenn Sie sich gar die traurige Mühe machen, nachzulesen, wie das Thema Landesverteidigung in den unrühmlich bekanntgewordenen „Drucksachen" behandelt wird, dann ist demgegenüber „Entscheidung mit 18" geradezu noch „Staatspolitisch wertvoll". ({4}) Da wollen Sie wirklich die allgemeine Wehrpflicht aufheben und sie durch eine Wahlfreiheit ersetzen? Das kann doch nur zu einer schrecklichen Polarisierung mit lauter schiefen Fronten führen. ({5}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang das „Flensburger Tageblatt" zitieren, aus dem ich diesen Ausschnitt dem Pressedienst des Bundesverteidigungsministeriums verdanke: Der zivile Ersatzdienst in Ehren, aber ein potentieller Angreifer wird sich nicht abschrecken lassen, wenn unser soziales Engagement groß, unsere Verteidigungsbereitschaft aber gleich Null ist. ({6}) Aber ich räume ein, meine Damen und Herren, Sie tun das nicht aus freien Stücken. Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen ist das bisherige Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer, das Sie aussetzen - die meisten von Ihnen sagen allerdings: abschaffen - wollen. Wir streiten nicht darüber, daß dieses Verfahren erhebliche Mängel hat. Das hindert mich allerdings nicht daran, von dieser Stelle aus für meine Fraktion auch einmal denen unseren aufrichtigen Dank auszusprechen, die sich in den vergangenen Jahren in den Prüfungsausschüssen und -kammern unter höchst schwierigen Umständen redlich bemüht haben, ihrem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden. ({7}) Wie gesagt, die bestehenden Mängel lassen sich nicht übersehen. Meine Fraktion hat darauf als erste in diesem Hause in einem förmlichen Antrag hingewiesen. Wir drängen seitdem auf eine Verbesserung und Beschleunigung der Verfahren, und wir haben bei mehreren Gelegenheiten konkrete Vorstellungen dazu entwickelt. So meinen wir etwa, daß die Prüfungsgremien qualifizierter besetzt und die Mitwirkenden gründlicher auf ihre Arbeiten vorbereitet werden sollen. Wir denken, daß man dann eine Instanz, die bisherigen Kammern, einsparen oder die Verfahren auf andere Weise vereinfachen könnte. Wir glauben, Möglichkeiten zu sehen, in etlichen Fällen auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten und nach der Aktenlage entscheiden zu lassen. Wir wollen die Verfahren - um auch nur den mindesten Verdacht einseitiger Beeinflussung auszuräumen - aus der Zuständigkeit des Bundesministers der Verteidigung herausnehmen, sie dann allerdings nicht wie Sie sozusagen der anderen Partei, dem Zivildienstbeauftragten, sondern der Justizverwaltung zuweisen. Wir halten es nach allen Erfahrungen für dringend geboten, dem Verfahren für ungediente Wehrpflichtige aufschiebende Wirkung bis zur endgültigen Entscheidung zu geben. Wir glauben schließlich, daß sich für antragstellende Soldaten Lösungen finden lassen, die ihrer besonderen Situation und den Bedürfnissen der Truppe eher Rechnung tragen als das gegenwärtige Verfahren.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es auf die Zeit angerechnet wird, Herr Präsident.

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kraske, wenn das alles so ist, warum schlug dann dem CDU-Abgeordneten Peter Nellen, als er dieses in einer der größten Reden, die in diesem Hause gehalten worden sind, hier dargelegt hat, eine derart eisige Ablehnung entgegen, und warum erfuhr er daraufhin eine Behandlung in seiner Fraktion, die ihn Monate später aus dieser Fraktion vertrieben hat? ({0})

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Arndt, daß ich diese Debatte sehr sorgfältig nachgelesen habe, werden Sie daran merken, daß ich mir nachher erlauben werde, Ihren von mir immer verehrten Vater in diesem Zusammenhang zu zitieren. Ich kann nur sagen: Als ich diese Debatte jetzt nachlas mit den Äußerungen aus allen Fraktionen, diese Debatte, in der hier tage- und nächtelang um diese Frage gerungen wurde übrigens bei vollbesetztem Hause -, habe ich mir gewünscht, daß dieser Bundestag noch einmal in einer so entscheidenden Frage zu einer solchen Debatte kommen würde und fähig wäre. ({0}) - Das würden wir dann erst recht wünschen. Meine Damen und Herren, wir sind, wie Sie hören, offen für eine kritische Überprüfung aller gemachten Erfahrungen. Und mehr als dies: Wir drängen seit mehr als einem Jahr auf zahlreiche Verbesserungen, die heute schon im Interesse der Antragsteller Wirklichkeit sein könnten, wenn die Beratung unseres Antrages nicht Ihretwegen ein ganzes Jahr hätte zurückgestellt werden müssen. Aber die Modifizierung, die Verbesserung dieses Verfahrens genügt Ihnen nicht, weil Sie letzten Endes jedes Verfahren für unzumutbar halten. - Ich sehe Zustimmung dazu. In Ihrem Gesetzentwurf sprechen Sie nur von den Schwierigkeiten der Überprüfung einer Gewissensentscheidung. Aber in der öffentlichen Diskussion und auch mit Ihrer Zustimmung eben hier stehen Sie doch an der Seite derer, die von der unzumutbaren und unzulässigen „Inquisition der Gewissen" sprechen. Finden Sie es nicht eigentlich selber einen unerträglichen Widerspruch, daß Sie mit dieser Begründung künftig auf Prüfungsverfahren verzichten wollen, um sie ausgerechnet dann wieder einzuführen, wenn Not am Mann ist? Ein Zweites: Wenn Sie ein Prüfungsverfahren eigentlich für unzumutbar halten, wie wollen Sie es dann vor den Soldaten rechtfertigen, für die es ja bestehenbleiben soll? Wo liegt denn der prinzipielle Unterschied zwischen den Gewissensbedenken eines 19jährigen Ungedienten und seines eben einberufenen Altersgenossen, daß Sie eine so krasse Ungleichheit der Behandlung für gerechtfertigt halten? ({1}) Meine Damen und Herren, ich leugne gar nicht, daß Sie hier vor einem echten Konflikt stehen. Aber ich behaupte, daß Sie sich diesen Konflikt selbst geschaffen haben. ({2}) Es gibt eben nur eine Alternative: Entweder Sie erhalten der staatlichen Gemeinschaft das ihr vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zugebilligte Recht, die Inanspruchnahme eines Individualrechts auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen - dann muß es für alle gelten -, oder Sie stellen dieses Recht in Frage; dann müssen Sie es für alle abschaffen. Wenn Sie ein modifiziertes Verfahren für möglich halten, können Sie es auch auf alle anwenden. Wenn Sie es aber selbst problematisieren und nur als äußersten Notbehelf in Kauf nehmen wollen, dann tun Sie ungewollt das, was Sie zuallerletzt beabsichtigen, nämlich Sie gefährden das verfassungsmäßige Recht auf Kriegsdienstverweigerung, indem Sie denen recht geben, die das Prüfungsverfahren seit eh und je als Einschränkung des Grundgesetzes mißdeutet haben, während es doch in Wirklichkeit dazu dienen soll, den Mißbrauch des Grundgesetzes abzuwehren. Denselben Fehler begehen Sie auch, wenn Sie zur Begründung Ihres Entwurfs so oft die zunehmenden Jahrgangsstärken anführen. Ganz abgesehen davon, daß man auf qualitative Fragen keine quantitativen Antworten geben kann, rechtfertigen Sie doch auch hier nur den in der Sache ganz unbegründeten Verdacht, das Prüfungsverfahren sei ein Rekrutierungsinstrument, bei dem der Verteidigungsminister die Quoten vorschreibe. Damit, meine Damen und Herren, kommen wir zu der Grundfrage: Was hat es denn mit diesem Prüfungsverfahren auf sich? Das Grundgesetz fordert die Verteidigungsbereitschaft unseres Staates, es schafft die Grundlage für eine allgemeine Wehrpflicht. Aber es gibt auch im einzelnen das unwiderrufliche Recht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Das ist ein Widerspruch, zumindest ist es keine Rechnung, die glatt aufgeht. Sie versuchen jetzt, das Problem dadurch zu lösen, daß Sie einseitig Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes in den Vordergrund rücken. Ich halte das für eben so unzulässig, wie wenn Sie einseitig hier Art. 12 a und 87 a in den Vordergrund rücken wollten. Wir haben die Spannung, die da besteht, auszuhalten, d. h. wir haben uns mit unvollkommenen Lösungen abzufinden, wenn sie nur rechtmäßig und in sich schlüssig sind. ({3}) Meine Damen und Herren, Kriegsdienstverweigerung steht nach dem Grundgesetz unter drei einschränkenden Bedingungen: Kriegsdienst, mit der Waffe und gegen das Gewissen. Wir haben diese liberalste Bestimmung, die es - darüber gibt es keinen Streit - in einer modernen Staatsverfassung gibt, in zwei von drei Punkten längst ihrer Einschränkung entkleidet: Wir machen keinerlei Unterschied zwischen Kriegsdienst und dem Dienst im Frieden und zur Erhaltung des Friedens, und wir haben nie zwischen einem Dienst mit und ohne Waffe unterschieden. Wollen Sie nun wirklich auch noch die letzte Einschränkung fallenlassen, mit der das Grundgesetz die Kriegsdienstverweigerung auf Gewissensgründe beschränkt? Mit Ihrer Wahlfreiheit tun Sie es ausdrücklich; denn die vorgedruckte Erklärung, die der junge Mann künftig unterschreiben soll, ist mit ihrer Berufung auf Art. 4 des Grundgesetzes doch nichts als ein bloßes Dekorum. ({4}) So, wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die Verfassung künftig handhaben wollen, müßte Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes heißen: „Niemand braucht Wehrdienst zu leisten, der dazu keine Lust hat." ({5}) Herr Kollege Arndt, wir stehen hier ganz gewiß in einer Front, wenn es darum geht, die echte, im Gewissen begründete Kriegsdienstverweigerung gegen Mißdeutung oder gar gegen Diffamierung zu verteidigen. Echte- Kriegsdienstverweigerer sind keine Drückeberger. Es ist schon heute bei nur 16 Monaten Zivildienst eine offene Frage, wo dem jungen Mann in Friedenszeiten - und darauf beschränkt sich ja wohl ohnehin unsere ganze Diskussion - mehr abverlangt wird, bei der Bundeswehr oder in manchen Einsatzstellen des Zivildienstes. Meine Damen und Herren, so entschieden ich mich gegen die Diffamierung der Kriegsdienstverweigerung wende, so entschieden wende ich mich allerdings gegen ihre Idealisierung. Wer im Ernst leugnen wollte, daß sich hinter den Anträgen der letzten Jahre auch Willkür, auch Drückebergerei, auch politischer Mißbrauch verborgen hat, der lebt auf einem anderen Stern. Der Rückgang der Anerkennungsquoten von ursprünglich über 80 % auf 66 % hat seine Ursache doch nicht in einer Verschärfung der Verfahren, sondern in der Zunahme des Mißbrauchs. ({6}) Darum meinen wir: Wer das Grundgesetz ernst nimmt, wer es sichern und erhalten will, muß es auch künftig vor dem Mißbrauch bewahren. Natürlich ist das nicht leicht. Aber Schlagworte wie das von der Inquisition der Gewissen führen da keinen Schritt weiter. Es geht ja überhaupt nicht darum, andere zum Richter über ein Gewissen zu machen, sondern es geht allein darum, die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit eines Vorbringens zu beurteilen. ({7}) Meine Damen und Herren, ich halte es da als Glied der evangelischen Kirche immer noch mit dem Ratschlag, den uns die Evangelische Kirche in Deutschland 1955 gegeben hat, an dessen Gewicht sich, wie ich meine, nichts geändert hat, und zu dessen Änderung ich keinerlei Gründe sehe. Es hieß darin: Das Gewissen ist nicht justitiabel, wohl aber kann dem Verweigerer wegen der Verwechselbarkeit seines Tuns mit Verweigerung aus anderen Motiven zugemutet werden, die Gewissensmäßigkeit seines Handelns glaubhaft zu machen. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn wir schon an die Debatten von vor fast 20 Jahren zurückdenken, dann lassen Sie mich aber auch ein Wort unseres verstorbenen Kollegen Adolf Arndt zitieren, der damals sagte: Niemand hier im Hause wird beabsichtigen, etwas zu schützen, was als Gewissen nur ausgegeben wird; denn etwas, was als Gewissen nur ausgegeben wird, ist eben kein Gewissen und erfüllt sicher nicht die Voraussetzungen des Grundgesetzes. Ich wüßte nicht, was auch diesen Satz nach fast zwei Jahrzehnten weniger wahr gemacht haben sollte. Meine Damen und Herren, ich komme zu einem letzten Problem, das dem Vernehmen nach in Ihren Reihen eine entscheidende Rolle gespielt hat, nämlich zu der Frage der Beweislast. Wenn ich es richtig sehe, dann ging es den eigentlichen Initiatoren in Ihren Reihen darum, daß bei einem modifizierten Verfahren die Beweislast nicht mehr beim Antragsteller, sondern bei den Prüfungsgremien liegen sollte, ({9}) während Minister Leber unter allen Umständen an der bisherigen Beweislastverteilung festhalten wollte. Ich bin kein Jurist, Herr Kollege Arndt, und deswegen bescheiden. ({10}) Deswegen versage ich mir ein Urteil darüber, wie der zwischen Ihnen ausgehandelte Kompromiß, wenn es überhaupt ein Kompromiß ist, rechtlich zu beurteilen ist. Nur, Herr Kollege Arndt, tatsächlich sind die von Ihnen vorgesehenen Bestimmungen so, daß jedes künftige Verfahren in Gefahr gerät, zu einer Farce zu werden. „Bleiben im Verfahren irgendwelche Zweifel", so sagen Sie z. B., „ist der Antragsteller anzuerkennen." Da kann ich nur mit Herrn Leber fragen - und er hat doch wohl so gefragt -: Wann bleiben keine Zweifel? Sie sagen zwar weiter, diese Zweifel sollten nicht zum Tragen kommen, wenn die Berufung auf die Gewissensentscheidung nach dem Gesamtverhalten des Antragstellers nicht glaubhaft sei. Aber auch das schränken Sie sofort wieder ein, denn die Ablehnung darf nur auf gerichtlich nachprüfbare Tatsachen gestützt werden. Wem können Sie da künftig überhaupt noch die Anerkennung versagen, außer überführten Gewalttätern, für die die Bundeswehr wahrhaftig keinen Bedarf hat? ({11}) Meine Damen und Herren, wenn das so ist, was hat dann dieses modifizierte Verfahren überhaupt noch für einen Sinn? Ich fasse zusammen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie versucht, in einer Sache einen Kompromiß zu finden, die nicht kompromißfähig ist. ({12}) Kriegsdienstverweigerung auf Zuruf ist unserer Sicherheitslage so wenig angemessen, wie die von Ihnen vorgesehene Gewissensbefreiung auf Widerruf mit unserer Rechtsauffassung vereinbar ist. ({13}) Mit Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, schwächen Sie unsere Verteidigungsbereitschaft, die in der öffentlichen Meinung unseres Landes und gerade in der jungen Generation ohnedies weniger fest verankert ist, als es die tatsächliche Lage in der Welt erfordern würde. Sie gefährden die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, Sie setzen wieder einmal - nach innen wie nach außen - zur falschen Zeit das falsche Signal. ({14}) Meine Damen und Herren, Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir der Überweisung an den Arbeits- und Sozialausschuß - federführend - unter diesen Umständen nicht zustimmen können. Diese Vorlage gehört federführend in den Verteidigungsausschuß, ({15}) zumal, meine Damen und Herren, in dem Rubrum Ihres eigenen Antrags an erster Stelle auf die Änderung des Wehrpflichtgesetzes abgehoben wird. Meine Damen und Herren, in diesen Ausschußberatungen werden Sie dort, wo es um eine Verbesserung des bestehenden Prüfungsverfahrens geht, unsere bereitwillige Mitwirkung finden - das ist ja unser Thema! -, ({16}) wo es aber um die Abschaffung, um die Einschränkung, ja nur um die Gefährdung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht geht, werden Sie auf unseren entschiedenen und kompromißlosen Widerstand stoßen. ({17}) Theodor Heuss hat im Parlamentarischen Rat im Zusammenhang mit dem damals von ihm abgelehnten Art. 4 Abs. 3 vor einem „Massenverschleiß der Gewissen" gewarnt. Der Weg, den Sie demgegenüber heute beschreiten, läuft auf eine Inflation des privaten Ermessens hinaus. ({18}) Damit, meine Damen und Herren, rückt die Auseinandersetzung, die wir heute mit Ihnen beginnen, in jenen Bereich prinzipieller Kontroversen, der von der Strafrechtsreform über die Reform des Ehescheidungsrechts bis hin zu Grundlagen unseres Staats-, Gesellschafts- und Menschenverständnisses reicht. ({19}) Sie gehen davon aus, daß die Selbstverwirklichung des Menschen in der Wahrnehmung und Ausübung seiner Rechte liegt. Wir sind davon überzeugt, daß sie nicht zu denken ist ohne die Erfüllung seiner Pflichten. ({20}) Das Leitbild auch dieses Gesetzentwurfs, den Sie uns heute vorlegen, liegt ganz dicht bei dem, was die Angelsachsen „permissive society" nennen, das Idealbild einer Gesellschaft, in der alles oder doch fast alles erlaubt ist: der Triumph des totalen Individualismus. Wir erinnern uns alle an die brutale Unterjochung der Freiheit des einzelnen zugunsten eines pervertierten Gemeinschaftsbegriffs; ({21}) aber hüten wir uns vor dem entgegengesetzten Extrem! ({22}) Wenn wir nicht mehr den Mut haben, meine Damen und Herren, Pflichten - auch unpopuläre Pflichten - anzuerkennen, einzufordern und im Notfall auch durchzusetzen, ({23}) dann werden wir auch unsere Rechte nicht mehr lange bewahren können. ({24}) Meine verehrten Damen und Herren, wo könnte sich das deutlicher zeigen als gerade bei diesem Thema? Nur die Tatsache, daß eine große Mehrheit seit Jahren ihre Pflicht in der Bundeswehr klaglos erfüllt hat, hat es einer kleinen Minderheit ermöglicht, von ihrem Grundrecht nach Art. 4 des Grundgesetzes freien Gebrauch zu machen. ({25}) Das wird auch für die Zukunft so gelten. Darum schwächt, wer die allgemeine Wehrpflicht aushöhlen will, letztlich auch Recht, Möglichkeit und Freiheit der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. ({26})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Dr. Jenninger.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001025, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie schon der Kollege Kraske vorhin angedeutet hat, hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Beratung dieses Tagesordnungspunktes im Ältestenrat des Bundestages nur unter der Bedingung zugestimmt, daß der Bundesminister der Verteidigung heute persönlich anwesend ist. ({0}) Um auf die Reisetermine des Herrn Ministers Rücksicht zu nehmen, haben wir uns darüber hinaus be12762 reit erklärt, dies am heutigen Tag als letzten Tagesordnungspunkt zu beraten. ({1}) Sowohl der Vertreter der Bundesregierung als auch die Kollegen der SPD-Fraktion im Ältestenrat haben uns ausdrücklich zugesagt, daß der Bundesminister Leber heute anwesend sein wird. ({2}) Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU bedauert zutiefst, daß man sich auf derartige interfraktionelle Vereinbarungen nicht mehr verlassen kann. ({3}) Wir beklagen nicht nur diese Unzuverlässigkeit, sondern fühlen uns auch bewußt getäuscht. ({4}) Nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch, weil wir den Gegenstand, der zur Beratung ansteht, für wichtig genug ansehen, beantrage ich namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gemäß § 46 der Geschäftsordnung die Herbeirufung des Bundesministers der Verteidigung. ({5})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Porzner.

Konrad Porzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, daß wir im Ältestenrat vereinbart hatten, diesen Tagesordnungspunkt aufzusetzen und daß wir davon ausgegangen waren, daß der Bundesminister der Verteidigung anwesend sein würde. Das hatte auch der Vertreter der Bundesregierung, Frau Staatssekretär Schlei, dort erklärt. Auch ich bin davon ausgegangen. Ich weiß aber - und das habe ich heute erfahren -, daß der Bundesminister der Verteidigung auf ausdrücklichen Wunsch des Bundespräsidenten heute den Bundespräsidenten bei seiner Amerikareise noch begleitet. Das ist seit der Ältestenratssitzung dazwischengekommen. ({0}) Ich weise deswegen den Vorwurf, wir hätten Sie getäuscht, ({1}) ja, bewußt getäuscht, zurück. ({2}) Ich bitte, den Antrag abzulehnen.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren! Es ist für und gegen den Antrag gesprochen worden. Ich gehe davon aus, daß der Antrag gemäß § 6 der Geschäftsordnung entsprechend unterstützt wird. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Meine Damen und Herren, der Antrag ist abgelehnt. Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Hölscher.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Kraske, Sie haben sehr viel über Verteidigung geredet, Sie haben sehr viel über Details, über Zahlen gesprochen. Sie haben überhaupt kein Wort über die Not und die Bedrängnis gesagt, in die Menschen hineingeraten müssen, wenn sie einem Verfahren unterworfen werden, das unserer Meinung nach weder rechtsstaatlichen Prinzipien entspricht noch den Kriterien der Menschenwürde gerecht wird. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß Herr Kollege Dr. Kraske, wie er glaubt, für die CDU/CSU gesprochen hat; denn es gibt - das darf ich zur Ehrenrettung der CDU/CSU sagen - innerhalb der CDU/ CSU auch andere Stimmen. Die Junge Union - es mag sein, daß Sie das nicht gerne zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Dr. Kraske - fordert z. B. in einem Flugblatt vom Juni 1973 - ich überreiche Ihnen das gerne; ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren - „die Abschaffung des Anerkennungsverfahrens für Wehrdienstverweigerer". Und der Kollege Rommerskirchen, Mitglied des Verteidigungsausschusses, hat nach einer Mitteilung der Zentralstelle der katholischen Seelsorge für Zivildienstleistende auf dem Katholikentag in Mönchengladbach erklärt - ich zitiere aus dieser Mitteilung -, „er setze sich für eine Änderung des Verfahrens ein, das nur noch eine eidesstattliche Erklärung des Wehrpflichtigen zum Inhalt habe". Ich muß also feststellen - zur Ehrenrettung der CDU/CSU, wie ich hoffe -: Zu einer, wie ich glaube, ganz besonders wichtigen Frage unserer Verfassung nimmt diese Partei, diese Fraktion keine geschlossene Haltung ein. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Einen Augenblick, Herr Abgeordneter. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich verstehe natürlich, daß nach dieser Abstimmung ein gewisses Gesprächsbedürfnis besteht. Ich bitte aber doch, dem Redner die Möglichkeit zu geben, seine Ausführungen ungestört zu machen.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich stelle also fest, daß die Geschlossenheit der CDU/CSU, wie sie von Herrn Kraske dargestellt wurde, nicht der Wirklichkeit entspricht. Ich muß sagen: Gott sei Dank entspricht sie nicht der Wirklichkeit; denn wir müßten sonst - ich glaube, mit großem Bedauern - zur Kenntnis nehmen, daß eine große Partei in dieser Gesellschaft es nicht so ganz ernst nimmt, wenn es darum geht, daß Staatsbürger ein ihnen im Grundgesetz zugestandenes und verankertes Recht wahrnehmen und durchsetzen wollen. Zu den Ausführungen des Kollegen Kraske ist vieles zu sagen. Ich werde in meinen weiteren Ausführungen darauf zurückkommen und nicht jetzt darauf eingehen. Kein anderer Staat der Welt hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seiner Verfassung verankert, aber auch kein anderer Staat der Welt macht die Wahrnehmung dieses Grundrechts vom erfolgreichen Bestehen eines Prüfungsverfahrens abhängig. Bei allen im Bundestag vertretenen Parteien sind die Mängel dieses Prüfungsverfahrens unbestritten. Nach einer Anfang dieses Jahres durchgeführten Infas-Umfrage fordern ja auch - und das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition -57 % der erwachsenen Bevölkerung die Abschaffung der Gewissensprüfung. In der betroffenen Altersgruppe, bei den 18- bis 24jährigen Männern, sind es sogar 87 %. Ja, nach einer anderen Umfrage steht sogar die Abschaffung und Neuregelung des Prüfungsverfahrens an der Spitze der Reformvorhaben, die noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden sollten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kraske.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Dr. Konrad Kraske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wären Sie auch bereit, für die Einführung der Todesstrafe zu votieren, wenn Meinungsumfragen jeweils ergeben, daß eine Mehrheit dafür ist?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, selbstverständlich nicht, Herr Kollege Kraske: ({0}) Nur, während es sich bei der Einführung der Todesstrafe wohl weniger um eine rationale Argumentation handelt, ({1}) die bei Befürwortern einer solchen Regelung ausschlaggebend ist, sind es hier rationale Gründe, warum weite Bevölkerungskreise die Abschaffung des Prüfungsverfahrens verlangen: weil nicht nur die Kriegsdienstverweigerer selbst schlimme Erfahrungen gemacht haben, sondern auch deren Eltern. Es sind ja auch kirchliche Kreise, die Sie sonst so gern zitieren, und zwar beider Konfessionen; dabei insbesondere die zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer Beauftragten, Pastoren in der Regel. Auch sie fordern seit langem die Beseitigung dieser peinlichen Befragungen. Parteien, Verbände - ich darf es wiederholen -, auch die Junge Union verlangen von uns, mit einem Zustand Schluß zu machen, der, so meinen wir, rechtsstaatlich wirklich nicht länger vertretbar ist. Meine Damen und Herren, Gewissensentscheidungen sind ein in ihrem Wesensgehalt sehr persönlicher, interner Vorgang, der von außen kaum zugänglich ist und sich daher im allgemeinen einer objektiven Nachprüfung entzieht. Gewissen ist nicht justiziabel, und die jetzigen Verfahren überfordern daher nicht nur die Kriegsdienstverweigerer, sondern selbstverständlich auch die Beisitzer in den Ausschüssen. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat es nicht vermocht, eine praktikable Lösung für die Überprüfungen zu finden. Es sind ja Versuche unternommen worden, „Gewissen" zu definieren, aber diese Versuche waren in ihrem Ergebnis dann eben widersprüchlich; diese Urteile haben eher zur Verwirrung als zur Klärung beigetragen. Die Entscheidungen liegen nach wie vor im freien Ermessen der Prüfungsgremien. Der Antragsteller hat hierbei die volle Last der Beweisführung zu tragen. Wehe, wenn er sich da nicht so recht auszudrücken vermag, und wehe, wenn er in eine der oft genug aufgestellten Fallen der bei der Befragung konstruierten Modellsituationen von Notwehr, Nothilfe und Kriegsfall tappt! Ich weiß, weil ich jahrelang Beisitzer in einer Prüfungskammer war, aus eigener Erfahrung, daß diese Befragungen sehr oft inquisitorischen, peinlichen, ja, ich möchte sagen, menschenunwürdigen Charakter haben. Ich mache das nicht den Beisitzern allein zum Vorwurf; das liegt vielmehr in der Anlage dieser Verfahren selbst. Sie haben insbesondere dann immer diesen menschenunwürdigen Charakter, wenn sich der Ausschuß nicht mit der Darlegung der Motive begnügt, die beim Antragsteller zu einem Gewissenskonflikt führen, sondern ihn, ich möchte sagen, in Form eines seelischen Striptease zwingt, Auskunft über sehr persönliche, nicht nur ihn, sondern auch seine Bekannten oder seine Familie - seine Brüder, seine Eltern - betreffende Dinge zu geben. Und linkisches Auftreten - manchmal kehrt das in den Begründungen der Ablehnungen wieder -, ein allgemein negativer Eindruck, etwas in der Formulierung Unfaßbares führen dann zur Ablehnung. Dann ist nicht von den die Ablehnung begründenden Tatsachen die Rede, wie es ja wohl sonst in allen Rechtsbereichen selbstverständlich ist, sondern der Eindruck der Nichternsthaftigkeit - was immer darunter zu verstehen ist - wird eben ausschlaggebend; derartig Unfaßbares zieht sich wie ein roter Faden durch die Ablehnungsbegründungen. Kein Wunder, meine Damen und Herren, daß es zu Fehlentscheidungen kam, kein Wunder auch, daß nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch - ich darf es wiederholen, und das zeigt die Post, die wir bekommen und die Sie wahrscheinlich auch bekommen - bei den Eltern, ja, in weiten Kreisen der Bevölkerung eben der Eindruck entstanden ist, es gebe diese Prüfungsverfahren nur, um Kriegsdienstverweigerer abzuschrecken, um sie bei der Wahrnehmung eines Grundrechts zu behindern. Besonders erschreckend sind aber die Folgen solcher Fehlentscheidungen. Die Presse hat in den letzten zwei Jahren immer wieder darüber berichtet. Da wurde z. B. ein Kriegsdienstverweigerer vom Prüfungsausschuß nicht anerkannt, wurde zur Bundeswehr einberufen und verweigerte dort den Dienst, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, sich für eine Auseinandersetzung mit Waffen ausbilden zu lassen. Diese Befehlsverweigerung mußte zwangsläufig zu Disziplinarmaßnahmen führen, zu Arrest, im Wiederholungsfalle sogar zu Gefängnis, alles natürlich korrekt im Rahmen der geltenden Gesetze. Aber, meine Damen und Herren, was muß in einem jungen Menschen vorgehen, der konsequent seinem Gewissen folgt, hierfür eingesperrt wird und dann in einer weiteren Instanz bescheinigt bekommt - nämlich durch die Anerkennung, die ja später in vielen Fällen erfolgte -, daß er nach seinem Gewissen gar nicht anders handeln durfte, als er eben gehandelt hat? Hierbei handelt es sich leider nicht um Einzelfälle. Noch heute sind über tausend Soldaten bei der Bundeswehr, gegen die Strafverfahren laufen, die in den Arrestzellen sitzen, weil sie es als konsequente Kriegsdienstverweigerer eben nicht mit ihrem Gewissen verantworten können, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Diese Menschen - das müssen wir leider zur Kenntnis nehmen - werden nicht viel von unserem Rechtsstaat halten, der ihnen einerseits ein Grundrecht gibt und sie auf der anderen Seite für die konsequente Wahrnehmung dieses Grundrechts ins Gefängnis schickt. All dies, meine Damen und Herren, dient auch nicht dem Ansehen der Truppe, sondern stellt eine Belastung für die Truppenführung dar. Wir wissen das von vielen Kommandeuren. Die Truppe muß Befehlsverweigerungen selbstverständlich ahnden. Daß sich so etwas in der Truppe abspielt, schadet nicht nur dem Ansehen der Truppe, sondern schwächt letzten Endes auch die Kampfkraft der Bundeswehr. Damit wollen wir im Interesse des Schutzes der Gewissensentscheidung des einzelnen einerseits und der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr andererseits Schluß machen. Wir werden also die alten Prüfungsverfahren abschaffen und für ungediente Wehrpflichtige auf Prüfungen verzichten. Neue Prüfungsverfahren werden mit den alten nicht mehr vergleichbar sein, weil sie die Rechtsstellung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen wesentlich verbessern und sicherstellen, daß das zweifellos vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Auftrag der Bundeswehr und Kriegsdienstverweigerung nicht mehr in der Truppe selbst ausgetragen wird. Dabei möchte ich nicht verschweigen, daß uns Freien Demokraten die generelle Abschaffung der Prüfungsverfahren am liebsten gewesen wäre. Bekanntlich hat die FDP-Fraktion im Herbst vorigen Jahres einen entsprechenden Grundsatzbeschluß gefaßt. Der uns jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist ein Kompromiß, der sowohl den Schutz der Gewissensentscheidung des einzelnen wie auch die Funktionsfähigkeit der Verteidigung im Rahmen der Bündnisverpflichtungen sicherstellt. Das bedeutet allerdings nicht, daß wir das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung durch den Bedarf der Streitkräfte in Frage stellen. Denn hierbei handelt es sich - das müssen wir zur Kenntnis nehmen, Herr Dr. Kraske, auch wenn das dem einen oder anderen bei Ihnen nicht passen mag - um ein unabdingbares Grundrecht, welches in seiner Substanz nicht eingeschränkt werden darf. Die Überprüfungen von Gewissensentscheidungen durften in der Vergangenheit und dürfen wohl auch in der Zukunft nicht etwa den Zweck haben, die (4 Zahl der Kriegsdienstverweigerer einzuschränken - aber solches habe ich Ihren Ausführungen zum Teil entnehmen müssen -, um den Bedarf der Streitkräfte sicherzustellen. ({2}) - Ich werde das Protokoll daraufhin nachlesen. - Nur die Verhinderung der mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung darf Aufgabe der Prüfungsinstanzen sein. Nichts anderes läßt unsere Verfassung zu. ({3}) Ich möchte kurz auf die Kernpunkte des Gesetzentwurfs zurückkommen. Über den Inhalt des Gesetzentwurfs hat ja schon Herr Kollege Biermann sehr ausführlich berichtet. Erstens. Die Prüfungsverfahren für ungediente Wehrpflichtige werden ausgesetzt. In Zukunft kann also ein noch nicht zur Bundeswehr einberufener Wehrpflichtiger ohne Prüfung zum Zivildienst kommen, wenn er erklärt, daß er Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ist. Diese Regelung entspricht dem Vorschlag des Verteidigungsministers vom Herbst vorigen Jahres. Wir legten allerdings Wert darauf, daß auch die Frage der formellen Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angemessen geregelt wird. Denn durch die Abgabe der Erklärung ist die Anerkennung selbst noch nicht vollzogen. Es stimmt einfach nicht, daß es, wie hier immer wieder behauptet wird, genüge, eine Postkarte zu schreiben, um Kriegsdienstverweigerer zu sein. Das sollte hier noch einmal klar gesagt werden. Solange jemand keinen Zivildienstplatz hat und noch nicht eine Zeit von zwei Jahren verstrichen ist, besteht für ihn die Gefahr, daß er bei der Wiedereinführung eines Verfahrens, wenn er es nicht erfolgreich besteht, selbstverständlich zur Bundeswehr eingezogen wird. ({4}) Zweitens. Für ungediente Wehrpflichtige können modifizierte Prüfungsverfahren durch Rechtsverordnung unter Mitwirkung des Bundestages wieder eingeführt werden, wenn und solange die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen nicht ausreicht, den Verteidigungsauftrag sicherzustellen .Durch diese neuen Prüfungsverfahren soll verhindert werden, daß Wehrpflichtige den Kriegsdienst verweigern, die hierzu nicht berechtigt sind, und dadurch die Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Meine Damen und Herren, im übrigen sollten wir vielleicht während der Beratungen noch einmal prüfen, ob die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundestages bei der Neueinführung von Prüfungsverfahren nicht verbessert werden kann. Drittens. Die noch fürSoldaten und Reservisten beibehaltenen Prüfungsverfahren werden neu geregelt. Das gleiche gilt für die möglicherweise wieder einzuführenden Prüfungsverfahren für UngeHölscher diente. Hier liegt zweifellos eine ganz entscheidende Verbesserung gegenüber der alten Handhabung vor. Diese neuen Verfahren weisen eben nicht mehr die groben Mängel der alten auf. Mit Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es höchst bedenklich ist, einem Antragsteller die volle Beweislast für sein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufzubürden; ich habe auf die Folgen eingangs bereits hingewiesen. In Zukunft kann eine Ablehnung z. B. nicht mehr lapidar damit begründet werden, daß der Antragsteller nicht den Eindruck machte, daß ihm die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ernst ist. Die Ausschüsse prüfen zwar nach wie vor die Ernsthaftigkeit der Berufung auf das Grundrecht und stellen fest, ob die Voraussetzungen der Inanspruchnahme vorliegen; darüber hinaus wurde jedoch die Rechtsstellung des Kriegsdienstverweigerers erheblich verbessert, indem eine Anerkennung erfolgen kann, wenn er seine Gewissensentscheidung nach seinem persönlichen Ausdrucksvermögen einleuchtend begründet. Diese Regelung allerdings - das muß auch die Opposition einmal zur Kenntnis nehmen - hebt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht auf, auch nicht in Zweifelsfällen. Wenn aber Zweifel bleiben, muß der Ausschuß an Hand von Tatsachen prüfen, ob der Kriegsdienstverweigerer nach seinem Gesamtverhalten glaubhaft ist, und eine Ablehnung darf dann konsequenterweise nur auf gerichtlich nachprüfbare Tatsachen gestützt werden. Meine Damen und Herren, hiermit haben wir doch ein eigentlich selbstverständliches rechtsstaatliches Prinzip konkretisiert, das auf allen Seiten dieses Hauses unbestritten sein sollte. Wir können doch nun wirklich nicht einem Bürger bei der Durchsetzung eines Grundrechts - ausgerechnet bei der Wahrnehmung eines Grundrechts! - die rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze verweigern, die in anderen Rechtsbereichen selbstverständlich sind. Wir würden, wenn wir das täten, nicht nur Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen diskriminieren, wir würden auch einen wichtigen Artikel unserer Verfassung nicht ernst nehmen. Kein ungedienter Wehrpflichtiger wird in Zukunft mehr dadurch in einen Gewissenskonflikt kommen, daß man von ihm während eines laufenden Anerkennungsverfahrens den Dienst mit der Waffe verlangt. Wehrpflichtige werden bis zur unanfechtbaren Entscheidung über ihren Antrag nicht zum Wehrdienst herangezogen. Diese Regelung verhindert in Zukunft nicht nur, daß Kriegsdienstverweigerer durch Befehlsverweigerung straffällig werden, sondern auch die Truppe wird von Aufgaben entlastet, die weder ihrer Kampfkraft noch ihrem Ansehen dienen. In diesem Zusammenhang hoffen wir auch, daß der Verteidigungsminister von seinem Recht Gebrauch macht, in Einzelfällen kriegsdienstverweigernde Soldaten ohne Prüfungsverfahren in das Zivildienstverhältnis zu überführen bzw. bis zur Klärung des Falles die Überstellung in den waffenlosen Dienst zu veranlassen. Viertens. Die Dauer des Zivildienstes wird von 16 auf 18 Monate verlängert. Das stößt, wie wir alle wissen, über den Kreis der Kriegsdienstverweigerer hinaus auf erhebliche Kritik, denn es ist vielleicht verständlich, wenn hierin die Absicht gesehen wird, durch die gegenüber dem Wehrdienst drei Monate längere Dienstzeit wieder einmal von der Kriegsdienstverweigerung abzuschrecken. Meine Damen und Herren, eine solche Absicht allerdings würde dem Art. 12 a der Verfassung nicht standhalten, der vorschreibt, daß die Dauer des Zivildienstes die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen darf. 18 Monate Zivildienst gegenüber 15 Monaten Grundwehrdienst sind nur zu begründen mit den höheren Belastungen der Wehrpflichtigen bei der Bundeswehr, die der zwölfmonatigen Verfügungsbereitschaft und der Pflicht, Wehrübungen zu leisten, unterliegen. Würden diese Mehrbelastungen der wehrpflichtigen Soldaten praktisch nicht bestehen, wäre eine längere Dauer des Zivildienstes gegenüber dem Grundwehrdienst verfassungsrechtlich wohl nicht haltbar. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht auf weitere Einzelheiten eingehen. Wir sind in der ersten Lesung; wir werden in den Ausschußberatungen noch genügend Gelegenheit haben, hierüber zu sprechen. Ich denke aber, wir haben mit dieser Arbeit bewiesen, daß wir nicht wie die Opposition nur über die Verfassung reden, sondern sie ernst nehmen, indem wir überall dort, wo sie mit der Wirklichkeit nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist, für Abhilfe sorgen. Dabei war es für uns von vornherein klar, daß der Schutz der Gewissensentscheidung des einzelnen und die Verteidigungsbereitschaft keine Widersprüche sind. ({5}) Wer wie die CDU/CSU behauptet, durch die Aussetzung und Neuregelung der Prüfungsverfahren sei die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft, und damit habe sich die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik grundlegend geändert, arbeitet nicht nur mit blinder Polemik, sondern scheint auch eine etwas eigenartige Meinung über unsere junge Generation zu haben. Einmal ganz abgesehen davon, daß nach dem Wehrpflichtgesetz - § 3 - auch durch den Zivildienst die Wehrpflicht erfüllt wird, also von einer Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht auch formal nicht die Rede sein kann, geht diese überzogene Polemik auch an den Realitäten vorbei. Suchen Sie eigentlich noch die sachliche Auseinandersetzung mit uns, ({6}) wenn der verteidigungspolitische Sprecher Dr. Wörner behauptet - Herr Dr. Wörner, das haben Sie in einer Presseerklärung gesagt -, daß in Zukunft praktisch eine Ablehnung als Kriegsdienstverweigerer nur noch für die Baader-Meinhof-Terroristen in Frage komme? Was sollen eigentlich unsere Achtzehnjährigen von der CDU halten, die sie mehr oder weniger im Gesamtzusammenhang als Drückeberger abstempelt, denen man nur durch die administrative Einschränkung ihrer Rechte begegnen kann? ({7}) Meine Damen und Herren, wo bleibt im übrigen eigentlich noch Raum für Drückeberger, wo bleiben die Anreize, sich zu drücken, wenn nicht nur nach dem vorliegenden Entwurf, sondern auch nach der voraussehbaren Entwicklung der nächsten Jahre an Hand der Zahl der Wehrpflichtigen feststeht, daß für einen Wehrwilligen die Chance, überhaupt keinen Dienst leisten zu müssen, erheblich größer ist als für einen Kriegsdienstverweigerer, abgesehen einmal von den Belastungen, die im Zivildienst selbst liegen?

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wörner?

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön!

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie mich schon zitieren, darf ich Sie angesichts der von Ihnen gefeierten Bestimmung, wonach die Ablehnung zukünftig nur auf dem Gericht bekannte Tatsachen gestützt werden kann, fragen, was Sie außer der vollzogenen oder mit Worten angepriesenen Gewaltanwendung sonst noch als solche Tatsachen ansehen.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wörner, ich werde nicht, was Sie sich vielleicht wünschen, jetzt hier wieder in einer Art Modellversuch eine Gerichtsverhandlung mit Ihnen durchexerzieren. Ich bin nur sehr überrascht, daß Sie offensichtlich ein fundamentales Kriterium unseres Rechtsstaates in Zweifel ziehen, nämlich daß Entscheidungen auf der Grundlage von Tatsachen getroffen werden müssen. ({0}) Auf welcher Grundlage eigentlich sonst? Auf der Grundlage von Verdächtigungen, Vermutungen oder Spekulationen? ({1})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Manfred Wörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, einmal § 261 der Strafprozeßordnung nachzulesen, wonach der Richter in der Beweiswürdigung frei ist? Das gilt sogar für das Strafverfahren, also ein Verfahren, das erheblich mehr rechtsstaatliche Einschränkungen voraussetzt.

Friedrich Hölscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da Sie soeben in ein Gespräch vertieft waren, Herr Kollege Wörner, haben Sie nicht zugehört und insofern selbstverständlich auch nicht zur Kenntnis nehmen können, daß ich genau das gesagt habe, nämlich daß auch bei dem neuen Verfahren die freie Beweiswürdigung gegeben ist. Nur, die Begründung einer Ablehnung muß sich letzten Endes an Tatsachen halten, nicht an Vermutungen. ({0}) - Herr Kollege Wörner, ich möchte in meinen Ausführungen fortfahren. Ich darf Ihnen die Frage stellen: Warum verschweigen Sie eigentlich immer wieder, daß von Jahr zu Jahr mit steigenden Zahlen, in den 80er Jahren mit etwa 400 000 Wehrpflichtigen, zu rechnen ist und die Hälfte davon von der Bundeswehr nicht benötigt wird? Der Bedarf an Zivildienstleistenden steigt allerdings von Jahr zu Jahr. Schon heute - das kann der Zivildienstbeauftragte bestätigen - können 8 000 Plätze nicht besetzt werden. Bis Ende dieses Jahres werden wir insgesamt 40 000 Plätze zur Verfügung haben, einschließlich der Plätze, die - indirekt gesehen - nicht zur Verfügung gestellt werden müssen, weil Befreiungsmöglichkeiten durch die Verpflichtung zu Arbeitsverhältnissen im sozialen Bereich und durch den Dienst im Ausland vorgesehen sind. Weitere Tätigkeitsfelder im sozialen Bereich, z. B. in der offenen Alten- und Behindertenhilfe, aber auch in der Jugendpflege, müssen erschlossen werden. Jedenfalls muß jeder anerkannte Kriegsdienstverweigerer schon heute damit rechnen, zum Zivildienst einberufen zu werden. Das gleiche gilt aber nicht für jeden tauglich gemusterten Wehrpflichtigen. Es wird so viel von Wehrgerechtigkeit gesprochen. Wir haben heute bereits eine Dienstungerechtigkeit zu Lasten der Kriegsdienstverweigerer. Ich glaube kaum, daß sich diese Tendenz in absehbarer Zeit ändern wird. Meine Damen und Herren, wo sind eigentlich die Drückeberger-Anreize - ich muß es noch einmal fragen -, wenn ein Zivildienstleistender drei Monate länger als ein Soldat dienen muß? Wo sind denn eigentlich die Anreize, wo doch inzwischen bekannt ist, welch harte psychische und auch physische Anforderungen der Zivildienst an einen jungen Menschen stellt? Arbeiten Sie doch einmal acht bis zehn Stunden z. B. in einer Behinderteneinrichtung! Ich halte auch - das muß ich hier in aller Deutlichkeit sagen - die Optik für schief, wenn immer wieder als selbstverständlich angesehen wird, daß jeder Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst kommen muß. Die gleiche Quote, nämlich 100 °/o verlangt man aber nicht für alle wehrwilligen Soldaten. Es wird so sein, daß auch in Zukunft kein Kriegsdienstverweigerer um den Zivildienst herumkommt, aber manch anderer Wehrpflichtige um den Wehrdienst Ich bin nicht der Meinung, daß es nun ein Naturgesetz sein muß, daß man hier immer wieder mit zweierlei Maß mißt und dabei ganz vergißt, daß seit Bestehen der Bundeswehr viele taugliche Wehrpflichtige nicht zur Bundeswehr einberufen wurden. Die Zahl der Nichteinberufenen wird in den nächHölscher sten Jahren mit Sicherheit - das haben Sie selbst in der Antwort auf Ihre Anfrage Anfang dieses Jahres zur Kenntnis nehmen müssen - größer werden. In einer Beilage der Zeitschrift „Das Parlament" hat Dieter Hartwig auf die paradoxe Konsequenz hingewiesen, daß es für Dienstwillige notwendig werden kann, sich gegen den Wehrdienst zu entscheiden, um über den Zivildienst der Dienstpflicht nachkommen zu können. Ich halte diese These nicht für so abwegig. Meine Damen und Herren, es mag sein, daß das politisch Machbare des Gesetzentwurfs wesentlich durch die kommenden starken Jahrgänge der Wehrpflichtigen mitbestimmt wurde. Ein entscheidender Beitrag zur Lösung der Wehrgerechtigkeit kann diese Initiative aber nicht sein. Sie war von uns her jedenfalls mehr von der ernst genommenen Aufgabe bestimmt, Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit in Einklang zu bringen. Das Problem der Wehrgerechtigkeit muß, wenn es der Gesetzgeber will, auf andere Weise gelöst werden, zumal von einer freien Wahl zwischen Wehr- und Zivildienst nach wie vor nicht die Rede sein kann, weil zum Zivildienst nur Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen berechtigt sind. Meine Damen und Herren, wenn trotz der unbestreitbaren Tatsache, daß der Bedarf an Zivildienstleistenden steigt, der Bedarf der Bundeswehr aber abnimmt, also die Chance, zum Zivildienst zu kommen, größer ist als die Chance, zur Bundeswehr einberufen zu werden, wenn trotz der längeren Dauer des Zivildienstes, wenn trotz der starken Belastung, die im Zivildienst selbst liegt - ich wäre Ihnen dankbar, Herr Dr. Wörner, wenn Sie einmal zuhören könnten -, wenn trotz all dieser Belastungen Hunderttausende junger Menschen all diese Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, nur um nicht zur Bundeswehr zu müssen, dann muß es allerdings um die Verteidigungsbereitschaft unseres Volkes katastrophal bestellt sein. Da diese Vorstellung, daß sich etwa 200 000 trotz all der Belastungen, die dort auf sie zukommen, zum Zivildienst melden, absurd ist und wohl von niemandem ernst vertreten werden kann, ({1}) muß eben ein großer Teil ihrer Einwendungen - es tut mir leid; das muß ich sagen - in die Sonthofener Gespensterkiste gepackt werden. Durch diese Haltung machen Sie meines Erachtens aber auch deutlich, daß Sie, wenigstens was den Art. 4 Abs. 3 GG angeht, ein gespanntes Verhältnis zu unserer Verfassung haben, ausgerechnet Sie, die Sie uns sonst immer vorwerfen, wir würden unsere Verfassung nicht ernst genug verteidigen. Meine Damen und Herren, andererseits glaube ich nicht - ich habe ja mit einigen Zitaten schon darauf hingewiesen -, daß diese rigorose ablehnende Haltung von der gesamten Opposition gebilligt wird; denn ich weiß aus vielen Gesprächen mit Ihren Wählern draußen, daß man unsere Ansicht teilt, endlich mit diesen inquisitorischen Prüfungsverfahren Schluß zu machen, die auch für die Truppe in ihren Folgen alles andere als positiv zu werten sind. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch auf ein recht aktuelles Problem hinweisen, das gerade in diesen Tagen draußen heftig diskutiert wird. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzentwurfs gelten die alten Regelungen, d. h. im Augenblick laufen die unzulänglichen Prüfungsverfahren weiter. Nichtanerkannte Kriegsdienstverweigerer werden zur Bundeswehr einberufen, auch wenn noch keine unanfechtbare Entscheidung getroffen wurde. Es gibt deshalb auch nach wie vor Arreststrafen bei Befehlsverweigerungen und vieles andere mehr. Dies geschieht im Rahmen der geltenden Gesetze; daran zweifelt niemand. Aber manch einer draußen will nur sehr schwer verstehen, warum er noch unter einer Maßnahme leiden muß, die bei ihm nicht durchgeführt werden müßte, wenn er nur ein Jahr später geboren wäre. Ich wäre den verantwortlichen Stellen in den Ministerien, bei den Kreiswehrersatzämtern, auch bei der Bundeswehr sehr dankbar, wenn sie in der Übergangszeit bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes im Rahmen der gegebenen Ermessensspielräume alles täten, um unnötige Härten zu vermeiden, die in Anbetracht der zu erwartenden Neuregelung bei den Betroffenen und auch in der Öffentlichkeit nur schwer verständlich sind. An unseren Gesetzentwurf wurden hohe Anforderungen gestellt. Sicher haben wir alle diejenigen enttäuscht, die eine umfassende Reform des Zivildienstes selbst mit diesem Gesetz erwartet haben. Hier ist zweifellos noch manches zu tun, um dem Zivildienst die eigenständige Position in unserer Gesellschaft zu verschaffen, die ihm zukommt: nicht nur als Dienst, der die Lücken füllt, die gerade im sozialen Bereich durch den Arbeitsmarkt nicht mehr geschlossen werden können, sondern auch in wohlverstandener Weise als ein Friedensdienst, ,der einen sehr wichtigen Beitrag zur inneren Verteidigung und zum Ausbau einer freiheitlichen Grundordnung zu leisten vermag. Wir werden dies nicht aus den Augen verlieren. Vorrangig war für uns hier und heute die Beseitigung der Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung, auch wenn wir bereits in diesem Gesetzentwurf in einigen wichtigen Punkten strukturelle Verbesserungen eingebaut haben. Ich möchte mich zum Schluß bei allen Bürgern und Institutionen herzlich bedanken, die uns immer wieder zur Abschaffung der Prüfungsverfahren aufgefordert haben. Ich meine die Kriegsdienstverweigerer, ich meine beide Kirchen, hierbei die vielen, vielen kirchlichen Beistände, die uns immer wieder auf die Not und auf die Bedrängnis hingewiesen haben. Ich meine die Jugendverbände politischer Art und nicht politischer Art, die Gewerkschaften und viele andere mehr. Ich denke aber auch besonders an die Eltern von Kriegsdienstverweigerern, die auf die Konflikte und die Bedrängnis hingewiesen haben, hierbei eine Menge CDU-Wähler, wie aus den Briefen hervorgeht, weil man aus dem Verhalten der CDU bei den nächsten Wahlen dann eine Konsequenz ziehen will und uns das mitteilt, an die vielen - -({2}) - Ich gebe Ihnen gern einige Kopien davon. - Ich meine gerade die Eltern, die uns in vielen Zuschriften die Konflikte und die Bedrängnisse deutlich gemacht haben, in die ihre Söhne, ja die ganze Familie allzuoft hineingerieten. Alle diese, die uns geschrieben haben, die Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben, sie haben alle mit dazu beigetragen, daß wir ein Stück Rechtssicherheit mehr in diesem Staat erhalten, daß die Menschenwürde in Zukunft etwas weniger mit Füßen getreten wird. Ich darf zum guten Schluß sagen: wir Liberalen sind etwas stolz darauf, daß wir ganz entscheidend an dieser Initiative mitgewirkt haben. ({3})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Herr Abgeordnete Kraske hat beantragt, entgegen dem Vorschlag des Ältestenrates die Vorlage an den Verteidigungsausschuß als federführenden Ausschuß zu überweisen und die anderen Ausschüsse mitberatend zu beteiligen. Wird dazu das Wort gewünscht? - Das Wort wird nicht gewünscht. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der CDU/ CSU abgelehnt. Ich gehe - nach Ablehnung des Antrags - davon aus, daß das Haus mit den vom Ältestenrat vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden ist. Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Der Herr Abgeordnete Schinzel hat gebeten, eine Erklärung zu der Abstimmung über die Überweisungsanträge zu Protokoll geben zu dürfen. Ich habe dies im Hinblick auf seine persönliche Situation genehmigt*). Meine Damen und Herren, damit stehen wir am Ende der letzten Woche vor der parlamentarischen Sommerpause. Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein paar erholsame Wochen in dieser Zeit. Wir alle werden die Erholung brauchen, um dann im Herbst mit möglichst frischer Kraft in das letzte Arbeitsjahr vor Beginn des Wahlkampfes für die Bundestagswahl 1976 hineinzugehen. Die Probleme und Arbeitsvorhaben des letzten Jahres werden uns - dessen bin ich sicher - auch in den Parlamentsferien stets gegenwärtig bleiben. Ich danke Ihnen. ({0}) Die Sitzung ist geschlossen.