Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/17/1975

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: Erklärungen der Präsidentin und der Fraktionen zum i 7. Juni Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heutige Tag gilt dem Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. 22 Jahre liegt dieses Ereignis zurück. Es ist in diesen Jahren oft die Frage aufgeworfen worden, welches die angemessene Art und Weise ist, den Anspruch auf ein Gedenken und auf eine Würdigung dieses Ereignisses zu erfüllen. Dies mag gelegentlich zu Fehldeutungen hinsichtlich unserer Einstellung gegenüber jenem Aufstand und seiner Bedeutung für unser Volk und für unsere Geschichte geführt haben, um so mehr, als inzwischen eine Generation von Mitbürgern herangewachsen ist, die das Geschehen jener Tage nicht mehr aus eigenem Erleben kennt. Für sie ist es ganz und gar Geschichte. Bei vielen anderen, die noch Augen- und Ohrenzeugen waren, verblassen mit dem wachsenden Zeitabstand die Erinnerungen. Wer erinnert sich noch, wie schon am 16. Juni auf dem Alexanderplatz, vor der Staatsoper und schließlich vor dem Haus der Ministerien an der Ecke Wilhelm- und Leipziger Straße die Bevölkerung, geführt von den Bauarbeitern aus der Stalinallee, zu Tausenden zusammenströmte; wie ein Arbeiter dort einen Tisch bestieg und sich mit der Forderung nach freien Wahlen zum Sprecher aller machte: „Hier steht Berlin und die ganze Zone", sagte er; wie sich dieser Ruf in Windeseile durch das ganze Land verbreitete und wie dann von den Demonstranten am Morgen des 17. Juni die Sektorengrenzschilder am Potsdamer Platz, an der Zimmer- und Friedrichstraße abgerissen wurden. In diesen Stunden und Tagen erschien tatsächlich die Trennung des deutschen Volkes wie aufgehoben, die dann später mit dem Bau der Berliner Mauer, mit der wir uns nicht abfinden können, so unerträglich vertieft wurde. Wenn heute Vertreter aller drei Fraktionen aus Anlaß dieses Gedenktages das Wort ergreifen, se geschieht dies in der Absicht, auf die Fragen, die aus dieser geschilderten Situation an uns alle gerichtet sind, eine Antwort zu suchen. Trotz aller Diskussionen, die wir gehabt haben, trotz vielleicht unterschiedlicher Standpunkte in der Frage der Gestaltung des Gedenkens, der Beibehaltung oder Änderung des Feiertagscharakters, ist zwischen unseren demokratischen Parteien die Bedeutung des Ereignisses selbst, der Volkserhebung vom 17. Juni 1953, niemals eine Streitfrage gewesen, und es sollte auch keine werden. Nie ist von den drei Parteien die Bedeutung dieses einmaligen Geschichtsereignisses für unser Volk, für unser nationales Zusammengehörigkeitsgefühl und für unsere Demokratie bestritten, bezweifelt oder in Frage gestellt worden. Anders hat sich natürlich die kommunistische Seite verhalten. Sie hat wiederholt versucht, die damaligen spontanen Freiheitsbekundungen und Erhebungen in Berlin und vielen anderen Industrieorten Mitteldeutschlands dem Wirken geheimer Kräfte, Agenten oder Provokateuren anzulasten und als ein von außen arrangiertes Werk darzustellen. Für die damals in dem so in Frage gestellten System Verantwortlichen mochte dieses die letzte sich ihnen anbietende Ausflucht in eine Schutzbehauptung sein, um dem Zwang zu einem Eingeständnis entgehen zu können, wie abgrundtief der Graben zwischen den Regierenden und den Regierten war. Der Deutsche Bundestag hat bereits am 1. Juli 1953, also knapp 14 Tage nach der gewaltsamen Unterdrückung des Aufstandes, unter Einsatz der damaligen Besatzungsmacht Rechenschaft darüber abgelegt, wie er das gerade erlebte Geschehen beurteilt und welche Bedeutung er ihm über den Tag und die unmittelbare politische Auswirkung hinaus beimißt. Die damaligen Regierungsparteien und die damalige Opposition haben in dieser Sitzung auch beantragt, den 17. Juni zum Feiertag zu erheben. Schon nach dem 17. Juni 1953 wurde die Bedeutung dieses Ereignisses nicht in erster Linie in den inmittelbaren politischen Auswirkungen gesehen oder in den daran anknüpfbaren Hoffnungen und Erwartungen, sondern in seiner moralisch-politischen Beispielhaftigkeit und Aussagekraft. Große Teile inseres Volkes - so sah es der Bundestag damals, und so sehen wir es auch heute - hatten sich unter aktiver Führung und Beteiligung der Arbeiterschaft gegen ein hartes, totalitäres Zwangssystem erhoben. Präsident Frau Renger Sie sind dabei nicht bei der Forderung nach einer Milderung der Diktatur und einer Verbesserung der harten Lebens- und Arbeitsbedingungen stehengeblieben, sondern haben - spontan, weitgehend unorganisiert, ohne ein vorentworfenes und detailliertes Programm - die grundlegenden Freiheitsrechte gefordert. Sie haben sich für eine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie eingesetzt. Denn das, meine Damen und Herren, sollten wir wissen: Arbeiter gehen nicht allein wegen ein paar Pfennigen Lohnerhöhung auf die Barrikaden, sondern weil ihre Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Wir sind vor kurzem - vor allem durch die Feiern in der DDR - an den nunmehr 30 Jahre zurückliegenden Tag der bedingungslosen deutschen Kapitulation erinnert worden. Es war der Tag, an dem der nationalsozialistischen Verbrechensherrschaft durch einen vollständigen militärischen Sieg der alliierten Streitmacht ein vollständiges Ende bereitet worden ist. Acht Jahre danach war eine neue Diktatur unerträglich geworden. Aber diesmal war das Volk nicht bereit, sie schweigend hinzunehmen. Sein Freiheitsbedürfnis hatte sich gerade auch in der noch nachträglichen, bewußten Auseinandersetzung mit der totalitären Diktatur der vergangenen nationalsozialistischen Herrschaft stark entwickelt. „Wir sind Arbeiter und keine Sklaven!" lautete eine Parole. Sie fand in allen Schichten unseres Volkes ein vielfaches Echo. Nur war es diesmal, im Gegensatz zu 1945, gerade umgekehrt der Eingriff von außen, der das Regime trotz eines massiven Widerstandes des Volkes am Leben hielt und einen Erfolg des Aufstandes verhinderte. Diesen Freiheitswillen hat das deutsche Volk unter schweren Opfern bekundet. Viele mußten damals ihr Freiheitsbegehren mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder mit ihrem Zukunftsglück bezahlen. Ich habe aus dem gleichen Anlaß wie heute in diesem Zusammenhang schon einmal gesagt, daß wir das Opfer dieser Menschen und ihre inneren Beweggründe, die damals die Menschen zu offener Empörung trieben, ehren, indem wir uns zu ihnen bekennen. Freiheitsliebe, Selbstbestimmung, die Einheit unseres Volkes, die Zusammengehörigkeit unserer Nation und schließlich das Bemühen um ein menschenwürdiges Leben sind Motive, die auch unser Handeln bestimmen müssen und die durch keinen Zeitablauf ihre Gültigkeit und Verpflichtungskraft verlieren. In erster Linie waren und sind es die Menschenrechte, für deren Anerkennung und Durchsetzung damals die Opfer gebracht wurden und für die wir einzustehen haben, wenn wir aus diesen Opfern für uns eine Verpflichtung ableiten wollen. Diese Menschenrechte sind der zeitlos gültige Maßstab für die Beurteilung der Verhältnisse bei uns und in der Welt, den wir nie aufgeben dürfen. Es gibt vielleicht heute kein anderes Volk, das aus den Erfahrungen seiner Geschichte - aus dem Selbsterlittenen, aber auch aus dem anderen Zugefügten - unerbittlicher aufgefordert ist, sich für die Menschenrechte einzusetzen, als gerade unser Volk. Die Erfahrungen im geteilten Deutschland geben uns eine zusätzliche Lehre, wohin es führt, wenn eine Politik ideologische Ziele für wichtiger erachtet als die Menschenrechte und folglich das System über den Menschen, sein Recht und seine Würde stellt. Eine Politik der Mißachtung dieser Rechte führt geradezu zwangsläufig zu einem Anwachsen von Spannungen im Innern wie nach außen. Sie führt schließlich dazu, daß der fortgesetzte Bruch der Menschenrechte systemnotwendig wird und auch von den einzelnen gar nicht anders mehr gesehen und empfunden wird. Denn wie läßt es sich sonst erklären, daß in einem solchen System selbst die naturhaft-instinktiven menschlichen Regungen des Mitleids und der Hilfsbereitschaft gegenüber einem in Not und Lebensgefahr befindlichen Kind offenbar absterben oder ersticken? Auch ein Mauerbau und alle die in der ganzen Welt einmaligen Vorkehrungen zur Einsperrung einer ganzen Bevölkerung sind Folgen einer Politik, die sich im Dienste eines höchst fragwürdigen, umstrittenen und in seinen Erfolgen wenig überzeugenden Systems von der Bindung an die Idee geheiligter Menschenrechte gelöst hat. Wir stehen heute in Europa vor der Aufgabe, Spannungen abzubauen. Die bestehenden Spannungen sollen nicht nur vorübergehend gemindert, sondern überwunden werden durch Wege zu einer allgemeinen Sicherheit und Zusammenarbeit. In unserer Welt mit so ungeheueren Machtkonzentrationen auf Grund der wissenschaftlichen, organisatorischen und technischen Möglichkeiten ist die Sicherheit, ein gesicherter Friede, ein von uns allen geteiltes Bedürfnis, das wohl von keinem anderen überboten werden kann. Diese Sicherheit kann es nur geben, wenn wir eine Vertrauensgrundlage geschaffen haben, die die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit beinhaltet, ihre Lebens- und Freiheitsrechte anerkennt. Wo einem System und seiner ideologischen Begründung Vorrang vor diesen absoluten Werten gegeben wird, fehlt die entscheidende Voraussetzung zum dauerhaften Frieden. Diese Überlegung zeigt uns, welche großen Aufgaben noch auf dem Weg zur Sicherheit und Zusammenarbeit zu lösen sind, ehe man sagen kann, daß wir uns wirklich auf das Ziel zubewegen. Eine Politik, die dieses Ziel verfolgt, muß auf Zusammenarbeit, auf eine offene und enge Zusammenarbeit besonderes Gewicht legen. In dieser Beziehung aber kann man gerade auf unserer innerdeutschen Ebene noch viel Widersprüchliches feststellen. Zusammenarbeit bedeutet ja wesentlich mehr als das bloße Miteinander-Sprechen und -Verhandeln. Es erfordert, daß man Gemeinsamkeiten sucht und entwickelt. Dafür kennen wir alle konkrete und bewährte Beispiele. Wir haben in Westeuropa seit 25 Jahren, seit Robert Schuman den Anstoß zur Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft auf einem bestimmten begrenzten Gebiet gab, eine immer enger werdende und immer weitere Bereiche einschließende Zusammenarbeit entwickelt. Voraussetzung dafür aber war neben dem festen Willen auch die Besinnung Präsident Frau Renger auf die tatsächlich bestehende, geschichtlich tief begründete Gemeinschaft und Gemeinsamkeit dieser Nationen, trotz der feindseligen Auseinandersetzungen und verlustreichen Kriege. In der Präambel zur Satzung des Europarates wird diese Gemeinsamkeit sehr treffend, wie mir scheint, angesprochen, wenn es dort heißt, daß diese Nationen diesen Rat gegründet haben „in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und die der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht". Vergegenwärtigt man sich dieses Beispiel, wird es um so unverständlicher, daß heute noch in der DDR in einem Atemzuge mit der lautstarken Unterstützung des Wunsches nach Sicherheit und Zusammenarbeit von dem gemeinsamen Begriff der Nation Abstand genommen wird und dieser Begriff aus den Dokumenten - vielleicht auch aus dem Parteiprogramm - herausgenommen werden soll. Natürlich wissen wir, daß sich die Einheit und Zusammengehörigkeit unserer Nation nicht durch Beschlüsse abschaffen läßt. Sie läßt sich aber auch nicht allein durch Deklarationen und Bekenntnisse verwirklichen. Doch jeder Versuch, das Gemeinsame zu leugnen und sich aus seinen Bindungen zu lösen, indem man seine Spuren in den verbindlichen Dokumenten auslöscht, schließt zugleich den Widerspruch zu dem doch erklärtermaßen von allen europäischen Staaten gewollten Ziel der Entspannung, der Sicherheit und der engen Zusammenarbeit in sich ein. Die Konsequenz, die wir heute aus der politischen Situation ziehen, sollte die wiederholt angebotene Zusammenarbeit sein und die Aufforderung, im Geiste und Wortlaut der abgeschlossenen Verträge zu handeln. Wir unsererseits haben die Hand ausgestreckt; wir warten auf ein Echo. Und wir werden an der Nation und der durch sie begründeten Gemeinsamkeit über die Grenzen der beiden deutschen Staaten hinweg festhalten, so wie es auch unsere Verfassung von uns verlangt. ({0}) Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Carstens.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000321, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es, daß sich in diesem Jahr alle Fraktionen des Deutschen Bundestages wieder zu einer gemeinsamen Stunde des Gedenkens an den 17. Juni 1953 zusammengefunden haben, und sie dankt Ihnen, Frau Präsidentin, für die Initiative, die Sie dazu ergriffen haben. Die wichtigsten Ereignisse unserer jüngeren Geschichte haben sich in den Monaten Mai und Juni zugetragen. Am 8. Mai 1945, vor 30 Jahren, kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Am 23. Mai 1949, vor 26 Jahren, trat unser Grundgesetz in Kraft. Am 10. Mai 1950, vor 25 Jahren, verkündete der französische Außenminister Schuman seinen Plan zur europäischen Einigung. Am 17. Juni 1953, vor 22 Jahren, brach der Volksaufstand im anderen Teil Deutschlands aus. Am 5. Mai 1955, vor 20 Jahren, trat der Deutschland-Vertrag in Kraft. Zwischen diesen Ereignissen spannt sich der Bogen unseres Selbstverständnisses und unseres nationalen Schicksals. Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 endete eine Schreckensherrschaft, die unendliches Unheil über große Teile der Welt und über das deutsche Volk gebracht hatte. Am gleichen Tage setzte auch die Entwicklung ein, die zum Verlust großer Gebietsteile führte, welche jahrhundertelang zu Deutschland gehört hatten. Millionen von Deutschen verloren ihre Heimat, eine neue Grenze wurde innerhalb Deutschlands aufgerichtet, und in einem Teil unseres Landes wurde eine neue Herrschaft der Gewalt, der Unterdrückung und der Mißachtung der Menschenrechte errichtet. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 26 Jahren schufen wir die Grundlagen, auf denen sich der politische und wirtschaftliche Wiederaufbau unseres Landes vollzog. Wir schufen einen freiheitlich-demokratischen, sozialen Rechtsstaat. Wir ermöglichten den Bürgern aller Berufe und aller Gruppierungen unseres Landes freie Entfaltung im geistigen, im politischen und im wirtschaftlichen Bereich. Mit der Erklärung Robert Schumans vor 25 Jahren, die Konrad Adenauer aufgriff und sich zu eigen machte, wurde der Grundstein für die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche, in das freie Europa gelegt, wurde also die Grundlage geschaffen, die nach heute übereinstimmendem Urteil aller in diesem Hause vertretenen politischen Parteien die Voraussetzung für deutsche Politik war, ist und bleibt. Fünf Jahre später trat die Bundesrepublik Deutschland dem Nordatlantischen Bündnis und der Westeuropäischen Union bei. Der zweite solide Pfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik wurde errichtet. Zugleich erlangte die Bundesrepublik Deutschland die volle Souveränität nach innen und nach außen. Zwei Jahre zuvor, am 17. Juni 1953, hatten sich Zehntausende von Arbeitern im anderen Teil Deutschlands erhoben, um ein Bekenntnis zu Einheit, zu Freiheit und für Gerechtigkeit abzulegen. Von allen den eben von mir aufgezählten Ereignissen hat dieses die stärkste Symbolkraft für das Ziel, welches wir immer wieder als das große Ziel unserer politischen Anstrengungen bezeichnen, nämlich die Herbeiführung eines Zustands des Friedens in Europa, bei dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Am Abend des 16. Juni und in den Morgenstunden des 17. Juni versammelten sich viele Tausende von Arbeitern an zahlreichen Orten in der DDR. Sie diskutierten zunächst über praktische, konkrete Maßnahmen, nämlich über die von der Regierung gerade verfügte Heraufsetzung der Arbeitsnormen. Am Morgen des 17. Juni beschlossen sie, gegen diese Erhöhung zu demonstrieren. Sie solidarisierten sich, sie setzten sich in Marsch, Zehntausende von Dr. Carstens ({0}) Menschen schlossen sich ihnen an, in Ost-Berlin, in Magdeburg, in Halle, in Leipzig, in Jena, in Rostock und in vielen anderen Städten, und am Schluß wurde es eine der machtvollsten spontanen Demonstrationen, die wir in unseren Lebzeiten in unserem Lande gesehen haben. Denn während sie marschierten, artikulierten sie ihre Forderungen weit über den ursprünglichen Anlaß hinaus. Sie forderten auf Transparenten nicht nur die Herabsetzung der Normen. Sie forderten die Freilassung der politischen Häftlinge, freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und in Freiheit. Sie sangen das Deutschlandlied. Auf dem Marktplatz in Halle sangen sie unablässig das Deutschlandlied, als ihnen die Panzer den Rückzug versperrten. Überall entrollten sie die schwarz-rot-goldene Fahne. Es war ein leidenschaftlicher Appell an die Grundwerte unserer freiheitlichen Ordnung, an die Einheit unseres Volkes, an Freiheit, Gerechtigkeit und brüderliche Solidarität. Hunderte von Menschen bezahlten ihren Einsatz mit ihrem Leben. Mit der Forderung nach Freilassung der politischen Häftlinge, nach freien Wahlen machten sich die Männer und Frauen des 17. Juni den ersten Grundsatz und Grundwert unserer staatlichen Ordnung, die Freiheit, zu eigen. Wir verstehen unter Freiheit die Möglichkeit jedes Menschen, sich zu entfalten, seine Meinung zu äußern, sich zu informieren. Zu unserem Freiheitsverständnis gehört auch die Freiheit von Druck und Terror, ob sie nun von staatlichen Stellen, von Organisationen oder von politischen Gruppen ausgehen mag. Freiheit in diesem Sinne gibt es nur in einer rechtsstaatlichen Ordnung. Nur wo unabhängige Gerichte ihn schützen, ist der Bürger frei. Zur Freiheit gehört das Selbstbestimmungsrecht. Frei sind Menschen, frei ist ein Volk nur dann, wenn es über seine innere Ordnung und über die Gestaltung seiner Beziehungen zu anderen selbst entscheiden kann. Das Gegenstück zur Freiheit ist Brüderlichkeit, ist Solidarität. Obwohl Freiheit ein Recht, vielleicht das höchste Recht des einzelnen Menschen ist, kann doch niemand Freiheit für sich allein verwirklichen. Meine Freiheit ist nur dann gesichert, wenn auch meine Mitbrüder, meine Mitmenschen frei sind. Freiheit ist ein universelles Prinzip, und weil sie universell ist, kann sie nicht ohne Solidarität bestehen, ohne daß jeder auch des anderen Last trägt, ohne daß sich jeder für den anderen verantwortlich fühlt. Es ist kein Zweifel, daß die Männer und Frauen des 17. Juni Freiheit und Solidarität genau in diesem Sinne verstanden haben. Sie schlossen sich zusammen. Sie verbrüderten sich, um den Bedrängten zu helfen, denen, die unter der Last der Arbeitsnormen ächzten, den politischen Häftlingen und den anderen Opfern einer ungerechten Herrschaft. Denn zu Freiheit und Brüderlichkeit gehört untrennbar der dritte Grundwert, die Gerechtigkeit. Für manche ist sie der höchste Grundwert, und es ist sicher, daß keine Gerechtigkeit herrscht, wenn Freiheit unterdrückt oder Brüderlichkeit oder Solidarität mißachtet werden. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist mehr, als was den geltenden staatlichen Gesetzen entspricht. Es gibt ungerechte staatliche Gesetze. Das Gesetz über die Arbeitsnormen in der DDR war ein solches ungerechtes Gesetz. Gerechtigkeit ist ein Prinzip, an dem sich Staaten, Parlamente, Machthaber in Ost und West messen lassen müssen. Es gibt keinen schwereren Vorwurf gegen ein staatliches System als den, daß es ungerecht sei. Unser Verständnis von Gerechtigkeit schließt das Prinzip der Gleichheit ein. Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Freiheit, auf Respekt vor ihrer Menschenwürde. Auch daß wir allen Menschen so weit wie möglich eine gleiche Startchance im Leben geben, ist ein Gebot der Gerechtigkeit, der sozialen Gerechtigkeit, wie wir heute sagen. Die Männer und Frauen des 17. Juni bekannten sich schließlich zur Einheit der deutschen Nation. Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit - ich sagte es schon - stand auf den Transparenten, die sie mit sich trugen. Sie gaben den beiden Symbolen der deutschen Einheit, dem Deutschlandlied und den schwarz-rot-goldenen Farben, eine politische Kraft, wie wir sie seither nicht wieder erlebt haben. Sie setzten dabei ihr Leben ein. Uns aber, den Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in WestBerlin, legten sie damit eine Verpflichtung auf, nämlich die Verpflichtung, die Idee der deutschen Einheit weiterzutragen und an ihr festzuhalten, so lange, bis die Deutschen in jedem Teil Deutschlands auf Grund des Selbstbestimmungsrechts frei über das Schicksal der deutschen Nation haben entscheiden können. Wir wissen nicht, wann und auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden kann. Aber diese Ungewißheit darf kein Grund für Resignation sein. Wenn wir glauben, daß es ein hohes Ziel ist, wenn wir glauben, diesem Ziel verpflichtet zu sein, dann dürfen wir es nicht preisgeben, bloß deswegen, weil es nicht alsbald verwirklicht werden kann. Was wir erstreben, ist nicht ein nationaler Staat im Sinne früherer Zeiten, der sich selbst als höchsten Zweck ansah. Wir waren bereit und wir sind bereit, auf nationalstaatliche Souveränität zu verzichten, um uns mit anderen europäischen Staaten zusammenschließen zu können. Wir sehen die deutsche Nation, an deren Einheit wir festhalten, als Teil eines größeren Verbandes, eines vereinten Europa. Und ebenso wie wir für die Einigung Europas nur friedliche Mittel ins Auge fassen, soll nach unserer Vorstellung die deutsche Einheit nur auf friedliche Weise herbeigeführt werden. In diesem Sinne bejahen wir alle den Grundsatz des Gewaltverzichts und der Unverletzlichkeit der Grenzen. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat kein Staat eindrucksvollere Beweise von der Friedfertigkeit seiner Politik gegeben als die Bundesrepublik Deutschland. Schon 1955, lange bevor wir der UNO beitraten, unterwarfen wir uns den Bestimmungen der UNO-Charta. Wir nahmen Rüstungsbeschränkungen, vor allem im nuklearen Bereich, auf uns. Wir schlossen Gewaltverzichtsverträge mit den osteuropäischen Staaten und mit der DDR. Diese Entwicklung wurde schon in den 50er und 60er Jahren eingeleitet. Das Prinzip des Gewaltverzichts war im Rahmen der Ostpolitik niemals umstritten. Alle ParDr. Carstens ({1}) teien des Bundestages bejahten es. Die Auseinandersetzung betraf und betrifft andere Teile der Ostpolitik. Die Behauptung, daß wir durch unser Festhalten am Ziel der deutschen Einheit den Frieden Europas gefährdeten, entbehrt daher jeder Grundlage. Aber der 17. Juni mahnt uns nicht nur an unsere Pflicht, am Ziel der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands festzuhalten. Er mahnt uns auch an unsere Verantwortung, die wir für die Menschen im anderen Teil Deutschlands tragen. In diesen Tagen ist soviel davon die Rede, daß wir für die Völker der Dritten und der Vierten Welt, für die Menschen, denen in diesem oder jenem Lande die Menschenrechte und die Grundfreiheiten vorenthalten werden, verantwortlich seien. Ich will dieser Auffassung nicht widersprechen. Aber ich meine, wenn wir schon anerkennen, daß wir Verantwortung tragen für Menschen, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland leben, dann müssen wir in erster Linie bereit sein, Verantwortung für die Menschen zu tragen, die im anderen Teile Deutschlands leben, für unsere deutschen Brüder und Schwestern. Und diese unsere Verantwortung für sie müßte sich darin ausdrücken, so meine ich, daß wir ihnen beistehen, daß wir insbesondere denen unter ihnen beistehen, die verfolgt werden, sei es wegen ihrer religiösen Überzeugung, als evangelische oder katholische Christen, sei es, weil sie aus sogenannten politischen Gründen verfolgt, bestraft und gefangengehalten werden, z. B., weil sie von einem Menschenrecht Gebrauch gemacht haben, dem in der UNO-Konvention verankerten Menschenrecht, das es jedem Menschen auf der Welt ermöglicht, sein eigenes Land jederzeit zu verlassen. Derjenige, der in der DDR von diesem Menschenrecht Gebrauch macht, wird als politischer Verbrecher wegen Republikflucht verfolgt und bestraft, wenn er nicht gar an der Grenze infolge des unmenschlichen Schießbefehls sein Leben einbüßt. Hier sind wir, die Deutschen im freien Teil Deutschlands, aufgefordert, uns mit denen zu solidarisieren, die im anderen Teil Deutschlands verfolgt werden und Unrecht leiden. Es wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es Sinn hat, des 17. Juni zu gedenken, ob man nicht an Stelle dieses Feiertages einen anderen Gedenktag aus der jüngeren deutschen Geschichte setzen sollte. Nichts gegen die anderen Gedenktage; aber der 17. Juni ragt unter ihnen in einzigartiger Weise heraus. Er ist ein Beweis für die Kraft, die noch immer im deutschen Volk schlummert, die Kraft und die Bereitschaft, sich für die höchsten Ziele - sogar unter Aufopferung des eigenen Lebens - einzusetzen, und zwar für die höchsten Ziele einer friedlichen, gerechten und freiheitlichen Ordnung. Wir können auch in gar keiner Weise dem Argument folgen, daß sich der 17. Juni als nationaler Feiertag nicht eigne, weil schließlich alles vergeblich gewesen sei, weil der Aufstand zusammengebrochen sei. Die Geschichte der Menschheit, insbesondere die Geschichte unseres Volkes, zeigt uns, daß es im Kampf um die Verwirklichung der höchsten Grundwerte mindestens so viele Niederlagen wie Siege gibt. Die verpflichtende Kraft der mit dem Leben bezahlten Niederlagen ist häufig größer als mancher Sieg. In diesem Sinne drücken wir unseren Wunsch aus und appellieren wir an alle Bürger in unserem Lande, daß wir auch in Zukunft gemeinsam am 17. Juni als einem der großen Gedenktage unseres Volkes als einem gesetzlichen Feiertag festhalten sollten. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tag ist ein Tag des Gedenkens. Der 17. Juni des Jahres 1953 war für viele in unserem getrennten Land ein Tag der Erwartung. Wir wollen aufrichtig sein: Um den Weg zum gemeinsamen Ziel des Zusammenlebens unseres getrennten Volkes in einem gemeinsamen demokratischen Staat ist bei uns vor dem 17. Juni des Jahres 1953 und nach diesem aufrüttelnden Ereignis leidenschaftlich gerungen worden. Wir dürfen bei allem sachlichen Gegeneinander das Gedenken an die Opfer des Standrechts vom Juni 1953 nicht zum Eigentum einer Partei werden lassen. Das Kuratorium Unteilbares Deutschland stellt zum heutigen Tag mit Recht fest und mahnt: Für uns ist der 17. Juni 1953, dieser leidenschaftliche, aber vergebliche Versuch von Deutschen in der DDR, persönliche und politische Freiheitsrechte zu erwirken, kein Tag des Hasses. Er ist ein Tag der Mahnung, das friedliche Ringen um die Gewährleistung der freien Selbstbestimmung für alle Deutschen nicht aufzugeben. Dieser Gedenktag lehrt uns die Notwendigkeit der Einsicht. Die Teilung Deutschlands ist gegen den Willen der Deutschen, aber nicht ohne deutsche Schuld zustande gekommen. Das System der Mächte, das sich als Antwort auf den unmenschlichen Nationalsozialismus schließlich ergeben hat, wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bleiben. Gegenwärtig leben wir Deutschen in zwei völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Gerade deshalb müssen wir auf die Sicherung des Friedens und den Abbau der Spannungen hinarbeiten. Diese Sätze sind der Erklärung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum 17. Juni 1973 - 20 Jahre danach - entnommen. Sie sind meines Erachtens auch heute und bleiben weiterhin gültig. Der Sinn dieser Sätze ist nicht Resignation, ihr Sinn ist die Einsicht in die Notwendigkeit unseres eigenen Beitrags für den Frieden zum Wohl unseres Volkes. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED in der DDR, Erich Honecker, hat vor einigen Tagen in einer Rede zur Vorbereitung des IX. Parteitages seiner eigenen Partei beziehungsreich gesagt: Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben. Er sagte das nach einer kritischen Bemerkung an die Adresse nicht näher bezeichneter Vertragspartner, in der er unterstrich - ich zitiere ihn noch einmal -: Selbstverständlich müssen alle Versuche, abgeschlossene Verträge nicht einzuhalten oder uns durch Verleumdungskampagnen von unserer konstruktiven Politik ablenken zu wollen, auf entschiedenen Widerstand stoßen. Daß wir - um das Wort noch einmal aufzugreifen - nicht mehr in den fünfziger Jahren leben, gilt doch wohl für alle Seiten. In den fünfziger Jahren, und zwar eine Woche nach der Verhängung des Standrechts der Besatzungsmacht im Juni 1953, hatte der damalige Ministerpräsident der DDR gesagt - ich zitiere ihn -: Die gegenwärtige Situation ist das Ergebnis einer fehlerhaften Politik unserer Partei und der daraus resultierenden falschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen durch die Regierung. Das ist vollkommen klar. So bekräftigte er diese Feststellung. Jetzt, in den siebziger Jahren, gibt es einen Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. In seiner Einleitung heißt es: . . . ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, geleitet von dem Wunsch, zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen, sind die vertragschließenden Seiten übereingekommen, diesen Vertrag zu schließen. Dazu können auch wir sagen: Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben. Es gibt Ereignisse, die uns in der Erinnerung durch unser ganzes Leben begleiten. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 sind solcher Art. Aber die Erinnerung heißt nicht Wiederholung einer Situation, in der nicht nur wir, sondern alle nicht ausgereicht haben, die Ursachen zu überwinden. Wir können nicht in einem Zustand permanenter Anklageverlesungen nebeneinander leben. Im Gedenken an den guten Willen derer, die im Juni 1953 im anderen Teil Deutschlands demonstrierten und streikten, sollte die Achtung für die unter anderen Verhältnissen lebenden und arbeitenden Menschen des anderen deutschen Staates mitschwingen. Sie haben unter schwierigen Bedingungen Hervorragendes geleistet. Wir haben in der nationalen Frage, wie man das nennt, nicht dieselbe Auffassung wie die drüben regierende SED. Keine Seite vermag der anderen ihre eigene Auffassung aufzunötigen. Wer, wie es kürzlich in einem Satz hieß, darauf pocht, er verfüge über Mittel, der anderen Seite begreiflich zu machen, daß die Seite, die das so sagt, recht habe, der irrt. Wir sind nicht mehr in den fünfziger Jahren. Wenn wir uns nicht in bloßer Rechthaberei ergehen, wenn wir den Menschen drüben unseren Respekt nicht versagen und die Mühen des Miteinandersprechens nicht scheuen, stellen wir die Aufrichtigkeit unserer Auffassung über gutnachbarliche Beziehungen unter Beweis. Es handelt sich nicht darum, die Grenzen politischer Grundauffassungen zu verwischen. Ich bin mir z. B. bewußt, daß SED - Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - und SPD - Sozialdemokratische Partei Deutschlands - einander ausschließen. In dem von der SED geführten, regierten Staat ist für die SPD keine legale, ungehinderte politische Wirkungsmöglichkeit. Die SED kennt nur ehemalige Mitglieder der SPD. Diese sind entweder in die SED eingegliedert, oder sie existieren außerhalb des nach der dortigen Verfassung und ihrer Handhabung gegebenen Bereichs für das Wirken politischer Menschen. Es kann auch keine sogenannte Aktionseinheit von SPD und SED geben - und wird sie nicht geben. Aber in den Jahrzehnten der Nachkriegsentwicklung hat sich die Notwendigkeit eines, wenn möglich und wieweit möglich, vertraglich geregelten Verhältnisses zwischen den beiden Staaten im getrennten Deutschland ergeben. Sie ist uns aufgezwungen, wollen wir nicht als sogenannte Alternative einen ständigen Kalten-Kriegs-Zustand bei lediglich punktuellen Verständigungen über Verhaltens- oder Verfahrensregelungen im Verhältnis zwischenstaatlicher Art auf uns nehmen und die Menschen darunter zusätzlich beladen. Doch dies wäre vor allem angesichts der umstrittenen Position Berlins permanent Ursache ernsthafter Krisen und fortwährender Beunruhigung der Menschen. Wenn ich von einer umstrittenen Position Berlins spreche, so bleiben wir dabei - denn sonst bräche man nicht nur zusammen und zurück in die 50er Jahre, sondern es käme noch schlimmer -, daß Vier Mächte für das, was man damals nach der Kapitulation Deutschland als Ganzes und Berlin im besonderen genannt hat, eine besondere Verantwortung tragen; sie steht sogar in der Charta der Vereinten Nationen. Dem von den Vier Mächten, die für die Sicherheit in Berlin verantwortlich sind, nach jahrelang vergeblichen Versuchen schließlich doch zustande gebrachten und unterzeichneten Berlin-Abkommen ist - man kann es drehen und wenden, wie man will; jede Seite wird zu dieser Einsicht kommen müssen -eine Schlüsselrolle zuzumessen. Das gilt für die Lebensverhältnisse der Menschen in Berlin wie für die Entwicklungsfähigkeit der vertraglichen Regelungen zwischen den zuständigen Stellen im getrennten Deutschland wie für das zur Entspannung in Europa und darüber hinaus wesentliche VerhältWehner nis der vier Signatarmächte, die - ich betone es - verantwortlich sind, und zwar ausschließlich verantwortlich sind, wie sie deklariert haben, für die Sicherheit in Berlin und Berlins. Daran werden wir uns und werden wir sie halten. Wenn - um noch einmal Honeckers Satz in Erinnerung zu bringen - man überall mit der Zeit wird verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, sollte es auch möglich sein, einem verunglückten Türkenkind in Berlin ({0}) das Leben zu retten, statt aus einem Unglück einen Staatsprestigestreit zu machen. Es wird Zeit, in den Fragen, die regelbar sind, zur Sache zu kommen und Mitmenschlichkeit nicht mehr im Prestige- und Abgrenzungseifer - welche Motive beide immer haben mögen - notleidend sein und bleiben zu lassen. Weil die Gewährleistung des Friedens im Lebensinteresse beider Seiten im getrennten Deutschland liegt, ja, auch im Lebensinteresse der auf beiden Seiten Regierenden liegt, muß es möglich sein und werden, daß man einander auch anders als gepanzert und vermint gegenübertritt. Die Verantwortlichen der DDR haben in den letzten zwei Jahren erkennbar manches Leid lindern und einiges sogar heilen helfen. Sie haben erheblich mehr getrennte Familien zueinanderfinden und -kommen lassen. Das ist dankenswert. Es wäre gut, wenn dies ein Zeichen dafür wäre, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, und wenn es auf einem auch nach menschlichem Ermessen wahrscheinlich dornenvollen Weg nicht das letzte Beispiel entsprechender Art bliebe. - Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Die deutsche Wirklichkeit ist so kompliziert, daß Meinungsverschiedenheiten darüber unvermeidlich sind, was jeweils am besten zu tun sei. In der Art, wie diese Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden und wie gemeinsame Aussagen und Bemühungen versucht werden, kann der deutsche Wille aber überzeugender zum Ausdruck kommen als durch wohlklingende Formeln." Es waren führende Vertreter aller Parteien des Deutschen Bundestages, die sich diese, wie ich meine, vernünftige Erkenntnis zu eigen gemacht und am 17. Juni 1973 gemeinsam in eine Erklärung des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland" eingebracht haben. Aber - deswegen sollte uns jede Form der Zufriedenheit fernliegen - mit einer kurzzeitigen rhetorischen Gemeinsamkeit allein ist nichts gewonnen. Entscheidend für weitere Fortschritte in der Deutschlandpolitik ist ein Mindestmaß an gemeinsamer Zielrichtung und grundsätzlicher, Parteigrenzen übergreifender Kooperation im schwierigen Alltagsgeschäft. Wenn sich alle Parteien dieses Hauses nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form ihrer Darstellung darauf einigen könnten, daß bei allen notwendigen Auseinandersetzungen um Bemühungen auf deutsch-deutscher Ebene die Sorge um das Wohl des Menschen -- nicht etwa die Sorge um das Wohlergehen einer Gruppe, einer Partei oder des einzelnen, der dazu Stellung nimmt - im Mittelpunkt zu stehen hat, wäre viel gewonnen. Die Tragik des 17. Juni 1953 besteht ja nicht nur darin, daß zum erstenmal seit über 100 Jahren Deutsche in großer Zahl, die sich in offener Auseinandersetzung, im offenen Aufbegehren und unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie engagiert haben, in einem besetzten Land scheiterten, ja, scheitern mußten; Tragik und sogar schon fast Ironie wird sichtbar - und auch dies muß man an einem solchen Tage feststellen -, wenn wir uns selbstkritisch die Frage stellen, wie es geschehen konnte, daß dieser Einsatz dann bei uns in der Bundesrepublik Deutschland lange Jahre Anlaß zu ausschließlich rhetorischen Reaktionen in würdevollem Rahmen ohne jegliche praktische Konsequenzen war. Carlo Schmid hat in einer Gedenkfeier zum 17. Juni einmal treffend so formuliert: Wir dürfen nicht wie 1848 die Opfertat in den Scheiterhaufen der Gedenkfeiern verrauchen lassen. Nichts lähmt mehr die Energien eines Volkes als der Weihrauch, den es sich selber streut. Es gab damals keine Deutschlandpolitik, es gab nur Lähmung, Stillstand und schließlich einschneidende Verschlechterungen. Der Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961, die vorangegangenen schweren Krisen um Berlin, die Eskalation von Aggressivitäten, die vielen Toten, die wachsende Unsicherheit der Bewohner West-Berlins, die unterbrochenen Telefonverbindungen, die gestörten Verkehrsverbindungen zur Bundesrepublik Deutschland, die erschwerten und für Westberliner schließlich unterbundenen Besuchsmöglichkeiten, die Einführung eines Paß- und Sichtvermerkszwanges: Die Kluft in Deutschland wurde tiefer und tiefer, die Pflege menschlicher Beziehungen immer schwieriger. Die so glatt von der Zunge gehenden Beschwörungen der Einheit standen in wachsendem Widerspruch zur ständig stärker werdenden Auseinanderentwicklung. Deshalb war die Zeit überreif zum Handeln, um der Menschen willen, die sich trotz der gegensätzlichen Staats- und Gesellschaftsformen zusammengehörig fühlten und fühlen. Ihnen mußte die Begegnung ermöglicht werden, der Austausch von Gedanken, Gefühlen und Meinungen erleichtert werden. Gerade wem es Ernst ist mit der Forderung, die mögliche staatliche Einheit für morgen oder übermorgen nicht zu verbauen, dem muß es heute Ernst sein mit der Begegnungsmöglichkeit der Menschen, denn sie stellen den Staat erst dar, ohne sie kann es ihn nicht geben, weder die gemeinsame Nation noch deren Organisation in einem Staat. Wir Freien Demokraten wurden von denen, die viele Jahre der deutschlandpolitischen Passivität den Vorzug gaben, oft mit Verdächtigungen überzogen, als wir Ende der 60er Jahre den Entwurf eines Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vorlegten. Wer heute die seit 1969 zurück12562 gelegte Wegstrecke überblickt und die auf vertraglicher Basis gebauten Brücken zwischen den beiden deutschen Staaten begutachtet, der wird zugeben, daß erst eine konsequent betriebene Vertragspolitik eine Wende zum Besseren brachte, wohlgemerkt: zum Besseren, noch lange nicht zum Guten. Bis dahin ist es noch weit. Es würde mich freuen, wenn die Schwierigkeiten und die Rückschläge auf dieser schier endlos erscheinenden Distanz niemanden mehr zu überheblichen Besserwisserreaktionen oder gar zu jener selbstgefälligen Mischung aus böser Unterstellung und stiller Häme verleiten würden. Kritik tut not, kleinliche Miesmacherei schadet. Wer wirklich davon überzeugt ist, daß auf dem Boden der geschlossenen Verträge vorangegangen werden muß - und wer ist es nicht in diesem Parlament! -, der muß auch die Bereitschaft zur Kooperation zwischen Regierenden und Opponierenden einbringen, und zwar gerade dann, wenn der Bundesrepublik Deutschland Steine in den Weg gerollt und Fortschritte im Prozeß der Normalisierung erschwert werden. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, daß einigen bei uns, die sich lauthals über die Steine im Weg beschweren, ohne beim Wegräumen zu helfen, womöglich die ganze Richtung nicht paßt. Wenn das so ist, dann möge man das sagen, damit man offen darüber sprechen kann. Aber es gibt - dies ist die Erfahrung der letzten 20, 22 Jahre - keine Alternative dazu, über Verträge, über die Politik der Entspannung, über vertragliche Regelungen zu einem besseren Ergebnis zu kommen. Auch vorübergehende ost-westliche Dissonanzen um Berlin stellen die Richtigkeit dieses Prinzips nicht in Frage. Im Gegenteil, gerade durch die vertraglichen Regelungen ist Berlin auch bei öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten rechtlich so sicher, wie es zu keiner Zeit vor Abschluß des Viermächteabkommens war. Der zwischen dem Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Parteiführer festgehaltene Grundsatz der strikten Einhaltung und vollen Anwendung des Abkommens gilt für uns unverändert. Unverändert bleibt es bei der Sicherheit der Verkehrsverbindungen, bei den millionenfach genutzten Besuchsmöglichkeiten, beim kleinen Grenzverkehr, beim konsularischen Schutz der Berliner durch unsere Auslandsvertretungen auch im Ostblock, bei der stets wahrgenommenen Möglichkeit der Einbeziehung West-Berlins in Vertragswerke und Vereinbarungen, die von der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten geschlossen werden. Der Hinweis auf die mittlerweile erreichten Verbesserungen wäre unvollständig ohne die ausdrückliche Hervorhebung der unspektakulären, aber äußerst hilfreichen Alltagsarbeit, die unsere Ständige Vertretung in Ost-Berlin leistet. In Fragen der Rechtshilfe, der Familienzusammenführung, auch der Häftlingsbetreuung hat die durch den Grundvertrag geschaffene Einrichtung bereits vieltausendfach mit Rat und Tat geholfen. Sie gibt ein Beispiel dafür, daß eine auf Verständigung angelegte Politik praktischen Nutzen für den einzelnen Bürger bringt. An dieser Orientierung wird und muß auch künftighin festgehalten werden. Wir werden darauf achten, daß bei jedem weiteren Schritt im Ausbau der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und bei der Pflege der Bindungen mit WestBerlin Solidarität und Gewissenhaftigkeit dominieren. Sie sind Voraussetzung für die Wahrung eines Vertrauensverhältnisses, ohne das Vertragspartner gerade bei erkennbaren Gegensätzen nicht auskommen können. Gegenseitigkeit setzt Zuverlässigkeit voraus. Auf unserer Seite steht sie nicht in Frage. Ich bin aber auch in diesem Stadium nicht bereit, wegen einiger Ungereimtheiten in den Äußerungen der Gegenseite das Fundament, das die Verträge geschaffen haben, zur Disposition zu stellen. Das sollten auch jene bei uns bedenken, die allzu schnell bereit sind, spezifisch osteuropäische Interpretationen dadurch zu verstärken, daß sie sie aufgreifen und als Argumentationswaffe gegen die Politik der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einsetzen. Ich unterstelle dabei nicht einmal böse Absicht, sondern vermute dahinter eher die politisch denkbar ungünstige Neigung, sich selbst ins Bockshorn jagen oder aufs Glatteis führen zu lassen. Man sollte diese Haltung ein für allemal ablegen und sich gemeinsam um konkrete Schritte bemühen, die ,den menschlichen Beziehungen dienen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen stärken und damit so viel wie möglich an nationaler Substanz erhalten. Dies ist nämlich in Wahrheit der Kern des Auftrages, den uns der 17. Juni 1953 gibt. Der Deutsche Bundestag hat am 11. Mai 1973 mit der Verabschiedung des Grundvertrages die Voraussetzungen einer realistischen Politik für Deutschland geschaffen. Es ist an uns, energisch und zäh die Chance zu nutzen, die in der Politik des Ausgleichs und der Entspannung liegt. Richtschnur bleibt für uns der politische Auftrag, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das ganze deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über seine staatliche Ordnung entscheiden kann. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, den 18. Juni 1975, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.