Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Dr. Frerichs hat mit Wirkung vom 15. Januar 1975 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet.
Die Fraktion der SPD hat folgende Nachwahlen vorgeschlagen:
Für den aus dem Europäischen Parlament ausscheidenden Abgeordneten Kater wird der Abgeordnete Suck als Mitglied benannt.
Für den als ordentliches Mitglied aus dem Gemeinsamen Ausschuß gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausscheidenden Abgeordneten Schulte ({0}) wird der Abgeordnete Metzger, der bisher stellvertretendes Mitglied war, benannt. Abgeordneter Schulte ({1}) wird als stellvertretendes Mitglied benannt. Abgeordneter Porzner wird für den ausgeschiedenen Abgeordneten Wienand als ordentliches Mitglied benannt.
Für das aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidende ordentliche Mitglied Abgeordneter Schulte ({2}) wird der Abgeordnete Jahn ({3}) benannt. Für die als Stellvertreter des bisherigen ordentlichen Mitglieds, des Abgeordneten Schulte ({4}), ausscheidende Abgeordnete Frau Dr. Timm wird der Abgeordnete Porzner benannt.
Für die aus dem Wahlprüfungsausschuß ausscheidenden Abgeordneten Liedtke und Dr. de With werden als ordentliche Mitglieder die Abgeordneten Jahn ({5}) und Schulte ({6}) benannt.
Ist das Haus mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die vorgeschlagenen Kollegen gewählt.
Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Bericht der Bundesregierung über die Auswirkung der Aufhebung des Grundsatzes, daß Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung von Frauen nur durch Frauen auszuüben ist
Bezug: Beschluß des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 1969
- Drucksache 7/3026 zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments über die
gegenwärtige Lage der Flüchtlinge auf Zypern
- Drucksache 7/3050 zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Konferenz der Staats- bzw. Regierungschefs am 9. und 10. Dezember 1974 in Paris
Drucksache 7/3051 zuständig: Auswärtiger Ausschuß ({7}), Innenausschuß
Betr.: Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die multinationalen Unternehmen und die Gemeinschaftsvorschriften
- Drucksache 7/3052 zuständig: Ausschuß für Wirtschaft ({8}), Finanzausschuß, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments über die Ergebnisse der Dritten internationalen Parlamentarierkonferenz zu Umweltfragen in Nairobi vom 8. bis 10. April 1974
- Drucksache 7/3053 -zuständig : Innenausschuß
Erhebt sich gegen die beabsichtigte Überweisung Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern
- Drucksache 7/273 Bericht und Antrag des Innenausschusses ({9})
- Drucksache 7/2882 - Berichterstatter:
Abgeordneter Bühling Abgeordneter Dr. Miltner Abgeordneter Dr. Wendig
({10})
Wünschen die Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Auch zur Aussprache wird das Wort nicht gewünscht.
Dann rufe ich Art. 1 bis 14 auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Art. 15 auf. Meine Damen und Herren, hierzu liegt auf Drucksache 7/3075 ein
Präsident Frau Renger
Änderungsantrag der Abgeordneten Bühling und Dr. Wendig vor, in dem beantragt wird, den Art. 15 zu streichen. Ich habe mir sagen lassen, daß das inzwischen interfraktionell beschlossen worden ist. Wer diesem Antrag auf der Drucksache 7/3075 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig beschlossen. Damit ist der Art. 15 gestrichen.
Ich rufe Art. 16 bis 32, die Einleitung und die Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig in der zweiten Beratung angenommen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung.
Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist damit in der dritten Beratung einstimmig angenommen.
Wir haben noch über den Antrag des Ausschusses abzustimmen, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - So beschlossen.
Wir kommen zur Beratung des Punktes 3 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung gesetzlich festgelegter Zuständigkeiten an die Neuabgrenzung der Geschäftsbereiche von Bundesministern ({11})
- Drucksache 7/2214 Bericht und Antrag des Innenausschusses ({12})
- Drucksache 7/2965 - Berichterstatter:
Abgeordneter Entrup Abgeordneter Bühling
({13})
Die Berichterstatter wünschen in der zweiten Lesung nicht das Wort; auch zur Debatte wird das Wort nicht gewünscht.
Ich rufe die Artikel 1 bis 58, die Einleitung und die Überschrift auf. - Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung. Das Wort wird nicht gewünscht.
Wir kommen damit zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den
bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Wir haben noch über den Antrag des Ausschusses abzustimmen, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. - Wer dem Antrag des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen?
Einstimmig angenommen.
Damit ist Punkt 3 der Tagesordnung erledigt. Wir kommen zu Punkt 4 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutze der Auswanderer ({14})
- Drucksache 7/2418 Bericht und Antrag des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit ({15})
- Drucksache 7/2983 Berichterstatter: Abgeordneter Köster ({16})
Wünscht der Berichterstatter das Wort? - Bitte, Herr Abgeordneter Köster, als Berichterstatter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich in der Drucksache 7/2983 einen Druckfehler berichtigen. Wir haben den § 2 Abs. 2 wie folgt geändert:
Für den Abschluß von Beförderungsverträgen mit Auswanderern oder im Zusammenhang damit dürfen Prämien oder andere Vergünstigungen weder gewährt noch angenommen werden.
Leider ist es unterblieben, bei den Ordnungswidrigkeiten in § 6 Abs. 1 Nr. 4 den geänderten Wortlaut des § 2 Abs. 2 aufzuführen. Hier steht „Nr. 4 unverändert". Richtig muß es heißen:
4. entgegen § 2 Abs. 2 für den Abschluß von Beförderungsverträgen mit Auswanderern oder im Zusammenhang damit Prämien oder andere Vergünstigungen gewährt oder annimmt oder
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf löst das Reichsgesetz über das Auswanderungswesen vom 9. Juni 1897 ab. Das heute geltende Gesetz und der neue Gesetzentwurf gehen vom Grundsatz der Auswanderungsfreiheit aus, und zwar der Auswanderungsfreiheit des einzelnen. Sie soll gewährleistet bleiben. Diese Freiheit, seinen Wohnsitz auch außerhalb des eigenen Staates zu nehmen, wäre erschwert oder gar unmöglich gemacht, wenn der Staat sich seiner Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber dem Wanderungswilligen entzöge.
Wer seinen Wohnsitz ins Ausland verlegen will, muß die Möglichkeit haben, sich gründlich und unabhängig zu informieren und vorzubereiten. Dieses Vorbereiten und die damit verbundene Beratung müssen frei sein von geschäftlichen und politischen Interessen, die den Auswanderer benachteiligen könnten. Eine gute Vorbereitung erhöht die
Chance, daß Wanderung nicht in einer Katastrophe endet. Der wandernde Mensch ist zunächst immer in einer besonderen Weise auf Hilfe angewiesen, befindet sich also in einer Situation, die die Möglichkeit, ausgebeutet zu werden, in sich einschließt. Es ist und bleibt daher die Aufgabe des Staates, Handhaben zu schaffen, damit einer Ausnutzung der besonderen Lage des Auswanderers wirkungsvoll begegnet werden kann.
Diese Überlegungen, die heute wie vor hundert Jahren die gleiche Gültigkeit haben, müssen jedoch bezüglich ihrer praktischen Durchführung in ein völlig gewandeltes Koordinatensystem eingefügt werden. Die soziale Not und politische Enge im Europa des 19. Jahrhunderts bewirkte für viele Auswanderungswillige dadurch eine Lebensmöglichkeit, daß sich in dieser Zeit die großen Freiheitsräume in den Vereinigten Staaten, in Australien und anderen Kontinenten öffneten und als neue Heimat anboten. Die Wanderungsbewegung war so intensiv, daß sie in ihren Auswirkungen und in ihren Formen bis heute noch andauert und wirkt.
Die Zeit, in der wir leben, ist anders. Diese Welt kann nur funktionieren wenn man sie als eine ganze, unteilbare ordnet; und das geht nicht durch Austausch von Gütern und Gedanken allein. Wir brauchen in einer ganz neuen Weise, um uns über alle Grenzen hinaus als Einheit zu erleben, den wandernden Menschen. Wir brauchen ihn, weil es Menschen geben muß, die allen festen Gewohnheiten zum Trotz auch in diesem Bereich den Mut zur Änderung und zum Neubeginn aufbringen - nicht nur um die Zufälligkeiten und Spannungen der Bevölkerungsentwicklung auszugleichen, sondern auch um die Welt als den Lebensraum der einen Menschheit aufzubauen. Die Bedeutung der Wanderung liegt also nicht nur im Aufbruch in die Welt des Abenteuers und des Unbekannten, sondern in der Erfahrung der einen Welt, die immer mehr zur Binnenwelt wird und die ihrerseits gerade als Voraussetzung den mobilen Menschen fordert.
Der wandernde Mensch manifestiert und vollzieht ein Stück unersetzlicher Freiheit. Seine Behinderung in allen Diktaturen der Welt ist der schmerzliche Beweis dafür, daß der wandernde Mensch in seiner Freiheit, zu wandern, für die Diktatur eine große Gefahr bedeutet. Von daher gesehen wird der Auswanderungsbegriff komplexer. Das Endgültige, das Abbrechen der Brücken spielt nicht mehr die ausschlaggebende Rolle. In vielen Bereichen ist die Wanderung heute bereits eine Selbstverständlichkeit, die sich in ihren zeitlichen Dimensionen den Notwendigkeiten und Entwicklungen des heutigen Lebens anpaßt.
Damit sind die Nöte des wandernden Menschen, die das 19. Jahrhundert richtig erkannt hat, keineswegs vom Tisch; aber sie sind differenzierter geworden. Die große Not von damals läßt sich heute im großen und ganzen steuern. Es kommen aber neue Belastungen hinzu. Die Bindungslosigkeit in der neuen Umwelt und damit die Gefahr der Entwurzelung, die Überforderung eines kaum mehr überschaubaren bürokratischen und technischen
Räderwerks zwischenstaatlicher Beziehungen und Abkommen.
Das vielgestaltige Bild der Mobilität wird heute geprägt von wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Motiven. Das ökonomische Motiv ist keineswegs nur vordergründig zu verstehen. Wer sein Bündel packt, um im Ausland neu zu beginnen, tut dies immer, um in irgendeiner Form mehr aus sich zu machen, um in einer veränderten Umwelt sein Ziel zu erreichen. Es mag unter nationalen Gesichtspunkten im einzelnen schmerzlich sein, wenn gute, wohlausgebildete Arbeitskräfte das Land verlassen. Das gehört aber nun einmal zur Freiheit des Menschen, die auch vom Grundgesetz her ihre volle Respektierung erhält.
Eine weitere Gruppe wandert aus politischen Gründen. Es sind Flüchtlinge, deren Lebensschicksal keineswegs mehr durch die Begriffswelt der Genfer Konvention abgedeckt wird und die häufig die bloße Sicherung ihrer persönlichen Existenz nur als erste Station ihres Leidensweges betrachten.
Eine andere Gruppe schließlich wandert aus familiären und persönlichen Gründen. Die Skala reicht von der Nachwanderung und Familienzusammenführung bis zur Heirat ins Ausland; eine Gruppe, deren Zahl heute im Steigen begriffen ist und die des besonderen Schutzes bedarf.
Mit den Maßnahmen des Staates zum Schutze der Auswanderer korrespondiert die Tätigkeit von Beratungsstellen, die von den verschiedenen Verbänden, zum Teil auch von den Kommunen, betrieben werden. Es sind zur Zeit 72. Diese Beratungsstellen gewährten im Jahre 1973 rund 76 000 Beratungen.
Mit der Tätigkeit dieser Stellen wird das Gesetz praktisch ausgefüllt und von seiner Intention her wirksam. Die Verbände sichern die vom Staat intendierte Schutz- und Fürsorgepflicht, und sie schaffen zugleich auch durch ihre internationalen Kontakte die Voraussetzung für eine umfassende Beratung. Die in der ganzen Welt wachsende zweckmäßige Mobilität kann vor allem dort, wo sie mit der Flüchtlingsnot verbunden ist, nur aus einer internationalen Verflechtung der betreuenden Verbände wirksam gelöst werden. Diese Entwicklung ist bereits vorhanden. Wir können davon ausgehen - und das Gesetz gibt dieser Entwicklung Raum -, daß die Wanderungsbetreuung mehr und mehr internationalen Charakter annehmen wird. Wenn das Gesetz Beschränkungen auferlegt, dann immer nur unter dem Gesichtspunkt der Mißbrauchsabwehr. Allein unter diesem Gesichtspunkt dürfen die einzelnen Vorschriften verstanden werden. Sie sollen jedenfalls nicht dazu dienen, positive Entwicklungen in irgendeiner Weise zu behindern.
Meine Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter und eröffne die Aussprache. Das Wort zu einer Erklärung hat der Herr Abgeordnete Schirmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie werden dem Schriftlichen Bericht und dem Antrag des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit wie den mündlichen Ergänzungen des Herrn Berichterstatters entnommen haben, daß der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Auswanderer gründlich beraten, ergänzt und letztlich einstimmig gebilligt wurde. Diese Übereinstimmung wurde nach Beratungen bei anzuerkennender Offenheit des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit erreicht, und dabei konnten auch die Empfehlungen des Bundesrates einbezogen werden.
Anders als üblich findet sich zum Begriff des Auswanderers im vorliegenden Gesetz keine Legaldefinition. Die vielen dazu bekannten, aber stets mißlungenen Versuche haben davon abgehalten. Der internationale Begriff des Auswanderers hat sich vielmehr historisch entwickelt, und wir Deutschen haben dazu unseren Beitrag geleistet. Millionen unserer Landsleute suchten im vorigen Jahrhundert und auch in diesem Jahrhundert, besonders nach 1923 und nach 1949, in Übersee wie im europäischen Ausland eine neue Heimat. Solche Daten machen aufmerksam, denn hinter ihnen stehen mit den historischen Gegebenheiten viele menschliche Schicksale.
Die großen Wellen der deutschen Auswanderung bieten in ihren Ursachen leider oft eine traurige Bilanz. Wirtschaftliche Not, politische Unterdrükkung und Verfolgung, unüberwindbare gesellschaftliche Grenzen und soziologische Abtrennungen veranlaßten damals lebenstüchtige und tatkräftige Bürger zur Auswanderung, um überkommene Enge zu überwinden. Von den damaligen Bedürfnissen und von den damaligen staatlichen Formen waren auch das Auswandererschutzgesetz und die zugehörigen Rechtsnormen geprägt.
Meine Damen und Herren, auch heute ist die Zahl der aus der Bundesrepublik Auswandernden - immerhin noch mehr als etwa 50 000 Bürger jährlich -bedeutend. Die höhere Zahl der von hier auswandernden Ausländer und Staatenlosen ist gewichtig. Aber die Motivation für die Auswanderung hat sich doch grundlegend geändert. Nicht mehr Angst, Furcht, politische Verfolgung oder gesellschaftliche Einengung sind die Ursachen für die Auswanderung, sondern zumeist der Wunsch nach persönlicher Entwicklung, dem eigenen Erleben, der Freude am Neuen, auch am Wagnis, der Versuch, nach eigenem Wunsch zu gestalten, sich in der Welt umzusehen, Aufgaben sich selbst zu stellen und zu lösen, sich zu prüfen und auch die Bewährung zu suchen.
Das in der Bundesrepublik geltende Recht sichert alle Möglichkeiten des freiheitlichen Aufenthalts und schließt auch die des Auswanderns ein. Seit 1968 ist der folgende Satz der Europäischen Menschenrechtskonvention, den ich mit Erlaubnis dei Frau Präsidentin zitieren darf, geltendes Bundesrecht:
Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.
Die Bundesrepublik hat zur Behandlung entsprechender Einzelbeschwerden insoweit auch die Zuständigkeit der Europäischen Menschenrechtskommission anerkannt. Weil wir die freie Entscheidung des einzelnen auch zur Auswanderung resepektieren, wollen wir gleichzeitig den dieser Situation angemessenen Schutz sichern. Deshalb soll die geschäftsmäßige Auswandererberatung erlaubnispflichtig sein. Rat und Auskunft über die Aussichten der Auswanderung sowie über die sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Lebensverhältnisse im Einwanderungsland sollen von zugelassenen, qualifizierten Kräften erteilt werden. Die gesetzliche Vorsorge gilt auch dem Gesundheitsschutz während der Beförderung wie - im Einzelfall - den humanitären und sozialen Fragen der Auswanderer.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Auswanderungsfreiheit beinhaltet die Anerkennung der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der allgemeinen Handlungsfreiheit, zumal der Schutz auch durch Art. 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes gegeben ist. Auf dieser Grundlage wurde das vorliegende Gesetz gestaltet. Ich danke der Bundesregierung für ihre Initiative, dem Bundesrat für seine Mitwirkung, allen Ausschußmitgliedern und besonders dem Berichterstatter für die zügige Arbeit.
Die SPD-Bundestagsfraktion und die FDP-Bundestagsfraktion wollen aktuelle Mißstände für Auswanderer nicht aufkommen lassen oder sie beseitigen. Meine Freunde wollen sachgemäße Beratung und zumutbare Förderung der Auswanderer gesichert wissen. Deshalb werden beide Fraktionen dem Auswandererschutzgesetz ihre Zustimmung geben.
({0})
Das Wort wird nicht mehr gewünscht. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nunmehr die §§ 1 bis 12, die Einleitung und die Überschrift, auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist in der zweiten Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Das Wort wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nunmehr zu Punkt 5 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts
- Drucksache 7/3060 Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({0}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Focke.
Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode - 141.. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1975 9703
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute in erster Lesung mit dem Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelrechts. Mit seiner Einbringung löst die Bundesregierung ihr Versprechen ein, in unserem Lande für mehr Arzneimittelsicherheit zu sorgen. Sie ergreift damit eine wesentliche Maßnahme zum Schutz der Gesundheit von Bürgern, Verbrauchern, Patienten; sie geht damit konsequent den Weg des vorbeugenden Gesundheitsschutzes weiter, auf dem sie mit der Gesamtreform des Lebensmittelrechts, die am 1. Januar in Kraft getreten ist, soeben erst einen Meilenstein hinter sich gelassen hat.
Wir verhandeln heute nicht über eine Fachfrage für Spezialisten, sondern wenden uns einer Aufgabe zu, die einen hohen Stellenwert im Bewußtsein der Menschen wie in der Politik der sozialliberalen Koalition hat - einer Politik, die helfen will, Forschung und wissenschaftliche Errungenschaften in den Dienst aller Menschen zu stellen. Dabei aber muß dafür gesorgt werden, daß die Risiken auf ein Minimum beschränkt bleiben.
Arzneimittel sind eine Ware besonderer Art, für die es zum Schutz der Gesundheit unserer Bürger auch besonderer Schutzvorschriften bedarf über Zulassung, Registrierung, Herstellung, Einfuhr, Rezeptpflicht, Verkauf, Gebrauchsanweisung, Werbung usw. Darüber gibt es auch grundsätzlich keine Meinungsverschiedenheit. Weltweit wird der Segen, den die Arzneimittel gebracht haben und bringen können, erkannt; allerdings gibt es auch ein geschärftes Bewußtsein für die Gefahren, die sie in sich bergen können.
Weltgesundheitsorganisation und Europäische Gemeinschaft haben uns Standards gesetzt und Aufgaben gestellt, die wir in unserer nationalen Gesetzgebung berücksichtigen müssen. Nicht zuletzt war und ist es die Contergan-Katastrophe, die uns in der Bundesrepublik Deutschland besonders betroffen hat und uns dadurch besonders bewußt gemacht hat, welche Bedeutung der Arzneimittelsicherheit zukommt.
Die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs gibt den Bürgern die Sicherheit, daß durch die Zulassung an Stelle der bisherigen Registrierung nur Arzneimittel auf den Markt kommen, die nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft auf ihre Qualität, ihre Wirksamkeit und ihre Unbedenklichkeit geprüft worden sind. Der Gesetzentwurf gibt den Herstellern eindeutige Normen für die Produktion von Arzneimitteln und verdeutlicht die Sorgfaltspflicht, die der Hersteller von Arzneimitteln in besonders hohem Maße zu erfüllen hat. Er erhält, ja erhöht die Therapiefreiheit der Ärzte, weil der Arzt durch genauere Information die Arzneimittel noch besser und individueller auswählen und damit effektiver einsetzen kann. Er erleichtert den Apothekern ihre Beratungsfunktionen. Er sorgt durch Vorschriften für den Packungsaufdruck, für die Pakküngsbeilage, für Warnhinweise, für Mindestinformationen in der Heilmittelwerbung, für die notwendigen Voraussetzungen für mehr Information, damit alle Menschen bewußter, vorsichtiger als bisher mit Arzneimitteln umgehen. Er mobilisiert den Sachverstand und die Zusammenarbeit aller am Verkehr mit Arzneimitteln Beteiligten, um die auf dem Markt befindlichen Arzneimittel ständig zu beobachten, eventuelle Risiken rechtzeitig zu erkennen, neue Erkenntnisse sofort weiterzugeben und notfalls ein Warnsystem schnell in Gang zu setzen, um ein Mittel bei Gefahr aus dem Verkehr zu ziehen.
Er regelt erstmals die Voraussetzungen für die klinische Prüfung unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes gesunder und kranker Menschen und größerer Rechtssicherheit für die klinisch prüfenden Ärzte. Er sieht einen Entschädigungsfonds für schnelle und unbürokratische finanzielle Hilfe vor, nunmehr auch in den Fällen, wo ein Verschulden nicht nachgewiesen werden kann. Denn, meine Damen und Herren, trotz aller gesetzlichen Vorsorge kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein Arzneimittelschaden vorkommt.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nach dem Prinzip angelegt: So viel Kontrolle wie nötig, damit Arzneimittelsicherheit gewährleistet ist; so viel Freiheit wie möglich, damit Erfindergeist, unternehmerische Investitionsbereitschaft, ärztliche Kunst und das Gesundheitsbewußtsein jedes einzelnen nicht beeinträchtigt werden.
Der Gesetzentwurf setzt die Zulassungskriterien streng genug an, um die Gesundheit der Bürger bestmöglich zu sichern. Aber er läßt andererseits so viel Spielraum, daß die Entwicklung neuer Arzneimittel nicht behindert wird. Er läßt der Forschung weiterhin die in Markt und Wettbewerb liegenden Impulse. Er wägt sorgfältig ab zwischen den Erfordernissen der Arzneimittelsicherheit einerseits und möglichen Auswirkungen auf die Wirtschaft andererseits, wie unvertretbaren kostenmäßigen Belastungen und wettbewerbsgefährdenden Konzentrationen. Im Zweifel allerdings votiert er für die Gesundheit. Er bevorzugt nicht bestimmte Gruppen von Arzneimitteln. Er ist nicht auf eine bestimmte „Schule" festgelegt. Durch eine flexible Palette von Prüfungskriterien und -methoden, die für die Zukunft auch eine schnelle Anpassung an neue Erkenntnisse vorsehen, sorgt er für Pluralität und Entwicklungsfähigkeit des deutschen Arzneimittelmarkts.
Mit dem Entwurf wird ein modernes Arzneimittelrecht angestrebt, das sich in Europa, ja, in der Welt sehen lassen kann. Es wertet die Erfahrungen anderer Länder aus, die positiven wie die negativen, ebenso wie die dicken Akten und die zahlreichen Gutachten des Contergan-Prozesses. Die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Gemeinschaft sind berücksichtigt. Wenn das neue Arzneimittelrecht in Kraft tritt, werden sich die Exportchancen der pharmazeutischen Industrie bei uns weiter verbessern. Gleichzeitig wird sichergestellt, daß die eingeführten Arzneimittel den bei uns gesetzten Standards entsprechen. Die Anforderungen an die Arzneimittelsicherheit, die dieser Entwurf stellt, sind streng, aber abgewogen.
Mit Entschiedenheit bestreite ich, daß der Entwurf etwa aus Lust an Regeln oder Paragraphen an sich auf eine übertriebene und unsinnige Reglementierung hinauslaufe. Ich meine auch nicht, daß dem Verordnungsgeber und der Verwaltung ein unvertretbar breiter Ermächtigungsspielraum zugestanden wird, um in Zukunft am Gesetzgeber vorbei das Arzneimittelrecht fortzuentwickeln. Die Beratungen in den Ausschüssen werden zeigen, daß die grundsätzlichen Entscheidungen ausschließlich dem Gesetzgeber zugeordnet sind.
Andererseits, meine Damen und Herren, muß berücksichtigt werden, daß gerade das Arzneimittelrecht eine rasche Anpassung an wissenschaftliche und technische Entwicklungen erfordert. Aus diesen Gründen muß dem Verordnungsgeber und der Verwaltung ein gewisser, allerdings sehr fest umschriebener Handlungsspielraum gewährt werden. Wir alle kennen das Problem von unserer Diskussion über die Reform des Lebensmittelrechts. Ich möchte die volle Unterstützung der Bundesregierung zusagen, dort mit an weiteren Konkretisierungen zu arbeiten, wo dies bei Einhaltung des obigen Prinzips der raschen Anpassung an wissenschaftliche Erfordernisse möglich ist. Denn davon gehe ich selbstverständlich aus: Nichts ist so gut, daß es nicht noch besser werden könnte.
({0})
Lassen Sie mich nun noch einige Schwerpunkte des Gesetzesvorhabens hier und heute herausgreifen. Eine lebhafte Diskussion hat sich an der Frage entzündet, was die vorgesehenen Regelungen für die Naturheilmittel bedeuten. Nun, die Bundesregierung kennt die Bedeutung der Naturheilmittel für die Therapie. Sie würdigt sie. Sie hat nicht im geringsten die Absicht, die Naturheilmittel entweder zu verbieten oder ihre Verschreibung zu verhindern oder ihnen den Zugang zum Markt durch unerfüllbare Forderungen zu versperren.
({1})
Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß für einzelne Naturheilmittel ein gewisser Nachholbedarf an einer wissenschaftlichen Untermauerung ihrer Bedeutung besteht. Zu diesem Zweck habe ich ein Forschungsvorhaben ausgeschrieben und werde Modellvorhaben zum Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei Naturheilmitteln finanziell fördern. Ich werde durch diese Modellvorhaben dafür sorgen, daß abgestufte Formen von Wirksamkeit mit dementsprechenden Prüfungskriterien nachweisbar sind.
Selbstverständlich werde ich mich des Rates solcher Personen bedienen, die auf dem Gebiet der Naturheilmittel über besondere Erfahrungen verfügen. Auch bei der Zulassungspraxis des Bundesgesundheitsamtes wird sichergestellt werden, daß diese besonderen Erfahrungen zum Zuge kommen.
Daß diese Zusagen keine leeren Versprechungen sind, beweist bereits die Tatsache, daß ich zur Beurteilung der eben erwähnten Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der Naturheilmittel einen Ausschuß eingesetzt habe, dem profilierte Vertreter der Naturheilkunde angehören.
Es wird nun von bestimmter Seite dem Staat das Recht bestritten, für die Naturheilmittel den Nachweis der Wirksamkeit zu verlangen. Aber ist es nicht selbstverständlich, daß ein pharmazeutischer Unternehmer - auch die Hersteller von Naturheilmitteln sind dies natürlich -, der Arzneimittel in den Verkehr bringt, für seine Behauptungen einzustehen hat, insbesondere seine Heilzusagen belegen muß? Muß nicht der einzelne Bürger, der ja in vielen Fällen ein Arzneimittel ohne ärztliches Rezept bezieht und einnimmt, eine Garantie dafür haben, daß die behaupteten Angaben auch zutreffen?
Es ist übrigens schon nach dem geltenden Recht so, daß ein pharmazeutischer Unternehmer sein Arzneimittel nur mit zutreffenden Behauptungen anbieten darf. Aber den Staat trifft heute die Last, ihm ein schuldhaftes Verhalten im nachhinein nachzuweisen. Vorbeugen ist auch hier besser als Heilen.
Nach alledem halte ich es nach dem Grundsatz der Prävention für geboten und zumutbar, daß derjenige, der ein Arzneimittel auf dem Markt anbietet, vorher nachgewiesen hat, daß es die erforderliche Qualität und die behauptete Wirksamkeit und Unbedenklichkeit aufweist. Es handelt sich hier übrigens um ein Prinzip, das sich weltweit durchgesetzt hat.
Der Gesetzentwurf sieht nun außerdem vor, daß homöopathische Mittel wegen ihrer hochgradigen Verdünnung lediglich registriert werden können, d. h. vom Nachweis der Wirksamkeit befreit sind, wenn es so gewollt wird. Dies gilt sowohl für Einzelmittel als auch für zusammengesetzte Mittel, die sogenannten Komplexmittel, wenn sie nach den anerkannten Regeln der Homöopathie hergestellt sind. Allerdings kann auch bei homöopathischen Mitteln dann nicht auf den Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit verzichtet werden, wenn sie so stark wirksame Bestandteile enthalten, daß sie nur unter Aufsicht eines Arztes angewendet werden dürfen und deshalb rezeptpflichtig sind.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts verlangt keineswegs für alle Arzneimittel schematisch dieselben Nachweisvoraussetzungen. Das gilt z. B. für den Nachweis der klinischen Prüfung. Es ist der Bundesregierung in schwierigen EG-Verhandlungen gelungen, daß für Arzneispezialitäten, die sich bereits im Verkehr befinden, Ausnahmen möglich sind, und weitere vertretbare Ausnahmen sollen den zulassungspflichtigen Naturheilmitteln zugute kommen. Danach bleibt die eigentliche klinische Prüfung primär auf Arzneimittel beschränkt, die neu in die Medizin eingeführt werden oder bei denen Bedenken aus Gründen der Arzneimittelsicherheit bestehen. Es handelt sich also um Fälle, bei denen auch ein eigenverantwortlicher Unternehmer im Rahmen seiner Sorgfaltspflichten klinische Prüfungen durchführen muß.
Der Entwurf sieht vor, daß eine klinisdie Erprobung von Arzneimitteln am Menschen nur unter bestimmten, hoch angesetzten Voraussetzungen vorgenommen werden darf. Auch dies ist weltweit bekannt: auf klinische Erprobung kann nicht verzichtet werden. Arzt und Patient müssen sich vor allem bei
vitalen Erkrankungen darauf verlassen können, daß die Arzneimittel helfen. Tierversuche allein reichen hier nicht aus. Man wird also in absehbarer Zeit nicht darauf verzichten können, daß eine kleine Anzahl von Personen die mit der Erprobung von Arzneimitteln verbundenen Risiken auf sich nehmen, um für die Bevölkerung eine möglichst sichere Anwendung der Arzneimittel zu gewährleisten. Ich habe hohe Achtung vor dem Gemeinschaftssinn derjenigen Bürger, die sich im Interesse der Allgemeinheit für eine klinische Erprobung von Arzneimitteln zur Verfügung stellen. Diese Bürger können daher auch einen besonderen gesetzlichen Schutz erwarten, der ihr Risiko auf ein Minimum reduziert und ihr Bewußtsein von dem Risiko, das sie auf sich nehmen, durch eine weitestmögliche Information schärft.
Meine Damen und Herren, es ist nicht damit getan - ich habe es eingangs schon kurz erwähnt -, für ein Höchstmaß an Arzneimittelsicherheit zu sorgen. Es geht auch um einen ausreichenden wirtschaftlichen Schutz für die Menschen, die trotz aller Vorkehrungen einen Arzneimittelschaden erleiden. Schreckliche Erfahrungen zwingen uns, wenigstens Vorsorge für rasche und wirksame Entschädigung zu treffen. Der Gesetzentwurf sieht hierzu einen Arzneimittelentschädigungsfonds vor,. der von den pharmazeutischen Unternehmen solidarisch getragen und finanziert wird. Er soll hauptsächlich für solche Arzneimittelschäden aufkommen, für die ein Verschulden nicht nachweisbar ist.
Die Durchführung des Gesetzes, so wie es der Entwurf vorsieht, wird eine Personalverstärkung beim Bundesgesundheitsamt erfordern. Wir haben ausgerechnet, daß der Stellenbedarf von zur Zeit 78 auf rund 215 Mitarbeiter erweitert werden müßte.
Dieser Bedarf ergibt sich vor allem aus der wissenschaftlichen Beurteilung und der verwaltungsmäßigen Behandlung der Zulassungsanträge. Er ist bereits im Ausbauplan des Bundesgesundheitsamts berücksichtigt. Teile der Zentralabteilung des Bundesgesundheitsamts und Teile des Max-von-Pettenkofer-Instituts sollen zu einem leistungsfähigen Arzneimittelinstitut im Rahmen des Bundesgesundheitsamts zusammengefaßt werden.
Neben anderen bereits eingeleiteten Maßnahmen soll auch diese organisatorische Straffung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes dafür sorgen, daß der Stau an vorliegenden Registrierungsanträgen beseitigt ist. Ich möchte noch einmal betonen, daß darauf geachtet werden wird, die zusätzlichen Stellen mit qualifiziertem Personal zu besetzen, das über besondere Erfahrungen auch z. B. auf dem Gebiet der Naturheilmittel verfügt. Seitens der Hersteller besteht natürlich außerdem die Möglichkeit, durch organisatorische Hilfen das Bundesgesundheitsamt zu entlasten und dadurch zu einer beschleunigten Zulassung beizutragen. Die Dauer des Zulassungsverfahrens hängt natürlich auch von der Qualität und Vollständigkeit der vorgelegten Unterlagen durch die Hersteller ab.
Für die Nachzulassung, die sich auf einen Zeitraum von 15 Jahren erstrecken wird, ist vorgesehen, sich hauptsächlich zusätzlichen externen Sachverstands zu bedienen. Der Entwurf sieht in Anlehnung
an die EG-Richtlinie vor, daß der bestehende Arzneimittelmarkt innerhalb einer Frist eben von 15 Jahren, einer großzügig bemessenen Frist, um die wir uns in Brüssel besonders bemüht haben, an das neue Recht angepaßt wird. Es geht aus gesundheitspolitischen und rechtlichen Gründen nicht, daß wichtige arzneimittelrechtliche Vorschriften nur für Arzneimittel gelten sollen, die neu auf den Markt gebracht werden, oder, anders ausgedrückt, daß der Arzneimittelmarkt hinsichtlich wesentlicher Anforderungen an die Arzneimittelsicherheit auf unabsehbare Zeit gespalten bleibt. Dabei kommt es allerdings darauf an, die Nachzulassung der im Verkehr befindlichen Arzneimittel so zu gestalten, daß die Forschungskapazität für die Neuentwicklung von Arzneimitteln erhalten bleibt und keine überflüssigen Nachweise verlangt werden. Es ist daran gedacht, die Arzneimittel in Gruppen nach bestimmten Indikationen zur Nachzulassung aufzurufen und dabei natürlich gleichzeitig die Kriterien mitzuteilen, unter denen die Nachzulassung erfolgen soll. Damit soll erreicht werden, daß der pharmazeutische Unternehmer möglichst frühzeitig die Nachweise zusammenstellen kann, die als Voraussetzung für die Nachzulassung erforderlich sind.
Natürlich fordert die Arzneimittelsicherheit einen gewissen Preis. Ich gehe jedoch davon aus, daß ein beachtlicher Teil der pharmazeutischen Industrie bereits heute dem im Entwurf vorgesehenen Standard gerecht zu werden versucht. Für solche pharmazeutischen Unternehmen würden durch das Gesetz keine zusätzlichen Kostenfaktoren entstehen. Preissteigerungen wären insoweit nicht gerechtfertigt. Pharmazeutische Unternehmen, die den Anforderungen des Gesetzes noch nicht genügen, müssen sich früher oder später ohnehin dem Stand von Wissenschaft und Technik anpassen. Investitionen, die für diesen Zweck vorgenommen werden, können also nicht ohne weiteres dem Gesetz allein angelastet werden.
Ich hege deshalb die berechtigte Hoffnung, daß sich das Gesamtpreisniveau bei den Arzneimitteln als unmittelbare Folge des Gesetzes nicht nennenswert erhöhen muß. Die Zulassungsvorschriften, die der Gesetzentwurf vorsieht, werden übrigens den Arzneimittelmarkt transparenter, durchsichtiger, übersichtlicher machen. Ich kann nicht ausschließen, daß dies im einen oder anderen Bereich zu Preissenkungen führen wird.
Im November 1973 es ist also ein gutes Jahr
her haben wir hier den Oppositionsentwurf einer
Teilnovelle zum Arzneimittelgesetz behandelt. Ergänzend dazu hatte die Opposition die Bundesregierung in sehr weitgehenden Bereichen um Formulierungshilfe gebeten. Ich habe damals gesagt: erstens ist es mit Flickwerk nicht mehr getan, zweitens müssen wir uns auch nicht mehr mit Flickwerk bescheiden - die Vorarbeiten der Bundesregierung sind so weit gediehen, daß im Sommer dem Bundesrat ein umfassender Gesetzentwurf zugeleitet werden kann -, und drittens wird die Bundesregierung gern Formulierungshilfe leisten, allerdings in einem systematisch angepackten Gesetz zur umfassenden Neuordnung des Arzneimittelrechts. Heute stelle
ich fest: der Gesetzentwurf liegt fristgerecht vor, die Bundesregierung hat gute „Formulierungshilfe" geleistet, und, meine Damen und Herren von der Opposition - Ihr Entwurf einer Teilnovelle hatte ja bewiesen, auch Sie wollen mehr Arzneimittelsicherheit -, in wichtigen Regelungen gibt es Übereinstimmung.
Ich hoffe nun, daß Sie die Anstrengung der Bundesregierung honorieren, indem Sie so sachlich und konstruktiv, wie es trotz unterschiedlicher Auffassungen in Teilfragen, über die im Detail zu reden sein wird, möglich ist, in den Ausschüssen an diesem Gesetz mitarbeiten,
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so daß ein wichtiges Stück Gesundheitspolitik verwirklicht werden kann.
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Ich danke der Frau Bundesminister und eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Prinz zu Sayn-Wittgenstein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Am 4. Oktober 1973 hatte die CDU/CSU-Fraktion den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arneimittelgesetzes - Arzneimittelsicherheit - sowie einen Antrag zur Weiterentwicklung des Arzneimittelwesens vorgelegt, in dem grundsätzliche gesundheitspolitische Forderungen gestellt wurden. Mit diesen Initiativen hat meine Fraktion schon damals deutlich gemacht, daß wir der Verbesserung der Arzneimittelsicherheit zum Schutze des Verbrauchers einen hohen Rang in unserer Gesundheitspolitik einräumen. Insoweit stimmen Zielsetzung von Opposition und Bundesregierung überein.
Zu der von der Bundesregierung angekündigten Gesamtreform habe ich jedoch wiederholt Zweifel angemeldet, ob bei der sehr komplexen Materie, wie sie die Gesamtreform des Arzneimittelrechts darstellt, der von der Bundesregierung vorgesehene Zeitplan eingehalten werden könnte. Diese Zweifel waren um so berechtigter, als wir annehmen mußten, daß die Bundesregierung im Hinblick auf zahlreiche auch von der Wissenschaft bis heute nicht eindeutig abgeklärte Problembereiche ausführliche Anhörungen und Abstimmungen mit allen Beteiligten suchen würde. Heute ist festzustellen, daß erstens für Teilbereiche sehr fragliche Lösungsvorschläge erarbeitet wurden und zweitens in anderen Teilbereichen letzte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mit der gebührenden Sorgfalt in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden sind.
Neben den bereits erwähnten und durch die Entwicklung inzwischen bestätigten Bedenken hat sich auch meine Vermutung als richtig erwiesen, daß das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit nicht in der Lage gewesen ist, den angekündigten Zeitplan einzuhalten, wenn ich auch einräumen I will, daß die Verzögerung sich durchaus noch in erträglichem Rahmen hält. Vielleicht, meine Damen und Herren, war die Verzögerung sogar beabsichtigt, um der einzigen Frau im Kabinett die Möglichkeit zu eröffnen, das erste Gesetz im soeben von den Vereinten Nationen proklamierten Jahr der Frau der Öffentlichkeit zu übergeben.
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Ob es sich bei diesem Gesetz allerdings um eine Reform handelt, die den Namen verdient und - mit Ihren Worten, Frau Minister - „gemessen an ihrem Nutzen verhältnismäßig wenig kostet", muß sich noch erweisen. Wenn Sie dieses Gesetz heute dem Bundestag vorlegen können, verdanken Sie das vor allem dem Fleiß der Mitarbeiter Ihres Hauses, die unter enormem Zeitdruck diesen Gesetzentwurf erstellen mußten. Auch wenn man auf Vorarbeiten aus der Zeit Ihrer Vorgängerinnen im Amt zurückgreifen konnte, so mindert das nicht die Anerkennung für den Arbeitseinsatz.
Ich komme jedoch nicht umhin, festzustellen, daß unter diesem Zeitdruck nicht zuletzt demokratische Verfahrensweisen gelitten haben, ganz abgesehen davon, daß den vom Gesetz Betroffenen durch ein ausgeklügeltes „Timing" wirklich nur eine - wie Sie selbst gesagt haben - „bemerkenswert kurze Zeit" zur Verfügung gestanden hat und wir uns fragen müssen, ob Sie sich bei einem solch schwierigen Gesetz - wie Sie wiederum selbst sagten - tatsächlich die notwendige Zeit genommen haben - wieder mit Ihren Worten -, „um alle Probleme von allen Seiten her zu beleuchten, alle Argumente, Gegenargumente und Einwände zu hören". Das werden die Ausschußberatungen noch zeigen. Auch das Parlament bekam bereits von diesem Zeitdruck etwas zu spüren. Ich denke daran, daß wir erst nach Rückkehr von der Fraktionssitzung in Berlin am letzten Dienstagabend die Bundestagsdrucksache dieses Gesetzes in unseren Fächern vorfanden.
Meine Fraktion hat ihre schon erwähnten Initiativen am 4. Oktober 1973 deshalb eingebracht, weil sie der Überzeugung war, daß sehr akute Probleme der Arzneimittelsicherheit, die insbesondere im Verlauf des Contergan-Falles deutlich wurden und für deren Bewältigung weder das Arzneimittelgesetz von 1961 noch die Novelle von 1964 ausreichende gesetzliche Handhaben lieferten, im Interesse des Patienten, des Verbraucherschutzes schnell, praktikabel und flexibel gelöst werden mußten. Wir hielten aus Erfahrung - und das im Gegensatz zu Ihnen - eine Politik der Weiterentwicklung des Arzneimittelgesetzes in überschaubaren Schritten für erfolgreicher.
Eine Gesamtreform birgt immer die Gefahr des Alles oder Nichts in sich. Wir können zwar feststellen, daß die Gesetzesvorlage in relativ kurzer Zeit erarbeitet worden ist. Wir stellen auch fest, daß im Vergleich zum ersten Referentenentwurf sehr umstrittene Regelungen, wie Gefährdungshaftung, Zulassung von Homöopathika und Phytotherapeutika, wenig bestimmte Ermächtigungen, VorPrinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
schläge des interministeriellen Arbeitskreises des Wirtschaftsministeriums sowie unpräzise Begriffe entweder auf der Strecke geblieben oder abgeändert worden sind. Eine erste eingehende Prüfung des Gesetzentwurfs ergibt dennoch: Nicht eine ausgewogene, gründlich diskutierte und in allen Konsequenzen überlegte Vorlage war Ziel Ihrer Arbeit, sondern die Erreichung eines ausschließlich aus politischen Motiven gesetzten Zieles, um von Reformen zu retten, was zu retten ist.
Ausschlaggebend, Frau Minister, ist aber nicht, daß, sondern wie die Vorlage erarbeitet worden ist. Sie, Frau Minister, haben soeben Ihre Zielvorstellung präzisiert. Wir werden den Gesetzentwurf, für den Sie die politische Verantwortung tragen, sehr eingehend daraufhin zu prüfen haben, ob diese Ziele tatsächlich erreicht worden sind. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß meine Fraktion ihre politische Verantwortung als Gesetzgeber für dieses wie für jedes Gesetz sehr ernst nimmt. Aus eben dieser Verantwortung werden wir auf einer gründlichen Beratung aller strittigen Probleme im Ausschuß bestehen. Wir sind nicht bereit, aus wahltaktischen Gründen über Mängel hinwegzusehen, die der Gesetzentwurf zwangsläufig haben muß, da noch so fleißige Beamte diese unter dem bereits zitierten Zeitdruck nicht alle ausmerzen konnten, auch deswegen, weil der Sachverstand vieler, die bisher nicht gefragt wurden, bei der Erarbeitung des Regierungsentwurfs nicht berücksichtigt worden ist.
Wir werden diesem Gesetz so lange nicht zustimmen können, wie wir nicht ausreichend Klarheit über mittel- und langfristige Auswirkungen dieses Gesetzes erhalten haben, und es wird nicht zuletzt an der Qualität der Vorarbeit Ihres Hauses, Frau Minister, liegen, in welchem Zeitraum die parlamentarische Beratung des Gesetzes beendet werden kann. Wir müssen uns vorbehalten, die Voraussetzungen, die Ihren Entscheidungen zugrunde lagen, zu überprüfen und, wenn wir sie nicht nachvollziehen können, andere Lösungsvorschläge in die Diskussion einzuführen. So zeigt allein die Tatsache, daß der Bundesrat im Rahmen seiner doch recht kurzen Beratungszeit immerhin in 61 Punkten Änderungsvorschläge vorgelegt hat, daß der Gesetzentwurf verbesserungsbedürftig ist.
Was nun die Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs betrifft, nämlich die Erreichung einer optimalen Arzneimittelsicherheit zum Schutze des Verbrauchers, so kann ich hier nur wiederholen, was ich anfangs feststellte: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß eine Anpassung des geltenden Rechts auf Grund gesicherter Erkenntnisse an die Entwicklungen der letzten Jahre geboten ist. Energisch aber müssen wir denjenigen widersprechen, die im Verlauf der Arzneimitteldiskussion den Eindruck zu erwecken suchten, als ob das deutsche Arzneimittelrecht völlig unzulängliche Regelungen enthielte, als ob bisher der Verbraucher Freiwild von profitgierigen Apothekern, Ärzten und Herstellern gewesen sei. Solche chaotischen Zustände herrschen Gott sei Dank in der Bundesrepublik nicht, sonst müßte man sich doch wohl z. B. fragen, wodurch das weltweite Ansehen der deutschen pharmazeutischen Erzeugnisse zu erklären ist.
Bei den erforderlichen Änderungen des geltenden Rechts haben wir die Erste EG-Richtlinie, die GMP-Richtlinie der WHO, die Prüfrichtlinien vom 11. Juni 1971, wesentliche Kriterien des Einstellungsbeschlusses zum Contergan-Prozeß und die Übernahme der Monographien des Europäischen Arzneibuches zu berücksichtigen. Aus Pressemeldungen und Interviews ist bekannt, daß Sie, Frau Minister, besonders die Vorwegnahme der Zweiten und Dritten EG-Richtlinie als vorausschauende Leistung dieses Gesetzentwurfs hervorgehoben haben. Ich halte das allerdings nicht für eine vorausschauende Leistung, sondern für eine übereifrige Vorleistung. Wo sind denn die konkreten EG-Standards, an denen wir uns bei den Beratungen zu orientieren hätten? Sie, Frau Minister, haben bereits im November 1973 verkündet, daß die Verabschiedung der 2. und 3. Richtlinie der EG kurz bevorstünde. Diese Richtlinien sind bis heute nicht nur nicht verabschiedet worden, sondern wurden im Verlauf der Beratungen des letzten Jahres wieder geändert. Als man kurz vor Weihnachten 1974 meinte, den kleinsten wenn auch gerade noch tragbaren gemeinsamen Nenner gefunden zu haben - nicht zuletzt wieder auf Grund deutscher Nachgiebigkeit -, legte sich Belgien in letzter Minute quer. Und wieder ist das Abstimmungsergebnis völlig offen. Eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Verabschiedung der Richtlinien ist also angebracht. Solange aber die 2. und 3. Richtlinie und die damit verbundene Änderung der 1. Richtlinie nicht endgültig vom Ministerrat abgesegnet sind, frage ich mich, auf Grund welcher Voraussetzungen, welcher verbindlichen Normen beraten werden soll. Laufen wir nicht Gefahr, Regelungen zu konzipieren, die durch noch ausstehende Brüsseler Beschlüsse alsbald wieder revidiert werden müssen? Oder glauben Sie etwa, daß durch Setzung nationalen Rechts EG-Recht präjudiziert werden kann? Sollte das der Fall sein, so lassen Sie sich doch einmal die Erfahrungen, die wir nach der Verabschiedung des deutschen Weingesetzes hier in diesem Hohen Hause machen mußten, von Ihrem Ministerium zusammenstellen.
Noch eines: Die EG-Richtlinien entsprechen erst dann dem EWG-Vertrag, wenn sie die gegenseitige Anerkennung der nationalen Zulassung gewährleisten oder die Zulassung künftig durch eine EG-Behörde vorgesehen wird - eine Position, die auch der Bundestag in seiner Entschließung vom 29. Juni 1966 bezogen hat, um dem Ministerium für die Verhandlungen in Brüssel parlamentarische Rükkendeckung zu geben. Heute muß man fragen, warum das Ministerium diese Rückendeckung nicht genutzt und diese Position ohne Not wieder aufgegeben hat.
Wir sollten uns davor hüten, grundsätzlich verbindliches EG-Recht, internationale Empfehlungen oder nationale Verfahren anderer Staaten unkritisch zu übernehmen, nur um den ersten Platz in der Rangliste zu erreichen: in der Rangliste größter unkritischer Anpassungsfähigkeit.
Auch rechtlich besteht dazu kein Anlaß, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 29. Mai 1964 feststellt. In diesem Urteil heißt es:
Solange EG-Recht nicht durch parlamentarische Gremien gesetzt wird, sondern durch die Kommission, die von den Exekutiven beschickt wird, solange ist EG-Recht an dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes zu messen.
Ein weiteres Problem: Der Regierungsentwurf stellt das bisherige formelle Registrierungsverfahren nunmehr auf ein materielles behördliches Zulassungsverfahren um. Die diesem Zulassungsverfahren zugrunde liegenden Kriterien der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sind gleichfalls Vorgaben aus Brüssel. Auch wir hatten diese Forderung 1973 in unseren Gesetzentwurf übernommen.
Um der Versachlichung der Diskussion in diesem nach wie vor umstrittenen Bereich willen sollte deutlich gemacht werden, daß das Erfordernis des Wirksamkeitsnachweises nicht nur für die Herstellung von Homöopathika, Phytotherapeutika, Anthroposophika, allopathischen Naturheilmitteln, sondern auch für die Hersteller allopathischer Synthetika mit Schwierigkeiten verbunden ist. Der Wirksamkeitsnachweis kann nach Aussagen namhafter Wissenschaftler auch bei allopathischen Synthetika nur für ganz bestimmte Präparategruppen erbracht werden. Wie sollen wir gesetzlich normieren, was von der Wissenschaft selbst bisher nicht entschieden ist?!
Weiter werden wir Antworten auf die Fragen finden müssen, inwieweit der Wirksamkeitsnachweis nur Nachweis der Wirkung ist, ob ex cathedra objektiv festgelegt werden kann, welches Arzneimittel bei subjektiven Beschwerden, deren Ursache nicht oder noch nicht bekannt ist, angezeigt ist, ob künftig lediglich organische Defekte behandelt werden sollen oder nicht auch psychosomatische Zusammenhänge berücksichtigt werden müssen. Wir werden sorgfältig zu prüfen haben, inwieweit nicht nur die Therapiefreiheit der homöopathischen und anthroposophischen Ärzte, sondern die Therapiefreiheit des Arztes schlechthin zur Disposition gestellt wird, wenn die Wirksamkeit nur durch Bezug auf die Anwendungsgebiete definierbar ist.
Unter anderem heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs zum Ziel optimaler Arzneimittelsicherheit - ich zitiere -:
Dieses Ziel konzentriert sich auf die Forderung, daß in Zukunft alle Arzneimittel die erforderliche Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit aufweisen. Diese drei Kriterien sollen in einem solchen Maße den Wert eines Arzneimittels charakterisieren, daß sie im Unterschied zum bisherigen Recht als Voraussetzungen für eine amtliche Zulassung statuiert werden.
Warum eigentlich, so muß man doch in diesem Zusammenhang fragen, sind bei den vielen Begriffsbestimmungen des § 4 dann nicht die entscheidenden Begriffe dieses Gesetzes, nämlich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, konkret definiert worden, von anderen ebenfalls fehlenden Definitionen ganz zu
schweigen? Daher ist der Eindruck nicht zu bestreiten, daß zwar im Gesetz von Wirksamkeit gesprochen wird, aber Wirkung gemeint ist. Kann das aber im Hinblick auf die zentrale Bedeutung dieses Begriffes hingenommen werden?
Nicht immer, meine Damen und Herren, ist die Diskussion in der Öffentlichkeit bisher mit der dem Problem angemessenen Sachlichkeit geführt worden. An die Adresse der Anhänger der Homöopathie, der anthroposophischen Medizin und der Naturheilkunde sei gesagt, daß sich die CDU/CSU-Fraktion mit allen sachlichen Einwänden und Vorschlägen sorgfältig auseinandersetzen wird.
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Mein Fraktionskollege Herr Dr. Hammans hat von dieser Stelle bereits im Jahr 1973 im Zusammenhang mit unserem Gesetzesvorhaben eindringlich darauf hingewiesen, daß diese Problematik in anderen Ländern, auch in EG-Ländern, nicht so vielschichtig ist wie bei uns. In diesen Ländern gehört die Naturheilkunde nicht in dem Umfang oder überhaupt nicht zum Arzneimittelschatz. Wegen dieser unserer nationalen Besonderheit werden wir uns besonders kritisch - gerade auch im Hinblick auf die Vorgaben der EG - mit dem Problem auseinanderzusetzen haben. Wir müssen hier zu vernünftigen und angemessenen Lösungen kommen.
Ich betone ausdrücklich, daß sich die CDU/CSU-Fraktion wie bisher sehr entschieden für die Therapiefreiheit des Arztes einsetzen wird und damit auch für die Möglichkeit der Herstellung und Anwendung von Homöopathika, Phytotherapeutika und allopathischen Naturheilmitteln. Wir werden die vorgesehenen Regelungen dahin gehend prüfen, ob sie den im Prinzip von allen Parteien vertretenen Grundsätzen der Therapiefreiheit des Arztes, dem Standpunkt des Pluralismus und des Schutzes der Minoritäten auch in den medizinischen Wissenschaften und der Praxis der verschiedenen Heilverfahren entsprechen.
Manche Äußerungen aus Kreisen der SPD werfen allerdings die Frage auf, ob die Verkündung dieser Prinzipien dort nicht nur Lippenbekenntnisse sind.
Zur Problematik der Relation von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ergeben sich unter anderem folgende Fragen:
Wenn mit zunehmender Wirksamkeit eines Arzneimittels auch dessen Risiken, die Häufigkeit und die Intensität der Nebenwirkungen zunehmen - dies ist wohl eine von der Wissenschaft allgemein akzeptierte Feststellung -, fallen dann durch das Sieb der künftigen gesetzlichen Regelung nicht ausgerechnet die unbedenklicheren Arzneimittel? Denn für den Hersteller ist es methodisch einfacher bzw. überhaupt erst praktikabel und wohl auch kostengünstiger, den Wirksamkeitsnachweis für stark wirkende Medikamente zu erbringen. Somit würde genau das Gegenteil dessen erreicht, was eigentlich durch dieses Gesetz angestrebt wird.
Eine andere Frage: Geht eine tatsächlich unbestreitbare Zahl der auf Arzneimittel zurückzuführenden Erkrankungen und Todesfälle wirklich nur zu
Lasten der Toxizität der Arzneimittel, oder ist sie auch auf den übermäßigen Gebrauch von Arzneimitteln zurückzuführen, also auf das Konsumverhalten der Verbraucher? Auch wurde dieser Tage zu Recht von der Aktion „Das sichere Haus" darauf hingewiesen, daß bei einem Großteil der 30 000 bis 35 000 Vergiftungsschäden bei Kindern unsachgemäße Aufbewahrung von Medikamenten eine der Hauptursachen für Schädigungen ist.
Nächste Frage: Seit 1971 werden Arzneimittel - nicht nur neue Substanzen - vom Bundesgesundheitsamt nach der Prüfrichtlinie „zugelassen", allerdings extra legem. Interessant wäre nun, zu erfahren, in welchem Verhältnis die Gefährdung durch Arzneimittel vor 1971 - also nur die Registrierung - zu der nach 1971 - also quasi Zulassung - steht? Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, Ihnen einen Eindruck von der vielschichtigen Problematik bei der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln zu geben.
Hinsichtlich der Zulassung bzw. Registrierung von Phytotherapeutika und Homöopathika ist nach unserer Auffassung bei der Überarbeitung der Referentenentwürfe ein Schritt in die richtige Richtung getan. Eine letztlich befriedigende Antwort ist allerdings noch nicht gefunden. Änderungen werden auch hier notwendig sein. Zu überlegen z. B. wäre, ob das nun gefundene Prinzip erweitert werden kann; wieweit - ob auch auf freiverkäufliche Naturheilmittel -, wird zu prüfen sein.
Notwendig scheint vor allem - dies hat auch der Bundesrat festgestellt -, eine klare Legaldefinition der Begriffe Homöopathika und Phytotherapeutika zu schaffen. Diese Forderung nach Rechtsbestimmtheit der Begriffe und nach begrifflicher Schärfe bezieht sich ebenfalls auf etliche andere Formulierungen, auf die in den Beratungen noch einzugehen sein wird. Denn ein „Juristenförderungsgesetz", wie es in der Öffentlichkeit bereits befürchtet wurde, wollen wir in keinem Fall in diesem Hohen Hause hier beschließen.
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In engem Zusammenhang mit dem Problem des Wirksamkeitsnachweises steht der Komplex der klinischen Prüfung, ebenfalls heiß umstritten. Abgesehen einmal von der vielschichtigen ethischen Problematik, stellt sich nach diesem Gesetzentwurf doch die große Frage, ob die Bestimmungen überhaupt praktikabel sind. Wenn die nachweisbare Wirksamkeit als Voraussetzung für die Zulassung eines Arzneimittels gilt, dann müßte der Gesetzgeber auch die Voraussetzung dafür schaffen, daß dieser Wirksamkeitsnachweis in den verschiedenen Stadien der klinischen Prüfung erbracht werden kann.
Der schon angesprochene Komplex der nachträglichen Zulassung wird noch einer eingehenden Diskussion bedürfen. Erörtert werden muß die Frage, ob aus gesundheitspolitischen Gründen ein ungeteilter Arzneimittelmarkt tatsächlich unerläßlich ist oder ob die diesbezüglichen Bestimmungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten, und zwar im Hinblick auf die Tatsache, daß heute auf
dem Markt befindliche Arzneimittel entsprechend dem gültigen Recht legal auf dem Markt sind und durch jahrzehntelange „Erprobung am Menschen" ihre Unbedenklichkeit als erwiesen gelten kann. Zu prüfen ist also, ob die Nachzulassung von Arzneimitteln unter Berücksichtigung auch der Verhältnismäßigkeit der Mittel aus Gründen der Arzneimittelsicherheit unabdingbar notwendig ist, ob der dadurch anfallende Kostenaufwand sowie die Beanspruchung von schätzungsweise 50 % der Forschungskapazität angemessen und vertretbar sind.
An dieser Stelle erscheint der Hinweis angebracht, daß sich meine Fraktion bei einer Reihe von in diesem Gesetz vorgesehenen Regelungen eine Prüfung aus rechtsstaatlicher Sicht ausdrücklich vorbehält.
Grundsätzlich haben wir uns bei allen gesetzlichen Regelungen, die mehr staatlichen Eingriff beinhalten, zu fragen, ob mehr Staat auch mehr Sicherheit bedeutet. Wir haben zu berücksichtigen, daß auch bei sorgfältigster Beurteilung aller Kriterien vor der Einführung eines Arzneimittels „seine therapeutische Anwendung ein niemals endendes Experiment", wie Friebel kürzlich feststellte. In die Jurisdiktion der USA z. B., des von vielen hochgepriesenen Landes der Arzneimittelsicherheit, hat die Auffassung Eingang gefunden, daß Arzneimittel „unavoidable unsafe", unvermeidbar unsicher, sein können. Ein noch so rigoroses Arzneimittelgesetz wird also niemals endgültig sicherstellen können, daß sich nach menschlichem Ermessen eine Contergan-Katastrophe nicht wiederholt. Der Staat kann durch Gesetz die möglichen Gefahren einschränken. Dazu ist der Gesetzgeber aus seiner Verantwortung für die Sicherung einwandfreier Arzneimittel und einer geordneten Arzneimittelversorgung verpflichtet.
Dies aber, Frau Minister und auch Herr Kollege Hauck, ist nicht, wie Sie den Anschein zu erwecken suchten, ein SPD-Grundsatz, sondern ein allgemeingültiger, der bereits im Apotheken-Urteil fixiert wurde.
Und noch eines, Herr Hauck: Der Staat ist nicht in der Lage, die Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger zu übernehmen, wie Sie einmal im Pressedienst Ihrer Partei geschrieben haben. Das aus dem Munde eines SPD-Politikers zu hören ist mehr als erstaunlich, andererseits aber auch wieder logisch. Erstaunlich deshalb, weil doch die SPD den mündigen Bürger aus der Taufe gehoben haben will; logisch deshalb, weil das dem Prinzip der Kollektivierung entspricht.
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Wollen wir uns lieber auf den Grundsatz einigen: Reglementierung durch den Staat nur dort, wo sie sachlich geboten ist.
Das betrifft zum Beispiel auch die Ermächtigungen, die in diesem Gesetz vorgesehen sind. Selbstverständlich hat die Regierung das Recht, in einem Gesetz Ermächtigungen vorzusehen; sie sind dort zwingend notwendig, wo um der sachlich gebotenen Aktualisierung willen Verwaltungsvorschriften und Rechtsverordnungen erlassen werden müssen, da ein Gesetz nicht laufend novelliert werden kann.
Aber wir können keinem Gesetz zustimmen, in dem nicht diese Ermächtigungen hinreichend konkretisiert worden sind. Die schlechten Erfahrungen der Vergangenheit, wie zum Beispiel beim Krankenhausfinanzierungsgesetz, haben uns in dieser Auffassung nur bestärkt.
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Deshalb haben wir mit großer Befriedigung auch heute zur Kenntnis nehmen können, daß das Ministerium bereit ist, bei den Ausschußberatungen im einzelnen darzulegen, wie es die Ermächtigungen inhaltlich auszufüllen gedenkt.
Auch wir, meine Damen und Herren, haben seinerzeit - wie jetzt in § 45 Abs. 2 vorgesehen - eine Verschärfung der Rezeptpflicht gefordert, die die Unterwerfung ganzer Arzneimittelgruppen unter die Rezeptpflicht ermöglicht. Freimütig sei zugegeben, daß wir die damit verbundene Problematik noch einmal unter (die Lupe nehmen müssen. Zu fragen ist nämlich, ob das Instrument der Unterstellung unter die Rezeptpflicht, das bisher kontinuierlich verschärft wurde, tatsächlich das verfolgte Ziel der Verhütung von Arzneimittelmißbrauch erreicht. Dieses müssen wir um so mehr prüfen, als die in diesem Gesetz vorgesehene Beschränkung der Werbung sowie die Verpflichtung zu stärkerer Verbraucherinformation und eindeutigen Warnhinweisen sinnvollere Maßnahmen sein können, um Gefahren des zu langen oder zu häufigen Gebrauchs von Arzneimitteln entgegenzuwirken.
In diesem Zusammenhang kommt dem Alarmplan und idem Informationsverbund, wie wir ihn bereits 1973 gefordert hatten, große Bedeutung zu.
Wir können durch Gesetz Arzneimittelmißbrauch steuern; verhindern können wir ihn ebensowenig wie Mißbrauch von Nikotin oder Alkohol, selbst nicht durch Prohibition, wie wir in anderen Ländern immer wieder beobachten können.
Es ist vielmehr Aufgabe der gesundheitlichen Aufklärung und Beratung, stärker als bisher den mündigen Bürger in seiner Eigenverantwortung anzusprechen. Ohne die Mitwirkung des Bürgers läßt sich auch das Konsumverhalten im Arzneimittelbereich nicht verändern. Hier haben Ärzte wie Apotheker durch Beratung und Information eine eminent wichtige gesundheitspolitische Aufgabe.
Auch der Entschädigungsfonds, meine Damen und Herren, wird ein heißumstrittenes Thema sein; nicht zuletzt deshalb, weil hier rechtspolitisches Neuland betreten wird. Von dem gesamten Haftungskomplex, der im ersten Referentenentwurf des Ministeriums enthalten war, ist nur der Arzneimittel-Entschädigungsfonds übriggeblieben.
Die gesundheitspolitische und insbesondere sozialpolitische Absicht, die mit der Einrichtung des Entschädigungsfonds verfolgt wird, ist anzuerkennen. Zu prüfen haben wir allerdings, ob diese Regelungen rechtspolitischen und rechtssystematischen Bewertungen standhalten, und zwar im Hinblick auf die isolierte Einrichtung des Fonds im Pharma-Bereich und damit verbundene mögliche präjudizierende Auswirkungen. Zu prüfen haben wir, ob die
ursprünglich individuelle Gefährdungshaftung nicht nur vergemeinschaftet worden ist, ob dem Prinzip der Insolvenzhaftung Vorschub geleistet wird, wenn Schadensfälle nachweisbar auf das Verschulden eines Herstellers zurückzuführen sind, dieser aber nicht in der Lage ist, für den Schaden aufzukommen. Es fragt sich schließlich, ob die Konstruktion dieses Fonds überhaupt funktionsfähig ist.
Der letzte Punkt, mit dem ich mich hier, meine Damen und Herren, befassen will, der allerdings für die Gesamtbeurteilung nicht der unwichtigste ist, ist das Kosten- und Personalproblem. Sie, Frau Minister, sagten, man habe sich bemüht, die finanziellen Auswirkungen zu beschränken. Ist daraus zu schließen, daß Sie inzwischen in der Lage sind, ganz konkrete Angaben über die Höhe der Kosten zu machen? Oder geht man der Einfachheit halber davon aus, daß bis zum Termin der Bundestagswahl - abgesehen von den im Gesetzentwurf angeführten Kosten für das BGA und die Länder - keine anderen Kostenrechnungen vorliegen werden, daß man also bis zu diesem Termin die Fiktion - so Ihre Worte - „einer Reform, die ihren Namen zu Recht trägt und zudem noch verhältnismäßig wenig kostet", aufrechterhalten kann - nach dem Motto: nach mir die Sintflut?
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Auch können wir Ihnen nicht abnehmen, daß die Zahl der vorgesehenen Mitarbeiter im Arzneimittelinstitut und bei den Ländern ausreichen wird, um die im Gesetzentwurf vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Trotz aller Bemühungen war das Bundesgesundheitsamt bisher doch einfach nicht in der Lage, die sehr viel einfacheren Bestimmungen des jetzt gültigen Gesetzes auszufüllen. Wartezeiten von zwei bis drei Jahren bei einer formellen Registrierung sind an der Tagesordnung.
Bisher konnte uns, meine Damen und Herren, niemand klarmachen, wie bei einer verstärkten Prüfung durch Umwandlung des Registrierverfahrens in ein materielles Zulassungsverfahren dieser Flaschenhals im Bundesgesundheitsamt soll beseitigt werden können. Sind Sie, Frau Minister, z. B. an Hand von statistischen Berechnungen zu der Überzeugung gelangt, daß das notwendige biologische Material wie auch die ausgebildeten Pharmakologen in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen werden? Das Gegenteil wird wahrscheinlich der Fall sein. Selbst bei einer Vermehrung der Personalstellen werden hier ständig Schwierigkeiten entstehen.
Auch muß ich in diesem Zusammenhang den Einwand wiederholen, den ich bei der Debatte über unseren Gesetzentwurf im November 1973 bereits in die Diskussion eingeführt hatte, daß es nämlich unmöglich sein wird, eine ausreichende Zahl qualifizierter Wissenschaftler zu den durch die Beamtenbesoldung vorgegebenen Bedingungen zu gewinnen. Sie selbst, Frau Minister, haben doch in Ihrem Bericht an den Ausschuß, der auf meine Veranlassung erstattet wurde, zugegeben, daß - und hier zitiere ich wörtlich der Spielraum für die notwendige Personalentwicklung sehr eng ist. Angesichts der hohen wisPrinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
senschaftlichen und praktischen Anforderungen an eine Arzneimittelprüfung muß dem Leistungsprinzip im Prüfungsinstitut ein hoher Stellenwert zugemessen werden. Das erfordert aber nicht nur die Einstellung hochqualifizierter Mitarbeiter, sondern ihre weitere Motivation durch gezielte Personalentwicklung. Diese ist unter den gegenwärtigen Bedingungen des öffentlichen Dienstes nur beschränkt möglich: Beförderungen sind schwer zu erreichen, Entlassungen und Umsetzungen schwierig, wenn nicht unmöglich. Hemmend wirkt sich vor allem der Zwang aus, bei jeder grundsätzlichen Maßnahme der Personalentwicklung die Auswirkungen auf den Gesamtbereich des öffentlichen Dienstes zu berücksichtigen. Das hat nivellierende Tendenzen zur Folge, die sich auf Hochleistungsbereiche ungünstig auswirken können.
Soweit Ihre Stellungnahme, der wir nur beipflichten können.
Gerade vor dem Hintergrund dieses Ihrer eigenen Aussage gewinnt aber unser Vorschlag einer anderen Organisationsform für das Prüfinstitut eine zunehmende Aktualität. Ich wiederhole hier ausdrücklich: das Prinzip des Technischen Überwachungsvereins. Der öffentlich-rechtlich beliehene Unternehmer ist weitaus eher imstande, den sich ständig ändernden Anforderungen gerecht zu werden und die notwendige Flexibilität zu gewährleisten. Wir gehen davon aus, daß die Finanzsituation des Bundes wie der Länder ein wichtiger Verbündeter für unsere Auffassung sein wird.
Sie machen sich, Frau Minister, die Diskussion über die Kosten dieses Gesetzes zu einfach. Man kann doch nicht behaupten: dies ist eben der Preis für mehr Arzneimittelsicherheit, ohne gleichzeitig eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse vorzulegen. Was wird der Verbraucher sagen, wenn ihm heute im Zusammenhang mit marktpolitischen Vorstellungen des abgeänderten Plans des interministeriellen Arbeitsausschusses des Wirtschaftsministeriums eine Senkung der Arzneimittelpreise versprochen wird - auch Sie haben davon geprochen - und er sich morgen angesichts steigender Arzneimittelpreise die Augen reiben muß? Denn wenn nicht bei den Arzneimitteln, wo sonst wirken sich die Kosten für die verschärften Anforderungen an Herstellung und Kontrolle der Arzneimittel aus? Doch im Portemonnaie des Verbrauchers, im Haushalt der Sozialversicherung und der öffentlichen Hand.
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Bisher haben Sie sich, Frau Minister, jedenfalls noch nicht der Mühe unterzogen, eine sorgfältige Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten dieses Gesetzes vorzulegen; noch können die Länder wegen fehlender Verordnungen und Durchführungsbestimmungen die auf sie zukommende Kostenlawine nicht abschätzen.
Andererseits - und hier stimme ich mit Ihnen überein - könnten wir die durch das Gesetz entstehenden Kosten hinnehmen, ja wir müßten sie sogar fordern, wenn nachweisbar wäre, daß alle die
kostenverursachenden Bestimmungen tatsächlich mehr Sicherheit gewährleisten würden.
Ich komme zum Schluß. In einer ersten Bewertung des Gesetzentwurfs habe ich sowohl im Vergleich mit unserer Gesetzesinitiative als auch mit bekanntgewordenen wissenschaftlichen Diskussionsbeiträgen die Schwerpunkte aufgezeigt, die unseres Erachtens noch der besonderen Beratung bedürfen. Sachverständige müssen gehört und gegebenenfalls Erfahrungen anderer Länder genutzt werden.
Ich will nicht der Versuchung erliegen, mich heute nochmals mit den Argumenten von Frau Bundesminister Focke anläßlich der Debatte des CDU/CSU-Gesetzentwurfs auseinanderzusetzen. Doch eine Bemerkung muß ich hier aufgreifen, weil sie symptomatisch für die Einschätzung der Arbeit des Parlaments durch diese Regierung sein könnte. Bei allen politischen Entscheidungen, die dieses Hohe Haus und seine Ausschüsse treffen, gehen wir von der selbstverständlichen Erwartung aus, daß die Regierung uns Formulierungshilfe leistet; auch dafür sind Ministerien zuständig. Deswegen kann nicht hingenommen werden, Frau Minister, wenn Sie am 8. November 1973 auszuführen beliebten:
Ich schlage vor, daß die Bundesregierung Formulierungshilfe leistet, aber dann bitte so, wie sie es selbst für richtig hält.
Sollten Sie an einer solchen Auffassung festhalten, so wäre das keine gute Ausgangsbasis für eine Zusammenarbeit.
Ein weiteres: Es fehlt nicht an Hinweisen seitens der Frau Bundesminister, wie wir die vorliegende Gesamtreform zu bewerten haben. Es erscheint mir viel notwendiger, daß Sie, Frau Minister, zunächst in Ihren eigenen Reihen für eine übereinstimmende Auffassung zu diesem Gesetz sorgen, ehe Sie der Opposition noch so gut gemeinte Ratschläge meinen erteilen zu müssen.
Bei den Ausführungen des Vertreters der FDP, die wir nachher noch hören werden, sollten wir sehr sorgfältig darauf achten, inwieweit von der Regierungsvorlage abweichende Ansichten vorgetragen werden. Dies tun wir nicht, um weitere Beweise für das Profilierungsbedürfnis der FDP zu sammeln, sondern um sie zu gegebener Zeit daran zu erinnern, daß sie nicht an mehr oder weniger unverbindlichen Absichtserklärungen gemessen wird, sondern an ihrer Haltung bei den entscheidenden Abstimmungen. Diese unsere Skepsis ist auf Grund gemachter Erfahrungen durchaus angebracht.
Für die Opposition möchte ich nochmals betonen, daß wir mit aller Sorgfalt und der dem Sachproblem angemessenen Gründlichkeit an diesem Gesetz mitarbeiten werden. Sollte sich allerdings herausstellen, daß auf unsere heute vorgetragenen und in den Ausschußberatungen noch zu vertiefenden Fragen keine befriedigenden Antworten gegeben werden, so dürfte dieses Gesetz kaum unsere Zustimmung finden können. Vielmehr müßte dann erneut über unseren Vorschlag befunden werden, ob nicht im Hinblick auf die außergewöhnlichen Schwierigkeiten der Erarbeitung einer Gesamtreform des Arznei9712
mittelrechts eine Vorabnovelle, so ähnlich, wie wir sie vorgeschlagen haben, dem vorrangigen Bedürfnis der Bevölkerung nach mehr Sicherheit und Verbraucherschutz eher gerecht würde.
Die von der Bundesregierung aufgestellte Forderung nach Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sollte nämlich nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für diesen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelrechts gelten.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es wäre reizvoll und verführerisch, hier in aller Breite auf die Ausführungen des Vertreters der Opposition einzugehen. Ich will dieser Versuchung in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs nicht erliegen, verspreche Ihnen aber, daß wir während der weiteren parlamentarischen Behandlung in aller Breite auf die detaillierte Kritik, die Sie hier an einzelnen Punkten des Gesetzentwurfs geübt haben, zurückkommen werden. Statt dessen will ich versuchen, darzustellen, wie die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurf der sozialliberalen Koalition sieht.
Wir begrüßen, daß mit der Vorlage des Gesetzentwurfs ein weiteres Versprechen aus der Regierungserklärung eingelöst wird.
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- Wissen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten geduldig abwarten. Wir haben Ihnen ebenso geduldig zugehört. Wir werden im Verlauf der weiteren parlamentarischen Beratung Gelegenheit haben, um uns miteinander zu zausen.
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Die Geduld mit uns müssen Sie mindestens bis zu den Neuwahlen in diesem Land haben. Bis dahin werden wir immer wieder eine erfolgreiche Bilanz in diesem Hause ziehen können, wenn wir neue Gesetzentwürfe vorlegen.
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- Ja, aber Ihr Kollege Hammans ist so ungeduldig.
Mit dem Gesetzentwurf soll der Versuch unternommen werden, das Arzneimittelgesetz aus dem Jahre 1961 abzulösen. Das deutsche Arzneimittelrecht soll an internationale Standards angeglichen und es soll der Weg zu einem einheitlichen europäischen Arzneimittelrecht geebnet werden. Europäische Rechtsvorschriften sollen in nationales Recht umgesetzt werden.
Sein eigentliches Gewicht jedoch bekommt der Gesetzentwurf durch seine Bedeutung für die Bürger dieses Landes. Seine Zielsetzungen sind eindeutig. Der Gesundheitsschutz der Bürger soll verbessert, der Schutz des Verbrauchers ausgeweitet werden. Die Hersteller von Arzneimitteln sollen verpflichtet werden, ein Arzneimittelangebot zu machen, das den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Entwicklung entspricht. Das Maß staatlicher Mitwirkung am Arzneimittelmarkt zur Sicherung vorrangiger gesundheitlicher Interessen der Bürger soll sich auf sachlich gebotene Notwendigkeiten beschränken und die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller von Arzneimitteln angemessen berücksichtigen.
Die Contergan-Katastrophe und ihre bedauerlichen Folgen haben die Forderung unserer Bürger nach mehr Arzneimittelsicherheit zunehmend offenkundiger gemacht. Dem Bedürfnis der Bevölkerung, des Gutes Gesundheit uneingeschränkt teilhaftig zu werden, trägt der Gesetzentwurf mit einem Mehr an vorbeugendem Gesundheitsschutz Rechnung. Der Bürger hat Anspruch darauf, sicher zu sein, daß ihm Arzneimittel verabreicht werden, deren analytische Güte, deren Wirksamkeit und deren Unbedenklichkeit entsprechend dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand geprüft sind. Der Staat muß dieses Gemeinschaftsinteresse gewährleisten. Wir begrüßen deshalb die Einführung eines dem Grunde nach obligatorischen Zulassungsverfahrens für Arzneimittel.
Wir Sozialdemokraten erheben den Anspruch, daß der Burger, der Arzneimittel zu sich nimmt, in die Lage versetzt wird, verantwortlich damit umzugehen, ohne daß damit die Verantwortung von Arzt, Apotheker oder Hersteller aufgegeben wird.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Arzneimittelinformation, insbesondere auch die Verpflichtung, eine Packungsbeilage in deutscher - ich füge hinzu: in verständlicher - Sprache zu schaffen, unterstützt dieses Bemühen sinnvoll. Der Verbraucher soll künftig über Gegenanzeigen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Arzneimitteln unterrichtet sein. Er soll Warnhinweise bekommen, wenn ein Arzneimittel die Reaktionsfähigkeit im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz beeinträchtigen kann und wenn die Einnahme von Arzneimitteln bei Schwangerschaften nicht angezeigt ist.
Die Verbraucherinformation wird durch Angabe von Verfalldaten für Arzneimittel abgerundet. Das sind wichtige Neuregelungen. Die Ware Arzneimittel verpflichtet die Hersteller zu besonderer Sorgfalt. Diese Selbstverständlichkeit im Gesetz dadurch zu betonen, daß Sachverstand bei der Herstellung von eindeutigen Vorschriften unterstützt wird, erhöht die Sicherheit für den Verbraucher.
Wir begrüßen, daß sowohl Arzt als auch Apotheker durch qualifiziertere Informationen in die Lage versetzt werden, ihre Mittlerfunktion zum Patienten besser wahrzunehmen.
Schließlich wird die Gesundheit der Bürger zusätzlich dadurch gesichert, daß ein Informationssystem Auskunft über Arzneimittelrisiken, insbesondere über Nebenwirkungen, Verwechslungen und Verfälschungen, geben soll, dessen Ergebnisse gegebenenfalls zu Maßnahmen im Rahmen eines Alarmplans führen sollen.
Eine wichtige Verbesserung im Gesetz bringen die Vorschriften über die klinische Erprobung von Arzneimitteln. Niemand stellt in Frage, daß der
pharmazeutische Fortschritt die Entwicklung von neuen Arzneimitteln notwendig macht und damit auch in gewissem Umfang die Erprobung des Arzneimittels am Menschen. Genauso wichtig ist es aber auch, sich vor Augen zu halten, daß die Personen, die sich an der klinischen Erprobung beteiligen, hinsichtlich ihrer Gesundheit geschützt werden müssen. Sie müssen sowohl die Risiken kennen als auch für Fehlentwicklungen, die vorkommen können, entsprechend materiell gesichert werden. Dies leistet der Gesetzentwurf.
Eine der bestürzenden Erfahrungen der Contergan-Katastrophe waren neben dem unendlichen Leid der Betroffenen die langwierigen und langjährigen Auseinandersetzungen um die Schadensersatzansprüche. Mit der Einrichtung des Arzneimittel-Entschädigungsfonds soll ein zügige und unbürokratische Hilfe auch in den Fällen gewährt werden, wo ein Verschulden des Herstellers nicht nachgewiesen werden kann. Denn schließlich kann eine noch so umfassende gesetzliche Vorsorgeregelung im letzten nicht ausschließen, daß Arzneimittelschäden eintreten können. Für diesen Fall ist die finanzielle Vorsorge für die Betroffenen notwendig.
Neben den Verbesserungen, die der Gesetzentwurf für die Bürger bringt, begrüßen wir Sozialdemokraten es, daß das differenzierte Erfordernis der Wirksamkeit für Arzneimittel indirekt dazu beiträgt, die Stellung der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung am Arzneimittelmarkt und im Arzneimittelgeschäft zu stärken. Wir Sozialdemokraten hoffen, daß die Regierung diesen Schritt mit der Neuordnung des Arzneimittelrechts zum geeigneten Zeitpunkt dadurch ergänzt, daß sie die gesetzgeberische Initiative hinsichtlich der preispolitischen Situation am Arzneimittelmarkt ergreift.
Es ist nur allzu verständlich, daß eine so umfassende inhaltliche und systematische Neugestaltung des Arzneimittelrechts eine breite öffentliche Diskussion im vorparlamentarischen Raum bewirkt hat. Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Diskussion, weil wir keine Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fällen. Unsere Absichten sind offen und können öffentlich diskutiert werden. Dies ist unser Verständnis von Demokratie. Wir verhehlen nicht, wir haben uns gefreut über Stellungnahmen wie etwa von den Gewerkschaften und den Verbraucherorganisationen, die die Zielsetzungen des Gesetzentwurfs der sozialliberalen Koalition ziemlich uneingeschränkt bejaht haben. Wir haben mit Respekt Kenntnis von sachlich kritischen Stellungnahmen der Hersteller von Arzneimitteln und einer interessierten Öffentlichkeit genommen. Wir wissen auch in der öffentlichen Diskussion gut zu unterscheiden zwischen kritischen Stimmen, die mit uns um die sachlich gebotene beste Lösung ringen, und anderen, die plump und demagogisch hinter einer vorgetäuschten Sachlichkeit meinen, Vorurteile gegen die Koalitionsfraktionen mobilisieren zu können. Wir weisen entschieden den Versuch zurück, der sozialliberalen Koalition zu unterstellen, sie würde mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf kaltem Wege ein Stückchen Sozialisierung oder Verstaatlichung
schaffen oder gar ein Stückchen Freiheit im Gesundheitswesen abschaffen. Diese Vorwürfe sind absurd.
In diesem Zusammenhang erstaunt mich der Hinweis vom Kollegen zu Sayn-Wittgenstein darauf, daß unsere Bekenntnisse zur Therapiefreiheit des Arztes bloße Lippenbekenntnisse seien. Herr Kollege zu Sayn-Wittgenstein, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß, weil wir denken, bevor wir sprechen, Sie die von Ihnen apostrophierten Lippenbekenntnisse von Sozialdemokraten sehr ernst nehmen dürfen.
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Wir Sozialdemokraten bekennen uns allerdings im Interesse der Menschen zu einer sachgerechten Abwägung zwischen dem Gut Volksgesundheit auf der einen Seite und den Interessen der Hersteller von Arzneimitteln auf der anderen Seite. Wir halten jede Freiheit, die schrankenlos wirkt und jene soziale Dimension von Freiheit vermissen läßt und so zur halben Freiheit verkümmert, für ergänzungsbedürftig. Und wer anders als der Staat als Adressat und Sachwalter aller der Ansprüche, die in der Gemeinschaft leben, könnte hier korrigierend in eben diesem wohlverstandenen Gemeinschaftsinteresse eingreifen? Wir wollen - und dazu bekennen wir uns freimütig - ein sachgerechter und abgewogener Sachwalter der Wohlfahrt der Menschen in diesem Land auch auf dem Arzneimittelsektor sein.
Ein ernstes und gewichtiges Problem in der öffentlichen Diskussion stellen die Fragen um die homöopathischen und phytotherapeutischen Mittel dar. Der Regierung ist vorgeworfen worden, daß sie mit ihrem Entwurf einseitig Arzneimittel einer bestimmten medizinischen Richtung bevorzuge. Wir Sozialdemokraten gehen davon aus, daß es weder Aufgabe des Parlaments noch der Regierung sein kann, den alten Streit verschiedener medizinischer Schulen zu entscheiden oder gar zu schlichten. Der Gesetzgeber muß eine Regelung schaffen, die den bekannten Gegebenheiten auf dem Arzneimittelsektor Rechnung trägt. Wir begrüßen es daher, daß es der Bundesregierung inzwischen offensichtlich gelungen zu sein scheint, öffentlich dazustellen und zu verdeutlichen, daß sie nicht daran denke, Naturheilmittel zu verbieten.
Wir sehen auch mit Interesse, daß die lebhafte öffentliche Diskussion in diesem Themenbereich gegenüber dem ursprünglichen Referentenentwurf zu einer erheblich differenzierten Zulassungsregelung für homöopathische Mittel und Pflanzenheilmittel geführt hat. So können Arzneimittel, die nach den anerkannten Regeln der Homöopathie hergestellt und nicht verschreibungspflichtig sind, registriert werden. Das heißt, für sie braucht der Wirksamkeitsnachweis nicht geführt zu werden.
Bei den übrigen Arzneimitteln muß zwar der Nachweis der Wirksamkeit erbracht werden; jedoch ist er nicht immer auf die gleiche Weise zu erbringen. Z. B. können Ergebnisse einer klinischen Prüfung durch Erprobung in der ärztlichen Praxis bzw. durch die Vorlage von anderem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial erbracht werden. Das wissen9714
schaftliche Erkenntnismaterial ist zwar an Prüfrichtlinien auszurichten, die jedoch bei den Naturheilmitteln sinngemäß angewendet werden sollen.
Eine großzügige zeitliche Übergangsregelung von zwölf Jahren für die Neuzulassung von Naturheilmitteln, ein umfangreiches Forschungsprogramm, das Erkenntnisse liefern soll, wie für diese Mittel der Wirksamkeitsnachweis erbracht werden kann, sowie die Beteiligung entsprechenden personellen Sachverstands beim Bundesgesundheitsamt sind wesentliche Korrekturen, die ausweisen, daß die Bundesregierung im Gesetzentwurf das Interesse an diesen Heilmitteln nicht unberücksichtigt gelassen hat. Teile der nach wie vor zu diesem Thema geführten öffentlichen Diskussion wirken insofern verzerrt, als zum Teil noch gegen Vorstellungen opponiert wird, die im vorliegenden Gesetzentwurf bereits nicht mehr enthalten sind. Wir Sozialdemokraten erklären darüber hinaus, daß wir bei der weiteren parlamentarischen Beratung sehr ernsthaft alle zusätzlichen Anregungen prüfen werden, zu einem differenzierten Wirksamkeitsnachweis zu kommen, der den Besonderheiten der Arzneimittel Rechnung trägt. Im Interesse der Arzneimittelsicherheit und aus Gründen gleicher Behandlungschancen wird jedoch ein auf die Besonderheiten der Arzneimittel zugeschnittener Wirksamkeitsnachweis im Gesetz verankert werden müssen.
Einen weiteren strittigen Punkt in den öffentlichen Diskussionen bildet die im Gesetzentwurf vorgesehene Einrichtung des Arzneimittel-Entschädigungsfonds, weniger dem Grunde als der finanziellen Trägerschaft nach. So wird der Wunsch vorgetragen, die materielle Trägerschaft an diesem Fonds durch die Hersteller von Arzneimitteln durch finanzielle Beiträge des Staates zu ergänzen. Wir Sozialdemokraten gehen davon aus, daß das Risiko verteilt wird zwischen denen, die Risiken schaffen. Dieses Verursacherprinzip besonderer Prägung aufzuheben würde zwangsläufig Forderungen nach mehr staatlicher Mitsprache auch bei der Schaffung der Risiken provozieren, d. h. eine Art staatlicher Bedürfnisprüfung für Arzneimittel fordern. Wir Sozialdemokraten - ich sage dies, damit sich keine Mißverständnisse bei der Opposition festsetzen - wollen das nicht. Ich nehme an, die Hersteller von Arzneimitteln sind daran ebenfalls nicht interessiert. Wir sind deshalb der Auffassung, daß es aus den genannten Gründen bei der Art von Solidarhaftung, wie sie im Gesetzentwurf verankert ist, mit der ausschließlichen finanziellen Trägerschaft der Hersteller bleiben und der Staat draußen vor bleiben sollte.
Lassen Sie mich noch auf zwei weitere wesentliche Kritikpunkte eingehen.
Die eine Frage ist der Zweifel, ob die hohen Anforderungen, die aus dem Gesetzentwurf entstehen, arbeitsmäßig durch das Bundesgesundheitsamt gewährleistet werden können, ob es die Aufgabe vom Umfang her bewältigen kann und ob zeitliche Verzögerungen bei der Durchführung des Gesetzes vermieden werden können. Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung sowohl organisatorische als auch personelle und sachliche Überlegungen darüber angestellt hat, wie diese bedeutende Aufgabe im Rahmen des Bundesgesundheitsamtes zügig bewältigt werden kann. Wir vertrauen auf diese Vorbereitungen der Regierung. Wir werden dennoch der Frage der Durchführung des Gesetzes bei der weiteren parlamentarischen Behandlung ein besonderes Augenmerk widmen, nicht zuletzt deshalb, weil wir wissen, daß der Gesamterfolg des Gesetzes wesentlich von einer zügigen, sachverständigen und verantwortungsbewußten Durchführung abhängig sein wird.
In engem Zusammenhang damit steht für uns die Frage, erneut ernsthaft zu prüfen, inwieweit das Nachzulassungsverfahren weiter vereinfacht werden kann.
Nicht zuletzt ist dem Gesetzentwurf der Vorwurf gemacht worden, er enthalte eine Fülle von Ermächtigungen. Da und dort ist gar von einer parlamentarischen Selbstentleibung, die mit dem Gesetzentwurf betrieben werde, gesprochen worden. Dazu ist festzustellen:
1. Die parlamentarische Beratung beginnt gerade. Wir Sozialdemokraten werden uns in jedem Einzelfall von der Regierung sehr sorgfältig begründen lassen, warum, weshalb und in welchem Umfang sie entsprechende Ermächtigungen wünscht.
2. Wer der Regierung ein wirksames gesetzliches Instrument in die Hand geben will, wer insbesondere will, daß wir auf neue Sachverhalte, auf Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zügig reagieren - und wer will das nicht da, wo es um die Gesundheit der Menschen geht? -, der muß willens sein, den Weg der beweglichen Verordnungsermächtigungen im Gesetz, diesen Weg einer modernen Gesetzgebungspraxis zu gehen. Wir werden in diesem Hause gemeinsam darüber nachzudenken haben, wie wir dennoch geeignete Mittel finden, die Verantwortlichkeit des Parlaments zu erhalten und so die Regierung zur verantwortungsbewußten Handhabung von Verordnungsermächtigungen zusätzlich anzuhalten. Wege, wie wir sie etwa beim Bundesimmissionsschutzgesetz und bei der Gesamtreform des Lebensmittelrechts beschritten haben, könnten auch für die Reform des Arzneimittelrechts ein taugliches und eingrenzendes Instrumentarium darstellen.
Ein Wort noch an die Adresse der Opposition. Wir haben zur Kenntnis genommen, daß der Bundesrat trotz der Quantität seiner Einwendungen in wesentlichen Teilen dem Regierungsentwurf zugestimmt hat. Wir nehmen an, daß auch die CDU/ CSU-Fraktion anerkennt, daß der von der Regierung vorgelegte Entwurf eine umfassende gesetzliche Grundlage für die Neuordnung des Arzneimittelrechts darstellt. Wir fordern Sie deshalb auf, die Arbeit an diesem den Interessen der Menschen dienenden Gesetzeswerk abseits parteitaktischer Überlegungen zielstrebig mit uns gemeinsam aufzunehmen. Man wird die oft deklamierte soziale Glaubwürdigkeit der Unionsparteien unter anderem auch an ihrer Bereitschaft messen, ob sie diesen Appell aufnehmen.
Ausgehend von der Grundlage, die mit dem im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf der sozialEgert
liberalen Koalition gesetzt worden ist, sind die Koalitionsfraktionen, sind SPD und FDP zur sachlichen Zusammenarbeit bereit. Wir Sozialdemokraten sehen in dem Gesetzentwurf einen weiteren Beweis, daß der Vorrat an Gemeinsamkeiten in der Koalition trotz aller Unkereien einer interessierten Öffentlichkeit noch längst nicht erschöpft ist. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird diesen erneuten Beweis zusätzlich dadurch untermauern, daß sie unverzüglich zügig und sachlich verantwortungsbewußt die Arbeit in den parlamentarischen Gremien zum Gesetzentwurf über die Neuordnung des Arzneimittelrechts aufnimmt.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Den heute mit seinen Grundsätzen zur Debatte stehenden Gesetzentwurf halten wir Freien Demokraten für das wichtigste gesundheitspolitische Gesetzgebungswerk der letzten Jahre. Es geht um nichts Geringeres als um die Erhöhung der Arzneimittelsicherheit, d. h. um mehr Sicherheit des Patienten vor Gesundheitsschädigungen durch bedenkliche Medikamente. Ohne die schmerzliche Contergan-Katastrophe - das ist von allen Vorrednern schon angeführt worden - wäre dieses Gesetz mit seiner Forderung nach Prüfung und Zulassung aller Fertigarzneimittel gar nicht denkbar und sicherlich auch nicht notwendig geworden. Die Schwelle für die Einführung so hochwirksamer, aber so hochgefährlicher Präparate wie jenes Beruhigungsmittels muß erhöht werden. Dieses Hauptanliegen des Regierungsentwurfs unterstützen die Freie Demokratische Partei und ihre Bundestagsfraktion nachdrücklich.
Der Entwurf will die Arzneimittelsicherheit durch erhöhte Anforderungen an die Qualität, die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit der Arzneimittel verbessern. Seinem eigentlichen Zweck der möglichen Verhütung von Arzneimittelschäden entsprechend geht es bei der Zulassung vor allem um gesicherte Qualität und erwiesene Unbedenklichkeit der Medikamente. Der Nachweis der Wirksamkeit steht nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit dem Anliegen der Arzneimittelsicherheit, nämlich sofern die Anwendung unwirksamer die Nichtanwendung wirksamer Mittel bedeuten und Gesundheitsschäden durch Unterlassen zur Folge haben könnte. Aber - diese Frage stellt sich - verbietet sich nicht dieses Argument, weil es mangelnde Fachkunde des verordnenden Arztes voraussetzt? In der Forderung nach einem Wirksamkeitsnachweis, meine Damen und Herren, liegt die eigentliche Problematik des Gesetzentwurfs.
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Wir müssen die Gefahr vermeiden, daß der Gesetzgeber in perfektionistischem Übereifer das Kind mit dem Bade ausschüttet. Daher begrüßen wir es, daß die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung
zur Stellungnahme des Bundesrates - und, meine Herren von der Opposition, das sollte man nicht überlesen - dessen Bedenken ernst nimmt, bei dem Nachweis der Wirksamkeit könnte einseitig auf bestimmte wissenschaftliche Auffassungen abgestellt werden. Auch Frau Minister Focke hat sich erfreulicherweise in ihrer heutigen Rede in diesem Sinne geäußert.
Im weiteren Gesetzgebungsverfahren und bei der Erarbeitung der zu erlassenden Verordnungen ist deshalb sicherzustellen, daß der für die Zulassung maßgebliche Begriff der Wirksamkeit die erforderliche Flexibilität und Weite erhält sowie außer dem pharmakologisch Meßbaren auch und gerade das wissenschaftliche Erfahrungsmaterial des Arztes umfaßt. Wissenschaftlich vertretbare medizinische Auffassungen müssen in einem solchen Begriff der therapeutischen Wirksamkeit ihren Platz haben und dürfen durch ihn nicht etwa ausgeschlossen werden. Wissenschaftliche Minderheiten innerhalb der Medizin und der Pharmazie dürfen wir nicht einfach einer Mehrheit der herrschenden Meinung unterwerfen.
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Dies muß vor allem für die homöopathischen und anthroposophischen Mittel, die phytotherapeutischen Mittel, d. h. die pflanzlichen Mittel, sowie für die anderen Arten von Naturheilmitteln gelten. Es ist dem Gesetzgeber auf Grund der verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheit der Forschung und Wissenschaft schlechthin verwehrt, den alten Methodenstreit zwischen der pharmakologisch orientierten Schulmedizin und den mehr von der ärztlichen Erfahrung ausgehenden besonderen Heilverfahren durch staatlichen Machtspruch zu beenden.
Wir Freie Demokraten fühlen uns in besonderem Maße dazu aufgerufen, den Gesetzentwurf immer auf die strikte Einhaltung dieser grundrechtlich verbürgten Freiheitsrechte des Arztes und des Herstellers zu prüfen. Nach dem, was die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung und Frau Focke in ihrer heutigen Rede versichert haben, sind wir zuversichtlich, daß die Bundesregierung uns bei unserem Bemühen unterstützen wird.
An der obersten Stelle der hier zu beachtenden Rechte steht freilich der Schutz des Patienten vor Arzneimittelgefahren und zugleich seine ureigene Freiheit, das höchstpersönliche Gut seiner eigenen Gesundheit durch den Arzt seiner Wahl schützen zu lassen. Die freie Arztwahl heißt für ihn nicht nur, den Arzt seines persönlichen, sondern auch seines fachlichen Vertrauens zu wählen.
Dieser Gesetzentwurf wird mit darüber entscheiden, ob dem Patienten die freie Arzt- und Behandlungswahl erhalten bleibt, ob er sich z. B. auch künftig einem Homöopathen und seinen Arzneimitteln anvertrauen kann. Würden die Zulassungsanforderungen für die Medikamente der besonderen Heilverfahren unangemessen erschwert, so könnte auf diesem Arzneimittelgebiet ein Auszehrungsprozeß einsetzen, der die freie Arzt- und Behandlungswahl des Patienten gegenstandslos machte. Daß dies nicht
der Fall ist, hat die Regierung mehrfach dargelegt. Aber es muß immer wieder angesprochen werden.
Ich will mit diesen Bemerkungen nicht den Teufel an die Wand malen, aber doch vor Beginn unserer Beratungen in den Ausschüssen deutlich machen, wie vielschichtig und weittragend die Entscheidungen sind, die wir hier zu treffen haben. Ich meine, meine Damen und Herren, das schwedische Beispiel in dieser Frage kann und darf sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederholen.
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Wer die Beratungen über die Arzneimittelreform in der dritten Legislaturperiode wie ich mitgemacht hat, der weiß, wie schwierig schon damals diese Materie war. Heute ist das Bündel der Probleme nicht geringer, sondern größer geworden. Im Arzt-Patient-Verhältnis, in dem sich der therapeutische Vorgang abspielt, muß der Spielraum, die Freiheit erhalten bleiben, die für die Behandlung durch den Arzt und die Gesundung des Patienten unerläßlich ist. Dies kann für den Patienten bedeuten, daß er aus Vorsicht, aus Klugheit oder warum auch immer lieber schwach wirksame Mittel einnimmt als stark wirkende Präparate, deren mögliche Nebenwirkungen ihm nicht geheuer sind. Dem behandelnden Arzt gewährleistet erst dieser Spielraum das ganze Spektrum seiner therapeutischen Möglichkeiten. Der weiten Skala schwächerer und schwerer und schwerster Krankheitsbilder entsprechend muß der Arzt über ein breit gefächertes Angebot schwächerer und stärkerer Arzneimittel verfügen, um jeder krankhaften Erscheinung angemessen, sozusagen immer auf der richtigen Krankheitsstufe, begegnen zu können.
Schon aus der statistischen Verteilung von ernsten Erkrankungen, nämlich weniger als 10 %, und harmlosen Verordnungsursachen, nämlich mehr als 80 %, kann man ermessen, wie sehr die Arzneimittelsicherheit gefährdet würde, wenn der Arzt generell mehr Wirksamkeit verordnen müßte, als für den therapeutischen Erfolg notwendig wäre. Wir alle wollen verhüten, daß durch einen einseitigen, an den stark wirkenden Arzneimitteln ausgerichteten Wirksamkeitsbegriff beim Hersteller ein Trend zur Entwicklung solcher, wegen ihrer oft starken Nebenwirkungen gefährlicher Medikamente ausgelöst würde. Wenn die neuen Prüfvorschriften es für den Hersteller schwieriger, langwieriger und teurer machen, ein schwach wirksames Mittel zu entwickeln, wird ihm die wirtschaftliche Vernunft gebieten, auf leichter zu prüfende, aber stark wirksame Mittel auszuweichen. Dem Arzt bliebe in vielen Fällen nur übrig, diese gefährlicheren Mittel auch bei leichteren Krankheitsbildern zu verordnen. Das wachsende Nebenwirkungsrisiko hätte dann der Patient als der wehrlose Endverbraucher zu tragen.
Und nun, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie meinen, das alles sei gegen den Regierungsentwurf gesagt. Nein! Dies alles ist für den Regierungsentwurf gesagt; denn diese Entwicklung hieße, den Verbraucherschutz, die Arzneimittelsicherheit und den ausdrücklichen Zweck dieses Gesetzes in ihr Gegenteil zu verkehren. Das
wollte ich feststellen, und deshalb dieser etwas weite Bogen, um das hier ganz klar festzunageln und deutlich darzustellen.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der ärztlichen Behandlungskunst macht somit die Vielfalt der Behandlungsmethoden und der Arzneimittel erforderlich. Der Pluralismus der Methoden und der Medikamente erfordert seinerseits aber Differenzierungen im staatlichen Anerkennungsverfahren. Erfreulicherweise hat die Bundesregierung bereits in ihrem zweiten Referentenentwurf die nicht verschreibungspflichtigen Homöopathika nicht der Zulassung, sondern der Registrierung unterstellt. Auch die Anregung des Bundesrats will sie im weiteren Gesetzgebungsverfahren prüfen, ob eine solche Herausnahme auch eines Teiles der Phytotherapeutika möglich ist. An dieser Stelle muß ich allerdings bemerken, daß sich das zuständige Ministerium zu diesen in unseren Augen sachgemäßen Differenzierungen erst spät durchgerungen hat. Dies ehrt das Ministerium.
Insgesamt wird man prüfen müssen, wie man den schwach wirksamen Mitteln auch unter den synthetischen Arzneimitteln durch abgestufte Zulassungs-, Genehmigungs- oder Registrierungsvoraussetzungen besser als bisher gerecht werden kann. Bei der Abfassung der Arzneimittelprüfrichtlinien sollte man sein besonderes Augenmerk auf solchermaßen differenzierte Anforderungen legen, und wir sollten im Ausschuß prüfen, ob solche differenzierten Anforderungen nicht auch schon im Gesetzestext in irgendeiner Form fixiert werden können. Unser Vertrauen in die Verwaltung ist groß, aber sicherlich nicht grenzenlos.
Die Neufassung des Arzneimittelgesetzes verlangt Außerordentliches. Es hat selten einen Gesetzentwurf gegeben, für dessen Beratung derart umfangreiche Sach- und Methodenkenntnisse notwendig waren. Die in dieser Materie liegenden Schwierigkeiten verlangen allerhöchste Sorgfalt und Behutsamkeit. Aus einem solchen Gesetz können allzu leicht Folgen entstehen, für die hinterher niemand gern verantwortlich zeichnet, Folgen, ,die unter Umständen nicht wieder gutgemacht werden können. Ich glaube, die Gesundheitspolitiker aller Fraktionen sind sich darin einig, ,daß vor einer Diskussion der einzelnen Regelungen gewisse Grundsatzfragen geklärt werden müssen. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit hat diese Diskussion des Gesetzes im Bundestag sicherlich mit der Bereitstellung der notwendigen Unterlagen bestens vorbereitet. Wir werden sie in den nächsten Monaten im Ausschuß und im Unterausschuß im einzelnen zu diskutieren haben, Sachverständige anhören und etwa erforderliche Informationsreisen unternehmen. Zwischen der abschließenden Beratung im federführenden Ausschuß und der Drucklegung des Ausschußberichts einerseits sowie der zweiten und dritten Beratung im Parlament andererseits sollte genügend Zeit bleiben, damit sich alle Abgeordneten des Parlaments mit den gefundenen Lösungen vertraut machen können; denn hier geht es um ein weittragendes Gesetzeswerk, das man nicht in zweiter und dritter Lesung verabschieden sollte, wenn
die Ausschußdrucksache erst am Vormittag verteilt wird.
Und hier eine Anregung an den Bundesrat: Es wäre auch sehr sachdienlich, wenn sich der Bundesrat nicht erst im zweiten Durchgang mit diesem Gesetz erneut auseinandersetzte, sondern wenn sich der Bundesrat durch sachverständige Mitarbeiter an der Arbeit des Unterausschusses beteiligte - ein Verfahren, das auch in der 3. Legislaturperiode vom Bundesrat geübt wurde.
Für die Einzelberatungen denke ich u. a. an fünf große Fragenkomplexe:
1. die medikamentöse Nebenwirkungsgefährdung in der Bundesrepublik und ihre Folgekosten,
2. Erfolgskontrolle der Prüfungsvorschriften und ihrer wirtschaftlichen Konsequenzen,
3. die Neuordnung der vorklinischen Prüfung,
4. Grenzen der Zulässigkeit bei der klinischen Prüfung und
5. die Organisation des Entschädigungsfonds. Diese muß so effizient wie sparsam gemacht werden. Es darf bei der Zusammenarbeit zwischen Fonds und Bundesverwaltungsamt keine neue Nebenbehörde im Bundesverwaltungsamt entstehen.
Wir sind zufrieden und begrüßen es, daß die ursprünglich in dem Vorentwurf enthaltene Frage der Produzentenhaftung jedenfalls in diesem Gesetz nicht mehr angesprochen wird; diese Frage gehört in einen anderen, größeren Zusammenhang, wo sie mit weniger Emotionen beladen diskutiert werden kann.
Ich meine, daß auch unsere Landwirte daran interessiert sein werden, daß wir die Fragen der Apothekenpflicht und des Inverkehrbringens durch Tierärzte im Ausschuß ansprechen, nachdem zu diesem Gesamtkomplex in letzter Zeit ein höchstrichterliches Urteil schon zum geltenden Arzneimittelgesetz ergangen ist, das die tierische Produktion unnötig verteuern wird.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf einige allgemeine Probleme des Gesetzentwurfs eingehen.
Die besonderen volkswirtschaftlichen Kosten, die insbesondere durch die neuen Zulassungsvorschriften auf die Arzneimittelhersteller zukommen, werden besonders sorgfältig zu prüfen und zu erörtern sein. Es ist gewiß nicht falsch, wenn Frau Minister Focke heute darauf hingewiesen hat, daß die führende Arzneimittelindustrie bereits bisher weitgehend den Anforderungen genügt, die künftig an die Zulassung gestellt werden. Anders verhält es sich jedoch zum Teil bei den mittleren und kleinen Unternehmen des Arzneimittelmarktes. Es geht hier nicht nur um den Unterschied in der Forschungs- und Prüfungskapazität, sondern auch um die Besonderheit der hergestellten Arzneimittel. Man wird Mittel und Wege finden müssen, auch für diese Unternehmen die Kostenbelastung in erträglichen Grenzen zu halten, um dem Patienten diese Medikamente sicherzustellen und nicht auf einem Umweg doch die Pluralität des Angebotes bewußt einzuengen.
Besonderes Augenmerk verdienen auch die besonderen Sach- und Personalkosten, die auf das Bundesgesundheitsamt und damit auf den Bundeshaushalt zukommen. Insbesondere bei der Verdreifachung des veranschlagten Personalbedarfs wird im einzelnen kritisch nachzuforschen sein, inwieweit diese verlangten Personalstände einerseits erforderlich sind und andererseits zur Bewältigung der nach dem neuen Gesetz anstehenden Aufgaben ausreichend sein werden. In diesem Zusammenhang möchte ich nur darauf hinweisen, daß die Frage der sogenannten Nachzulassung der bereits auf dem Markt befindlichen Arzneimittel auch gerade unter diesem Gesichtspunkt der Kapazität des Bundesgesundheitsamtes genau überprüft werden muß.
Schließlich wird bei den Beratungen auch die Zahl und die Weite der Ermächtigungen des Verordnungsgebers zu prüfen sein. Ich freue mich, daß auch in diesem Punkt Frau Minister Focke heute die Bereitschaft der Bundesregierung erklärt hat, erforderlich werdende Konkretisierungen für den Entwurf zu erarbeiten. Die FDP-Fraktion würde es außerdem für zweckmäßig halten, wenn das Ministerium noch während der Beratung des Gesetzentwurfs in den Ausschüssen rechtzeitig den wesentlichen Inhalt der wichtigsten Verordnungen vorlegte. Ich glaube, daß die Verabschiedung des Gesetzes dadurch nicht verzögert, sondern eher beschleunigt würde, weil - und das möchte ich an die Opposition gerichtet sagen - dadurch mehr Vertrauen entstünde. Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, in dieser Frage als Koalition zusammenstehen, wir müssen in dieser Frage aber auch als Parlament zusammenstehen; 1 denn wir können dieses Gesetz nur gemeinsam verabschieden.
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Die Gesundheitspolitiker aller Fraktionen wollen mit diesem Reformwerk die Arzneimittelsicherheit verbessern. Wir werden dabei die Verhältnismäßigkeit der Mittel, das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers, die Therapiefreiheit des Arztes, den Pluralismus der Medizin und die Konsequenzen des Grundgesetzes für alle Bereiche der Arzneimittelsicherheit strikt zu beachten haben. Wir wollen aber auch keine unnötigen Reglementierungen, und wir wollen gewiß nicht - auch die Koalition nicht - auf dem Wege der Neuregelung des Arzneimittelwesens durch unbedachte Auswirkungen indirekt einer Änderung unserer Gesellschaftsstruktur Vorschub leisten.
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Das Maß an Verantwortung, Arbeit und notwendiger Übersicht, das die Bearbeitung des Gesetzes von allen beteiligten Abgeordneten verlangt, wird ganz außerordentlich sein. Das wissen wir als einziges ganz sicher. Wir sind aber überzeugt - im Gegensatz zur Opposition -, daß der Regierungsentwurf für dieses Bemühen eine gute, eine vorzügliche Basis abgibt.
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Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Vizepräsident Frau Funcke
Wir kommen zur Überweisung des Gesetzentwurfs. Die Vorschläge des Ältestenrats sind Ihnen bekannt. Wer der Überweisung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 6 und 7 der Tagesordnung auf:
6. Beratung des Sozialbudgets 1974 - Drucksache 7/2853 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß
7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Gesetzes über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und der Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte ({1})
- Drucksachen 7/3065, 7/3073 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort hat Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Beratung des Sozialbudgets 1974 und des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes gibt mir Gelegenheit, über die Politik der Bundesregierung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit Rechenschaft zu geben.
Soziale Sicherung ist die wichtigste Einkommensquelle derer, die kein Erwerbseinkommen haben, entweder weil sie das Erwerbsleben noch vor sich oder weil sie als Rentner ihr Arbeitsleben hinter sich haben oder weil sie als Kranke oder Arbeitslose vorübergehend ohne Einkommen sind. Sie alle sind auf ein gut ausgebautes Netz der sozialen Sicherung angewiesen, wenn zu den körperlichen und seelischen Belastungen, die Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter mit sich bringen, nicht materielle Not hinzukommen soll.
Das Netz der sozialen Sicherung, auf das sich ein Bürger dieses Landes verlassen kann, ist eindrucksvoll und kann sich überall auf der Welt sehen lassen. Ich will dabei gar nicht besonders abheben auf die im Sozialbudget ausgewiesene Sozialleistungsquote. Ich weiß, wie differenziert solche Zahlen beurteilt werden müssen, wie viele Komponenten in sie eingehen, die nicht unbedingt ein Wohlstandsmaßstab sind. Zudem will ich diese Plenardebatte auch nicht zu einer statistischen Vorlesung machen. Sie finden eine ausgewogene Darstellung der Zahlen in den Drucksachen, die Ihnen vorliegen.
Die Sozialleistungsquote, definiert als Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt, steigt - und das ist die wichtigste Aussage; wichtiger als
die absolute Höhe - von 28,5 % im vorigen Jahr auf 29,1 % im Jahr 1978. Nimmt man einen Zehnjahreszeitraum, so steigt sie um drei Prozentpunkte von 26,1 % 1968 auf die schon genannten 29,1 % im Jahre 1978.
Diese Steigerung geht auf zwei Ursachenbündel zurück. Da gibt es einmal Einflußfaktoren, die, wenn ein soziales Sicherungssystem besteht, nur durch schwere Eingriffe in den sozialen Besitzstand beeinflußt werden könnten: Die Zunahme der Zahl älterer Menschen in unserem Lande verteuert die Renten- und Krankenversicherung und - das wird oft übersehen - die Sozialhilfe und das Wohngeld. Die Dienstleistungen, besonders im Gesundheitsbereich, werden personalintensiver und teurer, sie werden zudem von einer aufgeklärten Bevölkerung mehr als in der Vergangenheit in Anspruch genommen.
Andererseits ist das Netz der sozialen Sicherung durch unsere gemeinsame Arbeit in Regierung und Parlament engmaschiger geworden. Das Ergebnis unserer Bemühungen zeigt sich auf drei Feldern: Es gibt neue Sozialleistungen. Bestehende Sozialleistungen wurden erhöht und verbessert. Immer mehr Sozialleistungen, bestehende wie neu hinzugekommene, wurden in die Dynamisierung einbezogen.
Lassen Sie mich einen Überblick über den Ausbau der sozialen Sicherung geben, der sich seit Vorlage des letzten Sozialberichts 1973 vollzogen hat. Ich beginne mit den neuen Sozialleistungen.
Das Gesetz zur Verbesserung der Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung brachte den Fortfall der Aussteuerung bei Krankenhauspflege. Für den Begünstigten ist dies wirtschaftlich von großer Bedeutung und im übrigen eine uralte Forderung der Arbeitnehmerbewegung, die jetzt endlich realisiert worden ist. Dieses Gesetz brachte den Anspruch auf Haushaltshilfe, wenn bei Kranhenhausbehandlung oder Kur der Haushalt nicht weitergeführt werden kann, und es brachte den Anspruch auf Krankengeld, wenn wegen Erkrankung eines Kindes Verdienstausfall entsteht.
Mit dem Gesetz über das Konkursausfallgeld wurde eine empfindliche Lücke im System der sozialen Sicherung geschlossen. Dieses Gesetz verhindert keine Konkurse. Es verhindert aber, daß der Arbeitnehmer im Falle des Konkurses neben dem Verlust des Arbeitsplatzes auch Lohneinbußen hinnehmen muß. Das Konkursausfallgeld, das durch die Arbeitsämter ausgezahlt wird, sichert dem Arbeitnehmer den vollen Nettolohn für die letzten drei Monate vor Eröffnung des Konkurses. Außerdem werden für diesen Zeitraum die rückständigen Sozialversicherungsbeiträge entrichtet.
Vor einem Monat hat dieses Hohe Haus das Gesetz über die Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung verabschiedet. Dieses Gesetz kommt etwa 12 Millionen Arbeitnehmern zugute. Es schränkt die Verfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften bei einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Betrieb ein, es sichert die Betriebsrente oder die bereits erworbene Versorgungsanwartschaft im Falle
' der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, es verzahnt Regelungen der betrieblichen Altersversorgung mit den Altersgrenzen der gesetzlichen Rentenversicherung, es verhindert die Auszehrung der Betriebsrenten durch Verbot der Anrechnung der gesetzlichen Rentenanpassungen, und es enthält die Pflicht des Arbeitgebers, eine Anpassung der Betriebsrenten regelmäßig zu prüfen.
Für die mehr als 4 Millionen Behinderten wurden durch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation umfassende medizinische und berufliche Eingliederungshilfen zur Verfügung gestellt. Unabhängig von der Ursache der Behinderung werden künftig bei gleicher Behinderung grundsätzlich gleiche Rehabilitationsleistungen erbracht werden. Die Unterhaltsleistung während der Rehabilitation beträgt im Prinzip 80 Prozent des entgangenen Bruttoarbeitsentgelts. Sie wird jährlich an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt. Für die Zeit der Rehabilitation wird eine einheitliche soziale Sicherung der Behinderten eingeführt. Der Mehraufwand der Rehabilitationsträger wird allein im Jahre 1975 etwa 1 Milliarde DM betragen. Darüber hinaus sind durch die Ausdehnung des bisherigen Schwerbeschädigtenrechts auf alle Schwerbehinderten die Möglichkeiten der Eingliederung in das Erwerbsleben erheblich verbessert worden. Auch den institutionellen Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen wurden entscheidende Verbesserungen angefügt. Ein geschlossenes Netz von Rehabilitationseinrichtungen entsteht. Bis jetzt hat das Bundesarbeitsministerium fast 60 derartige Einrichtungen finanziell gefördert. Ich meine, daß wir für das Aktionsprogramm „Rehabilitation", das die Bundesregierung im Jahre 1970 der Öffentlichkeit vorgelegt hat, sehr bald Vollzugsmeldung machen können.
Meine Damen und Herren, etwa 10 Millionen Berechtigte mit etwa 19 Millionen Kindern erfaßt die Reform des Familienlastenausgleichs, die zusammen mit der Steuerreform am 1. Januar in Kraft getreten ist. Diese Reform des Familienlastenausgleichs bringt die Vereinheitlichung und einkommensunabhängige Gestaltung des Familienlastenausgleichs. Mit anderen Worten: Kindergeld vom ersten Kind an; höhere Kindergeldsätze; Fortfall von Einkommensgrenzen; Beseitigung des Unterschiedes, daß als Folge der steuerlichen Kinderfreibeträge die Eltern mit niedrigem Einkommen weniger Entlastung für ihre Kinder erhalten als Eltern mit höheren Einkünften. Auch das, meine Damen und Herren, bedeutet mehr soziale Gerechtigkeit. Durch diese Reform steigt der Aufwand des Staates für den Familienlastenausgleich um etwa 5 Milliarden DM auf rund 16 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, es sind aber nicht nur neue Sozialleistungen eingeführt oder grundlegend reformiert worden; bereits bestehende Sozialleistungen wurden zeitgemäß ausgebaut. Als Beispiel darf ich darauf hinweisen, daß am Ersten dieses Monats das Arbeitslosengeld auf 68 % des früheren Nettoeinkommens und die Arbeitslosenhilfe auf 58 % angehoben wurden. Das Unterhaltsgeld bei Fortbildung und Umschulung beträgt nun einheitlich 90 % des
letzten Nettoarbeitsentgelts. Die Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld wurde verlängert. Ich komme auf den Komplex Arbeitslosigkeit noch in einem anderen Zusammenhang ausführlicher zurück. Aus dem Bereich anderer Ressorts nenne ich nur stichwortartig: die Verbesserung des Bundessozialhilfegesetzes, die Verbesserung der Ausbildungsförderung und die Verbesserung des Wohngeldes.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Auch die Ausdehnung der Dynamisierung der Sozialleistungen hat sich auf die Ausgabenentwicklung ausgewirkt. In den letzten Jahren sind das Krankengeld, das Übergangsgeld bei Rehabilitationsmaßnahmen, das Unterhaltsgeld, das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe dynamisiert worden. Seit dem 1. Oktober 1974 werden diese Leistungen jährlich der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung entsprechend den Steigerungssätzen der gesetzlichen Rentenversicherung angepaßt.
Für die etwa 2,3 Millionen Kriegsopfer wurden zwei Rentenerhöhungen beschlossen. Die nach früherem Recht jeweils zum Jahresbeginn vorgesehene Rentenanpassung wurde um ein Vierteljahr vorgezogen, so daß die Bezüge der Kriegsopfer im Jahre 1974 um durchschnittlich 15 % gestiegen sind. Das Siebente Anpassungsgesetz zur Kriegsopferversorgung wird Ihnen, meine Damen und Herren, in Kürze zugehen.
Mit dem Gesetz über die laufende Anpassung des Altersgeldes in der Altershilfe für Landwirte wurde die jährliche Anpassung des landwirtschaftlichen Altersgeldes an die Entwicklung der Löhne und Gehälter von Arbeitnehmern gesichert. Auch die Landabgaberenten nehmen an der Dynamisierung teil.
Die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung sollen nach dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 1. Juli 1975 um 11,1 % angehoben werden. Am 1. Juli vorigen Jahres waren sie um einen ähnlichen Satz, nämlich um 11,2 %, erhöht worden. Die Renten in der Unfallversicherung sollen ab 1. Januar 1976 um 11,8 % steigen nach einer Erhöhung zum 1. Januar 1975 um 11,9 %. Verglichen mit der zu erwartenden Preissteigerungsrate bedeutet dies für 1975 erneut einen fühlbaren Zuwachs der Realeinkommen der Rentner. Unsere Rentner können sich also auch in diesem Jahr mehr leisten als im Jahr zuvor. Der Rentenanpassungsbericht 1975 bestätigt im übrigen, daß die starken Rentenerhöhungen dieser Jahre langfristig gesichert sind und daß der gegenwärtige Beitragssatz ausreicht, um - bei vorsichtiger Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - bis 1988 die gesetzlichen Verpflichtungen der Rentenversicherungsträger zu erfüllen.
Diese heutige Debatte über das Sozialbudget ist aber auch eine Gelegenheit zur Rückschau. Ich kann heute feststellen, daß nach Inkrafttreten des 18. Rentenanpassungsgesetzes Renten gezahlt werden, die - verglichen mit 1969 - um rund 80 % höher sind als in diesem Jahr. In den Jahren 1969 bis 1974 sind demgegenüber die Lebenshaltungskosten für den
Rentnerhaushalt um 31 % gestiegen. Die Rentner haben also mit anderen Worten in besonders hohem Maße an der wirtschaftlichen Entwicklung teilgenommen. Auch die folgenden Rentenanpassungen werden voraussichtlich auf hohem Niveau liegen.
Die Eigendynamik des Bevölkerungsaufbaus und der Ausbau der sozialen Sicherung haben ihren Preis: Die Belastung der Versicherten mit Sozialabgaben steigt ebenfalls. Der Arbeitnehmeranteil zum Gesamtbeitrag der Sozialversicherung wird nach den Berechnungen des Sozialbudgets von 14,5 auf 15,5 bis 16 % im Jahre 1978 steigen. Vor allem die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung haben eine technisch und politisch nur schwer beeinflußbare Eigengesetzlichkeit, wohingegen der Beitragssatz zur Rentenversicherung unverändert bleiben wird.
Ich will diese Entwicklung keineswegs bagatellisieren. Ich habe die Belastbarkeit der Versicherten immer als ein ganz wichtiges Kriterium der Sozialpolitik angesehen, und ich bleibe auch bei dieser Meinung. Ich denke, wir alle müßten in Zukunft jeden Vorschlag zur Verbesserung der sozialen Sicherheit danach beurteilen, ob der Vorteil, den er bringt, eine zusätzliche Belastung der Versicherten rechtfertigt.
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Das Sozialbudget hat von Anfang an die Aufgabe gehabt, nicht nur Stand und Entwicklung der Sozialleistungen darzustellen, sondern auch die Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer zu untersuchen. Dabei kommt es vor allem darauf an, festzustellen, wie sich diese Einkommen netto, also nach Abzug der Beiträge und Lohnsteuer, und real, also nach Berücksichtigung der Preissteigerung, entwikkeln.
Trotz steigender Abzüge und steigender Preise konnten bisher immer positive Ergebnisse festgestellt werden. Anders gesagt, der Lebensstandard der Arbeitnehmer hat sich trotz der unbestreitbar steigenden Belastungen in den letzten Jahren deutlich erhöht. So sind in den fünf Jahren 1969 bis 1973 die realen Nettoverdienste je beschäftigten Arbeitnehmer um durchschnittlich 4,6 % pro Jahr gestiegen. Diese Entwicklung wurde vom Sozialbudget 1969/70 - dem ersten, das die Bundesregierung der sozialliberalen Koalition vorgelegt hat - für die genannten Jahre mit etwa 4 bis 5 % recht gut, so finde ich, vorausgesagt. Ich erwähne dies nur, meine Damen und Herren, weil häufig die geringe Zuverlässigkeit der Vorausberechnungen kritisiert wird. Auch die im jüngsten, Ihnen vorliegenden Sozialbudget 1974 für das Jahr 1974 erwartete Steigerungsrate der Arbeitnehmerkaufkraft mit 21/2 % scheint gut getroffen zu sein. Denn nach den ersten, vorläufigen Statistiken aus Wiesbaden dürfte der endgültige Wert bei knapp 3 % liegen. Die reale Verbesserung für 1974 liegt damit zwar deutlich unter dem davorliegenden Fünfjahresdurchschnitt. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen ist diese Zahl jedoch recht beachtlich. Sie dürfte international beinahe konkurrenzlos sein. Noch vor einem Jahr hätte niemand damit zu rechnen gewagt.
Aus diesen Tatsachen leite ich auch für die aktuellen Vorausberechnungszeiträume des Sozialbudgets 1974, also für ,den Fünfjahreszeitraum bis 1978, die berechtigte Zuversicht ab, daß die ausgewiesene Zuwachsrate der realen Nettoverdienste von 3 % im Jahresdurchschnitt realistisch ist. Für das begonnene Jahr 1975 werden wir dank der Steuer- und Kindergeldreform sogar deutlich über diesem Durchschnitt liegen. Voraussichtlich wird sich die Kaufkraft der beschäftigten Arbeitnehmer durchschnittlich um annähernd 5 % verbessern. Dies sind günstige Aussichten, meine Damen und Herren, und sie sollten durch den vorübergehenden Anstieg der Arbeitslosen- und Kurzarbeiterziffern nicht versperrt werden.
Was nun die Lage auf dem Arbeitsmarkt angeht, so will ich keinen Hehl daraus machen, daß mich die gegenwärtige Situation bedrückt, zumal eine Besserung noch nicht in wenigen Wochen erwartet werden kann. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wir werden, wie immer in den ersten Monaten eines Jahres, mit einer Saisonspitze in der Arbeitslosigkeit, ganz unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung, rechnen müssen.
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Hinzu kommt, daß die eingeleiteten konjunkturpolitischen Maßnahmen bis zu ihrer vollen Wirksamkeit eine gewisse Zeit brauchen. Denn schließlich reagiert der Arbeitsmarkt auch auf positive wirtschaftliche Veränderungen stets mit einer Verzögerung. Eine Verbesserung des Investitionsklimas wird nicht sofort und schlagartig die Beschäftigungslage umkehren; hier gibt es zeitliche Anpassungsverzögerungen.
Die Bundesregierung steht dieser Entwicklung aber nicht tatenlos gegenüber. Maßnahmen zur Steuerung der Konjunktur und der Beschäftigungssituation wurden bereits im Herbst mit einem Programm von rund 1 Milliarde DM gestartet. Die weiteren Maßnahmen, die die Bundesregierung Mitte Dezember getroffen hat und die - soweit erforderlich - noch vor Weihnachten vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat verabschiedet worden sind, werden sicher dazu beitragen, Konjunktur und Beschäftigung schneller und dauerhafter anzukurbeln. So können wir doch mit großer Zuversicht hoffen, daß sich bereits im Frühjahr deutliche Verbesserungen der Arbeitsmarktlage zeigen.
Das will natürlich nicht heißen, daß die Bundesregierung die menschliche Seite der Arbeitslosigkeit und ihre zahlreichen Probleme nicht sieht. Vielmehr wurden im Rahmen der Dezember-Beschlüsse und zusätzlich zu ihnen eine ganze Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die gezielt auf die sozialen Probleme der Arbeitslosigkeit eingehen. So wird zuerst dort geholfen, wo sich besonders schwerwiegende und anhaltende Schäden für die Betroffenen ergeben, z. B. bei Jugendlichen oder schon längerer Zeit Arbeitslosen, und sowohl regional wie nach der Arbeitslosenstruktur. Wer seinen bisherigen Beschäftigungsort oder gar seinen Beruf wechseln muß, erhält besondere finanzielle Hilfen.
Auch die berufliche Aus- und Weiterbildung wird verstärkt und gezielt gefördert. Damit wird einerseits das besonders hohe Beschäftigungsrisiko von ungelernten oder nur angelernten Arbeitskräften berücksichtigt, andererseits erreichen wir für schon Arbeitslose eine nutzbringende Überbrückung der Zeit ihrer Beschäftigungslosigkeit. Für diese Maßnahmen hat die Bundesregierung 600 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Ab Anfang dieses Jahres wird auch die erwähnte Erhöhung des Arbeitslosengeldes wirksam. Außerdem kann Kurzarbeitergeld länger und großzügiger gewährt werden.
An dieser Stelle, meine Damen und Herren, ein Wort zu den ausländischen Arbeitnehmern. Ich glaube, wir alle wissen, was wir den ausländischen Arbeitnehmern in der Vergangenheit zu verdanken haben. Aber der Anwerbestop vom November 1973 war angesichts der eingetretenen Beschäftigungsrisiken geboten. Es erweist sich heute Tag für Tag, wie richtig und wie gerechtfertigt er war. Der starke Anstieg der Arbeitslosenzahlen hat es im November 1974 außerdem notwendig gemacht, die Arbeitserlaubnis den Familienangehörigen ausländischer Arbeitnehmer von Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu versagen, die erstmalig eine Beschäftigung im Bundesgebiet aufnehmen wollen. Ausländische Jugendliche, die bereits vor dem Dezember 1974 in der Bundesrepublik Deutschland lebten und eine Berufsausbildung oder eine Beschäftigung beginnen wollen, sind von dieser einschränkenden Regelung jedoch nicht betroffen.
Ich sage es freimütig, meine Damen und Herren: Diese Regelung mag für manchen ausländischen Arbeitnehmer, der Familienangehörige nachholt, hart sein. Es wird jedoch niemand bestreiten, daß arbeitslosen deutschen und auch arbeitslosen ausländischen Arbeitnehmern mit Arbeitserlaubnis eindeutig Vorrang für einen freien Arbeitsplatz zukommt.
Sie sehen also, daß wir wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitisch gerüstet sind. Deshalb können wir den nächsten kritischen ein bis zwei Monaten mit einer gewissen und nicht ganz unberechtigten Gelassenheit entgegenblicken.
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- Herr Lampersbach, für Panikmache und Horrormeldung besteht jedenfalls kein Grund.
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- Ich will Ihnen mal einen anderen Spruch sagen. Ich habe neulich gelesen, was Ihr Parteivorsitzender, Herr Kohl, einer der Kanzlerkandidaten, gesagt hat. Er hat gesagt: Was nützt die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen! Wissen Sie, das erinnert mich an die Auseinandersetzung um die Ostverträge. Wenn man dabei manchen Rednern der Opposition zuhörte und die Augen schloß, konnte man meinen: Wenn die Ostverträge abgeschlossen
werden, kommen die Kosaken. Da hörte man schon das Hufgetrappel.
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Meine Damen und Herren, daß und wie gut die Bundesregierung die schwierigen und keineswegs auf unser Land beschränkten Probleme zu meistern versteht, zeigt der Blick nach draußen.
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Dort hat die Arbeitslosigkeit ein weit höheres Gewicht, ist sozial lange nicht in dem Maße abgesichert und zudem noch begleitet von steigenden Preisen, die gerade sozial Schwächere am härtesten treffen, während bei uns die Preissteigerungsrate schon seit Monaten sinkt.
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Dies scheint übrigens auch die Auffassung vieler Unternehmer zu sein; denn sonst wäre es bei der augenblicklichen Konjunktursituation nicht zu erklären, daß sie in großem Umfang Kurzarbeit einlegen und auf entsprechende Entlassungen verzichten.
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An dieser Stelle, meine Damen und Herren, ein Wort zur Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit. In diesen Tagen ist verschiedentlich zu hören, die Bundesanstalt für Arbeit sei nahezu oder schon illiquide. Ich will hierzu mit aller Deutlichkeit erklären: Die arbeitsmarktpolitischen Leistungen der Bundesanstalt nach dem Arbeitsförderungsgesetz sind finanziell voll abgesichert. Kein Arbeitsloser, kein kurzarbeitender Arbeitnehmer und kein Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Bildung braucht zu befürchten, daß seine Rechtsansprüche auf finanzielle Leistungen der Bundesanstalt nicht verwirklicht werden können.
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Nach dem kürzlich von der Bundesregierung genehmigten Haushalt 1975 der Bundesanstalt für Arbeit, der Ausgaben in Höhe von 11 Milliarden DM vorsieht, werden diese Leistungen fast ausschließlich aus dem Beitragsaufkommen und der Rücklage der Bundesanstalt finanziert. Der darüber hinausgehende Mehrbedarf, der sich zur Zeit noch nicht zuverlässig schätzen läßt, muß nach dem Gesetz mit Bundesmitteln finanziert werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eine Fußnote machen. Vor dem Hintergrund der an und für sich nicht unerheblichen Rücklagen der Bundesanstalt für Arbeit, die jetzt nicht voll mobilisiert werden können, zeigt sich, daß solche Rücklagen, zumindest ihre Anlagevorschriften, wirtschafts- und sozialpolitisch problematisch sind. Ich will es bei dieser Bemerkung bewenden lassen. Wir werden im Laufe der Zeit sicherlich noch Gelegenheit haben, im einzelnen darüber zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch ein anderes Thema ansprechen: die Humanisierung des Arbeitslebens. Es wäre kurzsichtig, diese Frage nur in Boomzeiten anzusprechen
und bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu den Akten zu legen. Wir orientieren unsere Reformpolitik langfristig und nicht auf der Basis eines kurzfristigen Konjunktureinbruchs. Die Arbeitnehmer werden, da sie besser ausgebildet sind, auch in Zukunft höhere Ansprüche an die Qualität ihrer Arbeitsplätze stellen.
Ohne Zweifel haben wir - ich füge hinzu: und 21 Stimmen der Opposition - mit dem Betriebsverfassungsgesetz 1972 neue Grundlagen für die Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz geschaffen und den sozialen Schutz der Arbeitnehmer durch Ausbau und Verstärkung der Mitbestimmung verbessert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Rechte des Betriebsrats bei Betriebsänderungen, bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung sowie bei der Personalplanung und der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, meine Damen und Herren, daß es noch großer Bemühungen aller Beteiligten bedarf, um die vom Gesetzgeber geschaffenen Instrumentarien zur Wahrnehmung der Interessen der arbeitenden Menschen in den Betrieben voll im Interesse der Arbeitnehmer auszunützen.
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Als weitere Maßnahme nenne ich das Gesetz über Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, das am 1. Dezember 1974 wirksam geworden ist. Mit diesem Gesetz haben wir Voraussetzungen- für die Verringerung der Zahl von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten geschaffen.
Die im Deutschen Bundestag anstehende Neuordnung des Jugendarbeitsschutzes ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung des Arbeitslebens. Wir wollen durch eine Modernisierung des Jugendarbeitsschutzes die Jugendlichen mehr als bisher schützen und gleichzeitig ihre Ausbildung fördern. Im Interesse des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Jugendlichen halte ich es für notwendig, den Gesetzentwurf so rasch wie möglich zu verabschieden.
Die Bundesregierung hat eine Arbeitsstättenverordnung erarbeitet, in der Normen und Mindestanforderungen für eine fortschrittliche Gestaltung der Arbeitsplätze und der Arbeitsumgebung festgelegt sind. Wer solche Vorschriften, meine Damen und Herren, auch heute noch als belastenden Kostenfaktor ansieht, verkennt den hohen volks- und betriebswirtschaftlichen Nutzen dieser Humanisierungskosten.
In Ergänzung hierzu wurde ein Forschungsprogramm erarbeitet, in dem Schutzdaten und Richtwerte für die Weiterentwicklung staatlicher Vorschriften sowie humane Arbeitstechnologien und Modelle für Arbeitsorganisation und Arbeitsplatzgestaltung entwickelt werden. Dieses Programm ist ein Angebot an Betriebsräte und Unternehmen zugleich. Es soll ihnen bei der Erfüllung gesetzlicher Normen eine Hilfestellung geben, um die Durchsetzung humaner Arbeitsbedingungen zu beschleunigen.
Mit dem am 1. November 1974 in Kraft getretenen Heimarbeitsänderungsgesetz und der Änderung des
Tarifvertragsgesetzes haben wir die wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Situation der Heimarbeiter und der arbeitnehmerähnlichen Personen wesentlich verbessert. Mich freut dieses Gesetz besonders, weil wir damit einer Personengruppe geholfen haben, die mangels einer starken Lobby bisher recht stiefmütterlich behandelt wurde.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluß auch noch ein paar Worte zu dem gesellschaftspolitischen Komplex der Mitbestimmung sagen. Es wäre engstirnig, zu glauben, der soziale Friede in unserem Lande sei eine Selbstverständlichkeit. Unser soziales System hat sich unter Beteiligung und Mitarbeit vieler Gruppen auf den jetzigen Stand entwickelt, und es ist nicht eines Mannes Werk. Und wir alle wären gut beraten, wenn wir uns auch in der Zukunft um eine zeitgemäße Weiterentwicklung dieses Systems bemühten.
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Wer, wie Ihr China-Fahrer, meine Damen und Herren von der Opposition, es im Jahre 1966 gemacht hat, als er von der „Gnade der Stunde der Angst" sprach, den Stillstand der Gesellschaftspolitik propagiert, der verspielt nicht nur die wirtschaftliche Zukunft dieses Landes, sondern er legt auch die Lunte für gesellschaftliche Auseinandersetzungen in der Zukunft.
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Vorgänge in anderen Ländern sollten uns eigentlich schrecken. Es kommt darauf an, auch mittel-und langfristig dazu beizutragen, daß in diesem Land weiterhin innerer Friede herrscht.
({12})
Deshalb denken die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen nicht daran, ihre Politik der Mitbestimmung aufzuschieben oder gar den Überlegungen zu folgen, die der Chefdenker und Generalsekretär der CDU, Professor Biedenkopf, vorschlägt, nämlich die Mitbestimmung einzupacken und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
({13})
- Aber Sie haben doch keinen, Herr Franke. Wenn wir schon einen behandeln müssen, müssen wir doch unseren nehmen.
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Wenn etwas gesellschaftspolitisch leichtfertig wäre, dann wäre es dies.
Meine Damen und Herren, wir handeln auch in der kommenden Zeit nach dem Grundsatz, der seit 1969 die Maxime unseres Handelns ist: Stabilität durch Reform.
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Das Wort hat der Abgeordnete Götz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir begrüßen es zunächst, daß in diesem Jahr die Beratung des Sozialbudgets 1974 auf der heutigen Tagesordnung zeitlich so plaziert wurde, daß eine Diskussion möglich ist, die der Bedeutung und dem Gewicht gerade dieses Sozialbudgets 1974 gerecht wird. Wir Sozialpolitiker haben ja in den vergangenen Jahren immer etwas darunter gelitten, daß Fragen der Sozialpolitik, des Sozialbudgets oder des Rentenanpassungsgesetzes so etwa am Donnerstag zu später Abdenstunde oder am Freitagnachmittag behandelt wurden. Allerdings muß ich feststellen, die Besetzung ist heute auch nicht viel besser als bei früheren Beratungen.
Herr Minister, Sie haben Ihre Ausführungen auch wieder im wesentlichen darauf beschränkt, einen Rückblick auf die Bilanz Ihrer Sozialpolitik zu geben, wobei ich doch wohl hinzufügen darf, daß vieles von dem, was Sie hier mit Recht als Positivposten Ihrer Bilanz herausgestellt haben, ja auch von der Opposition nicht nur mitgetragen, sondern daß dazu von ihr der Anstoß durch Anträge und Gesetzentwürfe gegeben wurde, daß es jedenfalls von ihr mitgetragen und mitbeschlossen wurde. Daher schmälern wir diese Bilanz auch gar nicht. Denn dann würden wir uns ins eigene Fleisch schneiden. Nur, meine ich, sollte das Sozialbudget 1974, Herr Minister, weniger Anlaß dazu geben, Rückblick zu halten, eine Nabelschau zu betreiben, als vielmehr, da dieses Budget doch ohne Zweifel mit seinem Zahlenwerk eine Signalwirkung gesetzt hat, die Sorgen um die Zukunft deutlicher herauszustellen. Sie wissen ja, Herr Minister, daß namhafte und sachkundige Journalisten Ihr Sozialbudget, das Sie, glaube ich, Ende Oktober oder November vorgelegt haben, in der Tages- und Fachpresse sehr kritisch kommentiert und zum Teil mit Überschriften versehen haben wie „Die Bürde des Sozialkonsums", „430 Milliarden und noch kein Ende", „Reformeifer der Regierung und Opposition fordert ihren Preis", „Der Bürger zahlt die Zeche", „Genuß mit Reue" und anderes mehr.
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Ich meine, diese Kritik und diese Sorge ist nicht leichtfertig gewesen, und das Parlament täte meines Erachtens gut daran, an dieses Sozialbudget auch kritisch heranzugehen und es kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wir sollten es nicht dabei bewenden lassen, es einfach dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen, sondern sollten es dort kritisch beraten.
({1})
- Was ich will, darauf werde ich noch kommen. Ich meine, Regierung und Parlament sollten gemeinsam, und zwar rechtzeitig, Vorsorge dafür treffen, daß nicht eines Tages ein Zustand eintritt, der den Gesetzgeber zwingen könnte, nicht nur Korrekturen am gegenwärtigen System der sozialen Sicherheit vorzunehmen - was einen Vertrauensbruch der
Öffentlichkeit gegenüber den demokratischen Institutionen zur Folge hätte -, sondern womöglich das gegenwärtige System unserer sozialen Sicherheit in Frage zu stellen.
({2})
Nun, Herr Minister, es liegt mir wirklich ferne, angesichts der in den nächsten Jahren auf uns zurollenden Lawine von steigenden Kosten und Beiträgen, die auch nach Ihrer eigenen Auffassung, wie Sie betont haben und wir haben dies begrüßt -, die Grenzen der Belastbarkeit der Wirtschaft und der Arbeitnehmer früher erreicht haben würde, als bisher angenommen wurde, ein Horrorgemälde, wie Sie es heute auch wieder gesagt haben, an die Wand zu malen. Es liegt uns auch fern, in Panik zu machen. Nur, das, was wir im Zusammenhang mit der steigenden Arbeitslosigkeit sehr früh an Warnungen und Bedenken erklärt haben, ist ja nun auch wirklich eingetreten.
({3})
Wir haben auch gar keinen Anlaß - und werden es auch nicht tun -, jetzt ein Horrorgemälde an die Wand zu malen, Ich teile allerdings, Herr Minister, die Auffassung eines Journalisten, der in einer Wochenzeitung in seinem Kommentar bemerkte, daß dieses Sozialbudget - ich darf zitieren - „alle Züge eines Horrorgemäldes aufweist".
({4})
Ich frage mich, ob Sie diese Warnung an die Opposition vielleicht deswegen ausgesprochen haben könnten, weil Sie persönlich zwar die schwachen Stellen des Sozialbudgets sehr wohl erkannt haben,
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weil Ihnen als Ressortminister diese Zahlen erhebliche Sorgen bereiten, Sie sich aber als Mitglied des Kabinetts aus naheliegenden Gründen vor den bevorstehenden Landtagswahlen nicht in der Lage sehen, die Dinge beim Namen zu nennen und die Karten auf den Tisch zu legen
({6})
und dabei der Öffentlichkeit schonungslos zu sagen, wie es um die finanzielle Entwicklung unseres sozialen Sicherungssystems in der Rentenversicherung, in der Krankenversicherung, im Gesundheitswesen in Wirklichkeit steht.
Herr Minister, mit einer ungeschminkten Darstellung der wirklichen Situation würden Sie Ihre Sorgen ohne Zweifel am ehesten los. Ich wünsche Ihnen persönlich, daß Sie Ihren morgigen 50. Geburtstag möglichst sorgenfrei begehen könnten. Sie würden damit aber auch, Herr Minister, den Grundsätzen von Wahrheit und Klarheit entsprechen, die diese Regierung ja in bezug auf ihre Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit in ihrer ersten Regierungserklärung im Jahre 1969 selbst postuliert hat.
({7})
Da Sie das nicht getan haben, muß es schon die Opposition tun, und Sie müssen ihr dies gestatten,
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das zu tun, wozu die Regierung nicht den Mut hat. Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie die Warnungen, die Sorgen und die Bedenken der Opposition diesmal etwas ernster nähme, als sie es in der Vergangenheit in anderen Bereichen der Politik getan hat.
Herr Minister, was an Ihrer Vorlage auffällt, ist zunächst die Tatsache, daß sie diesmal nur das Sozialbudget enthält, das ja früher immer als Teil 2 eines großen umfassenden Sozialberichts über durchgeführte und geplante Maßnahmen und Vorhaben zur Sozial- und Gesellschaftspolitik enthalten war. Dieser Bericht ist diesmal verkürzt und etwas bescheidener - ein neuer Wesenszug, der festzustellen ist - im Vorwort zum Sozialbudget vorgebracht worden. Wir begrüßen dies, und wir begrüßen vor allem den Verzicht darauf, das Sozialbudget und den Sozialbericht, wie wir es in der Vergangenheit immer wieder erleben mußten, als Gelegenheit zu einer überzogenen Selbstdarstellung zu benutzen, um nicht zu sagen: Selbstbeweihräucherung.
({9})
Mir scheint auch die Debatte über das Sozialbudget nicht die richtige Gelegenheit zu sein, immer wieder diese Nabelschau dadurch zu betreiben, daß man für die zurückliegenden Jahre eine sozialpolitische Bilanz aufmacht, die, bei aller Anerkennung des wirklich Geleisteten, aber doch nüchtern beurteilt, oft in geradezu aufdringlicher Weise die Diskrepanz zwischen früheren Versprechungen und wirklich Geleistetem verschleiert.
({10})
Bis zu einem gewissen Maße habe ich dafür auch Verständnis; aber was zuviel ist, ist zuviel. Es ist manches Mal auch nicht überzeugend, was Sie zu Ihrem eigenen Leidwesen bei den zurückliegenden Landtagswahlen selbst erleben mußten.
({11})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte sehr!
Herr Kollege, wären Sie so freundlich, das, was Sie eben sagten, zu konkretisieren und dem Hause mitzuteilen, wo im sozialpolitischen Bereich Versprechungen konkret gemacht und nicht erfüllt wurden?
({0})
Vermögenspolitik, um nur eines zu nennen.
({0})
- Arbeitsplatzsicherung und dergleichen mehr.
({1})
- Herr Ehrenberg, Sie wissen dies selbst sehr genau.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun zum Zahlenwerk dieses Sozialbudgets kommen.
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- Ich weiß es sehr wohl, und Sie wissen es auch. Es hat keinen Sinn, hier gegenseitig eine Schau abzuziehen.
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Nun haben Sie, Herr Minister, gesagt, dieses Sozialbudget enthalte doch korrekte Zahlen. Sie haben ein Beispiel dafür genannt, daß Sie sich bei dem Sozialbudget früherer Jahre - wie es sich jetzt eben herausgestellt habe - nicht geirrt haben. Ich bezweifle dies. Das Sozialbudget 1973 wies für 1973 einen Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt von 26,09 % aus. Tatsächlich waren es dann aber 27,07 % des Bruttosozialprodukts.
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Für 1974 errechnet das Sozialbudget einen Anteil von 28,5 % gleich 285 Milliarden DM und für 1978 einen Anteil von 29,6 % gleich 430 Milliarden DM. Alle Anzeichen aber sprechen dafür, daß das Sozialbudget bereits im Jahre 1975 wesentlich stärker ansteigen dürfte, als es allgemein noch vor wenigen Monaten geschätzt worden ist.
Das Sozialbudget war von seinem Erfinder - das war ja mein Kollege Hans Katzer - als Orientierungs- und Entscheidungshilfe für die Sozialpolitik gedacht. Herr Minister, ich kann nur feststellen, daß das Sozialbudget 1974 ebensowenig wie seine Vorgänger diesem Anspruch gerecht wird. In ihm ist die sich verschärfende wirtschaftliche Lage mit dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Kurzarbeit unberücksichtigt geblieben. Die für die nächsten vier Jahre in Aussicht gestellte Steigerung der realen Nettoverdienste um 3 %, von denen Sie hier auch im Zusammenhang mit dem Jahresbericht gesprochen haben, ist unseres Erachtens unrealistisch. Die im Oktober 1973 für 1977 vorausgeschätzte Soziallastquote ist in Wirklichkeit bereits annähernd 1973 erreicht worden. Die jetzt bis 1978 geschätzte Zunahme auf 29,6 % wird schon 1974 annähernd eintreten, wenn man die tatsächliche Entwicklung von Beschäftigung und wirtschaftlichem Wachstum zugrunde legt.
Herr Minister, ich meine, es wäre nur korrekt gewesen, wenn Sie dem Parlament für die heutige Aussprache einen aktualisierten Nachtrag zum Sozialbudget 1974 vorgelegt hätten.
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Ich hoffe, Sie tun es noch bis zu dem Zeitpunkt, wo wir dieses Sozialbudget - so hoffe ich doch -gründlich im Ausschuß beraten werden.
Wer dieses Sozialbudget jedoch als Kompaß für künftige wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Entscheidungen will, der, Herr Minister, läuft Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen und in die Irre zu gehen.
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Lassen Sie mich ein Wort zur Grenze der Belastbarkeit sagen.
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Herr Minister, Sie haben in den letzten Monaten wiederholt deutlich gemacht, daß der Ausbau des sozialen Leistungssystems auf bestimmte Grenzen stößt, deren Überschreitung die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, die ja das Sozialprodukt zu erarbeiten haben, in bedenklicher Weise überfordern würde. Aber unbeantwortet geblieben ist doch die entscheidende Frage, welche Konsequenzen Sie daraus zu ziehen bereit sind. Ich meine, daß wir verpflichtet sind, nüchtern zu prüfen, ob bei voraussichtlich sehr bescheidenen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts im Hinblick auf verschiedene Vorbelastungen unter Umständen keine Verbesserung der Lebensqualität, sondern im Gegenteil ein Rückgang des Lebensstandards für Teile der Bevölkerung eintreten könnte, den wir doch alle vermeiden wollen. Aber die Ehrlichkeit gegenüber unseren Mitbürgern gebietet meines Erachtens eine solche Überlegung.
Das Sozialbudget 1974 sollte uns Anlaß dazu geben, die künftige Entwicklung etwas gründlicher zu überdenken. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir sind nicht der Meinung, daß es in der Sozial- und Gesellschaftspolitik einen Stillstand geben kann. Dies scheint mir in einer modernen Industriegesellschaft nicht möglich zu sein
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- wir haben diese Äußerung immer getan, Herr Wehner -, geschweige denn eine Schmälerung des sozialen Besitzstandes.
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Letzteres - das habe ich vorhin schon betont - würde eine gefährliche Entwicklung heraufbeschwören.
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- Ich habe diese Auffassung nie geteilt. Ich spreche mich auch nicht grundsätzlich dagegen aus, daß das Sozialbudget stärker ansteigt als das Sozialprodukt. Ein wachsendes reales Sozialprodukt schafft auch die Möglichkeit, daß die Sozialleistungen anteilig etwas stärker steigen als das Volkseinkommen insgesamt. Dies ist gleichzeitig die Konsequenz aus einer steten Verbesserung des sozialen Sicherungssystems. Ursache hierfür ist nicht nur die Verbesserung des Leistungsniveaus für bisherige Leistungsempfänger, sondern natürlich auch die steigende Zahl von neuen Leistungsempfängern infolge neuer Leistungen wie Ausbildungsförderung, Öffnung der
Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen usw.
Eine weitere Ursache für überproportional steigende Sozialaufwendungen liegt in der zunehmenden Belastung der großen Masse der Erwerbstätigen durch steigende Steuer- und Sozialabgabelasten. Bei immer stärkerer Belastung des Individualeinkommens wächst natürlich auch die Notwendigkeit, die Einkommenshilfe für solche Haushalte auszudehnen, in denen die wesentliche Existenzgrundlage das Erwerbseinkommen ist. Hier beschränke ich mich auf die Stichworte Familienlastenausgleich, Ausbildungsförderung und Wohngeldgesetzgebung.
Fragwürdig wird meines Erachtens eine Umverteilungspolitik dann, wenn sie nicht mehr an individuelle Tatbestände anknüpft, sondern mit der Gießkanne ohne vernünftige Motivation den Segen über möglichst viele auszuschütten versucht. Die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten sind doch immer so begrenzt, daß der Ausbau des sozialen Sicherungssystems nicht nach dem Motto erfolgen sollte, möglichst vieles auf möglichst viele zu verteilen. Vielmehr sind wir auch heute und morgen und künftig darauf angewiesen, vor die Solidarität der Gemeinschaft die Eigenverantwortung des einzelnen zu stellen.
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Ich erachte es als die Aufgabe der Sozialpolitik, die Fähigkeit des einzelnen zur Selbst- und Eigenverantwortung abzustützen und zu fördern. Das Prinzip der Subsidiarität darf als Voraussetzung und Methode beim Ausbau der sozialen Sicherheit auch künftig nicht völlig außer acht gelassen werden, wenn wir nicht den Weg in den Versorgungsstaat einschlagen wollen.
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- Nein, nein. Nun hören Sie zu, Herr Wehner, was ich dazu zu sagen habe.
({13}) Sie bellen manches Mal etwas zu früh los.
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Aber das kennen wir ja. Ich möchte dazu folgendes sagen, Herr Wehner: Wir alle wissen, daß es über die Frage Versorgungsstaat in der Öffentlichkeit immer wieder Diskussionen gegeben hat, nämlich über die Frage, ob sich unser Land nicht bereits im Zustand eines Versorgungsstaates befindet. Ich bin persönlich der Auffassung, daß der derzeitige Stand unseres sozialen Sicherungssystems eine solche Auffassung nicht rechtfertigt. Allerdings sind gewisse Ansätze in dieser Richtung nicht ganz zu verkennen.
Ich sehe aber eine andere Gefahr auf uns zukommen, nämlich die Gefahr einer zunehmenden Orientierung unseres Systems der sozialen Sicherheit auf eine Überbetonung des Sozialhilfesystems. Im Zeitraum von 1968 bis 1973 ist das Sozialbudget im Durchschnitt um 12,3 % gestiegen Dagegen weisen die Leistungen der Sozialhilfe eine jahresdurchschnittliche Steigerung von 15,6 % aus, obwohl der
Ausbau von Leistungen wie Wohngeld und Ausbildungsförderung bei der Sozialhilfe entlastend gewirkt hat. Auch für die Folgejahre bis 1978 unterstellt die Bundesregierung in der Übersicht 19 des Sozialbudgets eine jahresdurchschnittliche Steigerung der Sozialhilfeleistungen von 11,5 % und eine Steigerung des Sozialbudgets von jahresdurchschnittlich 11,3 %.
Wir sind der Auffassung, daß bei steigendem allgemeinem Wohlstand und bei allgemeinem Ausbau des Gesamtsystems der sozialen Sicherheit die subsidiär wirkende Sozialhilfe eigentlich an Bedeutung verlieren müßte. Der Anteil der Sozialhilfeleistungen am Bruttosozialprodukt ist aber von 0,48 % im Jahre 1968 auf 0,72 % im Jahre 1974 gestiegen, und noch im Sozialbudget 1973 hatte die Bundesregierung für 1973 einen Prozentsatz von nur 0,51 % angenommen und bis 1977 mit einer Abnahme auf 0,49 % gerechnet. Auch hier mußte sich die Bundesregierung in ihren Berechnungen schon ein Jahr später wieder korrigieren.
Aber vor allem scheint mir die Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger besorgniserregend zu sein. Im Jahre 1966 waren es 1 479 000, im Jahre 1972 bereits 1 645 000. Hier wird doch offenbar, daß insbesondere kinderreiche Familien trotz teilweise überdurchschnittlichen Erwerbseinkommens des Familienernährers zusätzliche Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen mußten und daß auch Rentenbezieher nach erfülltem Arbeitsleben trotz erheblicher Beitragsleistungen nur über eine Rente verfügen, die das Sozialhilfeniveau nicht erreicht. Immerhin ist gerade bei den Rentenbeziehern eine wesentliche Entlastung dadurch erreicht worden, daß die CDU/CSU im Jahre 1972 das halbjährige Vorziehen der Rentenanpassung durchsetzen konnte.
Wir kommen auch nicht an der Feststellung vorbei, daß das soziale Sicherungssystem seit 1969, sehr stark auch bedingt durch die inflationäre Entwicklung, von Jahr zu Jahr mehr an Verzerrungen leidet. Das gegliederte System von Versicherung, Versorgung und Sozialhilfe ist dadurch empfindlich gestört worden, daß Versicherungs- und Versorgungsleistungen nicht mehr den wünschenswerten Abstand zu der an sich nachrangigen Sozialhilfe haben, sondern vielfach durch ergänzende Sozialhilfeleistungen aufgestockt werden müssen. Es macht doch die Eigenvorsorge des einzelnen Bürgers immer fragwürdiger, wenn sie nicht mehr existenztragend ist.
({15})
Längerfristig kommt man nicht an der Konsequenz vorbei, entweder bei den Versicherungs- und Versorgungsleistungen einen genügenden Abstand zur Sozialhilfe wiederherzustellen oder aber alternativ das Sozialhilfeleistungsniveau zu überprüfen. Jedenfalls ist es erforderlich, wieder eine gesunde Relation zwischen Leistungseinkommen und abgeleitetem Sozialeinkommen einerseits und Sozialhilfeleistungen andererseits wiederherzustellen. Wir wachsen sonst mehr und mehr zwar nicht in einen Versorgungsstaat, aber, wie ich fürchte, in einen
nicht nur nivellierenden, sondern leistungshemmenden Fürsorgestaat.
({16})
Lassen Sie mich, Herr Minister, ein Wort auch zu dem sagen, was Sie zur Neuordnung der Kindergeldgesetzgebung im Zusammenhang mit der Steuerreform gesagt haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön!
Herr Kollege Götz, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Sozialhilfeleistungen nach Meinung der CDU-Fraktion nun abzubauen sind?
({0})
Davon habe ich überhaupt nicht geredet. Es sind zwei Dinge erforderlich: zuhören und nachdenken.
Herr Minister, Sie mögen es mir nicht übelnehmen, aber ich muß ja hier eigentlich mehr Frau Minister Focke ansprechen: Es läßt sich durch keine noch so gut aufgemachte Propagandaschrift - die Schriften waren wirklich gut, das muß man Ihnen zugeben ({0})
die Tatsache aus der Welt schaffen, daß gerade das Sozialeinkommen der Familie, gemessen an der allgemeinen Einkommensentwicklung, unvertretbar abgesunken ist. Daran geht kein Weg vorbei. Leistungen und Vergünstigungen für Kinder im Rahmen des Sozialbudgets - dafür Zahlen als Beweis - erreichten im Jahre 1968 2,60 % des Bruttosozialprodukts, 1974 2,09 %. Für 1979 sind laut Übersicht 2 2,17 % eingeplant. Auch für das Jahr 1978 ist, wie aus Ihrer Ubersicht 38 hervorgeht, immer noch von unveränderten Kindergeldsätzen ausgegangen worden. Die innerhalb von vier Jahren doch unerläßlich notwendige Anpassung der neuen Kindergeldsätze an die wirtschaftliche Entwicklung ist finanziell also in Ihrem Sozialbudget für die nächsten Jahre gar nicht einkalkuliert. Oder will sich etwa die Bundesregierung in dieser Debatte in aller Offenheit darauf festlegen, daß sie eine Anpassung des neu eingeführten Kindergeldes an die wirtschaftliche Entwicklung bis 1978 nicht beabsichtigt, obwohl sie doch im Rahmen der Beratungen übber das neue Kindergeldsystem im Finanzausschuß die Zusage gegeben hat, sie wolle alle zwei Jahre die Kindergeldsätze überprüfen und sie erforderlichenfalls an die wirtschaftliche Entwicklung anpassen? Was gilt denn nun hier eigentlich, die gegebenen Versprechen oder die Zahlen des Sozialbudgets, als Orientierungshilfe für die nächsten Jahre?
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die CDU/CSU bleibt die Sicherstellung eines angemessenen Familienlastenausgleichs auf jeden Fall eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Anliegen, zumal wir feststellen müssen, daß die ab 1. Januar dieses Jahres für die meisten Familien mit Kindern eingetretenen Verbesserungen für viele durchschnittlich verdienende Familien, in einer beachtlichen Zahl selbst für überdurchschnittlich verdienende Familien, noch nicht einmal ausreichen, um das Gesamteinkommen der Familie über die Sozialhilfeschwelle hinwegzubringen.
({2})
- Das verkaufen sie immer noch als Reform; das verdient nicht die Bezeichnung Reform. Die Neuordnung bringt lediglich, meine Damen und Herren, eine Umschichtung und eine relativ bescheidene Aufstockung des gesamten Leistungsvolumens gegenüber dem Leistungsaufwand von 1974, gleicht aber nur einen Bruchteil der realen Verluste aus, die die Familie seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch die SPD/FDP-Koalition im Jahre 1969 erlitten hat.
({3})
Nun lassen Sie mich einmal in aller Offenheit und in allem Freimut und, ich bitte, ohne Mißverständnisse ein Wort zur Renten- und Krankenversicherung sagen. Auffallend stark steigen - Sie haben darauf hingewiesen, Herr Minister - die Anteile der Ausgaben für die Rentenversicherung und für die Krankenversicherung, in der Rentenversicherung von 48,7 % im Jahre 1972 auf 55,1 % im Jahre 1978, in der Krankenversicherung von 16,5 % im Jahre 1972 auf 19,3 % im Jahre 1978. Aber in der Krankenversicherung zeichnet sich doch schon jetzt ab, daß im Jahre 1978 die Ausgaben der Krankenversicherung wesentlich höher sein werden als 82,815 Milliarden DM, wie Sie in Ihrem Sozialbudget angegeben haben.
Die Regierung unterstellt bei ihrer Berechnung, daß der Beitragssatz in der Krankenversicherung - siehe Übersicht 32 - nur auf etwa 11 % bis 11,5 % durchschnittlich steigen wird. Dabei hat allerdings das Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz noch keine Berücksichtigung gefunden. Das umfassendere und das Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz berücksichtigende Krankenversicherungsbudget des Landes Rheinland-Pfalz aber kommt bereits zu einem durchschnittlichen Beitragssatz von 13,1 % für 1978 und zu einem Ausgabevolumen, das sich der 100-Milliarden-Grenze nähert. Spitzenorganisationen der gesetzlichen Krankenversicherung rechnen bei Beibehaltung des derzeitigen Kostentrends und der Realisierung des Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetzes in der Fassung der Regierunsvorlage mit einem Beitragssatz von über 14 % im Jahre 1978. Ich meine, schon an diesen wenigen Zahlen, Herr Minister, zeigt sich, daß das Sozialbudget nicht die tatsächlichen Risiken ausweist und infolgedessen auch nicht eine brauchbare Basis für künftige sozialpolitische Entscheidungen sein kann.
Nun ein kurzes Wort zum Achtzehnten Rentenanpassungsgesetz. Selbstverständlich stimmt die Opposition dem Achtzehnten Rentenanpassungsgesetz zu, wie wir das auch bei den 17 vorangegangenen Rentenanpassungsgesetzen getan haben, von denen 12 von CDU-Regierungen und CDU-Arbeitsministern vorgelegt wurden.
({4})
Sie haben auch heute wieder mit Stolz auf die Vervierfachung der Renten seit der Rentenreform hingewiesen und den Eindruck zu erwecken versucht, als sei dies das Ergebnis Ihrer Politik. Sie verschweigen dabei, daß die Rentensteigerungen seit 1957 doch letztlich, Herr Minister, die Konsequenz aus der von der CDU/CSU initiierten Rentenreform von 1957 sind.
({5})
Mit gleichem Stolz haben Sie auch heute wieder auf die Steigerung der Renten seit 1969 um 83 % verwiesen. Aber die Bilanz trügt, denn die Regierung weist ja nur die nominelle Steigerung aus, nicht jedoch die reale nach Abzug der Inflationsrate.
({6})
- Ja, aber der größte Teil der Steigerung entfällt auf den Teuerungsausgleich und nur ein geringerer Teil auf die wirkliche Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum.
({7})
Die wesentlich geringeren Anpassungsgesetze der 60er Jahre, meine Damen und Herren von der Koalition, brachten - dem wird nicht zu widersprechen sein - den Rentnern real an Kaufkraftzuwachs mehr als die heutigen zweistelligen Rentenanpassungen.
({8})
Im übrigen - auch darüber kann es keinen Streit geben -: Was die Rentner in den letzten Jahren, Herr Minister, wirklich real gewonnen haben, verdanken sie doch im wesentlichen der von der CDU/ CSU durchgesetzten Vorziehung der Rentenanpassung.
({9})
Die hohen Rentenanpassungssätze in den letzten Jahren, Herr Minister, sind ja doch auch nicht das Verdienst der Bundesregierung; das wissen doch die Eingeweihten. Sie sind letztlich nur der automatische Reflex der vorangegangenen Lohnbewegung. Das Parlament - das sollten wir uns eigentlich alle einmal klarmachen - ist zwar
({10})
- es sind immer die gleichen Vokabeln, Herr Wehner; aber sie werden dadurch nicht besser ({11})
in seiner Entscheidung über die Rentenanpassungsgesetze formell frei, aber de facto, Herr Professor Schellenberg, entsprechend der Rentenformel in bezug auf die Höhe der Anpassungssätze an die vorangegangene Entwicklung der Löhne und Gehälter gebunden.
({12})
Eine Aussetzung der Rentenanpassung oder eine Verringerung der Rentenanpassungssätze ist in der Vergangenheit vom Gesetzgeber nie erwogen worden. Das sollte vom Gesetzgeber - und der sind wir ({13})
auch künftig nicht zur Debatte gestellt werden, weil ich meine, daß man nicht gerade die Rentner, die Witwen und die Kriegsgeschädigten die Folgen der Geldentwertung tragen lassen sollte.
An dieser Stelle auch ein kritisches Wort zu den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs Eicher vor dem Bundesrat, der gesagt hat, daß es den Rentnern doch überwiegend gut gehe. Meine Damen und Herren, wir bekommen alle täglich Rentnerpost ins Haus. Und wer die Rentnerpost aufmerksam liest, weiß nur zu gut, daß die Rente nur bei einem langen Versicherungszeitraum und relativ hohen Verdienst ein auskömmliches Einkommen garantiert. In außerordentlich vielen Fällen, wo die Lebensläufe auf Grund der Kriege anormal verlaufen sind, ist die Rente oft nicht ausreichend.
({14})
Das gilt insbesondere für die vertriebenen ehemals Selbständigen, die erst nach dem Kriegsende versicherungspflichtig wurden und die wegen der Anrechnungsbestimmungen keine oder keine ausreichende Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz erhalten und denen die Regierungskoalition entgegen einer Initiative der CDU/CSU eine angemessene Nachversicherung versagt hat.
Nun auch ein offenes Wort zur Finanzlage der Rentenversicherung. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sollte wirklich einmal sehr gründlich prüfen, ob die Finanzierung der Rentenversicherung auf Dauer bei einem Beitragssatz von 18 % auch tatsächlich gesichert ist, wie Sie, Herr Bundesarbeitsminister, auch heute wieder betont haben. Ich meine, nirgendwo ist ein Zweckoptimismus weniger am Platze als gerade hier, wo es um die Sicherung der Altersversorgung in den nächsten Jahren und auch für künftige Generationen geht. Diese vor Jahren festgelegte Obergrenze sollte nicht ohne Not überschritten werden. Es muß aber auch alles getan werden, um einen solchen Not- oder Zwangszustand von vornherein zu vermeiden.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß unser Rentensystem in zunehmendem Maße immer mehr mit dem doppelten Druck von Inflation und Beschäftigungsrückgang konfrontiert wird. Der Sozialbeirat hat dem Rentenanpassungssatz von 11,1 %
zwar zugestimmt; aber wie aus seinem Gutachten klar hervorgeht, hat er doch auch erhebliche Bedenken hinsichtlich der künftigen Finanzierung geäußert. Dabei hat er bei der Abfassung des Gutachtens noch nicht einmal die jüngste Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere nicht den Regierungsentwurf zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung berücksichtigen können.
Der Sozialbeirat fühlte sich sogar veranlaßt, die volle Anpassung der Renten entsprechend den Lohnsteigerungen der Jahre 1971 bis 1973 ausdrücklich zu begründen, offensichtlich unter dem Eindruck, daß bei etwas pessimistischerer - um nicht zu sagen: realistischerer - Betrachtung der Rentenfinanzen entweder Rentenkürzungen oder andere Maßnahmen hätten erwogen werden müssen. Ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin zitieren. Es heißt im Gutachten:
Würde eine nennenswert geringere Anpassung vorgenommen, als dies dem Anstieg der Bemessungsgrundlage entspricht, so würde dies bedeuten, daß das durch die Preisniveau- und Lohnniveauentwicklung der letzten Jahre mittelfristig ohnehin etwas zurückgebliebene Rentenniveau weiter absinken würde. Dies aber würde nicht nur der Grundidee der Rentendynamik widersprechen; gerade in Zeiten, in denen das Preisniveau bereits über eine längere Zeitspanne hinweg erheblich steigt, wäre eine solche Maßnahme sozialpolitisch nicht vertretbar.
Das bedeutet doch im Klartext, daß der Sozialbeirat Rentenkürzungen bei einer sich verschlechternden Finanzlage der Rentenversicherung für einen nicht gangbaren Weg hält. Diesen Aussagen stimmt die CDU/CSU voll zu. Dies gilt in gleichem Maße für die Aussage, daß eben dann gegebenenfalls andere Maßnahmen zur Überwindung einer angespannten Finanzsituation der Rentenversicherung ergriffen werden müssen.
Meine Damen und Herren, die stärker als in dem bisherigen Gutachten des Sozialbeirats zum Ausdruck gekommene Skepsis der Mitglieder des Sozialbeirates hinsichtlich der finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung im 15-Jahres-Vorausschätzungszeitraum wird auch in anderen Passagen des Gutachtens besonders betont. Es wird darauf hingewiesen, daß es sich nur um eine Modellrechnung handeln kann. Es wird darauf hingewiesen, daß das Gesetz zur Neuregelung der Finanzen der Rentnerkrankenversicherung nicht berücksichtigt wurde. Es wird nicht zuletzt auch auf die nach Ansicht vieler Beiratsmitglieder zu optimistische Annahme über den Anstieg der Durchschnittsentgelte im ersten Jahrfünft des Vorausschätzungszeitraumes hingewiesen. Wer das Beitragsgutachten aufmerksam liest und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, merkt ohne Mühe, daß den Mitgliedern des Sozialbeirats nicht ganz wohl in ihrer Haut war, als sie die Vorausberechnungen geprüft haben.
Ich möchte hier nicht die Frage der Sinnhaftigkeit der 15jährigen Vorausschätzungen erörtern und auch nicht von eventuellen Manipulationen der
Annahmen für die Vorausschätzung sprechen. Das ist im Bundesrat und in anderen Publikationen geschehen. Wichtig erscheint mir jedoch, daß man die Aussagefähigkeit der Vorausschätzungen in Zukunft etwas kritischer betrachtet und insbesondere auch einmal von wissenschaftlicher Seite hinsichtlich des politischen Handelns stärker unter die Lupe nimmt.
Es handelt sich um Modellrechnungen. Ich glaube, wir alle haben den Rechnungen in der Vergangenheit mehr Bedeutung beigemessen, als es vielleicht ratsam war. Die Unsicherheitsspielräume sind - das ist wiederholt dargelegt worden - außerordentlich groß und bewegen sich in zig Milliarden Höhe. Insofern scheinen mir die Überlegungen, die sowohl in der Opposition als auch im Sozialbeirat hinsichtlich einer Änderung der Vorausberechnungen und einer eventuellen Verselbständigung des Sozialbeirates angestellt werden, außerordentlich wichtig. Es sollte jedenfalls alles getan werden, um die Vorausberechnungen aussagefähiger zu machen und vor allem aktueller zu gestalten.
In diesem Zusammenhang darf ich auch darauf hinweisen, daß die nunmehr uns vorliegende Vorausberechnung ja schon bei ihrem Erscheinen in wesentlichen Teilen bereits überholt war. Zum Beispiel - um nur einen Punkt zu nennen - wird die Ausgleichszahlung der Angestelltenversicherung an die Arbeiterrentenversicherung für 1975 im Rentenanpassungsbericht mit 3,475 Milliarden DM beziffert, Herr Minister. Und bevor der Bericht dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, wurde von Ihrem Hause, Herr Minister, der Haushaltsplan der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte genehmigt, der eine Ausgleichszahlung nicht - wie im Sozialbudget - von 3,4 Milliarden DM, sondern für 1975 von 6 Milliarden DM vorsieht. Man müßte eigentlich erwarten, daß eine solche wichtige Änderung von Ihnen doch zumindest bei der Vorlage der Begründung des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes dargelegt würde.
({15})
Dies ist leider nicht geschehen. Inzwischen ist hinsichtlich der Ausgleichszahlung der Betrag, der von der Angestelltenversicherung an die Arbeiterrentenversicherung gezahlt werden muß, sogar auf 7,2 Milliarden DM festgesetzt worden. Allein dieser Punkt zeigt doch, daß wir von der Regierung überholte Zahlen vorgelegt bekommen haben.
Ein weiterer, in den Vorausschätzungen nicht berücksichtigter Posten ist nun einmal das aktuelle Problem einer Neuordnung der Rentnerkrankenversicherung. Dazu - und damit komme ich langsam zum Schluß noch ein paar Worte; man kann nämlich nicht über das Sozialbudget diskutieren, ohne auch ein Wort zur Neuordnung der Rentnerkrankenversicherung zu sagen, weil dies natürlich eng mit der Entwicklung der Rentenfinanzen verknüpft ist.
Eine Berücksichtigung der Kosten des Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetzes würde im Jahre 1988 den ohnehin geringen Überschuß der Rentenversicherung in Höhe von rund 3,6 Milliarden DM in ein Defizit von 2,1 Milliarden DM verwandeln. Bei dieser Belastungsrechnung sind nur der zusätzliche Beitrag der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 2,5 Milliarden DM im Jahre und ein Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner von 11 % der Rentenausgaben berücksichtigt. Das heißt mit anderen Worten, durch die Berücksichtigung eines Gesetzentwurfs allein würde in der Rentenversicherung eine Anhebung des Beitragssatzes über 18 % hinaus erforderlich. Die eventuell anfallenden zusätzlichen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung in den Jahren 1976 und 1977 werden das Defizit um weitere 14,4 Milliarden DM ansteigen lassen, und darin ist, wie wir alle wissen, nicht einmal eine zufriedenstellende Verteilung der Krankheitskosten der Rentner zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten.
({16})
Bei nüchterner Betrachtung kann man hinsichtlich des Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetzes feststellen, Herr Minister, daß durch den Gesetzentwurf die ursprünglich auch von Ihrem Hause beabsichtigte Neuverteilung der Krankheitskosten der Rentner genau in der umgekehrten Richtung, als Sie es ursprünglich beabsichtigt hatten, erfolgen soll. Die ursprüngliche Absicht war, die explosionsartig steigenden Kosten der Krankenversicherung der Rentner wieder in einem höheren Maße auf die Rentenversicherung zu übertragen. Aber die Verschlechterung der Rentenfinanzen führt nun dazu, daß statt einer Verlagerung von der Krankenversicherung auf die Rentenversicherung eine Verlagerung der Kosten von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung erfolgt.
Und es dürfte doch kein Zweifel daran bestehen, daß die Krankenversicherung der Rentner eigentlich zu den originären Aufgaben der Rentenversicherung zählt. Zur Altersversorgung gehört ein Krankenversicherungsschutz. Dieses Prinzip hat ja auch im Finanzänderungsgesetz 1967, als die Verteilung der Kosten der Krankenversicherung der Rentner auf die Rentenversicherung und auf die Krankenversicherung im Verhältnis 80 : 20 vorgenommen wurde, eine wesentliche Rolle gespielt. Es wäre eigentlich nur sinnvoll, das Verhältnis in der Verteilung der Krankheitskosten der Rentner wieder auf 80 : 20 zurückzuführen.
Eine solche Rückkehr zur alten Relation - oder
eventuell zu einer Relation in der Finanzierung von 70 : 30 - würde eine Beitragssatzerhöhung in der gesetzlichen Rentenversicherung vermutlich unumgänglich machen. Eine solche Beitragssatzerhöhung wird von der Regierung - ich glaube, weniger, Herr Minister, aus sachlichen denn aus politischtaktischen Gründen ({17})
nicht in Erwägung gezogen. Das Argument, der Gesetzgeber überlasse der Selbstverwaltung der Krankenversicherung die notwendige Beitragssatzerhöhung, um nicht selbst in der Bevölkerung wegen
Beitragssatzerhöhungen in der gesetzlichen Rentenversicherung belastet zu werden,
({18}) ist nicht von der Hand zu weisen.
({19})
Aber aus der Sicht des Bürgers kann es nicht gleichgültig sein, ob der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung oder in der gesetzlichen Krankenversicherung steigt. Wegen der höheren Bemessungsgrenzen bringt ein Beitragsprozent in der Rentenversicherung jedenfalls mehr als in der Krankenversicherung. Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung treffen Klein- und Mittelverdiener weniger hart als Erhöhungen in der Krankenversicherung. Und für den Bürger ist doch letztlich nur die Gesamtbelastung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern maßgebend, und auch wir als Politiker sollten uns an der Gesamtbelastung orientieren und nicht durch finanzielle Verschiebungen von einem Versicherungszweig zum anderen das historisch gewachsene gegliederte System unserer sozialen Sicherung zerstören.
Die Mehrlasten der Krankenversicherung der Rentner von den Krankenkassen in Zukunft auf Dauer verstärkt tragen zu lassen, obwohl man genau weiß, daß die Finanzierung der Krankenversicherung der Rentner keine Aufgabe der Krankenversicherung ist, sondern eine originäre Aufgabe der Rentenversicherung, halte ich für unseriös. Herr Minister, wer an dem Beitragssatz in der Rentenversicherung festhalten will, muß dann aber auch den Mut aufbringen, geeignete Maßnahmen zur Dämpfung der Kostenexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beschließen.
({20})
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. - Unser System der sozialen Sicherung steht - vor dem Hintergrund der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Situation - vor einer besonderen Bewährungsprobe. Das Sozialbudget 1974 setzt meines Erachtens ein Signal, das Regierung und Parlament veranlassen sollte, die Weichen für die künftige Sozial- und Gesellschaftspolitik so zu stellen, daß vorrangig das bisher in der Sozial- und Gesellschaftspolitik Erreichte möglichst ohne Abstriche erhalten bleiben kann. Die Zukunft wird uns zu einem sorgfältigeren Umgang mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten zwingen. Dies erfordert aber meines Erachtens auch eine vernünftige Prioritätensetzung, orientiert an den wirklichen sozialpolitischen Notwendigkeiten, und ein Abrücken von einer kurzfristig-wahlpolitischen Gefälligkeitspolitik.
Die schwierigen Probleme, mit denen wir uns heute beschäftigen müssen und die sich aus dem Sozialbudget ergeben, sind zum großen Teil die Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik dieser Regierung
({21})
sowie im Bereich der Gesellschaftspolitik einer verfehlten Prioritätensetzung. Es ist in erster Linie
Aufgabe der Bundesregierung, die zur Konsolidierung unseres Systems der sozialen Sicherheit notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die Opposition ist bereit, an der Bewältigung dieser gewiß nicht leichten Aufgabe mitzuarbeiten.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt die Vorlage des Sozialbudgets 1974 und des Entwurfs der Bundesregierung zum Achtzehnten Rentenanpassungsgesetz. Am 1. Juli 1975 werden die 11,2 Millionen Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit einem Finanzaufwand von nahezu 9 Milliarden DM um 11,1 v. H. erhöht. Am 1. Januar 1976 werden die Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung um 11,8 v. H. angehoben. Ebenfalls zum 1. Januar 1976 werden die Altersgelder in der Altershilfe für Landwirte um 11,1 v. H. erhöht. Und nun sollten wir uns von Herrn Dr. Götz wirklich nicht einreden lassen, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit der Welt, auch bei dieser wirtschaftlichen Entwicklung, in der wir uns befinden; denn wir haben ja eine Rezession in den Jahren 1966/67 unter anderen Voraussetzungen erlebt, und wir sollten uns daran erinnern, daß von seiten der damaligen CDU/CSU Vorschläge zur Halbierung der Rentenanpassung erfolgt sind und daß der Vorschlag gemacht worden ist, die Rentendynamisierung nicht mehr an die Bruttolöhne, sondern an die Nettolöhne zu koppeln.
({0})
Ich finde, das sollte man in einem solchen Zusammenhang nicht vergessen, und man sollte nicht so
tun, als wäre das alles eine Selbstverständlichkeit.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion beabsichtigt, meine Damen und Herren, im Achtzehnten Rentenanpassungsgesetz eine weitere sozialpolitische Leistungsverbesserung einzuführen, nämlich ein Waisengeld in der Altershilfe für Landwirte. Herr Kollege Müller ({2}), das wird Sie freuen, ich sehe das Ihrem Gesicht an. Hier gibt es eine Versorgung von Waisen bislang nicht. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion zusammen mit ihrem Koalitionspartner einen entsprechenden Antrag einbringen. Dieser Antrag soll in das Achtzehnte Rentenanpassungsgesetz Eingang finden, da das Gesetz über die Altershilfe für Landwirte im Zuge dieses Anpassungsgesetzes ohnehin geändert wird. Die erforderlichen Mittel sind bereits im Entwurf eines Haushaltsplans für 1975 und im Finanzplan eingestellt.
Meine Damen und Herren, wie in den vergangenen Jahren werden auch diesmal die Rentner durch das Achtzehnte Rentenanpassungsgesetz einen beträchtlichen Realeinkommens.zuwachs erhalten. Die den Sozialrentnern zur Verfügung stehende reale Kaufkraft, von der ja vorhin hier auch die Rede war, wird sich 1975 um 5 bis 6 v. H. erhöhen und
damit eindeutig auch über der der Arbeitnehmer liegen. Ich finde, auch das ist durchaus bemerkenswert; das ist also erheblich mehr als die für 1975 zu erwartende Steigerung des realen Volkseinkommens. Somit wird sich auch 1975 der Anteil der Rentnerhaushalte am Volkseinkommen vergrößern.
Die SPD-Bundestagsfraktion betrachtet das als einen sehr befriedigenden verteilungspolitischen Erfolg. Das Rentenniveau - darauf möchte ich gleich eingehen - wird gemessen an den Einkommen der aktiven Arbeitnehmer - das ist schließlich der einzig sinnvolle Vergleichsmaßstab -, am 1. 7. 1975 mit 62,9 v. H. höher sein als zu irgendeiner Zeit einer CDU/CSU-Bundesregierung. Ich finde, auch das sollten Sie noch einmal überprüfen, Herr Dr. Götz, um dann die Ausführungen, die Sie hier gemacht haben, einer Korrektur zu unterziehen.
({3})
- Aber das ist der einzige Vergleichsmaßstab, der überhaupt sinnvoll ist. Das wissen Sie ganz genau.
Am 1. Juli dieses Jahres, werden die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung um cirka 78 v. H. höher sein als im Jahre 1969.
({4})
- Das werde ich Ihnen gleich sagen, damit wir auch diesem Gerücht, das vornehmlich Sie mit verbreiten helfen, Herr Kollege Maucher, gemeinsam begegnen können.
Das bedeutet eine reale Zunahme um knapp 40 v. H. in einem Zeitraum von sechs Jahren und eine durchschnittliche Kaufkraftsteigerung von rund 5V2 v. H. Diese Zahlen beweisen eindeutig, Herr Kollege Maucher, daß die immer wieder auch von Ihnen aufgestellte Behauptung, die Rentensteigerungen würden von der Preisentwicklung mehr als aufgezehrt, nicht den Tatsachen entspricht. Ich meine, das ist ebenfalls nachprüfbar.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Franke?
Herr Kollege Glombig, wenn Ihre Zahlen stimmen, können Sie mir dann die Frage beantworten, wieso ein Rentner heute nicht in der Lage ist, von seinem durchschnittlichen Renteneinkommen einen Altersheimpflegeplatz zu bezahlen?
Auf diese Frage habe ich natürlich gewartet. Herr Kollege Franke, Sie werden es diesmal an dieser Stelle bestimmt nicht fertigbringen, mich daran zu hindern, die Konzeption, die ich mir für heute vorgenommen habe, vorzutragen. Das war ja beim letztenmal Ihr Versuch. Ich werde darauf noch eingehen. Darauf können Sie sich verlassen.
({0})
Stellen Sie Ihre Frage solange zurück. Ich komme noch darauf.
({1})
- Herr Kollege Maucher, nun lassen Sie doch mal! Ihre Fragen sind mitunter schwer verständlich, nicht nur akustisch.
({2})
Wir wollen doch sehen, daß wir hier zügig vorankommen.
Meine Damen und Herren, es ist, so meine ich, absurd, wenn die Opposition den Anschein zu erwecken versucht, als müßten immer mehr Rentner ihre Renten durch die Sozialhilfe aufstocken lassen. Eine solche Behauptung hält einer Überprüfung nicht stand. Trotzdem haben weder der Kollege Katzer noch der rheinland-pfälzische Sozialminister Dr. Geissler - ich schaue schon zur Bundesratsbank -, noch haben Sie, Herr Kollege Franke, davor zurückgeschreckt - Sie schrecken auch heute nicht davor zurück , diese Behauptung in demagogischer Absicht in der Öffentlichkeit zu verbreiten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mancher?
Nein, jetzt nicht.
({0})
Es kommen ja doch immer dieselben Fragen, und Sie hören dann immer die gleichen Antworten. Ich möchte jetzt ein Stück weiterkommen.
({1})
- Wenn dieselben Fragen gestellt werden, werden Sie von mir auch dieselben Antworten bekommen. Jetzt weiter zur Sache, Herr Kollege Franke.
({2})
- Ich komme ja darauf.
Zur Begründung dieser Behauptung werden stets bestimmte zahlenmäßige Beziehungen zwischen den Sozialhilferegelsätzen und der Rente eines Durchschnittverdieners nach 40 Versicherungsjahren herangezogen. Jeder Sozialpolitiker sollte wissen, daß es sich hierbei um rein theoretische Modellgrößen handelt, die kaum gesicherte Rückschlüsse auf Höhe und Verteilung der tatsächlich gezahlten Renten sowie auf die Einkommenssituation der einzelnen Rentnerhaushalte zulassen. Das ist doch wohl unbestritten.
Aber abgesehen davon: Wenn die Sozialhilfeleistungshöhe an das Niveau der Sozialversicherungsrenten heranrückt, spricht das doch nicht gegen die Rentenversicherung, sondern für die Sozialhilfe.
({3})
- Ja.
Ich möchte Ihnen gerade dazu etwas sagen. Sie haben sich in früheren Jahren zum Teil heute noch - immer wieder aufgespielt, die Sozialhilfe sei Ihr ganz besonderes „legitimes Kind". Ich kann verstehen, daß die Opposition gern behauptet, breite Kreise der Rentner seien - wie die Opposition zu sagen pflegt - auf „Sozialhilfeniveau" abgesunken. Es ist in der Tat so, daß Herr Kollege Dr. Götz heute davon gesprochen hat, man müßte das Sozialhilfeniveau überprüfen. Da war doch die Frage des Kollegen Urbaniak völlig berechtigt: Wollen Sie denn die Sozialhilfeleistungen abbauen? - Das ist von Ihrer Seite entrüstet zurückgewiesen worden. Nichts anderes konnte doch diese Feststellung bedeuten. Sie können das im Protokoll nachlesen. Das ist ein sehr interessanter Passus.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Maucher?
Nein.
({0})
Ich weiß ja genau: Wenn ich mich mit Herrn Maucher auf dieses Spiel einlasse, ist die Zeit herum, und ich habe nicht das gesagt, was ich hier zu sagen habe.
({1})
Ich möchte hier ganz gern, ebenso wie der Kollege Götz die Möglichkeit hatte, die Vorstellungen der SPD-Fraktion darlegen.
({2})
Herr Kollege, es steht dem Redner frei, zu antworten oder nicht zu antworten.
({0})
Ich habe gesagt, daß ich verstehen kann, daß die Opposition gern behauptet, breite Kreise der Rentner seien, wie sie so zu sagen pflegt, auf „Sozialhilfeniveau" abgesunken, auf das Niveau einer Sozialleistung, für deren gesetzliche Grundlage
- ich wiederhole es noch einmal - bekanntlich die CDU/CSU sonst immer gern verantwortlich zeichnet.
Da frage ich Sie, und da frage ich mich: Was soll diese Diffamierung der Sozialhilfe?
({0})
- Herr Maucher, nun lassen Sie doch diese Bemühungen, es ist doch sinnlos. Herr Maucher, seien Sie doch froh, daß diese Sozialhilfeleistungen immer
mehr den Geruch der Armenfürsorge verlieren und gesellschaftsfähig werden. Das haben wir doch gemeinsam gewollt. Oder nicht? Ich habe fast den Eindruck, wir haben es gar nicht gemeinsam gewollt.
Warum leugnet jetzt auf einmal die Opposition die Vaterschaft des 1962 noch freudig begrüßten Kindes, Herr Kollege Dr. Götz?
({1})
- Ich meine nicht.
({2})
- Das ist sehr unangenehm für Sie; ich gebe es zu. Ich kann es Ihnen aber nicht ersparen, Ihnen diese Frage hier vorzulegen; denn die Diffamierung der Sozialhilfe stelle ich „am laufenden Band" fest.
Die Oppositionspolitiker sollten sich, bevor sie solche Behauptungen aufstellen, an den statistischen Erhebungen orientieren, die tatsächlich geeignet sind, Aufschluß über das Ausmaß zu geben, in dem Rentner Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen.
({3})
Diese Zahlen sprechen allerdings eine ganz andere Sprache.
({4}) : Aber gegen die Regierung und gegen die Koalition!)
Der neuesten Sozialhilfestatistik, veröffentlicht im Juli 1974 - eine neuere Sozialhilfestatistik gibt es nicht, auch nicht in den Ländern, auch nicht in den CDU-regierten Ländern -, ist zu entnehmen, daß im Juni 1972 höchstens 250 000 Rentner der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung sowie Empfänger von Altersgeld aus der Altershilfe für Landwirte gleichzeitig laufende Hilfe zum Lebensunterhalt aus der Sozialhilfe empfangen haben. Zum gleichen Zeitpunkt wurden rund 12,1 Millionen Rentner aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung und landwirtschaftliche Altersgelder gezahlt, davon ca. 3,7 Millionen Renten an Witwen. Bei vorsichtiger Kalkulation des Ausmaßes der Rentenkumulation kann man die Zahl der Rentner auf ca. 10,5 Millionen schätzen. Von diesen haben 250 000 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt aus der Sozialhilfe bezogen. Das sind noch nicht einmal 2,4 v. H. Das sind die Tatsachen.
({5})
- Ja, schlimm genug ist das; ich gebe das zu. Aber dann sollten wir auch die Gründe untersuchen, die dazu geführt haben.
({6})
- Ja, auch darauf werde ich Ihnen gleich antworten; auch das halte ich für ein Märchen.
({7})
- Herr Maucher, ich würde meine Bemühungen einstellen,
({8})
wenn ich an Ihrer Stelle wäre.
Fast genau der gleiche Prozentsatz hat sich im Mikrozensus 1969 und in Untersuchungen ergeben, die auf lokaler Ebene angestellt worden sind, so z. B. 1967 in Köln und 1953 in Kiel. Festzuhalten bleibt: der Anteil der Rentner, die zusätzlich Sozialhilfe in Anspruch nehmen, ist äußerst gering und langfristig stabil.
({9})
Diese Statistik widerlegt übrigens auch ein anderes Gerücht, Herr Kollege Franke; damit glaube ich auf Ihre Frage von vorhin direkt zurückkommen zu können. Entgegen einer weitverbreiteten Vermutung ist der seit vielen Jahren zu beobachtende Trend zur Steigerung der Kosten in den Altersheimen, mit denen wir es immer wieder zu tun haben und die auch wir sehr bedauern, nicht auf eine statistisch meßbare Zunahme des Anteils der Rentner in Altenheimen zurückzuführen, und zwar der Rentner, die zusätzlich zu ihrer Rente Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen. Diese Vermutung wird durch die uns bekannten Fakten, wie gesagt, nicht gestützt. Das sollte man bedenken, bevor man nach der Art der Kollegen Katzer, Geissler und auch Franke mit voreiligen Behauptungen durch das Land zieht.
Die Zunahme der absoluten Zahl der Rentner, die Sozialhilfe empfangen, erklärt sich aus der Veränderung des Altersaufbaus unserer Bevölkerung. Auf einem anderen Blatt allerdings steht, daß die Aufwendungen der Sozialhilfeträger für die Pflege in Altenheimen gestiegen sind. Diese Tatsache ist unbestreitbar - die Faktoren sind bekannt -, aber sie hat weniger mit einer steigenden Zahl von Fällen zu tun als mit einem Anwachsen der Kosten pro Fall, und auch früher sind es nur die wenigsten Fälle gewesen, in denen die Insassen von Altersheimen die Kosten für diese Altersheime aus eigener Kraft aufbringen konnten. Das ist so geblieben, meine Damen und Herren.
Heute diskutiert der Deutsche Bundestag - zum erstenmal übrigens, Herr Kollege Götz über das Sozialbudget. Das hat er bisher nicht getan.
({10})
Früher war das Sozialbudget ein Teil des Sozialberichts, und dann ist über den Sozialbericht diskutiert worden.
({11}) : 1973 haben wir ausführlich über Sozialhilfe diskutiert!)
Jetzt kommt in dem einen Jahr der Sozialbericht, in dem anderen Jahr das Sozialbudget, und wir diskutieren jetzt zum erstenmal in diesem Hause getrennt über das Sozialbudget. Das gibt uns Gelegenheit, sowohl auf die beachtlichen sozialpolitischen Leistungen - ich kann das nur wiederholen, auch wenn Ihnen das wiederum nicht gefällt - der sozialliberalen Koalition hinzuweisen, die sich in diesem Zahlenwerk niederschlagen, als auch auf die Probleme der Finanzierung der Sozialleistungen einzugehen.
Zuvor möchte ich aber einige kurze Bemerkungen zur Methodik des Sozialbudgets machen, weil auch das in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Götz, eine Rolle gespielt hat.
Erstens. Das Sozialbudget hat seine Hauptbedeutung in der statistischen Erfassung der Sozialleistungen und der Zuordnung zu bestimmten sozialpolitischen Leistungsfunktionen unabhängig von der institutionellen Gliederung des Sozialleistungssystems. Das Sozialbudget stellt den mannigfachen wechselseitigen Zusammenhang der einzelnen Leistungsträger dar. Ich möchte gerade deshalb den Sozialpolitikern der CDU/CSU das Studium der Tabellen des Sozialbudgets empfehlen. Es könnte ihnen nämlich helfen, so habe ich den Eindruck, in den Fragen der Finanzierung von Sozialleistungen das bei ihnen tiefverwurzelte „Kästchendenken" zu überwinden, das sie bei der Diskussion über die Rentnerkrankenversicherung auch heute hier gezeigt haben. Wer jedenfalls bislang wie offenbar der Kollege Dr. Götz und der Herr Minister Dr. Geissler in ihren Außerungen zum Regierungsentwurf eines Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetzes - noch nicht begriffen hat, daß die Kosten der Rentnerkrankenversicherung unabhängig davon entstehen, ob sie von der gesetzlichen Renten- oder Krankenversicherung getragen werden, der kann aus dem Sozialbudget, so meine ich, fruchtbare Denkanstöße gewinnen.
Zweitens. Die im Sozialbudget enthaltenen Vorausberechnungen sind keine Prognosen, sondern sie sind Projektionen. Das gilt auch für die Berechnungen der Rentenanpassungsberichte. Prognosen können diese Berechnungen nicht sein, und zwar deshalb nicht, weil beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft niemand in der Lage ist, für derart differenzierte Größen, wie sie ins Sozialbudget eingehen, und für derart lange Zeiträume, wie sie im Rentenanpassungsbericht erfaßt werden müssen, absolut sichere Voraussagen zu machen. Außerdem gehen in diese Vorausberechnungen Größen ein, die mittelbar oder unmittelbar Gegenstand der wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung sind und sein müssen, wenn die Bundesregierung ihre Aufgabe, die sie in diesem Zusammenhang hat, ernst nimmt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftlichen Grundannahmen, die hier weitgehend beanstandet worden sind, wie Beschäftigungsgrad und Lohnsteigerungsrate, reales Wirtschaftswachstum usw. Diese Größen können nicht einfach prognostiziert werden. Vielmehr ist es logisch und konsequent, daß die Bundesregierung hier ihre mittel- und langfristigen Zielprojektionen zum Ausgangspunkt der Berechnungen macht, die sie bei nüchterner Einschätzung aller Umstände für realisierbar hält. Daß diese Methode der Zielprojektionen die einzig sinnvolle für das Sozialbudget ist, wurde übrigens auch in den christ-demokratisch ausgerichteten „Gesellschaftspolitischen Kommentaren" zugegeben. Dort heißt es, wie Sie, Herr Dr. Götz in Nr. 10/74 nachlesen können: „Die Bundes9734
regierung könnte in der Tat unglaubwürdig werden, würde sie nicht auch bei den sozialpolitischen Vorausschätzungen von den Eckwerten der mittelfristigen Zielprojektionen und den Ansätzen der Finanzplanung ausgehen. Außerdem ist es naheliegend, in die Fünfjahresvorausschätzungen die jeweiligen sozialpolitischen Vorhaben schon aufzunehmen."
Drittens. Weil das Sozialbudget ebenso wie der Rentenanpassungsbericht keine Prognosen, sondern Zielprojektionen enthält und enthalten muß, sind alle Einwände der Opposition unsinnig, die hier der Bundesregierung vorwerfen, sie habe das Sozialbudget von einem Instrument der Orientierung, wenn ich das richtig verstanden habe, von einem Instrument der Entscheidungshilfe und Prognose zu einem normativen Programmbudget umgewandelt. Tatsache ist, daß zwar das Sozialbudget von Mal zu Mal ausgebaut wurde, daß aber die Grundkonstruktion heute noch dieselbe ist wie im ersten Sozialbudget des CDU-Arbeitsministers Katzer. Auch damals wurde ebenso wie heute - das Sozialbudget - ausgehend vom gegenwärtigen Rechtszustand, einschließlich der gesetzesreifen sozialpolitischen Vorhaben und der mittelfristigen wirtschaftspolitischen Zielprojektionen - in die Zukunft fort-gerechnet.
Viertens. Der Vorwurf der Manipulation bei der Festsetzung der wirtschaftlichen Grundannahmen im Sozialbudget und im Rentenanpassungsbericht entbehrt jeder Grundlage. Diese Grundannahmen werden unter Beteiligung u. a. auch der Deutschen Bundesbank festgesetzt. Im übrigen, Herr Kollege Dr. Götz, hat die Opposition die wiederholte Einladung des Herrn Bundesarbeitsministers zur Teilnahme an den Abstimmungsgesprächen im April vorigen Jahres abgelehnt.
({12})
Da hätten Sie eine gute Möglichkeit gehabt, sich in diese Berechnungsarbeit einzuschalten. Sie haben es nicht getan.
({13})
Fünftens. Weil in das Sozialbudget ebenso wie in die Rentenanpassungsberichte die Gesetzesvorhaben und die wirtschaftspolitischen Zielprojektionen der Bundesregierung eingehen, ist es weder zweckmäßig noch praktikabel, einem sogenannten „unabhängigen Gremium" die Aufgabe dieser Vorausberechnungen zu übertragen. Im übrigen sind die diesbezüglichen Forderungen der CDU/CSU - zumindest von einem von der CDU geführten Land besonders vorgetragen - diskreditiert worden, seitdem der Sozialbeirat, dem man diese Aufgabe zugedacht hatte, zu erkennen gegeben hat, daß er aus grundsätzlichen Überlegungen diese Vorausberechnungen nicht übernehmen möchte.
Sechstens. Da die Methodik des Sozialbudgets ständig weiterentwickelt wird, ändert sich von Mal zu Mal die statistische Definition der Sozialleistungen. Deshalb sind die Sozialbudgets verschiedener
Jahre nur bedingt vergleichbar. Darauf sind auch Sie eingegangen, Herr Kollege Dr. Götz.
Unsinnig ist deshalb auch die vom Kollegen Katzer in seiner Presseerklärung vom 29. November 1974 angewandte Methode, die Schätzung des Sozialbudgets 1973 mit den Ist-Zahlen aus dem Sozialbudget 1974 zu vergleichen. Voreilig glaubte Herr Katzer damals eine erhebliche Abweichung zwischen beiden Zahlenwerken feststellen zu können. Dabei war ihm allerdings entgangen, daß die Abweichung dadurch zu erklären ist, daß das Sozialbudget 1974 erstmals die Leistungen nach dem Dritten Vermögensbildungsgesetz, die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes und die Sozialversicherungsbeiträge aus der Lohnfortzahlung statistisch erfaßt hat.
Die SPD-Bundestagssraktion sieht in dem von der Bundesregierung vorgelegten Sozialbudget in erster Linie die zahlenmäßige Darstellung des hohen Leistungsstandes, den das System der sozialen Sicherheit durch die Anstrengungen der sozialdemokratisch geführten Regierungskoalition erreicht hat. In diesen Zahlen findet die sozialpolitische Erfolgsbilanz der sozialliberalen Koalition - wir haben es von Herrn Arbeitsminister Arendt gehört - ihren eindrucksvollen Niederschlag. Im Jahre 1969 leitete die sozialliberale Koalition eine Zeit weitreichender Reformen ein. Das können Sie bei allem Wortschwall nicht bestreiten. Das war in demselben Jahre - auch darauf sollte man in diesem Zusammenhang hinweisen -, in dem die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den sozialpolitischen Stillstand zum Programm erhob. In ihrem Schwerpunktprogramm für die 6. Legislaturperiode erklärte sie - ich darf daran erinnern -, „die Leistungen in unserem sozialen Sicherungssystem" seien so hoch, daß man „keine aufwendigen strukturellen Leistungsverbesserungen mehr anstreben" solle.
({14})
Seitdem hat sich die sozialpolitische Landschaft gründlich verändert. Die sozialpolitische Hinterlassenschaft der CDU/CSU war durch eine Reihe schwerwiegender Mängel gekennzeichnet. Das müssen wir auch bei einer solchen Gelegenheit klarstellen, meine Damen und Herren von der Opposition. Ihre Sozialpolitik war weitgehend darauf beschränkt, die Bürger gegen besondere Notlagen wie z. B. Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder Alter zu sichern. Die soziale Sicherung war auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt. Andere große Bevölkerungsgruppen waren trotz ihrer sozialen Schutzbedürftigkeit nicht dabei, vor allem die Kriegsopfer - und da ist ja seitdem einiges geleistet worden -, die Behinderten - wir haben darüber oft genug gesprochen -, die nicht erwerbstätigen Frauen - sie werden demnächst hier im Bundestag eine Rolle spielen - und die alleinstehenden Mütter. Das System der sozialen Sicherung hatte sich in der Zeit der CDU/CSU-Regierungen ohne Planung und ohne Koordinierung entwickelt, was vielfach zu Ungerechtigkeiten im sozialen Leistungsrecht führte, und es steht Ihnen wirklich nicht gut an,
({15})
bei diesem Hintergrund in dieser Weise über das Sozialbudget zu sprechen.
({16})
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Frage des Herrn Abgeordneten Maucher?
Herr Maucher, ich will jetzt zum Schluß kommen.
({0})
Mittlerweile hat die sozialliberale Koalition die Weichen für eine moderne Sozialpolitik gestellt; das ist wohl unbestritten. Sie hat eine umfangreiche Leistungsbilanz vorzuweisen - auch das ist unbestritten -, der die Union übrigens nichts Vergleichbares aus der Zeit ihrer Regierungsverantwortung entgegenzustellen hat.
({1})
- Wenn sie das hätte, dann hätten wir das sicherlich heute aus dem Munde von Herrn Dr. Götz gehört. Ich habe solches nicht vernehmen können.
({2})
Wenn aber von der sozialpolitischen Leistungsbilanz
der Koalition die Rede ist, dann sollte auch einmal
- wenn auch ganz bescheiden, weil mehr darüber nicht zu sagen ist - von der Sozialpolitik der CDU/ CSU die Rede sein. Die CDU/CSU hat es in den beiden Jahrzehnten ihrer Regierungsverantwortung nicht nur an sozialpolitischer Aktivität fehlen lassen.
({3}) - Auch das kann ich Ihnen beweisen.
({4})
- Sie können sich doch nicht nur auf die Rentenreform des Jahres 1957 berufen.
({5})
Sie haben es auch nicht an Versuchen - und das ist so interessant, weil hier so getan wurde, als seien unsere Leistungen Selbstverständlichkeiten - zur sozialen Demontage fehlen lassen. Ich wiederhole noch einmal, daß während der Rezession der Jahre 1966/67 nur durch den Widerstand der Sozialdemokraten die Pläne der CDU/CSU vereitelt werden konnten:
({6})
Einführung der Kostenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Streichung der Grundrenten für Minderbeschädigte in der Kriegsopferversorgung,
({7})
volle Besteuerung der Renten und Abkopplung der Rentendynamisierung von der Entwicklung der Bruttolöhne. Aber auch mit dem Gedanken der Halbierung der Rentenanpassung ist in dieser Zeit gespielt worden. Mit diesen Maßnahmen sollten die Staatsfinanzen auf Kosten der wirtschaftlich Schwachen saniert werden. Ich glaube, Ihnen hier die Versicherung geben zu könen, daß solche Maßnahmen - auch in der heutigen, sicherlich nicht sehr leichten Lage für diese Koalition -, für uns überhaupt nicht in Frage kommen.
({8})
Ich glaube, das ist für alle Betroffenen eine große Beruhigung.
({9})
Ich würde fast sagen, daß das mit zum politischen Geschäft gehört.
({10})
- Ich werde deswegen nicht rot, weil ich von dem, was ich hier sage, voll überzeugt bin.
({11})
- Ich weiß, das ist nicht ganz einfach für Sie, aber trotzdem muß das gesagt werden.
Am Beispiel der Weiterentwicklung der Rentenversicherung läßt sich zeigen - weil auch das wiederum eine Rolle gespielt hat -,
({12})
wie es um die sozialpolitische Haltung maßgebender Kreise der Union wirklich bestellt ist, nicht zuletzt auch derjenigen, die z. B. bei den letzten Landtagswahlkämpfen in Bayern und Hessen besonders das Sagen gehabt haben.
Die flexible Altersgrenze hatte die CDU/CSU lange Zeit heftig abgelehnt. Erst durch den Druck der öffentlichen Meinung wurde sie angesichts der Wahl von 1972 gezwungen - ich hoffe, das bestreiten Sie nicht -, auf das Trittbrett der sozialliberalen Koalition zu springen. Die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung, die von der SPD schon seit mehr als einem halben Jahrhundert gefordert worden ist, war doch 1972 nur deshalb nötig, weil die CDU/CSU die früher bereits bestehende Möglichkeit des allgemeinen freiwilligen Beitritts zur gesetzlichen Rentenversicherung 1957 abgeschafft und damit eine große Zahl von Bürgern für mehr als 15 Jahre vom Schutz der sozialen Rentenversicherung ausgeschlossen hatte. Auch das ist doch eine Tatsache, die erwähnenswert ist.
({13})
Die CDU/CSU hatte dadurch, so meine ich, einen schweren sozialpolitischen Rückschlag verursacht, dessen unsoziale Folgen noch heute in Tausenden von Einzelschicksalen schmerzlich nachwirken. Sie werden es mir sicherlich nachsehen, wenn ich sage,
daß selbst Bismarck in diesem Punkte fortschrittlicher gedacht hat.
({14})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Götz? - Bitte!
Herr Kollege Glombig, wie erklären Sie sich bei den angeblich großen Versäumnissen der CDU/CSU in der Sozial- und Gesellschaftspolitik in den Jahren von 1949 bis 1969 und bei der von Ihnen als großartig bezeichneten Leistungsbilanz der sozialliberalen Regierung von 1969 bis heute die überaus starken Stimmenverluste der SPD ausgerechnet in Arbeitnehmerwahlkreisen, insbesondere in Ihrer Stadt Hamburg?
({0})
Wenn Sie über Hamburger Verhältnisse reden wollen, Herr Kollege Dr. Götz, dann müssen Sie sich genau unterrichten. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen und davon glaube ich etwas mehr zu wissen als Sie, weil ich zu den Arbeitnehmern gerade in Hamburg einen sehr guten Kontakt habe -,
({0})
daß wir wegen der Leistungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik festzustellen gehabt hätten, daß uns die Arbeitnehmer nicht gewählt haben. Ich glaube, dieses Gebiet ist etwas differenzierter zu sehen.
({1})
- Ich bin nicht bereit, in diesem Zusammenhang hier eine Wahlanalyse anzustellen. Das sollten wir bei einer anderen Gelegenheit tun.
({2})
- Schönen Dank, Herr Kollege Maucher. Ich danke Ihnen für Ihre Wortmeldung, aber ich glaube, ich sollte jetzt doch zum Schluß kommen; denn meine Redezeit läuft ab.
Herr Kollege Dr. Götz hat mit Recht das Sozialbudget zum Anlaß genommen, um auf die Probleme der Kostenentwicklung und der Finanzierung der Sozialversicherung einzugehen. Aber es sollte in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß das Nachdenken über die finanziellen Rahmenbedingungen der Sozialpolitik bei der Opposition erst begonnen hat, als sie damit in der Bevölkerung pessimistische Stimmung machen zu können glaubte. Auch das ist eine Tatsache. Herr Kollege Götz hat doch jetzt eben gerade wieder einen solchen Versuch, interessanterweise im Zusammenhang mit dem Kindergeld, gemacht. Es ist noch gar nicht so lange her, da war die sozialpolitische Imagepflege der Opposition weniger von der Sorge um die Finanzen als von Milliarden-Anträgen in diesem Hause bestimmt. Während die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ihre Entscheidungen in nüchterner Abwägung der finanziellen Möglichkeiten getroffen haben, hat die Union völlig utopische Ausgabenwünsche präsentiert.
({3})
Man denke nur an die Auseinandersetzung um die
Verdienstgrenze hinsichtlich der flexiblen Altersgrenze und die sogenannte Rentenniveausicherung
({4})
oder den Anpassungstermin bei den Kriegsopferrenten. Das wollen Sie alles nicht mehr wahrhaben, das haben Sie alles vergessen.
({5})
Denken Sie an die Auseinandersetzungen um die Altershilfe für Landwirte, um das Kindergeld und um die Steuerreform - ganz junge Entscheidungen hier in diesem Hause!
Wenn die Sorge der Opposition um die Finanzen der Sozialversicherung als eine Hinwendung zu realistischer Sozialpolitik auf dem Boden der Tatsachen zu werten ist, so ist das aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion nur zu begrüßen. Die Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung sind gesichert.
({6})
Dies beweist der Rentenanpassungsbericht der Bundesregierung. Ich bin überzeugt, daß darauf mein Freund Olaf Sund nachher im einzelnen noch einmal eingehen wird.
Bevor ich aber hier abschließe, möchte ich etwas zu den Beitragssätzen in der gesetzlichen Krankenversicherung sagen.
Um die Kosten- und Beitragsentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich in der letzten Zeit eine Diskussion entwickelt, die nicht immer mit zutreffenden Argumenten geführt worden ist. Eine sachliche Argumentation beginnt aber erst dann, wenn zwei Vorurteile, so meine ich, ausgeräumt sind.
Die Erhöhung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht aus den allgemeinen Preissteigerungen zu erklären und hat damit überhaupt nichts zu tun.
({7})
- Ja, hören Sie das bitte einmal an! Ich sage: die Beitragssatzsteigerung; das ist etwas anderes als die Beitragserhöhung. Ich bitte, das einmal zu unterscheiden. Die Behauptung, die Beitragssatzsteigerung sei inflationsbedingt, zeigt - so meine ich jedenfalls - ene völlige Unkenntnis einfacher Zusammenhänge. Die gesamtwirtschaftlichen Preissteigerungen können nämlich nur KostensteigerunGlombig
gen für die Krankenkassen in Höhe der allgemeinen Preissteigerungsrate erklären. Eine solche Kostensteigerung im Gesundheitswesen könnte aber ohne jede Beitragssatzerhöhung - ich sage nicht Beitragserhöhung - bewältigt werden, weil die Einkommen im Durchschnitt ebenfalls mindestens mit der allgemeinen Preissteigerungsrate wachsen.
({8})
- Ich komme zum Schluß. - Daß die Beitragssätze angehoben werden müssen, liegt daran, daß die Gesundheitskosten stärker steigen als die Einkommen. Das kann nicht mit der Konjunkturentwicklung erklärt werden, sondern nur mit ganz speziellen Faktoren im Gesundheitswesen, die mit den. allgemeinen Preissteigerungsraten nichts zu tun haben. Das zeigt sich auch darin, daß seit dem Jahre 1950 ein kontinuierlicher Anstieg der Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung zu beobachten ist.
Meine Damen und Herren, ich meinte, daß ich Sie darauf in diesem Zusammenhang noch einmal besonders hinweisen sollte. Im übrigen meine ich, daß es gerade in diesem Zusammenhang viele Überlegungen geben muß, auf die wir ganz sicher im Verlauf der Debatte noch eingehen werden, wie man dieser Entwicklung begegnen kann und begegnen muß.
({9})
- Ich würde zum Beispiel nicht so weit gehen wie der Kollege Götz und sagen, der Staat hätte hier einzugreifen, wo die Selbstverwaltung ihre Aufgaben zu erfüllen hat. Das hat er nämlich schlicht behauptet.
({10})
Ich meine, die Selbstverwaltung sollte man ermuntern, z. B. auch bei den Tarifabschlüssen mit den Ärzten und Zahnärzten, ihren Spielraum auszunutzen, und ich meine, daß hier inzwischen auch eine Grenze erreicht ist, von der man sagen kann, sie sollte nicht mehr überschritten werden.
({11})
Im übrigen hoffe ich, daß wir bei der Bewältigung dieser Aufgaben künftig auf die Mitarbeit der Opposition zählen können.
({12})
Vizepräsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt ({13}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich namens der freien demokratischen Fraktion der Bundesregierung, dem Bundesarbeitsminister und den Mitarbeitern seines Hauses
({0})
herzlich - jawohl, Herr Kollege Götz - danken. Ich glaube, dieser Dank ist gerechtfertigt. Mit einigen Dingen dazu werde ich mich nachher beschäftigen.
({1})
Wir danken dafür, daß das Sozialbudget 1974 und der Rentenanpassungsbericht 1975 heute hier vorliegen und wir in der Lage sind, in erster Lesung das Achtzehnte Rentenanpassungsgesetz zu beraten.
Wir Freien Demokraten sind im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Götz, oder, besser gesagt, zur Opposition der Auffassung, daß dieses Sozialbudget und der Rentenanpassungsbericht eine hervorragende Grundlage sind, über die Zukunft unserer gesamten sozialen Sicherung wirklich auch einmal, Herr Kollege Götz, im Ausschuß ausführlich zu beraten, denn es gibt hier Probleme der Kostensteigerung und der Belastung, über die man nachdenken muß.
Bloß, Herr Kollege Götz, ich weiß nicht, soll ich Sie jetzt hier bewundern oder bedauern,
({2})
daß Sie eine unangenehme Aufgabe gemeistert haben oder zu meistern versucht haben, die Aufgabe einer Gratwanderung zwischen Ihrem mir seit vielen Jahren bekannten sozialpolitischen Engagement und der Anerkennung, der Sie innerlich bezüglich der sozialpolitischen Entwicklung gerade in den letzten Jahren immer wieder Ausdruck gegeben haben.
({3})
- Moment, Herr Kollege, ich würde immer vorsichtig sein! - Ich meine eine Gratwanderung, um es noch einmal zu sagen, zwischen Ihrem sozialpolitischen Engagement, Ihrer sozialpolitischen Verantwortung, die Sie seit Jahren getragen haben und die wir alle kennen, und Ihrer Aufgabe, hier nun als Sprecher der Opposition zu versuchen, die Leistungen der sozialliberalen Koalition in den letzten fünf Jahren und die Leistungen, die bereits mit diesem Sozialbudget bestätigt worden sind und bestätigt werden, möglichst madig zu machen.
({4})
Denn, Herr Kollege Götz, Gratwanderung ist eine schöne Sache, aber wenn man dabei ins Eiertanzen kommt, wird es auf diesem Grat etwas schwierig.
Ich muß Ihnen folgendes sagen. Als ich erfuhr, daß Sie 60 Minuten angemeldet hatten, hatte ich an sich erwartet, nun nicht nur Schlagworte zu hören, nun nicht nur von Annahmen, von Manipulation und dergleichen zu hören, sondern konkret von Ihnen und der Opposition zu hören, was Sie denn in den letzten fünf Jahren anders gemacht hätten, wie Sie es denn lieber anders gehabt hätten und wo Sie denn wirklich Kritik an den Tatsachen üben.
({5})
Schmidt ({6})
Ich verstehe nicht, Herr Kollege Götz, wie man sich hierher stellen und so unterschwellig das Wort „Gießkanne" gebrauchen kann in der Kritik an der sozialliberalen Koalition, wenn man auf der anderen Seite in einem Gesetzeskatalog, den ich jetzt nicht noch einmal verlesen will, sehen kann, wieviel Gesetzentwürfe gezielt von dieser Bundesregierung, von der sozialliberalen Koalition, verabschiedet worden sind, gezielt auf Personengruppen und nicht etwa mit der Gießkanne über das Volk. Und, Herr Kollege Götz, interessanterweise haben Sie ja all diesen Gesetzen zugestimmt; das haben Sie eingangs betont. Aber dann gehen Sie her und sagen unterschwellig „Gießkanne", sagen unterschwellig „Versorgungsstaat". Wo sind denn Gesetzesmaßnahmen aus diesem Katalog - auf einige komme ich noch -, die dem Versorgungsstaatsdenken gewisser Kreise entsprechen, die die Staatsversorgung, die Zerschlagung der gegliederten Systeme unserer sozialen Sicherheit usw. in irgendeiner Form ansprechen? Da muß ich nun sagen: das begreife ich bei Ihnen wirklich nicht, und ich begreife auch nicht, daß Sie von einer Signalwirkung sprechen, die das Sozialbudget zweifellos für unsere Beratungen haben wird, aber nicht ein einziges Wörtchen davon sagen, in welcher Richtung bei Ihnen die Signale stehen, - anscheinend doch immer noch auf dem Stopp, von dem vorhin der Kollege Glombig bezüglich des Jahres 1969 gesprochen hat.
({7})
Wohin zeigen denn die Signale bei Ihnen? Sie reden davon, die Dinge beim Namen zu nennen, die Karten auf den Tisch zu legen.
Das Sozialbudget nennt die Dinge beim Namen, nennt die Zahlen, nennt die Fakten. Von Ihnen habe ich keine Tatsachen, keinen Vorschlag, keine Alternative gehört. Was sind denn die Tatsachen, um die es heute geht? Was sind denn die Fragen, die heute hier anstehen? Diese Tatsachen sind - ich möchte das noch einmal wiederholen -: Das Sozialbugdet und der Rentenanpassungsbericht sagen klar und deutlich aus, daß die Renten, deren Erhöhung mit diesem Anpassungsgesetz vorgelegt worden ist, langfristig gesichert sind. Der Sozialbericht und der Rentenanpassungsbericht machen klar, daß der 18 %ige Beitragssatz, den wir als eine Belastungsgrenze ansehen, ausreicht, um diese Renten in den nächsten 15 Jahren zu finanzieren. Dazu gehört auch die Tatsache, daß das Rücklagensoll in der Rentenversicherung für diesen Berechnungszeitraum gesichert ist. Das sind die Tatsachen, Herr Kollege Götz.
Daraus folgt - gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, den wir in den nächsten Wochen beraten werden -, daß insgesamt 12,5 Millionen Rentner 9,5 Milliarden DM mehr an Rente werden bekommen können - können, weil sie gesichert sind. Darunter sind 11 Millionen Altersrentner, 1 Million Unfallversicherungsrentner und über 600 000 Rentner im Rahmen der gesetzlichen Altershilfe für die Landwirte.
Tatsache ist, Herr Kollege Götz, daß damit von 1969 bis 1975 die Renten um 83,3 % angestiegen sind. Herr Kollege Götz, Sie haben gesagt: Aber der
Realzuwachs war geringer. Hören Sie sich bitte einmal die Zahlen an; vielleicht hören Sie es nicht so gern: Der Lebenshaltungskostenanstieg in diesen Jahren von 1969 bis 1975 betrug 35 %; der Rentenzuwachs von 1969 bis 1975 wird 83,3 % betragen, wenn dieses Anpassungsgesetz verabschiedet sein wird. 35 % Lebenshaltungskostenanstieg, 83 % Rentenzuwachs! Und dann wagen Sie hier zu sagen, real sei es den Rentnern in diesem Jahr schlechter gegangen.
({8})
Ein .Zweites, Herr Kollege Franke, nachdem Herr Kollege Götz anscheinend andere Unterhaltungen vorzieht. Aber Sie sind sowieso der nächste Redner, wie ich gehört habe. in Zweites: Hier wurde behauptet - das wurde unterschwellig getan, wie schon in vielen Debatten -, das Rentenniveau sinke wieder einmal ab. Ich habe mir die Niveausicherungszahlen, und zwar bezogen auf das letzte Nettoeinkommen, angesehen. Wir haben uns schon oft genug darüber unterhalten, daß es für den Rentner wichtig ist, wieviel Prozent er von seinem letzten Nettoeinkommen bekommt, wie hoch dieser Anteil ist. Dieser Anteil betrug bei einem Rentner mit 40 Versicherungsjahren 1962 - damals waren, glaube ich, noch Minister der Opposition verantwortlich -52,4 %. Er belief sich 1969 auf 57,7 % und - die Zahlen dazwischen will ich auslassen, immer steigend - 1974 auf 65,5 % und wird mit diesem Rentenanpassungsgesetz trotz Erhöhung der Nettoeinkommen durch die Steuerreform 1975 auf 72,9% anwachsen. Das ist ein kontinuierliches Anwachsen der Nettovergleichszahl und damit auch wieder ein Positivum der letzten Entwicklung.
Nun, Herr Kollege Götz, haben Sie auch die Krankenversicherung und die Rentenversicherung in ihren Zukunftsentwicklungen angesprochen. Ich habe vorhin schon - und das darf ich für uns Freie Demokraten noch einmal sehr deutlich bestätigen - gesagt, daß auch wir die Grenzen der Belastbarkeit für Beitragszahler und für Steuerzahler im Bereich unserer sozialen Sicherheit sehr genau kennen und sehr genau im Auge behalten werden.
Aber die Entwicklungszahlen, die im Sozialbudget und im Rentenanpassungsbericht zweifellos Probleme aufwerfen, sind doch nicht, Herr Kollege Götz, Ergebnisse irgendwelcher Entscheidungen der letzten Monate und Jahre, sondern Ergebnisse der Entwicklungen aus einem Sozialversicherungssystem, das dieses Haus gemeinsam seit 1957 getragen hat. Dabei war uns allen klar, daß die Belastungszahlen mit der Zeit anwachsen und daß die Sozialquote am Bruttosozialprodukt langsam ansteigen würden. Heute sind wir - dafür bin ich besonders dankbar - durch die Vorlage des Sozialbudgets auch in der Lage, darüber nachzudenken, ob wir vielleicht in diesem oder jenem Punkt versuchen müssen, die Belastbarkeitsgrenze der Realität anzupassen. Das wird eine Aufgabe sein. Ich könnte mir vorstellen, daß wir dann vielleicht einmal das von Ihnen hören, was ich in den 60 Minuten an konkreten Vorschlägen gern gehört hätte.
Schmidt ({9})
Bei jeder Annahmerechnung, meine Damen und Herren - Herr Kollege Glombig hat schon darauf hingewiesen; ich will das im Hinblick auf die Zeit nicht so sehr vertiefen -, bei jeder Vorausberechnung und auch bei früheren Rentenanpassungsberichten, Herr Kollege Götz, die seitens eines CDU-Arbeitsministers vorgelegt wurden, haben wir uns immer wieder die Frage stellen müssen: Kann wirklich auf 15 Jahre im voraus eine Annahme einen großen Wahrscheinlichkeitsgrad haben, oder bleibt da immer ein größerer Unsicherheitsfaktor? Deshalb schreiben wir ja jedes Jahr fort. Aber wir können für die Vergangenheit - für die Jahre der sozialliberalen Koalition - immerhin feststellen, daß die Vorausberechnungen durch die Entwicklungen nicht überholt wurden; wir haben immer die notwendige Deckungsendsumme in der Rentenversicherung gehabt.
Größere Sorge macht auch uns Freien Demokraten - lassen Sie mich dazu auch einiges sagen - die Kostenentwicklung in der Krankenversicherung. Das ist, meine Damen und Herren, gar keine Frage. Wer das nicht sehen würde, würde, glaube ich, seiner politischen Verantwortung nicht gerecht, würde allerdings auch, wie ich es jedenfalls sehe, der Tatsache nicht gerecht, daß ein fortschrittliches Gesundheitswesen und eine fortschrittliche Gesundheitspolitik - und gerade hier ist, glaube ich, in den letzten Jahren sehr vieles im Interesse der Bürger für alle getan worden - in der heutigen Zeit auch mehr kosten werden. Gesundsein, Gesundbleiben und Wiedergesundwerden sind Faktoren, die man nicht nur unter dem Aspekt: „soundsoviel Prozent dürfen sie nur kosten" berechnen kann, sondern auch danach berechnen muß, welche Gesamtbedeutung sie für unsere Gesellschaft haben. Gewisse Entwicklungsfaktoren in den Kosten der Krankenversicherung sind zweifellos gar nicht wegzudiskutieren, und das wird, glaube ich, von jedem, der sich mit diesen Dingen wirklich befaßt, verstanden.
({10})
Es gibt andere Faktoren in diesem Bereich, über die man wird nachdenken müssen. Denn jede Vorausberechnung - ob nun die 11 bis 11,5 % Beitrag in der Krankenversicherung, die im Sozialbudget angenommen werden, ob die 13,1% des Ministers Geissler, der, wie ich gesehen habe, inzwischen eingetroffen ist, oder ob die 14,5 % des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen - schockt zunächst einmal uns alle; jede dieser Zahlen muß uns natürlich zu Überlegungen darüber bringen, wie wir - auf Grund der klaren Aussage, daß alles, was gesundheitspolitisch notwendig ist, geschieht - da und dort möglicherweise ungerechtfertigte Kostenentwicklungen in diesem Bereich etwas eindämmen können.
Ich habe mit großer Freude gerade der gestrigen Presse entnommen, daß sich hier doch eine erfreuliche Entwicklung anzeigt. Wenn in einem Artikel in der „Welt" die Überschrift „Ärzte erwägen Verzicht auf höhere Kassenhonorare" steht, so möchte ich, meine Damen und Herren, ausdrücklich Hochachtung davor haben, daß sich hier einmal eine
Gruppe, die zu den großen Gruppen gehört, die in der Krankenversicherung Kosten verursachen, aus Eigenem heraus Gedanken darüber macht, wie man den in der Krankenversicherung sich zeigenden Kostenentwicklungen gegebenenfalls entgegensteuern oder sie zumindest in einem Rahmen halten kann. Ich begrüße diese Erklärung ausdrücklich und kann nur hoffen, daß sich andere Gruppen, andere an diesem Topf „Krankenversicherung" Beteiligte mit ähnlichen Gedanken befassen, einschließlich der Überprüfung, ob alles, was im Krankenhausbereich an Kosten anläuft, wirklich anlaufen muß oder ob man da nicht auch manches nicht mehr unter dem Stichwort „gesundheitspolitisch, pflegerisch usw. notwendig" einrechnen muß.
Das sind Dinge, über die wir uns einmal unterhalten müssen. Und da hätte ich gern einmal von Herrn Dr. Götz etwas dazu gehört, wie sich denn die Opposition Gedanken macht. Denn es reicht ja nicht aus, nur herzugehen - hier darf ich nun Sie, Herr Minister Geissler, kurz ansprechen - und ein großes Zahlenentwicklungsbild mit einem riesigen Referentenstab in Mainz zu erarbeiten - ein Stab, den ja selbst der Rechnungshof von Rheinland-Pfalz vor kurzem als doppelt so groß wie an sich notwendig angesehen hat; ich habe mir sagen lassen, 25 bräuchten Sie, 56 haben Sie, so die Aussage des Rechnungshofes -, also nur ein großes Zahlenwerk zu erarbeiten - Sie werden sicher heute noch einiges dazu sagen -, in dem an die Wand gemalt wird, wie schwierig das alles in der Krankenversicherung ist, ohne gleichzeitig konkrete Vorschläge zu machen, wo man sparen kann und wie man sparen will. Soll es zu Lasten der gesundheitspolitischen Maßnahmen gehen, oder was will man tun? Hier fehlen die Antworten der Opposition leider völlig.
({11})
Ich kann nur noch einmal sagen: Ich glaube, daß es im sozialpolitischen Bereich, ich glaube, daß es in der Weiterentwicklung der Gesellschafts-, der Gesundheitspolitik bisher immer gute Übung in diesem Hause war, das Bestmögliche - ich schließe da die Opposition und deren Verantwortliche hierfür nicht aus - für die soziale, gesundheitspolitische Sicherung unserer Mitbürger zu tun. Seit einiger Zeit ist scheinbar auch in diesem Bereich Panikmache, Schwarz-Schwarz-Malen das einzige, was man konkret zu tun bereit ist, zu verunsichern - so wie man seinerzeit vor der Bundestagswahl 1972 versuchte, die Rentner zu verunsichern und die ganzen Rentendinge auf den Kopf zu stellen - zu verunsichern, damit die Zukunft der Finanzierung unserer sozialen Sicherung draußen möglichst unter großen Fragezeichen gesehen wird. Ich wende mich hier für die Freien Demokraten ganz scharf gegen diese Versuche einer sozialpolitischen Panikmache seitens der Opposition, gegen diese Versuche, die Betroffenen draußen, die Beitragszahler zu verunsichern.
({12})
- Natürlich, wenn ich also schon mit 14 Komma
soundsoviel Prozent arbeite, ohne gleichzeitig Möglichkeiten zu überlegen, wie ich vielleicht auch nur
Schmidt ({13})
auf 12 % oder 13 % kommen kann, dann ist das wenig seriös. Ich gebe zwar gesundheitspolitische Mehrkosten zu, halte es aber nicht für richtig, mit Zahlen zu manipulieren, die nicht gleichzeitig auch Alternativvorschläge enthalten, wie man das verhindern kann.
Vizepräsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke ({14}) ?
Bitte!
Herr Kollege Schmidt, können Sie mir sagen, wer von 14,1 % gesprochen hat?
({0})
Von 14,5 % war die Rede seitens der Ortskrankenkassen, von 13,1 % bei Herrn Geissler.
({0})
- Ja, bitte!
Stimmen Sie mit mir überein, daß die von Herrn Geissler genannten 13,1 % vom Bundesverband der Ortskrankenkassen inzwischen als zu niedrig angesehen worden sind?
Ich habe ja vorhin gesagt - ich kann es nur noch einmal wiederholen -: Die Ortskrankenkassen haben sogar von 14,5 % gesprochen. Ich mache den Ortskrankenkassen denselben Vorwurf: Auch sie haben keine Alternativen, wie man einsparen kann. Sie haben lediglich gesagt: Wenn wir alles so weitermachen, geht es in diese Richtung. Das ist mir ein bißchen zu wenig.
({0})
- Haben Sie Alternativvorstellungen?
({1})
- Natürlich, in der Demokratie ist eine andere Regierung eine Alternative. Ich frage mich bloß, wie die Opposition gerade in diesem Bereich, über den wir heute diskutieren und über den heute seitens des Kollegen Götz keine konkrete Aussage darüber, was anders gemacht, was besser gemacht werden soll, gekommen ist, eine Alternative sein will, zumal der Kollege Götz am Anfang seiner Rede gesagt hat: Im Grunde war das, was in den letzten Jahren an Gesetzen vorgelegt worden ist, gut; denn wir haben ja allem zugestimmt. Aber hinterher hat er dann lamentierend Kritik angemeldet.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt
- wir werden hier ja wahrscheinlich zu diesem
Thema noch einige Runden etwas zu sagen haben zum Schluß kommen und noch einmal Bilanz ziehen
- Bilanz aus dem, was an Sozialbudget, was an Anpassungsgesetz vor uns liegt. Was ist daraus zu ersehen?
Ich darf ein paar Zahlen nennen, die vielleicht auch für die Bürger unseres Landes nicht uninteressant sind und die deutlich machen, was in Wirklichkeit in den Jahren der sozialliberalen Koalition an sozialpolitischer Entwicklung eingeleitet und finanziert worden ist. Das braucht keine Kritik
- auch nicht die der Opposition - zu scheuen; sonst gäbe es Alternativen.
Im agrarsozialpolitischen Bereich, den ich hier auch einmal ansprechen möchte, weil er nämlich in die soziale Sicherung hineingehört, wurden 1969 841 Millionen DM und 1974 2,3 Milliarden DM zur sozialen Sicherung der Landwirtschaft ausgegeben.
Im Alterssicherungsbereich - das darf ich noch einmal sagen - gab es eine Steigerung der Renten um 83,3 % bei einer Steigerung der Lebenshaltungskosten um 35 %.
Im Arbeitsschutz: Betriebsärztegesetz, Heimarbeitsgesetz - Gesetze, gezielt für Personengruppen, keine Gießkanne.
Im Arbeitsförderungsbereich spreche ich nur, gerade in der heutigen Zeit, an: Konkursausfallgeld, gezielt zur Sicherung derer, die in einer schwierigeren Konjunktursituation, in der wir uns befinden, sonst auf der Strecke geblieben wären mit ihren Forderungen.
Im Krankenversicherungsbereich: zum erstenmal echte Vorsorgeleistungen, durch die Versicherungen eingeführt.
Im Kriegsopferbereich: Ansteigen der Ausgaben durch Mehrleistung, durch Rentenanhebung von 1970 bis 1976 von 7,5 Milliarden DM auf 12 Milliarden DM.
Gezielte Gesetze für die besonders Benachteiligten in unserer Gesellschaft: Schwerbehindertengesetz, Rehabilitationsangleichungsgesetz - wieder keine Gießkannengesetze.
Das war eine Vielzahl und es wäre noch vieles
mehr zu nennen -, ein ganzer Fächer von gezielten sozialpolitischen Maßnahmen gesichert finanziert, in Kraft gesetzt, zum Teil schon mitten in der Durchführung.
Wir werden jetzt die Aufgabe haben, meine Damen und Herren, lassen Sie mich das zum Schluß sagen, zunächst die Rentenanpassung möglichst so rechtzeitig zu beraten, daß die höheren Leistungen für die Altersrentner zum 1. Juli termingemäß ausgezahlt werden können.
Wir werden aber auch die Aufgabe haben - und hier rechne ich auch sehr mit den vielleicht doch einmal zu greifenden Vorschlägen der Opposition -, die weiteren Entwicklungen im Kostenbereich unserer sozialen Sicherung nach drei Maßstäben zu untersuchen. All das, was für die echte soziale Sicherung aus unserem gegliederten System heraus notwendig und richtig ist, wird seine weiSchmidt ({2})
tere Entwicklung in dynamischen Bereichen nehmen müssen. All das, was gesundheitspolitisch für unsere Gesellschaft, für unsere Mitbürger notwendig ist, wird seinen Weg nehmen müssen und wird finanziert werden müssen; darüber muß man nachdenken. Aber bei allem anderen und es gibt Randbereiche, wo man sich fragen kann, ob sich der Kostenanstieg aus gesundheitspolitischen, aus sozialpolitischen oder vielleicht aus ganz anderen Gründen ergeben hat - wird man Überlegungen anstellen müssen, um Maßstäbe zu finden, die die Belastbarkeit unserer Volkswirtschaft, die die Belastbarkeit der Steuer- und Beitragszahler in Grenzen halten, so daß uns in der gemeinsamen Verantwortung dieses Hauses dann auch die Finanzierung möglich ist.
({3})
Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage. Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt noch eine Liste von weiteren Wortmeldungen vor. Wir setzen die Diskussion zu diesem Tagesordnungspunkt daher nach Abschluß der Fragestunde fort. Die Fragestunde beginnt in etwa drei Minuten; so lange unterbreche ich die Sitzung.
({4})
Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe den Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
- Drucksache 7/3070 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich rufe die Frage 90 des Abgeordneten Dr. Mertes ({5}) auf:
Auf welche Weise findet die wiederholte Versicherung der Bundesregierung - insbesondere im Zusammenhang mit der Errichtung der Ständigen Vertretungen in Bonn und Ost-Berlin - über den Nicht-Auslands-Charakter der DDR für die Bundesrepublik Deutschland und über den spezifischen nichtvölkerrechtlichen Charakter der innerdeutschen Beziehungen im praktischen Verhalten und in amtlichen Äußerungen von Staatssekretär Gans ihren Ausdruck?
Zur Beantwortung Frau Parlamentarische Staatssekretärin Schlei!
Herr Kollege Dr. Mertes, die Bundesregierung hat in den Verhandlungen mit der DDR stets darauf geachtet, daß über ihre Auffassung, daß die Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen zur DDR aufgenommen hat, keine Mißverständnisse entstehen können. Dies findet sowohl in den getroffenen Vereinbarungen als auch in den vereinbarten Bezeichnungen der Ständigen Vertretungen und und ihrer Leiter wie auch im praktischen Verhalten der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik und in den amtlichen Äußerungen von Staatssekretär Gaus bei allen Gelegenheiten angemessenen Ausdruck.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes.
Frau Staatssekretärin, wie gedenkt die Bundesregierung der Gefahr vorzubeugen, daß ihre Bekundungen, die Sie eben wiederholt haben, nicht abgleiten in Texte rein formaler Natur ohne tatsächliche, ohne materielle politische Bedeutung?
Sie benutzt jede Gelegenheit, Herr Dr. Mertes, darauf hinzuweisen, daß wir hier einen besonderen Status haben und ihn in besonderer Art und Weise vertreten. Zum Beispiel hatte bei der Einladung zu dem Neujahrsempfang Herr Staatssekretär Gaus in der Bezeichnung der Begrüßten zu sehen, daß er in die Diplomatenreihe eingereiht war. Da hat er sofort an den Doyen geschrieben, daß er auf die Natur der Beziehungen zwischen den beiden Staaten verweist, die auf einem besonderen Status beruhen müssen, und daß er auch in dieser Weise zum Ausdruck bringen möchte, daß er nicht als ein Diplomat wie die anderen bezeichnet werden möchte.
Das ist eine kleine Geste, die zeigt, daß jede Nuance beachtet wird. Ich weiß nicht, worauf Sie sonst noch zielen; Sie sollten es in der zweiten Frage dann präzisieren.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes.
Herr Präsident, die Ermahnung der Frau Staatssekretärin verstehe ich nicht.
Meine zweite Frage: Wie findet diese prinzipielle Auffassung der Bundesrepublik Deutschland, die Staatssekretär Gaus gegenüber dem Ostberliner Doyen bei dieser Gelegenheit bekräftigt hat, etwa bei einem solchen Empfang ihren materiellen Ausdruck?
({0})
Den materiellen Ausdruck können wir nur darin sehen, daß die Liste der Einzuladenden in Ordnung ist. Er kann kein besonderes Gesicht machen, keine besondere Kleidung tragen, keine besondere Gangart einschlagen. Er kann eben nur in ganz spezieller Weise versuchen, ein besonderer Gaus zu sein.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Verzeihung, keine Zusatzfrage! Sie können sich nachher noch einmal melden.
Eine Zusatzfrage, des Abgeordneten Professor Schweitzer.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir darin zustimmen, daß es, völkerrechtlich gesehen, wenn wie im vorliegenden Fall eine ausdrückliche völkerrechtliche Anerkennung bzw. die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen ja gerade unterblieben ist, nicht darauf ankommt, immer wieder den Nichtanerkennungswillen zum Ausdruck zu bringen und unter Beweis zu stellen, sondern darauf, zu verhindern, daß auf Grund irgendwelcher Maßnahmen eine völkerrechtliche Anerkennung sozusagen durch konkludente Handlung gefolgert werden kann, daß das letztere aber in der ganzen Praxis unserer Beziehungen zur DDR nach Entsendung des Herrn Gaus gerade eben nicht zu befürchten ist, wie Sie es ja auch dargestellt haben, daß also die ständige Wiederholung der Frage: Was können wir tun, um zum Ausdruck zu bringen, daß dieser Eindruck nicht entsteht?, an und für sich gar nicht entscheidend ist?
Ich danke für Ihre Unterstützung.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Das war zwar keine Antwort, Frau Staatssekretärin; aber eine Antwort scheint auch nicht notwendig zu sein.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger ({1}).
Frau Staatssekretärin, sind Sie im Gegensatz zur Auffassung des Kollegen Professor Schweitzer nicht der Ansicht, daß es, gerade weil es nicht gelungen ist, davon herunterzukommen, Herrn Staatssekretär Gaus organisatorisch beim Außenministerium der DDR anzubinden, ganz besonders erforderlich ist, daß sein äußeres Auftreten immer wieder sichtbar macht, daß die Bundesrepublik Deutschland eben keine völkerrechtlichen Beziehungen zur DDR unterhält?
Ja, das versucht er. Aber Sie werden zugeben müssen, daß die Möglichkeiten, das offensichtlich, sichtbar zu machen, gering sind und daß man es oft beim Beachten solcher kleinen Nuancen, wie ich sie vorhin Herrn Dr. Mertes erklärte, belassen muß. Sich von solchen Veranstaltungen ausschließen hieße z. B. die Kontaktmöglichkeiten zu anderen Diplomaten, zu den Diplomaten der anderen Länder, korrekter gesagt, nicht wahrnehmen, durch die es ihm möglich ist, immer wieder zum Ausdruck zu bringen, daß wir hier in einer spezifischen, nicht völkerrechtlichen Situation sind. Ich meine, er sollte solche Chancen nutzen und dies immer wieder tun.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pfeffermann.
Frau Staatssekretärin, wird das Bemühen von Staatssekretär Gaus durch die kleine Geste, von der Sie soeben sprachen, indem
er diesen Brief schrieb, nicht dadurch unterlaufen, daß der Vertreter der DDR beim Empfang des Herrn Bundespräsidenten ebenfalls ins Diplomatische Corps eingereiht worden ist?
Nein. Die nichtvölkerrechtliche Beziehung hier findet ihren Ausdruck darin, daß die Bezeichnungen eben nicht die von Diplomaten sind. Das ist die eine Sache. Darüber hinaus sind die Personen selbst nicht als Diplomaten, sondern als Ständige Vertreter bezeichnet worden. Sie müssen jedoch Arbeitsmöglichkeiten erhalten - sie sind ihnen zuzugestehen -, damit die Beziehungen gepflegt werden, wie es ja im Protokoll steht: Unter Punkt 5 heißt es, daß gutnachbarliche Beziehungen gepflegt werden sollen. Das ist eine Aufgabe. Wie sich der einzelne dieser Aufgabe unterzieht, unterliegt unserer ständigen Beobachtung.
Vizepräsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 91 des Abgeordneten Dr. Mertes auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die höflich begründete Nicht-Teilnahme des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin an Veranstaltungen der DDR-Regierung für das Diplomatische Corps die Eindeutigkeit und Glaubwürdigkeit der Zusicherungen der Bundesregierung unmißverständlicher zum Ausdruck bringen würde als die Teilnahme?
Zur Beantwortung, Frau Staatssekretär.
Kollege Dr. Mertes, ich möchte Ihre Frage mit Nein beantworten. Die Bundesregierung und die Regierung der DDR haben vereinbart, daß die Ständigen Vertretungen alle Arbeitsmöglichkeiten erhalten sollen, die diplomatische Missionen auch haben. Darauf bezieht sich die Bestimmung im Protokoll vom 14. März 1974, daß für die Ständigen Vertretungen die Wiener Konvention vom 18. April 1961 entsprechend gilt. Daraus folgt, daß die Leiter der Ständigen Vertretungen sowohl in Bonn als auch in Ost-Berlin an Veranstaltungen für das Diplomatische Corps teilnehmen.
Zu den Aufgaben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland gehört nicht nur, über die Verhältnisse im Gastland zu berichten und Personen Hilfe und Beistand zu leisten, sondern auch, über die Außenpolitik des Gastlandes zu berichten und Kontakt zu den bei der DDR akkreditierten diplomatischen Vertretungen ausländischer Staaten zu pflegen, wie ich es vorhin schon, wenn auch nur inhaltlich, andeutete.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes.
Frau Staatssekretär, abgesehen davon, daß ich es nicht für sachdienlich halte, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort die ernsthafte Frage eines Abgeordneten lächerlich macht, möchte ich Sie fragen: Wie gedenkt die Bundesregierung dem grundgesetzlichen Auftrage gerecht zu werden, den WiederverDr. Mertes ({0})
einigungsanspruch des deutschen Volkes gegenüber der DDR-Regierung - auch gesprächsweise - beharrlich zu bekunden?
Herr Kollege, ich möchte zunächst darauf hinweisen, daß ein heiter gemeinter Nachsatz nicht so zu werten ist, wie Sie das eben angegeben haben. Ich glaube, das sollten Sie mir nicht unterstellen.
Zu Ihrer Nachfrage kann man immer wieder nur sagen: Die ständigen Kontakte mit dem Kanzleramt geben Herrn Gaus immer wieder Hinweise darauf, wie wir hier darauf achten, daß das, was beabsichtigt ist, in der Weise zum Tragen kommt, daß beim Gesprächspartner keine falschen Vorstellungen entstehen.
Ich weiß nicht, wie weit ich Ihre Frage jetzt richtig in Erinnerung habe. Vielleicht können Sie mir noch einmal für das Gedächtnis eine Hilfe geben.
Frau Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß es das Problem der Glaubwürdigkeit der tatsächlichen Vertretung der auch von mir geteilten Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland gibt?
Das kann ich nicht akzeptieren, daß hier Glaubwürdigkeit angezweifelt werden kann.
„Daß es das Problem der Glaubwürdigkeit gibt," habe ich gefragt.
Nein, für uns gibt es kein Problem der Glaubwürdigkeit,
({0})
sondern die Verpflichtung, sich zu bemühen, glaubwürdig zu handeln.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben gerade in der Antwort an den Kollegen Mertes gesagt, daß die ständigen Kontakte unseres Vertreters diesem Hinweise gäben, wie er tätig werden könne. Können Sie uns auch sagen, inwieweit diese Hinweise durch den ständigen Vertreter in Ost-Berlin in die Praxis umgesetzt werden?
Er setzt sie so um, wie wir es wünschen.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger ({1}).
Frau Staatssekretärin, gibt es für das Auftreten von Herrn Staatssekretär Gaus bei Empfängen und anderen Anlässen, bei denen sich die Diplomaten ausländischer Staaten beteiligen, klare und eindeutige Richtlinien der Bundesregierung, die sicherstellen, daß das, was Sie mir vorhin zur Antwort gegeben haben, auch in die Praxis umgesetzt wird, daß nämlich Staatssekretär Gaus bei solchen Empfängen jede sich bietende und geeignete Gelegenheit nutzt, um die Sonderstellung, die er dort einnimmt, deutlich zu machen?
Nein, Herr Kollege, solche Richtlinien gibt es nicht.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt; ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf, zuerst die Frage 92 des Abgeordneten Krall. - Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 93 des Abgeordneten Freiherr von Fircks auf:
Ist die Bundesregierung im Besitz oder kennt sie die Liste mit den Namen von 36 000 auswanderungswilligen sowjetischen Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit - ohne direkte verwandschaftliche Verbindungen zu westdeutschen Staatsbürgern -, die eine Delegation von 16 volksdeutschen Personen mit dem Wissen mehrerer westlicher Zeitungskorrespondenten am 18. Mai 1973 in Moskau dem Obersten Sowjet überreicht hat, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um bei der sowjetischen Regierung die Ausreise dieser Personengruppe zu erwirken, analog den Bemühungen amerikanischer Regierungsstellen und Senatoren um die Auswanderungsbewilligung für jährlich 65 000 russische Juden nach Israel?
Bitte, zur Beantwortung Herr Staatsminister Moersch!
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist weder im Besitz der von Ihnen genannten Liste noch kennt sie diese. Die Namensliste war, wie ich aus Ihren Angaben entnehme, auch nicht für die Bundesregierung bestimmt. In einigen Petitionen, die der Bundesregierung und anderen Stellen zugegangen sind, finden sich allerdings Hinweise auf den von Ihnen geschilderten Vorgang. Welche Personen in der Liste erfaßt sind, ist somit nicht bekannt. Die Bundesregierung kann daher zum zweiten Teil Ihrer Frage nur allgemein Stellung nehmen.
Zum Thema der Ausreise von Volksdeutschen aus der Sowjetunion habe ich mich im vergangenen Jahr hier wiederholt geäußert, und zwar sehr eingehend. Ich darf mich deshalb auf die folgenden Feststellungen beschränken:
1. Die Bemühungen, das Anliegen der Ausreisewilligen zu unterstützen, wurden insbesondere im Rahmen der Familienzusammenführung fortgesetzt. Ich erwähne hier nur den Besuch des Bundeskanz9744
lers und des Bundesaußenministers im vergangenen Herbst in Moskau und die dort geführten Gespräche, über die hier berichtet worden ist.
2. Die stetigen Anstrengungen der Bundesregierung waren erfolgreich. So sind allein im Jahre 1974 über 6 500 Umsiedler in das Bundesgebiet gekommen. Das waren 2 000 Personen mehr als im Jahr zuvor.
3. Ungeachtet dieser positiven Entwicklung wird sich die Bundesregierung für weitere Verbesserungen in diesem humanitären Bereich einsetzen. Dies gilt insbesondere für die Zusammenführung getrennter Familien.
4. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß die Ergebnisse der KSZE ebenfalls zu einer weiteren günstigen Entwicklung beitragen können und beitragen werden.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, diese Namensliste - sofern sie, was meiner Kenntnis nach zutrifft, bei dem gegründeten Verein der Deutschen aus der Sowjetunion vorhanden ist - entgegenzunehmen und sich dann für die dort Aufgeführten einzusetzen?
Herr Abgeordneter, falls diese Liste in unsere Hände kommt, werden wir sie selbstverständlich prüfen.
Die Frage des Einsetzens habe ich hier wiederholt beantwortet. Das ist zum einen eine Frage unserer Aktivlegitimation dafür, und diese Frage ist in sehr vielen dieser Fälle nicht einfach zu beantworten; denn es handelt sich zum Teil um Familien, die nicht etwa die deutsche Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können.
Zum anderen ist ebenso sicher, daß wir - das habe ich eben schon beantwortet - unsere Bemühungen fortsetzen, vor allem die Familienzusammenführung weiterzuführen. Die positive Entwicklung des vergangenen Jahres ermutigt uns hier. Wir können nur hoffen, daß es in dieser Beziehung keinen Rückschlag durch bestimmte Ereignisse geben wird.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.
Herr Staatsminister, nachdem diese Liste auch Journalisten übergeben worden ist und Sie selbst gesagt haben, daß Ihnen aus Petitionen der Gegenstand als solcher auch bekanntgeworden ist, frage ich: Wie ist es dann zu verstehen, daß Ihr Amt oder Vertreter Ihres Amtes im Ausland nicht darum bemüht gewesen sind, von sich aus in den Besitz dieser Namensliste zu gelangen, um helfend tätig werden zu können?
Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, woher Sie die
Information besitzen, daß diese Liste Journalisten zugänglich gemacht worden ist.
({0})
- Nein, entschuldigen Sie, ich habe die Unterlagen geprüft, und nach meiner Meinung befinden Sie sich in einem Irrtum.
Ich bin bereit, Ihnen die entsprechenden Unterlagen zur Einsicht zu übergeben. Uns ist nur bekanntgeworden, daß eine solche Liste existiere. Daß sie nicht an uns addressiert war, ist ebenfalls klar.
Ich habe Ihnen die Auskünfte gegeben, die wir auf Grund der Aktenlage geben können, auch nach Befragen der Personen, die darüber mehr wissen könnten.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, wäre es nicht die Aufgabe der Bundesregierung, nachdem ihr bereits von der Existenz derartiger Listen Mitteilung gemacht worden war, sich unbedingt diese Listen zu beschaffen, auf Grund ihrer Informationspflicht, vor allem aber auch auf Grund ihrer Obhutspflicht?
Herr Abgeordneter, die Pflicht der Bundesregierung ist eindeutig vorgeschrieben in den sie bindenden Gesetzen. Wie sie die Listen beschaffen soll, wenn niemand, der diese Liste als existent angibt, uns sagen kann, wo wir sie bekommen können, ist eine etwas schwierige Frage. Sie wissen, daß ich von einem anderen Besucher der Sowjetunion kürzlich eine Liste bekommen habe, die wir selbstverständlich auch daraufhin überprüfen, ob die dort angegebenen Namen etwa mit den Namen identisch sind, die beim Deutschen Roten Kreuz angemeldet sind.
Aber ich fürchte, auch Sie sind hier von einer Voraussetzung ausgegangen - wie der Kollege von Fircks -, die ganz offensichtlich so nicht zutrifft. Ich bedauere, daß ich das nach Prüfung unserer Informationsquellen sagen muß.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Meinung, daß der Fragesteller seine Frage in dieser Form nicht mehr gestellt hätte, wenn er bei der Formulierung der Frage gewußt hätte, daß die sowjetische Regierung gestern das Handelsabkommen, das nach jahrelangen Verhandlungen wesentlichen Entspannungs- und Friedenswert besessen hätte, gekündigt hat, obwohl die in der Frage erwähnte Auswanderungsmöglichkeiter formal nicht einmal Gegenstand des Abkommens gewesen ist?
Moersch, Staatsminister im Auswärtigen Amt Herr Abgeordneter, ich bin der Meinung, daß die
Bundesregierung richtig gehandelt hat, als sie mehrfach in der Fragestunde und bei der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU zur KSZE auf die Problematik der von der Opposition in Frageform geäußerten Wünsche hinwies. Ich bedaure, daß die Bundesregierung in dieser Form bestätigt worden ist.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Professor Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, meine Frage ging an sich in dieselbe Richtung wie die des Kollegen Arndt. Ich möchte sie trotzdem stellen, da sich Herr von Fircks hier speziell auf amerikanische Senatoren bezieht, und angesichts der jetzt bekannten Entwicklung, die der Kollege Arndt angesprochen hat: Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die geräuschlosere Methode des diplomatischen Vorgehens, die wir in dieser sehr delikaten Frage schon immer angewandt haben, sehr viel erfolgversprechender erscheint als manches, was hier in der Frage eben gesagt worden ist?
Die von uns angewandte Methode, Herr Abgeordneter, hat sicherlich zu der positiven Entwicklung geführt, die ich hier angesprochen habe. Ich bin überzeugt, daß Herr Kollege von Fircks seine Frage anders formuliert hätte, wenn er sie gestern hätte formulieren müssen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Mertes.
Herr Staatsminister, auf welche Einzelfragen haben Sie eben angespielt, als Sie die Große Anfrage der Opposition zur KSZE erwähnten?
Auf die Große Anfrage zur KSZE und die Antworten an die Abgeordneten Graf Stauffenberg und Werner vom 7. November und 14. November 1974, Herr Abgeordneter.
Auf welche Einzelfragen in der Großen Anfrage?
Diese Frage, die ähnlich ist wie die Formulierung des Herrn Kollegen von Fircks. Da gibt es eine Wendung, die sinngemäß damit übereinstimmt. Ich bin bereit, Ihnen die Unterlagen zu geben; ich habe sie vorsichtshalber mitgebracht.
Vizepräsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 94 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, der Tatsache unserer sich intensivierenden Beziehungen zur Volksrepublik China künftig noch besser organisatorisch durch die Einrichtung eines besonderen Länderreferats im Auswärtigen Amt Rechnung zu tragen?
Herr Abgeordneter, das Auswärtige Amt beabsichtigt nicht, ein besonderes Länderreferat für die Volksrepublik China einzurichten. Das ist eine Antwort, die unabhängig ist von Besuchsreisen dorthin. Die Länderreferate des Auswärtigen Amtes sind nicht für einzelne Länder zuständig, sondern jeweils für einen größeren Regionalbereich. Maßgebend hierfür ist die Überlegung, daß die Interdependenz unserer Beziehungen zu andern Ländern und der Beziehungen dieser Länder zu dritten Ländern es erforderlich macht, die Fragen in einem größeren Zusammenhang zu bearbeiten.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, können Sie möglicherweise Angaben darüber machen, wieviel Angehörige des auswärtigen Dienstes, das heißt sowohl in der Zentrale, wie möglicherweise im auswärtigen Dienst im Ausland, über genügend sprachliche Kenntnisse verfügen, um z. B. chinesische Dokumente im Original lesen zu können, weil mir das wichtig erscheint angesichts der Intensivierung unserer Beziehungen?
Herr Abgeordneter, ich kann nicht genauer feststellen, was Sie als „genügend" ansehen. Ich will nur feststellen, daß 30 Beamte des auswärtigen Dienstes ihre Sprachprüfung für Chinesisch mit Erfolg abgelegt haben.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, liegen im Auswärtigen Amt schon Berichte unseres Botschafters in Peking vor über die in der Presse angesprochenen Gespräche eines Mitglieds dieses Hohen Hauses, das sich zur Zeit in Peking aufhält,
({0})
also die Gespräche des Herrn Strauß mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten, wo ja offenbar unser Botschafter anwesend war? Können Sie dazu hier etwas sagen?
Ich kann bestätigen, daß Berichte vorliegen, Herr Abgeordneter.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß so, wie es ein Referat für das Einzelland Sowjetunion im Auswärtigen Amt gibt, es ein solches auch für das Einzelland China gegeben hat, und können Sie uns mitteilen, wann dieses Referat aufgelöst worden ist?
Es ist gar nicht aufgelöst worden, Herr Abgeordneter. Wir haben eine Umgliederung vorgenommen, und dafür bestanden zwingende Gründe. Die Gründe habe ich eben hier dargelegt: daß wird die Gesamtregionen jeweils zusammengefaßt haben.
({0})
- Vor kurzem. Es ist übrigens nie ein Einzellandreferat gewesen. Es ist jetzt nur umgegliedert worden. Ich bitte, das doch sehr zu beachten. Wir haben bei der Sowjetunion den einzigen Fall eines solchen Referats, weil aus den besonderen Gründen, die Sie kennen und die mit der Nachkriegszeit zusammenhängen, hier eine Ausnahme für die Gliederung geboten erschien. Ich nehme an, daß Sie ganz besonders gut mit diesen besonderen Gründen und mit diesem besonderen Arbeitsanfall vertraut sind; denn ich habe nie gehört, daß etwa dieses Referat über zuwenig Arbeit geklagt hätte, auch nicht, als der Kollege Mertes in diesem Bereich tätig gewesen ist.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 96 auf und weise darauf hin, daß die Frage 95 bereits gestern beantwortet wurde, von einem anderen Ressort. Ich rufe also die Frage 96 des Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Wie hat die Bundesregierung auf die Tagung der italienischen Deutschlehrer und deren Feststellung über die Entwicklung der Kenntnisse der deutschen Sprache in Italien reagiert, und was zieht die Bundesregierung daraus für Schlußfolgerungen hinsichtlich der Stellung, die die Verbreitung der deutschen Sprache im Gesamtkonzept ihrer auswärtigen Kulturpolitik einnimmt?
Zur Beantwortung bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Fuchs, die Bundesregierung mißt der Verbreitung der deutschen Sprache vor allem in den Ländern Europas und in den interessierten überseeischen Partnerstaaten unvermindert hohe Bedeutung bei. Das Auswärtige Amt ist über die an die italienische Regierung gerichteten Anregungen und Wünsche des Kongresses des italienischen Germanistenverbandes ({0}) unterrichtet. Es ist bekannt, daß Deutsch im öffentlichen Schulsystem Italiens leider nicht die Stellung einnimmt, die wir uns angesichts der traditionell engen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen und im Hinblick auf die besondere, durch Fremdenverkehr und Gastarbeiter gekennzeichnete menschliche Begegnung wünschen. Die Bundesregierung bemüht sich seit Jahren, die zuständigen italienischen Stellen zu einer Verbesserung dieser im ganzen noch unbefriedigenden Situation der deutschen Sprache in Italien zu bewegen. Fortschritte sind vor allem deshalb nicht leicht zu erzielen, weil das italienische Schulsystem anders strukturiert ist und in den Sekundarschulen in der Regel nur eine Fremdsprache angeboten wird.
Die Italiener verweisen in diesem Zusammenhang allerdings auch auf die Stellung der italienischen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland - Sie wissen, daß dafür die Kultusministerien der Länder zuständig sind -, welche sie nach dem Grundsatz
der Gegenseitigkeit ebenfalls zu verbessern wünschen. Bei den für März dieses Jahres vorgesehenen deutsch-italienischen Kulturkonsultationen werden diese Fragen erneut und, wie wir hoffen, positiv behandelt werden.
Die Spracharbeit der deutschen Kulturinstitute und der Deutsch-Italienischen Gesellschaften, die Entsendung von deutschen Lektoren an italienische Universitäten und Hochschulen und zahlreiche sonstige gezielte Maßnahmen, in die auch die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und andere Mittlerorganisationen eingeschaltet sind, sind unser Beitrag, dessen finanzielles Gewicht im übrigen in Italien erheblich über dem Durchschnitt unserer Förderungsmaßnahmen in anderen europäischen Ländern liegt. Diese Tatsache wurde auch während des Kongresses der italienischen Germanisten nachdrücklich gewürdigt. Das anläßlich dieses Kongresses erörterte Gutachten über die Situation des Deutschunterrichts in Italien wurde durch das Auswärtige Amt mitgetragen. Auch in Zukunft werden wir mit Hilfe unserer Mittlerorganisationen und durch gezielte Förderungsvorhaben zur Verbesserung der Lage der deutschen Sprache in Italien beizutragen suchen. Hierbei wird noch mehr als bisher das Schwergewicht auf die Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals, auf die Verbesserung der methodischen und didaktischen Voraussetzungen für die Sprachvermittlung, auf die Aktualisierung der Lehrwerke sowie auf die Weckung und Erhaltung des Interesses an der deutschen Sprache gelegt werden.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs.
Herr Staatsminister, hat sich die Bundesregierung auf Grund dieser Tagung der italienischen Deutschlehrer in Florenz bereits an die italienische Regierung gewandt und um Aufklärung gebeten, worauf diese zunehmende Verschlechterung der Situation des Deutschunterrichts zurückzuführen ist?
Herr Abgeordneter, ich kann nicht exakt das Datum nennen. Aber wir haben in Zusammenhang mit diesem Kongreß - das habe ich ja eben dargestellt - unsere Bemühungen intensiviert und haben auch diese Untersuchung mitgetragen - das habe ich ebenfalls schon mitgeteilt -, so daß wir mit zu den Initiatoren dieser Fragestellung gehören.
Aber, Herr Kollege, ich glaube, es besteht in der deutschen Öffentlichkeit ein erheblicher Irrtum über die Meinung anderer, was die Verbreitung ihrer Sprache und unserer Sprache betrifft. Wir gehen oft wie selbstverständlich davon aus, daß in anderen Ländern mehr Deutsch unterrichtet werden sollte, und müssen uns dann regelmäßig fragen lassen, warum eigentlich nicht auch die Sprache dieser Länder, in denen wir den Deutschunterricht fördern wollen, bei uns stärker verbreitet ist. Ich will Ihnen mal eine Zahl nennen, die vielleicht erhellt, wie die andere Seite in diesem Fall argumentieren könnte,
was sie nicht expressis verbis getan hat, wofür ich aber ein gewisses Verständnis haben müßte. Es ist z. B. so, daß bei dem Sekundarschulsystem in Italien Deutsch als Pflichtsprache bei Fremdsprachen an dritter Stelle steht. Es sind 59 % Englisch, 36 % Französisch, 5,2 % Deutsch und 0,4 % Spanisch. Wenn Sie das mit den Schülerzahlen in den einzelnen Ländern vergleichen, stellen Sie fest, daß in Italien 60 000 italienische Schüler Deutschunterricht erhalten, während es in der Bundesrepublik genau 3 000 deutsche Schüler sind, die Italienischunterricht erhalten. Wenn wir diese Frage aufwerfen, müssen wir also auch die andere Seite der Medaille betrachten.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Fuchs.
Herr Staatsminister, könnten die deutschen Kulturinstitute in Italien vielleicht auch dadurch einen Beitrag zur Verbesserung der Situation des Deutschunterrichts leisten, daß dieser Deutschunterricht stärker als bisher auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt, des Tourismus und der Handelsbeziehungen ausgerichtet wird?
Herr Abgeordneter, soweit ich das jedenfalls beobachten konnte - darüber liegen auch Berichte Ihrer Kollegen vor -, wird in den Zweigstellen des Goethe-Instituts in Italien ein sehr wirksamer, offensichtlich moderner und den praktischen Bedürfnissen entsprechender Deutschunterricht erteilt. Das wirkliche Problem sind aber nicht diese sieben Institute, die wir dort unterhalten, deren Kapazität naturnotwendigerweise begrenzt sein wird, wenn ich etwa an die Haushaltsberatungen von gestern denke. Das Problem besteht vielmehr darin, daß man im Grunde genommen die Ausbildung von einheimischen Lehrern verstärkt fördern muß, damit sich diese Förderung wegen der Multiplikatorwirkung in einer ganz anderen Weise als bisher auswirkt. Wenn es in Italien, worüber ja geredet wird, etwa zur Einführung einer zweiten modernen Fremdsprache - ich unterstelle, daß dort ebensoviel Latein gelernt wird wie bei uns, ich habe wenigstens den Eindruck - als Pflichtsprache im Sekundarbereich kommt, dann wird man sich von unserer Seite vor allem einmal darum kümmern müssen, was nach meiner Meinung leider 20 Jahre lang nicht genügend geschehen ist, daß sich die Beziehungen zu den Universitäten auch in der Einrichtung von Lehrstühlen für Germanistik auswirken. Dann sind die anderen Bemühungen, die wir außerdem unternehmen, relativ peripher.
Ein Weiteres: das Interesse, das wir daran haben, daß möglichst viele Italiener sich auch in Deutsch ausdrücken können, kann doch bei uns meiner Ansicht nach in einem viel größeren Umfange befriedigt werden, als es bisher geschehen ist, wenn wir die Gelegenheit wahrnehmen, den Italienern, die bei uns arbeiten, eine bessere Möglichkeit zum Sprachunterricht zu geben, als sie sie bisher in unserem Lande haben. Ich finde es nicht gut, daß Hunderttausende von Italienern jahrelang hier gelebt haben und praktisch keine Gelegenheit hatten, systematisch Deutsch zu lernen. Aber das ist nicht der Bundesregierung anzulasten, wie Sie wissen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, sind Sie sich darüber klar, daß Ihre Vice-versa-Rechnung überhaupt nicht stimmen kann, etwa beim Beispiel Amerika oder England, weil in Amerika und England weit weniger Amerikaner und Engländer Deutsch lernen, als bei uns deutsche Bürger Englisch lernen? Auf diese Art und Weise kann man ja wohl nicht die Sprache behandeln.
Herr Abgeordneter, aus Ihrer Frage entnehme ich, daß Sie offensichtlich eine Vorrangstellung der deutschen Sprache gegenüber der italienischen zum Ausdruck bringen wollten,
({0})
wie das im angelsächsischen Bereich der Fall ist. Die italienische Seite sieht das als gleichberechtigtes Problem; darauf weise ich hin. Es gibt in Amerika eine völlig andere Situation als bei uns, weil sich bei der letzten Meinungsumfrage in Amerika nicht weniger als 50 Millionen dazu bekannt haben, deutscher Abstammung zu sein, wenn sie auch nicht Deutsch sprechen. Aber es ist doch überhaupt keine Frage, daß Deutsch nicht mehr wie vor 70 oder 80 Jahren etwa als allgemeine Sprache der Wissenschaft angesehen wird - damals war die Erlernung der deutschen Sprache einfach die Voraussetzung etwa für ein naturwissenschaftliches Studium -, sondern daß Deutsch heute eine der Sprachen ist, die nicht an der ersten Stelle in der Welt als Lingua franca stehen.
({1})
Auch in Italien ist das so, und das ist die Konsequenz aus historischen Ereignissen, die ich, glaube ich, hier nicht näher zu schildern brauche.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Dollinger.
Herr Staatsminister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich meine, daß andere Staaten doch auch ein Interesse haben, nicht aus historischen Gründen, sondern aus praktischen Gründen des Fremdenverkehrs Sprachen von Hauptbesuchern in bevorzugtem Maß zu lernen?
Herr Abgeordneter, es ist so, und die Tatsache, daß der Bericht in einer deutschen Zeitung, auf den sich der Abgeordnete Dr. Fuchs bezieht, zum Teil fast wortgleich ist mit den kritischen Anmerkungen einer italienischen Zeitung, zeigt, daß man in Italien den Wunsch hat, verstärkt Deutsch zu lernen, z. B.
aus wirtschaftlichen Gründen, und daß dies auch geschieht und daß sich die Kritik gerade an die italienischen Behörden gerichtet hat, weshalb diese so wenig Gelegenheit böten, Deutsch in Italien zu lernen. Aber ich wollte nur einmal darauf hinweisen, daß wir die Medaille nicht einseitig betrachten sollten und daß man sich, wenn man kulturelle Wünsche an andere Staaten hat, z. B. mehr Germanistik-Lehrstühle einzurichten, dann auch fragen lassen muß, wie es eigentlich bei uns mit dem Ausbau speziell des Italienischen in der Romanistik steht.
Diese Frage stellt sich bei osteuropäischen Ländern ganz entsprechend. Wir haben es lange Zeit für völlig selbstverständlich gehalten, daß dort Deutsch eine wesentliche Rolle spielt und haben für die Slawistik relativ wenig getan.
Vizepräsident von Hassel: Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich lasse jetzt nur noch eine Zusatzfrage zu. Wir müssen uns im übrigen auf seiten der Fragesteller wie auf seiten der Antwortenden bemühen, uns kürzer zu fassen, sonst kommen wir mit der heutigen Fragestunde überhaupt nicht zu Rande.
({0})
Letzte Zusatzfrage, der Abgeordnete Engelsberger.
Herr Staatsminister, ist Ihnen nicht bekannt, daß in Italien 240 000 deutschsprechende Südtiroler leben und daraus die große Zahl von italienischen Schülern resultiert, die Deutsch lernen?
Herr Abgeordneter, die Zahl der dort lebenden Deutschsprechenden ist mir sehr wohl bekannt, nur hat das zu der Fragestellung des Kollegen Fuchs keine Beziehung.
Aber mit Ihren Zahlen! Sie haben doch davon gesprochen, daß 60 000 italienische Schüler Deutsch lernen. Darin sind doch auch die Schüler aus Südtirol mit einbezogen, und deshalb haben Sie bei den Zahlen, die Sie hier vorgetragen haben, eine Verzerrung.
Nein, Herr Abgeordneter, ich habe keine Verzerrung gegeben. Sie können das im Protokoll nachlesen. Sie haben nicht ganz richtig zugehört. Ich habe in der ersten Antwort schon gesagt: „in den italienischen Sekundarschulen als erste Fremdsprache Deutsch gelernt", und Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß ich meinen konnte, daß die Südtiroler Deutsch als Fremdsprache lernen müßten. Da haben Sie nicht richtig zugehört.
Vizepräsident von Hassel: Meine Damen und Herren, ich rufe die Frage 97 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Ist es der Bundesregierung gelungen, so wie der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt dies am 13. August 1973 in einem Fernsehinterview ankündigte, von den Westmächten eine Interpretation des Vier-Mächte-Abkommens in der speziellen Frage der konsularischen Vertretung Westberliner Institutionen ({0}) durch die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland in den Ostblockstaaten zu erhalten?
Herr Abgeordneter, die Drei Mächte haben der Bundesregierung bestätigt, daß nach ihrer Auffassung Anlage IV A und B, Ziff. 2 a des Viermächte-Abkommens so zu verstehen ist, daß auch juristische Personen aus Berlin ({0}) die kosularischen Dienste der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen können.
Vizepräsident von Hassel: Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 98 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Welche Länder oder Staaten haben seit wann und in welcher
Höhe Zwangsumtauschquoten für Westbesucher eingeführt?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatsminister!
Herr Präsident, ich muß um Entschuldigung bitten, das ist auch eine lange Antwort; das hängt aber mit der Frage zusammen. Herr Abgeordneter, nach Kenntnis des Auswärtigen Amts besteht die Pflicht, vor oder bei der Einreise pro Person und Tag einen bestimmten Devisenbetrag in die jeweilige Landeswährung umzutauschen - gemeinhin als Zwangsumtausch bezeichnet , im Reiseverkehr mit Polen, der CSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Auf das Thema DDR gehe ich in diesem Zusammenhang nicht ein, da es bereits mehrfach Gegenstand von Erörterungen in diesem Haus war und sich die Frage auch nicht unmittelbar auf den Zwangsumtausch in der DDR bezieht.
Der Zwangsumtausch in den genannten Ländern entfällt jedoch, wenn Dienstleistungen im voraus mit Devisen, wie z. B. bei den Pauschalreisen der Touristikunternehmen, gezahlt werden. Dies gilt insbesondere für die Sowjetunion, die grundsätzlich vor der Einreise den Erwerb von Gutscheinen für Unterkunft und Verpflegung verlangt.
Der Zwangsumtausch besteht in den genannten Ländern mit Ausnahme Rumäniens bereits seit Jahren. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, Herr Abgeordneter, konnten die einzelnen Daten nicht ermittelt werden; auf Wunsch kann dies aber nachgeholt werden. Rumänien hat den Zwangsumtausch bereits erstmals am 1. November 1974 eingeführt.
In der Regel sind pro Person und Tag folgende, zumeist in Dollar festgesetzte Beträge in die jeweilige Landeswährung umzutauschen, und zwar zum sogenannten Touristenkurs, der günstiger ist als der Kurs für kommerzielle Transaktionen. Bei Polen sind das 7 US-Dollar für Besucher aus europäischen Staaten; Nichteuropäer zahlen 10 US-Dollar. In der CSSR sind es 7 US-Dollar, in Ungarn 150 Forint - zur Zeit sind das 18 DM -, in Rumänien und Bulgarien 10 US-Dollar.
Es gibt eine Reihe von Ausnahmen von der Umtauschpflicht. So können z. B. bei Reisen nach Polen oder in die CSSR Rentner oder andere finanziell schwächer gestellte Personen eine Befreiung oder Ermäßigung vom Zwangsumtausch bei den Auslandsvertretungen dieser Länder beantragen. In Ungarn müssen Besucher, die keine Hotelunterkunft in Anspruch nehmen, sondern privat unterkommen, nur für die ersten 10 Tage den Zwangsumtausch entrichten. Was den kürzlich in Rumänien eingeführten Pflichtumtausch betrifft, so hat die Bundesregierung die rumänische Regierung darauf hingewiesen, daß Ausnahmeregelungen zugunsten von Verwandtenbesuchen wünschenswert wären.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Staatsminister, können Sie Ihrer Antwort noch hinzufügen: wie werden denn durchreisende Touristen aus nichtsozialistischen Ländern behandelt, und wie hoch ist bei den von mir angesprochenen Personen der Beitrag, den sie leisten müssen?
({0})
- Aus nichtsozialistischen Ländern!
Herr Abgeordneter, ich muß das nachprüfen. Ich kann das nicht aus dem Gedächtnis sagen.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da die sozialistischen Länder oft glauben Klage führen zu müssen über diskriminierende Behandlungen, denen sie ausgesetzt seien, frage ich, ob die Bundesregierung nicht die Tatsache, daß es eben vor allen Dingen Angehörige westlicher Länder sind, die solche Zwangsumtauschsummen pro Tag hinterlegen müssen, als eine gezielte Diskriminierung versteht.
Herr Abgeordneter, ich glaube, die Genesis und die Begründung, die dafür gegeben sind, machen hier eine differenzierte Beurteilung notwendig. Wir dürfen ja, glaube ich, nicht übersehen, daß es für uns längst selbstverständlich geworden ist, frei konvertierbare Währungen zu haben. daß aber allein die Differenzierung der Sätze bei den genannten Staaten zeigt, daß ganz offensichtlich auch unter anderem Maßnahmen der Fremdenverkehrsförderung und ähnliches mit gemeint gewesen sind. Aber die Frage ist in der Tat einer sorgfältigen Prüfung wert.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, meinen Sie, daß die von Ihnen angeführten Zahlen und Summen, die Sie vorher nannten, eigentlich ein Beweis dafür sind, daß die menschlichen Kontakte zu den Menschen in den Ostblockstaaten, die Verwandtenbesuche und ähnliches intensiviert werden? Sind Sie nicht der Meinung, daß die Neueinführung von Zwangsumtauschquoten eigentlich kein gutes Omen für die nächsten Monate und Jahre ist?
Herr Abgeordneter, ich habe hier auf eine gestellte Frage die Zahlen als Antwort gegeben. Aber ich habe mir auch von Mitgliedern dieses Hohen Hauses sagen lassen, daß Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland, die etwa nach Polen reisen, sich in einer außerordentlich starken Währungssituation befinden, um es mal vorsichtig auszudrücken, wenn sie dort etwa für Essen und Trinken zahlen müssen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, wie erklären Sie den Umstand, daß in der von Ihnen genannten Liste von Ostblockstaaten die Sowjetunion sich nicht befindet?
Weil sie ganz offensichtlich nicht darunter fällt. Sonst wäre sie in den Unterlagen daringewesen.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage Nr. 99 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerung des tschechoslowakischen Außenministers Chnoupek zur Aussiedlung der Deutschen: „Wir wollen und werden uns zu nichts verpflichten", nachdem in einem „Briefwechsel über humanitäre Fragen" im Zusammenhang mit dem Prager Vertrag verbindliche Erklärungen seitens des tschechoslowakischen Außenministers abgegeben worden sind?
Zur Beantwortung Herr Staatsminister, bitte!
Der Bundesregierung ist die in der Frage wiedergegebene angebliche Äußerung des tschechoslowakischen Außenministers Chnoupek zur Aussiedlungsfrage nur aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23. Dezember bekannt. Sie kann sie aus eigener Kenntnis weder dem zitierten Wortlaut nach noch im angegebenen Zusammenhang bestätigen.
Für die Bundesregierung ist maßgeblich, daß die tschechoslowakische Seite wiederholt, zuletzt in kürzlichen Gesprächen zwischen den Regierungen beider Länder, ausdrücklich bekräftigt hat, daß sie an ihren im humanitären Briefwechsel zum deutschtschechoslowakischen Vertrag gegebenen Zusagen festhält.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, darf ich Sie, bevor ich meine Frage stelle, nur noch ergänzend zu dem Faktum darauf hinweisen, daß dieses Zitat auf einem Gespräch beruht, das Herr Chnoupek geführt hat, bevor er nach Bonn gefahren ist, vor der Paraphierung des Vertrages, geführt vor Fernseh- und Rundfunkjournalisten in Prag, und daß darüber eine Tonbandaufzeichnung greifbar ist; leider hat das Auswärtige Amt sie offenbar nicht zur Hand.
Was gedenkt die Bundesregierung aber nun tatsächlich zu tun - nachdem das Zitat durch die Tonbandaufzeichnung vielleicht noch erhärtet werden kann -, damit die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei entsprechend dem Briefwechsel über humanitäre Fragen beschleunigt werden kann?
Ich wiederhole, daß der Bundesregierung ausdrücklich das bestätigt worden ist, was ich soeben gesagt habe. Ich bin Ihnen dankbar für den Hinweis, wo sich die Quelle dieses Zitates befindet. Wir werden das Weitere prüfen und dann das Notwendige veranlassen.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Wie erklärt sich, Herr Staatsminister, die Bundesregierung, daß ausgerechnet im Jahr 1974, im Jahre des Abschlusses des Prager Vertrages, die Zahl derer, die haben aussiedeln können, im Vergleich zu anderen Jahren so gering wie noch nie war, nämlich nur 378?
Herr Abgeordneter, auch das ist Gegenstand der Prüfung.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes.
Herr Staatsminister, werden die humanitären Regelungen, die - analog zu den Regelungen beim innerdeutschen Grundvertrag, beim Warschauer Vertrag und beim Prager Vertrag - in Genf auf der KSZE verhandelt werden, verbindlicher Natur sein, oder werden sie unverbindlich im Sinne der angeblichen Äußerungen des Ministers Chnoupek sein?
Herr Abgeordneter, ich vermag beim besten Willen nicht zu erkennen, wo hier der Zusammenhang zu der ursprünglichen Frage besteht. Ich bin bereit, die Frage zu beantworten, wenn Sie sie besonders einreichen. Aber ich bin nicht in der Lage, jetzt auf eine Frage, die nach meiner Meinung damit ganz
offensichtlich nicht im Zusammenhang steht, eine Antwort zu geben.
({0})
- Herr Abgeordneter, daß wir nur verbindliche Vereinbarungen abschließen, kann ich Ihnen ausdrücklich bestätigen. Das gilt aber allgemein.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß in der Familienzusammenführungsfrage mit der Tschechoslowakei mindestens die gleichen Schwierigkeiten wie mit der Volksrepublik Polen entstehen oder sogar noch größere?
Herr Abgeordneter, Sie sind sicher darüber unterrichtet, daß es sich um verschiedenartige Problemkreise handelt. Ich möchte jetzt nicht über das hinausgehen, was ich vorher schon auf entsprechende Fragen geantwortet habe.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Professor Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß die Verhandlungen zwischen den beteiligten Rot-Kreuz-Gesellschaften in dieser Frage an sich einen sehr kontinuierlichen und - ich möchte sagen - im ganzen auch befriedigenden Verlauf nehmen?
({0})
Herr Abgeordneter, ich habe dem, was ich als erste Antwort erklärt habe, nichts hinzuzufügen. Ich mache darauf aufmerksam, daß kürzlich in Fragen auch andere Zusammenhänge hergestellt worden sind, die die Fragesteller heute sicherlich nicht mehr befriedigen würden.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Woher nimmt die Bundesregierung die Begründung zu der Behauptung von Staatsminister Moersch, „daß eben viel mehr auf Grund der Informationen sich zur Umsiedlung gemeldet haben und melden konnten, als offensichtlich polnische Stellen damals erwartet haben", wenn nach früheren Auskünften die Bundesregierung während der Verhandlungen über den Warschauer Vertrag der polnischen Seite bereits 1970 eine Zahl von 280 000 beim Deutschen Roten Kreuz registrierten aussiedlungswilligen Deutschen bekanntgegeben hat?
Zur Beantwortung der Herr Staatsminister.
Herr Abgeordneter, Sie stellen in Ihrer Frage zu Recht fest, daß die Bundesregierung bereits wähStaatsminister Moersch
rend der Verhandlungen über den Warschauer Vertrag 1970 die polnische Regierung über die dem Deutschen Roten Kreuz vorliegende Zahl der Umsiedlungswünsche unterrichtet hat. Aus der Information ergibt sich, daß über diese Größenordnung bei den Verhandlungen des Jahres 1970 kein Einvernehmen erzielt werden konnte, daß die polnische Seite sich jedoch bereit erklärt hat, die Unterlagen des Deutschen Roten Kreuzes zur Prüfung entgegenzunehmen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Aber Sie haben sich doch, Herr Staatsminister, in dem Interview darauf bezogen, daß die Polen erst durch die späteren Zahlen überhaupt davon Kenntnis erhalten haben, daß uns eine derart hohe Zahl von Aussiedlungswilligen bekannt sei.
Herr Abgeordneter, Sie sind Philologe, wenn ich mich nicht täusche.
({0})
Ich habe nachgeprüft, ob ich mich wirklich so mißverständlich ausgedrückt habe. Ich habe das ganze Zitat hier, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mich nicht mißverständlich ausgedrückt habe - vielleicht etwas zu kurz gefaßt -, so daß also der Gegenstand Ihrer Frage durch meinen Text nicht gedeckt wird.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, da Sie sich auf Ihren Text beziehen, nur die Anmerkung: Sie haben ausgeführt, es habe Leute gegeben, die meinten, daß kaum mehr als 30 000 die Aussiedlung noch würden beantragen können. Wer sind diese Leute und woher die Begründung?
Ich habe doch gesagt, daß die polnische Seite ganz andere Größenvorstellungen hatte als wir. Darauf hat sich das bezogen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Hatte die Bundesregierung eigentlich, Herr Staatsminister, zur Zeit der Verhandlungen nicht die amtlichen Zahlen des ihr unmitelbar unterstehenden Bundesverwaltungsamtes, und hat sie diese ins Treffen geführt?
Wir hatten die Zahlen des Deutschen Roten Kreuzes, die sich ja damit decken, und haben diese in den Verhandlungen als die richtigen bezeichnet. Ich nehme an, daß die Entwicklung unsere Auffassung
weitgehend bestätigt hat. Aber die Zahlen sind von der anderen Seite angezweifelt worden. Ich glaube, ich brauche jetzt die ganze Geschichte nicht noch einmal aufzurollen.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 101 des Herrn Abgeordneten Engelsberger auf:
Treffen Meldungen zu, daß unsere westlichen Vertragspartner gegen die Lieferung eines deutschen Atomkraftwerkes an die Sowjetunion Bedenken erhoben haben, und inwieweit wäre die Lieferung von Kernbrennstoffen an die UdSSR überhaupt mit den westlichen Embargovorschriften zu vereinbaren?
Herr Abgeordneter, auf den Antrag der KraftwerkUnion AG - KWU - beim Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft auf Erteilung der Genehmigung zur Ausfuhr eines 1300-Megawatt-Kernkraftwerkes an die Sowjetunion hin hat die Bundesregierung am 24. September 1974 beim Koordinierungsausschuß - COCOM - in Paris ein Verfahren begonnen, mit dem eine Ausnahmegenehmigung seitens des COCOM beantragt wird. Diese Ausnahmegenehmigung ist erforderlich, weil die Ausfuhr eines Kernkraftwerkes den COCOM-Bestimmungen unterliegt. Unser Antrag wird zur Zeit noch bei COCOM geprüft. Während der größte Teil der COCOM-Staaten sich bereits zustimmend geäußert hat, ist die Prüfung des Projekts - insbesondere zur technischen Seite - noch nicht bei allen COCOM-Staaten abgeschlossen. So stehen die abschließenden Stellungnahmen der Vereinigten Staaten und Großbritaniens noch aus.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Engelsberger.
Herr Staatsminister, trifft es zu, daß alle vier potentiellen Lieferländer für Atomkraftwerke, nämlich die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Frankreich, in Paris einen vorläufigen Einspruch eingelegt haben, daß diesen Einspruch bis auf die USA alle Länder zurückgezogen haben, daß aber die Vereinigten Staaten diesen Einspruch bei COCOM aufrechterhalten?
Herr Abgeordneter, es trifft das zu, was ich eben gesagt habe: daß noch keine Zustimmung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens vorliegt. Das ist der Sachstand. In diesen beiden Staaten ist die Prüfung noch im Gange. Damit ist auch gesagt, daß alle anderen Länder zugestimmt haben.
Vizepräsident von Hassel: Die zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Eingelsberger.
Herr Staatsminister, ist es nicht üblich, daß die Lieferung von Kernbrennstoffen über die europäische Versorgungsagentur in Brüssel abgewickelt wird? Und in welchem Maße sind unsere europäischen Partner in bezug auf unsere Absicht, auch den Brennstoff in die Sowjetunion zu liefern, konsultiert worden?
Herr Abgeordneter, ich bedaure, daß ich im Augenblick nicht genügend über den Stand der Atomtechnik im Bilde bin. Aber ich fürchte - ich werde das gerne nachprüfen , daß wir von zwei verschiedenen Dingen sprechen. Das, was wir hier liefern wollen, ist ein Kraftwerk mit Natururan, während sich doch die Agentur mit angereichertem Brennstoff befaßt, was, wenn Sie etwa an die anderen Verwendungsmöglichkeiten denken, ein beträchtlicher Unterschied ist. Ich habe nicht gehört, daß etwa die Lieferung eines Kraftwerks für Natururan, das ja sicherlich nicht zu den modernsten Typen gehört, etwa aus einem europäischen Pool gespeist werden könnte. Aber da mag ich mich täuschen. Sie sind, glaube ich, Techniker und mögen das besser wissen. Ich glaube, wir sprechen wirklich von zwei ganz verschiedenen Kraftwerkstypen.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Jäger ({0}).
Herr Staatsminister, angesichts Ihrer Antwort an den Herrn Kollegen Engelsberger darf ich fragen: Wäre es nicht sinnvoll gewesen, wenn sich die Bundesregierung vor den Zusagen, die sie in Moskau erteilte, mit den westlichen Verbündeten ins Benehmen gesetzt hätte, deren Zustimmung, wie Sie ja selber sagten, erforderlich war und ist und noch nicht eingegangen ist?
Herr Abgeordneter, Sie werden es nicht für möglich halten: Wir haben, bevor wir in Moskau gesprochen haben, in dieser Frage natürlich mit den Westmächten Kontakt aufgenommen. Aber erst dann, wenn ein Projekt fertig auf dem Tisch liegt, kann man ein förmliches Verfahren einleiten. Es war uns selbstverständlich bekannt, daß es da die eine oder die andere Meinung gibt. Herr Kollege Engelsberger hat von konkurrierenden Staaten gesprochen. So weit will ich überhaupt nicht gehen. Nach unserer Auffassung ist die Lieferung von Natururan kein großes Ereignis, zumal ja die Sowjetunion uns z. B. angeboten hat, angereichertes Uran zu liefern. Um was es hier geht, ist eine Sache, die offensichtlich mehr im zusätzlichen Equipment liegt, nämlich in der Frage des technischen Know-how insgesamt. Aber es ist nach den Vorschriften gar nicht möglich, ein Genehmigungsverfahren abstrakt einzuleiten; das können Sie nur konkret einleiten. Selbstverständlich hat man in solchen Fragen Kontakt aufgenommen. Unsere Partner wußten, daß diese Frage schwebt.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe Frage 102 des Herrn Abgeordneten Engelsberger auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Lieferung eines deutschen Atomkraftwerkes an die Sowjetunion gegen den Atomsperrvertrag verstößt, falls die UdSSR nicht bereit ist, sich der internationalen Atomkontrolle zu unterwerfen, die sie bisher stets abgelehnt hat?
Die Bundesregierung teilt diese Auffassung nicht. Die Sowjetunion unterliegt als Kernwaffenstaat nach dem NV-Vertrag nicht den Sicherungsmaßnahmen der IAEO.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Engelsberger.
Herr Staatsminister, wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung der USA, daß die Sowjetunion beim Bezug eines deutschen Kernkraftwerkes den im Rahmen der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien aufgestellten Sicherheits- und Kontrollbestimmungen voll unterworfen werden müsse, und kann durch diese Forderung das Projekt nicht Frage gestellt werden?
Herr Abgeordneter, mir ist diese Begründung von der amerikanischen Seite nicht bekannt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Quelle nennen könnten.
Vizepräsident von Hassel: Noch eine Zusatzfrage? - Bitte schön, Herr Dr. Mertes!
Herr Staatsminister, sind seitens der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Versuche gemacht worden, die Sowjetunion zur freiwilligen Unterstellung ihrer Kernenergieanlagen unter IAEO-Kontrolle - analog zu dem Verhalten der Vereinigten Staaten und Großbritanniens - zu bewegen?
Herr Abgeordneter, wir haben unsere Auffassung in dieser Frage zum Ausdruck gebracht, und zwar auch in diesem Bundestag, und haben das selbstverständlich auch in den Gesprächen entsprechend verwertet. Am 20. Februar hat die Bundesregierung bei der Ratifizierung des NV-Vertrages erklärt - das darf ich hier wiederholen -, daß wir von der Sowjetunion erhoffen, daß auch sie sich eines Tages bereitfinden wird, dem Beispiel der USA und Großbritanniens zu folgen und ihre friedlichen Zwecken dienenden Kernanlagen freiwillig Sicherungsmaßnahmen der IAEO zu unterstellen.
Nur mache ich darauf aufmerksam, daß die Frage, um die es sich hier bei dem Kernkraftwerk handelt, eben nicht nur eine Frage ist, die etwa nur das Uran betrifft, sondern daß es sich hier um vier Elemente handelt, die der Genehmigung durch COCOM bedürfen, z. B. auch die Frage eines Prozeßrechners.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Engelsberger.
Herr Staatsminister, um auf Ihre Gegenfrage einzugehen: Meine Informationen habe ich aus der FAZ vom 14. Januar 1975. Dort ist zu diesem Problem, von dem Sie anEngelsberger
geblich keine Kenntnis haben, Stellung genommen worden.
Ist das eine amerikanische Quelle? Das war meine Frage.
Das ist ein Eigenbericht der FAZ.
Nun darf ich eine weitere Frage stellen. Ist die Bundesregierung der Ansicht, Herr Staatsminister, daß alle Vertragspartner des Atomsperrvertrages den gleichen Kontrollen unterworfen sein sollen, und gedenkt die Bundesregierung bei der anstehenden Revisionskonferenz in Paris dieses Ziel durchzusetzen?
Herr Abgeordneter, ich muß hier auf den Wortlaut des Vertrages eingehen. Der Vertrag sieht diese Gleichheit nicht vor. Wir haben hier in der Debatte betont, daß wir Wert darauf legen, daß sich alle Partner - die einen haben es ja schon freiwillig getan - möglichst in bindender Form aus wirtschaftlichen Wettbewerbsgründen - das ist das Entscheidende - den gleichen Kontrollen unterwerfen.
Gegenstand einer solchen Revisionskonsultation und einer internationalen Verhandlung zur Revision wird es sein, eben diese unsere hier in der Bundestagsdebatte dargelegten Ziele durchzusetzen. Wir
hoffen dabei auf die große Unterstützung aller unserer Verbündeten. Ich sage das mit allem Nachdruck. Denn eben dies ist ja in der Vergangenheit nicht das Selbstverständliche gewesen.
({0})
Das, Herr Mertes, ist ein weiteres Kapitel. Die Verbündeten müssen hier zunächst einmal eine gemeinsame Ausgangsbasis für die Revisionsverhandlung erarbeiten; die Vorbereitungen dafür sind im Gange.
Vizepräsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Wagner ({1}).
Herr Staatsminister, da die Hoffnung der Bundesregierung, die Sowjetunion möge sich freiwillig den Kontrollen unterstellen, diese offenbar nicht besonders beeindruckt hat, frage ich: Hat die Bundesregierung die Gelegenheit der Verhandlungen über die Lieferung dieses Atomkraftwerkes genutzt, um hei diesem Anlaß auf die Sowjetunion einzuwirken, daß sie sich den Kontrollen freiwillig unterstellen möge?
Herr Abgeordneter, ich bin nicht in der Lage, über solche Gespräche jetzt Einzelheiten auszubreiten. Aber nach Überzeugung der Bundesregierung ist die Lieferung dieses Kraftwerktyps unserem Verständnis der Sicherheitsbestimmungen nach - nicht
an die Unterwerfung unter die Sicherungsmaßnahmen zu binden. Daß diese unsere Meinung auch von maßgeblichen westlichen Staaten geteilt wird, zeigt Ihnen die Tatsache, daß z. B. Frankreich und andere zugestimmt haben. Wir wollen also hier nicht Dinge miteinander verbinden, die damit nichts zu tun haben. Das ist ein Kapitel für sich.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Ich darf Ihnen, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen danken.
Zur Klarstellung darf ich noch folgendes sagen. Die Richtlinien für die Fragestunde besagen, daß ein Fragesteller zwei Zusatzfragen bekommen kann, nicht mehr. Es war soeben bei einem Kollegen ein Zweifel entstanden; deswegen sage ich das hier. Darüber hinaus kann für andere Mitglieder dieses Hauses jeweils eine weitere Zusatzfrage zugelassen werden. Es ist nicht die Pflicht des Präsidenten, das zu tun; es hängt von der Geschäftslage ab. Ich habe einiges eingeschränkt, damit wir weiterkommen können. Ich habe hiermit also nur noch einmal in Erinnerung gerufen, wie das Verfahren ist.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf.
Die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 28 des Herrn Abgeordneten Biehle auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß selbst bei Insassen- und Unfallversicherungen über 30 000 DM bei Kraftfahrzeugen Kinder im Hochstfall mit 3 000 DM versichert sind, und was gedenkt die Bundesregierung entsprechend der Forderung des ADAC schnellstens zu tun, um eine Änderung dieser unzumutbaren Versicherungsbedingungen zu erreichen?
Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Haehser zur Verfügung.
Herr Abgeordneter Biehle, die in Ihrer Frage vertretene Auffassung, daß bei Unfall- und Insassenunfallversicherungsverträgen im Rahmen der Kraftfahrtversicherung Kinder auch bei Versicherungssummen von mehr als 30 000 DM im Höchstfall mit 3 000 DM versichert seien, trifft in dieser Form nicht zu. Die Beschränkung der Versicherungsleistung für Kinder auf 3 000 DM gilt nur für die Todesfallentschädigung. Im Invaliditätsfall bleibt es hingegen bei der vollen Versicherungssumme. Die Beschränkung gilt im übrigen bei allen Personenversicherungen für Kinder, nämlich bei Lebens-, Kinderunfall- und Insassenunfallversicherungen. Sie beruht auf einer Festsetzung des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen, die ihre Grundlage in den §§ 159 und 179 des Versicherungsvertragsgesetzes hat. Diesen Bestimmungen liegt der Gedanke zugrunde, daß bei jeder Personen9754
versicherung die Gefahr einer Spekulation mit dem Leben der versicherten Person besteht und daß diese Gefahr bei hilf- und wehrlosen Kindern besonders groß ist. Durch die Beschränkung der Versicherungssumme auf einen Betrag, der in etwa den Bestattungskosten entspricht, soll jede Spekulationsabsicht von vornherein ausgeschaltet werden.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Biehle.
Herr Staatssekretär, teilen nicht auch Sie die Auffassung des ADAC, daß die Beträge, wenn sie auf 3 000 DM im Todesfall beschränkt werden, den heutigen Verhältnissen nicht mehr angepaßt sind? Und würde die Bundesregierung bereit sein, ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß die entsprechenden Versicherungsbedingungen geändert werden und der Betrag - so ist die Vorstellung des ADAC - in etwa verdoppelt wird, damit wenigstens die echten Kosten einer Beisetzung und dessen, was damit verbunden ist, gedeckt werden können?
Herr Abgeordneter Biehle, für die Beurteilung der Frage, ob eine Versicherung im Hinblick auf die Kosten angemessen ist, sind die Unternehmen der Versicherungswirtschaft wohl maßgeblicher. Diese hätten Gelegenheit, an das Bundesaufsichtsamt für Versicherungswesen heranzutreten. Ich will die Unternehmen der Versicherungswirtschaft keineswegs ermuntern, ihnen aber doch den Rat geben, es gegebenenfalls zu tun.
Vizepräsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage.
Die Fragen 29 und 30 der Abgeordneten Frau Will-Feld werden auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Pfeffermann auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob aus Mitteln des Bundeshaushaltes ein Zuschuß zu den Übersiedlungskosten oder sonstigen Ausgaben des ehemaligen Studentenführers Rudi Dutschke gezahlt worden ist?
Herr Kollege Pfeffermann, Herr Dutschke hat aus Mitteln des Bundeshaushalts keinen Zuschuß zu Übersiedlungskosten oder sonstigen Ausgaben erhalten.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Pfeffermann.
Herr Staatssekretär, können Sie mit Gewißheit ausschließen, daß Mittel aus Kap. 01 01 Tit. 520 01 mit der Bezeichnung „Zur Verfügung des Bundespräsidenten für außergewöhnlichen Aufwand aus dienstlicher Veranlassung in besonderen Fällen" während der Amtszeit von Herrn
Dr. Heinemann an Herrn Dutschke gezahlt worden sind?
Herr Kollege Pfeffermann, die Antwort auf diese Ihre Zusatzfrage ergibt sich aus der Antwort, die ich Ihnen auf Ihre Frage gegeben habe.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Pfeffermann.
Herr Staatssekretär, können Sie mit Gewißheit ausschließen, daß aus irgendeinem anderen Titel des Bundeshaushalts Zahlungen - und zwar außerhalb der Förderung der
Heinrich-Heine-Stiftung an Herrn Dutschke geleistet worden sind?
Ich habe Ihnen gesagt - ich wiederhole jetzt die Antwort -: Herr Dutschke hat aus Mitteln des Bundeshaushalts keinen Zuschuß zu Übersiedlungskosten oder sonstigen Ausgaben erhalten.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Müller ({0}).
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs Aussagegenehmigung dafür zu erteilen, daß aus dem Geheimtitel des Auswärtigen Amts zur Zeit der Großen Koalition, als Altbundeskanzler Brandt Außenminister war, in mehreren Monaten vierstellige Beträge an Herrn Dutschke gezahlt worden sind?
Da es sich, Herr Abgeordneter, um Geheimtitel handelt, können Sie weder darüber Bescheid wissen noch hat die Bundesregierung Veranlassung, irgendwelche Genehmigungen zu erteilen.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Staatssekretär, können Sie denn ausschließen, daß Herr Dutschke öffentliche Mittel über die Vergabe von Forschungsaufträgen als Reisekosten oder sonstige Zuschüsse zu außergewöhnlichen Aufwendungen bekommen hat?
Ich bin nach Übersiedlungskosten gefragt worden, nach nichts anderem.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 32 des Abgeordneten Pfeffermann auf:
Trifft es zu, daß der ehemalige Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann während seiner Amtszeit dem ehemaligen Studentenführer der FU Berlin, Rudi Dutschke, einen namhaften Betrag aus Mitteln des Bundespräsidialamtes oder aus anderen Mitteln für Umzugskosten oder andere Ausgaben mit Gegenzeichnung der Bundesregierung zur Verfügung gestellt hat?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Herr Kollege Pfeffermann, es trifft nicht zu, daß Herr Bundespräsident Dr. Heinemann Herrn Dutschke einen Geldbetrag aus Mitteln des Bundespräsidialamts oder anderen öffentlichen Mitteln für Umzugskosten oder sonstige Ausgaben mit Gegenzeichnung der Bundesregierung zur Verfügung gestellt hat.
Vizepräsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Pfeffermann,
Herr Staatssekretär, wenn Sie hier feststellen, daß der ehemalige Bundespräsident keine Zuwendungen gezahlt oder veranlaßt hat, wie ist dann der Artikel im „Spiegel" zu verstehen, in dem solches in Aussicht gestellt wurde, bzw. der Artikel im Zeitmagazin vom 1. März 1974? Hierin heißt es:
Als Rudi Dutschke dem Präsidenten einen langen Brief voll des Dankes für eine Hilfe schrieb, entwickelte sich darauf eine dauerhafte persönliche Bindung. Heinemanns vierstelliger Zuschuß ({0}) zu Dutschkes Umzug von England nach Dänemark, sein Kontakt mit ihm - es ist wohl Hilfe aus recht verstandener Nächstenliebe, .. .
Oder wurde dieser Bericht - gegebenenfalls wann und von wem - widerrufen?
Herr Abgeordneter Pfeffermann, Sie haben Ihre beiden Fragen richtigerweise so formuliert, daß Sie um Auskunft bitten, ob Herr Dutschke einen Zuschuß aus Mitteln des Bundeshaushalts, des Bundespräsidialamtes oder aus anderen Mitteln mit Gegenzeichnung der Bundesregierung erhalten hat; denn für die Beantwortung nur dieser Frage bin ich zuständig.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Pfeffermann.
Herr Staatssekretär, aber ich habe Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, über die soeben schon angefragten anderen Titel dem Herrn Präsidenten des Bundesrechnungshofs die Genehmigung zur Aussage zu geben?
Was immer Sie fragen mögen, Herr Kollege Pfeffermann: Sie haben nach „Umzugskosten" gefragt. Dazu habe ich mit wohl an Präzision nicht zu überbietender Deutlichkeit gesagt: Solche Gelder sind nicht gezahlt worden.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, wäre es denn möglich, daß Herr Dutschke - ganz gleich, aus welchen Mitteln des Bundes - Unterstützungsgelder oder Gelder für Aufwendungen erhalten hat ohne Gegenzeichnung der Bundesregierung?
Nein, Herr Kollege.
Vizepräsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß Herr Dutschke von 1972 bis 1974 ein Stipendium der Heinrich-Heine-Stiftung in Höhe von monatlich 2 000 DM erhalten hat?
Vizepräsident von Hassel: Darf ich einen Moment unterbrechen. Es können nur Fragen aus dem Verantwortungsbereich der Bundesregierung gestellt werden. Ich weiß nicht, wieweit die Bundesregierung auf die Heinrich-Heine-Stiftung irgendeine Einwirkung hat. Es kann also nur nach der Verantwortlichkeit der Bundesregierung gefragt werden.
Herr Kollege, diese Frage richtet sich in der Tat nicht an eine Institution der Bundesregierung. Über private Mittel, die Herrn Dutschke zugeflossen sind, vermag ich Ihnen naturgemäß nichts zu sagen, ebenso wie ich über private Mittel, die einem Herrn des Hohen Hauses in New York abhanden gekommen sind, nichts zu sagen weiß.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Die letzte Bemerkung hatte nichts mit der Frage zu tun.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt ({1}) auf:
Teilt die Bundesregierung die Darstellung, die der Parlamentarische Unterstaatssekretär im britischen Umweltministerium ({2}), Neil G. Carmichael, dem britischen Unterhausabgeordneten Alf Bates am 29. November 1974 über die steuerliche Behandlung britischer Schülertransporte in der Bundesrepublik Deutschland erteilt hat, und hat die Bundesregierung die Absicht, bei etwaigen Regelungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel eine Änderung der steuerlichen Behandlung britischer Schülertransporte in der Bundesrepublik Deutschland hinzunehmen?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Arndt, die Bundesregierung teilt die von Ihnen zitierte Darstellung der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung britischer Schülertransporte in der Bundesrepublik Deutschland.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage teile ich Ihnen mit, daß der Entwurf einer Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie, den die EG-Kommission dem Ministerrat vorgelegt hat, keine Befreiung für Schülerbeförderungen durch ausländische Omnibusunternehmer vorsieht. Die EG-Kommission ist hierbei davon ausgegangen, daß die Umsatzsteuer eine allgemeine Verbrauchsteuer ist und daß deshalb Umsatzsteuerbefreiungen nach Möglichkeit vermieden werden müssen.
Die Bundesregierung teilt die Auffassung der EG-Kommission und würde deshalb eine Freistellung der ausländischen Omnibusunternehmer nicht befürworten können.
Aber unabhängig davon, Herr Kollege Dr. Arndt, darf ich darauf hinweisen, daß internationale Jugendbegegnungen aus Mitteln des Bundesjugendplans unmittelbar gefördert werden. Die Förderung beläuft sich auf 10 bis 14 DM pro Tag und Teilnehmer.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, haben Sie Verständnis dafür, daß es bei den britischen school-travel-services Arger erregt, wenn es nur eine Grenze in Europa gibt, nämlich die deutsche, wo solche Wegegebühren, wie sich das in britischen Augen darstellt, erhoben werden?
Herr Kollege Dr. Arndt, wenn es so wäre, hätte ich Verständnis dafür. Ich werde das nachprüfen lassen.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt.
Darf ich aus Ihrer ersten Antwort schließen, daß die Bemühungen sowohl der Mitglieder des britischen Unterhauses als auch des Bundestages nunmehr als endgültig gescheitert angesehen werden müssen, diese Belastung der britischen Schülertransporte zu beseitigen?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Dr. Arndt, diese Auslegung meiner Antwort liegt in der Tat nahe, zumal uns jetzt der Entwurf einer Sechsten Umsatzsteuernovelle der EG-Kommission vorliegt. Daran wäre die Bundesregierung gebunden.
Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Dr. Dollinger auf:
Trifft die Meldung des Handelsblattes vom 4. Januar 1975 zu, der seinerzeitige Generaldirektor des Volkswagenwerkes Prof. Dr. Kurt Lutz sei im Herbst 1971 ausgeschieden, weil durch die Bestrebungen der Bundesregierung und der Landesregierung von Niedersachsen, gegen sein Votum einen Personalchef ihres besonderen Vertrauens zu berufen, dem auch die leitenden Angestellten zugeordnet werden sollten, die -- inzwischen eingetretene - Gefahr drohte, daß künftig bei Personalentscheidungen nicht ausschließlich die fachliche Qualifikation des Bewerbers, sondern auch parteipolitische Erwägungen eine wichtige Rolle spielen würden?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär, bitte!
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Lieber Herr Kollege Dollinger, über das Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds entscheidet der Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit. Ihm gehörten seinerzeit wie heute zwei Vertreter des Bundes an. Für die Vertreter des Bundes waren die in Ihrer Frage genannten Motive nicht maßgebend. Ich habe auch keine Anhaltspunkte dafür, daß diese Motive die Haltung der übrigen Aufsichtsratsmitglieder bestimmt hätten.
Da in Ihrer Frage unterstellt ist, beim Volkswagenwerk drohe die Gefahr einer parteipolitisch beeinflußten Personalpolitik, darf ich eindeutig feststellen: Parteipolitische Erwägungen dürfen nach Ansicht der Bundesregierung weder beim Volkswagenwerk noch bei irgendeinem anderen Unternehmen mit Bundesbeteiligung die Personalpolitik bestimmen, und die Bundesregierung wird, soweit ihr dies möglich ist, verhindern, daß dies geschieht.
Ich würde es im übrigen im Interesse des Volkswagenwerks bedauern, Herr Kollege Dr. Dollinger, wenn durch Ihre Frage oder überhaupt durch den Umstand, daß wir hier über eine solche Entscheidung sprechen, ein gegenteiliger Eindruck entstünde. Dadurch würden wir die schwierige Situation des Volkswagenwerks sicher nicht erleichtern.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Dollinger.
Herr Staatssekretär, da genau das nicht meine Absicht ist, bin ich für die Antwort dankbar und stelle eine Ergänzungsfrage: Ist die Bundesregierung auch der Meinung, daß in den Aufsichtsräten, wo sie durch Entsendungsmandate vertreten ist, keine parteipolitischen Koalitionen gebildet werden sollten?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Ich bin genau dieser Auffassung, Herr Kollege Dollinger.
Vizepräsidet von Hassel: Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Dollinger.
Darf ich aus dieser Antwort auch schließen; daß die Bundesregierung bei der Nominierung der Kandidaten für ihre Entsendungsmandate nicht von parteipolitischen Gesichtspunkten ausgeht?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: So ist es. Das werden Sie an Hand eines Buches sehen, das ich demnächst der Öffentlichkeit vorstellen werde. Wenn Sie darin nachsehen, werden Sie eine Reihe von Kollegen aus Ihrer Fraktion in den Aufsichtsräten wiederfinden.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Wolfram.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß eine große Zahl führender Männer in bundeseigenen Unternehmen dein CDU-Wirtschaftsrat angehört?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: So ist es, und manchmal haben wir auch den Eindruck, daß einige Spenden aus diesen Quellen fließen.
Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Stavenhagen auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung dem Umstand Rechnung zu tragen, daß durch die außerordentlich hohen Preissteigerungen auf dem Goldmarkt hei Goldverarbeitern wie beispielsweise der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie große Scheingewinne auftreten?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Stavenhagen, es ist richtig, daß die hohen Preissteigerungen auf dem Goldmarkt auch zu hohen Gewinnen der Goldverarbeiter geführt haben, vorausgesetzt, daß das Gold zu niedrigen Preisen angeschafft und das verarbeitete Erzeugnis zu einem Preis verkauft worden ist, der dem gestiegenen Preisniveau entspricht. Solche Gewinne sind nach den steuerlichen Gewinnermittlungsgrundsätzen in der Bilanz auszuweisen und zu versteuern. Eine steuerliche Sonderregelung für diese Gewinne besteht nicht. Sie wäre auch mit dem Grundsatz einer gleichmäßigen Besteuerung und dem Nominalwertprinzip nicht vereinbar, weil die Verwendung dieser Gewinne ebenso im Ermessen des Steuerpflichtigen steht wie z. B. die Verwendung anderer steuerpflichtiger Einkünfte. Eine Sonderregelung für Gewinne aus der Veräußerung von im Preis gestiegenem Gold oder von Goldwaren würde außerdem sofort zu Berufungen auch bei anderen im Preis gestiegenen Waren führen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Stavenhagen.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß es sich bei der Durchschnittsbewertung des Goldlagers um Scheingewinne handelt, und nicht, wie Sie anführen, um echte Gewinne?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Stavenhagen, über diese Beurteilung gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß mich bei der Vorbereitung der Beantwortung dieser Fragen auch meine Ratgeber auf diese unterschiedliche Beurteilung hingewiesen haben.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Stavenhagen.
Herr Staatssekretär, wie gedenkt die Bundesregierung generell dem Problem Rechnung zu tragen, daß in der Steuerbilanz angesichts gleichbleibender hoher Preissteigerungsraten substanzerhaltend bilanziert werden kann?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Stavenhagen, ich nehme an, Sie können mit mir darin übereinstimmen, daß diese Frage doch sehr weit über die gezielte Frage, die Sie in Zusammenhang mit dem Goldpreis gestellt haben, hinausgeht. Ich werde mir erlauben, schriftlich auf Ihre Frage zurückkommen.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Stavenhagen auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Importwarenabschlag nach § 80 EStDV und die Preissteigerungsrücklage nach § 74 EStDV diese Scheingewinne nur unzureichend steuerlich berücksichtigen, und ist die Bundesregierung bereit, ein Verfahren einzuführen, wie es in Frankreich praktiziert wird, wonach ein betriebstypischer Bestand immer zum alten Preis bilanziert werden kann?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär!
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Stavenhagen, die Bundesregierung teilt - Sie wundern sich nicht - nicht die Auffassung, daß die steuerlichen Bestimmungen die Entstehung der von Ihnen beschriebenen Gewinne unzureichend berücksichtigen. Nach § 74 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung wird der Gewinn durch die Preissteigerungsrücklage zunächst neutralisiert; er braucht insoweit erst nach sechs Jahren versteuert zu werden. Dabei ist die Neutralisierungswirkung der Preissteigerungsrücklage regelmäßig um so höher, je höher die in einem Wirtschaftsjahr eingetretenen Preissteigerungen bei den am Bilanzstichtag vorhandenen Beständen sind. Durch das Instrument der Rücklage für Preissteigerungen wird deshalb gerade bei großen Preissteigerungen die Besteuerung der erzielten Gewinne am stärksten gemildert und damit der Ankauf neuer Vorräte am meisten erleichtert. Der starke Preisanstieg bei Gold im Jahre 1974 wird also bereits durch geltendes Recht berücksichtigt. Steuerliche Vergünstigungen für Gold und Goldwaren über die geltende Preissteigerungsrücklage hinaus wären nach Auffassung der Bundesregierung nicht gerechtfertigt.
Die geschilderte Sonderregelung für Waren, die im Preis erheblich gestiegen sind, erübrigt die Einführung der von Ihnen vorgeschlagenen Bewertung
eines betriebstypischen Bestands mit einem gleichbleibenden Preis. Die Regelung würde im übrigen zu einer Verfälschung des Bilanzbildes führen, weil die am Bilanzstichtag vorhandenen Bestände, soweit sie auch bei steigenden Preisen mit einem Festwert angesetzt werden, mit einem zu niedrigen Preis bilanziert würden. Bei fallenden Preisen könnten die Waren schon im Hinblick auf die handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Bewertungsgrundsätze nicht zum alten Preis bilanziert werden, weil nach diesen Grundsätzen auch nicht verwirklichte Verluste auszuweisen sind.
Neben einer Preissteigerungsrücklage kann ein Importwarenabschlag nach § 80 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung nicht in Anspruch genommen werden. Sinn und Zweck dieses Abschlags ist es nämlich, eine höhere Vorratshaltung zu fördern und Probleme bei bestimmten Importwaren mit wesentlichen Preisschwankungen zu mildern.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Stavenhagen.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß die gewerblichen Goldverarbeiter angesichts des sich stark erhöhenden Goldpreises bei konstantem Umsatz einen wesentlich erhöhten Kapitaleinsatz für Betriebsmittel benötigen, und sind Sie gegebenenfalls bereit, darüber nachzudenken, wie hier finanzielle Hilfen, insbesondere Zinsbeihilfen, ins Auge gefaßt werden können?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Stavenhagen, Sie haben Ihre Frage unglücklicherweise so gestellt, daß ich sie verneinen muß, denn wenn ich sie bejahte, würden Sie und andere Sie sind ja in der Branche tätig, wie ich mich habe erkundigen können - die Hoffnung auf Zinssubventionen erweckt sehen.
Vizepräsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage, Herr Dr. Stavenhagen.
Herr Staatssekretär, erwägen Sie, die Bundesbank zu ermutigen, über Goldverkäufe regulierend auf dem Goldmarkt einzugreifen oder, wie es in anderen Ländern geschieht, Kredite nicht in Form von D-Mark, sondern in Form von Gold, also Goldkredite an gewerbliche Verarbeiter zu geben?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Wir haben diese Erwägungen bis heute nicht angestellt.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 80 des Abgeordneten Marschall auf:
Verlangen die Zollbehörden von Mineralölfirmen, die eine Genehmigung für Steuerlager und Stundung von Mineralölsteuer beantragen, bankübliche Sicherheiten?
Bitte, zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Marschall, die Hauptzollämter sind nach geltendem Recht im Regelfalle nicht befugt, bankübliche Sicherheiten zu verlangen, wenn Mineralölfirmen Steuerlager beantragen. Sicherheit darf nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 a des Mineralölsteuergesetzes nur in „begründeten Ausnahmefällen" gefordert werden. Ein begründeter Ausnahmefall ist vor allem dann anzunehmen, wenn die Steuerbelange gefährdet erscheinen. Das läßt sich im Zeitpunkt der Antragstellung sehr selten feststellen, so daß die Lager in der Regel zunächst ohne Sicherheitsleistung zu bewilligen sind. Wenn sich dann eine Gefährdung der Steuerbelange abzeichnet, können Sicherheiten erfahrungsgemäß nicht mehr beigebracht werden.
Das Bundesfinanzministerium hat wegen dieser unbefriedigenden Lage beim Finanz- und beim Wirtschaftsausschuß des Bundestages anläßlich einer anderen Rechtsänderung angeregt, im Mineralölsteuergesetz vorzusehen, daß die Hauptzollämter grundsätzlich Sicherheiten fordern können, wenn Steuerlager beantragt werden. Durch Richtlinien für eine einheitliche Ermessensausübung, die im Einvernehmen mit der Mineralölwirtschaft - worauf ich ausdrücklich hinweisen möchte - ausgearbeitet werden sollen, soll sichergestellt werden, daß der korrekte Mineralölhandel sich durch die neue Regelung nicht schlechter stellt.
Zur Sicherheitsleistung bei der Stundung von Mineralölsteuer ist zu bemerken: Für eine Stundung verlangen die Hauptzollämter Sicherheiten, z. B. Bankbürgschaft. In der Regel wird jedoch Stundung von Mineralölsteuer erst beantragt, wenn der Schuldner seine Kreditmöglichkeiten ausgeschöpft hat und weder Sicherheiten für eine Bankbürgschaft noch Mittel für ihre Kosten vorhanden sind. Auch gegen diesen unbefriedigenden Zustand, Herr Kollege Marschall, auf den Sie in Ihrer Frage aufmerksam machen, kommt als Abhilfe nur in Betracht, daß Sicherheiten im Grundsatz gesetzlich schon früher angefordert werden dürfen, d. h. bevor im einzelnen Fall Stundung beantragt werden muß.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Marschall.
Herr Staatssekretär, wann ist mit der Gültigkeit dieser vorgeschlagenen neuen Regelungen zu rechnen?
Haehser Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Marschall, die Beantwortung dieser Frage liegt mehr in der Arbeit des Hohen Hauses als bei der Bundesregierung.
Vizepräsident von Hassel: Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich darf Ihnen für die Beantwortung danken, Herr Staatssekretär.
Vizepräsident von Hassel
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zunächst die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Dr. Jens.
Wird die Bundesregierung Gesetzesänderungen vorschlagen, um das Steuerrecht, Patentrecht oder Energierecht u. a. m. - wie es im Jahresgutachten 1974 des Sachverständigenrats, Tz. 350, angegeben wurde - so zu novellieren, daß von Gesetzesvorschriften in Zukunft keine konzentrationsfördernden oder wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen mehr ausgehen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.
Die Bundesregierung ist sich der Gefahr bewußt, daß gesetzliche Vorschriften gerade in den von Ihnen angesprochenen Rechtsbereichen wettbewerbspolitisch unerwünschte Wirkungen haben können. Sie achtet daher bei Gesetzesvorhaben ganz besonders auch auf diese Wettbewerbsaspekte und ist bestrebt, etwaige wettbewerbsbeschränkende Elemente bei der Neufassung bestehender Gesetze so weit wie möglich abzubauen. So wurden z. B. in der Steuergesetzgebung die konzentrationsfördernden Wirkungen der kumulativen Umsatzsteuer durch den Übergang zur Mehrwertsteuer seit dem 1. Januar 1968 beseitigt. Auch das wettbewerbspolitisch problematische „Schachtelprivileg" bei der Körperschaftsteuer wird durch die dem Parlament vorliegende Reform der Körperschaftsteuer abgeschafft. Im Energiebereich wird das geltende Energiewirtschaftsrecht von der Bundesregierung mit dem Ziel überprüft, den Wettbewerb auch in diesem Bereich zu stärken. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die wettbewerbspolitische Zielsetzung stets nur im Zusammenhang mit anderen anerkannten Zielen der Politik gesehen werden kann.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jens.
Herr Staatssekretär, wie sieht es denn mit den alten, bestehenden Bestimmungen in diesen Gesetzen aus, die vom Sachverständigenrat genannt wurden? Wollen Sie diese Bestimmungen unter Umständen auch ändern, so daß in Zukunft keine konzentrationsfördernden Wirkungen mehr von ihnen ausgehen können?
Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß wir selbstverständlich bei allen diesen Gesetzen die Frage der Konzentrationswirkung prüfen, daß aber natürlich auch in zahlreichen Fällen andere Gesichtspunkte dazu geführt haben, diese Gesetze nicht zu ändern. Ich möchte es vermeiden, hier durch Ankündigungen Hoffnungen zu erwecken, die etwa zu der Erwartung Anlaß geben könnten, es würde sich in absehbarer Zeit da oder dort etwas ändern lassen. Wir sind jedenfalls in vielen Bereichen in einem ständigen Prozeß der Überprüfung tätig.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jens.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung und auch Ihr Haus natürlich fest auf dem Boden der Marktwirtschaft stehen. Stimmen Sie mir aber darin zu, daß mit dieser Feststellung des Sachverständigenrates, Gesetzesvorschriften seien konzentrationsfördernd, zumindeest der Verdacht genährt werden könnte, daß die Bundesregierung bewußt die Konzentration fördert und damit die Prinzipien der Marktwirtschaft in Frage gestellt werden könnten?
Ich glaube, daß dieser Verdacht nicht auftreten kann, weil ja die Bundesregierung durch das verabschiedete Kartellgesetz in besonders eindrucksvoller Weise ihre Bemühungen unterstrichen hat, jeder Konzentrationsförderung in der Marktwirtschaft entgegenzutreten.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Dr. Jens auf:
Welche konkreten Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um entsprechend den Überlegungen des Sachverständigenrats ({0}) in privaten Wirtschaftsbereichen mit administrierten Preisen den Wettbewerb zu verstärken?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatsekretär!
Die Bundesregierung hat ihre grundsätzliche Haltung zu staatlich administrierten Preisen in den Grundsätzen für staatliche Preisregelungen im Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Ziele, die das Bundeskabinett am 6. Mai 1970 beschlossen hat, dargelegt. Sie hat hierin ähnlich wie der Sachverständigenrat in seinem letzten Jahresgutachten hervorgehoben, daß staatliche Preisregelungen die Ausnahme bilden müssen. Sie sind nur dann vertretbar, wenn die freie Preisbindung nicht zu den gewünchten Ergebnissen führen kann und wenn die angestrebten Ziele auch nicht mit indirekt wirkenden Mitteln zu erreichen sind.
Es ist daher auch preispolitisch unerläßlich, bestehende staatliche Preisregelungen immer wieder daraufhin zu überprüfen, ob sie ersatzlos aufgehoben, aufgelockert oder durch indirekt wirkende Maßnahmen ersetzt werden können. So wurden in letzter Zeit z. B. die Preisvorschriften für Düngemittel und für Milch aufgehoben. Durch Änderungen der Vorschriften über die Tarife der Kraftfahrtversicherungen wurden die Voraussetzungen für den Wettbewerb in diesem Bereich geschaffen.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin ihr besonderes Augenmerk darauf richten, um im Sinne der Überlegungen des Sachverständigenrates auf dem Gebiet der staatlichen Preisregelungen weitere Fortschritte zu erzielen.
Hierbei muß jedoch gesehen werden, daß jede Auflockerung oder gar Aufhebung staatlicher Preisregelungen eine eingehende Prüfung zahlreicher Faktoren, nicht zuletzt auch politischer Art, voraussetzt.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jens.
Herr Staatssekretär, nach Ihrer Antwort ist davon auszugehen, daß Sie nur dann von administrierten Preisen sprechen, wenn sie behördlich festgesetzt oder genehmigt werden, so wie der Sachverständigenrat das in seinem Gutachten definiert hat. Im Kartellbericht ist aber zum Ausdruck gebracht worden, daß wir auch dann von administrierten Preisen sprechen, wenn eben von privaten Unternehmen, die nicht mehr im wesentlichen Wettbewerb stehen, Preise festgesetzt werden. Diese Definition ist weitergehend.
Vizepräsident von Hassel: Herr Kollege Dr. Jens, ich darf Sie bitten, sich bei Zusatzfragen kurz zu fassen.
Welcher Begriffsbestimmung stimmt denn nun die Bundesregierung zu, der des Bundeskartellamts oder der des Sachverständigenrats?
Herr Kollege, ich habe natürlich die administrierten Preise gemeint und bin bei Ihrer Frage auch von den Preisen ausgegangen, die durch behördlichen Einfluß bestimmt oder gar festgesetzt werden. Über eine andere Art von administrierten Preisen habe ich hier nicht gesprochen. Hier ist ja aber das Kartellgesetz wirksam.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die administrierten Tariferhöhungen bei Bahn und bei Post vor allem, die anstehen, für einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Wettbewerbs?
Herr Kollege Höcherl, das ist nicht eine Frage des Wettbewerbs, weil es sich ja hier bekanntlich um Monopolunternehmen handelt.
({0})
- Bei der Bundesbahn doch mit Sicherheit; bei der Post gibt es Bereiche, die monopolartig sind. Die Preiserhöhungen dort sind einfach von der Kosten-. entwicklung her erzwungen worden, und ich glaube, wir sind uns einig, daß sie, wie immer man über Einzelheiten denken mag, im Grundsatz unausweichlich waren.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Dr. Jahn ({1}) auf. Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Fragen 40 und 41 des Abgeordneten Dr. Holtz auf. Sie werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Milz auf:
Werden bei der Förderung durch EG-Regionalfonds vorwiegend landwirtschaftlich strukturierte Gebiete, die mittelständische Wirtschaft und insbesondere Handel, Handwerk und Gewerbe bedacht und wenn ja, in welcher Weise?
Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Die Regelungen, nach denen die Mittel des von den Regierungschefs am 9. und 10. Dezember 1974 beschlossenen EG-Regionalfonds vergeben werden, liegen zur Zeit noch nicht fest. Nach deutscher Auffassung sollen diese Mittel im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und in Berlin eingesetzt werden. In diesem Rahmen werden auch vorwiegend landwirtschaftlich strukturierte Gebiete und die mittelständische Wirtschaft in den Fördergebieten bedacht.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Milz.
Herr Staatssekretär, heißt das konkret, daß bei der Hergabe dieser Mittel nicht überportional im Bereich der Industrie gefördert wird, sondern den besonderen Belangen des Mittelstandes, die ja in dieser Zeit noch deutlicher zutage treten als normalerweise, in ausreichender Weise Rechnung getragen wird?
Das ist der Fall, Herr Kollege, unter der Voraussetzung, daß das nach den von der EG noch zu erlassenden Richtlinien auch möglich ist.
Vizepräsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Milz.
Herr Staatssekretär, werden bei der Ausarbeitung dieser Richtlinien auch die Besonderheiten in den verschiedenen Bundesländern dadurch deutlich, daß die Länderregierungen an der Erarbeitung der Vorstellungen der Bundesregierung in ausreichender Weise beteiligt werden?
Die Bundesregierung hat die Hoffnung, daß diese zusätzlichen Mittel im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur vergeben werden können, und Sie wissen ja, daß die Länder an der Erarbeitung dieser Richtlinien beteiligt sind.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 43 des Abgeordneten Milz auf:
Wann kann mit der Festlegung der Modalitäten für die Bewilligung der Mittel aus dem EG-Regionalfonds, den die Regierungschefs am 9./10. Dezember 1974 in Paris beschlossen haben, gerechnet werden?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär, bitte!
Der Rat, in dem zur Zeit Irland den Vorsitz führt, wird ohne Zweifel auf eine beschleunigte Verabschiedung der Regelungen für die Bewilligung der Mittel des EG-Regionalfonds drängen. Angesichts zahlreicher noch offener Fragen läßt sich ein Termin für die Verabschiedung dieser Regelungen noch nicht nennen. Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um auf einen schnellen und sachgerechten Abschluß der Arbeiten im Rat hinzuwirken.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Milz.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, daß noch kein Termin genannt werden kann. Darf ich Sie bei aller Würdigung der Schwierigkeiten, die noch zu bewältigen sind, dennoch fragen, ob mit der abschließenden Beratung noch in diesem Jahr zu rechnen ist.
Davon kann man ausgehen.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff auf. Der Fragesteller bittet um schriftliche Beantwortung.
({0})
- Verzeihung! Ich bin bereit, Ihre Frage dann aufzurufen. Mir war jedoch mitgeteilt worden, Sie hätten schriftliche Beantwortung erbeten. Ich rufe also die Frage 44 auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngsten Preiserhöhungen der Ruhrkohle AG und der Saarbergwerke AG für Kraftwerkskohle, und wie kann die Angemessenheit der Preisanhebung im Hinblick auf das Dritte Verstromungsgesetz nachgewiesen oder nachgeprüft werden?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär, bitte!
Ich muß bekennen, daß ich nun doch etwas in Verwirrung geraten bin.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Sie verzichten auf die mündliche Beantwortung.
Dann rufe ich die Frage 45 des Abgeordneten Seiters auf:
Welche Folgerungen, z. B. in der Frage der Mittelverteilung und der Förderungspräferenzen, gedenkt die Bundesregierung aus der Tatsache zu ziehen, daß die Arbeitslosigkeit im nördlichen Emsland im Dezember i974 über 11 % gestiegen ist?
Herr Präsident, wenn Sie es erlauben, würde ich das anschließend sehr gern noch beantworten.
Vizepräsident von Hassel: Das können Sie anschließend tun. Zunächst einmal die Frage des Kollegen Seiters.
Die Bundesregierung betrachtet mit großer Aufmerksamkeit die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Schwierigkeiten, die sich aus den steigenden Arbeitslosenzahlen besonders für Gebiete mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit ergeben. Um bereits kurzfristig die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, hat die Bundesregierung in das Programm zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum bei Stabilität auch direkte arbeitsmarktpolitische Förderungsmaßnahmen mit einem Aufwand von 600 Millionen DM aufgenommen. Da diese Hilfen nur in Gebieten mit über dem Bundesdurchschnitt liegenden Arbeitslosenquoten gewährt werden, ist der besonderen Situation dieser Gebiete Rechnung getragen worden, soweit das möglich ist. Neben diesen unmittelbaren Arbeitsförderungsmaßnahmen wird es für die Stabilisierung der Beschäftigung in diesen Gebieten auch darauf ankommen, daß über die Investitionszulagen in verstärktem Maße zusätzliche Investitionen angeregt werden. Die regionalen Fördergebiete und damit auch das Emsland genießen dabei die besondere Förderungspräferenz eines kumulierten Zulagesatzes von maximal 22,5 bzw. 27,5 % der Investitionsaufwendungen.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Seiters.
Herr Staatssekretär, wie vereinbart die Bundesregierung diese ausweichende und angesichts der mir bekannten Mittelverteilung auch sehr unbefriedigende Antwort mit der Tatsache, daß das vom Bund und den Ländern gemeinsam entworfene Bundesraumordnungsprogramm speziell das Emsland als eines von neun besonderen Problemgebieten ausweist, die auf Grund ihrer infrastrukturellen und erwerbsstrukturellen Schwächen künftig stärker als bisher und vorrangig gefördert werden müssen?
Herr Kollege, ich kann nur darauf aufmerksam machen, daß unsere Konjunkturprogramme und unsere Möglichkeiten, die Sie hier ansprechen, ja in Abstimmung mit den Ländern eingesetzt worden sind und daß die Förderung dieses Raumes - ich bin gerne bereit, Ihnen anschließend Zahlen zu nennen - dieser besonderen Problemlage durchaus Rechnung trägt.
Vizepräsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Seiters auf:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung angesichts dieser Entwicklung ihr Verhalten bei der Vergabe der Mittel aus dem Konjunktursonderprogramm Dezember 1974, wonach vor allem aus den Etats des Bundesverkehrsministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums keine Mittel in den genannten besonders gefährdeten Raum fließen, bzw. nur in völlig unzureichendem Maße?
Die Bundesregierung hat sich bei der Auswahl der Maßnahmen des Dezember-Programms
auf wenige prioritäre Aufgabenbereiche konzentriert. Ein wesentlicher Gesichtspunkt war dabei, daß bei der Verfolgung der konjunkturpolitischen Ziele des Programms auch den energiepolitischen Erfordernissen Rechnung getragen werden sollte. Daraus erklärt sich der besondere Schwerpunkt „Verbesserung der Energieversorgung", darunter auch die einmaligen Sonderhilfen für Investitionen zur Steigerung der Produktivität im deutschen Steinkohlenbergbau. Naturgemäß konzentrieren sich diese Hilfen auf die Bergbauländer Nordrhein-Westfalen und das Saarland.
Was die Mittelaufteilung im Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr anlangt, so war sie vor allem an den Investitionsnotwendigkeiten des Bundes zu orientieren und an der schnellen Realisierbarkeit der Maßnahmen. Das nördliche Emsland wurde in diesem Rahmen mit dem Ausbau der B 70 in Emden mit 700 000 DM berücksichtigt. Welche Beträge insgesamt einzelnen Regionen zufließen, läßt sich noch nicht abschließend sagen, da bisher nur ein Teil der zusätzlichen Bundesausgaben regional aufgegliedert ist.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Seiters.
Herr Staatssekretär, vielleicht gestatten Sie mir zunächst die Korrektur, daß Emden mit dem nördlichen Emsland überhaupt nichts zu tun hat, sondern in Ostfriesland liegt, und vielleicht gestatten Sie mir dann auch wegen der ausweichenden ersten Antwort, weil es um die konkrete Mittelverteilung geht, die Zusatzfrage: Ist sich die Bundesregierung eigentlich angesichts der außergewöhnlich hohen Arbeitslosenquote im nördlichen Emsland und angesichts der Aussagen des Bundesraumordnungsprogramms darüber im klaren, daß in der Öffentlichkeit Unruhe auch wegen der Tatsache entstanden ist, daß bereits aus dem September-Programm von den 250 Millionen DM kein Pfennig in dieses besonders gefährdete Gebiet mit über 11 % Arbeitslosigkeit geflossen ist?
Herr Kollege, ich kann nur noch einmal daran erinnern, daß die Bundesregierung zum Maßstab ihrer beiden Konjunkturprogramme vom Frühjahr und vom Herbst die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit genommen hat und daß dabei alle überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffenen Gebiete entsprechend berücksichtigt worden sind. Sie hat das allerdings gegen den Widerspruch der CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause getan, die hier in erstaunlicher Weise den polemischen Angriff des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg unterstützt hat, der dieses Kriterium einer überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit, dem zehn Länder zugestimmt hatten, abgelehnt und mit dem Vorwurf verbunden hat, Baden-Württemberg werde benachteiligt. Man muß das, glaube ich, auch einmal deutlich politisch sagen.
({0})
Vizepräsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage, der Abgeordnete Seiters.
Herr Staatssekretär, da ich leider als Fragesteller jetzt nicht die Möglichkeit habe, zu Ihrer letzten Bemerkung Stellung zu nehmen, muß ich mich an dieser Stelle auf die Frage beschränken: Wie hoch muß die Arbeitslosigkeit im nördlichen Emsland werden, bis die Bundesregierung sich auf die Aussagen des Bundesraumordnungsprogramms besinnt und besondere direkte Investitionen in diesem Gebiet fördert?
Herr Kollege, es ist nicht möglich, daß die Bundesregierung über das, was wir getan haben, hinaus in einzelnen Bezirken direkt investiert, außer in Absprache mit den betreffenden Ländern. Wir haben in unserem neuen Konjunkturprogramm in Abstimmung mit den Ländern durch die Freigabe der freiwilligen Konjunkturausgleichsrücklagen den Ländern Möglichkeiten finanzieller Art eröffnet, hier etwas Zusätzliches zur Belebung der Wirtschaft zu tun. Sie wissen, daß die Länder von dieser Möglichkeit allerdings nach ihrer unterschiedlichen finanziellen Leistungskraft - Gebrauch machen.
Vizepräsident von Hassel: Ich rufe nun die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngsten Preiserhöhungen der Ruhrkohle AG und der Saarbergwerke AG für Kraftwerkskohle, und wie kann die Angemessenheit der Preisanhebung im Hinblick auf das Dritte Verstromungsgesetz nachgewiesen oder nachgeprüft werden?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär!
Kohlepreiserhöhungen unterliegen nicht der Aufsicht des Bundesministers für Wirtschaft. Es gehört zur alleinigen Verantwortung der Unternehmen, zu entscheiden, wie sie ihre Preispolitik auf die Gegebenheiten des Energiemarkts abstellen.
Das Ausmaß der Anfang Januar vorgenommenen Preiserhöhungen liegt im Durchschnitt über 10 %. Die Ruhrkohle AG hat diese Preiserhöhung aus unternehmerischer Sicht für erforderlich gehalten und erklärt, daß die jetzt geltenden Preise, jedenfalls für Kraftwerkskohle, für das gesamte Jahr 1975 gehalten werden sollen. Die Preiserhöhung solle die seit der letzten allgemeinen Preiserhöhung im Mai 1974 eingetretenen sowie die im Laufe des Jahres 1975 erwarteten Kostensteigerungen abdecken.
Die Bundesregierung bedauert, daß die Preiserhöhung kurz nach der Verabschiedung des Konjunkturprogramms der Bundesregierung vorgenommen wurde. Sie verkennt andererseits nicht, daß die in der Fortschreibung des Energieprogramms vorgesehene Aufrechterhaltung der derzeitigen Förderkapazitäten die Unternehmen des Steinkohlenbergbaus zu erheblichen Investitionsaufwendungen zwingt. Diese Aufwendungen müssen trotz der Investitionshilfen der öffentlichen Hand auch über den Preis finanziert werden.
Eine Sondersituation besteht bei der Preisbildung der Kraftwerkskohle. Hier wird im Rahmen des Dritten Verstromungsgesetzes geprüft, ob die Preiserhöhung eine unangemessene Preisentwicklung im Sinne des Gesetzes darstellt.
Die zur Ausführung des Dritten Verstromungsgesetzes vorgesehenen Richtlinien werden zur Zeit vorbereitet. Ein von Steinkohle- und Elektrizitätswirtschaft in Auftrag gegebenes Gutachten eines namhaften Betriebswirtschaftlers, mit dessen Fertigstellung Ende dieses Monats zu rechnen ist, wird für die Ausarbeitung der Richtlinien herangezogen werden. Das Gutachten zielt darauf ab, für den Ausgangspunkt der neuen Verstromungsregelungen den kostendeckenden Preis der Kohle zu ermitteln und die für die Kostenentwicklung maßgeblichen Faktoren in einer Formel zusammenzufassen. Die Richtlinien werden alsbald nach Vorlage des Gutachtens vor ihrer Verabschiedung dem Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages vorgelegt werden. Sie werden dann auch auf die jüngste Preiserhöhung der Unternehmen des Steinkohlenbergbaus Anwendung finden können.
Vizepräsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Herr Staatssekretär, dürfen wir davon ausgehen, daß es bei der in der Vergangenheit bekundeten Absicht bleibt, wonach die Richtlinien, die auf den Ansätzen des Schwantag-Gutachtens basieren sollen, so ausgestaltet werden, daß auch objektive Kriterien die Berechtigung des Kraftwerkskohlenpreises festsetzen und daß es nicht nur auf die Kostengestaltung der am unmittelbaren Zustandekommen dieser Kosten Beteiligten ankommen darf?
Es bleibt bei dieser Absicht, Graf Lambsdorff.
Vizepräsident von Hassel: Ich lasse weitere Zusatzfragen nicht zu, weil wir die Fragestunde bereits um fünf Minuten überzogen haben.
Ich gebe bekannt, daß folgende Fragen von den Fragestellern zurückgezogen worden sind: die Fragen 56 und 57 des Abgeordneten Maucher, 65 und 66 des Abgeordneten Dr. Wagner ({0}), 67 und 68 des Abgeordneten Breidbach, 77 und 78 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister, 81 und 82 des Abgeordneten Dr. Kempfler, 83 und 84 des Abgeordneten Lemmrich und Frage 87 des Abgeordneten Memmel.
Wir sind am Ende der Fragestunde angelangt. Die heute nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kehren zur Fortsetzung der Aussprache über die Tagesordnungspunkte 6 und 7 zurück, Beratung des Sozialbudgets und des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes. Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Franke ({1}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Glombig hat heute morgen in seiner Rede dem Kollegen Dr. Götz vorgeworfen, Herr Kollege Götz habe hier zu einer Diffamierung der Sozialhilfe angesetzt. Ich glaube und ich hoffe, daß der Kollege Glombig etwas überhört und hier nicht falsch aus dem Gedächtnis zitiert hat. Der Kollege Götz hat heute morgen gesagt, daß die Relation der Sozialhilfe zu anderen sozialen Leistungen heute im Grunde genommen ungesund sei, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auf der anderen Seite eine Menge Beitragszahler stehen, die nach 40jähriger Beitragszahlung oft weniger erhalten, als die Sozialhilfe heute leistet. Ich glaube, man darf keinem Kollegen hier unterstellen, daß er die Sozialhilfe - sie hat eine ganz wichtige Funktion in unserer sozialen und gesellschaftlichen Ordnung - diffamieren will. Vielmehr hat Herr Dr. Götz das, was ich hier gesagt habe, ausgeführt. Er hat es nicht so gesagt, wie es der Herr Kollege Glombig interpretiert hat.
Ein Zweites! Der Kollege Glombig hat sich sehr lange mit den Leistungsverschlechterungen - z. B. auch während der Zeit der Großen Koalition - auseinandergesetzt; er hat aber dabei ganz vergessen zu sagen, daß es der jetzige Bundeskanzler war, seinerzeit noch als Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, der in einem Leserbrief an cien „Spiegel" sich mit dafür verantwortlich erklärt hat, daß der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag während der Zeit der Großen Koalition - z. B. auch zur Sanierung der öffentlichen Haushalte - eingeführt worden ist. Ich wiederhole noch einmal: das ist in einem Leserbrief an den „Spiegel" zu lesen, seinerzeit von dem damaligen Fraktionsvorsitzenden, dem jetzigen - und, ich hätte beinahe gesagt: zur Zeit noch amtierenden - Bundeskanzler Schmidt an den „Spiegel" geschrieben.
Dann die Frage der zweiten Rentenreform! Der Kollege Glombig hat gesagt, die Christlich Demokratische Union sei gegen die flexible Altersgrenze gewesen. Damit hat er doch, glaube ich, entweder etwas gesagt, was er nicht richtig weiß, oder er hat hier bewußt etwas falsch wiedergegeben. Im Jahre 1972 hat nämlich die damalige Opposition an dem Tage, als über die Fragen der zweiten Rentenversicherungsreform abgestimmt worden ist, durch das Wegbleiben des damaligen Mitgliedes der sozialdemokratischen Fraktion und ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Schiller einen Tag lang die Mehrheit hier im Hause gehabt, und sie hat in namentlicher Abstimmung - gegen die sozialdemokratische Fraktion - die Vorziehung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr durchgesetzt und der flexiblen Altersgrenze zugestimmt. Das wäre ohne die Christlichen Demokraten im Jahre 1972 gar nicht möglich gewesen.
Dann sagte der Kollege Glombig, daß in der Zeit von 1949 bis 1969 keine sozial- und gesellschaftspolitischen Gesetze verabschiedet worden seien. Ich habe einen Mitarbeiter gebeten, einmal zusammenzustellen - das hat er jetzt auf die Schnelle in der Mittagspause gemacht -, welche sozial- und gesell9764
Franke ({0})
schaftspolitischen Gesetze wir in den .Jahren 1949 bis 1969 - auch in der Koalition mit der SPD und vorher in der Koalition mit der FDP und auch in der Zeit, wo die CDU die absolute Mehrheit hatte, von 1957 bis 1961, in diesem Bereich - ich kann sie gar nicht alle zur Verlesung bringen verabschiedet hat. Es sind zum Beispiel:
1. Das Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen aus dem Jahre 1954; 2. das Kindergeldanpassungsgesetz vom 7. Januar 1955; 3. das Kindergeldergänzungsgesetz vom 23. Dezember 1955; 4. das Kindergeldkassengesetz aus dem Jahre 1961 und 5. das Bundeskindergeldgesetz aus dem Jahre 1964. Weiter, meine Damen und Herren: 6. das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle; 7. das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle; 8. das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung; 9. das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung; 10. das Gesetz über die Bemessung der Höhe der Arbeitslosenfürsorgeunterstützung aus dem Jahre 1951; 11. das Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung aus dem Jahre 1957; 12. das Schlechtwettergeldgesetz - das ist ein entsetzlich langer Titel - aus dem Jahre 1959; 13. das Mutterschutzgesetz aus dem Jahre 1953; 14. das Bundessozialhilfegesetz aus dem Jahre 1961;
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15. das Gesetz über die Rentenversicherung, d. h. die erste Rentenversicherungsreform aus den Jahren 1956/57 für Arbeiterrenten, für die Angestellten- und für die Knappschaftsversicherung; 16. das Gesetz zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk; 17. das Gesetz über eine Altenhilfe für Landwirte. Das ist alles in der Zeit verabschiedet worden.
Ich kann die Aufzählung noch weiter fortsetzen, z. B. 18. um das Bundesvermögensbildungsgesetz;
19. die Gesetze zur Wohnungsbaufinanzierung, das erste Wohnungsbaufinanzierungsgesetz aus dem Jahre 1951 und das zweite aus dem Jahre 1957;
20. das Selbstverwaltungsgesetz; 21. das Mitbestimmungsgesetz aus dem Jahre 1951; 22. das Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahre 1952.
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- Wir jedenfalls haben damals ein solches Gesetz noch zustande gebracht, während Sie - die Koalition - ganz offensichtlich unfähig sein werden, ein solches Gesetz jetzt zu verabschieden.
Aber die Diskussion kann heute nicht geführt werden, wenn wir über die Fragen des Sozialbudgets sprechen und über das Achtzehnte Rentenanpassungsgesetz, ohne auch noch etwas mehr, als der Bundesarbeitsminister es getan hat, über die Hintergründe der allgemeinen Belastbarkeit in der Sozialversicherung zu sprechen. Von Ihnen ist das Wort geprägt worden, Herr Arendt, daß wir jetzt an den Grenzen der Belastbarkeit angelangt seien. Ich kann
Ihnen im Grunde genommen zustimmen, daß wir an den Grenzen angelangt sind.
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- Herr Minister, warten Sie ab, ob Sie mir gleich auch noch zustimmen werden. - Ich darf das als Gewerkschafter und Arbeitnehmer wie aber auch im Hinblick auf die Kostenentwicklung in den Unternehmungen sagen und darf jedem empfehlen, heute einmal „Die Welt" zu lesen, in der Albert Müller einen sehr beachtenswerten Artikel unter der Überschrift geschrieben hat: „Auch höhere Sozialbeiträge gefährden die Arbeitsplätze."
Herr Minister, das Wort von den Grenzen der Belastbarkeit haben Sie, glaube ich, hauptsächlich auf die Rentenversicherung bezogen, indem Sie gesagt haben, die 18-%-Grenze sei für Sie - und wahrscheinlich auch für andere Sozialpolitiker der Koalition - nicht angreifbar. Das bedeutet aber, daß dort notwendige Beitragserhöhungen z. B. auf die Krankenversicherung oder aber auf die Arbeitslosenversicherung verlagert werden. Wenn Sie zu dieser Frage ernsthaft Stellung nehmen wollen, dürfen Sie doch nicht nur die Rentenversicherung meinen, sondern müssen den gesamten Bereich der Sozialversicherung nehmen; Sie können die Krankenversicherung und die Arbeitslosenversicherung dann nicht ausschließen.
Auch hier, Herr Minister, stimmen Sie mir, wie ich jetzt gerade feststelle, zu. Aber die Konsequenz daraus haben Sie nicht gezogen, sondern Sie lassen einfach die Selbstverwaltungsorgane jetzt selbst entscheiden, wenn es angesichts der Kostensteigerungen, die auf die Krankenversicherungen zukommen, darum geht, die entsprechenden Beiträge beizutreiben. Das heißt also, Sie verlagern sozusagen die Schuld auf die Selbstverwaltungsorgane der Krankenversicherung,
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obwohl Sie und die Koalition hieran einen Teil Schuld oder die Hauptschuld tragen.
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Lassen Sie mich das hier einmal in Form von ein paar Zahlen sagen. Die Belastung in der Krankenversicherung, in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung ist ohnehin durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze gegeben. Es ist etwas, das wir alle in diesem Hause gewollt haben, daß die Beitragsbemessungsgrenzen angepaßt werden. In der Krankenversicherung wurde sie durch eine eben auch von uns allen gewollte Automatik auf 2 100 DM angehoben, in der Rentenversicherung auf 2 800 DM, und die Arbeitslosenversicherung hat neben der Tatsache, daß der Betrag für sie ohnehin ab 1. Januar 1975 von 1,7 auf 2 % angehoben worden ist, auch einen erhöhten Beitragsbemessungssatz, nicht gerechnet die leider notwendigen Beitragserhöhungen durch inflationäre Kostensteigerungen.
Ich habe hier - genau wie Sie alle sicherlich auch - einen Brief der Allgemeinen Ortskrankenkasse aus Freiburg im Breisgau. Wenn wir diese vielen Briefe, die uns in den letzten Wochen zugegangen sind, einmal zählten, würden wir sicher feststellen,
Franke ({6})
daß fast jedes Selbstverwaltungsorgan an irgendeinen Abgeordneten herangetreten ist und auf die bedrohliche Kostensteigerung
({7})
und die bedrohliche Beitragsentwicklung bei den Krankenversicherungsträgern hingewiesen hat. Die Allgemeine Ortskrankenkasse Freiburg im Breisgau stellt fest, daß - ich zitiere mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten - das defizitäre Geschehen die Legislativorgane der Kasse zwang, den allgemeinen Beitragssatz von bisher 10 v. H. ab 1. Januar auf 11,6 v. H. zu erhöhen. Ja, meine Damen und Herren, das sind über 11 % Beitragssteigerung bei dieser einen Kasse und bei vielen anderen Kassen; die Ersatzkassen mußten einen gleichen Schritt vollziehen. Hier kann man den Bundesarbeitsminister gar nicht aus der Verantwortung herauslassen. Wenn er von den Grenzen der Belastbarkeit spricht, kann er eben nicht nur die Rentenversicherung meinen, sondern dann muß er auch eine Aussage dazu machen, was die Bundesregierung zu der Frage der Steigerung und der Eindämmung der Kostensteigerung z. B. bei den Krankenversicherungsträgern meint. Das muß er hier sagen und nicht in einer Sonntagsrede, die er irgendwo einmal hält und mit der er die Situation in der Bundesrepublik verschönert darzustellen versucht.
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Die Bundesregierung bleibt also bei ihren Modellrechnungen in der Rentenversicherung bis zum Jahre 1988, und sie bleibt bei ihrem festen Satz von 18 %. Dazu schreibt z. B. - und auch das ist, glaube ich, ein Satz, den ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten Ihnen kurz zur Kenntnis bringen darf - Herr Müller - die sachverständigen Journalisten, die sich mit dieser Frage beschäftigen, heißen, glaube ich, alle Müller;
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- ja, wir haben auch einige sehr sachverständige
Kollegen namens Müller in unserem Ausschuß; selbstverständlich sind beide Mitglieder der CDU/ CSU-Fraktion ({10})
in der Zeitschrift „Die Ersatzkasse" unter anderem:
Die Bundesregierung hat daraus für den Bereich der Rentenversicherung die Konsequenz gezogen und ihre Modellrechnungen bis zum Jahre 1988 auf der Basis des jetzt gültigen Beitragssatzes in der Rentenversicherung in Höhe von 18 % angestellt.
Wie aber sieht es in der Krankenversicherung mit der Grenze der Belastbarkeit des Versicherten aus? Wer sich nicht illusionären Wunschträumen hingeben will, wird sehr schnell erkennen, daß sich in der Krankenversicherung ein Stop oder auch nur eine Verlangsamung der Kostenentwicklung nicht abzeichnet, daß wir
im Gegenteil im kommenden Jahr
- und das ist im Dezember des vergangenen Jahres geschrieben worden in der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung - und keineswegs nur bei den Ersatzkassen - zu einer massiven Erhöhung der durchschnittlichen Beitragssätze kommen werden.
Meine Damen und Herren, das ist eine Situation, die diese Regierung mit zu verantworten hat.
Während der Bundesarbeitsminister immer noch von den Grenzen der Belastbarkeit in der Sozialversicherung spricht, ergießt sich im Augenblick ein Sturzbach von Beitragserhöhungen über die Bürger - neben den negativen Folgen der von Ihnen immer noch apostrophierten „Steuerreform". Meine Damen und Herren, sprechen Sie jetzt einmal mit den Angestellten aus dem öffentlichen Dienst, die gestern ihren Gehaltszettel bekommen haben. Dann werden Sie feststellen, wie erschreckt sie darüber sind, wie sich die Steuerreform auch bei kleineren und mittleren Einkommen auswirkt. Um das zu erfahren, brauchen Sie gar nicht so weit zu gehen. Sie brauchen nur bei den Mitarbeitern der Fraktionen oder den Mitarbeitern - soweit es sich um Angestellte, Beamte oder Arbeiter handelt - dieses Hauses nachzufragen, dann sehen Sie, wie scharf die sogenannte Steuerreform hier zu einer Expropriation - aber nicht der Expropriateure, der Besitzende, sondern der im Grunde genommen Nicht-Besitzenden geführt hat.
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Und noch ist kein Ende der inflationären Entwicklung abzusehen. Hierbei ist auch die Vermehrung und die Verursachung von Kosten durch den Gesetzgeber zu sehen.
Sicherlich - das hat Herr Dr. Götz heute morgen auch gesagt - haben auch wir einer Reihe von sozialpolitischen Gesetzen in der Vergangenheit, und zwar aus guter Überzeugung, zugestimmt, auch wohl in dem Bewußtsein der Tatsachen und in dem Bewußtsein der Kostensteigerungen, die sich daraus ergeben. Man muß hier also die beiden Dinge - Kosten und Leistungen - miteinander abwägen. Wir haben zugestimmt: dem Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970, dem Krankenhausfinanzierungsgesetz aus dem Jahre, glaube ich, 1972, 1973 und dem Leistungsverbesserungsgesetz in der Krankenversicherung vom 19. Dezember 1973. Darüber hinaus haben wir auch dem Rehabilitationsangleichungsgesetz zugestimmt.
Nicht zugestimmt haben wir - auch hier werden Kosten verursacht - bei Ihren sogenannten kostenlosen Reformen, deren tatsächliche Kosten Sie dann auf die Sozialversicherung abwälzen. So haben wir z. B. der Änderung des § 218 des Strafgesetzbuches nicht zugestimmt. Da kommen massive Kosten auf die Krankenversicherung zu, die mit Ihrem pauschalen Abgeltungsbetrag an die Krankenversicherungsträger in keiner Weise abgegolten worden sind. Durch die Entscheidung in dem Bereich - nun wissen wir noch nicht, wie sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage entscheiden wird - haben Sie auch bei den KrankenversicherungsträFranke ({12})
gern - d. h. also bei den Arbeitern, den Angestellten, den Beamten und den freiwillig Versicherten - Kosten verursacht, die Sie hier zu verantworten haben. Diesem Gesetz haben wir nicht zugestimmt.
Das Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz liegt uns jetzt auf dem Tisch. So wie es hier jetzt vorliegt - meine Fraktion hat darüber endgültig noch nicht entschieden; ich mache hier also eine persönliche Aussage -, werden wir wahrscheinlich nicht zustimmen. Auch hier werden Kosten verursacht, die z. B. vom Verband der Ersatzkassen - allein für den Bereich der Ersatzkassen -für das Jahr 1976 auf 1,374 Milliarden DM beziffert werden. Das heißt in Prozenten ausgedrückt: Durch dieses von der Bundesregierung vorgelegte Krankenversicherungsweiterentwicklungsgesetz werden allein 0,9 % oder 1 % mehr Kosten verursacht.
Zurück zur Rentenversicherung! Die Rentenversicherungsträger halten die Modellrechnung der Bundesregierung weder für richtig noch fur aussagekräftig. So jedenfalls muß ich die Einlassungen des Verbandes der Rentenversicherungsträger und die Einlassungen verstehen, die der Präsident der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vor einiger Zeit sowohl in einem Gespräch mit uns als auch schriftlich von sich gegeben hat. Denn die Modellrechnung wird - auf 15 Jahre gerechnet - durch einen fünfjährigen Modellrechnungsrhythmus der Rentenversicherungsträger - so kann man es ausdrücken - realistisch ergänzt. Sie halten also diese Art Modellrechnung, wie Sie sie hier vornehmen, nicht für sehr realistisch. Um sich der realistischen Entwicklung anzupassen, stellen die Rentenversicherungsträger, für einen kürzeren Zeitraum, eigene Modellrechnungen an.
Schon die Veränderung der Zahl der Beschäftigten gegenüber der Vorausschätzung wird voraussichtlich rechnerisch und faktisch geringere Beitragseinnahmen am Ende dieses Jahres zur Folge haben. Bei all Ihren Prognosen, Herr Minister Arendt, die Sie in den vergangenen Monaten auch persönlich angestellt haben, gehen Sie im Grunde genommen, ohne daß Sie sich wahrscheinlich genau festgelegt haben - jedenfalls habe ich das nicht gehört und nicht gelesen -, von einer geringeren Zahl von Arbeitslosen aus, als wir sie heute tatsächlich haben. Das haben auch diejenigen getan, die Ihnen als Helfershelfer an die Seite getreten sind, die von Panikmache gesprochen haben, wenn wir gesagt haben, man sollte ins politische Kalkül aber auch einbeziehen, daß die Zahl der Arbeitslosen leider größer werden kann. Ich kann Ihnen nur sagen: Daß dieses Kind so tief in den Brunnen gefallen ist, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch darauf zurückzuführen, daß Sie in den vergangenen Monaten, weil Sie immer noch unter dem Wort „keine Panik machen" gestanden haben oder stehen zu müssen geglaubt haben, wahrscheinlich Hilfeleistungen unterlassen haben. Deswegen wurde dann auch entgegen Ihrer Annahme eine so große Zahl von Arbeitslosen - verzeihen Sie, das Wort in Gänsefüßchen gesagt - „produziert". Das ist Ihre Schuld, denn das geht auf Ihre Unterlassung der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und auf die Gefährdung der Arbeitsplätze zurück, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Das heißt aber für die Rentenversicherungsträger ganz konkret: weniger Beitragseinnahmen. 250 000 Arbeitslose - ich darf hier eine Faustzahl nehmen - „produzieren" - und dieses Wort jetzt wieder in Gänsefüßchen gesetzt - bei der Rentenversicherung pro Jahr 1 Milliarde weniger Beitragseinnahmen. Wenn Sie das auf 15 Jahre hochrechnen, kommen Sie auf einen Betrag, der mit Zins und Zinseszins wahrscheinlich in zweistellige Milliardenzahlen hineingeht, der dann für Leistungsverbesserungen der Rentenversicherung oder für die im Jahre 1988 in das Rentenalter Eintretenden als Leistungen nicht zur Verfügung steht. Meine Damen und Herren, nebenbei gesagt: 100 000 Arbeitslose brauchen pro Jahr 1 Milliarde DM Arbeitslosenunterstützung. Die Zahl der Nichtbeitragsleistungen an die Krankenversicherungsträger unmittelbar - das wird sicher ausgeglichen, das weiß ich wohl - ist von mir jetzt nicht zu quantifizieren; ich konnte diese Zahl nicht bekommen.
Für die Rentenversicherung haben wir vor kurzem ein Gespräch - ich sagte es eben - mit dem Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt gehabt und festgestellt, daß z. B. entgegen der im Rentenanpassungsbericht enthaltenen Annahme, der von Ihnen im Oktober vorgelegt worden ist, statt früher null Übertragungen von Summen aus der Angestelltenversicherung an die Arbeiterrentenversicherung im Jahre 1974 die Angestelltenversicherung eine Ausgleichszahlung in Höhe von 3 Milliarden DM leisten mußte.
Dazu wird - ich wiederhole, was Dr. Götz heute morgen gesagt hat - der für 1975 geplante Finanzausgleich in Höhe von 3,5 Milliarden DM heute schon von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - auch in Ihrem Hause gibt es darüber keinen Zweifel mehr - auf eine Höhe von 6 Milliarden DM beziffert. Das schätzt die Bundesanstalt für Angestellte. Die Arbeiterrentenversicherung, die das Geld empfangen soll, schätzt ihr Defizit im Jahre 1975 auf 7,6 bis 7,8 Milliarden DM. Das heißt, es ergibt sich ganz klar und eindeutig, daß Sie mit Ihrer billigen Formel von der Grenze der Belastbarkeit aus dieser Diskussion nicht herauskommen.
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In der Realität draußen haben die Beitragserhöhungsverschiebungen, die Unterlassung konkreter Maßnahmen durch diese Bundesregierung und die Unterlassung von Maßnahmen seitens der SPD und der FDP zur Folge, daß neben den Auswirkungen der „Steuerreform" durch Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung noch ein zusätzlicher Griff in die Tasche unserer Bürger getan wird. Sollten Sie eine klare und konkrete Vorstellung darüber haben, wie man diese Dinge beseitigen kann, darf ich Ihnen versichern, daß die Opposition bereit ist, auch unpopuläre Maßnahmen mit Ihnen zu tragen. Aber Sie können nicht im Sinne einer Arbeitsteilung sagen: Die OpFranke (Osnabrück
position muß jetzt erst einmal die unpopulären Maßnahmen vorschlagen, dann schlagen wir die guten vor. So kann es ja nicht sein. Sie müssen eine Konzeption vorlegen. Wir werden dann auch bereit sein, unpopuläre Maßnahmen zur Gesundung unserer Volkswirtschaft und zur Gesundung der Selbstverwaltungsorgane und der Kassen der Sozialversicherungsträger mitzutragen.
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Das Wort hat als Mitglied des Bundesrates Herr
Staatsminister Geissler, Rheinland-Pfalz.
Staatsminister Dr. Geissler ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird Ihr Einverständnis finden, daß Mitglieder des Bundesrates zu dem Komplex Sozialbudget das Wort ergreifen. Es gibt außer der Bildungspolitik sicher keine politische Materie, die in so eingreifender Weise die Belange der Länder sowie der Städte und Gemeinden berührt. Das Sozialbudget soll ja ein Spiegelbild der Bundessozialpolitik sein, soll Entscheidungshilfen, Orientierungshilfen bieten, unter Umständen auch Fakten aufzeigen, die zu Fehlentwicklungen in der gesamten Sozial- und Gesellschaftspolitik führen können. Angesichts dieser Zielstellungen des Sozialbudgets darf ich vielleicht am Anfang gleich eine skeptische Beurteilung des Sozialbudgets vorwegnehmen.
Milliardenbeträge, und seien sie noch so eindrucksvoll, können eben, wenn sie aneinandergereiht werden, noch keinen Aufschluß darüber geben, ob die Mittel der tatsächlichen Notlage unserer Bürger entsprechend verteilt, die Schwerpunkte der Sozialpolitik richtig gesetzt sind und ob Fehlentwicklungen eingetreten sind. Es ist als Orientierungs- und Entscheidungshilfe auch der Länder und Gemeinden wenig hilfreich, wenn in dem Sozialbudget im Grunde genommen mehr Buchhaltung und weniger Analyse der Ursachen für bestimmte sozial- und gesellschaftspolitische Entwicklungen enthalten ist. Im Rahmen des Sozialbudgets muß z. B. deutlich werden, wie es in der Bundesrepublik Deutschland, einem Staat mit über einer Billion D-Mark Bruttosozialprodukt, möglich sein kann, daß man heute als Arbeitnehmer, wenn man drei Kinder hat, 1 600 DM brutto verdienen muß, um in etwa über das Sozialhilfeniveau zu kommen, warum die Zahl der berufstätigen Mütter immer mehr zunimmt, obwohl die Zahl der Mütter mit Kindern abnimmt, ob es darauf zurückzuführen ist, daß viele Familien mit einem Einkommen unterhalb des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens nicht mehr in der Lage sind, mit dem Einkommen des Vaters allein über die Runden zu kommen, und aus diesem Grunde die Mutter zusätzlich zur Arbeit gehen muß und dadurch die gesamten Probleme der sogenannten partiell erziehungsunfähigen Familie - wie heute die Soziologen, auch viele Parteisoziologen vorwurfsvoll sagen - entstehen, ob diese Ursachen zu dieser gesellschaftspolitisch negativen Entwicklung geführt haben, mit allen Konsequenzen, die wir heute haben, mit der Forderung, diese partiell erziehungsunfähige Familie durch gesellschaftliche Einrichtungen zu ersetzen. Die Situation der Witwen ist im Sozialbudget in keiner Weise dargelegt worden. In der Arbeiterrentenversicherung liegt die durchschnittliche Witwenrente bei 391 DM im Monat, und - um diesen Einwand gleich vorwegzunehmen - ausweislich des Ergebnisses des Mikrozensus 1971 müssen von den Beziehern einer Witwenrente in der Arbeiterrentenversicherung 70,4 % ausschließlich von dieser einen Rente leben. Ich glaube, daß solche exakten Zahlen, die auf die reale Problematik der Bürger in unserem Lande bezogen sind, deswegen notwendig sind, weil allein daraus Konsequenzen für eine auf die einzelnen Probleme unserer Gesellschaft abgestellte Sozialpolitik gezogen werden können. Ein Sozialbudget, das im Grunde genommen auf diese wirklich vorhandenen Fragen keine Antwort gibt, ist wenig hilfreich, ganz abgesehen davon, daß von den brennenden Problemen der Jugendarbeitslosigkeit oder von ähnlichen Fragen - das gilt nicht für die Rede des Herrn Bundesarbeitsministers heute morgen - im Budget selber nicht die Rede ist.
Meine Damen und Herren, es wird immer wieder der Versuch unternommen, diejenigen, die es wagen, den Finger auf die Wunden zu legen, als Horrormaler, die ein unwirkliches Bild zeichnen, abzutun. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wenn man dem Bundesrat, wenn man anderen nicht glauI ben will, darf ich auf eine Äußerung des Bürgermeisters von Bremen, Herrn Koschnick, verweisen, der ausweislich der „Frankfurter Rundschau" vom 6. Januar 1975 z. B. in bezug auf die Sozialhilfe gesagt hat - ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten -:
An der verstärkten Inanspruchnahme von Sozialhilfe läßt sich ablesen, daß die Steigerung des Wohlstandes in vielen Bereichen Not und Hilfebedürftigkeit nicht hat beheben können.
So kommentierte der Städtetagspräsident diese Entwicklung. Koschnick charakterisierte die Sozialhilfe als einen „Spiegel" - ich zitiere -, „der Lücken, Mängel und Krisen der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch des Systems der sozialen Sicherung" wiedergebe.
Wenn das Sozialbudget Orientierungs- und Entscheidungshilfe sein soll, dann sollte eben in diesem Sozialbudget nicht nur der Ausweis schematischer einkommensumverteilender Leistungen und ihrer nominalen Zunahme enthalten sein, sondern dann muß deutlich gemacht werden, wo tatsächlich die Probleme liegen. Das Sozialbudget ist im Grunde genommen insoweit eben auch ein Spiegel der Bundessozialpolitik. Ich darf sie einmal etwas vergröbert als eine Politik charakterisieren, die versucht, allen etwas zu geben, und die dadurch Gefahr läuft, daß die Probleme pauschaliert, die Ansprüche standardisiert werden werden und daß infolgedessen diese Politik besonders gegenüber Minderheiten unempfindlich wird. Ich glaube, daß die Bundesregierung auch in dem Sozialbudget dieses Versäumnis begangen hat.
Staatsminister Dr. Geissler
Ich glaube, daß nicht gesehen worden ist - vielleicht wollte man es auch nicht sehen; ich kann es nicht beurteilen -, daß der Arbeitnehmer in der Regel z. B. von der primären Einkommensumverteilung, also vom Lohn, erkämpft und erarbeitet von den Tarifpartnern, allein nicht leben kann und daß wir neben dem Problem des sogenannten durchschnittlichen Arbeitnehmers in dieser Gesellschaft eine Fülle von Problemen haben, die es früher nicht in dem Maß gegeben hat: die Probleme der Frau zwischen Beruf und Familie mit der oft unerträglichen Doppelbelastung, des Kindes in einer Welt der Erwachsenen, der alleinstehenden Mütter, die oft gesellschaftlich diskriminiert und ohne Hilfe sind, die Probleme der Erhaltung der Erziehungsund Funktionsfähigkeit unserer Familien in unserer modernen Industriewelt, die Probleme der älteren Mitbürger, der älteren selbständigen Erwerbstätigen - das darf hier auch einmal gesagt werden -, deren soziale Sicherheit wesentlich schwieriger zu begreifen und darzustellen ist als die soziale Sicherheit des durchschnittlichen Arbeitnehmers, die Anpassung der Gesellschaft - so formuliere ich ganz bewußt, nicht umgekehrt - an die Probleme der Behinderten und Randgruppen, überhaupt die Probleme der Menschen, die nicht der Norm unserer Gesellschaft oder der Mehrheit entsprechen.
Ich glaube, daß solche Überlegungen zu den eigentlichen sozialen Problemen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts auch in einem Sozialbudget deutlich werden müßten, vor allem auch deswegen - ich darf diese Frage hier ebenfalls ansprechen -, weil die heutige Gesellschaft ohnehin dazu neigt, wenn Konflikte zwischen Stärkeren und Schwachen, Erwachsenen und Kindern, Arbeitsfähigen und Älteren, nicht mehr Arbeitsfähigen entstehen, diese Konflikte dem Trend nach immer zugunsten der Stärkeren, der Erwachsenen, und zu Lasten der anderen zu entscheiden. Da ist auch ein Problem der Demokratie angesprochen, eine Gesellschafts- und eine Staatsform, sicher die beste, die wir haben, die aber nach dem Prinzip der Mehrheiten lebt. Die Bereiche und die Gruppen, die ich eben angesprochen habe, sind im wesentlichen Minderheiten, die sich nicht auf organisierbare Mehrheiten abstützen können, auf starke Gruppen in dieser Gesellschaft, die in der Lage sind, ihre Interessen durchzuboxen, sondern die bestimmter Anwälte bedürfen. Im Grunde genommen gibt es in einer Demokratie keine anderen Anwälte, die so etwas tun können, als die Parlamente und die Regierungen.
Ich glaube, wir müssen uns einem Trend entgegenstellen, der zu diesen konkreten sozialen Problemen geführt hat, die ich gerade angesprochen habe. Das Recht des Stärkeren ist das Gesetz des Urwaldes, und die Demokratie darf nicht mit diesem Dschungelgesetz in Verbindung gebracht werden.
Das ist nicht nur meine Meinung. In der „Süddeutschen Zeitung" vom 2. Dezember 1974 ist dies verdeutlicht worden - ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren --, indem dort ausgeführt wurde:
Das Sozialbudget jongliert mit großen Zahlen,
aber über die konkreten Schwierigkeiten der
bedürftigen Minderheiten ist in dem Zahlenwerk nichts zu lesen. Für Hunderttausende ist das Auffangpolster der sozialen Sicherung alles andere als ein weiches Ruhebett. Viele der direkten Leistungen des Staates und anderer Träger sind nicht dynamisiert. Der reale Einkommenszuwachs fällt hier oftmals aus. Perfektioniert ist das System der sozialen Sicherung insbesondere in den wählerwirksamen Bereichen; in anderen gibt es empfindliche Lücken.
Dies ist nur ein Beleg aus vielen Zitaten von Fachleuten, von Journalisten, die die sozialpolitische Szenerie ähnlich beurteilen.
Ich glaube, das ist auch darauf zurückzuführen, daß wir im Grunde genommen eine nicht abgestimmte Einkommenspolitik in der Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist zur Zeit Mode geworden, z. B. über die ÖTV und Herrn Kluncker herzufallen, vor allem auch wegen der Tarifauseinandersetzungen im Frühjahr des letzten Jahres. Nur, meine Damen und Herren, das ist ja wohl - die Auseinandersetzung im Frühjahr des vergangenen Jahres mit den relativ hohen Abschlüssen - nicht nur auf die Ölkrise oder auf die Verteuerung des Benzins und aller möglichen anderen Dinge zurückzuführen, sondern die harte Haltung auf seiten der Gewerkschaft war doch auch darauf zurückzuführen, daß der Druck von der Basis der ÖTV nicht vom ledigen Postamtmann kam, der mit seinen 11 oder 12 % und real 4 oder 5 % plus gut über die Runden kommen konnte, sondern vom verheirateten Lokomotivführer mit drei Kindern, der, da das Sozialeinkommen dieses Mannes volle zehn Jahre hindurch nicht mehr angestiegen war, natürlich mit diesen prozentualen Lohnerhöhungen, abgestellt auf den einzelnen Arbeitnehmer ohne Familie, nicht mehr über die Runden kommen konnte. Infolgedessen wurde der Druck von der Basis her so stark, daß eben diese Lohnerhöhungen kamen. Das kam aber daher, weil die soziale Einkommenspolitik, für die die Bundesregierung zuständig gewesen wäre, über mehrere Jahre hinweg einfach nicht mehr funktionierte und insofern den Gewerkschaften Aufgaben zugeschustert wurden, die sie mit ihrem Instrumentarium der Tarifpolitik überhaupt nicht zu lösen in der Lage waren.
Aus dem Grunde muß man sehen, daß wir in unserer Gesellschaft in Zukunft eine abgestimmte Einkommenspolitik brauchen, d. h. eine abgestimmte Einkommenspolitik zwischen den Tarifpartnern auf der einen Seite und der Einkommenspolitik, für die der Staat, die öffentliche Hand verantwortlich ist, auf der anderen Seite. Das hat eben nicht stattgefunden. Man kann nicht davon ausgehen, daß wir jedes Jahr Tarifrunden haben und der eine Teil des Einkommens ständig erhöht wird, während der andere Teil des Einkommens, für cien der Staat verantwortlich ist, sich über Jahre hinweg überhaupt nicht bewegt. Dadurch entsteht soziale Demontage, dadurch entstehen soziale Minderheiten. Im übrigen wirkt sich das nachher konjunkturpolitisch schädlich aus. Es ist ganz selbstverständlich, daß durch eine verfehlte soziale Einkommenspolitik des Staates die
Staatsminister Dr. Geissler
Tarifpolitik ins Schleudern gerät. Das haben wir im
Frühjahr des vergangenen Jahres erleben müssen.
Ich möchte damit nur deutlich machen, daß von dem Sozialbudget im Grunde genommen auch Ansätze für Antworten auf diese wichtigen Fragen - und ich meine: die entscheidenden Fragen - hätten erwartet werden müssen. Solche Antworten sind nicht erfolgt; sie müßten in den Auseinandersetzungen im Bundestag und im Bundesrat nachgeholt werden.
Ich habe davon gesprochen, daß das Sozialbudget Entscheidungshilfe sein und Fehlentwicklungen aufzeigen sollte. Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch einmal auf das Problem der Horrorzahlen zu sprechen kommen, auf die Frage, welche Zahlen richtig sind und warum Zahlen vorgelegt worden sind. Auch ich habe meinen Beitrag zu den Zahlenwerken geleistet. Die Entwicklung in der Gesundheitspolitik, bei den Krankenkassen, innerhalb der gesamten Sozialversicherung ist ja nicht allein von mir, nicht allein von den Fachleuten, nicht allein vom Bundesrat, von der Christlich-Demokratischen Union als ein schwerwiegendes Problem dargestellt worden. „Die Welt" hat von einer schleichenden Katastrophe im Gesundheitswesen gesprochen. Es schien mir wichtig zu sein, auch mit den Zahlen, die vom Lande Rheinland-Pfalz vorgelegt worden sind, darzustellen, wie es in der Sozialversicherung aussehen wird, vor allem in der Krankenversicherung, wenn nichts geschieht.
Das ist zunächst einmal die Aufgabe, die erfüllt werden muß, während das Sozialbudget genau den umgekehrten Weg geht. Das Sozialbudget stellt eine Projektion, wie es in den kommenden Jahren sein soll, ohne jedoch zu sagen, wie das geschehen kann.
Wenn wir an die Lösung dieser schwerwiegenden Fragen herangehen, müssen wir nach meiner Meinung - um jetzt im Bild zu bleiben - zunächst die Diagnose erstellen, und zwar eine klare und richtige Diagnose, nicht jedoch eine falsche Diagnose, mit der sozusagen die Therapie vorweggenommen wird. Wir müssen zunächst wissen, woran der Patient krankt. Dann kann man an die Therapie herangehen. Aus diesem Grunde hat es gar keinen Sinn, diejenigen zu diffamieren und als Panikmacher zu bekämpfen, die die realen Zahlen auf den Tisch legen. Das bringt uns alle miteinander nicht weiter.
Im Gegenteil, wir müssen die Frage stellen: Warum hat denn eigentlich - und das ist doch noch eine berechtigte Frage - die Bundesregierung diese Zahlen nicht längst auf den Tisch gelegt?
({1})
Warum mußten im Grunde genommen nicht primär dafür zuständige Gremien ein solches Zahlenwerk erarbeiten? Ich meine, daß dies gerade im Rahmen des Sozialbudgets eine dringende Notwendigkeit gewesen wäre. Ich meine auch, daß die Zahlen, die wir vorgelegt haben, notwendig waren. Daß sie richtig gewesen sind, wird ja im Grunde genommen auch akzeptiert. Es hat niemanden - außer der Bundesregierung - gegeben, der ernsthaft die Richtigkeit der Zahlen bestritten hat.
Glücklicherweise haben sich bereits die ersten Auswirkungen gezeigt. Der Vorschlag der Konzertierten Aktion, den ich bei der Vorlage des Krankenversicherungsbudgets gemacht habe, ist dankenswerterweise inzwischen von der Frau Bundesminister Focke im Rahmen des Bundesgesundheitsrats aufgegriffen worden. Wir haben jetzt gehört, daß Stillhalteabkommen erwogen werden. Ich möchte die Frage stellen, ob, wenn wir den Stein nicht in das Wasser geworfen hätten, solche Konsequenzen überhaupt in die Diskussion gekommen wären.
({2})
Wenn ich mich jetzt auf das Stillhalteabkommen beziehe, von dem heute morgen ebenfalls die Rede gewesen ist, und es mit dem Vorschlag der Konzertierten Aktion in Verbindung bringe, meine ich, daß wir nicht versuchen sollten - das wäre ein gefährlicher Versuch -, in Klein-klein zu machen, da eine Reform anzugehen und dort eine Reform anzugehen. Wir sollten nicht so vorgehen, daß der eine Minister mit dieser Gruppe und eine andere Ministerin mit jener Organisation redet. Nach meiner Meinung können wir dieses schwerwiegende Problem der Entwicklung der Kosten in der Krankenversicherung nur gemeinsam lösen. Es handelt sich um eine gemeinsame Aufgabe, die von allen gelöst werden muß, vor allem schon deswegen, weil wir die Ursachen im einzelnen noch gar nicht kennen, die zu dieser Kostenexplosion geführt haben. Wir wissen noch nicht - das ist wissenschaftlich, politisch nicht erarbeitet -, welcher Teil dieser Entwicklung z. B. auf den medizinischen oder pharmazeutischen Fortschritt zurückzuführen ist, was durch i überhöhte Preise und Einkommen bedingt ist, welche Rolle eine eventuell medizinisch nicht erforderliche Inanspruchnahme durch die Versicherten spielt, ob unwirtschaftlich gearbeitet wird, wer welche Belastungen auf die gesetzlichen Krankenversicherungen abwälzt und wie die Entwicklung überhaupt weitergehen wird.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß das eine wichtige Aufgabe ist, die man nicht in Konventikeln lösen darf, sondern wo alle an einen Tisch müssen: die Bundesregierung, die Verbände, die Länder, die Gesundheitsministerkonferenz, die Gemeinden, die Ärzteverbände; ich umfasse alle, die in dieser Frage, vor allem was die Krankenversicherung anbelangt, eben eine wichtige Rolle zu spielen haben.
Ich glaube auch, daß es natürlich bei der schwerwiegenden Entwicklung der Krankenversicherung - das ist eben schon angesprochen worden - nicht angehen kann, daß von seiten der Bundesregierung auf die Krankenversicherung zusätzlich Kosten übertragen werden, die im Grunde genommen sachfremden Charakter haben. Es kann nicht angehen, von den Kosten der Abtreibung bis zur Übernahme der Krankenversicherung der Rentner in diesem Umfang sachfremde Aufgaben abzuwälzen. So werden wir einen Einstieg in die notwendige Reform der Krankenversicherung nicht erhalten.
Ich möchte in dem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß bei Überlegungen zur Eindämmung
Staatsminister Dr. Geissler
der Kostenexpansion man andererseits auch wird darauf achten müssen, daß sich die Konkurrenzsituation - und ich sage dies hier sehr bewußt am heutigen Tage - zwischen den einzelnen Kassenarten nicht ständig in preistreibenden Leistungsverbesserungen, etwa in Form von unterschiedlichen Vereinbarungen mit den Vertragspartnern, äußert. Hier wird die Pflege einer gewissen Solidarität innerhalb der gesamten gesetzlichen Krankenversicherungen sicher auch zu kostendämpfenden Entwicklungen führen können. Ich möchte das aber insbesondere an die Adresse der Freien Demokraten gerichtet sagen: Wettbewerb ja - aber ein Wettbewerb, der die Preise niedrig hält, und nicht ein Wettbewerb, der die Preise hochtreibt.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Tatsachen noch einmal zusammenfassen, ergibt sich folgendes:
1. Die Belastung der Bürger und der Wirtschaft mit Steuern, Sozialabgaben und Preisen hat ein Ausmaß erreicht, das große zusätzliche Belastungen für die nächsten Monate und Jahre als weitgehend unerträglich erscheinen läßt.
2. Auf der anderen Seite bleibt die Welt nicht stehen, und durch die Gründe, die ich dargelegt habe, entstehen insbesondere neue soziale Ungerechtigkeiten. Neue Armut und neue Randgruppen entstehen immer wieder. Wer hätte zum Beispiel vor einigen Jahren daran gedacht, daß wir einmal 100 000 jugendliche Arbeitslose haben könnten? Neue soziale Ungerechtigkeiten müssen korrigiert werden. Überfällige Reformanliegen, z. B. die breitere Streuung des Vermögens, und hier eben in dem Zusammenhang auch eine kostenneutrale - wenn irgend möglich kostenneutrale - Reform der Rentenversicherung, die insbesondere die eigenständige Sicherung der Frau in unserer Gesellschaft, z. B. in der Form der Partnerrente, mit einschließt, die Verbesserung der Situation der älteren Menschen, der Ausbau der Gesundheitsvorsorge.
Diese Probleme sind im Grunde genommen nach wie vor unerledigt. Wer diese beiden Punkte in der Tendenz akzeptiert - und, ich glaube, die meisten von uns werden dies tun -, muß einfach zu dem Schluß kommen, daß diese beiden Tatsachen nur dann unter einen Hut zu bringen sind, vor allem angesichts der wirtschaftlichen Lage, in der wir uns befinden, wenn man sich ernsthaft daranmacht, das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland durch Umstrukturierungen und Rationalisierungen gerechter und leistungsfähiger zu machen. Wir müssen den Versuch unternehmen, die Sozialversicherung auf den Prüfstand auch der ökonomischen Effizienz zu bringen. Sicher, das ist keine Aufgabe, die sehr rasch zu bewältigen wäre, und niemand kann heute Rezepte anbieten, die in der Lage sind, das Problem von heute auf morgen zu lösen. Aber die Analyse war notwendig.
Neu entstehende Ansprüche können sehr wohl anders gestaltet werden als bisher, und ich meine, angesichts des wahrhaftig nicht geringen Volumens des Sozialbudgets von 430 Milliarden DM im Jahre 1978 - so die regierungsamtliche Schätzung - darf dieser Gedanke nicht länger als abwegig betrachtet werden. Der Vorschlag der Partnerrente wäre z. B. ein solcher Vorschlag der Umstrukturierung unseres sozialen Sicherungssystems, dessen Verwirklichung allerdings Mut erfordert, der aber, so meine ich, viel mehr soziale Gerechtigkeit mit sich brächte, als wenn man es beim jetzigen System beließe.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einen Gedanken äußern, der schon in der Sozialenquete zum Ausdruck kam und der meines Erachtens in der Diskussion des Sozialbudgets nicht fehlen kann. Unter den vielen Gründen, die vor allem für die Kostenexplosion herangezogen werden können, darf etwas nicht vergessen werden, was damals schon sehr nachdrücklich in den Vordergrund gerückt worden ist: Dieses große System der sozialen Sicherung, das wir in der Bundesrepublik Deutschland haben - mit Sicherheit das im Vergleich zu allen Industriestaaten der Welt am besten ausgebaute System -, ist ja entstanden auf der Basis der Solidarität, man kann auch sagen: auf der Basis einer ethischen Gesinnung, der ethischen Gesinnung, die zum Ausdruck brachte, daß alle für den einen da sind, der in Not geraten ist und der sich selber nicht helfen kann. In der Sozialenquete steht der Satz, daß heute die Gefahr besteht, diese ethische Gesinnung, dieser ethische Grundgedanke sei für viele ersetzt worden durch den Anspruch des einzelnen auf eine kostenlose Leistung gegenüber einer anonymen Kasse, während die Gegenleistungen des einzelnen, der solidarische Beitrag des einzelnen, z. B. vom Arbeitgeber an eben diese anonyme Kasse mit der Lohnsteuer abgeführt, völlig aus der Wirtschafts- und damit auch aus der Verantwortungssphäre des einzelnen entschwunden ist. Wenn wir heute Probleme im Sozialversicherungssystem haben, so glaube ich, daß das auch darauf zurückzuführen ist, daß dieser geistige Bezug bei vielen verlorengegangen ist. Dabei möchte ich ausdrücklich sagen, daß dies nicht nur und nicht einmal in erster Linie für die Versicherten gilt, sondern nach meiner Meinung genauso z. B. für die Ärzte, für die pharmazeutische Industrie usw.
({4})
Wir müssen uns also daran gewöhnen, daß dieses Sozialversicherungssystem eine ethische Grundlage hat und nicht zum Selbstbedienungsladen derjenigen degradiert werden darf, die an diesem System beteiligt sind.
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Meine Damen und Herren, wenn das die gemeinsame Auffassung von Bundestag und Bundesrat sein könnte, glaube ich, daß wir zwar nicht von heute auf morgen, aber in absehbarer Zeit auch dieses Problem - wie andere früher - gut in den Griff bekommen können.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Arendt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten am Anfang dieser Legislaturperiode deutlich gemacht, daß wir zu Beginn der Legislaturperiode einen Sozialbericht mit unseren Absichten auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik und am Ende der Legislaturperiode so etwas wie eine Bilanz vorlegen wollten. Das werden wir auch tun. In der Zwischenzeit wird durch die Vorlage des Sozialbudgets über die finanziellen Auswirkungen der inzwischen eingetretenen Maßnahmen berichtet.
Verehrter Herr Kollege Geissler, nach Ihrer Rede komme ich zu dem Ergebnis, daß Sie nach dem Motto handeln: Sie lesen nur die Artikel, die Sie selber geschrieben haben, damit Sie nicht irre werden an der eigenen Auffassung.
({0})
Sie hätten sonst - das wissen Sie ganz genau - die Tatsachen zur Kenntnis genommen. Ich verwahre mich gegen den Vorwurf, die Bundesregierung verliere Minderheiten aus dem Auge. Ich denke, daß das Erfolgskonto dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen geradezu ein Musterbeispiel dafür ist, wie von Ihnen in der Vergangenheit vernachlässigte Gruppen auf einen möglichst hohen sozialen Stand gebracht worden sind.
({1})
- Das will ich jetzt gleich sagen, Herr Maucher; seien Sie nicht so aufgeregt!
300 000 Heimarbeiter - das ist eine Minderheit
in diesem Lande, und das fällt in den regionalen Bereich des Herrn Geissler - haben durch die Verabschiedung des Heimarbeitsgesetzes eine ganz gewaltige Veränderung ihrer Konditionen erlebt.
Ich nenne eine zweite Minderheit: Diejenigen Arbeitnehmer - ich habe das bei der Debatte gesagt, ich muß das leider wiederholen -, die in einem Unternehmen sind, das Konkurs macht - Konkurse gibt es schon seit mehr als hundert Jahren und wird es auch in der Zukunft geben -, und die ihre Löhne und Gehälter nach dem Konkursausfallgeldgesetz erhalten.
({2})
- Darauf kommt es doch gar nicht an! Es kommt darauf an, daß die Arbeitnehmer in der Vergangenheit neben dem Verlust ihres Arbeitsplatzes auch noch den Verlust ihrer erworbenen Lohn- und Gehaltsansprüche hinnehmen mußten. Das gibt es jetzt nicht mehr.
({3})
- Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage.
Ich möchte Ihnen eine weitere Minderheit nennen. Nehmen Sie das neue Schwerbehindertengesetz. Die Behinderten sind in unserer Gesellschaft
eine Minderheit, und wir haben in der Zeit der sozialliberalen Koalition eine Fülle von Maßnahmen - Herr Maucher, das wissen Sie ganz genau - für diesen Teil unserer Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen. Ich nenne die Rehabilitation, ich nenne die Öffnung der Rentenversicherung,
({4})
und ich könnte noch viele andere Dinge nennen.
Sie werden sehen, daß es sich wie ein roter Faden durch diese Politik der Bundesregierung hindurchzieht, daß Minderheiten einen möglichst großen Schutz erhalten haben. Deshalb, Herr Geissler, ist dieser Vorwurf nicht aufrechtzuerhalten; das Gegenteil ist der Fall.
Nun ist aber bei anderen Diskussionsrednern, meine Damen und Herren, ein wenig der Eindruck erweckt worden, wir hätten bei diesem Sozialbudget die Zahlen „geschönt" oder ein bißchen aufgefrischt oder wie man das auch immer nennen mag. Ich will Ihnen ganz offen sagen: ich halte gar nichts von solchen Dingen, und ich habe noch nie Verständnis dafür gehabt, daß man Zahlenspielereien zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung macht. Aber selbst wenn es jemanden gäbe, der so töricht wäre, mit solchen Zahlenspielereien einen besseren Eindruck machen zu wollen, dann muß ich dem sagen: So etwas geht gar nicht, denn alle Berichte, nämlich der Sozialbericht, der Rentenanpassungsbericht und der Jahreswirtschaftsbericht, und auch der Finanzplan werden nicht von einem Ressort gerechnet, sondern von interministeriellen Abstimmungskreisen und im Falle des Rentenanpassungsberichts sogar von einem Abstimmungskreis, in dem alle Beteiligten, auch die Rentenversicherungsträger, die Bundesbank und der Bundesrechnungshof, Sitz und Stimme haben. Wer glaubt, bei mehreren Dutzend Beteiligten und meist noch statistischen Fachleuten ließe sich ohne weiteres manipulieren, der wird doch schon von einer argen Verschwörungstheorie heimgesucht.
Herr Geissler, wenn Sie jetzt auf den Rentenbericht und auf die niedrigen Renten verweisen, dann wissen Sie doch als verantwortlicher Minister des Landes Rheinland-Pfalz ganz genau, daß wir keine Übersicht haben und Sie auch nicht, in welcher Weise in kumulativer Art mehrere Renten zusammentreffen. Die Tatsache, daß es 350-Mark-Renten gibt, sagt doch noch gar nichts darüber aus, welche anderen Einkommensbezüge der Betreffende erhalten kann. Wir wissen nur eines: daß jeder zweite Rentenempfänger mehr als eine Rente bekommt.
Nach dem Stabilitätsgesetz, das Sie 1967 mitbeschlossen haben, meine Damen und Herren von der Opposition, kann eine Bundesregierung gar nichts anderes veröffentlichen als Projektionen, und - mein Kollege Glombig hat das schon heute morgen ausgeführt - im Gegensatz zu Prognosen, die die wahrscheinliche Entwicklung darstellen sollen, müssen Projektionen so gerechnet werden, daß die Ziele des Stabilitätsgesetzes möglichst weitgehend erfüllt werden. Das heißt, hohe Preissteigerungen, hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Wachstum, unaus9772
gewogene Außenbeiträge dürfen nicht zur langfristigen Basis solcher Rechnungen gemacht werden. Das hat dieses Hohe Haus beschlossen, und Gesetze einzuhalten, die auch die Opposition mit eingeführt hat, das kann doch kein politischer Vorwurf sein.
Das gleiche gilt übrigens für die 15-Jahres-Rechnung zur gesetzlichen Rentenversicherung, meine Damen und Herren, deren Rechengrundlagen nicht von der Bundesregierung erfunden worden, sondern im Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetz von 1969 niedergelegt sind.
Weil das so ist und weil wir nichts zu verbergen haben, muß ich Sie auch noch einmal daran erinnern: ich habe am 24. April 1972 an Ihren damaligen Planungschef, den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hans Katzer, geschrieben und habe ihn aufgefordert, aus seinem Planungsstab Vertreter an diesen regelmäßigen Abstimmungsgesprächen teilnehmen zu lassen. Am 24. April 1972! Ich habe bis heute noch keine Antwort auf dieses Anerbieten bekommen.
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Ich denke, meine Damen und Herren, Sie wissen,
warum: weil es nämlich keine Manipulationen gibt.
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- Herr Maucher, ich werde in Zukunft eine Durchschrift des Briefes an Herrn Katzer auch an Sie schicken, damit Sie Bescheid wissen.
Ich will noch ein Wort zu den Alternativen sagen. Für den Ausschuß und für den Sozialbeirat werden ja auf Wunsch stets Alternativrechnungen angestellt. Das ist, da unsere Rechnungen von Computern durchgeführt werden, gar kein Problem von Zeit und Aufwand oder gar gutem Willen. Nur lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: die Bundesregierung ist doch in ,der Weise kein Beratungsgremium, sondern ein Entscheidungsgremium. Sie legt deshalb der Öffentlichkeit keinen Strauß von Rechnungen vor, sondern eine einzige. Wir sollten nicht so tun, als ob es eine Instanz gäbe, die die Entscheidung uns Politikern abnehmen könnte.
Der Vorsitzende des Sozialbeirates - das ist ganz interessant -, Herr Professor Meinholt, hat mir Ende des vergangenen Jahres einen Brief geschrieben, im Auftrage seiner Kollegen natürlich, und da hat der Sozialbeirat durch ,den Mund des Vorsitzenden mitgeteilt, daß er die Verantwortung für die Vorausberechnung nicht zu tragen wünsche. Mit Genehmigung ides Herrn Präsidenten darf ich aus diesem Brief diese Passage vorlesen, nicht den ganzen Brief -. Da heißt es:
Niemand kann Entwicklungen wie die der jährlichen Entgeltsteigerungen, die für das Ergebnis der Vorausberechnungen hochgradig entscheidend sind, für 15 Jahre prognostizieren. Man kann darüber nur Annahmen setzen. Dadurch gerade erhalten ja diese Rechnungen den Charakter der modellhaften Vorausrechnungen. Sie haben nicht den Charakter von Prognosen. Wichtig ist nur immer, daß diese Annahmen im Wahrscheinlichkeitsbereich bleiben. Unvermeidbar wird aber idurch die Setzung dieser Annahmen, zumal die Vorausberechnungen ja nicht auf dem Papier stehenbleiben sollen, eine politische Verantwortung in Richtung auf die Realisierbarkeit solcher Annahmen übernommen. Diese Verantwortung obliegt nach der Verfassung eindeutig der Bundesregierung. Der Sozialbeirat würde seinen Charakter als unabhängiges Gutachtergremium gerade dadurch verlieren, daß ihm einerseits solche Verantwortung übertragen würde, idaß er andererseits nicht die Möglichkeit hätte, sie zu verwirklichen. Dieser Gesichtspunkt spricht auch gegen Vorlage von Alternativen in der Hauptrechnung. Die theoretische Möglichkeit von Entwicklungen gerade der Entgeltsteigerungen liegt also in einem so breiten Wahrscheinlichkeitsbereich, daß bei alternativen Annahmen jeweils an der oberen und unteren Grenze des Wahrscheinlichkeitsbereichs das Ergebnis der Rechnungen unbrauchbar würde.
So weit der Vorsitzende des Sozialbeirats. In dieser Stellungnahme wird ganz deutlich, daß das, was auch durch die Initiative von Herrn Geissler im Bundesrat beabsichtigt war, nicht der Auffassung des Sozialbeirats entspricht.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu Herrn Franke sagen wegen der Krankenversicherung. Ich will hier nicht die Ratschläge an einen schlechten Redner von Kurt Tucholsky beherzigen, der gesagt hat: Nenne bei solchen Debatten zehn verschiedene Zahlen; dem Auditorium macht es Spaß, das zu behalten, und so hast du großen Erfolg. Das will ich gar nicht machen. Ich will nur sagen: das, was Sie gesagt haben, Herr Franke, bedeutet doch, daß ein Bündel von Problemen angesprochen worden ist, das hier gar nicht in diesem Zusammenhang in allen Einzelheiten erörtert werden kann. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie sind doch, das nehme ich an, wie ich ein Vertreter des Selbstverwaltungsgedankens. Dann wissen Sie doch auch, daß es eine Reihe von Kassen gibt, die in ihren Selbstverwaltungsgremien nicht nur Beiträge beschlossen und sich in der Öffentlichkeit auch laut über die zu erwartende Beitragsentwicklung geäußert haben, sondern die im gleichen Atemzuge auch Leistungsverbesserungen beschlossen haben. Alles erweckt so den Eindruck, als ginge das auf Maßnahmen zurück, die die Bundesregierung zu verantworten hätte.
({7})
- Herr Franke, lassen Sie mich das eben noch sagen. - Wenn ich bei anderer Gelegenheit von der Grenze der Belastbarkeit gesprochen habe, dann habe ich nicht nur von der Belastung in der Sozialversicherung gesprochen, sondern sowohl die steuerliche Belastung als auch die Belastung in der Sozialversicherung, in der Rentenversicherung, in der
Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung angeführt.
({8})
Damit Sie das endlich wissen - ich nehme an, Sie lesen das ja doch nicht so genau; vielleicht gilt für Sie auch das, was ich Herrn Geissler gesagt habe -, sage ich es noch einmal genau.
({9})
Ich habe ungefähr zum Ausdruck gebracht: Bei dem gegenwärtigen Einkommensniveau - das ist nämlich auch ganz wichtig - scheint mir die Grenze der Belastbarkeit der Versicherten - denn sie müssen es bezahlen fast erreicht, wenn ich die Belastung der Steuer, der Rentenversicherungsbeiträge, der Krankenversicherungsbeiträge, der Arbeitslosenversicherung sehe.
({10})
- Es wäre ganz gut, wenn die Arbeitnehmer das auch zahlen würden, damit sie starke und durchsetzungsfähige Interessenvertretungen erhalten. Es wäre gar nicht so schlecht, wenn das noch ein bißchen besser werden würde.
Aber ich habe hinzugefügt - ich habe das auch heute morgen gesagt -, daß wir alle miteinander sehr genau prüfen müssen, ob weitere Leistungsverbesserungen Wirklichkeit werden sollen, wenn sie einhergehen mit einer weiteren Belastung der Versicherten und der Arbeitnehmer.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke ({0})?
Bitte schön!
Herr Kollege Franke!
Herr Minister Arendt, darf ich in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß ich soeben auch ausdrücklich von der Verantwortung gesprochen habe, die wir bei einer Reihe von Gesetzen mit übernommen haben, die wir seit 1970 verabschiedet haben und denen auch die Opposition zugestimmt hat, und darf ich weiter in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß wir bei einer Reihe von Gesetzen auch ausdrücklich darauf hingewiesen haben, daß wir sie mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht tragen werden?
Herr Franke, ich freue mich immer, wenn Sie Verantwortung übernehmen und mit übernehmen wollen. Aber die Verantwortung, die Sie gerne haben möchten, nämlich die Verantwortung für die
Regierungspolitik, werden Sie vorläufig nicht kriegen.
({0})
Sehen Sie, meine Damen und Herren, um die Dinge einmal beim Namen zu nennen - ich höre ja gleich auf, Herr Franke -: Bis 1966 hatten Sie ganz allein die Regierungsverantwortung, und bis 1969 waren Sie die stärkste Fraktion und hatten auch in der Bundesregierung die Verantwortung. In dieser Zeit, von 1966 bis 1969, sind die Beiträge in der Krankenversicherung auf 10,5 % gestiegen. Wenn damals nicht die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer eingeführt worden wäre, die ein Senken der Krankenversicherungsbeiträge zur Folge hatte, dann wäre noch eine ganz exorbitante Steigerung eingetreten.
Ich will ja nur sagen: Das ist gar kein einfaches Feld. Alle Beteiligten sollen wissen, daß die Bundesregierung, auch der Arbeitsminister, die Probleme, die hier bestehen, nicht verkennt und daß wir uns wirklich Sorgen machen, wie wir die Probleme lösen können. Aber ich sage Ihnen: Für Effekthascherei ist dieses Gebiet bei Gott nicht geeignet.
({1})
Ich will meine Intervention ja gar nicht über Gebühr ausdehnen. Ich will Ihnen nur sagen: Weil Sie mich ja sowieso für einen parteilichen Zeugen halten, empfehle ich Ihnen, sich einmal an Ihren Generalsekretär, an Herrn Biedenkopf, zu wenden. Der hat nämlich, wie ich aus der Zeitung entnommen habe, vor einiger Zeit den Besitzstand der Bürger der Bundesrepublik Deutschland als den besten in der ganzen Welt bezeichnet.
({2})
Wenn ich aus der „Frankfurter Rundschau" vom 10. Januar 1975 zitieren darf - Sie werden mir das erlauben; das ist mein letztes Wort -:
Den gegenwärtigen Besitzstand der Bürger der Bundesrepublik hat der Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf, als den besten der ganzen Welt bezeichnet. Vor Journalisten in Bonn sagte der CDU-Generalsekretär am Mittwoch abend, den Menschen in der Bundesrepublik gehe es gut. Alle Anstrengungen müßten jetzt darauf konzentriert werden, diesen Besitzstand zu wahren. Unter diesem Gesichtspunkt
- so hat er fortgefahren müsse sich die Regierung auch die Frage stellen, ob es sich wirklich lohne, den Lebensstandard in der Bundesrepublik weiter zu verbessern.
Wenn ich von diesem letzten Absatz einmal absehe, würde ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, empfehlen: Hören Sie mehr auf Ihren Generalsekretär!
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage zu Punkt 7 der Tagesordnung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - federführend -, an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung sowie an den Haushaltsausschuß - mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung - zu überweisen. Für die Vorlage unter Nr. 6 der Tagesordnung schlägt Ihnen der Ältestenrat Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - federführend - und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie an den Haushaltsausschuß vor. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern ({0})
- Drucksache 7/2505 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Zur Begründung des Gesetzentwurfs hat der Herr Bundesinnenminister das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das in den vergangenen Jahrzehnten zersplitterte Beamten- und Richterversorgungsrecht wird durch das geplante Gesetz des Bundes über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern vereinheitlicht. Die Bundesregierung, aber auch der Bundesrat und die jeweiligen Verbände tragen das Gesetz mit. Es ist ein weiterer Schritt auf dem Wege, der mit der Einführung des Art. 74 a in das Grundgesetz eröffnet wurde.
Was der Entwurf des Zweiten Besoldungsvereinheitlichungs- und -neuregelungsgesetzes für die Besoldung bringen soll, wird durch den Entwurf des Beamtenversorgungsgesetzes für die Versorgung der Beamten und Richter geleistet: Mithin werden noch in dieser Legislaturperiode die Weichen ebenso für die Vereinheitlichung der Besoldung wie für die der Versorgung dieser bei Bund, Ländern und Gemeinden beschäftigten Bürger gestellt. Mit einem Beamtenversorgungsgesetz, das einheitlich und unmittelbar für Bund, Länder und Gemeinden gelten soll, lassen sich Ungereimtheiten der Versorgungsregelungen im Verhältnis von Bund zu Land, von Land zu Land und im Kommunalbereich in Zukunft ausschließen. Das Gesetz baut einen Damm auf gegen eine ungeordnete Entwicklung des Personalkostenanteils der öffentlichen Haushalte auch im Versorgungsbereich. Es ist ein weiteres unentbehrliches Instrument des Bundesgesetzgebers zur Steuerung der Personalkosten im öffentlichen Dienst. Auch im Beamtenversorgungsrecht können angesichts der
heutigen finanziellen Lage viele Wünsche auf Neuregelung nicht erfüllt werden, müssen viele Schritte in Richtung auf eine Neuordnung zunächst zurückgestellt werden. Nur mit einer solchen Vereinheitlichung jedoch kann in einer Zeit der knappen Kassen überhaupt etwas auf dem Gebiet des Versorgungsrechts bewegt werden.
Nach eingehenden Gesprächen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder ist zu den besoldungs- und versorgungsrechtlichen Regelungen die Erklärung vom 19. Dezember 1974 abgegeben worden. Danach sollen für die Zeit bis zum 31. Dezember 1976 im Bereich des öffentlichen Dienstes die Harmonisierung des Rechts zwischen Bund und Ländern im Vordergrund stehen und keine weiteren kostenwirksamen strukturellen Maßnahmen beschlossen werden. Wenn die Bundesregierung Einsparungsvorschläge auch beim Entwurf des Beamtenversorgungsgesetzes unterstützt, so solche, die eine Harmonisierung nicht behindern.
Die Einsparungsmöglichkeiten betreffen danach folgende im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehenen Neuregelungen: das volle Witwengeld für nachgeheiratete Witwen, den Anspruch auf Waisengeld für nach dem 65. Lebensjahr adoptierte Kinder, die Erhöhung der Höchstgrenze des Ausgleichs bei früherer Altersgrenze von 12 000 auf 14 000 DM, die Aufhebung des sogenannten Kumulationsverbots bei Unfallentschädigung und -ausgleich.
Die Einsparungsvorschläge ändern jedoch nichts daran - das möchte ich hier bei der Begründung ausdrücklich hervorheben -, daß das Beamtenversorgungsgesetz nach wie vor zum Positivprogramm der Dienstrechtsreform für diese Legislaturperiode gehört. In diesem Gesetzesprogramm sind bedeutsame Vorhaben für die Versorgungsempfänger enthalten. Ich nenne hier nur die vorgesehene Erhöhung des Beihilfebemessungssatzes für Versorgungsempfänger um 10 v. H. Sie wird zusammen mit der Anhebung des Pensionsfreibetrages und anderen Maßnahmen der Einkommensteuerreform und des Familienlastenausgleichs, die am 1. Januar 1975 in Kraft getreten sind, die wirtschaftliche Lage der Versorgungsempfänger entscheidend verbessern.
Diese jüngste Entwicklung der Gesetzgebung soll auch in das Gutachten zum Vergleich des beamtenrechtlichen Versorgungssystems mit dem Versorgungssystem der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes und der privaten Wirtschaft einbezogen werden, das von meinem Haus in Auftrag gegeben worden ist. Es wird spätestens zum 30. Juni 1975 vorliegen.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird den schon im Jahre 1971 erteilten Verfassungsauftrag des Art. 74 a des Grundgesetzes auch auf dem Gebiet des Versorgungsrechts der Beamten und Richter verwirklichen. Er wird mit seiner Vereinheitlichung des Beamten- und Richterversorgungsrechts mehr Rechtsgleichheit für unsere Beamten, Richter und Versorgungsempfänger in Bund, Ländern und Gemeinden bringen. Nicht zuletzt aber soll das Beamtenversorgungsgesetz auch einheitliche Ausgangspunkte für künftige Reformen des öffentlichen
Dienstrechtes auf dem Gebiet des Versorgungsrechts schaffen.
Die Verabschiedung des Gesetzentwurfs noch in dieser Legislaturperiode sollte nach der in der gemeinsamen Erklärung von Bund und Ländern zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Bundesregierung und der Regierungen der Länder zügig möglich sein. Andernfalls entfiele die Sperre für den Landesgesetzgeber, eigene Regelungen zu treffen. Das aber kann niemand wollen, der sich für mehr Rechtsgleichheit und damit auch für mehr Gerechtigkeit im Verhältnis der Versorgungsempfänger untereinander in unserem Lande einsetzt. Das Versorgungsrecht würde sich sonst weiter auseinanderentwickeln und letztlich höhere Kosten verursachen als ein einheitliches Recht. In einer Zeit der Stabilisierungspolitik - auch im Bereich der öffentlichen Haushalte - würde dafür niemand Verständnis aufbringen. Ich appelliere daher an das Hohe Haus, sich für eine schnelle Verabschiedung eines einheitlichen Beamtenversorgungsgesetzes einzusetzen.
({0})
Damit ist die Vorlage begründet. Ich danke dem Herrn Bundesinnenminister und eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Berger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast vier Jahren erhielt durch die Einfügung des Art. 74 a in das Grundgesetz der Bund die verfassungsrechtliche Zuständigkeit und den politischen Auftrag zur bundeseinheitlichen Regelung des Besoldungs- und Versorgungsrechts aller Beamten und Richter. Damit gaben die Länder, aber auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion des vorigen Bundestages, die durch ihre Zustimmung die Verfassungsänderung ermöglichten, dem Bund einen großen Vertrauensvorschuß: einen Vertrauensvorschuß in die Sachgerechtigkeit der Entscheidungen dieses Parlaments und nicht zuletzt in die Leistungsfähigkeit der Bundesregierung, von der wir die notwendigen gesetzgeberischen Vorarbeiten in erster Linie erwarten müssen.
Die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses haben sich seinerzeit für diesen Vertrauensvorschuß sehr stark gemacht. An der damit sehr bereitwillig übernommenen Führungsverantwortung des Bundes wird sich auch der nun nach so langer Zeit vorgelegte Entwurf eines Beamtenversorgungsgesetzes messen lassen müssen.
Die Fraktion der CDU/CSU wird dabei von dem grundsätzlichen Standpunkt ausgehen, daß die Versorgung der aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen Beamten und Richter und ihrer Hinterbliebenen zur erdienten Gegenleistung für ein Berufsleben im Staatsdienst gehört, auf die dem Grunde und der angemessenen Höhe nach ein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht. Für den modernen Rechts- und Verwaltungsstaat, der mit der unbedingt verfassungs- und gesetzestreuen Amtsführung seiner Beamten und Richter - kurz gesagt: mit ihrer Loyalität - steht und fällt, muß dann umgekehrt auch die loyale Erfüllung des Anspruchs auf die erdiente Gegenleistung selbstverständlich sein. Gerade die pensionierten Beamten und Richter, die ihre Leistung an den Staat schon voll erbracht haben, und ihre Hinterbliebenen sind auf diese selbstverständliche Loyalität des Staates in besonderem Maße angewiesen.
Dazu gehört in einer Zeit trabender Inflation vor allem, daß der innere Wert der Versorgungsbezüge durch volle Teilnahme an der Entwicklung der aktiven Dienstbezüge und damit mittelbar an der allgemeinen Einkommensentwicklung fortlaufend gesichert wird. In dem hierzu von der Regierung vorgeschlagenen Pauschalsystem, das auch bereits im Entwurf eines 2. Besoldungsvereinheitlichungs- und -neuregelungsgesetzes enthalten ist, sehen wir - bei allen Stärken und Schwächen jeder Pauschallösung - doch einen bemerkenswerten praktischen Ansatz.
Ich kann und will in dieser ersten Lesung die Prüfung des Entwurfs im einzelnen nicht vorwegnehmen. Lassen Sie mich aber schon jetzt zweierlei sagen:
1. Die Zeitdauer von fast vier Jahren bis zur ersten Lesung des Gesetzentwurfs entsprach sicherlich nicht den Vorstellungen, von denen wir alle im März 1971 bei der Einführung der Bundeskompetenz ausgegangen sind, zumal die Vorarbeiten in der Verwaltung schon seit nahezu sechs Jahren laufen. Ich will nun, da der Entwurf vorliegt, nicht unnötig über die Vergangenheit rechten, und ich räume auch gerne ein, daß die Materie kompliziert ist. Trotzdem muß gesagt werden, daß eine so lange Bearbeitungsdauer nicht dazu beiträgt, das Vertrauen in die Führungsfähigkeit des Bundes zu stärken. Das gilt um so mehr, als der Entwurf kaum große Neuerungen bringt, sondern sich weitgehend darauf beschränkt, sozusagen den Durchschnitt aus den geltenden Versorgungsvorschriften des Bundes und der Länder festzustellen und festzuschreiben. Die Regierung und die Mehrheit dieses Hauses müssen sich darüber klar sein, daß etwaige Rufe nach wieder neuen Kompetenzerweiterungen des Bundes nach diesen Erfahrungen auf verstärkte Skepsis stoßen werden.
2. Die Bundesregierung hat sich gezwungen gesehen, im Rahmen des sogenannten Moratoriums oder Stillhalteabkommens einen Teil des vorliegenden Gesetzentwurfs nicht rechtlich - das ist nicht möglich -, aber politisch zurückzuziehen. Der Herr Bundesinnenminister hat das soeben so formuliert, daß die Bundesregierung entsprechende Einsparungsvorschläge unterstützt. Ich lege auf diese Feststellung Wert, weil ich der Ansicht bin, daß derjenige, der einen Gesetzentwurf in das Gesetzgebungsverfahren einbringt und sich dann später korrigieren muß, hierfür auch klar und deutlich die Verantwortung vor der Öffentlichkeit und diesem Hause zu übernehmen hat.
Nach dieser Klarstellung und angesichts einer auf uns zukommenden Rekordverschuldung der öffentlichen Haushalte kann und wird die Opposition - ebenso wie alle elf Landesregierungen - der Teil9776
zurückziehung des vorliegenden Entwurfs im Grundsatz nicht widersprechen. Die gebotene parlamentarische Prüfung im einzelnen muß ich dabei den Ausschußberatungen vorbehalten.
Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu.
({0})
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Herr Abgeordneter Spillecke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung gebe ich für meine Fraktion folgende Erklärung ab.
Mit dem neuen Versorgungsgesetz soll die Versorgung in Bund und Ländern vereinheitlicht werden. Ebenso wie bei der Vereinheitlichung der Besoldung wird damit einem Auftrag des Grundgesetzes entsprochen, den der Bund mit der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für Besoldung und Versorgung im Jahre 1971 erhalten hat.
Die Reform des öffentlichen Dienstrechts läßt sich nur in Teilschritten vollziehen. Die Vereinheitlichung der Besoldung und der Versorgung stellt einen der Teilschritte dar. Nur ein in Bund, Ländern und Gemeinden vereinheitlichtes Besoldungs- und Versorgungsrecht wird dem Maßstab der Gerechtigkeit, gleiche Sachverhalte gleichzubehandeln, gerecht. Nur ein vereinheitlichtes Besoldungs- und Versorgungsrecht kann die Basis für weitere Reformschritte abgeben. Wir sehen es daher als unsere Aufgabe an, das Beamtenversorgungsrecht in Bund und Ländern, das sich über 20 Jahre auseinanderentwickelt hat, noch in dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zu vereinheitlichen. Im übrigen stehen wir hier auch unter einem gewissen Zugzwang. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes muß der Bund seine Gesetzgebungskompetenz in angemessener Frist in Anspruch nehmen, damit die Länder nicht für eigene Regelungen frei werden.
Das Beamtenversorgungsgesetz will die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern umfassend regeln. Es knüpft damit an Teilregelungen an, die bereits in vorangegangenen Gesetzen enthalten sind. Das Beamtenversorgungsgesetz ist Teil eines Gesamtpaketes beamtenrechtlicher Gesetze, das jetzt in einem zeitlichen Zusammenhang behandelt und im Bundestag verabschiedet werden wird mit dem Ziel, damit strukturelle Maßnahmen im Besoldungs- und Versorgungsbereich für diese Legislaturperiode grundsätzlich abzuschließen.
Es kann nicht verkannt werden, daß wir uns gegenwärtig in einer schwierigen Phase der Wirtschaftsentwicklung befinden. Diese schlägt sich in der Haushaltslage von Bund und Ländern nieder. Jede kostenwirksame Gesetzgebung muß daher in besonderem Maße Prioritäten setzen. Das gilt selbstverständlich auch für Gesetzesvorhaben, die den Bereich des öffentlichen Dienstes betreffen. Bund, Länder, Gemeinden, Gewerkschaften und Verbände
tragen in der gegenwärtigen Situation gleichermaßen Verantwortung.
Mancher mag an laufende Gesetzesvorhaben größere Erwartungen gerichtet haben. Wir sind jedoch überzeugt, daß wir auch mit einem breiten Verständnis der Betroffenen rechnen können, soweit die eine oder andere vielleicht sogar berechtigte Erwartung zur Zeit nicht erfüllt werden kann.
Die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern bei der Gesetzgebung im Besoldungs- und Versorgungsbereich kommt in der Erklärung der Bundesregierung und der Länder vom 19. Dezember 1974 zum Ausdruck. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt es, daß hier ein gemeinsamer Weg gesucht wird. Wir betrachten die Erklärung der Bundesregierung und der Länder als wichtige Hilfe für die Gesetzesberatung, und wir sind überzeugt, daß diese Erklärung nicht zuletzt zur sachlichen Erörterung in der Gesetzgebungsarbeit beitragen wird. Die Erklärung der Bundesregierung und der Länder sieht gegenüber dem Regierungsentwurf zum Beamtenversorgungsgesetz Einsparungsmöglichkeiten in Höhe von 33 Millionen DM vor, so daß sich danach die gegenwärtigen Kosten des Beamtenversorgungsgesetzes auf 37,1 Millionen DM belaufen würden. Auch bei diesen Einsparungen werden jedoch für die Versorgungsempfänger in diesem Entwurf noch erhebliche Verbesserungen vorgenommen.
Ich darf in diesem Zusammenhang z. B. daran erinnern, daß der Entwurf des Zweiten Besoldungsvereinheitlichungs- und -neuregelungsgesetzes ebenso wie der Entwurf des Beamtenversorgungsgesetzes das neue System zur Anpassung der Versorgungsbezüge und die Verbesserung der Versorgung bei der sogenannten Frühpensionierung vorsieht.
Das neue System zur Anpassung der Versorgungsbezüge, das strukturelle Verbesserungen im aktiven Bereich prozentual und pauschal auf die Versorgungsempfänger überträgt, ist notwendig, solange die Besoldungsneuordnung nicht durchgeführt ist. Diese Besoldungsneuordnung muß funktionsorientiert sein. Die gesetzliche Grundlage wird bereits im 2. BesVNG verankert werden. Wie auch die Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts empfiehlt, müssen letztlich strukturelle und quasi strukturelle Maßnahmen, die in der Vergangenheit nicht selten zu sachlich ungerechtfertigten Veränderungen der Besoldungsstruktur geführt haben, durch die erforderlichen linearen Erhöhungen ersetzt werden.
Besonderer Erörterung wird sicher Art und Weise der Regelung bei Frühpensionierung bedürfen. Hier stehen sich unterschiedliche Vorschläge der Bundesregierung und des Bundesrates gegenüber.
Die Pensionäre - das darf ich für meine Bundestagsfraktion hier sehr sachlich sagen, verehrter Kollege Berger - werden von den Koalitionsfraktionen in diesem Hause nicht vergessen. Wir sind der Auffassung, daß diejenigen, die ihre Arbeitskraft dem Staat zur Verfügung gestellt haben, auch einen Anspruch auf eine wirtschaftliche Sicherung im Altei von uns gewährleistet bekommen müssen.
Wir erwarten, Herr Bundesinnenminister, daß das Gutachten zum Vergleich des beamtenrechtlichen Versorgungssystems mit ,den Versorgungssystemen für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst und in der privaten Wirtschaft eine wichtige Hilfe für weitere Reformschritte sein wird. Wir begrüßen Ihren Hinweis, daß für unsere Beratung das Gutachten zum 30. Juni vorliegen wird. Die nächste Zeit sollte für gründliche Vorarbeiten in diesem Bereich genutzt werden.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der FDP-Fraktion gebe ich zu dem Entwurf eines Beamtenversorgungsgesetzes folgende Erklärung ab.
Zunächst eine allgemeine Erklärung: Es gibt Zeitpunkte, in denen ein Gesetzentwurf leicht einzubringen ist, und es gibt Augenblicke, in denen dies mit besonderen Problemen behaftet erscheint. Dabei brauchen die Probleme nicht einmal in der sachlichen oder politischen Schwierigkeit der abzuhandelnden Materie zu liegen. Es kann auch sein, daß die Probleme in einem Moment akut geworden sind und zu einer Lösung drängen, in dem eine allgemeine Meinung ich meine hier nicht, in diesem Hause - ganz andere Fragen als vordringlich ansieht.
So geht es jetzt mit allen Fragen, die mit der Neugestaltung des öffentlichen Dienstrechts einschließlich finanzieller Folgerungen für Besoldung und Versorgung zusammenhängen. Einen solchen Zusammenhang zu erkennen, fällt nicht schwer, wenn man beispielsweise daran denkt, daß in diesen Tagen die jährlichen Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst angelaufen sind. Solche Regelungen wie die hier vorgelegte erscheinen dann manch einem Betrachter draußen auf den ersten Blick wenig populär. Dennoch verfolgt der Entwurf eines Beamtenversorgungsgesetzes einen ebenso verfassungsrechtlich gebotenen wie nicht zuletzt auch beamtenpolitisch und finanzpolitisch vordringlichen Zweck.
Es war eine der bedeutendsten Änderungen des Grundgesetzes, als im Jahre 1971 durch Einführung des Art. 74 a dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für Besoldung und Versorgung der Beamten zugestanden wurde. Besoldung und Versorgung hatten sich nicht nur zwischen Bund und Ländern einerseits, sondern auch zwischen den einzelnen Ländern untereinander in unvertretbarem Maße auseinanderentwickelt. Die Unterschiede bei den einzelnen Gebietskörperschaften hatten oft zur Folge, daß die eine Verbesserung die andere in einem anderen Land sozusagen präjudizierte. Wirkungsvoll ist die Einfügung des § 74 a natürlich nur, wenn der Bund von seiner Kompetenz auch Gebrauch macht. Tut er dies nicht, werden ,die Länder in ihren Kompetenzen wieder frei mit der Folge, daß sich die Verhältnisse weiter auseinanderentwickeln. Ich nenne hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 1972 aus Anlaß des Ersten Hessischen Besoldungsanpassungsgesetzes. Jede verspätete Lösung wird, per Saldo gesehen, also für die öffentlichen Hände teurer sein. Dies meinte ich, als ich vorhin von der finanzpolitischen Zweckbestimmung des vorliegenden Entwurfs sprach.
So hat die Bundesregierung für den Sektor Besoldung das Zweite Besoldungsneuregelungsgesetz vorgelegt, das zur Zeit im Innenausschuß zur Beratung vorliegt, und mit dem vorliegenden Entwurf eines Beamtenversorgungsgesetzes folgt die entsprechende Regelung für die Bereiche der Beamtenversorgung nach.
Ich will jetzt in einer Erklärung zur ersten Lesung nicht die einzelnen Vorschriften näher darlegen. Im ganzen gesehen muß die Regelung für den Bund höhere Kosten als für die Länder und die Gemeinden bringen, weil die Versorgungsregelungen in den meisten Bundesländern schon bisher günstiger als im Bund waren. Ich nenne hier noch, was zum Teil nicht genannt war, für diesen Entwurf unter anderem folgende Regelungen: 1. Wegfall der zehnjährigen Wartezeit für Bundesbeamte, die in keinem Land nach keinem Landesrecht gilt, 2. Wegfall der Ruhensregelung bei Nichtdeutschen und Wohnsitz oder Aufenthalt im Ausland, 3. Vereinheitlichung des Rechts der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit, 4. Erweiterung der Dienstunfalltatbestände. Ich könnte noch einiges andere mehr nennen.
Insgesamt würden nach dem vorliegenden Entwurf für den Bund einschließlich Bundesbahn und Bundespost, wie schon genannt, Kosten in Höhe von 33 Millionen DM entstehen, bei den Ländern und den Gemeinden Kosten in Höhe von 27,1 Millionen DM.
Wie bei der Neuregelung des Besoldungsrechts hat auch hier die Bundesregierung, wie schon genannt, Verhandlungen mit den Ländern mit dem Ziele geführt, die Kosten für Besoldung und Versorgungsneuregelung bei Bund, Ländern und Gemeinden in Anbetracht der allgemeinen Haushaltslage möglichst niedrig zu halten und sie damit gegenüber den ursprünglichen Vorstellungen der einschlägigen Gesetzentwürfe, wenn möglich, zu senken. Diese Verhandlungen fanden schließlich ihren Ausdruck in der gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der Länder vom 19. Dezember 1974, wobei für den Bereich dieses Gesetzes die Rücknahme von Maßnahmen im Zuge einer Harmonisierung Minderausgaben von 33 Millionen DM zur Folge haben würde, wovon auf den Bund 20 Millionen DM entfallen. Ich meine, es gehört für einen Minister durchaus Mut zur Verantwortung dazu, dies bei der Einbringung eines solchen Gesetzes zu bekennen. Wir werden wie bei der Neuregelung der Besoldung auch die Versorgungsneuregelung unter diesen neuen Aspekten im Innenausschuß sorgfältig zu beraten haben, wobei es darauf ankommt, im Rahmen des Möglichen berechtigten Anliegen zu entsprechen und dabei auch den finanziellen Rahmen im Auge zu behalten, in dem dies möglich ist.
In diesem Sinne stimmt meine Fraktion einer Überweisung an den Innenausschuß und an die an9778
deren Ausschüsse zu. Wir sind uns darüber im klaren, daß sich dieser Entwurf im Rahmen dessen, was ich aufgezeigt habe, an den Erwartungen messen lassen kann.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in der ersten Beratung.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage -federführend - an den Innenausschuß sowie - mitberatend - an den Rechtsausschuß, den Verteidigungsausschuß und den Haushaltsausschuß, an letzteren auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung, zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Lenz ({0}), Erhard ({1}), Schulte ({2}), Dr. Hauser ({3}), Vogel ({4}), Sick und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 7/3055 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({5})
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Dr. Lenz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! „Der Einfluß der Parlamente muß gestärkt, und die Aktionsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten müssen verbessert werden." So heißt es im Berliner Programm der CDU. Unser Gesetzentwurf soll diese Forderung im Bereich des Verkehrsrechts verwirklichen. Er will den Erlaß z. B. von Straßenverkehrsregeln und Bußgeldvorschriften durch die Bundesregierung von der Zustimmung des Bundestages abhängig machen, und zwar wenn eine Fraktion oder eine entsprechende Anzahl von Abgeordneten aus mehreren Fraktionen dies wünschen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf die Drucksache.
Mit diesem Gesetzentwurf wird kein Neuland betreten. Ich erinnere beispielsweise an das Zolltarifgesetz aus dem Jahre 1951, an das Gesetz zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft und an das Stabilitätsgesetz, das ähnliche Konstruktionen für die Einschaltung des Bundestages bei Maßnahmen der Regierung vorsieht. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in den ersten Jahren seines Bestehens festgestellt, daß der Erlaß von Verordnungen an die Zustimmung des Bundestages gebunden werden kann.
Meine Damen und Herren, hier in unserem Bereich stehen nicht nur Verkehrsregelungen im technischen Sinne zur Debatte, sondern in den Augen vieler unserer Mitbürger auch Grundsatzentscheidungen von erheblicher politischer Tragweite, an
denen die Bevölkerung lebhaft Anteil nahm, ohne daß das Parlament eingeschaltet war.
Ein Beispiel ist die uns allen bekannte Diskussion über das Sonntagsfahrverbot vor einem Jahr. Dieses Sonntagsfahrverbot hat unsere Bürger tief berührt. Sein Nutzen war umstritten. Betroffen war vor allem das Fremdenverkehrsgewerbe. Damals ging es nicht nur um die Frage, ob Treibstoff überhaupt zwangsweise gespart werden sollte - damit waren die meisten Mitbürger ja einverstanden -, sondern es ging auch um das rechte Mittel dazu. Gestritten wurde darum, ob hier mit Verboten gearbeitet werden sollte oder ob der einzelne über den ihm zustehenden Treibstoff frei verfügen dürfe.
Auch die Einführung von Richtgeschwindigkeiten auf den Autobahnen kam ohne Mitwirkung des Parlaments zustande. Sie enthielt eine wichtige politische Entscheidung. Es war streitig, ob Höchstgeschwindigkeiten oder Richtgeschwindigkeiten festgesetzt werden sollten und wie hoch diese Geschwindigkeiten sein sollten. Kollegen aus allen Fraktionen dieses Hauses werden sich entsinnen, wie schwierig es war, der Bevölkerung klarzumachen, daß der Deutsche Bundestag in dieser wichtigen politischen Entscheidung kein Wörtchen mitzureden hatte. Ich darf in diesem Zusammenhang auf einen Artikel unseres Kollegen Dürr im „Sozialdemokratischen Pressedienst" vom 6. März dieses Jahres verweisen.
Neuerdings, meine Damen und Herren, sind drastische Erhöhungen des Verwarnungsgeldes angekündigt. Diese Frage hat den Bundestag bereits vor Weihnachten beschäftigt. Der Kollege Dreyer hat damals zu Recht darauf hingewiesen, daß die beabsichtigte Erhöhung der Verwarnungsgelder zwischen Bund und Ländern in Form einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift ausgehandelt worden ist. In diesem Zusammenhang ist der Vorwurf erhoben worden, der Bundesverkehrsminister habe sich auf Kosten der Länder aus seiner Verantwortung herauswinden wollen. Ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht, meine Damen und Herren, will ich hier gar nicht untersuchen. Er zeigt jedenfalls, daß im Parlament die politische Verantwortung klargestellt sein muß. Auch in diesem Bereich geht es um eine wichtige Frage, nämlich ob angesichts einer Entwicklung, die auf ein besseres Verkehrsverhalten der Autofahrer hindeutet, der mit der geplanten Erhöhung der Verwarnungsgelder vorbereitete Griff des Staates in das Portemonnaie des Autofahrers der richtige Weg ist, um dessen Verkehrsverhalten zu verbessern.
({0})
Meine Damen und Herren, hier wird manchmal die Theorie vertreten, daß empfindliche Strafen das Mittel zur Besserung menschlichen Verhaltens sind, während wir in anderen Bereichen doch immer hören, daß man im Grunde genommen den Menschen durch gutes Zureden bessern müsse. Ich will das hier nicht untersuchen. Das ist eine Frage, die
Dr. Lenz ({1})
ins Parlament und nicht nur in die Regierung gehört.
Außerdem hat der Kollege Dreyer damals mit Recht darauf hingewiesen, daß es nicht angehe, daß ein ganzer Schwarm interessierter Verbände in das Bundesverkehrsministerium geladen werde, um zu dem neuen Verwarnungsgeldkatalog Stellung zu beziehen, während das Parlament völlig übergangen werde.
Meine Damen und Herren, diese Fälle zeigen, daß der Kollege Dürr völlig recht hat, wenn er sagt, es sei allmählich an der Zeit, daß sich der Bundestag überlege, ob er weiterhin auf sein Mitbestimmungsrecht in weiten Teilen der Verkehrspolitik verzichten wolle. Wenn ich es richtig verstanden habe, meine Damen und Herren, hat sich der Kollege Ollesch bei der letzten verkehrspolitischen Debatte in ähnlicher Weise geäußert.
Dieses Ziel hat unser Gesetzentwurf. Mit ihm soll sich der Bundestag einen Teil seiner Befugnisse zurückholen. Dadurch kommt auf das Parlament keine neue Belastung zu. Schon heute muß sich das Parlament mit diesen Fragen beschäftigen. Dies geschieht in der Fragestunde ebenso wie durch die Beratung einschlägiger Initiativanträge, für den der Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Neufassung des Verwarnungsgeldkatalogs nur ein Beispiel war. Aber bisher kann der Bundestag in diesen Fällen nur reden. Wenn unser Entwurf Gesetz wird, dann kann er in diesen Fragen entscheiden, wenn er es will.
({2})
Damit bleiben die bestehenden Mehrheitsverhältnisse völlig unberührt. Unser Gesetzentwurf ist also kein Trick, die Mehrheit zu entmachten und die Entscheidung der Minderheit zuzuspielen. Unser Entwurf beläßt es bei den normalen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen, aber er schaltet das Parlament in die Fragen ein, die auch nach der Auffassung der Bürger vor das Forum des Parlaments gehören. Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, daß wir nicht wollen, daß sich der Bundestag mit technischen Angelegenheiten ohne politische Bedeutung beschäftigt, wie etwa der Größe des roten Randes auf Verkehrsschildern oder den Abmessungen von Blinkwarneinrichtungen. Aber der Bürger erwartet bei bedeutsamen Fragen in unserer repräsentativen Demokratie, daß die Abgeordneten bei diesen Fragen auch an der Rechtsetzung mitwirken.
({3})
Sie haben kein Verständnis dafür, wenn sich das zur Rechtsetzung bestellte Parlament aller Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung wichtiger Teile der Rechtsordnung begibt und sie der Regierung überläßt. Die Bürger fragen dann: Wozu haben wir eigentlich ein Parlament?
({4})
Die Bürger können nur auf dem Wege über die Abgeordneten auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen, und deswegen haben wir die Pflicht, uns in diesem Bereich dieser Arbeit zu unterziehen und sie nicht auf die Regierung abzuwälzen.
Soweit bereits erteilte Ermächtigungen über die eben genannten Grundsätze hinausgehen, daß nämlich nur bei Dingen, die keine unmittelbare politische Bedeutung haben, die Regierung zur Rechtsetzung ermächtigt werden sollte, müssen diese Ermächtigungen eben rückgängig gemacht werden, auch wenn sie vielleicht seit 20 Jahren in Kraft sind. Die Verhältnisse waren damals anders als heute. Damals waren Verkehrsregelungen bei weitem nicht so einschneidend für große Teile der Bevölkerung wie heute, weil damals der Motorisierungsgrad - wem sage ich das eigentlich? - noch sehr viel geringer war.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes soll erreicht werden, daß das Parlament in diesen Bereichen die Entwicklung des Straßenverkehrsrechts mitverantworten kann. Wenn der Bundestag von dieser Möglichkeit weisen Gebrauch macht, dann haben wir vielleicht auch für andere Gebiete einen Weg gefunden, das Parlament zu entlasten, ohne es zu entmachten. Denn das war ja bisher immer die Zwickmühle, in der wir steckten: Entweder wir beschäftigten uns mit allen Kleinkram - dann waren wir überlastet und kamen nicht zu den wichtigen Fragen -, oder wir delegierten einen Bereich an die Regierung; dann hatten wir die Dinge nicht mehr in der Hand. Dies hier ist ein Versuch, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, die Kontrolle zu ermöglichen, ohne alle Details selber machen zu müssen. Wir hätten, wenn das gelingt, der Funktionsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems einen großen Dienst erwiesen.
Vor Weihnachten haben wir unter dem Druck der Verhältnisse der Regierung weitgehende Vollmachten auf dem Energiesektor erteilt. Wir haben damit das Parlament geschwächt und die Regierung gestärkt, um die Dinge einmal im Klartext zu nennen. Unser Entwurf gibt dem Bundestag die Möglichkeit, auf dem Gebiet des Verkehrsrechts einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung zu tun, nämlich zur Stärkung des Parlaments. Gerade von einer Koalition, die unter der Devise „Wir wollen mehr Demokratie wagen!" begonnen hat, erhoffen wir eine baldige Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
({5})
Damit ist die Vorlage begründet. Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dürr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland ist auf keinem Gebiet der Rechtsetzung so ausgeschaltet wie im Straßenverkehrsrecht. Dieses Straßeverkehrsrecht ist nicht nur deshalb wichtig, weil es für dieses Rechtsgebiet ebenso viele Sachverständige gibt wie für die Postgebührenerhöhung, nämlich etwa 50 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist insbesondere deshalb wichtig, weil jeder siebente Einwohner so sagt man uns - direkt oder indirekt vom Auto und seiner Herstellung abhängt.
Wir haben seit einiger Zeit eine neue Straßenverkehrs-Ordnung. Diesem Gesetzgebungswerk wurde sogar eine Briefmarkenserie gewidmet. Aber diese neue Straßenverkehrs-Ordnung war nur eine Verordnung, die lediglich der Zustimmung von Bundesregierung und Bundesrat, nicht aber der Zustimmung des Parlaments bedurfte. Der Entwurf der Kollegen Lenz und Erhard sowie ihrer Fraktion soll dies ändern. Er ist ein Stück Parlamentsreform und ist in seiner Zielrichtung zu begrüßen.
Über die Ausgestaltung werden wir uns im Ausschuß unterhalten, insbesondere darüber, ob die von den Antragstellern vorgeschlagene Lösung in der Form einer Verordnung von Bundesregierung und Bundesrat mit parlamentarischer Notbremse die richtige Gestaltungsmöglichkeit dafür ist. Es scheint mir, daß wir uns in den Ausschüssen auch einen Überblick darüber verschaffen sollten, ob es andere Rechtsgebiete gibt, auf denen das Parlament ähnlich wie beim Straßenverkehrsrecht in seinen Befugnissen eingeschränkt ist, andere Gebiete, an die wir wenig denken, weil wir der Gewohnheit folgen und sagen: das war immer so.
Wir stimmen der Überweisung des Gesetzentwurfs an die Ausschüsse zu und hoffen, daß er dem Plenum zu guter Zeit wieder vorliegen wird.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir stimmen dem Entwurf ebenfalls zu. Keineswegs ist es so, daß wir die guten Vorschläge, die hier von der Opposition eingebracht werden, deshalb ablehnen würden, weil sie von dort kommen. Ganz im Gegenteil: Wir freuen uns über diese Initiative. Eine solche Initiative - das sollte man ganz offen ansprechen - fällt im übrigen bei einer richtig gesehenen Arbeitsteilung innerhalb des Parlaments der Opposition auch etwas leichter als der Koalition - aus Gründen, die ich hier nicht weiter zu vertiefen brauche.
Ich möchte aber nicht - und das möchte ich im Namen meiner Fraktion erklären -, daß hier der Eindruck entsteht, das Bundesverkehrsministerium sei ein Hort der Unbotmäßigkeit gegenüber dem Parlament und im besonderen Maße bereit, hier Dinge zu tun, die dann getadelt werden müssen. Dieser Eindruck würde täuschen. Es ist tatsächlich so, wie es die Herren Vorredner schon gesagt haben, daß die Maßnahmen, die hier durch Verordnung getroffen werden können, in ungleich schärferem und breiterem Maße als auf den meisten anderen Rechtsgebieten den größten Teil unserer Bevölkerung betreffen. Wir haben hier große Debatten über Straftatbestände geführt, die glücklicherweise nur sehr wenige Bürger jemals in ihrem Leben betreffen. Hier handelt es sich jedoch um Dinge, mit denen fast jeder Bürger irgendwann einmal konfrontiert wird. Erfreulicherweise ist es so, daß ausschließlich im Bereich des Straßenverkehrsrechts diese Gefahr einer
Konfrontation mit dem Gesetz für die meisten Bürger überhaupt besteht. Wenn das so ist, ist es nur folgerichtig, hier eine stärkere Beteiligung des Parlaments herbeizuführen.
Zweitens möchte ich nach den im übrigen erschöpfenden Ausführungen meiner Herren Vorredner noch darauf hinweisen, daß keineswegs nur im Bereich des Bundesverkehrsministeriums die Notwendigkeit besteht, das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive bei der Verordnungsermächtigung neu zu überdenken. Das ist in anderen Bereichen mit Sicherheit auch so.
Wir müssen uns aber im einzelnen noch sehr Gedanken darüber machen, ob der Entwurf so ohne weiteres in unser System hineinpaßt. Herr Kollege Lenz hat drei Beispiele genannt. Ich fürchte fast, daß sich diese Zahl nicht sehr erweitern läßt. Das zeigt, daß wir mit diesem Entwurf doch im Grunde Neuland betreten. Wir werden also prüfen, ob systematisch dies der richtige Weg ist. Ist er es, dann, so meine ich, müssen wir in die Prüfung auch die Frage einbeziehen, wie wir in anderen Rechtsbereichen genauso wie in diesem, wo es sich in besonderem Maße aufdrängt, zu ähnlichen Regelungen kommen müssen, um einerseits den Bundestag nicht mit Kleinarbeit zu überlasten und andererseits ihn nicht zu entmachten, wie Herr Kollege Lenz das hier schon zutreffend formuliert hat.
Es ist in diesem Hause schon so oft von Sternstunden, mindestens aber von besonders wichtigen Stunden des Parlaments gesprochen worden. Ich wage trotz der Besetzung davon zu sprechen, daß wir heute einen so wichtigen Augenblick gerade eben haben vorüberhuschen lassen, denn das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, eine entscheidende Frage für das Selbstverständnis und die Funktionsfähigkeit dieses Hauses, ist sehr wichtig und gerade an diesem Punkt unser aller größten Aufmerksamkeit wert. Wir werden ihm diese Aufmerksamkeit widmen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich bin Herrn Kollegen Kleinert besonders dankbar, daß er, nachdem viele Zuständigkeiten immer wieder zur Exekutive abgehen, hier diesen Gesichtspunkt noch hervorgehoben hat.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf an den Rechtsausschuß - federführend - und an den Ausschuß für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen - mitberatend - zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
dem Übereinkommen vom 18. November 1974 über ein Internationales Energieprogramm
- Drucksache 7/3027
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Ausschuß für Forschung und Technologie Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Das Wort wird zur Begründung nicht gewünscht. Das Wort wird in der Ausprache nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage an den Ausschuß für Wirtschaft - federführend -, an den Ausschuß für Forschung und Technologie, an den Rechtsausschuß und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Punkte 11 bis 19 der Tagesordnung auf:
11. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Weinwirtschaftsgesetzes
- Drucksache 7/2935 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Futtermittelgesetzes
- Drucksache 7/2990 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß fur Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flurbereinigungsgesetzes
- Drucksache 7/3020 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung
- Drucksache 7/2994 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
15. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Abkommen vom 20. September 1974 zur Änderung des Abkommens vom 25. April 1961 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland über Soziale Sicherheit und der Zusatzvereinbarung vom 28. März 1962 zu dem Abkommen über Soziale Sicherheit
- Drucksache 7/3021 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
16. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zwischenabkommen vom 25. Oktober 1974 zur Änderung des Abkommens vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit
- Drucksache 7/3022 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
17. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 1974 zur Änderung des Abkommens vom 6. November 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Portugiesischen Republik über Soziale Sicherheit und der Zusatzvereinbarung vom 8. Dezember 1966
- Drucksache 7/3023 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
18. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 1974 zur Änderung des Abkommens vom 12. Oktober 1968 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit
Drucksache 7/3024 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
19. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens ({4})
- Drucksache 7/3042 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({5})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Es handelt sich um von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwürfe. Ich frage das Haus, ob das Wort gewünscht wird. - Das Wort wird nicht gewünscht.
Die Überweisungsvorschläge des Altestenrates bitte ich der Tagesordnung zu entnehmen. - Ich sehe und höre zu den vorgeschlagenen Überweisungen keinen Widerspruch; es ist daher so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 20 auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 31 des Petitionsausschusses ({6}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 7/2991 -
b) Beratung der Sammelübersicht 32 des Petitionsausschusses ({7}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 7/2997 -
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Ich frage, ob das Wort gewünscht wird. - Das Wort wird nicht gewünscht.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Ich schlage vor, daß wir gemeinsam über beide Anträge abstimmen. Wer den Anträgen zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, damit komme ich zu Punkt 21:
21. a) Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8}) zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Agrarbericht 1974
- Drucksachen 7/1650, 7/1651, 7/1652, 7/3005 -
Berichterstatter: Abgeordneter Saxowski
b) Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({9}) und des Berichts des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur Beratung des Agrarberichts 1974 der Bundesregierung
- Drucksachen 7/1798, 7/3029, 7/3078 - Berichterstatter:
Abgeordneter Saxowski Abgeordneter Löffler
Ich frage zunächst die Herren Berichterstatter, ob zu einer Ergänzung der vorgelegten Berichte das Wort gewünscht wird. - Das ist nicht der Fall.
Ich glaube, wir können in eine verbundene Beratung eintreten. - Ich stelle allgemeines Einverständnis fest und frage, wer das Wort wünscht.
Bitte schön, Herr Kollege Eigen!
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU gebe ich zu dem Bericht und Antrag des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - Drucksache 7/3029 - folgende Erklärung ab.
Erstens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in einem Entschließungsantrag vom 14. März 1974 die Bundesregierung ersucht, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Preisauftrieb bei landwirtschaftlichen Betriebsmitteln auf ein erträgliches Maß zurückzuführen und durch entsprechende Anhebung der Agrarpreise wieder ein ausgeglichenes Verhältnis von Agrarpreisen und Produktionsmittelpreisen herzustellen. Heute läßt sich an Hand amtlicher Statistiken wie z. B. des statistischen Monatsberichts des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten feststellen, daß die Preis-Kosten-Schere in der Landwirtschaft weiter denn je auseinanderklafft. Wir beabsichtigen heute nicht, auf die laufenden Preisverhandlungen von Brüssel einzugehen. Eine eingehende Würdigung der Preis-Kosten-Situation in der Landwirtschaft bleibt der Debatte über den Agrarbericht 1975 Ende Februar vorbehalten.
Zweitens. Ein weiterer Punkt des Entschließungsantrages der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom März 1974 befaßt sich mit dem Grenzausgleich für Agrarprodukte. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß das Agrarkabinett beschlossen hat, daß für die deutsche Verhandlungsdelegation in Brüssel im Rahmen der Preisrunde dieser Tage der Grenzausgleich nicht zur Disposition steht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesregierung ausdrücklich in dieser Haltung. Es handelt sich dabei um eine so zentrale Frage, daß wir sie ebenfalls anläßlich der Aussprache über den Agrarbericht 1975 erneut aufgreifen werden. Dort werden wir auch über den Aussagewert des Agrarberichts und dessen Verbesserungsmöglichkeiten diskutieren.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist aber, wie es auch im Entschließungsantrag zum Ausdruck kommt, nach wie vor der Auffassung, daß bei anhaltendem Auseinanderlaufen des realen Agrarpreisniveaus in den Mitgliedsländern der EG der Grenzausgleich nicht nur erhalten, sondern ausgebaut werden muß, damit der deutschen Landwirtschaft nicht noch mehr Marktanteile am deutschen Markt verlorengehen. Das Auseinanderklaffen der realen Agrarpreisniveaus in den Mitgliedstaaten der EG ist die schwerwiegendste Wettbewerbsverzerrung. Hier muß das Hauptbemühen, Wettbewerbsverzerrungen abzubauen, einsetzen.
Drittens. Mit wichtigen Sachverhalten der Agrarsozialpolitik befassen sich die Punkte 5, 6 und 7 des Entschließungsantrages der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 14. März 1974. Die Bundesregierung wird ersucht, alsbald eine Regelung herbeizuführen, die eine soziale Versorgung von Witwen und Waisen landwirtschaftlicher Unternehmer sicherstellt. Dieser Personenkreis ist auch und gerade wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in die die Landwirtschaft in den letzten Jahren geraten ist, dringend auf eine Versorgung angewiesen. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion stellt fest, daß die Bundesregierung entsprechend dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an einer Regelung der Versorgung von Waisen arbeitet und beabsichtigt, diese Regelung noch 1975 einzuführen.
Wenig Verständnis allerdings haben wir dafür, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien SPD und FDP nicht bereit sind, das Problem der Witwenversorgung wenigstens im Ansatz anzugehen und damit einer Lösung näherzubringen. Die CDU/CSU hat im Ernährungsausschuß zu erkennen gegeben, daß mit Rücksicht auf die derzeitige schlechte Finanzlage die Lösung des Problems der Versorgung der Witwen zeitlich gestreckt werden könnte. Nicht einmal hierzu haben sich Bundesregierung, SPD und FDP bereitgefunden. Wir hätten uns gewünscht, daß in gemeinsamen Bemühungen wenigstens eine tiefergreifende Erörterung und ein erster Einstieg in die Versorgung von Witwen landEigen
wirtschaftlicher Unternehmer stattgefunden hätte. Mit Sicherheit ist das Problem nicht dadurch gelöst, daß man sagt, der Witwe eines Bauern bleibe die Existenzgrundlage erhalten und somit entfalle die Notwendigkeit einer Versorgung.
Im Ernährungsausschuß ist endlich auch das Problem der Befreiung kriegsbeschädigter Landwirte von den Krankenversicherungsbeiträgen behandelt worden. Hierzu hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits im Oktober 1973 einen Gesetzentwurf eingebracht. In dem hier zu behandelnden Entschließungsantrag hat sie nochmals auf die dringend notwendige parlamentarische Behandlung aufmerksam gemacht. Dadurch sollten die kriegsbeschädigten Landwirte wieder annähernd so gestellt werden, wie sie vor Einführung des Krankenversicherungsgesetzes für Landwirte im Oktober 1972 gestellt waren. Dieses Begehren der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist im Ernährungsausschuß ebenfalls von der SPD und der FDP abgelehnt worden.
Während der gesamten Regierungszeit der CDU/ CSU konnten kriegsbeschädigte Landwirte - das muß einmal klar festgestellt werden, Herr Kollege Gallus - im Krankheitsfall kostenfrei behandelt werden. Das war auch für ihre Witwen und Waisen möglich. SPD und FDP haben diese günstige Regelung vor zwei Jahren mit der Einführung der Krankenversicherungspflicht für Landwirte abgeschafft. Das war ein sozialer Rückschritt für eine ohnehin sozial stark belastete Gruppe.
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In dem damaligen Gesetzgebungsverfahren hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf diesen schwerwiegenden Mangel hingewiesen. Die von der Bundesregierung und der SPD und der FDP damals herbeigeführte Regelung beinhaltet die Verpflichtung für Kriegsbeschädigte Landwirte zur Beitragszahlung an die Krankenversicherung für Landwirte, obwohl diese Kriegsbeschädigten an den Vorteilen des allgemeinen Schwerbeschädigtengesetzes nur begrenzt teilhaben können. Der Versuch der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, diesen Zustand wenigstens zum größten Teil zu beseitigen, ist an der Haltung der SPD und FDP und ,der Bundesregierung im Ernährungsausschuß gescheitert.
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- Ja, ich bin mit dem Märchenbuch bald fertig, Herr Kollege Löffler. Machen Sie sich darüber man keine Sorgen. Ich möchte aber, wenn Sie mich schon so ansprechen, noch hinzufügen: Das ist die Wirklichkeit - ich sage das im Hinblick auf die Aussage von Minister Arendt von heute nachmittag in diesem Hohen Hause -, wie man von seiten der SPD/ FDP-Regierung und der Koalition soziale Randgruppen behandelt. Das möchte ich einmal in aller Klarheit festgestellt haben.
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Schließlich müssen noch einige Worte zum Problem der Unfallversicherung gesagt werden, das ebenfalls im Entschließungsantrag angesprochen worden ist. Die Bundesregierung hat zwar durch eine Neufestsetzung der Bemessungsgrundlage für die landwirtschaftlichen Unfallrenten zum 1. Januar 1975 die Leistungen erhöht. Aus dieser Leistungserhöhung ergibt sich jedoch in absehbarer Zeit auch eine wesentlich höhere Beitragsbelastung für die landwirtschaftlichen Betriebe. Zusammen mit den stark angestiegenen Beiträgen in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung werden die Beitragslasten auf dem sozialen Sektor für die Landwirte bei zum Teil rückläufigen Einkünften fast nicht mehr tragbar. Diesem Problem das stand auch heute nachmittag im Rahmen der Sozialversicherung insgesamt an - muß in der nächsten Zeit erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet werden.
Nun zur einzelbetrieblichen Förderung, also zum sogenannten Ertl-Programm. Infolge der inflationären Entwicklung ist die sogenannte Förderschwelle in diesem Programm immer weiter nach oben geschoben worden. Das führt dazu, daß immer mehr landwirtschaftliche Betriebe aus der landwirtschaftlichen Investitionsförderung herausfallen. Daran ändert auch nichts, daß die sogenannten Überbrückungshilfen etwas angehoben worden sind. Dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das einzelbetriebliche Förderungsprogramm elastischer zu gestalten, ist die Bundesregierung, zumindest was die Förderschwelle anbelangt, nicht nachgekommen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist nach wie vor der Auffassung, daß die sogenannte Förderschwelle im einzelbetrieblichen Förderprogramm kein geeignetes Kriterium ist, um die Förderungswürdigkeit landwirtschaftlicher Betriebe festzustellen. Wir meinen, daß sich die Bundesregierung in den zuständigen europäischen Gremien um eine Revision bemühen sollte.
Ich möchte zu diesem Problem hinzufügen: Alle Welt spricht immer über die Kosten des öffentlichen Dienstes. Hier im Bereich der einzelbetrieblichen Förderung sind von unserer Bundesregierung, von Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD und FDP, in Brüssel Verwaltungsmaßnahmen zugelassen worden, die dahin führen, daß für eine einzige Investition bis zu 31 Blätter ausgefüllt werden müssen vom Landwirt, seiner Buchführungsstelle, die dann auch noch von den Behörden abgezeichnet und auf Dauer, auf längere Sicht, kontrolliert und dazu noch mit statistischen Angaben versehen werden müssen. Das ist die Wirklichkeit. Dann darf man sich nicht wundern, wenn der öffentliche Dienst aufgebläht und auch noch teuer wird.
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Wir müssen uns auch überlegen, wie wir die Lasten
des öffentlichen Dienstes verringern können. Wir
dürfen sie mit solchen Maßnahmen nicht vergrößern.
Im Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - Drucksache 7/3029 - wird durch Mehrheitsbeschluß beantragt, die Nummer 5, soweit sie die Witwenversorgung betrifft, und die Nummer 6 des Entschließungsantrages der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, die kriegsbeschädigten Landwirte betreffend, abzulehnen. Die CDU/CSU9784
Bundestagsfraktion hingegen hält ihre Anträge insgesamt aufrecht und kann dem Mehrheitsvotum des Ernährungsausschusses nicht ihre Zustimmung geben.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Saxowski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit persönlichem Bedauern möchte ich die verehrten Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, daß sie zu einer kontroversen Abstimmung über die Oppositionsentschließung zu einem Regierungsbericht gerufen wurden, der die agrarpolitische Lage der Jahre 1972 und 1973 beinhaltete.
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Das ist um so bedauerlicher, als sich mit gutem Willen eine Übereinkunft hätte finden lassen,
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die auf diese zeitschindenden Erklärungen zu verzichten ermöglicht hätte. Denn das Thema, das heute zur Abstimmung steht, ist bereits vor einem Jahr in der traditionellen großen Debatte zum Agrarbericht der Bundesregierung in extenso debattiert worden. Neue Gesichtspunkte haben sich in der Zwischenzeit nicht ergeben.
Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung den Agrarbericht 1975, der sich auf das Wirtschaftsjahr 1973/74 bezieht, fertiggestellt. Dieser Bericht wird laut Gesetz Mitte nächsten Monats dem Deutschen Bundestag zugeleitet und soll kurz darauf im Parlament debattiert werden. Dann wird ausreichend Zeit und Gelegenheit sein, über die Probleme des vergangenen und des laufenden Wirtschaftsjahres miteinander zu streiten.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchte ich folgende Erklärung abgeben.
Der Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion wurde im federführenden Ernährungsausschuß mit Mehrheit für erledigt erklärt. Der Antrag enthält neun Forderungen, die ohnehin als durch gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen überwiegend erledigt abgehakt werden können. Soweit in einigen Punkten unterschiedliche Auffassungen bestanden, werden sie auch in Zukunft nicht auszuräumen sein, oder aber es kann der Opposition nicht gefolgt werden, weil ihre Forderungen zur Zeit sachlich nicht begründet und politisch nicht erfüllbar sind.
Lassen Sie mich kurz im einzelnen dazu Stellung nehmen. Die Opposition wünscht, daß zur Behebung der Sturmschäden vom November 1972 Bundesmittel bereitgestellt werden.
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- Das darf ich erwähnen! - Die Opposition weiß besser gesagt, müßte wissen -, daß die Bundesregierung seit der damaligen Katastrophe viele Millionen zur Abräumung des zerstörten Waldes und zur Wiederaufforstung bereitgestellt hat und daß für 1974, also drei Jahre danach, noch 13 Millionen DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden sind. An diesen Tatsachen kann auch die Opposition nicht vorbei.
Die Opposition behauptet, zur Förderung landwirtschaftlicher Nebenerwerbsbetriebe fehle eine Investitionsförderung. Richtig ist, daß die Nebenerwerbsbetriebe mit einer spezifischen Förderung in das einzelbetriebliche Förderungsprogramm einbezogen sind. Im Ergebnis also, Herr Eigen: erledigt.
Die Opposition wünscht eine Anhebung der Bemessungsgrundlage für die landwirtschaftlichen Unfallrenten. - Im Einvernehmen mit dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Kenntnis genommen, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung eine Neufestsetzung der Bemessungsgrundlage für die landwirtschaftlichen Unfallrenten zum 1. Januar 1975 angeordnet hat. Im Bundeshaushalt 1975 ist außerdem ein Bundeszuschuß zur Senkung der Beiträge der landwirtschaftlichen Unfallversicherung in Höhe von 406 Millionen DM vorgesehen. Im Ergebnis also: wiederum erledigt.
CDU und CSU haben erkannt, daß die Vorsteuerbelastung der Landwirte die Vorsteuerpauschale bei der Mehrwertsteuer übersteigt. Auf Betreiben der Koalition hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes und des Aufwendungsausgleichsgesetzes im vergangenen Jahr im Deutschen Bundestag eingebracht. Eine Anhebung der Vorsteuerpauschale um 1 °/o wurde beschlossen. Das Gesetz ist seit dem t. Januar 1975 in Kraft. Diese Maßnahme kostet Bund und Länder zusammen 410 Millionen DM an steuerlichen Mindereinnahmen pro Jahr. Umgekehrt fließt diese stolze Summe zu unserer Genugtuung in bäuerliche Taschen. Wir sehen hierin einen konstruktiven Beitrag, die Einkommenssituation in der Landwirtschaft entscheidend verbessern zu helfen.
Die Opposition schlägt vor, die ab 1974 vorgesehenen 400 Millionen DM Aufwertungsausgleich einkommenswirksam zu verteilen. Die Antragsteller haben diesen Punkt im Ausschuß selbst für erledigt erklärt.
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Die Opposition hat messerscharf erkannt - eine Binsenwahrweit , daß allerdings - und ich sage: leider - die Produktionskosten und die Erzeugerpreise gegenwärtig in einem unausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen. Das wird nicht abgestritten. Der Ausschuß hat diesen Punkt mehrheitlich im Hinblick darauf für erledigt erklärt, daß die Bundesregierung die Preisauftriebstendenzen wirksam bekämpft und erklärt hat, bei den Agrarpreisverhandlungen in Brüssel auf eine angemessene Anhebung der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise hinwirken zu wollen - dies mit dem Ziel, wieder ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Agrarpreisen und Produktionskosten zu erreichen. Wir alle wissen, wie schwierig und wie aktuell diese Frage immer wieder ist. Sollten wir heute aber wirklich über
diese komplexen Themen streiten, so würde das doch geradezu bedeuten, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen. In Brüssel wird verhandelt, und jeder Pressionsversuch aus diesem Hause würde die Verhandlungsposition der deutschen Delegation erheblich schwächen.
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Gebot dieser Tage muß sein, hinter der Regierung und nicht abseits zu stehen. Wir Sozialdemokraten vertrauen auf die Verhandlungskunst von Herrn Minister Ertl. Wir setzen auf die Vernunft aller Beteiligten in Brüssel, wiederum einen tragfähigen Kompromiß zu finden, der die Interessen aller Beteiligten weitgehend berücksichtigt.
Die Opposition stellt fest, das Grenzausgleichssystem sei unzulänglich. Wir werden im Februar zu dieser Frage noch manches hören und noch einiges dazu zu sagen haben. Schon heute steht fest, daß es die Bundesregierung bei der Agrarpreisverhandlung in Brüssel sehr schwer haben wird, das bisherige System zu verteidigen. Man verrät kein Geheimnis, daß ein weiterer Ausbau dort im Verhandlungswege kaum erreichbar erscheint. Wir wissen, daß sich die Bundesregierung wiederholt darum bemüht hat, Obst und Gemüse in das Grenzausgleichssystem einzubeziehen, wir wissen aber ebenso, daß die Regierung in diesem Bemühen in Brüssel stets auf taube Ohren gestoßen ist. Im Interesse der deutschen Landwirtschaft und im Vertrauen auf die Regierung sollten wir diese Frage heute nicht zerreden. Der Ernährungsausschuß hat deshalb aus gutem Grund diesen Punkt mehrheitlich abgelehnt.
Die Opposition hat zu unserer Befriedigung nun auch ein Herz für Witwen und Waisen landwirtschaftlicher Unternehmer entdeckt
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- das freut uns! - und fordert eine Verbesserung ihrer Versorgung. Durch Beschluß der Bundesregierung ist sichergestellt, daß die Waisen landwirtschaftlicher Unternehmer
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- Herr Reddemann, das müssen Sie wissen, das wissen Sie anscheinend nicht; lassen Sie mich doch ausreden! - in Zukunft sozial besser gestellt werden. In den nächsten Wochen wird eine gesetzliche Regelung geschaffen, nach der eine Halbwaise zirka 49 DM, eine Vollwaise zirka 98 DM erhalten wird. Dank der Politik dieser Bundesregierung werden wir eine Maßnahme schaffen, die notwendig und angemessen ist und die das im Ganzen vollendete Sozialschutzsystem für die Landwirte weiter verbessert; viel ist nämlich nicht mehr zu verbessern. Die Kosten für den Bund werden allein für diese Maßnahme im nächsten Jahr wieder 22 Millionen DM betragen. Denken Sie darüber hinaus an den Ausbau der Landabgaberente, denken Sie an den Ausbau des Altersgeldes! Vor drei, vier Jahren haben Sie nicht einmal in ihren kühnsten Erwartungen geglaubt, daß das einmal realisiert werden 1 könnte.
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- Das ist doch unter dieser Regierung geschehen, Herr Freiherr von Kühlmann-Stumm!
Die Ausweitung der Witwenversorgung zugunsten jüngerer Witwen ohne Altersbegrenzung mußte im Ausschuß aus zwingenden finanziellen Gründen mehrheitlich abgelehnt werden. In diesem Lande weiß inzwischen - außer der Opposition, die es aber an und für sich auch wissen müßte - jeder, daß die notwendigen Mehrbelastungen in Höhe von 150 bis 160 Millionen DM im Haushalt 1975 einfach nicht aufzubringen sind. Hinzu kommt, daß eine sozialpolitische Notwendigkeit, die Altersgrenze der Witwen sozusagen bis auf Null herabzuschrauben, schon deshalb nicht dringend besteht, als mit der Reform des Familienlastenausgleichs und des Kindergeldes die landwirtschaftlichen Familien erheblich entlastet werden und überdies das zukünftige Waisengeld vor sozialen Härten schützen wird.
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, dürfen Sie nicht vergessen, daß Witwen in der Landwirtschaft schon jetzt versorgt sind, und zwar dann, wenn der Verstorbene Altersgeldempfänger war, die Witwe das 60. Lebensjahr erreicht hat oder erwerbsunfähig war; das trifft doch zu!
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- Ich habe ja gesagt, daß das im Augenblick nicht geht. Über diese Frage haben wir uns auch im Ausschuß weit und breit unterhalten.
Schließlich sollen nach Auffassung der Opposition kriegsbeschädigte Landwirte, die in der Krankenversicherung der Landwirte pflichtversichert sind, wieder ihren früheren Besitzstand der kostenfreien Heilfürsorge erhalten. Der Ernährungsausschuß mußte dieses Begehren mit Mehrheit ablehnen, weil gleiches Recht für alle gelten muß und die kriegsbeschädigten Landwirte, die jetzt pflichtkrankenversichert sind, nicht allein wegen der Ausübung ihres Berufes gegenüber den Schicksalsgenossen bessergestellt werden können.
Zwingende gesetzliche Vorschriften erhärten diese Auffassung. Nach dem Bundesversorgungsgesetz herrscht das Subsidiaritätsprinzip für die freie Heilfürsorge. Dieser Grundsatz gilt für alle, die gegen Krankheit pflichtversichert sind, also auch die pflichtversicherten Landwirte. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß auf Grund der Durchführungsverordnung zu § 33 BVG die Inhaber von Kleinbetrieben besonders begünstigt werden, da durch die Neufassung des § 9 der Durchführungsverordnung eine Entlastung bewirkt wird, die einem fiktiven Arbeitgeberanteil entspricht.
Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Monaten noch manche Forderungen von denen aufgetischt bekommen, die die gesamtpoli9786
tische Verantwortung nicht tragen und sie, an ihrem Verhalten gemessen, auch nicht tragen können. Da mag die CDU/CSU-Fraktion in Berlin beschließen und überall verkünden: keine Gesetzentwürfe einzubringen, die Geld kosten, mehr Geld, als uns in dieser Zeit zur Verfügung steht. Solche Beschlüsse sind spektakulär und dienen dazu, unseren Mitbürgern die Fähigkeit vorzuspiegeln, in diesem Staat Verantwortung zu tragen. Die parlamentarische Tagespraxis sieht anders aus. Hier werden von der Opposition Tag für Tag kostspielige Gruppeninteressen propagiert, die in der Summe das Maß des Erträglichen und Verantwortbaren weit überschreiten.
Wenn in wenigen Wochen der Agrarbericht 1975 vorliegt und zur Diskussion steht, werden wir nicht nur klüger sein, sondern die Probleme dieser Zeit auch eingehender und mit profunderem Wissen über die Brüsseler Verhandlungen behandeln können. Gewiß, niemand steht der Sinn zum Frohlocken. Aber noch weniger hilft es uns, am wenigsten den Bauern, die sich in diesen Tagen anschikken, ihr Feld zu bestellen, am Anfang dieses Jahres den notwendigen Mut zu nehmen. Wir Sozialdemokraten werden den deutschen Landwirten zur Seite stehen, sie in ihrem Mut bestärken und ihre Entschlossenheit nach Kräften unterstützen.
Ich bitte daher, dem mit Mehrheit gefaßten Beschluß des Ernährungsausschusses zu folgen.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Gallus.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Im Namen der FDP-Fraktion erkläre ich zum Entschließungsantrag der CDU/CSU zum Agrarbericht über das Wirtschaftsjahr 1972/73 folgendes.
Von den zehn Forderungen - zehn Forderungen waren es nämlich, wenn man die Witwen- und Waisenrente getrennt zählt - sind sechs erfüllt und im Ausschuß gemeinsam für erledigt erklärt worden.
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Dies ist allerdings nicht als Erfolg der Opposition zu werten, wenn man weiß, daß ein Großteil der Probleme, die Sie in einen Entschließungsantrag gegossen haben, bereits in der Bearbeitung war, als dieser Antrag auf den Tisch gelegt worden ist.
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Einen der sechs Punkte, nämlich die Verteilung der 400 Millionen DM, hat die Opposition selber für erledigt erklärt, weil sie nämlich in ihrem Übereifer sicher übersehen hat, daß Zuwendungen an die Landwirtschaft, gleich in welcher Art sie gemacht werden, letzten Endes einkommenswirksam sind.
Die beiden anderen Punkte des Oppositionsantrags, welche sich mit einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Kosten und Preisen sowie mit dem Grenzausgleich befassen, sind ein permanenter Bestandteil der Auseinandersetzung der EG-Agrarpolitik und können von Ihnen jedes Jahr neu wiederholt werden, bis in das Jahr 2000!
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Es bleibt die Witwenrente übrig. Sie konnte auf Grund der verursachten Kosten von jährlich ungefähr 160 Millionen DM nicht verwirklicht werden, und zwar deshalb, weil Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, uns eine Steuerreform zugemutet haben, die im Endeffekt 2 bis 3 Milliarden DM mehr kostet, als vorgesehen war. Genau auf dieses Konto ist zu buchen, daß die Witwenrente nicht eingeführt werden konnte.
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Ich darf sagen: Für die FDP-Fraktion bleibt diese Forderung so lange im Raum stehen, bis eine finanzielle Möglichkeit des Bundes zur Finanzierung besteht.
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Zu der letzten Forderung - Punkt 6 -, nämlich der Forderung auf kostenlose Heilfürsorge bei kriegsbeschädigten Landwirten, lassen Sie mich im Detail folgendes darlegen, weil draußen Greuelmärchen erzählt werden. Ich muß hier vorausschicken, daß Sie durch Ihre Zustimmung zur Einführung der landwirtschaftlichen Krankenkasse mit dazu beigetragen haben, daß diese Regelung bei den kriegsversehrten Landwirten eingetreten ist.
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- Das hat nichts damit zu tun. Sie haben selbst mit dazu beigetragen, daß diese Situation entstanden ist; sie ist auch in allen übrigen Bereichen der Sozialpolitik Rechtens.
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Ich darf dazu folgendes wörtlich zitieren:
Nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes erhalten Schwerbeschädigte und Kriegerwitwen Heilbehandlung. Dieser Anspruch ist jedoch ausgeschlossen, wenn ein Sozialversicherungsträger zu einer entsprechenden Leistung verpflichtet ist oder der Berechtigte ein Einkommen hat, das 1975 über 2100 DM monatlich liegt.
Mit Einbeziehung der Landwirte in das System der gesetzlichen Krankenversicherung entfiel der Anspruch auf kostenlose Heilbehandlung, weil nunmehr alle Landwirte Ansprüche auf Heilbehandlung gegen die landwirtschaftlichen Krankenkassen haben. Bei Schaffung der Krankenversicherung der Landwirte ist dieser Nebeneffekt in den Beratungen
des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung diskutiert worden.
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Bitte schön, erkundigen Sie sich bei Ihrem früheren Kollegen, dem Vizepräsidenten des Bauernverbands Württemberg-Baden, Herrn Berberich, der voll - auch öffentlich - selbst diesen Standpunkt vertreten hat.
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Der Ausschuß sah aus Gleichbehandlungsgründen jedoch keine Möglichkeit, für Landwirte eine Ausnahmeregelung vorzusehen. Das Gesetz ist sogar nahezu einstimmig verabschiedet worden. Im übrigen wäre die kostenfreie Heilbehandlung auch weggefallen, wenn die Landwirte entsprechend den Vorstellungen der Opposition bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen pflichtversichert worden wären.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat das Anliegen der Opposition mit Mehrheit abgelehnt. Entscheidend waren hier gleichfalls Gleichbehandlungserwägungen. Hinzu kam, daß die inzwischen in Kraft getretene Änderungsverordnung zur Verordnung zur Durchführung des § 33 BVG - Ermittlung des Einkommens nicht buchführender Landwirte; wichtig für die Höhe der Ausgleichs- und Elternrechte - im Betriebsgrößenbereich bis zirka 15 ha allgemein Verbesserungen und im Bereich unter 10 ha besondere Verbesserungen im Blick auf die Beitragsbelastung in der Krankenversicherung der Landwirte vorsieht.
Die Kosten einer Regelung im Sinne des Oppositionsantrags beliefen sich jährlich auf etwa 10 Millionen DM. Das Problem verliert mit dem Übergang der Schwerbeschädigten und Kriegerwitwen in die Altenteilerkrankenversicherung von Jahr zu Jahr an Gewicht.
Lassen Sie mich zum Schluß ein grundsätzliches Wort zu den Krankenversicherungsbeiträgen sagen, die Herr Eigen hier angesprochen hat. Herr Eigen, ich sage wiederholt von dieser Stelle aus, daß die Krankenversicherung für Landwirte eine gute Sache ist, auch wenn Sie nachträglich draußen immer noch Kritik an dieser Krankenversicherung der Landwirte üben. Ich behaupte sogar, daß es kaum mehr möglich wäre, die Krankenversicherung der Landwirte mit der vollen Übernahme der alten Last auf den Bund heute zu realisieren, nachdem die Allgemeinen Ortskrankenkassen draußen - das wissen Sie als Abgeordnete selbst - uns fast täglich anschreiben, daß auch für die übrigen Rentner die volle alte Last übernommen wird, was auf Grund der leeren Kassen heute allgemein überhaupt nicht möglich ist.
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Herr Eigen, zum Schluß zu Ihrem Verwaltungsperfektionismus nur noch eines: Wenn Ihre Forderungen, die Sie im Ernährungsausschuß dauernd stellen, insbesondere auch in bezug auf die EWG, verwirklicht würden oder verwirklicht werden könnten, stiege der Verwaltungsperfektionismus der EWG geradezu ins Unermeßliche.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Wir stimmen zunächst über den Antrag des Ausschusses - Punkt 21 a - auf Drucksache 7/3005 ab. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. - Danke. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses - Punkt 21 b - auf Drucksache 7/3029. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. - Danke. Gegenprobe! - Der Antrag ist mit großer Mehrheit angenommen.
Damit ist Punkt 21 a und b erledigt. Ich rufe die Punkte 22 bis 26 auf:
22. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen ({0}) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie des Rates vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den zulässigen Geräuschpegel und die Auspuffvorrichtung von Kraftfahrzeugen
- Drucksachen 7/2605, 7/2987 Berichterstatter: Abgeordneter Dr.-Ing.
Oetting
23. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit ({1}) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie ({2}) des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen
- Drucksachen 7/2239, 7/2988 - Berichterstatter: Abgeordneter Egert
24. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung ({4}) des Rates über die Anlage einer Ölkartei in der Gemeinschaft
- Drucksachen 7/2652, 7/3004 - Berichterstatter: Abgeordneter Vit
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
25. Beratung des Berichts und des Antrags des Finanzausschusses ({5}) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EWG-Kommission für eine Verordnung ({6}) des Rates über Gemeinschaftsanleihen
- Drucksachen 7/2777, 7/3028 Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Wagner ({7})
26. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8}) zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Verordnung ({9}) des Rates über die Aufteilung der Mittel des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, Abteilung Ausrichtung, für das Jahr 1974 und über bestimmte Fristen für 1974 und 1975
- Drucksachen 7/2762, 7/3056 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Ritgen
Meine Damen und Herren, ich frage zunächst, ob einer der Berichterstatter das Wort wünscht. - Das ist nicht der Fall. Ich frage, ob das Wort zur Aussprache begehrt wird. - Auch das ist nicht der Fall.
Ich frage nunmehr das Haus, ob es damit einverstanden ist, daß wir der Einfachheit halber gemeinsam abstimmen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf den Drucksachen 7/2987, 7/2988, 7/3004, 7/3028 und 7/3056. Wer ihnen zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke! Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.
Damit, meine Damen und Herren, stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 22. Januar, 13.30 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.