Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, für den aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidenden Abgeordneten Dr. Hauser ({0}) hat die Fraktion der CDU/CSU den Abgeordneten Dr. Lenz ({1}) benannt. - Das Haus ist damit einverstanden; so beschlossen. Damit ist der Abgeordnete Dr. Lenz ({2}) als ordentliches Mitglied des Vermittlungsausschusses gewählt.
Es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Erweiterter Verkehrswegeplan für das Zonenrandgebiet;
hier: Bericht des Bundesministers für Verkehr 1974 über den Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes
Bezug: Beschluß des Deutschen Bundestages vom 22. Januar 1969
-- Drucksache 7/2992 zuständig: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen ({3}), Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen, Haushaltsausschuß
Betr.: Bericht der Bundesregierung über die Beseitigung etwaiger Nachteile in der Rentenversicherung bei Personen mit langen Zeiten des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft
- Drucksache 7/3054 zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}), Innenausschuß, Haushaltsausschuß
Betr.: Empfehlungen und Entschließungen der Nordatlantischen Versammlung auf ihrer 20. Jahrestagung vom 11. bis 16. November 1974 in London
- Drucksache 7/3046 zuständig: Auswärtiger Ausschuß ({5}), Verteidigungsausschuß
Erhebt sich gegen die beabsichtigte Überweisung Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Überweisung von EG-Vorlagen
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung ({6}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({7}) Nr. 907/73 des Rates vom 3. April 1973 zur Errichtung eines Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit
- Drucksache 7/3025 - überwiesen an den Finanzausschuß ({8}), Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({9}) des Rates über den Verkauf von Magermilchpulver aus öffentlicher Lagerhaltung für die Lieferung nach Entwicklungsländern
- Drucksache 7/3079 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({10}) des Rates über allgemeine Durchführungsbestimmungen für den Fall einer erheblichen Preissenkung auf dem Schweinefleischsektor
- Drucksache 7/3080 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({11}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({12}) Nr. 1192/74 über die Beihilfe für künstlich getrocknotes Futter
- Drucksache 7/3081 -überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute
- Drucksache 7/3082 überwiesen an den Finanzausschuß ({13}), Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({14}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({15}) Nr. 1599/71 zur Festsetzung zusätzlicher Bedingungen, denen eingeführter Wein, der zum unmittelbaren menschlichen Verbrauch bestimmt ist, entsprechen muß
- Drucksache 7/3099 überwiesen an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von Schädlingsbekämpfungsmitteln
- Drucksache 7/3106 überwiesen an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({16}), Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Abschlepphaken an Kraftfahrzeugen
- Drucksache 7/3107 überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsturzschutzvorrichtungen von landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern
- Drucksache 7/3108 überwiesen an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({17}), Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten über Beleuchtungseinrichtungen für das
Präsident Frau Renger
hintere Kennzeichen von Kraftfahrzeugen und ihren Anhängern
- Drucksache 7/3109 überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Krafträder
- Drucksache 7/3110 überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über vordere Begrenzungsleuchten, Schlußleuchten und Bremsleuchten für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger
- Drucksache 7/3111 überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({18}) des Rates über die Durchführung einer Lohnerhebung in der Industrie
- Drucksache 7/3112 überwiesen an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes
- Drucksache 7/2524 Bericht des Verteidigungsausschusses ({19})
- Drucksache 7/3087 Berichterstatter: Abgeordneter Ernesti ({20})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Leber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Funktion und Sinn der neuen Wehrstruktur, die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern und die Bundeswehr in Organisation und Ausstattung den sich wandelnden Bedingungen anzupassen. Gründliche Beratungen nach vielen Seiten hin haben ergeben, daß die neue Wehrstruktur, so wie sie im ganzen konzipiert ist, diesem Anspruch Rechnung trägt. Diese entspricht auch der Bewertung insbesondere durch unsere Bündnispartner, durch die Regierungen der Länder, die das Bündnis tragen, und durch die Institutionen des Bündnisses selbst.
Im Sommer 1973 wurde über die Grundsätze der neuen Wehrstruktur entschieden. Sie wurden nach Beschlußfassung durch die Bundesregierung im November 1973 hier im Deutschen Bundestag vorgetragen und erläutert. Diese Grundsätze, die ich damals hier vorgetragen habe, gelten unverändert. Sie sollen jetzt an einem wichtigen Punkt ihre gesetzliche Grundlage erhalten.
Erstens. Die zahlenmäßige Stärke der Bundeswehr bleibt unter den Bedingungen, die das Bündnis dafür setzt, mit 495 000 Soldaten unverändert. Die Bundeswehr wird weder größer noch kleiner.
Zweitens. Die Wehrpflicht bleibt Grundlage unseres Verteidigungsbeitrages. Der Grundwehrdienst dauert weiterhin 15 Monate.
Drittens. Die Bundeswehr wird eine hohe Präsenz haben, d. h., sie wird so einsatzbereit sein, daß sie zur Krisenbewältigung ihre Aufgabe als Instrument der politischen Führung im Rahmen unserer Möglichkeiten erfüllen kann. Heer, Luftwaffe und Marine werden Verbände bereithalten, die jederzeit ohne materielle und personelle Ergänzung zur Verteidigung eingesetzt werden können.
Die neue Wehrstruktur setzt im wesentlichen beim Heer an. Das Heer wird künftig 36 Brigaden haben. Die Anweisung für die Vorarbeiten zur Aufstellung der drei neuen Brigaden, die am 1. April erfolgen soll, ergeht in den nächsten Tagen. Die Kompanien, die Bataillone und Brigaden werden in ihrer Struktur wesentlich anders geschnitten werden; sie werden moderner, d. h. abwehrfähiger gegenüber gepanzerten Angriffskräften ausgestattet werden. Die Struktur der Bataillone ist getestet; die drei neuen Brigaden werden zur Erprobung der neuen Brigadestruktur genutzt.
Das gleiche gilt für die Abwehr einer Bedrohung aus der Luft.
Hier liegen die Schwerpunkte der neuen Struktur. Sie geht Hand in Hand mit schwergewichtigen Entscheidungen über moderne Rüstung und Ausrüstung, die keine Offensivkraft zur Bedrohung anderer Staaten präsentiert, dafür aber unsere Fähigkeit zur Verteidigung im maximalen Sinne ausdrückt. So war das Konzept vor zwei Jahren angelegt, so wird es auch in die Praxis umgesetzt werden.
Viertens. Mit der Verfügungsbereitschaft wird es nicht nur möglich sein, durch Verzicht auf Funktionen, deren Wahrnehmung zur Erfüllung der Friedensaufgaben entbehrlich sind, Kosten zu sparen, sondern durch Kaderungen in allen Teilstreitkräften, vornehmlich beim Heer, wird es möglich sein, die Zahl der im Dienst befindlichen Soldaten zu variieren. Mit Hilfe der Verfügungsbereitschaft wird die unverzügliche Herstellung der vollen Präsenz gekaderter Truppenteile im Frieden mobilmachungsunabhängig gesichert. Die neue Truppenstruktur gewährleistet das Funktionieren dieses Systems.
Fünftens. Gleichartige Aufgaben aller Teilstreitkräfte werden bundeswehrgemeinsam wahrgenommen. Dies gilt insbesondere für das Sanitätswesen, für die Ausbildung, für die Infrastruktur, die Logistik und die Führungsdienste.
Sechstens. Im Verteidigungshaushalt ist der Investitionsanteil so bemessen, daß die eben von mir grob beschriebenen Aufgaben, also Rüstung und Ausrüstung unserer Streitkräfte, finanzierbar sind, daß eine moderne Ausrüstung möglich ist. Für kritische Denker und Mitdenker möchte ich hinzufügen, daß es im gesamten Bündnis weder im vergangenen Jahr noch in diesem Jahr einen Verteidigungshaushalt gibt, dessen Investitionsanteil höher ist als der Investitionsanteil, den die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Verteidigungshaushalt ausweist.
Im Zuge der Detailarbeiten an der neuen Wehrstruktur hat sich schon bald herausgestellt, daß Kommandostruktur und Truppenstruktur voneinander unabhängig sind und die Regelungen daher unabhängig voneinander erfolgen können. Das hat dazu geführt, daß ich im Frühjahr 1974 im Verteidigungsministerium angeordnet habe, daß die Truppenstruktur bei der Verwirklichung Vorrang haben muß. Dazu kommt unser Interesse, die bestehende gute zivilmilitärische Zusammenarbeit mit den Bundesländern aufrechtzuerhalten und nicht zu gefährden. Aus diesem Grunde wurde im April 1974 den Regierungschefs der Länder in einem Gespräch mitgeteilt, daß noch keine Entscheidung über die künftige Gestaltung der zivil-militärischen Zusammenarbeit gefallen sei und daß gegebenenfalls notwendig werdende Veränderungen in diesem Bereich im Einvernehmen mit den Bundesländern vorgenommen werden. Nach dem gegenwärtigen Überblick komme ich zu dem Ergebnis, daß die Wehrbereichskommandos erhalten bleiben können. Ich habe dies auch den Ländern mitgeteilt.
Wir haben allerdings die Pflicht, unabhängig von diesem institutionellen Vorgang uns im Interesse des Steuerzahlers auf jede vernünftige Weise zu bemühen, alle Möglichkeiten der Rationalisierung und verbesserter Produktivität auszuschöpfen. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind gegenwärtig dabei, zwei neue Brigaden aufzustellen, zwei Kampfbrigaden. Sie schneiden diese 18 000 Personen oder Stellen aus ihren rückwärtigen Diensten heraus. Dies ist ein Vorgang, den wir nur begrüßen können. Was die Amerikaner hier tun, müssen wir aber auch in unserem eigenen Laden tun und nicht jede Stelle und nicht jede Position verteidigen, weil das in den letzten 20 Jahren so war.
({0})
Erbhöfe kann es hier keine geben, und es werden auch nicht bestimmte Kommandoposten unter Naturschutz gestellt werden. Dies wollte ich nur zur Illustration dem hinzufügen, damit das nicht falsch verstanden wird. Es wird gespart werden und gespart werden müssen.
Am 29. November 1973 habe ich hier vor dem Bundestag erklärt, die Umstellung auf die neue Struktur soll 1978 vollzogen sein - auf dem Wege bis 1978, war damit gemeint. Dies ist für die Betrachtung des Kostengesichtspunktes entscheidend. Das heißt, daß mit der neuen Wehrstruktur Betriebsmittel eingespart werden, aber freilich nicht vor der Verwirklichung der neuen Struktur.
In diesem Zusammenhang sind Mißverständnisse über den Zusammenhang zwischen Wehrstruktur und MBFR entstanden, die von flinken Federn verbreitet worden sind. Dabei ist von Konzessionen und der Aufgabe des Konzepts des Verteidigungsministers gesprochen worden, so als hätte es hier Sieger und Besiegte gegeben. Ich war dafür, daß wir eine Verständigung suchen - ich wäre dankbar, wenn Sie sich das anhören, Herr Dr. Wörner -, weil die beiden Teile des Parlaments, Regierungskoalition und Opposition, sich hier auseinanderentwickelt hatten. Sie hatten die Verfügungsbereitschaft abgelehnt. Ich habe Ihnen mit der Regelung einen fairen Kompromiß angeboten, und ich lese in den Zeitungen seit Tagen, daß ich mein Konzept aufgegeben habe und daß Sie gesiegt hätten. Ich brauche das hier nicht zu qualifizieren. Ich will nur deutlich hinzusagen: ich habe an keiner Stelle irgend etwas an dem Konzept korrigiert oder verändert. Man sollte auch in einem solchen Zusammenhang, wenn einer es dem anderen möglich macht, von einem Pferd herunterzukommen, fair miteinander spielen. Ich habe die Fabel von dem Kranich und dem Fuchs schon als Kind studiert. Wenn ich jemandem helfe, den Knochen aus dem Hals zu ziehen, lasse ich mir jedenfalls die Hand dabei nicht abbeißen. Ich wollte das hier klarstellen.
({1})
Kurz nach der Vorlage des Berichtes der Wehrstruktur-Kommission der Bundesregierung - das war im November 1972 - wurde im Verteidigungsministerium folgende Weisung gegeben:
Die neue Struktur muß so flexibel sein, daß sie sicherheitspolitischen Entwicklungen, wie beispielsweise Auswirkungen von MBFR einerseits, aber auch einer Verschlechterung der internationalen Lage andererseits, ohne erneute grundlegende Änderung angepaßt werden kann.
Diese Grundlinie, die seit März 1974 veröffentlicht ist, erging also sogar noch, bevor die Wiener MBFRVerhandlungen begonnen hatten. Es ist daher eine sicherheitspolitische Selbstverständlichkeit, daß wir seit dem wirklichen Beginn ernsthafter MBFR-Verhandlungen auch diesen Tatbestand mit einbeziehen müssen.
Das gilt auch für die praktische Einführung der Verfügungsbereitschaft. Wir haben seit zwei Jahren daher die Auffassung vertreten - auch hier vor dem Hohen Hause; das steht ja im Protokoll -: wir sind offen für MBFR, werden aber kein denkbares Ergebnis von MBFR vorwegnehmen, d. h. mit anderen Worten, wir werden auch die Verfügungsbereitschaft nicht praktizieren durch eine Verminderung der Dienstposten, bevor MBFR-Ergebnisse vorliegen, ich sage hier: befriedigende MBFR-Ergebnisse.
Praktisch ist das auch gar nicht möglich, weil wir vor 1977/78 vermutlich mit dem Umstellen der neuen Wehrstruktur in der Praxis gar nicht so weit sind. Vorher ist wohl auch nicht mit einem Niederschlag eines Ergebnisses von MBFR zu rechnen. Die Termine werden möglicherweise sogar nahe beieinanderliegen.
Die neue Wehrstruktur ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Bundeswehr und damit in der Entwicklung unseres militärischen Beitrags zum Atlantischen Bündnis. Mit dem Gesetz, zu dem ich Ihre Zustimmung erbitte, geht zugleich eine lange Epoche des Aufbaues und des Suchens nach Anpassung und Weiterentwicklung der Streitkräfte an eine gewandelte internationale Lage zu Ende. Mit der neuen Wehrstruktur vollzieht die Bundeswehr den Schritt in das letzte Viertel unseres Jahrhunderts. Die Aufgabe der Verteidigungspolitik hat sich am
Ausmaß der jeweils erkannten militärischen Bedrohung zu orientieren. Es ist klar, daß auch die Organisation und die Ausgestaltung von Streitkräften nicht statisch sein können. Wenn die Streitkräfte nicht veralten und damit unbrauchbar werden sollen, dürfen sie sich selber nicht statisch, sondern müssen sich als dynamische Elemente in einer sich dynamisch ändernden Umwelt begreifen und verstehen. Dies gilt in vielerlei Hinsicht.
Wer noch vor wenigen Jahren unvoreingenommen die Diskussion über das Thema Bundeswehr und Gesellschaft verfolgte, mußte den Eindruck haben, daß die Bundeswehr selbst sich als Armee im Abseits empfand. So wurde es auch aus der Sicht breiter Kreise der Gesellschaft gesehen. Dies ist heute anders. Die Bundeswehr ist eine natürliche Einrichtung im Staat und ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft geworden, in ihrem eigenen Verständnis genauso wie im Verständnis der Bevölkerung. So haben z. B. jüngste Umfragen gezeigt, daß heute rund zwei Drittel der männlichen Jugend die Aufgabe der Bundeswehr bejahen. Das hängt damit zusammen, daß Auftrag und Aufgabe der Bundeswehr dem Bürger bewußter geworden sind und der Verfassungsauftrag „Niemanden bedrohen dürfen, niemanden bedrohen wollen, niemanden bedrohen können, aber dieses unser Land mit allem Wert, den es darstellt, in seine Fürsorge und in seinen Schutz nehmen, für dieses Land eintreten, sich vor es stellen" deutlicher geworden ist im Bewußtsein gerade der jungen Männer und auch verstanden worden ist. Diese erfreuliche Entwicklung dokumentiert sich in vielerlei Hinsicht. Sie ist staatspolitisch sehr hoch einzuschätzen. Wir alle haben sie stets gewünscht; um so größer ist die Befriedigung der Bundesregierung darüber, daß dies jetzt zunehmend erreicht worden ist.
Die Bundeswehr geht mit guten Voraussetzungen und auch mit einer guten personellen Besetzung an die anstehenden Aufgaben heran. Gegenüber dem Vorjahr ist das Freiwilligenaufkommen um rund ein Drittel gestiegen. Diese günstige Entwicklung erlaubt es den Streitkräften, vor allem bei Bewerbern mit kürzeren Verpflichtungszeiten besonderen Nachdruck auf gute Voraussetzungen und Eignung zu legen.
Auch die materiellen Voraussetzungen sind besser geworden. In den vergangenen fünf Jahren ist der Verteidigungshaushalt im Durchschnitt jährlich um 10 % gewachsen. Der negative Trend beim Investitionsanteil konnte nicht nur gestoppt, sondern sogar umgekehrt werden. 1974 standen 32 % des Verteidigungshaushaltes für Investitionen zur Verfügung. Das wird auch 1975 so sein.
Die neue Ausbildungs- und Bildungskonzeption für Offiziere und Unteroffiziere bietet die Gewähr dafür, daß die Männer, von denen die erfolgreiche Verwirklichung der neuen Wehrstruktur abhängt, ihre Aufgaben mit einem Höchstmaß an Ausbildung und Bildung erfüllen können.
Wichtig ist auch, daß die Bundesregierung und der Gesetzgeber ein Netz sozialer Sicherungen und Leistungen geschaffen haben, daß die Fürsorge, zu der der Staat verpflichtet ist, dem Soldaten deutlich macht, jedenfalls deutlicher, als ihm das früher bewußt geworden ist. Ich halte es, gerade wenn ich viele Indikatoren sehe, die es in der westlichen Welt gibt, die auch in den letzten Wochen hörbar und sichtbar geworden sind, für einen bedeutsamen Erfolg, daß das Konzept von der Inneren Führung durch eine entsprechende Gesetzgebung für die sozialen Belange der Soldaten seine Abrundung und Ausfüllung erhalten hat.
Ohne das hier mit weiteren verfügbaren Einzelheiten zu belegen, möchte ich daher feststellen, daß die Bundeswehr mit Selbstsicherheit und mit Selbstbewußtsein an ihre Aufgabe herangeht und auch herangehen kann.
Mit der neuen Wehrstruktur stellt sich die Bundesregierung aber auch voll auf die internationale Entwicklung ein. Seit 1969 hat sich die Bundesregierung konsequent darum bemüht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Entspannung und an der Suche nach einem Ausgleich zwischen Ost und West mitzuwirken. Das wird auch künftig so geschehen. Das muß mit klarer Zielstrebigkeit und ohne Illusionen geschehen und darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion und des Warschauer Paktes uns nach wie vor ernste Sorgen bereiten. Wir erwarten, daß die Staaten des Warschauer Paktes ihren Willen zur Entspannung durch eine entsprechende Verteidigungs politik konkretisieren und sichtbar machen.
({2})
Es wäre schon viel gewonnen, wenn auch im Osten die Fähigkeit zur Offensive - das ist die Fähigkeit zur Bedrohung anderer Staaten mit Offensivkräften ({3})
zugunsten der Fähigkeit, sich nur verteidigen zu können, etwas variiert und zurückgestellt würde.
({4})
Dies wäre ein Signal, das im ganzen Westen hoch eingeschätzt würde und das sicher in die richtige Richtung zeigen würde.
Solange beiderseitige ausgewogene Truppenverminderungen zwischen Ost und West aber nicht vereinbart sind, bleibt es Aufgabe der Allianz, in ihren Verteidigungsanstrengungen nicht nachzulassen. Solange das nicht geschehen ist, bleibt es bei der besonderen Lage der Bundesrepublik eine unserer wichtigen Aufgaben, unseren Teil zur gemeinsamen Sicherheit angemessen und ausreichend beizutragen. Entspannung ist wichtig und wird hoch eingeschätzt. Militärische Vorsorge ist unerläßlich und gehört zur Existenz. Beides bedeutet Sicherheit; keines von beiden kann jeweils das andere ersetzen oder überflüssig machen.
Die neue Wehrstruktur strebt an, das auch für die vor uns liegende Zeit zu gewährleisten. In der Erfüllung dieser Aufgabe müssen wir auf rationelles Vorgehen bedacht sein und uns alle vor unnötigen Aufwendungen, die aus Zersplitterung und VerBundesminister Leber
schiedenartigkeit im Bereich der Beschaffung herrühren, bewahren.
Ich begrüße es daher in diesem Zusammenhang ausdrücklich sehr, daß die Vereinigten Staaten sich entschieden haben, das deutsch-französische Waffensystem Roland zu beschaffen. Wir sind den Vereinigten Staaten dankbar, daß sie diese Entscheidung getroffen haben, die in vielerlei Hinsicht ein Signal und ein Symbol für mehr Gemeinsamkeit sein kann und deshalb von uns auch so hoch eingeschätzt wird. Ich sehe darin einen Hinweis für den Willen der Vereinigten Staaten, die Probleme der Standardisierung und der Rationalisierung in fairer Partnerschaft mit den europäischen Bündnispartnern zu lösen und das Einbahnstraßendenken dabei aufzugeben.
Mit aller gebotenen Zurückhaltung möchte ich hier betonen, daß die Bundesregierung durch ihre konsequente Politik gerade in Richtung auf mehr Standardisierung den Weg geebnet hat, der schließlich zu der von den Vereinigten Staaten getroffenen Entscheidung geführt hat.
Die neue Wehrstruktur wird in einer Zeit realisiert, in der die beiden Großmächte nukleare Parität erreicht und auch nukleare Parität deklariert haben, in einer Zeit, in der sie ihren Versuch fortsetzen, das nuklear-strategische Wettrüsten zu begrenzen.
Vor diesem Hintergrund erhält die konventionelle Verteidigung im Rahmen des westlichen Verteidigungskonzeptes noch mehr Bedeutung als bisher. Nur wenn unsere konventionelle Fähigkeit, uns zu verteidigen, glaubwürdig bleibt, bleibt auch das Gesamtkonzept, das auf Sicherung des Friedens angelegt ist, glaubwürdig. Diese Gesamtkonzeption ist aber auch wesentlich davon abhängig, daß die Vereinigten Staaten von Amerika aus eigenem Interesse die nuklear-strategische Abschreckungskomponente verfügbar halten.
Es ist deshalb von hohem sicherheitspolitischem Wert für unser Land, daß die amerikanischen Bündnispartner in unserer neuen Wehrstruktur eine solche Verbesserung unseres konventionellen Verteidigungsbeitrages sehen, eine Verbesserung, die es den Vereinigten Staaten leichter und vertretbarer macht, das nukleare Risiko auch weiterhin zu tragen und vor dem eigenen Volk zu rechtfertigen.
Mit der neuen Wehrstruktur dokumentiert die Bundesregierung ihre Entschlossenheit, anerkannt handlungsfähiges Mitglied im Atlantischen Bündnis zu bleiben, den Versuch zur Entspannung auf der Grundlage unverminderter Sicherheit fortzusetzen, den Verfassungsauftrag zur Landesverteidigung gewissenhaft zu erfüllen und die Bundeswehr zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch für das Ende dieses Jahrhunderts zu befähigen.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wörner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Die nunmehr seit 14 Monaten andauernden Diskussionen und Beratungen in der Öffentlichkeit und hier im Parlament über die neue Wehrstruktur haben sich nach unserer Auffassung gelohnt. Dies aus zwei Gründen:
Zum ersten ist es uns gelungen, in diesen Beratungen eine breite gemeinsame parlamentarische Basis zwischen Regierung und Opposition für eines der bedeutsamsten Gesetzesvorhaben im Bereich der Verteidigung zu finden. Damit wird - und ich meine, daß das von allen Seiten dieses Hauses zu begrüßen ist - erneut sichtbar, daß es bei allem, was uns sonst trennen mag, im Bereich der Sicherheitspolitik einen tragfähigen Bestand gemeinsamer Grundüberzeugungen zwischen der Regierung und der Opposition gibt. Dies liegt sowohl im nationalen Interesse wie auch im Interesse der Bundeswehr.
({0})
Zweitens: Die Vorstellungen der Bundesregierung zur Wehrstruktur sind im Laufe der Beratungen in wesentlichen Punkten korrigiert und damit entscheidend verbessert worden. Das erst hat die Voraussetzungen für die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geschaffen. Die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung war es, die Zahl der diensttuenden Soldaten von 495 000 Mann um 30 000 zu verringern und durch Soldaten in Verfügungsbereitschaft zu ersetzen. So heißt es in der Gesetzesbegründung - ich will mir weitere Zitate schenken; ich könnte sehr viele bringen -: „Das Änderungsgesetz sieht eine neue Form der Verfügungsbereitschaft vor, auf Grund derer ein Teil des Friedensumfangs der Bundeswehr durch Angehörige der Verfügungsbereitschaft gestellt und dementsprechend die Zahl der ständig im Dienst befindlichen Soldaten herabgesetzt werden kann." Die Umstellung, also auch die Reduzierung, sollte bis 1978 vollzogen sein, und das, Herr Minister, ausdrücklich ohne Rücksicht auf MBFR-Ergebnisse.
Sie spielen nun verständlicherweise - keiner wird Ihnen das übel nehmen - die Melodie: Wir haben das immer schon so gewollt. Das mag ja sein. Gesagt haben Sie jedenfalls, auch in diesem Hause, das exakte Gegenteil.
({1})
Wenn Sie schon so vorgehen, muß ich Ihnen wenigstens ein Zitat mit Ihren eigenen Worten vorhalten. Sie haben damals in 'der ersten Lesung des Gesetzes auf meinen Einwand im Plenum erklärt, daß Sie die 30 000 Mann in die Verfügungsbereitschaft auch dann schicken würden, wenn MBFR noch keine Ergebnisse gezeitigt habe. Sie haben mir ausweislich des Protokolls vom 29. November 1973 entgegengehalten, ich müsse doch auch wissen, daß MBFR vermutlich Jahre daure; und dann - ich zitiere jetzt wörtlich -:
Wenn nun MBFR in fünf bis sechs Jahren nicht zu Ende ist, dann wird die Bundeswehr bis dahin eben ausgezehrter sein als heute. Deshalb müssen wir ohne Rücksicht auf das, was vor uns liegt, strukturelle Veränderungen vornehmen, damit wir am Ende von MBFR nicht mit Pfeil und Bogen dastehen.
Das ist ja wohl ganz eindeutig das Gegenteil dessen, was Sie heute sagen. Ich sage das nicht aus Rechthaberei; denn unser Widerstand, der Widerstand der CDU/CSU, richtete sich exakt gegen die Absicht, die Verfügungsbereitschaft vor MBFR-Gesprächen, wie lange sie auch immer dauern sollten, zur Verringerung der faktischen Präsenz der Bundeswehr einzusetzen. Ich habe damals - ich darf das mit Genehmigung der Frau Präsidentin noch einmal zitieren - für die CDU/CSU-Fraktion erklärt:
Ist die internationale Sicherheitslage wirklich so, daß sie der Bundesrepublik Deutschland eine zahlenmäßige Verringerung ihrer Streitkräfte gerade zum jetzigen Zeitpunkt erlaubt? Die Antwort darauf kann doch eigentlich nur lauten: Nein. Wenn es überhaupt einen Zeitpunkt gibt, zu dem eine solche Ankündigung der Bundesregierung nicht nur politisch unzweckmäßig, sondern in ihren Auswirkungen - und zwar sowohl auf das Bündnis als auch auf die Sowjetunion und nicht zuletzt auf die Wiener Abrüstungsverhandlungen - gefährlich, ja, sogar verhängnisvoll ist, dann ist es dieser gegenwärtige Zeitpunkt.
Und unser Kollege Ernesti hat namens unserer Fraktion in der ersten Lesung des Gesetzes am 10. Oktober 1974 diese Bedenken noch einmal bekräftigt und zusammengefaßt. Er hat gesagt:
Wir sind bereit, im Interesse einer ausgewogenen Sicherheitspolitik, unsere Zustimmung zu allen geeigneten Maßnahmen zu geben, sofern diese der sicherheitspolitischen Lage gerecht werden. Dem vorliegenden Gesetzentwurf
- also dem, den wir heute beraten -
allerdings müssen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt unsere Zustimmung versagen, weil
a) angesichts steigender Rüstungsanstrengungen des Warschauer Paktes eine Verringerung des Bundeswehrumfanges das Ungleichgewicht zu Lasten der NATO verstärkt;
b) die Verringerung einheimischer Streitkräfte wesentlicher Verhandlungsgegenstand der MBFR-Verhandlungen in ihrer zweiten Phase sein wird und solchen Gesprächen nicht vorgegriffen werden darf;
Nunmehr haben Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, für die Regierung zu unserer Befriedigung erklärt, daß Sie nicht beabsichtigen, vor befriedigenden Ergebnissen von MBFR-Verhandlungen die Zahl der diensttuenden Soldaten der Bundeswehr durch die Einführung der Verfügungsbereitschaft zu verringern. Die CDU/CSU-Fraktion geht davon aus, daß die Frage, ob ein MBFR-Ergebnis befriedigend ist oder nicht, einverständlich zwischen den Parteien beantwortet werden wird. Damit ist für uns das entscheidende Hindernis für unsere Zustimmung aus dem Wege geräumt.
Nun haben Sie eine Bemerkung gemacht, auf die ich doch eingehen muß. Herr Minister, beide Teile - sowohl Sie als auch die Verhandlungskommission der CDU/CSU als auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - haben zu dieser Einigung beigetragen. Ich gehörte nicht zu denen - und ich werde auch nicht zu denen gehören -, die nun in einen kleinkarierten Streit darüber ausbrechen, wer hier der Sieger sei und wer der Besiegte. Ich habe - Sie hatten ja einen Ihrer Sprecher in der Pressekonferenz, der Ihnen das wahrscheinlich sogar berichtet haben wird - immer davon gesprochen und spreche auch hier davon, daß in diesem Ringen um eine Einigung die Vernunft den Sieg davongetragen hat.
({2})
Wenn Sie jetzt allerdings mit dem Beispiel des Knochens kommen, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich über lange Strecken der Verhandlungen hinweg den Eindruck hatte, daß wir Ihnen helfen mußten, den Knochen aus Ihrem Hals herauszuholen.
({3})
Das wollen wir hier doch nicht ganz unter den Tisch fallen lassen.
Wir sind jedenfalls zufrieden, daß die Verteidigungskraft der Bundesrepublik Deutschland ungebrochen bleibt, daß Präsenz und Kampfkraft der Bundeswehr voll erhalten bleiben. Die Zahl der diensttuenden Soldaten wird nicht verringert und bleibt bei 495 000 Mann.
Durch diesen Beschluß, die Verfügungsbereitschaft nicht zur Verringerung der Bundeswehr einzusetzen, wird der sicherheitspolitischen Lage, der internationalen Lage, die ja schwieriger geworden ist, Rechnung getragen, er bringt die Bundesrepublik Deutschland keine einseitigen Vorleistungen für die MBFR-Verhandlungen, wird der Forderung der USA nach ungeschmälerter konventioneller Verteidigung von seiten der Bundesrepublik Deutschland Rechnung getragen, wird dem Bündnis ein Beispiel gegeben und wird der Sowjetunion signalisiert, daß wir nicht bereit sind, uns militärischem oder politischem Druck zu beugen, und daß wir eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu unseren Ungunsten und zugunsten des Warschauer Pakts nicht hinzunehmen bereit sind.
Die westliche Welt, das Atlantische Bündnis und insbesondere die Staaten Westeuropas durchlaufen gegenwärtig eine äußerst kritische Phase ihrer Geschichte. Von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, von Rezession, Arbeitslosigkeit und Inflation heimgesucht, unter 01- und Rohstoffverteuerung leidend und in Sorge um ihre künftige Energieversorgung drohen unseren Staaten soziale Unruhen, gesellschaftliche Destabilisierung und damit auf lange Sicht möglicherweise Autoritätskrisen ihrer demokratischen Ordnung. Eine solche Landschaft der Unstabilität ist besonders krisenanfällig und lädt gerade darum zum Mißbrauch politischer und militärischer Macht ein.
Wir alle wissen ja, daß die sowjetische Führung auf diese Unstabilität im westlichen Lager zählt, daß sie von der „Krise des Kapitalismus" redet und daß sie entschlossen ist, unsere Schwierigkeiten hier im Westen zu ihrem Vorteil auszunutzen. Wenn
darum Westeuropa verhindern will, daß es zum Opfer politischen Drucks wird, der sich auf überlegene militärische Macht gründet, dann muß es alles daran setzen, das militärische Gleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten. Zur wirtschaftlichen und sozialen Unstabilität darf nicht auch noch die militärische treten.
({4})
Ich füge noch ein zweites hinzu: Die gebieterische Notwendigkeit, das Kräfteverhältnis ausgeglichen zu halten, wird noch durch Entwicklungen unterstrichen, die in der sowjetischen Politik und möglicherweise auch in der sowjetischen Führungsspitze gegenwärtig vor sich gehen. Niemand von uns weiß, was sich im Kreml wirklich tut, niemand weiß, ob die Aufkündigung des sowjetisch-amerikanischen Handelsvertrages einen völligen Kurswechsel der sowjetischen Politik signalisiert. Sicher ist, daß die Atmosphäre zwischen den beiden Supermächten kühler geworden ist, und damit können auch Rückwirkungen auf die europäische Szenerie nicht ausgeschlossen werden.
Totalitäre Staaten - das ist eine historische Erfahrung - neigen dazu, von inneren Schwierigkeiten durch außenpolitischen Krisenkurs abzulenken. Eine denkbare sowjetische Führungskrise muß zwar nicht, aber sie kann sehr wohl die Versuchung zu riskanten außen- und militärpolitischen Manövern verstärken. Daher ist es gegenwärtig doppelt notwendig, daß der Westen Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft zeigt und demonstriert, um gar nicht erst solche Versuchungen aufkommen zu lassen.
({5})
Ungebrochene Verteidigungskraft bleibt - ich nehme an, daß das zwischen uns einverständlich ist - die wesentliche Voraussetzung für Entspannungsbemühungen. Dem entspricht der gemeinsame Beschluß, den wir hier heute fassen.
Wir, auch wir von der CDU/CSU-Fraktion, bleiben zu ausgewogener kontrollierter Abrüstung bereit, bei der allerdings Leistung und Gegenleistung im Gleichgewicht stehen müssen. Aber niemand soll glauben, daß er nur lange genug zu warten braucht, um uns zu einseitiger Abrüstung zu bewegen. Das ist - wie ich meine - das Signal, das wir mit diesem Beschluß geben und von dem wir hoffen, daß es in der Sowjetunion gehört und auch verstanden wird.
Ich sage ein Weiteres. Das verständliche Drängen unserer amerikanischen Bündnisgenossen geht in Richtung auf eine Verstärkung der konventionellen Kampfkraft in Westeuropa. Dieses Drängen ist berechtigt; wir haben uns darüber bei der letzten Aussprache über die NATO-Konferenz unterhalten und verständigt. Eine Verringerung der Bundeswehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt - unter welchem Vorwand oder welchem Stempel auch immer - wäre nicht ohne nachteilige Folgen für die amerikanische Bereitschaft zur Verteidigung Europas geblieben. Auch aus dieser Sicht entspricht der Beschluß, den wir heute fassen, unserer nationalen Interessenlage, und wir gehen davon aus, daß die USA das erkennen und weder ihren atomaren Schutz noch ihre konventionelle Präsenz für und in Europa mindern werden.
Schließlich - um das noch als letzten Punkt anzuführen - haben wir unseren Partnern im Bündnis gezeigt, daß der Ausweg aus wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten in der gegenwärtigen Lage nicht in einer Verringerung von Streitkräften bestehen kann.
({6})
Wir hoffen, daß dieses Beispiel, das wir geben, im Bündnis nicht ohne Wirkung bleibt. Ich sage das vorwiegend im Blick auf manche unserer europäischen Bündnispartner.
Die Bundeswehr bleibt nunmehr bei 495 000 Mann Diensttuenden. Sie wird durch die Verfügungsbereitschaft nicht verringert werden. Sie wird aber auch nicht vergrößert werden. Auch das sage ich in aller Deutlichkeit. Dennoch hat die Verfügungsbereitschaft einen Sinn als Instrument. Sie ist, richtig und rechtzeitig eingesetzt, ein taugliches Instrument des Krisenmanagements, und sie schafft mehr Handlungsspielraum und mehr Flexibilität für jede deutsche Bundesregierung. Unser Vorschlag wäre es deswegen, sie bereits frühzeitig zu üben.
Die wesentliche Begründung, Herr Minister, für das Gesetzesvorhaben war ursprünglich die beabsichtigte Kosteneinsparung im Personalbereich. So heißt es im Text der Gesetzesbegründung:
Das Änderungsgesetz soll es der Bundeswehr ermöglichen, die Personalkosten zu senken und dafür die Ausgaben für die Modernisierung des Materials zu erhöhen . . . Insgesamt werden durch die Verringerung der Zahl der im Frieden ständig Dienst leistenden Soldaten Personalkosten gespart. Die eingesparten Mittel werden für die Investitionen verfügbar.
Wir haben uns immer über die Höhe der Einsparungen gestritten, die durch diese Maßnahmen erzielt werden können. Nun, da wir uns darauf verständigt haben, die Zahl der diensttuenden Soldaten entgegen der ursprünglichen Absicht - jedenfalls vor befriedigenden MBFR-Gesprächen - nicht zu verringern, gibt es diese Einsparungen nicht.
Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion deutlich machen, daß wir aber auch nicht bereit sind, eine Verringerung des Investitionsanteils am Verteidigungsetat hinzunehmen und damit die Modernisierung der Bundeswehr zu gefährden. Das heißt aber - und ich möchte das ganz bewußt hier aussprechen; das gehört zu dem Maß an Klarheit, das unser Volk von uns erwarten kann -: es muß in den nächsten Jahren, spätestens ab 1978 - denn da wollten Sie ja die Sache abgeschlossen haben - der Verteidigungsetat zusätzlich die Mittel erhalten, die man durch die Verringerung des Personalbestandes einzusparen hoffte. Wir brauchen uns hier nicht über den Betrag zu streiten. Es haben Schätzungen stattgefunden; und die Differenzen zwischen uns gingen von 180 Millionen bis hin zu 240 Millionen. Aber ob nun 180 oder ob 240 Millionen: niemand kann behaupten, daß ein solcher Betrag nicht bei
gutem Willen aufgebracht werden könnte. So viel muß die unverminderte Sicherheit unserem Volke wert sein.
({7})
Es versteht sich von selbst, daß wir verstärkt nach Kosteneinsparungen auf anderen Feldern der Verteidigung suchen müssen. Auch hier können Sie mit unserer Unterstützung rechnen. Folgende Maßnahmen - ich sagte das schon an anderer Stelle, und möchte das hier bewußt wiederholen - sind nach unserer Auffassung möglich und erforderlich: Arbeitsteilung im Bündnis, Standardisierung der Waffen, Zusammenfassung teilstreitkraftgemeinsamer Aufgaben, Besetzung ziviler Dienstposten etwa durch Wehrpflichtige, ohne daß deshalb Entlassungen erfolgen müssen, und schließlich Übertragung von Zuständigkeiten und Verantwortung von oben nach unten, so wie das die bewährte Auftragstaktik im militärischen Bereich vorsieht. Nur so kann im übrigen auch die Bürokratisierung, die es in der Bundeswehr immer noch gibt, abgebaut und vermindert werden.
Herr Minister, Sie reden vom Sparen, und wir reden vom Sparen. Und manchmal haben Sie einen Zungenschlag, als ob man jetzt erst entdeckt hätte, daß man sparen müsse. Ich möchte Sie daran erinnern, es gibt seit langem in Ihrem Hause eine Kommission, die über Dienstposten nachdenken soll, die eingespart werden können - etwa durch Zusammenlegung, durch Neugliederung, durch Straffung -; wir fragen: wo bleibt das Ergebnis? Wir hätten gern darüber mal etwas im Verteidigungsausschuß gehört.
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Ganz besonders dringlich sind - und da gibt's ja keine Meinungsverschiedenheiten - Anstrengungen zur Standardisierung und Rationalisierung der Waffensysteme im atlantischen und vor allem im europäischen Bereich. Auch ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion ganz ausdrücklich die Entscheidung der amerikanischen Regierung begrüßen, mit „Roland" ein europäisches Waffensystem für die amerikanische Armee einzuführen. Wir haben immer gesagt: Standardisierung kann keine Einbahnstraße sein; Standardisierung muß aber bedeuten, daß konkurrenzfähige oder gar bessere europäische Waffensysteme eine Chance haben müssen. Hier ist der erste Beweis, daß die Amerikaner darauf einzugehen bereit sind, und wir nehmen das ebenso wie Sie dankbar zur Kenntnis. Ich möchte allerdings meinen, daß die Bundesregierung gut beraten wäre, im Bündnis weiterzudrängen und vor allen Dingen auch Impulse zu geben.
Herr Leber, Sie haben wahrscheinlich die Rede des belgischen Außenministers van Elslande, die er, glaube ich, am 5. Dezember in Paris gehalten hat, zur Kenntnis genommen. Ich bin der Auffassung, daß diese Rede eine ganze Reihe wertvollster Anregungen enthält, und ich würde es dankbar begrüßen und wir alle würden es gern sehen, wenn die Bundesregierung einige dieser Anregungen aktiv aufgreifen würde, um sichtbar zu machen, daß er damit nicht allein steht.
Die Bundesregierung hat ursprünglich angekündigt, sie wolle im Rahmen der neuen Wehrstruktur die Wehrbereichskommandos auflösen. Damit wären nach Auffassung unserer Fraktion - wie der Kollege Ernesti das bei der ersten Lesung dargestellt hat - unerträgliche Nachteile für die zivil-militärische Zusammenarbeit verbunden gewesen. Wir waren nicht gewillt, das hinzunehmen - nicht nur wir von der Bundestagsfraktion, sondern auch die von der CDU/CSU regierten Bundesländer.
Die Regierung hat nunmehr erklärt, daß die Wehrbereichskommandos bestehenbleiben. Die entsprechenden Strukturen und Einrichtungen werden gegebenenfalls nur im Einvernehmen mit den betroffenen Bundesländern verändert. Auch diese Entscheidung der Bundesregierung erleichtert uns die Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetz.
Was nun, um zum letzten Teil der Wehrstruktur zu kommen, die vorgesehene Änderung der Truppenstruktur anlangt, so ist hier nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion ein abschließendes Urteil noch nicht möglich. Es gibt Maßnahmen, denen wir von vornherein zustimmen. Das möchte ich gleich klarmachen. Ich nenne z. B. die Vermehrung der Zahl der Brigaden, ich nenne die Zusammenfassung teilstreitkraftgemeinsamer Aufgaben, ich nenne die Verstärkung der Feuerkraft, und ich nenne schließlich die Aufforstung der Jägerbrigaden durch gepanzerte Elemente.
Es gibt allerdings andere Planungen im Rahmen der neuen Wehrstruktur, wie etwa die Verkleinerung von Kompanien oder die Zusammenfassung der Personalführung beim Bataillon, die eine Fülle von Fragen aufwerfen, die eben noch nicht geklärt und vor allen Dingen nicht damit beantwortet sind, daß man zwei Bataillone für zwei oder drei Wochen dieses Modell auf dem Übungsplatz hat durchspielen lassen.
Ich möchte hier einige Fragen nennen, zunächst einmal die Frage: Bleiben die kleineren Einheiten uneingeschränkt funktionsfähig? Wie erfolgt die Reservebildung in Truppenübungen, im Einsatz? Kann die bewährte Auftragstaktik beibehalten werden? Welche Infrastrukturprobleme bei Unterkunftsgebäuden ergeben sich durch die Veränderung der Kompaniestärken? Wie wirken sich Kommandierung, Krankheit, Urlaub usw. von Soldaten auf die personell ohnehin verkleinerten Einheiten aus? Welche Probleme gibt es bei der Gestellung des Personals für Wach- und Bereitschaftsdienst? Welche Auswirkungen haben Ausfälle bei Kraftfahrzeugen, bei Waffen und Gerät für den Stand der Einsatzbereitschaft einer Kompanie bei einer ohnehin verminderten Materialausstattung, wenn Sie etwa an die neue Panzerkompanie denken? Werden die verkleinerten Einheiten und Verbände angesichts der veränderten Relation von Kampf- zu Stabs- und Versorgungssoldaten nicht kopflastig und weniger kosteneffektiv? Auch das ist eine Frage, die geprüft werden muß.
Nach unserer Auffassung können diese Fragen abschließend erst beurteilt und bewertet werden, wenn das gründlich erprobt ist.
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Ich sage noch einmal: Es wäre nach unserer Auffassung ein kapitaler Fehler, das gesamte Heer bereits jetzt umzugliedern, noch ehe wir wissen können, ob sich die geplanten Änderungen bewähren werden.
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Die Bundeswehr hat - ich sage das gar nicht nur im Blick auf die letzte Bundesregierung - in der Vergangenheit allzuoft darunter zu leiden gehabt, daß ihr Änderungen überstürzt aufgezwungen wurden, die am grünen Tisch entworfen waren, die sich in der Praxis als unzweckmäßig erwiesen haben und dann wieder korrigiert werden mußten. Das hat diese Bundeswehr in eine im Grund genommen unerträgliche Unruhe gebracht. Am besten wäre es an sich, wenn diese Bundeswehr für einige Jahre in Frieden und in Ruhe gelassen werden könnte.
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Daß das nicht immer geht, wissen auch wir; die Dynamik der Entwicklung zwingt uns gewisse Änderungen auf. Nur: Wenn wir solche Änderungen vornehmen, sollten wir durch gründliche und rechtzeitige Übung und Erprobung sichergestellt haben, daß das auch in der Praxis klappt.
Deswegen haben wir von seiten der CDU/CSU von Anfang an gefordert, die neue Truppenstruktur erst in einem etwa einjährigen Versuch mit einem Großverband oder mit mehreren Großverbänden zu erproben, ehe über ihre endgültige Einführung in der gesamten Bundeswehr entschieden wird. Sie haben dem zugestimmt. Ich möchte allerdings betonen - lassen Sie mich das nicht so sehr an Ihre Adresse als vielmehr an die Adresse der militärischen Führung sagen -, daß eine solche Erprobung nur dann einen Sinn hat, wenn sie zum einen unter realistischen Bedingungen erfolgt und wenn zum anderen das Ergebnis des Versuchs nicht schon von vornherein feststeht.
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Die Bundeswehr - um noch auf ein paar Bemerkungen einzugehen, die Sie gemacht haben - ist auch nach unserer Auffassung eine kampfkräftige und im großen und ganzen modern ausgestattete Armee. Sie dankt dies nicht zuletzt dem ungebrochenen Einsatzwillen ihrer Berufs- und Zeitsoldaten, aber auch - das möchte ich in diesem Zusammenhang sagen - der Einsatzbereitschaft vieler Wehrpflichtiger, die, wenn sie richtig gefordert und richtig geführt werden, durchaus auch ihren Mann stehen.
Keiner, der die Bundeswehr kennt, kann allerdings über ihre Schwächen und über die Schwächen unseres Verteidigungssystems hinwegsehen. Dies ist nicht der Ort und die Zeit, darauf einzugehen. Ich sage das nur, weil ich feststellen möchte, daß keiner der Bundeswehr einen Gefallen tut, im übrigen auch sich selbst nicht, der sich und ihr einredet. sie sei noch nie so gut gewesen.
Irreführend, Herr Verteidigungsminister, sind besonders die Behauptungen, der Bundeswehr gehe es materiell besser. Auch Sie hatten in Ihrer jetzigen Rede wieder eine solche Passage. Der ständige Rückgang der Verteidigungsaufwendungen, gemessen am Bruttosozialprodukt, gemessen am Gesamthaushalt, zwingt doch, wie jeder Kundige weiß - wir im Verteidigungsausschuß kriegen es ja auch gelegentlich wenigstens zu hören -, ständig dazu, Beschaffungsprogramme zu strecken, zu streichen oder zahlenmäßig zu beschneiden. Natürlich, niemand würde in der Lage sein, nun alle Wünsche zu erfüllen, die es von militärischer Seite gibt. Das zuzugestehen, ist etwas ganz anderes, als zu behaupten, es gehe ihr materiell von Jahr zu Jahr besser. Schauen Sie sich doch einmal die Steigerungsrate des Verteidigungsetats im Jahre 1975 an. Wenn Sie die Personalverstärkungmittel außen vor lassen, stellen Sie fest, daß die Verstärkung ganze 3,6 Prozent beträgt. Das reicht noch nicht einmal aus, um auch nur die Hälfte der Inflationsrate und der Kostensteigerungen abzudecken. Und dann sagen Sie: Es geht jedes Jahr materiell besser. Das kann doch ganz einfach nicht stimmen.
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Erfreulich, auch für uns erfreulich, ist die Verbesserung der Personallage durch die wachsende Verpflichtungsbereitschaft. Ich füge ausdrücklich „für uns" hinzu. Niemand wäre glücklicher als die CDU/ CSU, wenn sich darin eine wirkliche Tendenzwende der Einstellung der jungen Generation zur Bundeswehr ankündigte. Es mag sein, daß das so ist. Wir haben lange, über die ganzen Jahre hinweg, im Unterschied zu manchen anderen für eine solche Tendenzwende in der Einstellung der jungen Generation gekämpft. Aber keiner von uns sollte doch übersehen, ehe er zu vorschnellen Schlußfolgerungen kommt, daß möglicherweise die konjunkturelle Lage und die Überfüllung etwa unserer allgemeinen Hochschulen dabei die größere Rolle spielen könnten. Ich hatte gerade jetzt wieder ein Gespräch mit einigen Ausbildern in der Bundeswehr. Sie waren übereinstimmend der Auffassung, daß dafür vor allen Dingen wirtschaftliche Motive maßgebend seien. Darüber brauchen wir nicht zu rechten. Wenn es erste Anzeichen einer günstigeren Einstellung zur Bundeswehr gibt, dann können wir alle darüber froh sein.
Den Versuch allerdings, dieses Ergebnis auf die Mühlen der Regierung zu leiten, empfinde ich als nicht ganz berechtigt, um es vorsichtig auszudrücken.
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- Speziell die Koalitionsfraktionen haben dazu sicher am wenigsten beigetragen.
Ich kann es mir und vor allen Dingen auch Ihnen nicht ersparen, wieder einmal auf etwas hinzuweisen, was uns allen großen Kummer macht. Gestern erst erreichte mich eine Wahlkampfbroschüre der SPD aus Brück; ich habe sie hier. Darüber steht: „Bomben statt Bildung." Unter dieser Überschrift
wird massiv gegen die Verteidigungsanstrengungen der NATO zu Felde gezogen. Es wird gefordert, die Bundesregierung solle endlich die richtige Konsequenz aus ihrer eigenen erfolgreichen Ostpolitik ziehen und abrüsten. Solange dies an der Basis nicht unterbleibt, können Sie einfach nicht behaupten, daß die Tendenzwende, wenn es sie gibt, etwa Ihr Verdienst sei. Dafür haben andere gestritten.
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Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Forderungen der CDU/CSU in den drei Kernbereichen der Wehrstruktur sind erfüllt: Die Zahl der diensttuenden Soldaten wird nicht verringert; die Wehrbereichskommandos werden nicht aufgelöst; die neue Truppenstruktur wird vor ihrer Einführung gründlich erprobt. Unter diesen Voraussetzungen bereichert das Instrument der Verfügungsbereitschaft das Kriseninstrumentarium der Bundesrepublik Deutschland. Wir stimmen daher dem Gesetz zu. Der Deutsche Bundestag zeigt mit dieser seiner Entscheidung seine Entschlossenheit, in den Verteidigungsanstrengungen nicht nachzulassen und sie den gewandelten Anforderungen anzupassen. Wir bleiben zur Abrüstung bereit und zur Verteidigung fähig.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat die Regierungserklärung des Bundesministers der Verteidigung zur neuen Struktur der Bundeswehr am 29. November 1973 begrüßt und ihr damals auch schon vollinhaltlich zugestimmt. In den weiteren parlamentarischen Beratungen, im Ausschuß und im Plenum des Deutschen Bundestages, befürwortete die SPD-Fraktion die Neunte Novelle zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes, das uns nun heute zur endgültigen Verabschiedung vorliegt. Wir begrüßen deshalb die vorgesehene Änderung der Wehrstruktur. Die äußere und innere Organisation der Bundeswehr muß den jeweiligen außen- und gesellschaftspolitischen Erfordernissen entsprechen, die an sie gestellt werden.
Die SPD erkennt die sachliche Notwendigkeit der Verfügungsbereitschaft an. Wir sehen darin eine Maßnahme, die zugleich die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch eine Reform unserer Streitkräfte weiterhin gewährleistet und die Bedingungen für beiderseitige, gleichzeitige und gleichwertige Abrüstungen im Rahmen der MBFR-Verhandlungen ermöglicht. Wir werden deshalb der unveränderten Vorlage der Neunten Novelle zum Wehrpflichtgesetz zur Einführung der Verfügungsbereitschaft zustimmen.
Wir begrüßen es auch, daß die CDU/CSU-Fraktion inzwischen die Notwendigkeit der Verfügungsbereitschaft anerkannt hat und das Gesetz damit eine breite parlamentarische Mehrheit erhält. Ich bin der Überzeugung, daß die CDU/CSU - auch Herr Kollege Wörner hat das noch einmal angeführt - hier von einigen echten Mißverständnissen ihrerseits in der gesamten Debatte und Diskussion über diese Neunte Novelle ausgegangen ist. Die CDU/CSU hat, so scheint es mir, bezüglich des Zeitpunktes der Einführung der Verfügungsbereitschaft das „Kann" mit einem „Muß" verwechselt. Die SPD ging immer davon aus, daß sich die Bundesregierung - so hat sie es auch immer dargestellt - den Zeitpunkt der Einführung der Verfügungsbereitschaft vorbehält. Dieser Zeitpunkt richtet sich nach der internationalen und hier speziell der sicherheitspolitischen Lage. Das war der Kernpunkt der Regierungsaussage. Unter diesen Bedingungen hat die SPD ihre Zustimmung von Anfang an gegeben, und zwar in völliger Übereinstimmung mit dem Bundesverteidigungsminister.
({0})
- Warum, das ist ja keine Kulturschande?
Die sozialdemokratische Politik und besonders auch die sozialdemokratische Sicherheitspolitik wird hier nicht von taktischen Manövern bestimmt, sondern von einer langfristigen verantwortungsbewußten Vorsorgeplanung für diesen Staat, die ihn tragenden und beschützenden Einrichtungen wie die Bundeswehr und für seine Bürger. Gerade weil wir die Ergebnisse von MBFR nicht vorwegnehmen können, ist es notwendig, politische Voraussetzungen zu schaffen, welche die Entspannung ermöglichen und Sicherheit garantieren. Genau das, meine Damen und Herren, soll das Ergebnis von MBFR bringen: erhöhte Sicherheit für alle auf einem beiderseitigen niedrigeren Rüstungsniveau. Das ist die realistische Situation, in der sich unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, befindet. Deshalb aber ist es notwendig, Voraussetzungen zu schaffen, daß wir beiden fundamentalen Interessen gerecht werden, der Entspannung und der Sicherheit zugleich.
Die Konzeption der Verfügungsbereitschaft von den Vorarbeiten bis zur gesetzlichen Verabschiedung hat zwei Jahre lang gedauert, übrigens ohne einen einzigen konstruktiven Beitrag von Ihrer Seite - das möchte ich sagen -, während die SPD in ihrem Langzeitprogramm eine klare Aussage zu dem Thema „Wehrstrukturreform" trifft. Diese Zeitspanne macht das Maß an Vorarbeiten sichtbar. Es wäre deshalb politisch verantwortungslos, unvorbereitet in die MBFR-Verhandlungen hineinzugehen. Die Verfügungsbereitschaft dient genau diesem Zweck. Sie soll - dies sage ich noch einmal mit allem Nachdruck - MBFR-Ergebnisse weder vorwegnehmen noch in irgendeiner Form unterlaufen, sondern MBFR-offen sein. Sicherheitspolitik muß ohne taktische Winkelzüge und langfristig und verantwortungsbewußt angelegt sein. Die Sicherheitspolitik berührt existentiell Staat und Bürger
({1})
so unmittelbar, daß sie von taktischen Schwankungen und Augenblickserwägungen frei sein muß.
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Mit der Verfügungsbereitschaft geben wir Ihnen,
Herr Minister, den notwendigen HandlungsspielHorn
raum bei den MBFR-Gesprächen. Wir setzen gerade in Ihre Person das volle Vertrauen, unsere Politik der Sicherheit und der Entspannung hartnäckig und konsequent zu vertreten.
({3})
Die Verfügungsbereitschaft ist in diesem Sinne ein Element planender Vorsorge für die politische Entwicklung auf internationalem Gebiet. So wird sie auch von unseren NATO-Partnern verstanden, und so wird sie als beispielhaft begrüßt. Angesichts der wachsenden Schwierigkeiten, denen das Bündnis ausgesetzt ist, hat nicht nur die Bundesrepublik Deutschland mit der neuen Wehrstruktur ein Beispiel dafür gegeben, daß lange bestehende NATO-Forderungen wie z. B. die Aufstellung von 36 Brigaden, erfüllt wurden, sondern die neue Wehrstruktur soll auch insgesamt eine Anpassung an die NATO-Konzeption vornehmen.
Die SPD-Bundestagsfraktion teilt die Sorgen der Bundesregierung und besonders des Bundesverteidigungsministers über Vorgänge im Bündnis. Wir Deutschen haben gewiß kein Recht, andere Regierungen zu schulmeistern, aber wir sind zugleich auch verpflichtet, innerhalb der Partner die anstehenden Schwierigkeiten offen anzusprechen und nach gemeinsamen Wegen zu suchen, um sie zu überwinden. Struktur, Organisation und Form der Zusammenarbeit im Bündnis werden überprüft, und es ist zweifellos auch an der Zeit, sich dieser Probleme verstärkt anzunehmen.
Ich sehe in diesem Zusammenhang zwei Gefahrenpunkte, die wir ansprechen müssen, um Lösungen zu finden. Das Bündnis erfährt in Europa zunehmend eine Reduktion auf die Bundesrepublik Deutschland. Ein Teil unserer Bündnispartner - ich nenne Portugal und Griechenland - ist mit besonderen politischen Problemen behaftet, andere wie Italien oder England haben erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Bundesrepublik kommt damit in eine Situation, die weder von ihr verursacht noch gewollt ist. Aus übergeordneten politischen Gründen und wegen der Interessenlage aller Bündnispartner ist es deshalb notwendig, daß der Beitrag der übrigen europäischen NATO-Partner erhalten und verstärkt wird. Gerade wenn wir von Kooperation sprechen, muß dies auch hier Ausdruck finden, weil Kooperation auch im finanziellen Beitrag notwendig ist, um die Interessenlage gemeinsam zu verdeutlichen.
({4})
Hier müssen Modelle erarbeitet werden, und mir scheint, daß von der neuen Wehrstruktur und auch dem Gesetz über die Verfügungsbereitschaft Impulse ausgehen können.
Die zentrale Funktion der Bundesrepublik Deutschland legt ihr eine besondere Verantwortung hinsichtlich der Sorgfalt und der Ausgewogenheit auf. Auch wenn sich das Sicherheitsproblem zunehmend von der Ost-West-Achse auf die südliche Peripherie verlagert, so haben wir auch dort die Entspannungsversuche mitzutragen und müssen unsere Bündnispartner darin begleiten, da wir genauso wie sie von der politischen Entwicklung dort unmittelbar und mittelbar betroffen sind.
Die Resonanz, welche die Verfügungsbereitschaft gerade in der NATO-Spitze, aber auch bei den einzelnen Partnerstaaten gefunden hat, beweist, daß bei vernünftiger Planung höhere Sicherheit bei gleichen Kosten zu erreichen ist. Es geht ja nicht um einen Abbau von Kosten, sondern lediglich um eine Umverteilung der vorhandenen Finanzmittel. Insofern hoffen wir, daß die Anstrengungen der Bundesregierung auf diesem Gebiet über den nationalen Rahmen hinaus ein brauchbares Modell darstellen und zugleich auch Impulse für eine verstärkte Kooperation geben.
Die Verfügungsbereitschaft ist zum zweiten ein Element flexiblerer Sicherheitspolitik. Die Bundesrepublik Deutschland stellt sich mit den eingeleiteten Maßnahmen ihrer Wehrstruktur voll auf eine Entwicklung ein, die dem bloßen Defensivcharakter der Bundeswehr entspricht, so wie es im Weißbuch des Bundesverteidigungsministers auch entwickelt ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein paar Worte über den Bundestag hinaus an Leute richten, die uns mißverstehen oder auch mißverstehen wollen. Die Bundesrepublik Deutschland heizt den Rüstungswettlauf nicht an, aber sie hat ihre Verteidigungspolitik intensiviert. Das ist kein Widerspruch, sondern das ist in sich völlig logisch. Das Rüstungskonzept wurde insgesamt flexibler gestaltet. Wir können den Rüstungswettlauf im quantitativen Bereich, also etwa Panzer gegen Panzer oder Flugzeug gegen Flugzeug, nicht völlig starr durchhalten, aber wir sind in der Lage, gegen jeden Panzer hochmobile Panzerabwehrwaffen zu stellen, die wesentlich billiger sind, den defensiven Charakter der Bundeswehr betonen und unsere Sicherheit garantieren. Dazu gehört unter anderem auch die verstärkte Abwehrkraft der Gebirgsjägerdivisionen.
Ich darf in dem Zusammenhang eine Bemerkung zu den Ausführungen des Kollegen Dr. Wörner machen. Er sprach davon, daß diese Bundeswehr in Ruhe gelassen werden müsse, und gab den Hinweis, dies richte sich nicht nur gegen diese Bundesregierung, sondern auch gegen frühere Bundesregierungen. Ich glaube, das ist ein außerordentlich frommer Wunsch, Herr Kollege Wörner, denn die Entwicklung draußen in der Welt bleibt nicht stehen, sie geht weiter. Die neue Wehrstruktur muß gerade auf die Herausforderung der 80er Jahre hinsichtlich der technologischen Entwicklung eine Antwort geben. Wir werden in den 80er Jahren ein quantitativ und qualitativ völlig verändertes Angebot technischer Systeme haben. Das gesamte Bündel der Maßnahmen zur Veränderung der Wehrstruktur dient auch dem Ziel, die Bundeswehr darauf vorzubereiten.
({5})
Wir stimmen übrigens völlig damit überein, das
ist doch eine ganz klare Sache. Die Entwicklung der
inneren Struktur, der Bewaffnung unserer Bundeswehr ist im Grunde genommen ambivalent. Sie muß sich auf der einen Seite auf die Probleme zukünftiger Gefährdungen ausrichten, auf der anderen Seite darf sie aber keine verkrusteten Strukturen schaffen, die den Entspannungsbemühungen in irgendeiner Weise entgegenstehen.
({6})
Das ist die doppelte, die zweiseitige Form, die wir berücksichtigen müssen.
Die Leistungen der sozialliberalen Koalition für die Sicherheit unseres Landes sind jedenfalls eindeutig. Das möchte ich Ihnen sagen. Obwohl die Opposition ja gerne den Eindruck erweckt, solange sie in der Regierungsverantwortung stand, sei der Verteidigungshaushalt unablässig gesteigert worden, ergibt doch ein rückblickender Vergleich ein völlig anderes Bild. Sie wissen doch selbst: 1965/66 betrug die Steigerung für den Verteidigungshaushalt 1,1 %, 1967 auf 1968 sogar minus 12,1 %; in den Jahren von 1965 bis 1970 hatte der Verteidigungshaushalt eine durchschnittliche Steigerungsrate von 2,08 %, in den letzten fünf Jahren, zur Zeit der sozialliberalen Koalition, eine durchschnittliche Steigerungsrate von 9,92 %.
({7})
- Entschuldigen Sie bitte vielmals! Wenn Sie gerade den Hinweis auf die Inflationsrate geben, muß ich Ihnen antworten: Wenn Sie in einem Haushaltsjahr ein Minus von über 12 °/o aufzuweisen haben, plus eine Inflation, die Sie auch damals hatten, dann können Sie nicht sagen, daß das eine angemessene Form der Sicherheitspolitik war und dann können Sie uns heute nicht geringe Steigerungsraten vorwerfen. Das geht doch irgendwie nicht, meine Damen und Herren.
({8})
Es ist doch makaber, wenn die Opposition hier ihre Versäumnisse als Regierungspartei nun als Opposition wiedergutmachen will, indem sie auf weitere, aber diesmal völlig ungerechtfertigte Ausdehnungen des Haushaltes drängt. Wir haben beispielsweise keine Position - das wissen Sie auch - eingesetzt, die nachher als Soll-Überschuß hängenblieb; wie das zu Ihrer Zeit der Fall war. Unser Verteidigungshaushalt und die Sicherheitsmaßnahmen in diesem Bereich richten sich eindeutig nach dem Maßstab des Bedarfs, den die Bundeswehr für die Durchführung ihrer Aufgabe haben muß.
({9})
Ein weiterer Angriffspunkt ist es ja auch, den Anteil der Verteidigungsausgaben an den Gesamtausgaben des Bundes zu messen. Dazu muß eines klar gesagt werden. Die Entwicklung der Gesamtausgaben ist kein geeigneter Maßstab für die Bemessung des erforderlichen Verteidigungsanteils. Tatsächlich hat auch keine Bundesregierung einen bestimmten konstanten Anteil der Ausgaben für die Verteidigung aufgewendet, auch nicht CDU-Regierungen. Es kann ja auch schlechterdings gar nicht begründet werden, warum höhere Steuereinnahmen oder Mehrausgaben im Bildungsbereich oder beim Familienlastenausgleich zugleich auch höhere Sicherheitsausgaben nach sich ziehen sollten.
Es ist ein wesentliches Ziel der Wehrstruktur, ein ausgewogenes Verhältnis von Personalbestand und Waffen herzustellen. Wir haben für die Streitkräfte eines modernen Industriestaates und nicht eines weiträumigen Flächenstaates zu sorgen. Die sozialliberale Koalition kann und wird sich bei der Festlegung der Verteidigungsausgaben nur von dem tatsächlichen Bedarf der Streitkräfte leiten lassen.
Daß dieser Bedarf von den Rüstungsanstrengungen des Warschauer Paktes beeinflußt wird, ist selbstverständlich. Um eine annähernde Gleichgewichtssituation aufrechtzuerhalten, reicht es allerdings aus - ich zitiere -,
wenn unsere Verteidigungsfähigkeit deutlich macht, daß ein möglicher Gegner selbst bei zahlenmäßiger Überlegenheit keine Chance hat, uns seine politischen Ziele mit Gewalt aufzuzwingen,
wie es Bundesverteidigungsminister Leber formulierte. Das ist die politische Maxime, unter der wir
Sozialdemokraten unsere Verteidigungspolitik sehen.
({10})
Die Modernisierung der Streitkräfte ist ein besonderes Anliegen der sozialliberalen Koalition. Wir können heute feststellen, daß unsere Verteidigungsinvestitionen anteilmäßig, Herr Kollege Wörner, und absolut von keinem unserer Bündnispartner übertroffen wurden. Seit 1970 wurden einschließlich der Wehrforschung rund 28 Milliarden DM für die Modernisierung allein von Gerät und Waffen ausgegeben. Wenn Sie die Spezifikation lesen, sehen Sie, daß zur Hebung allein der Kampfkraft des Heeres Kampffahrzeuge für rund 3,5 Milliarden DM beschafft wurden - das bedeutet rund 600 weitere Kampfpanzer „Leopard" und 2 100 Schützenpanzer „Marder" -, und für einen vergleichbaren Betrag wurde Munition beschafft. Dann kann man nicht sagen, die Inflation habe alles weggefressen. Denn aus einem Minus kann ich nicht unsere Bundeswehr in adäquater Weise auch mit den entsprechenden Beschaffungsmitteln versorgen, die für die Auftragserfüllung notwendig sind.
({11})
Dies zeigt, daß wir unseren Soldaten neben dem geistigen Rüstzeug,
({12})
der verbesserten Ausbildung, auch die notwendigen Waffen geben, damit sie ihren Auftrag, nämlich Abschreckung zu leisten, damit Krieg verhindert wird, erfüllen können.
Ach, wenn Sie hier das Schlagwort „Bomben statt Bildung" bringen: Um Gottes willen, ich will jetzt nicht gleich zweimal hintereinander Herrn Strauß zitieren, ich will den Begriff „Operettenarmee" nicht gebrauchen, und ich möchte auch nicht wiederholen,
was er kürzlich in China gerade hinsichtlich der Freundschaft Bundesrepublik/Amerika gesagt hat. Meine Damen und Herren, hier gibt es Ausrutscher auf jeder Seite, die kann man nicht ideologisieren und verkrusten; man kann nicht nur eine einzige Seite da verantwortlich machen. Ich distanziere mich jedenfalls klar von einer solchen Broschüre, und das tut auch unsere Fraktion. Distanzieren Sie sich bitte in der gleichen Weise von den Ausrutschern von Herrn Strauß!
({13})
Die Verteidigungskraft der Bundeswehr stellt sich allerdings in demselben Maße im sozialen Sicherheitssystem dar, das diese Bundesregierung für die Bundeswehrangehörigen geschaffen hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Personalvertretungsgesetz, das zum erstenmal zu praktischen Lösungen von bundeswehreigentümlichen Problemen geführt hat, oder an die Verbesserung im Unterhaltssicherungsrecht, die ab 1. Januar 1975 zur Vermögensbildung für jeden Wehrpflichtigen beiträgt, an die Heimfahrten- und Wochenendkarten, durch die die Unfallziffern erheblich gesenkt werden konnten, oder an die Wohnungsfürsorge und an die Verbesserungen im Soldatenversorgungsrecht.
Meine Damen und Herren, Sie können diese Maßnahmen als klein oder als groß ansetzen, aber sie stellen ein Netz sozialer Sicherheit für die Bundeswehr dar, und das sollte nicht gering geachtet werden. Meutereien und Aufsässigkeiten in einem unserer Nachbarländer waren nicht auf ideologische Gründe zurückzuführen, sondern diese Formen der Unzufriedenheit sind wesentlich auf die sozialen Bedingungen und auf die geistige Struktur dieser Armee zurückzuführen. Aus diesem Grund ist das Netz sozialer Absicherung, innerhalb dessen der Soldat sich auch geborgen fühlt, unabdingbar wichtig und notwendig.
({14})
Der Generalinspekteur der Bundeswehr sagte im Tagesbefehl zum Jahreswechsel, die Stimmung in der Truppe sei gut. Ich glaube, jeder, der unmittelbare Erfahrung damit hat, kann sich diesem Urteil auch anschließen.
Ich möchte zum Schluß kommen und nur noch eines anmerken. Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich in diesem Zusammenhang ganz besonders dem Verteidigungsminister Georg Leber danken. Der Sozialdemokrat und Gewerkschaftler Georg Leber hat sich das Vertrauen der Soldaten aller Dienstgrade erworben. Er hat sich für die sozialen Belange der Soldaten eingesetzt, die Grundsätze der Inneren Führung verlebendigt und die Sicherheitspolitik dieses Staates verantwortungsbewußt vertreten.
({15})
Die Bedeutung der Verteidigungspolitik bemißt die Sozialdemokratische Partei auch an den Männern, die sie an die Spitze dieses Ministeriums stellt.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krall.
Frau Präsident! Meine sehr verehrte Dame! Meine Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät heute in zweiter und dritter Lesung die neunte Novelle des Wehrpflichtgesetzes, und er wird - das war ja hier bereits erkennbar - dieser Novelle einmütig, jedenfalls mit großer Mehrheit in der vorliegenden Fassung zustimmen.
Der harte Kern dessen, was wir hier beschließen wollen, ist die Einführung einer Verfügungsbereitschaft in der Bundeswehr. Und wie schon mein Kollege Graaff in der ersten Lesung am 10. Oktober des vergangenen Jahres, so möchte ich auch heute namens der Bundestagsfraktion der Freien Demokraten dem Gesetzentwurf und damit der Verfügungsbereitschaft zustimmen. Lassen Sie mich diese unsere Haltung etwas näher erläutern und auch begründen.
Dabei richte ich zunächst an den Bundesminister der Verteidigung ein Wort des Dankes. Er hat erstens Sinn für das politisch Machbare bewiesen. Zweitens hat er eine breite parlamentarische Grundlage für eine Initiative der Regierungskoalition zustande gebracht.
({0})
Drittens hat er - lassen Sie mich das auch noch sagen - für einen starken Rückhalt in der Verbündetenallianz gesorgt. Dafür herzlichen Dank, Herr Minister!
({1})
Nach Abschluß der NATO-Ratstagung, meine Damen und Herren, im Dezember vergangenen Jahres hat Außenminister Genscher in einer Regierungserklärung in eindrucksvoller Weise die Rolle der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis dargestellt. Mein Kollege Ronneburger hat hierzu in seinem Debattenbeitrag die übereinstimmende Meinung meiner Fraktion vorgetragen. Ich kann es mir daher ersparen, heute erneut auf diesen Komplex einzugehen.
Nur soviel sei gesagt: Unsere Bündnisrolle ist stabil und wird allseits - insbesondere von unseren Verbündeten - anerkannt. Hierfür gebührt besonders den verantwortlichen Ministern, nämlich Bundesaußenminister Genscher und auch Verteidigungsminister Leber, unser Dank für ihr erfolgreiches Verhandeln in Brüssel.
Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Sie sich diesem Dank anschließen können.
({2})
Denn Sie werden ja nicht ernsthaft in Abrede stellen können, daß der bilanzartige Rückblick auf die Sicherheitspolitik der Koalition in den letzten Jahren insgesamt einen positiven Trend widerspiegelt, auch wenn hier manchmal von Ihnen das Gegenteil behauptet wird.
Meine Damen und Herren, der Verteidigungsminister hatte sicher recht, als er sich nicht auf eine
einseitige fachpolitische Würdigung der Verfügungsbereitschaft beschränkte, sondern als er einen politisch breit angelegten sicherheitspolitischen Rechenschaftsbericht gab und damit den Stellenwert des Projekts der Verfügungsbereitschaft einerseits, aber auch der Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland insgesamt deutlich umriß. Ohne auf jede Kritik zu verzichten - das kommt später noch -, möchte ich feststellen, daß die Freie Demokratische Partei, das heißt die Fraktion der Freien Demokraten, diese Politik und die ihr zugrunde liegenden Wertungen trägt.
Vielleicht, meine Damen und Herren von der Opposition, wird es Sie überraschen, ich möchte nämlich auch Ihnen, meine Kollegen, ein Wort des Dankes sagen. Auch Sie haben sich bestimmten Einsichten geöffnet
({3})
und dazu beigetragen, wenigstens in einem fundamentalen politischen Aufgabenbereich zu sachlich notwendigen Gemeinsamkeiten zu gelangen.
({4}) - Ich komme anschließend noch dazu.
({5})
Wir sollten darauf verzichten, zu rechnen, wer hier
nun einen großen Sieg errungen hat und wer nicht.
({6})
Wir werden eine Verfügungsbereitschaft haben, die wir alle wollen, und es ist - wohlgemerkt, innenpolitisch - ein gewisses Junktim zu den MBFRVerhandlungen hergestellt. Darüber kann die Bundesregierung, die diesen Zusammenhang selbst immer gesehen hat, wenn wir einigermaßen vernünftig bleiben, nicht böse sein, wie wohl bekanntlich jede Regierung lieber ohne Junktim im Rücken verhandelt.
({7})
Nun möchte ich aber gerade als Liberaler nicht den Eindruck erwecken, als ob wir uns gemeinsam plötzlich in einer ganz heilen Welt befänden. Vor allen Dingen bin ich ganz unsicher, ob die Motive Ihrer Entscheidung, meine Damen und Herren von der Opposition, auch über längere Wegstrecken Tragkraft haben. Ich meine den Tatbestand, daß es diese Bundesrepublik Deutschland offenbar zweimal geben muß: einmal als ein heruntergewirtschaftetes, in Not, Chaos und Kriminalität versinkendes, von politischen Rattenfängern verführtes Land - so in den Reden und Köpfen mancher Redner der Opposition - und einmal als geordnetes, politisch und wirtschaftlich international angesehenes, starkes und gefestigtes Gemeinwesen - so das Bild der Bundesrepublik Deutschland bei objektiven Beobachtern im In- und Ausland.
Darüber hinaus unterstellen Sie immer wieder - so z. B. auf dem sicherheitspolitischen Kongreß der CDU in Koblenz oder in den CDU-Informationen zur Sicherheitspolitik - einen Gegensatz zwischen
Bündnispolitik der Bundesregierung einerseits und ihrer Ostpolitik andererseits. Nun ist es doch wohl unbestritten so, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht trotz oder entgegen ihrer Ostpolitik ihre internationale Rolle und ihr Ansehen im Bündnis gefestigt und gebessert hat, sondern gerade wegen ihrer Ost- und Entspannungspolitik.
({8})
Hier müssen endlich Ursache und Wirkung richtig auseinandergehalten werden. Aber wie oft sollen wir Ihnen das von dieser Stelle aus noch sagen?
Nun zu einer anderen Frage. Auch Sie, Herr Kollege Wörner, haben erneut das Zahlenspiel ins Gespräch gebracht, die ominöse Zahl 495 000.
({9})
Ich sehe das nach wie vor als Mißverständnis an. Sie erblickten in der Verfügungsbereitschaft doch zunächst eine Schwächung der Bundeswehr insgesamt.
({10})
- Doch, das ist ja ganz eindeutig gesagt worden. - Dem liegt natürlich auch zugrunde - das muß einmal offen gesagt werden -: Militärische Sicherheit, ja sogar äußere Sicherheit überhaupt mißt sich ausschließlich an der Kopfzahl der Streitkräfte. So pingelig waren Sie früher nie. Das sagen Sie aber heute. Das ist einseitig, genauso einseitig, wie Stalin einst ironisch fragte: Wie viele Divisionen hat eigentlich der Papst?
Ich muß sagen, daß das Kriterium der Umfangzahlen allein auch leicht zur Selbsttäuschung führen kann. Verteidigungsfähigkeit, Abschreckungskraft könnten sich - und wir reden über eine Wehrstrukturreform, die auf die Erfordernisse der 80er Jahre abstellt - viel eher nach Qualität der Waffensysteme, moderner Streitkräftestrukturen und - das ist besonders entscheidend - konfliktregelnder politischer Handlungsfähigkeit messen als nach ausschließlich reiner Personalstärke.
({11})
Wer heute beispielsweise Oberpostdirektionen und Bundesbahndirektionen auflöst - und dies zunächst nicht will, sondern muß -, der beabsichtigt doch keine Schwächung der Leistungsfähigkeit von Post oder Bahn.
({12})
Vielmehr will er entweder für gleiches Geld mehr Leistung, für weniger Geld gleiche Leistung oder am liebsten für weniger Geld mehr Leistung.
({13})
Die großen personalintensiven Dienstleistungsunternehmen sind hier jedenfalls beispielhaft.
Auch die Opposition behauptet ja wohl nicht, sie wolle gegebenenfalls den Verteidigungshaushalt sprunghaft steigern. Wenn wir uns also mit den Wachstumsraten - und diese Frage ist ja angesprochen worden - des Verteidigungsetats im gegebenen Rahmen halten müssen und wenn der ungeKrall
stüm wachsende Zwang zur Rationalisierung und Effektivierung nur im Wege der Umschichtung innerhalb des Verteidigungsetats aufgefangen werden kann, sollten wir als Kundige, Sachverständige - für solche halten wir uns ja - das Beste aus dieser Vorgabe machen. Das kann ja wohl keine Schwächung sein. Es ist auch keine, weder absolut noch relativ, wenn man das alles mit einer Zeit vergleicht, als die heutige Opposition die Verteidigungsminister stellte. Das hat der Kollege Horn ja vorhin eindrucksvoll dargelegt. Aber das will man manchmal nicht mehr gerne wahrhaben.
({14})
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, die Fraktion der Freien Demokraten hat vor einigen Jahren - auch wenn das einige nicht wahrhaben wollen - ihr eigenes sicherheitspolitisches Konzept entwickelt, dessen wesentliche Grundsätze heute noch gültig sind. Ich will über das hinaus, was ich seinerzeit im Zusammenhang mit der Regierungserklärung dargelegt habe, noch einige Grundsätze aufzeigen.
Erstens. Die Wehrpflicht bleibt die Basis unserer freiwilligen intensiven Streitkräfte. Sie dient jedoch nicht ausschließlich der personellen Bedarfsdeckung der Streitkräfte. Denn wie unser Grundgesetz es bestimmt - ich erinnere an Art. 12 a Abs. 1 -, sollten Wehrpflichtige auch zur Erfüllung anderer Aufgaben der Landesverteidigung herangezogen werden. Dies gilt auch für die zivile Landesverteidigung.
Zweitens. Es ist eine Struktur erforderlich, die - in der Sprache des Managements - ein optimales Verhältnis von man power und machinery aufweist. Das heißt: Würde dem Personalumfang bei etwa vorgegebenem Etat und realistischer Wachstumsrate zu große Priorität eingeräumt und die Nutzung der modernen Technik vernachläßigt, so würde dies den Grenzen unserer Industriegesellschaft und den Erfordernissen unserer Sicherheit eindeutig zuwiderlaufen. Hier gilt es, eine sinnvolle Relation zu schaffen.
Drittens. Eine wirksame Ausnutzung der verfügbaren Mittel gebietet es - wo immer möglich -, Aufgaben und Kräfte zusammenzufassen. Deshalb kommt der zentralen und nicht nur peripheren Wahrnehmung bundeswehrgemeinsamer Aufgaben ganz entscheidende Bedeutung zu. Dies berührt die Eigenständigkeit von Teilstreitkräften solange nicht, wie ihre Aufträge auf ihre spezifischen Fähigkeiten abgestellt sind. Eine Neuordnung der Struktur, meine Damen und Herren, kann deshalb nicht in erster Linie oder gar allein das Heer betreffen. Auch hier gilt der Grundsatz: Maß muß das Ganze stets vor seinen Teilen sein.
Viertens. In der gegenwärtigen Situation kommt der Fähigkeit sowohl zur flexiblen als auch zur raschen Reaktion auf die besonderen Umstände entscheidende Bedeutung zu. Daher müssen die präsenten Kräfte auch personell so ausgestattet sein, daß sie ohne nennenswerte Vorbereitung ihre volle Kampfkraft entfalten können. Das heißt: Sie müssen aus dem Stand in der Lage sein, jeden Angriff erfolgreich abzuwehren.
Fünftens. Um die Effektivität der aufgewendeten Mittel auch künftig zu steigern, muß die für die fechtende Truppe verfügbare Zahl an Soldaten erhöht werden, und zwar durch Umschichtung zu Lasten von Stäben und rückwärtigen Diensten. Die Kommandostruktur unserer Streitkräfte darf nicht - und mir scheint, dies ist sie heute - kopflastig sein.
Sechstens. Die Verteidigungsaufgaben unserer Streitkräfte sind im eigenen Land zu erfüllen. Deshalb müssen die Ressourcen dieses Landes für die Verteidigung noch stärker nutzbar gemacht und bereits im Frieden in die Gesamtverteidigung integriert werden.
Siebtens. Der territorialen Verteidigung kommt große Bedeutung zu. Sie ist noch stärker als heute auszubauen. Hier ist - in Übereinstimmung mit den Feststellungen und Vorschlägen der unabhängigen Wehrstrukturkommission der Bundesregierung - zu prüfen, ob durch eine moderne Reservisten- und Mobilmachungskonzeption eine intensivere Nutzung der qualifizierten Reservisten unserer Streitkräfte ermöglicht werden kann. Auch hier muß der Grundsatz gelten: Qualität geht vor Quantität.
Diese kurzgefaßte Darstellung einiger wesentlicher Grundsätze liberaler Sicherheitspolitik fand - natürlich in anderen Worten - Eingang in die Regierungserklärung vom 29. November 1973 zu den Prinzipien einer neuen Wehrstruktur der sozialliberalen Koalition. Wir haben seinerzeit diese Regierungserklärung unterstützt und möchten die Substanz dieser Koalitionsmeinung grundsätzlich erhalten wissen, ungeachtet im einzelnen notwendiger Korrekturen auf Grund neuer Erkenntnisse. Diesen werden wir uns ganz sicher nicht verschließen.
Uns ging es nicht um marginale Anpassungen, sondern um eine Neuordnung qualitativer Art, die den Gegebenheiten vor allen Dingen ab 1980 gerecht wird. Dieser Ansatz darf nicht verlorengehen. Anders ausgedrückt: Wenn das langsamste Schiff im Geleitzug, auf das wir in dieser Frage nicht verzichten wollen, zu langsam wird, zum Stillstand kommt oder auf Gegenkurs gehen sollte, müssen wir Liberalen hier auf jeden Fall Dampf machen. In diesem Sinne sehen wir Liberalen in der heutigen Entscheidung über die Einführung der Verfügungsbereitschaft, die wir - wie gesagt - mit tragen, einen qualitativ wichtigen, quantitativ aber noch bescheidenen ersten Schritt in der geforderten Richtung, die wir - wie heute erkennbar - alle anstreben.
Auch wir sind wie der Bundesminister der Verteidigung der Auffassung, daß eine neue Struktur nur Schritt für Schritt verwirklicht werden kann und daß es hierzu Zeit braucht. Auch wir halten es nicht für richtig, mehrere entscheidende Probleme gleichzeitig anzupacken. Die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte darf durch hastige Strukturveränderung zu keiner Zeit beeinträchtigt werden.
Eine gewisse Ungeduld entspringt nicht dem Wunsch, Wirbel in den Streitkräften zu entfachen. Wir wissen viel zu genau, was dort alles läuft. Wir
meinen aber, meine Damen und Herren - und darauf kommt es entscheidend an -, daß die politischen Zielsetzungen nicht verschwinden dürfen. Wir möchten, daß, wenn die gemeinsame Ausgangsbasis, die Regierungserklärung vom 29. November 1973, modifiziert werden muß, dies ebenso einvernehmlich geschieht wie die Beratungen im Sommer 1973. Damals haben Sie, Herr Kollege Leber, teils mit unserem verstorbenen Kollegen Karl Hermann Flach, teils mit mir selbst viele Punkte im einzelnen besprochen. Das war eine gute, fruchtbare und faire Zusammenarbeit.
Lassen Sie mich - ich hatte eingangs auch einige kritische Bemerkungen angekündigt - ganz offen ein Beispiel aufgreifen: die Frage der Kommandoebenen. Wir, die FDP, -plädierten für die Streichung einer Führungsebene, und zwar aus Gründen der Rationalität, der Einsparung von Stabselementen und -stellen. Dies - so wurde fachlich argumentiert - gehe zwar nicht, aber bei den Wehrbereichskommandos könne ein adäquater Effekt erzielt werden. Diese Alternative akzeptierten wir, obwohl ohne besondere Begeisterung.
Wenn nunmehr aus ganz praktischen Gründen - Bedenken von Landesregierungen - diese Forderung höchstens noch in kosmetischer Form bestehen bleibt, kommt ein wichtiges Anliegen in Wegfall. Hier sind wir, verehrter Herr Minister, an einem etwas neuralgischen Punkt. Ich bin ganz offen: Sie haben, sei es in Uniform, sei es in Zivil, ganz ausgezeichnete Mitarbeiter. Einige davon sind in Führungsstäben der Teilstreitkräfte verankert, andere nicht. Wenn nun die höchst fundierten fachlichen Meinungen oft darauf hinauslaufen - und das ist nicht nur im Bereich der Streitkräfte so -, daß man sagt, Reform ja, aber angefangen wird bei den anderen, dann ist unschwer zu verstehen, daß sich die fachlichen Expertisen gegenseitig aufheben.
Außerdem soll es ja auch Mitarbeiter geben, die so am Überkommenen haften - mit höchst respektablen fachlichen Argumenten selbstverständlich -, daß sie die politisch gebotene Vorausschau nicht recht zu bewältigen in der Lage sind. Hier liegt doch offenbar auch des Pudels Kern: den Pelz waschen, ohne ihn naß zu machen. Oder anders: eine Neuordnung durch Beginn bei der dritten Stelle hinter dem Komma.
Bei der Lockerung bestimmter Widerstände benötigen Sie Hilfe. Unsere Hilfe bieten wir Ihnen sowieso an. Es ist aber eine Frage, meine Damen und Herren, letztlich des ganzen Hauses - Ihrer Fraktion, auch der Opposition -, Ihnen hier zur Seite zu stehen. Mein Appell an dieses Hohe Haus lautet daher: Lassen Sie uns die künftige Wehrstruktur nicht in kleinlichem Parteiengezänk ausfeilschen. So weit liegen wir - und das hat die heutige Debatte ergeben - nicht auseinander. Lassen Sie uns die Ziele unserer Verteidigungsanstrengungen und die sicherheitspolitischen Schwerpunkte der Verteidigungskonzeption politisch - ich sage hier: politisch! - so eindeutig festlegen, daß sich eine Realisierung durch die Fachleute auf ein klares politisches Konzept stützen kann.
Folgende nächsten Schritte sollten daher etappenweise in der Strukturreform vordringlich angepackt werden - ich gehe davon aus, daß Sie dem zustimmen werden, meine Damen und Herren, und Sie weichen von dem vorher von meinem Kollegen genannten Grundsatz nicht ab -: Zusammenfassung der bundeswehrgemeinsamen Aufgaben zur Rationalisierung und Vermeidung von Doppelarbeit: zweitens schwerpunktmäßiger Einsatz des Personals in den Einsatzverbänden zu Lasten von Stäben und rückwärtigen Diensten; drittens Stärkung des territorialen Aufgabenbereichs im Heer, vor allem auch durch intensive Nutzung qualifizierter Reservisten.
Hier, meine Damen und Herren und Herr Minister, bietet sich durchaus auch ein Zusammenhang mit der neuen Verfügungsbereitschaft als eine zusätzliche Mobilisierungskomponente. Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, schließlich, ehe uns die Zahlensituation die Optionen verdirbt, die Frage der Wehrgerechtigkeit vernünftig lösen.
In diesem Sinne möchten wir Sie, Herr Minister, unterstützen und zur Realisierung der Regierungserklärung beitragen. In ,diesem Sinne - ich wiederhole es - stimmen wir Liberalen der Neunten Novelle zum Wehrpflichtgesetz zu. - Ich danke Ihnen.
({15})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. Ich rufe auf Art. 1 bis 9, Einleitung und Überschrift. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe. - Enthaltungen? - Einstimmig beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur
dritten Beratung.
Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen damit zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr auf Punkt 6 der Tagesordnung:
Beratung des Berichts der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe
({0})
- Drucksache 7/3071 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Dazu hat das Wort Herr Staatssekretär Buschfort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihren Bericht über die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler vorgelegt. Sie ist damit der Bitte nachgekommen, die der Bundestag an sie gerichtet hatte. Meines Wissens ist
es das erste Mal, daß eine Regierung und ein Parlament sich in dieser Weise mit der Lebenssituation der Künstler befassen. Wir halten uns doch eigentlich etwas darauf zugute, daß deutsche Kunst und Kultur einige Geltung besäßen aber von denen, die diese Kunst schaffen oder vermitteln, von ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen wissen wir zuwenig.
({0})
Aber der vorliegende Bericht bringt nunmehr eine solche Fülle von Material, daß eine große Zahl von Fragen beantwortet werden konnte, soweit das mit den Mitteln der Statistik und der empirischen Sozialwissenschaft möglich ist.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier - und sei es noch so kurz - eine Inhaltsangabe zu geben. Lassen Sie mich nur einige Anmerkungen zum Inhalt machen, die mir wichtig scheinen.
Der Bericht der Bundesregierung schildert die Situation von etwa 75 000 Künstlern, die es zur Zeit in der Bundesrepublik gibt. Nicht einbezogen sind die Wortautoren, deren Situation gerade erst im sogenannten Autorenreport dargestellt worden ist. Bei diesen 75 000 Künstlern handelt es sich um einen komplex zusammengesetzten Personenkreis. Lassen Sie mich hierzu auf eines besonders hinweisen: Die Frage, wer als „Künstler" in die Berichterstattung einzubeziehen war, ist nicht etwa nach kunsttheoretischen oder ähnlichen Überlegungen oder gar nach Werturteilen entschieden worden. Der Bundesregierung hätte es schlecht angestanden, hier in irgendeiner Weise zu urteilen. Sie werden, meine Damen und Herren, in dein ganzen Bericht deshalb auch kein Wort über die Frage finden, was Kunst sei. Dieses ist kein kunst- und kulturpolitischer Bericht, sondern einer über die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler.
Da der überwiegende Zweck des Berichts ein sozialpolitischer sein sollte, ist der Personenkreis sehr weit gefaßt worden, ohne daß damit allgemein gültige Kriterien aufgestellt werden. Hinzu kommt, daß diese künstlerischen Tätigkeiten in durchaus verschiedener beruflicher Stellung erbracht werden. Nun handelt es sich bei der Frage, ob eine Tätigkeit selbständig oder als Arbeitnehmer ausgeübt wird, nicht um eine statistische oder eine theoretische Spielerei. Diese Unterscheidung hat vielmehr erhebliche Konsequenzen: in arbeitsrechtlicher Hinsicht; beispielsweise, ob jemand dem Kündigungsschutz- oder dem Mutterschutzgesetz unterliegt, in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht, ob beispielsweise ein anderer den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung bezahlt, in steuerrechtlicher Hinsicht, ob man zur Einkommen- und Lohnsteuer veranlagt wird oder ob auch andere Steuerarten hinzukommen müssen.
Die Verfasser des Gutachtens, das dem Bericht der Bundesregierung zugrunde liegt, sind in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, daß in nicht unerheblichem Ausmaß Künstler von ihren Auftraggebern als Selbständige behandelt werden, obwohl sie eigentlich Arbeitnehmer sind. Das Gutachten spricht hier von „verkappten Arbeitsverhältnissen", die vielfach bei sogenannten „freien Mitarbeitern" vorlägen, z. B. bei den audiovisuellen Medien, aber auch in anderen Bereichen. Ich darf hier auf die Arbeitsgerichtsprozesse aufmerksam machen, die in letzter Zeit abgewickelt worden sind. Ich denke, daß auch hier ein bezeichnendes Licht auf die derzeitige Situation geworfen wurde.
Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Punkten sagen, die von den Massenmedien besonders aufgegriffen worden sind, nämlich die wirtschaftliche Situation und die Alterssicherung. In der Presse war mehrfach ein gewisses Erstaunen über die Einkommenshöhe zu finden, die offenbar beträchtlich hinter manchen Vorstellungen zurückbleibt. Das mag verständlich sein, wenn man beim Begriff „Künstler" nur an bekannte Stars denkt. Diesen gegenüber muß das Durchschnittseinkommen der Künstler von rund 22 800 DM im Jahr in der Tat höchst bescheiden erscheinen. Es wäre aber einseitig, nur auf die zum Teil kargen Einkünfte vieler künstlerisch Tätiger oder auf die leider häufig vorhandene Not alt gewordener Künstler zu blicken.
Das Durchschnittseinkommen der als Arbeitnehmer beschäftigten Künstler lag im Jahre 1972 mit über 23 000 DM immerhin etwa 39 % über dem Durchschnittseinkommen der Gesamtheit der Arbeitnehmer. Allerdings muß man bei diesem Vergleich berücksichtigen, daß über drei Viertel der Künstler qualifizierte Ausbildungsgänge durchlaufen haben.
Doch Verallgemeinerungen können der Sache nicht gerecht werden. Das gilt in besonderem Maße für die selbständigen Künstler. Hier stellt das Durchschnittseinkommen von etwas über 22 200 DM im Jahre 1972 nur eine rechnerische Größe dar. Die Streuung der Einkommen von diesem Mittelwert bis in beide Extreme ist bei selbständigen Künstlern sehr stark. Hinzuweisen ist auch darauf, daß in den Durchschnittswerten Unterschiede je nach Berufsgruppen bestehen.
Ein weiteres Merkmal, das die Durchschnittseinkommen beeinflußt, sind das Alter und leider auch das Geschlecht der Künstler.
Zur Charakterisierung der wirtschaftlichen Situation der Künstler gehört noch ein weiteres, besonders wichtiges und typisches Moment: Ihre Einkommen fließen in erheblichem Umfang unregelmäßig, vor allem bei den Selbständigen. Zum Teil gilt das aber auch für Arbeitnehmer in künstlerischen Berufen, nämlich z. B. für Unterhaltungsmusiker und für Schauspieler. Von diesen und von den Selbständigen war ein nicht unbeträchtlicher Teil in der letzten Zeit vor der Befragung mehr als ein halbes Jahr ohne Einkommen. Das hat über den augenblicklichen Lebensstandard der Betroffenen hinaus Fernwirkungen für das Alter.
Damit komme ich zu dem besonders gewichtigen Teil des Berichts, nämlich zur sozialen Sicherung. Daß es in dieser Beziehung, und zwar vor allem um die Alterssicherung der Künstler, nicht gut bestellt ist, ist von den Massenmedien bereits mehrfach herausgestellt worden. Aber hierzu ist zunächst zu bemerken, daß Künstler, soweit sie als Arbeitnehmer
beschäftigt sind, in gleicher Weise rentenversicherungspflichtig sind wie alle Arbeitnehmer. Alle anderen, selbständigen Künstler können inzwischen der gesetzlichen Rentenversicherung beitreten. Das war zum Zeitpunkt der Untersuchung aber noch zu neu, als daß es sich nennenswert hätte auswirken können. Die tatsächliche Alterssicherung der Künstler entspricht jedoch nicht diesen Möglichkeiten.
Der Bericht kommt zu dem Schluß, daß Sozialversicherungsrecht und -wirklichkeit in beträchtlichem Ausmaß nicht übereinstimmen, eine Tatsache, die mich sehr beeindruckt hat. Dies um so mehr, als selbst von denjenigen Künstlern, die - jedenfalls nach ihren eigenen Angaben - in abhängiger Beschäftigung als Arbeitnehmer stehen, manche erklärt haben, sie seien nicht rentenversichert, so etwa ein Zehntel der angestellten Instrumentalsolisten, Sänger, Unterhaltungsmusiker und Musikpädagogen. An diesen Zahlen mögen im einzelnen gewisse Korrekturen nötig sein, da wegen der Schwierigkeit der Materie bei einer Befragung Mißverständnisse nicht immer auszuschließen sein dürften. Aber allein die Tatsache, daß überhaupt in nennenswertem Ausmaß solche Lücken vorliegen, erscheint mir bemerkenswert genug.
Lassen Sie mich mit diesem Gedanken schließen. Der Bundestag hat nunmehr das erbetene Tatsachenmaterial und damit die gewünschte Gelegenheit, sich eingehend mit der Situation der Künstler vertraut zu machen und sie in den Ausschüssen - ich bin ganz sicher, daß es dort eingehend geschehen wird - zu beraten. Auch die Bundesregierung wird diesen Bericht zum Anlaß nehmen, die darin dargestellten Lebens- und Arbeitsbedingungen der in künstlerischen Berufen Tätigen zu prüfen, und zwar vor allem mit den Betroffenen selbst, mit dem Ziel, nach Möglichkeit zu Modellen zu gelangen, wie bestehende Mängel beseitigt und die Situation der Künstler verbessert werden könnten.
Ich hoffe, daß der vorgelegte Bericht als Initiative solcher Beratungen wirkt und Ihnen, meine Damen und Herren, als eine gute Grundlage dienen wird.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Köhler ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der CDU/CSU darf ich die Vorlage dieses Berichts ausdrücklich begrüßen. Wir haben uns hier an Hand dieser Unterlagen mit einer Gruppe zu beschäftigen, die - so steht es im Bericht - 0,23 5 der Erwerbstätigen umfaßt. Ich muß sagen, ich finde es außerordentlich erfreulich, daß sich ein weit höherer Prozentsatz der Mitglieder dieses Hohen Hauses heute morgen dieser Frage widmet.
({0})
Ich sage das besonders gern, weil oft über das leere Plenum räsoniert wird. Wir haben soeben gemeinschaftlich ermittelt: wären nur 0,23 5 unserer Kollegen hier, so würde die Frau Präsidentin wahrscheinlich alleinbleiben müssen; denn es gäbe dann nur noch den Bruchteil eines Abgeordneten, der hier reden oder zuhören könnte.
({1})
- Herr Kollege, ich habe hier selbstverständlich eine rein quantitative Betrachtung angestellt. Etwas anderes steht mir nicht zu. Wir sind uns aber gewiß darüber einig, daß die Bedeutung der Gruppe nun wirklich nicht in Zahlen gemessen werden kann, sondern daß es hier um wesentlich mehr geht.
Ich darf in Erinnerung rufen, daß der vorliegende Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe auf einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zurückgeht, den diese zu Beginn der sechsten Legislaturperiode gestellt hat. Unsere Fraktion war sich zu diesem Zeitpunkt schon der Dringlichkeit der Probleme in diesem Bereich bewußt. Es war die Absicht, nach Erstellung der nötigen Unterlagen nun diese, die siebte Legislaturperiode in ihrem vollem Umfang zu nutzen, um diese verwickelten und schwierigen Probleme aufzugreifen und der Lösung zuzuführen. Leider ist der Bericht erst jetzt erschienen. Das bedeutet für uns, daß wir in der uns noch zur Verfügung stehenden Zeit wahrscheinlich nur die vordringlichsten Probleme anfassen können und daß wir die komplizierten, einer längeren Zeit bedürfenden Materien für einen späteren Zeitpunkt vorbereiten müssen. Aber genau das, so meinen wir, sollten wir auch tun. Wir sollten uns nicht nur hier mit Einzelfragen beschäftigen, sondern uns ruhig der Gesamtheit des Problems widmen, unabhängig von der Frage, wann verwirklicht werden kann; denn dieser Bericht, so scheint mir, hat in dem Maße Wert, wie es uns gelingt, ihn wirklich dann in Entscheidungen und Taten umzusetzen. Wir sollten ihn gemeinsam mit aller Sorgfalt diskutieren und dazu auch das Grundlagenmaterial, das dafür erstellt wurde, heranziehen; denn das Ergebnis dieser Enquete beweist in unseren Augen, daß eine solche Dokumentation dringend erforderlich war. Ihr Ergebnis ist zweifellos sehr differenziert, aber bietet doch insgesamt ein als unbefriedigend zu bezeichnendes Bild. Ich glaube, es ist nicht verkehrt, anzunehmen, daß sich seit den Erhebungen, die angestellt sind, an manchen wichtigen Punkten die Lage noch negativ verschoben hat.
Die Probleme, die hier zur Lösung anstehen, sind nun nicht nur die Probleme einer Gruppe, über deren Zahl ich vorhin schon gesprochen habe, sondern wir meinen, daß diese Probleme unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit treffen und angehen. Wir meinen - ich glaube, das ist kein Streitpunkt-, eine freiheitliche Gesellschaft braucht die geistigen und schöpferischen Kräfte dieser Gruppierung, und die Bedeutung, die die Gesellschaft der Pflege und Förderung künstlerischen Tuns und der damit befaßten Menschen entgegenbringt, läßt sehr wohl Rückschlüsse auf die Beschaffenheit dieser Gesellschaft zu.
Dr. Köhler ({2})
Genauso, wie es sehr schwer ist, zu beschreiben, was Kunst ist - ich persönlich glaube, daß es kaum möglich ist -, genauso ist es natürlich sehr schwer, mit wenigen Worten die Funktion der Künstler - oder wie immer sie sich gerne nennen - und ihres Tuns in unserer Gesellschaft zu umreißen. Ich denke aber, daß einiges Wichtige dazu noch gesagt werden kann und soll. Eine ganz wesentliche Funktion künstlerischen Tuns ist es eben, in der Fülle des zweckgerichteten Handelns, das uns jeden Tag bewegt, uns ein Korrektiv zu bieten, das uns dazu veranlaßt, unsere eigene Position, unsere eigenen Standorte immer wieder zu überprüfen. Es kann vom Tun dieser Gruppe eine Bewegung ausgehen, die uns zur grundsätzlichen geistigen Auseinandersetzung zwingt. Das ist wichtig und nötig. Die Vielfalt der Ausformungen künstlerischen Tuns ist gewiß ein Spiegelbild der Lebensmöglichkeiten dieser pluralen Gesellschaft und auch ihrer Wertvorstellungen, selbst da, wo sich die künstlerische Äußerung im Negativen und in der Negation erschöpft.
({3})
Wir wollen dabei nicht vergessen, daß es auch den legitimen Bereich der Entspannung, der Unterhaltung, der Freude und des Schönen gibt. Schließlich sprechen wir hier auch von Variete-Künstlern und nicht nur von Leuten, die auf dem hohen Kothurn zu Hause sind.
Ich meine, vor diesem Gesagten sollten wir uns auch zu der Auffassung bekennen, daß es der erste wichtige Gradmesser ist, daß überhaupt etwas in großer Fülle und beachtlicher Vielfalt im künstlerischen Bereich geschieht. Was da geschieht, ist die zweite Frage, die einer offenen Diskussion überlassen bleibt. Unter solchen Gedanken scheint mir das künstlerische Leben einer Gesellschaft in der Tat ein wichtiger Gradmesser der in dieser Gesellschaft vorhandenen Kreativität zu sein.
Ich denke, wir sollten auch ein wenig von Zeit zu Zeit darüber nachdenken, weshalb totalitäre Regime diesem Sektor eine so große materielle Aufmerksamkeit zuwenden, aber auch sich so viel Mühe machen, diesen Bereich des künstlerischen Tuns in den Griff zu bekommen; letztlich doch wohl, um die Seele der Untertanen solcher Regime zu beeinflussen und in den Griff zu bekommen. Daß in unserem Staat, in unserer Verfassung dies nicht vorhanden ist, darf andererseits aber nicht bedeuten, daß wir dies ablehnen, darf nicht bedeuten, daß wir die Künstler und ihr Tun der Gleichgültigkeit überlassen und sie allein lassen.
({4})
Wenn das Gesagte etwas für sich hat, so, meine ich, folgt daraus, daß wir uns bei der Lösung der hier anstehenden Fragen darum bemühen sollten, in großer Breite zusammenzuarbeiten, und daß dies nicht eine Frage ist, an der wir uns parteipolitisch besonders wetzen können und sollten. Ich muß gestehen, ich habe es ein wenig bedauert, daß der Herr Vorsitzende der SPD in seiner Presseerklärung zu diesem Thema einige Worte gesprochen hat, die ein Okkupieren dieses Feldes andeuten könnten.
({5})
Nun gut, man sagt und hört immer wieder, der Geist stehe nun einmal links.
({6})
Ich, meine sehr verehrten Damen und Herrn, bin der Ansicht, der Geist weht, wo er will,
({7})
und es ist nicht unsere Sache, ihm als Herrscher entgegenzutreten; wohl aber sind wir ihm alle zutiefst verpflichtet.
({8})
- Nein, aber es öffnet das Feld doch um einige Dimensionen, Herr Kollege.
Die Tatsache, daß hier mehr oder weniger dieser redet, jener handelt, mögen die Betroffenen selbst würdigen. Es obliegt ihnen, sich zu überlegen, was es bedeutet, daß der Anstoß zu dieser Dokumentation aus unseren Reihen gekommen ist, und sie werden würdigen können und müssen - das können wir ihnen gar nicht verwehren, das ist ihr legitimes Recht -, sie werden sich darüber klarwerden müssen, ob die Bilanz der Regierung auf diesem Felde tatsächlich so gut ist, wie man es zuweilen hört, oder ob es nicht manchmal mehr der Worte gewesen sind als der in der Tat schwierigen Handlungen.
Wir meinen, daß es wichtig und richtig ist - und ich möchte ausdrücklich aufrufen -, daß sich die Vertreter der hier angesprochenen Personengruppe zur Lösung dieses Themas in dem von mir charakterisierten Geiste wirklich in Offenheit allen gegenüber nähern, die bereit sind, an der Lösung mitzuhelfen. Vielleicht muß man hier manchmal über den einen oder den anderen Schatten politischer Präferenzen hinwegspringen. Ich denke, so legitim es ist, daß jeder von seinem Denkansatz her ganz bestimmte politische Affinitäten haben mag - das beansprucht jeder von uns doch gewiß genauso für sich -, um der Sache willen sollten wir hier alle versuchen, in konstruktiver Bemühung aufeinander zuzugehen, die Interessenvertretungen genauso wie diejenigen, die zum politischen Handeln aufgerufen sind.
Lassen Sie mich nun noch einiges zu dem besonderen Teil der Enquete und den darin gefundenen Sachfeststellungen sagen, was naturgemäß in der Ausschußdiskussion vertieft werden muß.
Es ist bemerkenswert, daß die Zahl der in den künstlerischen Berufen Tätigen rückläufig ist, absolut wie relativ. Man wird der Frage nachspüren müssen, warum das so ist. Es ist weiter interessant, daß der größte Teil der Bevölkerung den Künstlern positiv gegenübersteht und daß weder die Künstler sich - so haben wir es hier gelesen - als Außenseiter der Gesellschaft betrachten, noch die Gesellschaft den Künstler als Außenseiter ansieht. Aber ich glaube, daß wir uns hier sehr genau anschauen müssen, ob dies ein mehr undefiniertes Wohlwollen ist oder ob es wirklich eine Grundlage ist, aus der konkrete Folgerungen abgeleitet werden können.
Dr. Köhler ({9})
Ein Teil der Künstler, in der Tat vorwiegend jüngere, sieht seine Funktion überwiegend als eine gesellschaftliche Funktion. Ich meine, das ist begrüßenswert, und die Frage ist, in welchem Umfang es gelingt, diese Grundposition wirklich fruchtbar zu machen; denn, so ist es in diesem Bericht erwiesen, diese Gesellschaft hat ein Bedürfnis nach Kunst. Allerdings - und hier ist wohl wieder ein leiser Zweifel nötig - ist dieses Bedürfnis offensichtlich nicht so stark, daß es gleichzeitig immer das Verständnis für die Bereitstellung der entsprechenden finanziellen Mittel mit sich bringt. Wer wie ich viele Jahre in einem kommunalen Parlament Kulturetats zu verteidigen hatte, Einzelmaßnahmen zu vertreten hatte, der weiß, wie man da immer wieder an die Ecke großer Schwierigkeiten rennt, wo immer wieder genug Prioritäten anderer Art dagegen sprechen, Geld für das doch offenbar vorhandene Bedürfnis der Gesellschaft nach Kunst bereitzustellen. Ich meine, hier sind wir alle aufgerufen zu argumentieren, das Verständnis zu vertiefen und die Relation der zweckbedingten Dinge und dieser scheinbar zweckfreien Dinge, von denen wir hier sprechen, zueinander immer wieder richtigzustellen.
({10})
Ich meine, zu dieser Überlegung gehört auch die Feststellung des Berichts, daß die Gesellschaft offensichtlich die Kunst lieber als Unterhaltung und als ästhetische Befriedigung akzeptiert. Von daher muß man wirklich noch einmal nachfragen, ob die Gesellschaft in der Gesamtheit die Einsicht in die Notwendigkeiten der Funktion der Kunst für diese Gesellschaft hat. Hier sind, wie ich meine, alle, die diese Angelegenheiten übersehen, aufgerufen und aufgefordert, immer wieder werbend, verständnisvertiefend tätig zu werden.
Die Problemfelder, mit denen wir uns zu befassen haben werden, scheinen mir im wesentlichen erst einmal folgende zu sein.
Da ist einmal die Frage der Ausbildung. Aus dem Bericht wird klar, daß die Ausbildung qualifizierter, zum Teil ausgedehnter sein muß und daß zusätzliche Zweitausbildungen möglich sein müssen und daß eine stärkere Institutionalisierung der Ausbildung gefragt ist, damit auch entsprechend gültige Abschlüsse erreicht werden können. Diese Forderungen widerstreiten nicht der Tatsache, daß schon jetzt ein relativ hoher Anteil der betroffenen Personengruppe recht hockqualifizierte Ausbildungen vorzuweisen hat.
Bemerkenswert scheint mir auch die Auskunft zum Organisationsgrad der Künstler zu sein. Er ist doch offenbar höher, als es einer weit verbreiteten Meinung in der Öffentlichkeit entspricht. Wir werden uns damit zu befassen haben, warum denn die Interessenvertretung, wenn dieser statistische Befund so zutrifft, eben doch offensichtlich nicht unerhebliche Mängel hat. Vielleicht mag es auch daran liegen, daß wir als die Vertreter öffentlicher Körperschaften zuweilen dazu nicht die nötige Aufgeschlossenheit mitbringen.
Das Problem der Abgrenzung zwischen selbständig und unselbständig Beschäftigten dürfte gewiß eine große Rolle in den folgenden Beratungen spielen; denn aus der mangelnden Möglichkeit der Abgrenzung zwischen Selbständigen und Unselbständigen ergeben sich ganz deutlich wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konsequenzen im Bereich der Altersversicherung und der Krankenversicherung. Hier müssen wir wohl auch über einige juristische Grundlagen für die Regelung dieser Dinge sprechen.
Bei der Arbeitsmarktfrage kommen wir zu einem Teil, der uns mit einiger Sorge erfüllen muß. Die Arbeitslosenquote bei den künstlerischen Berufen liegt weit über der der Gesamtheit der abhängigen Erwerbstätigen. Die Situation ist angespannt durch die Schwierigkeiten der öffentlichen Finanzen; sie wird verschärft durch die Schwierigkeiten in den Finanzen der Fernseh- und Rundfunkanstalten. Bestürzend finde ich vor allem die Tatsache, daß es im Bühnenbereich 11,6 % Arbeitslose gibt. Während sehr viele der hier genannten Zahlen tatsächlich vornehmlich konjunkturelle Hintergründe haben, dürfte an der Stelle aber auch ein strukturelles Problem liegen. Diejenigen von uns, die regional oder lokal Verantwortung für die Bühnen in diesem Lande haben, sollten diese Zahlen sehr genau zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihre Strukturpläne verfolgen.
Ich teile die Auffassung, daß vor diesem Hintergrund ein Aufruf nötig ist, daß unsere Städte und Gemeinden auf dem Gebiete „Kunst am Bau", so problematisch in der Sache dieses Feld sein mag, ihre Bemühungen nicht leichten Herzens einstellen, sondern durchzuhalten versuchen. Dabei erlaube ich mir den Hinweis, daß die enge Fassung dieses Themas „Kunst am Bau" überholt werden sollte durch eine weitere und durchaus auch operational zu bewältigende Möglichkeit, nämlich durch einen Begriff „Kunst im Stadtbild", um damit künstlerisches Hervorbringen bewußt einzusetzen zu einer Verbesserung der menschlichen Wohnlichkeit unserer Städte und ihres speziellen Gesichtes.
({11})
Die Einkommensverhältnisse - so sehen wir diesen Bericht - variieren stark in den einzelnen Berufsgruppen und auch zwischen den Geschlechtern. Einiges davon ist sicherlich absolut notwendig und unvermeidbar. Die niedrigen Einkommen sind zum Teil auf Unregelmäßigkeit zurückzuführen, zum Teil aber auch auf mangelnde Arbeitsmöglichkeiten. Gerade im Blick auf diesen Punkt sagte ich eben in der vorigen Passage einiges, von dem ich hoffe, daß es anregend sein kann.
In den Fragen der sozialen Sicherung finden wir bei der Personengruppe der Künstler immer wieder einen gewissen Mangel an Vorsorgebereitschaft. Wir meinen, hier wird einiges zu tun sein, durch mehr Information, durch mehr Werbung in diesem Kreis das Bewußtsein dafür zu verstärken, - obwohl es immer schwer sein wird; denn manche Künstler leben eben von der Natur ihrer Tätigkeit her sehr bezogen auf das, was sie in diesem AugenDr. Köhler ({12})
blick umtreibt. Die Frage, wie das die Grundlage der Sicherung in einem späteren Jahrzehnt sein mag, liegt manchem fern. Um so mehr müssen wir mit den Betroffenen darüber sprechen und entsprechende Möglichkeiten auch zu schaffen versuchen.
Denn ich bin immer wieder sehr beeindruckt von der Tatsache, was wir eigentlich vom Künstler fordern. Unsere Erwartung als sein Publikum ist ja, daß er uns etwas zu sagen hat, immer wieder, daß er uns Neues, Wichtiges zu sagen hat. Was verlangen wir da eigentlich von ihm über ein ganzes Leben? Für viele kann dieser Maßstab, diese Anforderung wirklich nur eine begrenzte Zeit erfüllt werden. Die Frage „Was ist dann?", so meine ich, geht uns an, die wir ihn vorher gelobt haben, bejubelt haben, ihm gesagt haben „Das machst Du gut, mach weiter so". Das ist ein Grund mehr, ihn dann, wenn dieser Anspruch von ihm schwer zu erfüllen ist, nicht in Undankbarkeit zu vergessen.
Gottlob sieht es bei der Krankenversicherung offenbar um einiges besser aus. Aber auch hier liegt der Grad der Versicherung wesentlich unter dem der Gesamtheit der Erwerbstätigen. Auch hier scheint mir es in Anbetracht der Sondersituation dieser Personengruppe nötig zu sein, zu prüfen, ob wir Möglichkeiten schaffen können, das System für diesen Personenkreis elastischer zu machen, damit diese Sicherung leichter in Anspruch genommen werden kann.
Ich denke, wir werden uns mit diesen Dingen umfangreich zu befassen haben. Ich sage es noch einmal: in dem Maße, wie es uns gelingt, daraus konkrete Entscheidungen abzuleiten, ist dieser Bericht letzten Endes von Wert. Die CDU/CSU-Fraktion ist zur konstruktiven Arbeit an diesen Themen bereit. Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lattmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von der Vorlage des Künstlerberichts sollte für die Fraktionen des Deutschen Bundestages die Verpflichtung ausgehen, nicht nur heute hier Erklärungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der künstlerischen Berufe abzugeben, sondern in den kommenden Monaten auch tatsächlich an der Bewältigung der durch die Enquete erwiesenen Benachteiligungen vieler künstlerischer Urheber und Mitwirkender in den kulturellen Bereichen zu arbeiten. Wie eine Gesellschaft ihre zeitgenössische Kunst konsumiert und welchen sozialen Rang sie den kreativen einzelnen einräumt, das sagt über ein Land und seine Bewohner Kennzeichnendes aus.
Es ist deswegen erfreulich, im Künstlerbericht auch die Aussage zu finden, daß der weitaus größte Teil der Bevölkerung der Bundesrepublik der Kunst und den Künstlern positiv gegenübersteht. Nur ein sehr geringer Anteil der Befragten, im Durchschnitt 11 %, vermag mit Kunst und Künstlern nichts anzufangen, ja, bezeichnet sie als überflüssig. Wenn die eindeutige Mehrheit mit dem Begriff „Kunst" Vorstellungen von Unterhaltung, Entspannung und Verschönerung der Freizeit verbindet, wenn 40 % meinen, Kunst und Künstler sollten insbesondere die Umwelt und die Städte menschlicher gestalten, und wenn etwa ein Drittel der Befragten den Künstlern die pädagogische Aufgabe zumißt, mehr oder weniger bei jedermann die Kräfte der Phantasie, des Nachdenkens und der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten anzuregen, so ist das kein schlechtes Ergebnis.
Freilich steht diese Wertschätzung im Widerspruch zu den sozialen Fakten, die der Bericht ebenfalls offenbart. Zu ergründen ist deswegen der Kunstbegriff, mit dem die öffentliche Meinung umgeht. Die Künstler, denen die Schriftsteller hier ausdrücklich zuzuordnen sind, auch wenn eine gesonderte Untersuchung, der „Autoren-Report", ihre Lage beschrieben hat, haben ironischerweise Generationen lang die Einschätzung angenommen, welche die Gesellschaft für sie bereithielt. Was einigen Prominenten gelang, nämlich wirtschaftliche Unabhängigkeit und öffentliche Geltung zu erreichen, wurde zur Zielvorstellung für eine ganze Berufsgruppe. Allzu lange wurde Geniekult betrieben; der Erfolgreiche galt alles, der Namenlose nichts. Ein fragwürdiger Wertbegriff des kulturell Bedeutsamen regelte auch das Verfahren der öffentlichen Förderung der Künste.
Außergewöhnliche Talente aber, meine Damen und Herren, können nur gedeihen in einer produktiven Umgebung von vielen tausend Urhebern von Wort, Ton und Bild, die allesamt einen Beitrag zum Fortgang der Kultur liefern, zum Risiko der Freiheit und der schöpferischen Existenz in einer verwalteten Welt der technischen Apparate und Mechanismen.
Niemand behaupte, derlei gehe die Politik neben den nüchternen Daten nichts an. Bemerkenswert an diesem Künstlerbericht sind deswegen in erster Linie die für den Laien überraschend großen Zahlen der Angehörigen künstlerischer Berufsgruppen. Rund 30 000 arbeiten im Bereich der Musik, 12 500 in der darstellenden Kunst, 32 000 in der bildenden Kunst; nimmt man rund 25 000 Wortautoren - Journalisten, Schriftsteller, Übersetzer - hinzu, handelt es sich um rund 100 000 Künstler und Interpreten in der Bundesrepublik.
Wer aber ist ein Künstler, und für wie lange ist er es? Welche Maßstäbe sollen für öffentliche Förderung in Bund, Ländern und Kommunen gelten angesichts der Tatsache, daß nicht Justiz und Bürokratie, nicht meßbare Verläßlichkeiten und nicht einmal der immer schwankende Zeitgeist zu bestimmen vermögen, was in der Kunst Dauer hat? Künstlerischer Nachruhm obendrein gehört zu den unkäuflichsten Dingen der Welt. Sozialpolitiker stehen relativ hilflos der Tatsache gegenüber, daß in den Künsten sehr wohl auch die außerordentliche Leistung arbeitslos im Sinne des Erwerbs zu sein vermag, weil sie von den Zeitgenossen noch nicht verstanden wird. Halten können sich Parlamentarier denn auch vor allem an Einnahmen und Ausgaben, Versicherungsdaten und Beschäftigungsstatistiken in diesem Künstlerbericht.
In dem Wissen, daß es andere Kategorien gibt und folglich Ausnahmen möglich sein müssen, wird man mit dem Blick auf politische Lösungsmöglichkeiten nur sagen können: Künstler ist, wer über einen längeren Zeitraum - etwa zehn Jahre - seine Existenz überwiegend aus schöpferischer und nachschöpferischer Arbeit bestreitet. - Es erfordert, meine Damen und Herren, einen gewissen Mut, eine solche Definition anzustrengen, aber ich schlage vor, daß wir etwa in dieser Richtung, also ausgehend von Ökonomie, gemeinsam eine Definition zu finden versuchen.
Am wenigsten also, um zu ein paar Fakten und Zahlen zu kommen, verdienen selbständige Musikpädagogen, nämlich, für das Jahr 1972 errechnet, durchschnittlich nur 11 700 DM brutto. Selbständige Maler und Bildhauer kamen auf 16 100 DM im Jahr, während der Durchschnittsverdienst aller Künstler 1972 rund 22 800 DM, das Einkommen der selbständigen Künstler 22 200 DM betrug, eine Summe, die nur denen relativ hoch erscheinen mag, die nicht berücksichtigen, wieviel ein freiberuflicher Musiker, Artist oder Zeichner ohne Arbeitgeberanteil für soziale Sicherung aufbringen müßte, aber meistens nicht zu leisten vermag.
42 °/o der abhängig beschäftigten Maler und Bildhauer und 39 °/o der Selbständigen dieser Gruppe verdienen unter 12 000 DM. Meine Damen und Herren, ganz plastisch: Das sind brutto weniger als 1 000 DM im Monat. Das ist, verglichen mit dem Durchschnittsverdienst aller Arbeitnehmer, sehr wohl als Notlage, zumindest aber als intensive Schwierigkeit zu begreifen.
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Kraß fällt außerdem auf, daß das Jahresbruttoeinkommen männlicher Künstler das der Frauen in diesen Berufen um 71,8 % übersteigt, bei den selbständigen Künstlern sogar um 80 %.
Rund ein Drittel der selbständigen Maler und Bildhauer steht völlig ohne Altersversorgung da; während unter allen Erwerbstätigen 87 % sozialgesichert sind, beträgt die Vergleichszahl bei den Künstlern nur 64 %
Allein diese Zahlen sind alarmierend. Nicht zu übersehen ist außerdem die immer kritischer werdende Beschäftigungslage der Künstler in den kulturellen Bereichen und Medien. Besonders die Schauspieler -Herr Kollege Köhler hat ebenfalls schon darauf hingewiesen -, aber auch viele Autoren befinden sich angesichts der Programmeinschränkungen bei Funk, Fernsehen und Theater, Presse und Buchverlagen in einer schwierigen, im Einzelfall oft verzweifelten Lage. Erbittert fragen sich die Betroffenen - subjektiv berechtigt -, wie weit das Recht auf Arbeit nicht auch für das Recht auf künstlerische Arbeit gilt. Am risikoreichsten ist nach wie vor die freie Existenz der bildenden Künstler, am relativ ertragreichsten die der ausübenden in der ernsten Musik, wobei die Dirigenten bemerkenswerterweise mehr verdienen als die Komponisten, wie sich überhaupt nachschöpferische Leistungen ansehnlicher verkaufen lassen als originale Urheberschaft.
Ein Fazit in Kürze: Der Künstlerbericht ist eine wichtige Arbeitsgrundlage für Politiker der Bereiche Arbeit und Sozialordnung, Bildung und Wissenschaft, Inneres wie Justiz, Haushalt, Wirtschaft und Finanzen. Meine Damen und Herren, wir haben nur einen Ausschuß als federführenden Ausschuß vorgesehen; das ist der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Wir haben ferner bisher nur vorgesehen, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu beteiligen. Es ist doch darüber nachzudenken, wieweit nicht auch die anderen erwähnten Gruppen Konsequenzen aus diesem Bericht zu ziehen haben.
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Jedenfalls, von diesen Konsequenzen zu sprechen ist so notwendig wie kompliziert. Der Bericht selbst zieht diese Konsequenzen nicht. Er liefert entsprechend dem Parlamentsauftrag die Beschreibung der Ist-Situation. Daraus gesetzgeberische Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der künstlerischen Berufsgruppen abzuleiten ist unsere Aufgabe, und zwar im Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen.
Herr Kollege Köhler, die SPD-Bundestagsfraktion ist voll und ganz zu der von Ihnen erwähnten Gemeinsamkeit in diesen Fragen bereit. Wir müssen allerdings, da Sie speziell im Zusammenhang mit dieser Gemeinsamkeit auch Fragen der Freiheit der Kunst erwähnt haben, überlegen, daß es hier in der Vergangenheit recht unterschiedliche Intonierungen dieses Freiheitsbegriffes gab.
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Denn manches Mal sind in unserem Land ein Politiker - womöglich ein hochvermögender - und ein kritischer Künstler zusammengestoßen, und dann hat es immer das Mißverständnis gegeben, als sei in einem solchen Fall der Politiker der Schützenswerte. Dies ist doch wohl nicht der Fall.
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Abgesehen davon, daß wir alle miteinander schon auf Grund unserer Profession Kritik aushalten müssen; Kritik zu ertragen und in produktive Politik umzuwandeln ist unser Beruf. Deshalb sollten manche Empfindlichkeiten, wie sie unlängst in London eine Rolle spielten, nicht unbedingt so schwer genommen werden.
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Konstruktive Politik für diese Gruppen: Für die SPD-Bundestagsfraktion bedeutet das die Fortsetzung einer Urheberrechts- und Kultursozialpolitik, die im 6. und im bisherigen 7. Deutschen Bundestag mit den Stimmen der Koalition und teilweise auch unter Mitwirkung der Opposition mit mehr Entschiedenheit verwirklicht wurde, als öffentlich zum Ausdruck kam. Ich nenne nur einige Verbesserungen; denn es ist sicher richtig, das in diesem ZusamLattmann
menhang hier einmal darzustellen, auch wenn es noch einige Minuten braucht:
Die Urheberrechtsnovelle, die seit dem 1. Januar 1973 in Kraft ist. Sie bringt den bildenden Künstlern ein Folgerecht von 5 % bei jedem Weiterverkauf eines Kunstwerks. Das funktioniert, wie wir von den Betroffenen hören, im Augenblick zum Teil deswegen noch nicht, weil manche Kunsthändler noch nicht verstanden haben, daß es sich hier um ein Gesetz handelt und nicht etwa um eine Diskussionsgrundlage über verschiedene Auffassungen.
Außerdem bringt die Urheberrechtsnovelle die Bibliotheksabgabe, Ausleihtantiemen für alle Arten von Buchautoren und Übersetzern. Am 29. November 1974 wurde nach langen Verhandlungen auf der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler beschlossen, daß der Bund 10 % und die Länder 90 % zahlen. Für 1973 und 1974 geht es um die Nachzahlung von je 9 Millionen DM, wovon die Hälfte einem Autorenversorgungswerk sowie der Autorenförderung zugute kommen sollen.
Das Tarifrecht für freie Mitarbeiter der Massenmedien und kulturellen Bereiche: Der neue § 12 a des Tarifvertragsgesetzes hat seit dem 1. November 1974 Gültigkeit. Danach haben alle Autoren,, Schauspieler, Regisseure, Kameraleute, Komponisten, künstlerisch Mitwirkende das Recht zum tarifgesetzlich abgesicherten Abschluß von Musterverträgen mit ihren Auftraggebern. Wenigstens ein Drittel der jährlichen Einnahmen müssen von einem Auftraggeber bzw. einer Arbeitsgemeinschaft wie der ARD stammen.
Verbesserungen brachten ferner die Novelle zum Filmförderungsgesetz, die Öffnung der allgemeinen Renten- und Sozialversicherung für freie Berufe, die Aufstockungen der Künstlerhilfe des Bundespräsidenten, die Mitwirkungsrechte des Personalrats für die Rundfunkanstalten des Bundesrechts nach dem neuen Personalvertretungsgesetz.
In der auswärtigen Kulturpolitik, insbesondere durch eine Vielzahl von Kulturabkommen, wurden erweiterte Möglichkeiten für wechselseitige Informationen, den Austausch von Künstlerdelegationen und das umfangreiche Angebot zeitgenössischer Musik, Kunst und Literatur im Ausland geboten.
Die Kunst- und Kulturförderung durch das Bundesministerium des Innern macht - übrigens keineswegs zum Verdruß der Länder - bereits heute jährlich nahezu 200 Millionen DM aus.
Das alles ist viel und dennoch zu wenig. Konsequenzen aus der Künstlerenquete sind nach Auffassung der SPD-Fraktion in dreierlei Bereichen zu ziehen: erstens durch die Sicherung von Arbeitsmöglichkeiten für diese Berufsgruppen; zweitens in einer Verbesserung der Altersvorsorge und Krankenversicherung; drittens sind steuerliche Maßnahmen zu erwägen.
Die SPD-Fraktion hat beschlossen, eine spezielle Arbeitsgruppe für diesen Bereich, also für Kultursozialpolitik einzusetzen, in der Sozialpolitiker mit Fachleuten der übrigen angesprochenen Ausschüsse zusammenarbeiten, um Lösungen der dringendsten
Probleme nach gründlichen Einzelberatungen vorzuschlagen. Im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung finden entsprechende Beratungen mit den Sachverständigen kultureller Organisationen statt, ausgerichtet auf eine Altersversorgung für Künstler.
Mit Aufmerksamkeit und Sorge verfolgt die SPD-Fraktion die Einschränkung der Programme und damit der Arbeitsmöglichkeiten für freie Mitarbeiter bei den Anstalten des öffentlichen Rechts ARD und ZDF.
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In diesem Zusammenhang muß bedacht werden, daß Funk und Fernsehen in zurückliegender Zeit weit eher in den Programmen, besonders in den Kulturprogrammen, gespart haben als bei den technischen Kosten, Bauinvestitionen, den Gehältern der fest Angestellten und der Verwaltung insgesamt.
Ferner gibt zu denken, daß Funk und Fernsehen für nur rund 30 Pfennig am Tag immer noch zahlreiche Programme von nach internationalen Maßstäben beachtlichem technischem und inhaltlichem Niveau ins Haus liefern und daß diese Programme zu ganz erheblichem Teil vom Ideenreichtum und von der Produktivität der freien künstlerischen Mitarbeiter abhängen. Die Sender haben als Auftraggeber fast aller Gruppen, die der Künstlerbericht, in ihrem ökonomischen wie sozialen Status erforscht hat, in der vorhersehbaren Zukunft ausschlaggebende Bedeutung. Für die bildenden Künstler sind entsprechend die Projekte „Kunst am Bau" am wichtigsten.
Als zusätzliches Problem sieht die SPD-Fraktion die Tatsache an, daß u. a. in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Großbritannien und Frankreich erhebliche Bevorzugungen für nationale Produktionen - speziell im Fernsehen - bestehen, so daß ausländische Stücke und Filme scharf kontingentiert sind, wir also sehr eingegrenzte Exportmöglichkeiten haben - überraschenderweise auf kulturellem Gebiet sogar im Rahmen der EG - unter deren angeblichen Voraussetzungen einer völligen Freizügigkeit.
Auf steuerlichem Gebiet schließlich ist nicht einzusehen, meine Damen und Herren, daß Künstler und Autoren, soweit sie arbeitnehmerähnliche Urheber im Sinne des § 12 a des Tarifvertragsgesetzes sind, noch lange als Unternehmer gelten und dem Kartellgesetz wie der Mehrwertsteuer unterliegen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
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Dies ist nicht die Stunde der Versprechungen. Denn ihr Halten ist schwierig geworden in einer Gesellschaft, die aus dem Überfluß in ernüchterte Dimensionen zurückkehrt. Aber die Künstler in der Bundesrepublik haben ein Anrecht darauf, daß wir uns um sie mühen - sozialpolitisch, kulturpolitisch, auf der Grundlage dieses Künstlerberichts, über den noch viel zu sagen sein wird in der Republik des Geistes wie der sozialen Notwendigkeiten.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe - kurz: Künstlerbericht - geht auf einen einstimmig gefaßten Beschluß des Deutschen Bundestages zurück, der auf Grund eines entsprechenden Antrages der CDU/CSU-Fraktion und eines entsprechenden Votums des Bundestagsausschusses für Bildung und Wissenschaft zustande gekommen ist. Mit diesem Bundestagsbeschluß wurde die Regierung aufgefordert, einen Bericht über die wirtschaftliche Lage und die soziale Stellung der künstlerischen Berufe in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich einer vergleichenden Stellungnahme über die Verhältnisse in den entsprechenden europäischen Ländern vorzulegen. Maßgebend für diesen Beschluß war die Überlegung, daß es den künstlerischen Berufen wegen ihrer geringen zahlenmäßigen Stärke und wegen ihres schwachen Organisationsgrades nur unter großen Schwierigkeiten möglich sei, ihre Belange in den wirtschafts- und sozialpolitischen Bereichen der Gesellschaft durchzusetzen.
Die Bundesregierung beauftragte mit der Beschaffung des erforderlichen Tatsachenmaterials und seiner Aufbereitung ein Institut, das diese Materialien hiermit vorgelegt hat. Das Gutachten, das ausgearbeitet worden ist, ist dann von der Bundesregierung allerdings erheblich gekürzt, zusammengefaßt und wohl auch eigenständig ausgewertet worden. Es stellt jetzt den Bericht mit dem genannten Titel dar.
Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu dem wesentlichen Inhalt dieses Künstlerberichts. Entsprechend dem Auftrag des Bundestages enthält der Bericht eine Situationsanalyse zur wirtschaftlichen Lage und zur sozialen Stellung der künstlerischen Berufe, wobei in erheblichem Maße durch entsprechende Darstellungen, Tabellen und Schaubilder eine Verdeutlichung erreicht worden ist. Der Begriff der künstlerischen Berufe, der sehr schwer zu definieren ist - Herr Kollege Lattmann hat dies gerade unternommen -, ist in diesem Bericht sehr weit gefaßt worden. So sind z. B. auch Industrie-Designer, Bildjournalisten - damit sind allerdings nicht die einer ganz bestimmten Zeitung gemeint - und Kunsthandwerker in die Untersuchung einbezogen worden. Ausgeklammert worden sind dagegen die anderen Journalisten, die Schriftsteller sowie die freien Mitarbeiter bei Funk und Fernsehen im Wortbereich, da deren Situation bereits im sogenannten Autorenreport analysiert worden war.
Als bedeutsame Einzelergebnisse dieses Berichts sind hervorzuheben:
1. Die Zahl der in den drei untersuchten Berufsbereichen insgesamt tätigen Künstler ging von ca. 75 000 im Jahre 1950 auf ca. 62 000 im Jahre 1970, also um etwa 18 %, zurück. Relativ betrachtet sank der Anteil der Künstler an der Gesamtheit der Erwerbspersonen von 0,34 % im Jahre 1950 auf 0,23 % im Jahre 1970. Dabei war der Rückgang jeweils besonders stark in den Jahren 1950 bis 1961 - ohne daß ich daraus irgendwelche politischen Rückschlüsse ziehen will - ausgeprägt.
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- Das wäre auch ein Argument, aber ich glaube, daß das dafür nicht entscheidend gewesen ist.
2. Im Vergleich mit der Gesamtheit der Erwerbstätigen ist die junge Generation, sind die unter 30jährigen unter den künstlerischen Berufen merklich geringer vertreten. Dagegen ist die Altersgruppe der 40- bis 50jährigen und die der 50- bis 65jährigen zum Teil erheblich stärker vertreten.
3. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung steht der Kunst und den Künstlern positiv gegenüber, wobei diese sehr pauschale Aussage natürlich darauf zu untersuchen wäre, was die so befragte Bevölkerung als Kunst betrachtet. Der Kollege Köhler hat darauf hingewiesen, daß sehr wahrscheinlich der Hauptanteil im Unterhaltungsbereich anzusiedeln ist, jedenfalls der Hauptteil der Künstler, die so breite Zustimmung finden.
4. Die Künstler schätzen ihr gesellschaftliches Ansehen im allgemeinen recht hoch ein. Ebenso ordnet auch die Bevölkerung die einzelnen künstlerischen Berufsgruppen vorwiegend mittleren oder oberen Mittelschichtberufen zu.
5. Die Institutionalisierung der künstlerischen Berufsausbildung ist nicht so weit fortgeschritten, wie dies bei anderen ähnlich qualifizierten Ausbildungsgängen der Fall ist. Die künstlerische Ausbildung wird von den Künstlern selbst vielfach als unbefriedigend empfunden.
6. Der Organisationsgrad der Künstler ist im Hinblick auf gewerkschaftliche oder berufsständische Verbände als relativ hoch zu bezeichnen.
7. Der Anteil der selbständig oder abhängig tätigen Künstler differiert bei den einzelnen Berufsgruppen in erheblichem Umfang. Ganz überwiegend sind Selbständige im Bereich Musik bei Komponisten und Unterhaltungsmusikern sowie im Bereich bildende Kunst bei Malern und Bildhauern anzutreffen. Etwa gleich hoch ist der Anteil von Abhängigen und Selbständigen im Bereich Musik bei den Musikpädagogen und im Bereich darstellende Kunst bei den Regisseuren. In allen anderen Bereichen überwiegen die Abhängigen.
8. Für die Mehrzahl der Künstler ist die öffentliche Hand - insbesondere Länder und Gemeinden - Hauptarbeit- bzw. -auftraggeber.
9. Die Arbeitslosenquote lag im September 1973 bei den künstlerischen Berufen weit über dem Durchschnitt der Gesamtheit der abhängigen Erwerbstätigen. Bei den Schauspielern ist die Arbeitsmarktlage äußerst angespannt. Die Arbeitslosenquote betrug 11,6 %. Anhaltspunkte für eine besonders starke Konjunkturabhängigkeit der Arbeitslosigkeit bei künstlerischen Berufen sind allerdings nicht gegeben.
10. Das Durchschnittseinkommen - darauf wurde bereits hingewiesen - der künstlerischen Berufe lag 1972 bei 22 800 DM im Jahr, also bei 1 900 DM
im Monat. Allerdings muß hier gesehen werden, daß es eine außerordentlich breite Streuung gibt, die diese Aussage stark relativiert. Die Differenzierung muß vor allen Dingen auch im Hinblick auf das Lebensalter und das Geschlecht der Künstler vorgenommen werden.
11. Das Einkommen der künstlerischen Berufe, vor allem das der Selbständigen, unterliegt starken Schwankungen.
12. Der Umfang der sozialen Sicherung für das Alter bleibt bei den künstlerischen Berufen merklich hinter dem der Gesamtheit der Erwerbstätigen zurück. Eine der Hauptursachen dürfte darin liegen, daß bei den künstlerischen Berufen die Selbständigen überdurchschnittlich hoch vertreten sind und insoweit in der Regel keine Pflichtversicherung eingreift. Bei einem Teil der künstlerischen Berufe liegt ein Mangel an Vorsorgebereitschaft vor. Unversorgte alte Künstler können - abgesehen von einem Anspruch auf Sozialhilfe - nur in geringem
Umfang auf Einkommenshilfen rechnen.
Und letztens: Die Sicherung im Krankheitsfall ist ebenfalls in weitaus geringerem Umfang gegeben als beim Durchschnitt aller Erwerbstätigen.
Zum Aussagewert des Künstlerberichts ist festzustellen, daß nicht unerhebliche Vorbehalte hinsichtlich der Objektivität der mitgeteilten Daten angebracht erscheinen. Der Bericht ist weitestgehend allein auf die Angaben der befragten Künstler gestützt. Eine Gegenkontrolle durch objektivierbare Untersuchungsmethoden war häufig nur schwer durchzuführen. Daher dürften insbesondere die Angaben der Befragten zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen, aber auch zu der durchlaufenden Ausbildung teilweise stark subjektiv geprägt sein. Die Bundesregierung hat richtigerweise deshalb auch auf die Abhängigkeit der mitgeteilten Daten von den Angaben der Befragten hinreichend deutlich hingewiesen.
Wie die Kollegen zuvor schon gesagt haben, beschränkt sich die vorliegende Fassung des Künstlerberichts auf eine zusammenfassende Darstellung der Situation auf Grund des vorgefundenen Materials. Der Bericht enthält also keine Schlußfolgerungen. Dies mag nicht nur dem einen oder anderen Kollegen hier, sondern auch den Betroffenen unbefriedigend erscheinen. Aufgabe der Fraktionen wird es also sein, aus den hier vorgelegten Informationen nunmehr die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Es gilt dabei, Initiativen zu entwickeln bzw. fortzuentwickeln und auf solchen aufzubauen, die von dieser Koalition, zum Teil in Kooperation mit der Opposition, bereits aufgegriffen worden sind. Der Kolege Lattmann hat dies vorhin komplex dargestellt.
Dennoch weist dieser Bericht auf, daß die Situation der Kulturschaffenden in der Bundesrepublik nicht befriedigend geregelt ist. Wir werden in den bereits angesprochenen Bereichen der Sicherung der Arbeitsmöglichkeiten für diese Berufsgruppen, der Verbesserung der Altersvorsorge und der Krankenversicherung und gegebenenfalls auch der steuerlichen Maßnahmen weitere Initiativen entwickeln müssen, wobei ich wohl nichts Besonderes sage, wenn ich darauf hinweise, daß besonders steuerliche Maßnahmen derzeit sicherlich nicht das erste sein werden, was man realisieren können wird.
Dabei können wir auf den Vorschlägen der verschiedenen Organisationen aufbauen und, wie ich meine, insbesondere auch auf den Vorschlägen der Arbeitsgemeinschaft von Verbänden und Vereinigungen Kulturschaffender in der Bundesrepublik Deutschland, die diese Ende vergangenen Jahres den Fraktionen des Bundestages zugeleitet hat. Die in der Präambel des entsprechenden Papiers getroffene Aussage, daß die im Bereich der Kulturarbeit Tätigen nicht auf ein Almosen - man könnte auch sagen: auf eine Subventionierung durch den Staat - ihr Interesse richten, sondern eine Initiative für sinnvoller halten, durch die sie in die Lage versetzt wurden, ohne den Staat zu belasten, alle Probleme selbst zu bewältigen, scheint mir ein guter Ansatz zu sein. Wir werden zu prüfen haben, ob der vorgelegte Plan für ein Sozialwerk und Künstlerhofwohnwerk der deutschen Kulturschaffenden in seinen Einzelheiten unterstützt und in seinen Voraussetzungen von uns realisiert werden kann. Dazu wäre notwendig ein Gesetz über die Schaffung eines Sozialwerkes zu Alters-, Kranken-, Hinterbliebenen- und Unfallversorgung einschließlich der Errichtung des Künstlerhofwohnwerkes zu erarbeiten.
Die Verfasser des angesprochenen Planes selbst haben zwei Alternativmöglichkeiten angeregt, die wir ohne Vorbehalt prüfen werden. Die eine sieht vor, daß sich die Einnahmen des Sozialwerks aus Beiträgen der Hersteller von Vervielfältigungsgeräten sowie der Erhebung einer Urhebernachfolgevergütung rekrutieren sollen. „Vervielfältigungsgeräte" im Sprachgebrauch der Arbeitsgemeinschaft heißt: Rundfunkgeräte, Kofferradios, Fernsehgeräte, Plattenspieler usw.
Die andere Möglichkeit sieht vor, daß durch eine Änderung des Urheberrechtsgesetzes die notwendigen Beträge zustande kommen sollen. Das Gesamtvolumen von ca. 250 Millionen DM scheint auf einer realistischen Berechnung zu beruhen. Auch die Konzeption des Künstlerhofwohnwerks erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer unterstützungswürdigen Initiative.
In der Vollversammlung der Arbeitsgemeinschaft sind darüber hinaus Vorschläge für die Novellierung des Einkommensteuergesetzes dargelegt worden, denen wir allerdings skeptisch gegenüberstehen. Offen bleibt in diesen wie auch in anderen Vorschlägen allerdings und leider, inwieweit die Künstler selbst stärker als bisher bereit sind, zu ihrer sozialen Sicherung beizutragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus der Vielzahl der in dieser Debatte angesprochenen und uns auch von draußen vorgelegten Anregungen werden wir jetzt die notwendigen Maßnahmen herausgreifen müssen. Die FDP-Fraktion unterstreicht so wie die beiden anderen Fraktionen dieses Hauses ihre Bereitschaft, daran mitzuwirken.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Altestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - federführend - und an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft - mitberatend - zu überweisen. - Herr Kollege Lattmann, ich gehe davon aus, daß andere Ausschüsse von den Möglichkeiten der Geschäftsordnung Gebrauch machen und sich gegebenenfalls gutachtlich zu den hier angesprochenen Problemen äußern. - Meine Damen und Herren, ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wir stehen damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Januar, 13.30 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.