Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Tagesordnung ergänzt werden um die in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen:
1. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts ({0})
- Drucksache 7/2526 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
2. Beratung des Antrags der Bundesregierung betr. Sonderprogramm zur regionalen und lokalen Abstützung der Beschäftigung nach § 6 Abs. 2 StWG
- Drucksache 7/2589 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß ({1}), Ausschuß für Wirtschaft
Das Haus ist damit einverstanden? - Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.
Es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Tagung der Versammlung der Westeuropäischen
Union vom 18. bis 20. Juni 1974 in Paris
- Drucksache 7/2558 zuständig: Auswärtiger Ausschuß ({2}), Verteidigungsausschuß
Betr.: Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974 - Drucksache 7/2423 zuständig: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen ({3}), Auswärtiger Ausschuß, Rechtsausschuß
Betr.: Haushaltsführung 1974
hier: Überplanmäßige Haushaltsausgaben bei Kap. 11 11 Tit. 68101 - Arbeitslosenhilfe - und Tit. 681 03 - Arbeitslosengeld und Berufsfürsorge für Heimkehrer Bezug: § 37 Abs. 4 BHO
- Drucksache 7/2596 -zuständig: Haushaltsausschuß
Dagegen erhebt sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vermittlungsausschuß hat in seiner Sitzung am 10. Oktober 1974 das Gesetz zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften ({4}) bestätigt. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/2628 verteilt.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 9. Oktober 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:
Verordnung ({5}) des Rates
zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Grège, weder gedreht noch gezwirnt, der Tarifnummer 50.02 des Gemeinsamen Zolltarifs für 1975
zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Garne, ganz aus Seide, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf, der Tarifnummer ex 50.04 des Gemeinsamen Zolltarifs für 1975
zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Garne, ganz aus Schappeseide, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf, der Tarifnummer ex 50.05 des Gemeinsamen Zolltarifs für 1975
- Drucksache 7/2277 - Verordnung ({6}) des Rates
zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für Werkblei und Rohblei, anderes als Werkblei, der Tarifstellen 78.01 A I und A II des Gemeinsamen Zolltarifs
zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Rohzink der Tarifstelle 79.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs
- Drucksache 7/2427 - Verordnung ({7}) des Rates
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosilizium der Tarifstelle 73.02 C des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosiliziummangan der Tarifstelle 73.02 D des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrochrom, mit einem Gehalt an Kohlenstoff von 0,10 Gewichtshundertteil oder weniger und an Chrom von mehr als 30 bis 90 Gewichtshundertteilen ({8}) der Tarifstelle ex 73.02 E I des Gemeinsamen Zolltarifs
- Drucksache 7/2457 Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 10. Oktober 1974 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Nachtrag zum Wirtschaftsplan der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1974 mit der Bitte um Kenntnis übersandt. Der Nachtrag liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Überweisung von EG-Vorlagen
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung ({9}) des Rates zur Festlegung - für das Weinwirtschaftsjahr 1974/1975 - des von den Interventionsstellen zu zahlenden Preises für den Alkohol, der ihnen im Rahmen der vorgeschriebenen Destillation der Nebenerzeugnisse der Weinbereitung geliefert wird, und des dabei vom Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, Abteilung Garantie, zu übernehmenden Höchstanteils
- Drucksache 7/2449 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({10}) des Rates über den Abschluß eines Zusatzprotokolls zu dem zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Finnland geschlossenen Abkommen
- Drucksache 7/2595 8228
Präsident Frau Renger
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie des Rates vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den zulässigen Geräuschpegel und die Auspuffvorrichtung von Kraftfahrzeugen
- Drucksache 7/2605 überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({11}) des Rates zur Ergänzung der Verordnung Nr. 121 /67 /EWG hinsichtlich der bei einem erheblichen Preisrückgang auf dem Schweinefleischsektor zu ergreifenden Maßnahmen
- Drucksache 7/2606 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen
- Drucksache 7/2607 überwiesen an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({12}) des Rates zur Durchführung einer Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte
- Drucksache 7/2609 überwiesen an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({13}), Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({14}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({15}) Nr. 950/68 über den Gemeinsamen Zolltarif
- Drucksache 7/2610 überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({16}) des Rates zur Festlegung der Anwendungsmodalitäten für die Schutzmaßnahmen für Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse
- Drucksache 7/2611 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung ({17}) des Rates betreffend die Finanzierung von Werbe- und Aufklärungsfeldzügen für den Fleisch-Verbrauch
- Drucksache 7/2612 überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Beschluß des Rates zur Festlegung eines technologischen Forschungsprogramms für den Textilsektor
- Drucksache 7/2613 überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über radioelektrische Störungen durch Geräte für Frequenzen im Bereich 10 kHz bis 18 GHz - industrielle, wissenschaftliche und medizinische Hochfrequenzgeräte ({18}) und ähnliche Geräte -- Drucksache 7/2614 --überwiesen an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne hat eine Delegation beider Häuser des Obersten Sowjet der UdSSR, geleitet vom Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR und Deputierten des Obersten Sowjet, Herrn Nikolay Aleksandrovich Tikhonov, Platz genommen. Ich habe die große Ehre, die Mitglieder der sowjetischen Delegation im Deutschen Bundestag willkommen zu heißen, und darf meiner Freude Ausdruck geben, daß das Präsidium des Obersten Sowjet der Einladung des Deutschen Bundestages gefolgt ist. Ich darf Sie alle sehr herzlich begrüßen.
({19})
Wir treten nunmehr in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes ({20})
- Drucksache 7/2536 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Außerdem rufe ich den ersten Zusatzpunkt auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts ({21})
- Drucksache 7/2526 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat die Reform des materiellen Strafrechts, die vom späteren Bundespräsidenten, Herrn Dr. Dr. Heinemann, als Justizminister im Jahre 1967 in Angriff genommen worden ist, mit der Verabschiedung von insgesamt fünf Reformgesetzen inzwischen zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Der 1. Januar 1975 stellt insoweit mit dem Inkrafttreten der neuen Fassung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches und einer Reihe wichtiger Neuerungen im Besonderen Teil einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte des deutschen Strafrechts dar.
Im zeitlichen Zusammenhang mit der Anpassung der Straftatbestände an die Erfordernisse unserer Zeit und die Wertvorstellungen des Grundgesetzes hat die Bundesregierung auch eine stufenweise Reform des Strafverfahrensrechts eingeleitet. Der Entwurf eines Ersten Strafverfahrensreformgesetzes ist vom Rechtsausschuß bereits einmütig gebilligt worden und wird den Bundestag voraussichtlich in der nächsten Woche in zweiter und dritter Lesung beschäftigen.
Der heute in erster Lesung zu behandelnde Entwurf eines Zweiten Verfahrensreformgesetzes setzt die Erneuerung der Strafprozeßordnung in konsequenter Weise fort. Gegenstand des Entwurfs sind Regelungen über die Ausschließung von Strafverteidigern und über die Auswahl von Pflichtverteidigern, Änderungen des Eidesrechtes, Maßnahmen zum besseren Schutz kindlicher und jugendlicher Zeugen sowie Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht jener Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Psychologen, die bei bestimmten öffentlichen Beratungsstellen tätig sind.
Eine gesetzliche Regelung der Voraussetzungen für die Ausschließung von Strafverteidigern ist notwendig geworden, weil das Bundesverfassungsgericht die bisherige Praxis als nicht verfassungskonform bezeichnet hat. Der Entwurf soll die insoDeutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Bundesminister Dr. Vogel
weit bestehende Lücke durch Bestimmungen schließen, die sowohl den Interessen einer geordneten Strafrechtspflege und dem Grundsatz der freien Advokatur als auch dem Recht ,des Beschuldigten auf umfassende Verteidigung Rechnung tragen. Nach den Vorschlägen der Bundesregierung soll ein Verteidiger deshalb nur in wenigen, gesetzlich genau umrissenen Fällen von der Mitwirkung in einem Strafverfahren ausgeschlossen werden können. Es sind dies die Fälle der Tatteilnahme, der Begünstigung, der Hehlerei und des Parteiverrats. Den von der Mehrheit des Bundesrats befürworteten Ausschließungsgrund der Verfahrenssabotage enthält der Entwurf der Bundesregierung hingegen nicht. Die Bundesregierung verkennt zwar nicht, daß in einzelnen Fällen Störungen der Gerichtsverhandlungen auch von Verteidigern ausgehen; die Grenzen zwischen rechtswidrigen Beeinträchtigungen eines Verfahrens und der vollen Ausschöpfung aller von der Rechtsordnung eingeräumten Möglichkeiten und Befugnisse zur Wahrung der Interessen eines Beschuldigten oder Angeklagten lassen sich jedoch nicht mit der Schärfe und Eindeutigkeit ziehen, die der Bundesregierung zur Rechtfertigung eines so schwerwiegenden Eingriffes unerläßlich erscheinen, wie es die Ausschließung eines Verteidigers in einem Rechtsstaat darstellt.
Auch die im Entwurf vorgesehene Änderung des Eidesrechts geht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurück. In dieser Entscheidung hat das Gericht bekanntlich die Auffassung vertreten, daß nach dem Grundgesetz für Personen, die aus Glaubens- oder Gewissensgründen jedwede Eidesleistung verweigern, eine andere Form der strafsanktionierten Bekräftigung der Wahrheit ihrer Aussage zur Verfügung stehen muß. Eine solche Möglichkeit will der Entwurf alternativ zu den bestehenden eidlichen Beteuerungsformen schaffen. Hingegen ist die Bundesregierung nicht bereit, der gelegentlich im Schrifttum geforderten völligen Abschaffung des Eides näherzutreten. Sie trägt dabei der von der gerichtlichen Praxis nahezu einhellig bestätigten Auffassung Rechnung, daß der Eid, gleichviel ob in weltlicher oder religiöser Form, im Bewußtsein weitester Teile der Bevölkerung unverändert einen festen Platz einnimmt und daß der ganz überwiegenden Mehrzahl der Zeugen ihre Verantwortung gegenüber den Prozeßbeteiligten und vor ihrem eigenen Gewissen auf keine andere Weise so deutlich vor Augen geführt werden kann wie durch die Verwendung der Begriffe „Eid" und „Schwören".
Eine weitere Änderung bringt der Entwurf auf dem Gebiet des Zeugnisverweigerungsrechts. Staatlich anerkannte Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie Psychologen mit anerkannter wissenschaftlicher Abschlußprüfung, die in einer Beratungsstelle auf dem Gebiet der Ehe-, Erziehungs- oder Jugendberatung oder der Beratung in Suchtfragen tätig sind, sollen künftig ein Zeugnisverweigerungsrecht erhalten. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß jede Einräumung von Zeugnisverweigerungsrechten die Beweismöglichkeiten im Strafverfahren einschränkt und deshalb als eine Ausnahme von der allgemeinen Zeugnispflicht stets einer besonderen Legitimation bedarf, um vor der Verfassung bestehen zu können. Diese vom Bundesverfassungsgericht geforderte besondere Legitimation bejaht der Entwurf unter den soeben umrissenen Voraussetzungen, weil insoweit vom Staat anerkannte Aufgaben wahrgenommen werden, zu deren Erfüllung es eines uneingeschränkten Vertrauens zwischen den Beteiligten bedarf.
Schließlich schlägt der Entwurf Maßnahmen zum Schutze kindlicher und jugendlicher Zeugen im Strafverfahren vor, die von der Jugendpsychologie und der gerichtlichen Praxis schon seit längerer Zeit gefordert werden. Kinder und Jugendliche bis zu 16 Jahren sollen grundsätzlich nur noch von dem Vorsitzenden des Gerichts vernommen werden, aber nicht mehr ins Kreuzverhör genommen werden können. Ist durch die Gegenwart des Angeklagten während der Vernehmung des kindlichen oder jugendlichen Zeugen eine psychische Gefährdung zu erwarten, so soll der Angeklagte künftig aus dem Gerichtssaal entfernt werden können. Beide Vorkehrungen sind geeignet, Schädigungen junger Menschen durch ihre Beteiligung an einem Strafverfahren so weit wie nur möglich zu verhindern.
In einem sachlichen Zusammenhang mit dem Entwurf, den ich soeben begründet habe, steht der vom Bundesrat eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Rechtspflege. Er verfolgt das Ziel, Ausschreitungen in Gerichtsverhandlungen wirksamer und angemessener als bisher entgegentreten zu können. Solche Ausschreitungen haben in letzter Zeit die Öffentlichkeit wiederholt beunruhigt. Dabei wurde in einer Reihe von Fällen die Tendenz erkennbar, die Durchführung von Hauptverhandlungen zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, um so die rechtsstaatliche Ordnung überhaupt in Frage zu stellen. Die Bundesregierung tritt solchen Tendenzen mit Entschiedenheit entgegen. Sie wird stets auf der Seite derer zu finden sein, die den Rechtsstaat mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen und nüchtern, aber mit Festigkeit, engagiert, aber gelassen und mit der Sicherheit ihre Pflicht tun, die aus dem Wissen um die Gerechtigkeit und Humanität ihrer Sache fließt.
Ich benutze daher die Gelegenheit, um den Organen unserer Rechtspflege, die unter schwierigen Umständen und unter Inkaufnahme von Belastungen und mitunter auch Gefahren in diesem Sinne gehandelt haben, den Dank der Bundesregierung auch von dieser Stelle aus auszusprechen.
({0})
Mit diesem Dank kann es indes nicht sein Bewenden haben. Die Bundesregierung unterstützt deshalb auch die Bemühungen, die darauf gerichtet sind, Ausschreitungen in den Gerichtssälen zu erschweren und nach Möglichkeit zu verhindern.
Der Entwurf des Bundesrats erscheint mir dafür in seiner jetzt vorliegenden, im Laufe der Beratungen im Bundesrat verbesserten und versachlichten Fassung als ein im allgemeinen durchaus geeigneter Beitrag. Das gilt beipielsweise für die Stärkung der Stellung des Vorsitzenden gegenüber Personen, die
am Verfahren nicht beteiligt sind, für die Schaffung der Möglichkeit, Beschlüsse über den Ausschluß der Öffentlichkeit unter bestimmten Voraussetzungen in nichtöffentlicher Sitzung zu verkünden, aber auch für die Erhöhung des Ordnungsgeldes und des Rahmens für die Ordnungshaft in einem vertretbaren Umfang. Hingegen bedarf es bei der vom Bundesrat ebenfalls vorgeschlagenen Modifikation des prozessualen Erklärungsrechts des Staatsanwalts -§ 257 a --- und des Verteidigers wohl noch weiterer Überlegungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, manche halten das Strafverfahrensrecht für eine Materie von untergeordneter Bedeutung, bei der es eher um rechtstechnische Fragen gehe. Dem muß widersprochen werden. In Wahrheit handelt es sich bei der Ordnung des Strafprozesses um eine Magna Charta des Rechtsstaats. Denn der fundamentale Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Machtstaat offenbart sich nicht zuletzt darin, wie ein Staat mit einem Beschuldigten, mit einem angeklagten Bürger umgeht, wie er die Rechte dessen ausgestaltet, demgegenüber er von seiner Strafbefugnis Gebrauch macht,
({1})
wie er die Interessen der Gemeinschaft an einer effektiven Strafrechtspflege mit den Grundrechten des einzelnen in Einklang bringt. Beide Entwürfe, meine Damen und Herren, sollten unter diesen Gesichtspunkten in den Ausschüssen beraten und sodann mit einem möglichst hohen Maß an Übereinstimmung verabschiedet werden.
({2})
Ich danke dem Herrn Bundesminister der Justiz.
Ich eröffne nunmehr die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wittmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wir haben es bei den hier vorliegenden Entwürfen damit zu tun, daß sich auf Grund bedauerlicher Vorkommnisse der Vergangenheit unser Rechtsstaat gegen seine Demontage wehren muß. Ich glaube, in Ergänzung dessen, was der Herr Bundesjustizminister soeben gesagt hat, sagen zu müssen, daß zum Rechtsstaat auch die Unabhängigkeit der Gerichte im Interesse des Beschuldigten, im Interesse der richtigen Rechtsfindung gehört, daß zum Rechtsstaat auch gehört, daß die Organe der Rechtspflege dann geschützt werden, wenn ihnen Angriffe drohen, woher auch immer sie kommen mögen.
Wir haben zu Beginn der Schaffung unseres Grundgesetzes immer wieder von der Wehrhaftigkeit der Demokratie gesprochen, die es nicht zulassen könne, daß sie mit den Mitteln der Demokratie nicht nur ad absurdum geführt, sondern sogar beseitigt werde. Heute sind wir leider an einem Punkt angelangt, wo wir sagen müssen, daß es auch der Rechtsstaat nicht zulassen kann, daß er mit Mitteln des Rechtsstaates nicht nur ad absurdum geführt, sondern vielleicht sogar beseitigt wird. Zur Zeit gibt es viele Fälle - wir haben nicht nur die Berichte der Landesjustizverwaltungen, sondern auch zum Teil unmittelbare Erfahrung -, in denen die Funktionsfähigkeit und die Würde der Gerichte in einem Maße gefährdet sind, daß wir sagen müssen, daß möglicherweise in dem einen oder anderen Punkt auch die Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist. Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion den Verfahrensbeteiligten, den Richtern, Staatsanwälten und sonstigen Beteiligten, die sich schwierigen Situationen in Prozessen gewachsen gefühlt und Störungen beseitigt oder hintangehalten haben, hier unseren Dank sagen. Wir können es aber nicht beim Dank bewenden lassen, wenn wir die Möglichkeit haben, durch gesetzgeberische Maßnahmen Korrekturen eintreten zu lassen, um die Belastung der Beteiligten auf ein Mindestmaß zu beschränken.
Ich meine, daß durch Störungen, Drohungen und Gewalttaten die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet sein könnte. Auch Richter, Berufs- und Laienrichter, sind Menschen, die, wenn sie angegriffen werden, vielleicht nicht so sehr aus dem Bewußtsein heraus, aber unbewußt, weil sie eben auch Menschen sind, den Weg des geringsten Widerstandes gehen könnten. Um sie aber von derartigen Anfechtungen freizuhalten, müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, wenigsten in den krassesten Fällen, in denen ihre Unabhängigkeit bedroht ist, einschreiten zu können. Der Freistaat Bayern hat die Konsequenzen aus den Störungen der Rechtspflege in der Vergangenheit gezogen und im Bundesrat einen Gesetzentwurf zum Schutz der Rechtspflege eingebracht. Dieser Gesetzentwurf liegt uns nun mit einigen Änderungen vor. Ich freue mich, daß dieser Gesetzentwurf in seiner wesentlichen Zielrichtung zwischen Bundesregierung und Opposition offensichtlich unbestritten zu sein scheint.
Meine Damen und Herren, es muß verhindert werden - das will dieser Gesetzentwurf -, daß das Tribunal wieder zur Szene politischer Demonstrationen wird, die zur Zerstörung der Demokratie, zur Zerstörung des Staates und unserer freien Gesellschaft führen können. Diesem Ziel dient u. a. der Antrag, daß Erklärungen, die zur Unzeit abgegeben werden, oder beliebige Erklärungen, die mit dem Gegenstand des Verfahrens nichts zu tun haben, vom Gericht unterbunden werden können.
Die Bundesregierung hat in ihrer Äußerung zu dem Gesetzentwurf gemeint, daß sie hier noch einen anderen Weg sehe. Ich vermisse aber in der Kritik der Bundesregierung an den Vorschlägen des Bundesrates, aber auch in den Äußerungen des Bundesjustizministers Hinweise darauf, welchen anderen Weg man hier gehen will. Wir sind sehr neugierig darauf, in den Beratungen des Rechtsausschusses zu erfahren, welchen Weg die Bundesregierung gehen möchte, um zu verhindern, daß sachfremde Erklärungen abgegeben werden, daß der Prozeß zu politischen Demonstrationen, zur Zerstörung unserer demokratischen Grundordnung benutzt wird.
In dem Entwurf ist auch vorgesehen, daß durch Ausschluß der Offentlichkeit in einem vereinfachten Verfahren und durch weitgehende Rechte des VorDr. Wittmann ({0})
sitzenden gegenüber Prozeßunbeteiligten die Störungen von Verfahren möglichst hintangehalten werden. Wir werden diese Störungen nie ganz beseitigen können. Wir sollten jedoch den prozeßleitenden Richtern mit diesen Mitteln die Möglichkeit geben, Störungen und Sabotage des Prozesses von der Zuhörerbank her schon im Keime zu begegnen. Höhere Ordnungsstrafen - dies gilt sowohl hinsichtlich der Höhe von Geldstrafen als auch der Zeitdauer der Ordnungshaft -, um abschreckend zu wirken - ich bin freilich nicht der Meinung, daß Abschreckung allein genügt -, scheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig zu sein; dann wäre Störern längere Zeit die Möglichkeit genommen, ein Gerichtsverfahren zu stören.
In Konsequenz von Anträgen der CDU/CSU, die auch die Billigung des Hohen Hauses gefunden haben, hat die Bundesregierung, wenn auch verzögert, jetzt ein zweites Gesetz zur Strafverfahrensreform vorgelegt. Hier handelt es sich aber nicht um ein Reformgesetz, sondern schlicht und einfach um ein Gesetz, das notwendige Korrekturen des Verfahrensrechtes enthält, und um sonst gar nichts. Von Reform kann hier meines Erachtens nicht die Rede sein. Der Antrag der CDU/CSU, auf dem dieses Gesetz aufbaut, geht im Bereich des Ausschlusses der Verteidiger dahin, sie dann auszuschließen, wenn sie der Begünstigung oder der Teilnahme an der zur Verhandlung stehenden Straftat verdächtigt oder überführt sind. Wir haben ja genügend Erlebnisse dieser Art im Zusammenhang mit den Verfahren gegen die Baader-Meinhof-Bande.
Diesen Teil hat die Bundesregierung in den Gesetzentwurf aufgenommen. Mit nicht einsichtigen Argumenten dagegen hat sie den Teil aufzunehmen abgelehnt, der sich mit der Zeugenschaft eines Verteidigers in dem Fall befaßt, daß der Verteidiger in einem Verfahren als Zeuge aufgetreten ist. Hier mußte der Bundesrat einen entsprechenden Antrag zum Gesetzentwurf stellen. Man kann nicht so einfach sagen, daß die Zeugenschaft nicht die Verteidigereigenschaft behindern könnte, und man kann auch nicht einfach auf die gleiche Stellung der Staatsanwaltschaft hinweisen. Die Staatsanwaltschaft hat im Verfahren eine andere Funktion: Sie ist objektive Behörde, hat also das Be- und Entlastende zu berücksichtigen. Demgegenüber besteht die Aufgabe des Verteidigers in erster Linie darin, dem Beschuldigten zu helfen, ihn im Strafverfahren nach Möglichkeit frei zu bekommen. Schon von daher ist also die Position der Staatsanwaltschaft eine andere, und man kann sie mit der des Verteidigers nicht vergleichen. Die Bundesregierung kann also nicht folgern, daß auch die Staatsanwaltschaft vom Verfahren auszuschließen sei, wenn der Verteidiger ausgeschlossen werden kann.
Im übrigen muß sich ein solcher Ausschluß des Verteidigers vom Strafverfahren auf entscheidungserhebliche Aussagen und entscheidungserhebliche Bekundungen beschränken. Das schlägt auch der Bundesrat vor. Wir würden uns freuen, wenn diese Bestimmung, die ja auch einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, im Laufe der Ausschußberatungen in den Entwurf aufgenommen werden könnte.
Meine Damen und Herren, der Herr Justizminister hat gemeint, die Aufnahme des Tatbestandes einer Prozeßsabotage ablehnen zu müssen, die mit rechtswidrigen Mitteln begangen wird und bei der die Gefahr besteht, daß sie fortgesetzt wird. Wir haben in der Praxis verschiedene derartige Fälle; Sie werden mir nachsehen, daß hier nicht der Ort ist, die Fälle in ihren Einzelheiten aufzuzählen - sie sind in der Vergangenheit nicht nur einmal vorgekommen -, in denen sich Verteidiger rechtswidriger Mittel bedient haben, um einen Prozeß zu sabotieren. Ich sehe nicht ein, warum nicht bei Wiederholungsgefahr ein Verteidiger vom Prozeß ausgeschlossen werden kann, wenn er das Verfahren gröblich stört und behindert. Nach unserer Auffassung ist dieser Tatbestand in der Weise, wie sie der Bundesrat vorschlägt, genügend umschrieben.
Auch die Praxis der Gerichte zeigt uns - die Praktiker sagen es uns immer wieder -, daß die Aufnahme dieses Tatbestandes in das Gesetz notwendig ist. Wir werden vielleicht sehr schnell erleben, daß wir diesen Tatbestand fordern müssen.
Man kann nicht davon ausgehen, daß derartige Störungen des Prozeßablaufes durch Prozeßsabotage durch Ehrengerichtsverfahren bereinigt werden können. Wir sind es nach meinem Dafürhalten auch dem Beschuldigten schuldig, daß das Verfahren reibungslos abläuft und zu einem gerechten Urteil führt. Das kann aber dann nicht der Fall sein, wenn der eigene Verteidiger dafür sorgt, daß eben kein rechtmäßiges Verfahren stattfinden kann.
Meine Damen und Herren, wir sollten überhaupt einmal die Frage prüfen - ob das in diesem Zusammenhang möglich ist, lasse ich dahingestellt; aber ich meine, wir werden nicht darum herumkommen, diese Frage einmal zu prüfen -, ob wir nicht so, wie das im angelsächsischen Recht mit dem „contempt of court" der Fall ist, eine Strafbestimmung gegen Angriffe auf die Gerichtsbarkeit haben sollten, und zwar nicht nur für Personen, die nicht am Prozeß beteiligt sind, sondern auch für Prozeßbeteiligte. Ich deute das jetzt nur an, weil ich meine, daß wir uns auf Grund der jüngsten Entwicklungen doch einiges überlegen müssen, um unseren Rechtsstaat in Gestalt der unabhängigen Gerichte zu erhalten.
Der Entwurf der Bundesregierung sieht auch ein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen vor. Die Begründung der Bundesregierung zeigt, daß sie sich bei diesem Vorschlag in Kenntnis einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ganz wohlfühlt. Denn das Bundesverfassungsgericht sagt, daß dem Zeugnisverweigerungsrecht im Interesse der Rechtsstaatlichkeit enge Grenzen zu ziehen sind.
Außerdem haben wir es bei den Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und Psychologen, denen ich in keiner Weise nahetreten will, mit einem Berufsstand und einer Funktion zu tun, die noch nicht genügend umschrieben sind, als daß eine Abgrenzung möglich wäre. Wir werden uns in den Ausschüssen darüber noch unterhalten müssen, wie weit es möglich ist,
Dr. Wittmann ({1})
Grenzen zu ziehen, damit auch wirklich dem Zeugnisverweigerungsrecht zugunsten eines Betroffenen Rechnung getragen wird und nicht einem Zeugnisverweigerungsrecht vielleicht für Aktionen, die nichts mit dem Individuum, mit dem Menschen zu tun haben, sondern vielleicht mit Systemveränderungen. Ich brauche Ihnen, Herr Minister Vogel, nicht zu sagen, in welche Richtung meine Ausführungen zielen. Sie werden aus München ja aus einigen Bereichen der Sozialarbeit - Gott sei Dank nur aus einigen Bereichen - eigene Erfahrungen haben, um zu wissen, daß man nicht ein zu weitgehendes Zeugnisverweigerungsrecht einräumen kann.
Die Regelung der Vernehmung von Kindern als Zeugen im Strafverfahren und in anderen Verfahren entspricht einem Gesetzentwurf, den die CDU/ CSU eingebracht hat und der dem Rechtsausschuß schon seit langem vorliegt. Die Bundesregierung hat hier also etwas aufgenommen, was die CDU/ CSU vorgeschlagen hat. Über die Altersgrenze werden wir uns, glaube ich, im Rechtsausschuß einigen können, nämlich über die Frage, ob wir die Altersgrenze 16 oder 14 Jahre nehmen werden.
Ich bin mir mit dem Bundesjustizminister einig, daß die Eidesregelung, wie wir sie in dem Gesetzentwurf sehen, nicht dazu führen darf, daß der Eid gänzlich abgeschafft wird. Wir haben gerade in der letzten Zeit Äußerungen auch aus diesem Hause, die darauf hinauslaufen, unter der Flagge „Trennung von Kirche und Staat" den Eid abzuschaffen. Wir müssen darauf achten, daß die moralische Kraft des Eides erhalten bleibt, ganz gleich in welcher Form.. Bei der vorliegenden Regelung geht es nicht etwa darum, Kirchenkampf in der Strafprozeßordnung zu führen oder die Kirche aus der Strafprozeßordnung herauszudrängen. Die Regelung, die hier vorgesehen ist, entspricht einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und soll ausschließlich und allein dem Schutz der Gewissensentscheidung des Zeugen und des sonstigen Eidespflichtigen dienen. Das allein ist hier zu regeln und nicht die Frage der Abschaffung des Eides. Denn eine Abschaffung des Eides würde der Wahrheitsfindung und damit auch der Rechtsstaatlichkeit schädlich sein. Wer die Bindung des Gewissens an die Wahrheit beseitigt, wird sehr schnell zu anderen Mitteln greifen. Wir kennen ja aus diktatorischen Staaten die Mittel, die dann benutzt werden. Wir sollten uns daran halten, daß wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, die Gewissensbindung des Individuums anzurufen, um von daher eine Wahrheitsfindung und einen gerechten Prozeß auf Grund der Beweisaufnahme zu finden.
Für die CDU/CSU-Fraktion möchte ich erklären, daß wir im Rechtsausschuß an einer zügigen Verabschiedung der beiden Entwürfe interessiert sind, um zu erreichen, daß unsere Rechtspflege auch in Zukunft dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in Unabhängigkeit dienen kann.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Penner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe des Bundesrats und der Bundesregierung haben Änderungen im Bereich des Strafverfahrensrechts zum Gegenstand. Dem unbefangenen Leser der Bundesratsdrucksache drängt sich namentlich beim Studium der Seite 1 der Eindruck auf, als ob die Strafjustiz am Ende sei. Anspruchsvolle Worte von „der bedrohlichen Zunahme von Störungen bei Hauptverhandlungen", von „Prozeßsabotage", dem „ein Gesetz zum Schutz der Rechtspflege" abhelfen soll, signalisieren in Richtung Justizdämmerung.
Nun wird kein Kenner der Verhältnisse bestreiten, daß Hauptverhandlungen in Strafsachen gestört, ja sabotiert werden. Aber ebenso wenig läßt sich leugnen, daß dies in verhältnismäßig wenigen Fällen geschieht. Meistens sind es Prozesse mit politischem Hintergrund - und hierbei auch gewiß nicht alle Fälle -, bei denen Verfahrensbeteiligte und Zuhörer die Gelegenheit suchen, das Forum der Justiz zur politischen Arena, ja zum Tollhaus umzufunktionieren. Große Publizität als e i n Zweck solcher Unternehmen und weitgehende Anonymität der normal verlaufenden Strafprozesse mögen denn auch zu unzutreffenden Vorstellungsbildern vom Zustand der Justiz beigetragen haben.
Die zunehmende Lebendigkeit der Hauptverhandlungen, das gewachsene Selbstbewußtsein des Bürgers, auch in der prekären Situation als Angeklagter seine Rechte wahrzunehmen und nicht alles gleichsam gottgegeben hinzunehmen, ist davon scharf zu trennen; sie ist im Rahmen des geltenden Rechts demokratisch legitimiert. Auch die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz sind an den Anforderungen unserer Verfassung zu messen. Das Grundgesetz kennt als Leitbild des Menschen den Bürger und nicht etwa den Untertan. Auch der Angeklagte behält im Strafverfahren und speziell in der Hauptverhandlung die damit verbundenen Rechte, solange sie nicht rechtskräftig aberkannt sind.
Natürlich brauchen wir eine Justiz, die ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe, für die Ordnung dieses Staates ihren Beitrag zu leisten, nachkommen kann. Dazu bedarf es auch flankierender Maßnahmen des Gesetzgebers, wenn die Umstände es erforderlich machen. Mißbräuchlichem Verhalten in Gerichtssälen werden wir auch mit gesetzgeberischen Mitteln begegnen müssen. Das werden wir bei allem Engagement gelassen und ohne falsche Aufregung tun. Der Rechtsstaat funktioniert; daran ändern auch ein paar Narren und Chaoten nichts. Eine gegenteilige Meinung teilen wir nicht; sie läßt sich mit der Wirklichkeit auch nicht in Einklang bringen.
In der Sache selbst enthält die Drucksache des Bundesrates ernst zu nehmende Vorschläge, die allerdings eingehender Prüfung bedürfen.
Die vorgeschlagene Neufassung des j 257 a der Strafprozeßordnung spiegelt im wesentlichen die Ergebnisse der Rechtspraxis wider. Diese 1964 geschaffene Vorschrift eröffnet Verteidigern und Staatsanwälten die Möglichkeit, auch schon vor den SchlußDr. Penner
vorträgen Erklärungen abzugeben. In der Praxis hat sich eine den Bedürfnissen entsprechende Rechtswirklichkeit ergeben. Schon nach geltendem Recht sind Erklärungen nicht zulässig, die allzu lang oder zu wenig prägnant sind oder die Schlußvorträge vorwegnehmen. Auch dürfen Erklärungen nicht zur Unzeit abgegeben werden. Die vorgeschlagene Änderung des § 257 a bringt also praktisch nichts Neues. Ob sie den Schutzzweck erfüllt, den ihr ihre Befürworter beilegen, erscheint zweifelhaft.
Die Vorschläge zur Ordnungsstrafe als einem Instrument gegen prozeßstörende Handlungen wirken überzeugend. Es wird aber darauf zu achten sein, Mißverständnissen und zynischer Umkehrung des Öffentlichkeitsprinzips in Einzelfällen nicht dadurch zu begegnen, daß das bewährte Prinzip selbst zur Disposition gestellt wird. Der Gesetzgeber darf nicht in den Fehler verfallen, auch nur unbewußt denen in die Hände zu spielen, die rechtsstaatliche Ordnungselemente ausnutzen, um den Rechtsstaat selbst zu treffen.
Die bisherige Regelung beim Ausschluß der Öffentlichkeit ist in der Tat wenig geschmeidig und taugt nicht für Situationen, die ein zügiges Handeln erfordern. Eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes - darüber müssen wir uns aber im klaren sein - berührt jedoch den Grundsatz der Öffentlichkeit, der neben dem der Mündlichkeit und dem der Unmittelbarkeit eine tragende Säule der Strafprozeßordnung ist, für die im 19. Jahrhundert heftig gestritten worden ist.
Die Wahrung des Prinzips der Öffentlichkeit ist eine der wesentlichen Bedingungen des öffentlichen Vertrauens in die Rechtsprechung der Gerichte. Nach einer Formulierung des Reichsgerichts verhindert sie, daß „die gesamte Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen in ein Dunkel gehüllt und dadurch Mißdeutungen und Argwohn ausgesetzt" wird. Die Möglichkeit, den Beschluß über den Ausschluß der Öffentlichkeit in nichtöffentlicher Sitzung zu verkünden, wenn anders eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu befürchten wäre, darf auch hier nicht zur Aushöhlung des Prinzips selbst führen. Es sind keine Gründe dafür erkennbar, tragfähige, mühsam entwickelte rechtsstaatliche Grundsätze zu verwässern. Eine Äußerung Feuerbachs aus dem Jahre 1821 zum Öffentlichkeitsprinzip hat auch heute noch ihre Bedeutung:
Sollte es keine besonderen Gründe geben, die Gerichtstüren zu öffnen, so gibt es wenigstens auch keine, diese zu schließen. Ist hinter den Türen nichts zu sehen, was der Mühe des Zusehens lohnte, so lasse man sie wenigstens offenstehen, damit man eben sehe, daß nichts zu sehen sei.
Der Entwurf der Bundesregierung eines zweiten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts bringt fünf rechtspolitisch bedeutsame Vorschläge.
Die vorgesehene Regelung, daß ein Strafverteidiger bei Vorliegen gesetzlich normierter Gründe von der Mitwirkung an einem Verfahren auszuschließen ist, hat dabei ihre besondere Bedeutung. Es ist leicht einzusehen, daß der Ausschluß von der Mitwirkung dann gerechtfertigt ist, wenn der Verteidiger seine Funktion als Organ der Rechtspflege verletzt und damit das auf Interessenwahrung angelegte Gleichgewicht im Strafverfahren zwischen den Verfahrensbeteiligten gestört ist. Das Gericht darf jedoch nicht zu einem Aufsichtsorgan für den Strafverteidiger werden. Es gilt, auch nur den Eindruck zu vermeiden, daß infolge der Ausschlußdrohung die Möglichkeit eröffnet wird, eine dem Gericht genehme Art der Verteidigung durchzusetzen.
Die neuen Vorschriften über die erweiterten Möglichkeiten für den Angeklagten, auf die Bestellung des Verteidigers Einfluß zu nehmen, kommen dem Bedürfnis des Betroffenen entgegen, ein auf Vertrauen begründetes Verhältnis zu seinem Verteidiger herstellen zu können. Es wird wichtig sein, im Verlauf der Beratungen nach einem Weg zu suchen, der ein nach weitgehend objektiven Kriterien gesichertes Auswahlverfahren gewährleistet und gleichzeitig verhindert, daß die weitgehend in das Belieben des Angeklagten gestellte Auswahlmöglichkeit ihm im Konfliktfall Möglichkeiten zur Prozeßverschleppung in die Hand gibt.
Die Änderungen der Vorschriften über die Eidesableistung im Strafverfahren erfüllen die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972, eine Regelung der Eidespflicht und ihrer Durchsetzung zu treffen, die den Forderungen des Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes entspricht. Die vorgeschlagene Regelung stellt sicher, daß diejenigen Personen, die den Zeugeneid unter Berufung auf ihr Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit verweigern, keinerlei Nachteile erleiden. Sie werden allerdings verpflichtet, die Wahrheit ihrer Aussage unter erhöhter Strafandrohung durch eine weltanschaulich-religiös neutrale Formel zu bekräftigen.
Der Entwurf der Bundesregierung sieht weiter vor, daß zukünftig unter bestimmten Voraussetzungen Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Berufspsychologen mit staatlich anerkannten Ausbildungsabschlüssen ein Zeugnisverweigerungsrecht haben sol-sen. Wir begrüßen den Vorschlag. Er entspricht einer Forderung, die von Sozialdemokraten schon lange erhoben wird.
Allerdings soll auch in diesem Zusammenhang ein Grundsatzproblem nicht unerwähnt bleiben: Immer mehr Berufsgruppen drängen danach, in den Katalog des § 53 StPO aufgenommen zu werden, um damit das Zeugnisverweigerungsrecht zu bekommen. Das hat sich deutlich bei den Beratungen zum Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch gezeigt. Dabei gilt es zu bedenken, daß auch heute noch die Zeugenaussage ein wesentliches Beweismittel im Strafverfahren ist. Eine funktionsfähige Strafrechtspflege ist darauf in besonderer Weise angewiesen. Die gesetzgeberische Aufgabe führt also dahin, einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Notwendigkeiten der Strafrechtspflege und der Berücksichtigung der Vertrauensbeziehungen einzelner Berufsgruppen als Grundlage einer sinnvollen Tätigkeit zu finden.
Sehr wichtig sind schließlich auch die Vorschläge der Bundesregierung zum Schutz kindlicher und jugendlicher Zeugen. Insbesondere bei Sittlichkeits8234
und Rohheitsdelikten können gerade hier besonders eingehende Befragungen für Kinder und Jugendliche sehr belastend sein. Die von der Rechtsprechung entwickelte Möglichkeit, wonach die Erziehungsberechtigten diese als Zeugen aus einem Strafverfahren heraushalten können, schließt eine solche Gefahr zwar unter Umständen aus; sie ist jedoch im Ergebnis auch nicht befriedigend, weil damit die Ahndung einer Straftat verhindert werden kann. Bejaht man aber die Notwendigkeit einer Strafverfolgung auch in den Fällen, bei denen die Aussage des Kindes von ausschlaggebender Bedeutung ist, so muß das Kind als Auskunftsperson auch in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen.
Es ist zu hoffen, daß der vorgeschlagene Weg, Fragen anderer Prozeßbeteiligter über den Vorsitzenden stellen zu lassen, Erleichterungen bringt. Freilich wird man sich um die Lösung von Konfliktfällen bemühen müssen; denn es ist sehr leicht möglich, daß gerade das Abgehen von der unmittelbaren Befragung des Kindes zu Auseinandersetzungen führt, die das Kind zusätzlich belasten.
Das zweite Strafverfahrensreformgesetz, aber auch die Initiative des Bundesrats können zur Stärkung und zum Ausbau der rechtsstaatlichen Ordnung beitragen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates zu.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts hat die Bundesregierung u. a. zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen. Dabei wird es jetzt Aufgabe des Gesetzgebers sein, einerseits bei den Eidesvorschriften mit der möglichsten Großzügigkeit und weltanschaulich toleranten Offenheit die Dinge zu regeln und auf der anderen Seite den Komplex Ausschließung von Verteidigern im Strafprozeß mit einem sehr großen Maß notwendiger Zurückhaltung zu behandeln; denn gerade an der Art und Weise, wie wir diese beiden Fragen regeln, erweist sich die Qualität unseres Rechtsstaates.
Die Bundesregierung war deswegen sicherlich gut beraten, als sie das Angebot an Eidesformeln bzw. Bekräftigungsformeln breit gefächert hat, als sie betont hat - in der Art und Weise ihrer Formulierung -, daß eine Gleichrangigkeit dieser Formeln vorliegt, und gleichzeitig die Belehrungspflicht des Vorsitzenden gegenüber dem Zeugen über die Wahlmöglichkeit zwischen den einzelnen Formeln festgelegt hat.
Ich begrüße es überdies, daß an den Begriffen Eid und Schwören auch bei der nichtreligiösen Beteuerungsformel festgehalten wurde; ganz einfach deshalb, weil ich meine, daß der Fortschritt der Toleranz es nicht erfordert - wo dem Andersdenkenden Ausweichmöglichkeiten geboten sind -, historisch gewachsene Begriffe auszumerzen, die durch unsere
Sprache psychologisch ihr Eigengewicht erlangt haben.
Bei der gesetzlichen Regelung des Ausschlusses von Verteidigern werden wir abzuwägen haben zwischen der notwendigen Sicherung eines rechtsstaatlich geordneten Strafprozesses und zum anderen dem Recht des Beschuldigten, sich des Verteidigers seines Vertrauens zu bedienen. Die freie Advokatur in ihrer historischen Entwicklung war immer eines der wesentlichen Kennzeichen unseres Rechtsstaates. Wer in autoritären Systemen beobachtet, daß die freie Advokatur zunächst immer Einschränkungen und Gängelungen und schließlich Unterdrückungen ausgesetzt ist, der wird bis zum äußersten mit Generalklauseln oder generalklauselartigen Formulierungen in diesem Bereich zurückhaltend sein.
Um es sehr deutlich zu sagen: Zu dieser freien Advokatur gehört auch, daß Minderheiten aller Art auch ihren Minderheitenanwalt, den Anwalt ihres Vertrauens im breiten Spektrum des Angebots an Anwälten finden können. Die Persönlichkeit, die dort zum Verteidiger gewählt wird, mag vielleicht etwas einrissig sein; an der Meinung des Durchschnitts der Bevölkerung gemessen mag diese Persönlichkeit sogar ein extremer Außenseiter sein. Darauf kommt es entscheidend aber nicht an, sondern es ist vor allem wichtig, daß diese Persönlichkeit das Vertrauen ihres Mandanten besitzt und daß auch der böse Schein vermieden wird, der Staat würde in irgendeiner Weise auf die Auswahl der Person des Verteidigers Einfluß nehmen wollen. Dabei ist es immer eine ganz andere Frage, ob dem konkreten Beschuldigten im konkreten Fall damit gedient ist, daß er sich eines Außenseiterverteidigers bedient. Aber es ist meines Erachtens nicht Aufgabe des Staates, hier in allgemeiner Form eine Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten auszuüben.
({0})
Für den Rechtsanwalt ergeben sich bei Ausübung seines Berufes natürliche Grenzen. Er darf nicht der Kumpan und er darf nicht der Gegenspieler seines Mandanten im Strafprozeß sein. Das wird im Entwurf der Bundesregierung ausreichend geregelt. Dem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege sind weitere Grenzen bei Ausübung seines Berufes gezogen.
Wie sind nun Verstöße dagegen zu ahnden? Es geschieht dies im Wege der Standesgerichtsbarkeit. Bei der Entscheidung darüber, ob ein Verteidiger auszuschließen ist, wird es notwendig sein, sich möglichst weit vom konkret mit der Sache befaßten Gericht zu entfernen. Deswegen wird es nicht angehen, wie der Bundesrat meint, dasjenige Gericht mit der Entscheidung über die Ausschließung zu befassen, bei dem. das Verfahren anhängig ist. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich um eine mehr strafprozeßrechtliche und weniger standesrechtliche Frage. Der Entwurf der Bundesregierung weist die Entscheidung über die Ausschließung dem OLG zu. Nun sind bei den Oberlandesgerichten auch die Ehrengerichtshöfe angesiedelt. Es wird sehr genau zu prüfen sein, ob nicht möglicherweise die Entscheidung der EhrenEngelhard
Berichtshöfe in diesen Fragen schon durch ihre gemischte Besetzung mit Berufsrichtern und Rechtsanwälten eine durchaus erwägenswerte Lösung darstellt.
Die Frage des Vertrauens des Beschuldigten zu seinem Anwalt spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Bestellung des Pflichtverteidigers. Es ist deswegen der richtige Weg eingeschlagen worden, daß künftig die Auswahl dem Beschuldigten obliegen soll. Es muß weiter gewissen Bedenken begegnen, wenn vorgesehen ist, daß der Vorsitzende auf Grund eines generalklauselartigen Ausnahmetatbestandes selbst weiterhin diese Auswahl vornehmen kann. Es ist dort formuliert, daß der Vorsitzende die Auswahl vorzunehmen hat, wenn wichtige Gründe dafür sprechen. Ich glaube, das muß etwas restriktiver formuliert werden, um nicht auch hier wieder den Gesichtspunkt einer von seiten des Staates gar nicht verlangten allgemeinen Fürsorgepflicht zugunsten des Beschuldigten, die dieser in vielen Fällen gar nicht wünschen kann, in den Text des Gesetzes hineinzubringen.
Was die Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechts betrifft, so hat man damit für den Bereich der Sozialarbeiter, der Sozialpädagogen und der Psychologen, die in einer bestimmten Funktion tätig werden, deren zunehmender Bedeutung im Rahmen eines Gerichtsverfahrens und der allgemeinen Beratung Rechnung getragen. Es wird allerdings unserer Überzeugung nach die äußerste Zurückhaltung geboten sein, um hier nicht ein Ausufern des Zeugnisverweigerungsrechts auf lange Sicht in die Wege zu leiten und damit die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden in nicht unerheblichem Maße einzuschränken.
Was den verstärkten Schutz von Zeugen unter 16 Jahren anlangt, so ist der Entwurf grundsätzlich zu begrüßen. Es läuft aber dort auch die Grenze bei der unbehinderten Verteidigungsmöglichkeit des Angeklagten. Bei den Beratungen im Ausschuß wird sehr genau zu prüfen sein, ob das Quasi-Vernehmungsmonopol des Vorsitzenden, der dort, wo von Verfahrensbeteiligten weitere Fragen gestellt werden, diese Fragen seinerseits, auch in der Formulierung, filtern kann, nicht bereits eine doch zu weitgehende Einschränkung des Verteidigungsrechts des Angeklagten mit sich bringt.
Ich glaube, man muß sich vergegenwärtigen, daß schlimmer als unangemessene Formen der Vernehmung, die jeweils durch das rechtzeitige Eingreifen des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung verhindert werden können, stets der lange Zeitablauf zwischen der Straftat und den Vernehmungen für den Jugendlichen und für das Kind, die als Zeuge auftreten müssen, ist. Schlimmer sind auch der lange Zeitablauf zwischen der polizeilichen Vernehmung und der sich später anschließenden Hauptverhandlung und manchmal auch die Häufigkeit der Vernehmungen. Ein erheblicher Teil des Problems kann dadurch gelöst werden, daß diejenigen Verfahren, bei denen Aussagen von Kindern und Jugendlichen entscheidende Bedeutung haben, in ihrem Ablauf ganz wesentlich beschleunigt werden.
Störungen und Ausschreitungen in unseren Gerichtssälen hat der Bundesrat zum Anlaß genommen, den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Rechtspflege vorzulegen. Ich muß ganz ehrlich sagen: Ich glaube, daß die dort vorgesehenen Änderungen in der Praxis und im konkreten Falle den Ausschreitungen wenig wehren oder sie gar verhindern können. Es wird kaum eine Möglichkeit bestehen, Störungen und Ausschreitungen mit diesen Vorschriften besser in den Griff zu bekommen. Wenn ich trotzdem die Vorlage insgesamt positiv bewerte, dann ganz einfach deshalb, weil sie ein gewisses Maß psychologisch positiver Auswirkung mit sich bringen kann.
Bisher haben die Ausschreitungen im konkreten Fall weniger die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in Frage gestellt als vielmehr ganz generell, manchmal über die Bedeutung der einzelnen Sache hinaus, das Vertrauen der Bevölkerung in eine funktionsfähige Strafrechtspflege erschüttert und damit ganz sicherlich nicht unerheblich zum Abbau der unbedingt notwendigen Autorität der Gerichte beigetragen. ich erachte es deswegen psychologisch für günstig, wenn künftig der Vorsitzende allein gegenüber Personen, die am Verfahren nicht beteiligt sind, ohne Verzögerung Ordnungsgeld und Ordnungshaft in einem größeren Umfang verhängen und festsetzen kann. Die gesetzlich erzwungene Wiederzulassung von Störern, die vor kurzem erst aus dem Gerichtssaal gewiesen worden waren, nur zu dem Zwecke, um ihnen zu eröffnen, daß sie anschließend wieder ausgeschlossen werden, hat manchmal einer nicht informierten Öffentlichkeit gegenüber die Gerichte nahezu der Lächerlichkeit preisgegeben. Deswegen ist der Vorschlag des Bundesrats sicherlich zu begrüßen, wenn ich auch in Übereinstimmung mit der Bundesregierung meine, daß er restriktiver zu formulieren sein wird.
Was das Erklärungsrecht von Staatsanwalt und Verteidigung betrifft, so wird man mit der größten Zurückhaltung an diese Fragen herangehen müssen. Herr Kollege Dr. Wittmann, es mag im Einzelfall für die Verfahrensbeteiligten ärgerlich und psychisch manchmal nahezu unerträglich sein, über Stunden hinweg weltanschauliche oder politische Darlegungen, etwa der Verteidigung, sich anzuhören. Ich glaube aber, daß die Entscheidung der Frage, was nun Gegenstand des Verfahrens ist, nicht so einfach der Entscheidung des Gerichts zugeschoben werden kann, ganz einfach deswegen, weil subjektiv die Auffassungen darüber, wie eine Verteidigung zu führen ist, weit auseinandergehen. Ich glaube, daß wir bei der neuen Bestimmung des § 257 a in geänderter Form zu anderen, konkreteren Formulierungen werden kommen müssen.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Rechtsausschuß. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen.
Präsident Frau Renger
Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der Zulassungsrevision gegen Berufungsurteile der Landgerichte in Zivilsachen
- Drucksache 7/2459 Überweisungsvorschlag des Ältestensrates: Rechtsausschuß
Das Wort zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Vogel ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Fraktionen des Hauses sind, so hoffe ich, einig darin, daß wir versuchen müssen, den Rechtsschutz zu verbessern, den Rechtsschutz für den Bürger effektiver zu gestalten.
({0})
Nachdem so hoffe ich jedenfalls, das Projekt der großen Justizreform begraben ist,
({1})
scheint mir die Möglichkeit gegeben zu sein, wieder eine an den praktischen Bedürfnissen und an den praktischen Möglichkeiten orientierte Justizpolitik zu betreiben, die uns auch tatsächlich ein Stück weiterführt. Es ist doch leider so gewesen, daß diese Politik des Alles-oder-Nichts in der Justizpolitik in den letzten Jahren dazu geführt hat, daß auch die möglichen Verbesserungen unterblieben sind.
Hier sollten wir jetzt die neue Chance ergreifen. Es liegen eine Reihe von Entwürfen dazu vor: einige Entwürfe, die vom Bundesrat kommen, einige Entwürfe, die hier im Hause eingebracht worden sind. Dazu fügen wir heute eine weitere Initiative, die für einen wichtigen Teil der Rechtsprechung sicherstellen soll, daß die Rechtseinheitlichkeit gewahrt werden kann.
Wir haben in einem großen Teil der Rechtsprechung nach wie vor den Zustand, daß der Instanzenzug beim Landgericht endet und daß keine Möglichkeit besteht, bei auseinanderlaufender Rechtsprechung für die nötige Einheitlichkeit in der Rechtsprechung zu sorgen. Der Entwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben, soll sicherstellen, daß auch bei den Entscheidungen der sogenannten kleinen Reichsgerichte, der Berufungszivilkammern an den Landgerichten, unter bestimmten Voraussetzungen eine Revisionsentscheidung herbeigeführt werden kann.
Wir haben es hier mit einem - jedenfalls für den Bürger in seinem Alltag - sehr wichtigen Teil der Rechtsprechung zu tun. Hier geht es, wenn ich das einmal so sagen darf, um die Revision des „kleinen Mannes". Ich kann mir durchaus vorstellen, daß es auch den einen oder anderen Rechtsbeflissenen gibt, der in den Bereichen, die heute den Amtsgerichten vorbehalten sind und die bei den Landgerichten enden, höchtsrichterliche Entscheidungen herbeigeführt wissen möchte. Nehmen wir an, der Rechtsanwalt Professor Horst Ehmke macht eine Mietstreitigkeit beim Amtsgericht in Bonn anhängig, geht in die Berufung zum Landgericht; es ist eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, dann kann ich mir vorstellen, daß er daran interessiert ist, hier auch eine höchtsrichterliche Entscheidung zu bekommen, die sicherstellt, daß die Rechtsprechung in diesen Fragen nicht auseinanderläuft.
({2})
Genau um diesen Punkt geht es uns, meine Damen und Herren, und deshalb wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie uns auf diesem Wege folgten.
Es wird einen Einwand geben. Dieser Einwand wird der sein, daß es ja schon Rechtsmittel genug gebe, daß bei uns der Rechtsstaat in der Gefahr sei, zu einem Rechtsmittelstaat zu pervertieren. Mit diesem Einwand werden wir uns auseinanderzusetzen haben. Ich meine aber, daß hier in diesem Falle dieser Einwand nicht zieht. Genauso wichtig wie die Eingrenzung des Rechtsmittelunwesens ist die Sicherstellung der Rechtseinheit, die hier bisher nicht gewährleistet ist. Das ist einer der großen Mängel gewesen, die beklagt worden sind, im übrigen ja auch -eines der Argumente, die immer ins Feld geführt worden sind, wenn für die Dreistufigkeit plädiert worden ist. Wir werden uns hier jedenfalls Gedanken darüber machen, wie wir die Rechtseinheitlichkeit sicherstellen können, um nicht in den Zugzwang zu kommen, alle paar Jahre - weil nämlich dann die Rechtsprechung an den Landgerichten auseinandergelaufen ist - durch einen Akt des Gesetzgebers den Versuch machen zu müssen, die Rechtseinheitlichkeit wieder herbeizuführen, was zwangsläufig dann wieder dazu führt, daß die Rechtsprechung erneut auseinanderläuft. Ich glaube, daß wir uns in diesem Anliegen finden können, wobei niemand, der sich auskennt, bestreiten kann, daß wir gerade bei den Berufungszivilkammern der Landgerichte eine qualitativ hochwertige Rechtsprechung haben.
Meine Damen und Herren, soviel zur Begründung des Entwurfs, der Ihnen vorliegt. Ich wäre dankbar, wenn wir ihn mit anderen Entwürfen, die vorliegen, möglichst bald verabschieden könnten.
Ich verkenne nicht einen gewissen Zusammenhang mit der Novelle für das Rechtsmittel der Revision in Zivilsachen beim Bundesgerichtshof. Hier werden wir wohl oder übel die Entscheidung zu treffen haben, ob wir die Zulassungsrevision einführen oder nicht. Wir wissen, daß hier die Meinungsverschiedenheiten quer durch das Haus gehen. Das ist keine parteipolitische Frage. Ich persönlich bin der Auffassung, daß wir um die Entscheidung für die Zulassungsrevision nicht herumkommen. Andere sind anderer Auffassung. Wir müssen feststellen, welche Mehrheit sich in dieser Frage hier im Hause bildet. Nur, um eine Entscheidung in dieser Frage kommt der Gesetzgeber in dieser Legislaturperiode nicht herum.
({3})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Emmerlich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Zivilrechtsstreitigkeiten, für die die Amtsgerichte zuständig sind, gibt es als Rechtsmittel nur die Berufung an das übergeordnete Landgericht. Das kann zumindest insoweit - Herr Vogel, da haben Sie völlig recht - nicht länger hingenommen werden, als für bestimmte Rechtsgebiete eine ausschließliche Zuständigkeit der Amtsgerichte gegeben ist. Im übrigen sind die Fragen der Rechtseinheit zwischen uns - vielleicht unter zusätzlichen Gesichtspunkten- noch einmal durchzudiskutieren.
Auf diesen Mangel unseres Rechtsmittelsystems weisen wir Sozialdemokraten schon lange hin. Das Bundesjustizministerium ist seit der Bildung der sozialliberalen Koalition dabei, die mit der Beseitigung dieses Mangels zusammenhängenden Probleme im Rahmen einer Gesamtreform zur Neuordnung der Gerichtsorganisation und des gerichtlichen Verfahrens zu bewältigen. Herr Kollege Vogel, in diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß hier nichts zu begraben ist.
({0})
Und es ist ein Mißverständnis, Herr Vogel, wenn Sie einen Gegensatz zwischen diesen Bemühungen um eine umfassende, ein Gesamtkonzept verratende Reform und einer Politik konstruieren wollen, die an den praktischen Erfordernissen der Justiz, aber auch an den Wünschen und Notwendigkeiten der Menschen in diesem Lande orientiert ist. Sie können ganz beruhigt sein: ein derartiger Gegensatz hat nicht bestanden, besteht nicht und wird auch in Zukunft nicht bestehen.
({1})
Wir anerkennen, Herr Kollege Vogel um Sie aus Ihren Träumen auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuführen -, daß nunmehr auch die Opposition diesen von uns schon lange beklagten Mangel sieht und einen Lösungsvorschlag unterbreitet.
({2})
- Offenbar, Herr Kollege Vogel.
({3})
- Wenn Sie etwas auf das aufpassen, was ich noch zu sagen habe, wird Ihnen nicht entgehen, daß wir gerade im Bereich der Reform des Rechtsmittelwesens bemerkenswerte Vorschläge unterbreitet haben. Sie haben ja Gelegenheit, dazu noch Stellung zu nehmen.
({4})
- Herr Kollege Hauser, darüber werden wir uns noch zu unterhalten haben. Insbesondere werde ich Ihnen jetzt einige Bemerkungen über die Tauglichkeit Ihrer Lösungsvorschläge machen. Ich bin der Meinung, Ihr jetzt hier zur Diskussion stehender Entwurf ist ganz entschieden mit zu heißer Nadel
gestrickt und stellt kaum eine tragfähige Grundlage für die Lösung der Problematik der Rechtsmittel in amtsgerichtlichen Zivilverfahren dar. Der Oppositionsentwurf ist nämlich zu sehr auf einen Teilaspekt der gesamten Rechtsmittelproblematik abgestellt Er fügt sich weder in das bestehende Rechtsmittelsystem ein noch ist er ein Schritt zu einem neuen, möglichst einheitlichen und übersichtlichen Rechtsmittelsystem. Er trägt zur Undurchsichtigkeit und zur Verwirrung bei und erhöht die vorhandene Vielfalt, statt sie zu verringern.
Gestatten Sie eine Frage, Herr Kollege?
Darf ich eine herzliche Bitte an Sie richten, Herr Kollege Emmerlich, wobei ich das Bestreben habe, daß die Beratungen im Hause nicht zu langweilig werden, daß Ihnen, wenn Sie Entwürfe der Opposition hier kritisieren, mal etwas anderes einfällt, als die „heiße Nadel"?
Herr Vogel, ich schlage vor, Sie hören mal zu, was mir zu Ihrem Entwurf eingefallen ist. Ich hoffe, daß dieses Zuhören dazu führen wird, daß Sie sich unsere Einwände einmal unvoreingenommen durch den Kopf gehen lassen. Ich denke, daß wir dann in den Beratungen des Rechtsausschusses zu einer gemeinsamen Lösung kommen werden. Das ist jedenfalls unsere Hoffnung.
({0})
- Herr Kollege Erhard, ich freue mich, daß ich Ihren Entwurf richtig verstanden habe.
Nun im einzelnen die Einwendungen, die wir zu erheben haben: Der Entwurf will für zivilrechtliche Amtsgerichtsverfahren, für die das Landgericht Berufungsinstanz ist, die Revision an das übergeordnete Oberlandesgericht eröffnen, sofern die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder von einer Entscheidung des BGH abgewichen worden ist. Will das Oberlandesgericht als Revisionsgericht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts
- ein bemerkenswerter Unterschied! - und des Bundesgerichtshofs abweichen, so ist der Rechtsstreit letzterem zur Entscheidung zu überlassen. Mit anderen Worten, Herr Vogel, es wird ein Rechtsmittelzug Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht bzw. BGH begründet. Dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß in Kindschaftssachen ein anderer Rechtsmittelzug, nämlich Amtsgericht, Oberlandesgericht, BGH, gegeben ist und bei Streitigkeiten aus §§ 556 a bis 556 c BGB auf Grund des Dritten Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften nach der Berufung der Rechtsentscheid durch das Oberlandesgericht, eventuell durch den BGH; Herr Kollege Hauser wird das ganz besonders gut wissen.
Nimmt man hinzu, daß in Zivilsachen, für die Landgerichte erstinstanzlich zuständig sind, die Berufung zum Oberlandesgericht und die Revision
zum BGH statthaft sind, so fügt die CDU/CSU-Fraktion den vorhandenen drei Rechtsmittelzügen einen vierten hinzu. Dies würde die Verwirrung der Rechtsuchenden steigern und die Unausgewogenheit des Rechtsmittelsystems nicht abbauen, sondern vergrößern.
({1})
- Ein vierter Rechtsmittelzug, Herr Kollege Erhard.
({2})
- Passen Sie mal auf: Die Divergenzentscheidung durch den BGH - ich denke doch, Sie haben Ihren eigenen Entwurf wenigstens gelesen -
({3})
- Herr Kollege Erhard, ich möchte jetzt in meiner Begründung fortfahren. Sie sind sicherlich in der Lage - - Gott, wenn Sie unbedingt wollen, gut. Ich wollte Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen.
Herr Kollege Erhard erhält die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.
Sollte Ihnen entgangen sein, daß die Entscheidung des Oberlandesgerichtes bleibt, daß lediglich wegen der Divergenz eine Rechtsmeinung zur Vereinheitlichung vom obersten Gericht eingeholt wird? Oder ist das für Sie eine weitere Instanz?
Herr Kollege Erhard, nach Ihrem Vorschlag geht der Rechtsstreit dann, wenn eine Divergenz zu einer Rechtsprechung eines anderen Oberlandesgerichtes oder zu der des BGH besteht, insgesamt zur Entscheidung auf den BGH über. Wenn Sie etwas anderes gewollt haben, dann werden wir uns darüber unterhalten; dann müssen wir das aber ins Gesetz schreiben.
({0})
- Ich hoffe, daß wir uns wenigstens noch darüber verständigen können, was in dem Gesetzentwurf steht, den Sie vorlegen.
({1})
Zweitens. Die Opposition nimmt in der Entwurfsbegründung mit keinem einzigen Hinweis zu der Frage Stellung, welche personellen und baulichen Konsequenzen ihr Vorschlag für die Oberlandesgerichte hat und ob und in welcher Weise die Länder in der Lage sind oder in die Lage versetzt werden können, dem gerecht zu werden.
Drittens. Die Opposition scheint - jetzt sage ich „scheint", Herr Kollege Erhard; passen Sie gut auf! - nach der von ihr vorgelegten Neufassung des § 546 Abs. 2 ZPO in landgerichtlichen Verfahren nicht nur von der Beibehaltung der Streitwertrevision auszugehen, sondern auch davon, daß das Gesetz zur Entlastung des BGH am 15. September 1975 auslaufen soll. Sie hält anscheinend eine Mehrbelastung des BGH für vertretbar, die durch mehrere Umstände eintreten würde: einmal dadurch, daß die Anzahl der Verfahren mit nominell höheren Streitwerten und damit der Anteil der von vornherein revisiblen Verfahren infolge der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse gestiegen ist und weiter steigen wird, zum anderen dadurch, daß die gegenwärtige Revisionssumme von 25 000 DM auf 15 000 DM herabgesetzt werden würde, weiter dadurch, daß die an die Oberlandesgerichte gehenden Revisionen in den Divergenzfällen vom BGH zu entscheiden wären. Eine derartige Mehrbelastung könnte nur durch eine Vergrößerung des BGH aufgefangen werden. Das hätte zur Folge, daß der BGH seiner vornehmsten Aufgabe, nämlich Fortbildung des Rechts und Vereinheitlichung der Rechtsauslegung, nicht besser, sondern schlechter gerecht werden könnte. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie müssen sich darüber klar werden, daß der BGH nur dann auf weiteren Rechtsgebieten - Herr Kollege Vogel, ich glaube, dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt - zur Wahrung der Rechtseinheit und zur Fortbildung des Rechts mit Erfolg eingeschaltet werden kann, wenn er mindestens im Gleichtakt dazu entlastet wird.
Abschließend betone ich: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist entschlossen, das ihre dazuzutun, damit unser Rechtsmittelsystem verbessert wird. Wir werden alle Vorschläge aufgeschlossen und ohne Voreingenommenheit prüfen. Wir werten den vorliegenden Gesetzentwurf als ein Anzeichen dafür, daß Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, zur Mitarbeit und Mitwirkung bereit sind. Die Probe aufs Exempel, um nicht zu sagen: Ihre Nagelprobe, Herr Vogel,
({2})
ist die bevorstehende Beratung der Revisionsnovelle im Rechtsausschuß. Wir wünschen, daß sie ein positives Ergebnis hat.
({3})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren. Herr Vogel, wir wollen ja eine große Justizreform, wir sind nur der Meinung - das hat sich bei anderen Gesetzen, z. B. auf dem Gebiet des Strafrechts, schon sehr bewährt -, daß man das in gewissen Schritten tun sollte. Nun ist die Frage eigentlich nur noch - dann kommt im Grunde schon alles sehr nahe zueinander -, wie solche Schritte aussehen sollten. Da meine ich allerdings, diese Schritte sollten so groß sein, daß sie die unmittelbar zusammenhängenden Fragen mindestens gleichzeitig abdecken, und
so klein, daß nicht mit einer Gesamtvorlage die Arbeitsfähigkeit des Hauses und insbesondere der betroffenen Ausschüsse überfordert wird.
({0})
Sie haben mit Ihrem heutigen Entwurf den Minimalweg gewählt. Sie gehen jetzt nach einem gewissen Pick-System vor und haben sich eine Einzelfrage herausgepickt, die mir nun allerdings einen zu kleinen Schritt bedeutet und bei der ich auch meine, daß man sogar schon bei der Anfertigung eines Gesetzentwurfs vor der Beratung in den Ausschüssen doch noch einige Zusammenhänge mehr hätte berücksichtigen können.
Erschrocken habe ich mich im übrigen -- diesen Mangel hatte ich an Ihrem Entwurf bei der Lektüre überhaupt nicht entdeckt - über die besondere Eigenwilligkeit, nach der Sie die Zulassung zu regeln gedenken. Daß nämlich die Professoreneigenschaft des Klägers für die Zulassung der Revision eine besondere Rolle spielen soll, hatte ich bei der Lektüre nicht vermutet.
({1})
- Oder des Beklagten. Sagen wir: die Professoreneigenschaft einer Partei. Ist es so richtig? Dies konnte ich Ihrem Text also tatsächlich nicht entnehmen.
Zu dem Problem des Rechtsmittelstaates statt des Rechtsstaates ist schon vieles gesagt worden. Es gibt doch einfach das Problem, daß ein spätes richtiges Urteil für die Parteien häufig weniger wert ist als ein etwas früheres Urteil, das zumindest größtenteils richtig ist. Es gibt das weitere Problem, daß ein obsiegendes Urteil für die obsiegende Partei immer noch sehr teuer werden kann, je nachdem, wieviel Rechtszüge durchlaufen wurden.
Ich habe mich dies nur als Beispiel dafür, was
man alles bedenken sollte - gefragt: Warum sollen die Parteien, wenn sie beim Amtsgericht bereits wissen, daß es sich um eine Rechtsfrage handelt, die sie nicht über das Landgericht hinausbringen 'können und die ihrer Ansicht nach dort wahrscheinlich so falsch entschieden wird wie schon in etlichen Vorprozessen, dann noch die Berufung in der zweiten Tatsacheninstanz durchstehen müssen, wenn die Tatsachen unstreitig sind und jedermann weiß, daß es nur um die Rechtsfrage geht? Ich wäre also schon der Meinung, daß man - wenn man Ihrer Anregung im Grundsatz folgt - hier auch die Möglichkeit einer Sprungrevision unter Ausschaltung einer vollen Tatsacheninstanz mit all ihren Belastungen und Kosten bedenken sollte.
Des weiteren glaube ich, ein Teil des Problems liegt, wie Sie richtig gesagt haben, Herr Vogel, darin, daß oberhalb der Grenze von 1 500 DM, die sicherlich demnächst geändert werden wird, nichts mehr möglich ist, was der Rechtseinheit dienen könnte. Es gibt aber noch einen anderen Fall. Auch dieser wird, wenn wir uns mit den Wertgrenzen erneut befassen, von erheblicher Bedeutung sein. Ich denke jetzt an die Fälle, in denen schon die Berufung nicht mehr möglich ist. Wenn wir hier auf eine Wertgrenze von 500 DM kommen sollten, wie es den vorliegenden Vorschlägen entsprechen würde, taucht das gleiche Problem hier in leicht veränderter Form noch einmal auf.
Es ist sicherlich unser aller Anliegen, daß die sozial Schwächeren, für die die kleineren Beträge durchaus von erheblicher Bedeutung sind, hier auch volle Rechtsgarantien haben. Es ist aber nicht so, daß dies, wie Sie vermuten, nur Prozesse des kleinen Mannes seien. Es gibt in diesem Bereich - sowohl unterhalb der 500-DM-Grenze als auch unterhalb der 1 500-DM-Grenze - leider auch Prozesse, die von enormer wirtschaftlicher Bedeutung sind, weil es sich um Fälle handelt, die im Einzelfall niemals die genannten Grenzen überschreiten, in der Summierung aber für Unternehmen, die sich fast nur mit derartigen Dingen befassen, Geschäfte von vielen Millionen DM ausmachen. Wenn man in diesem Bereich zu einer Vielfalt verschiedener Entscheidungen kommt, bedeutet das für Unternehmen, die derartige Geschäfte in großen Zahlen, aber bei kleinen Werten betreiben, fast eine Rechtsverweigerung, denn sie werden angesichts der unterschiedlichen landgerichtlichen Urteile derartige Prozesse wegen ,des anteiligen Kostenbetrages nicht mehr zu führen wagen. Auch das sollte man, meine ich, bedenken. Insoweit sollte man Ihre Gedanken erweitern und in den Gesamtrahmen, von dem Herr Emmerlich schon gesprochen hat, mit einführen. Das scheint mir schon sehr bedenkenswert zu sein.
Auf die Revision beim BGH - Zulassung oder Streitwert - ist bereits hingewiesen worden. Ich sehe mich hier als Weltkind in der Mitten. Das ist Ihnen auch bekannt. Ich meine, man muß nicht das eine lassen, wenn man das andere tun will. Unterhalten wir uns doch einmal über vernünftige Beträge, und schaffen wir an einer geeigneten Stelle, wobei ich „geeignet" auf die Belastbarkeit des BGH beziehe - das muß genau durchgerechnet werden -, eine Schwelle, bis zu der der zufällige Zugang zur Revision - nur auf Grund des Streitwerts und nicht auf Grund der Zulassung - möglich bleibt, damit hier nicht überall der blaue Himmel der Rechtskraft lacht und zu einer doch erstaunlichen Veränderung der Urteile führt. Der Unterschied nicht nur zwischen Schieds-, sondern eben überhaupt zwischen nicht mehr rechtsmittelfähigen und rechtsmittelfähigen Urteilen ist ja doch für jeden, der sie einmal in der Praxis in größerer Zahl nebeneinandergelegt hat, signifikant. Das bewegt mich auch auf diesem Gebiet.
Ich habe nur versucht, für uns alle darzulegen, was man sich bei Ihrem Entwurf noch alles denken könnte, und habe auf den Unterschied zwischen dem Picksystem und dem Reformsystem hinzuweisen versucht. Wollen wir uns bei den Reformen in vernünftigen, abgewogenen Schritten gemeinsam weiterbewegen!
({2})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache in der ersten Beratung.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage dem Rechtsausschuß zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 11 der heutigen Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten ({0})
- Drucksache 7/2506 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({1})
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Regierungserklärung vom Januar 1973 hat die Bundesregierung gesetzliche Vorschriften über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten angekündigt. Diese Ankündigung wird mit dem Entwurf, der heute dem Bundestag zur ersten Lesung vorliegt, eingelöst.
Die Bundesrepublik betritt mit dem Entwurf gesetzgeberisches Neuland. Angesichts vergleichbarer Regelungen in einer größeren Anzahl ausländischer Staaten, angesichts der gründlichen Erörterungen durch die Wissenschaft und den Deutschen Juristentag im Jahre 1972 sowie im Hinblick auf eine Vorlage der Opposition im letzten Bundestag bin ich jedoch sehr zuversichtlich, daß wir in Bälde zu einer vernünftigen und praktikablen Lösung des Problems kommen werden.
Kern des Problems ist die Erkenntnis, daß alle Anstrengungen zur Verbrechensverhütung und zur Verbrechensbekämpfung die Begehung von Straftaten niemals gänzlich verhindern können. Eine Gemeinschaft, die das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ernst nimmt, wird deshalb den Opfern solcher Straftaten gegenüber nicht gleichgültig bleiben können.
Das gilt insbesondere für die Opfer von Gewaltverbrechen. Ihre Folgen treffen häufig nicht nur das Opfer selbst, sondern dessen ganze Familie. Sie können von dem Opfer oder seinen Hinterbliebenen auch nicht in allen Fällen aus eigener Kraft gemeistert werden.
Vor allem genügt es nicht, auf die zivilrechtlichen Vorschriften über den Schadensersatz zu verweisen, wenn der Täter nicht ermittelt werden kann oder wenn er leistungsunfähig ist. Mitunter übersteigt das Ausmaß des angerichteten Schadens auch bei weitem das, was der Täter durch eigene Leistung im Laufe seines ganzen Lebens wiedergutzumachen vermag. Schließlich geraten auch die strafrechtlichen Sanktionen, besonders die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, vielfach mit den Ersatzansprüchen des Opfers in Konflikt. Hier muß die Gemeinschaft in angemessener Weise helfen. Dieses Ziel verfolgt der vorliegende Entwurf.
Er beschränkt sich dabei auf die Opfer der sogenannten Gewaltkriminalität und, von geringen Ausnahmen abgesehen, auf Schäden an Leib und Leben. Auch die Schäden einzubeziehen, die durch reine Vermögensdelikte, etwa durch Betrug, entstehen, ist weder möglich noch zweckmäßig. Hier würde wohl auch die Grenze zu einer allgemeinen Versicherung des Lebensrisikos gegen Schicksalsschläge und gegen Wechselfälle des Alltags überschritten.
Der Entwurf sieht Leistungen in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes vor. Die Bundesregierung hat sich für dieses System entschieden, weil es eine Versorgung gewährleistet, die sowohl dem Prinzip eines gerechten Ausgleichs als auch dem Bedarf des einzelnen Opfers am nächsten kommt. Zugleich wird diese Materie auf diese Weise von vornherein in die Neuregelung der sozialen Rechte mit einbezogen, die mit dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Sozialgesetzbuchs eingeleitet worden ist.
Konkret werden durch den Leistungskatalog des Bundesversorgungsgesetzes die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit sowie das Recht auf eine angemessene wirtschaftliche Versorgung, und zwar im Falle des Todes auch der Hinterbliebenen, gesichert. Außerdem kommen künftige Verbesserungen des Bundesversorgungsgesetzes automatisch auch den Opfern von Gewalttaten zugute.
Die Bundesregierung hat ferner diesen Anlaß benutzt, eine in der Öffentlichkeit seit langem mit Recht geforderte Verbesserung der Rechtsstellung der sogenannten Nothelfer vorzusehen. Wer bei Unglücksfällen, z. B. Straßenverkehr oder in sonstigen Gefahrenlagen anderen hilft, soll künftig neben den nach der Reichsversicherungsordnung bereits bestehenden Ansprüchen wegen erlittener Gesundheitsschäden auch Anspruch darauf haben, daß ihm Sachschäden, etwa an der Kleidung, und notwendige Aufwendungen ersetzt werden.
Die Kosten des Gesetzes können nur ungefähr angegeben werden. Bei dem geschätzten Betrag von etwa 12 Millionen DM im ersten Jahr nach Inkrafttreten handelt es sich aber um eine Größenordnung, die auch unter Anlegung strengster Maßstäbe vertretbar erscheint.
Dieses Haus hat in den letzten Jahren seine Aufmerksamkeit mit Recht immer wieder der Sorge für den straffällig gewordenen Menschen gewidmet. Im zuständigen Ausschuß wird gegenwärtig der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf einer Strafvollzugsreform beraten. Die heutige Vorlage macht deutlich, daß unsere Sorge in nicht geringerem Maße auch den Opfern von Straftaten gilt. Soziale Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Humanität müssen sich gerade den Opfern gegenüber bewähren. Dazu wird die Vorlage der Bundesregierung einen substantiellen Beitrag leisten.
({0})
Damit ist die Vorlage begründet.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf zu dem nunmehr von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten für die CDU/CSU-Fraktion wie folgt Stellung nehmen.
Wir begrüßen ausdrücklich die Vorlage dieses Entwurfs. Wir bedauern aber gleichzeitig, Herr Minister, daß Sie bzw. Ihre Vorgänger zur Vorlage dieses Entwurfs drei Jahre gebraucht haben. Unsere Fraktion hat bereits durch Anfragen im Jahre 1970 - es war damals die Kollegin Geisendörfer aus der CSU - dieses Problem „auf den Weg gebracht", wie Sie von der Regierungsseite immer so schön sagen.
Nachdem auf diese Anfragen, in deren Beantwortung versprochen wurde, etwa in einigen Monaten werde eine Vorlage kommen, ein Jahr nichts geschehen ist, hat meine Fraktion im Jahr 1971 eine Vorlage eingebracht, die in diesem Hause in der ersten Lesung beraten wurde, zu deren Verabschiedung es dann aber leider nicht mehr kam. Inzwischen sind immerhin drei Jahre vergangen, bis Sie für die nach unserer Auffassung wichtige Materie, die wichtiger als vieles andere ist, was wir in den letzten drei Jahren hier verabschiedet haben, eine Gesetzesvorlage gebracht haben. Ich erinnere z. B. an die Demonstrationsstrafrechtsnovelle oder an das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz und andere, entschuldigen Sie, beinahe hätte ich gesagt: Scherze, auf die wir hier sehr viele Monate verwendet haben. Die heutige Vorlage betrifft eine Materie, die längst regelungsbedürftig ist. Das muß zur leidvollen Vorgeschichte dieses Gesetzes gesagt werden.
({0})
Lassen Sie mich nun zum Inhalt des Gesetzentwurfes für meine Fraktion folgendes erklären: Die Regelung der mit diesem Gesetzentwurf angesprochenen Materie ist auch nach unserer Auffassung, wie ich bereits ausgeführt habe, dringend erforderlich. Allzulange ist in unserer Strafrechtspolitik die Diskussion nur um den Straftäter, seine Beurteilung und Verurteilung und seine Behandlung im Strafvollzug gegangen.
({1})
Ich habe nichts dagegen. Aber die Opfer der Straftaten, vor allem der schweren Straftaten, der Gewalttaten, sind völlig untergegangen. Sie wurden meistens nur einmal erwähnt, nämlich in dem Zeitungsbericht über die Tat. Sie wurden sowohl von den Politikern wie auch von der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung dann vergessen und ihrem Schicksal überlassen.
Diesem Sachverhalt will der vorliegende Gesetzentwurf abhelfen. Es muß deutlich werden, daß die vielen tausend Opfer - man spricht von 35 000 bis 40 000 Opfern von Straftaten - in Zukunft, wenn sie sich ansonsten nicht helfen können und sofern die versicherungsmäßigen und gesetzlichen Schadenersatzansprüche nicht zu verwirklichen sind - entweder weil der Täter nicht gefaßt und überführt werden kann oder weil er mittellos ist -, Hilfe vom Staat bekommen und nicht länger mit ihrem Schicksal allein gelassen werden. Der soziale Rechtsstaat hat sich sowohl aus rechtspolitischen wie auch aus sozialstaatlichen Gründen um die Folgen solcher Gewalttaten zu sorgen. Wenn der Staat, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage ist - und es ist seine Hauptaufgabe, die Bürger vor Gewalttaten möglichst effektiv und möglichst umfassend zu schützen -, das zu tun - und man könnte sehr viel darüber nachsinnen, aus welchen Gründen es bei uns immer schwieriger wird, Gewalttaten zu verhindern -, muß er den Opfern dieser Gewalttaten mit einer finanziellen Entschädigung beispringen, soweit eine Entschädigung versicherungsrechtlich oder gesetzlich nicht geregelt ist oder nicht zu verwirklichen ist.
insofern sind wir, glaube ich, erfreulicherweise in diesem Hause inzwischen nach mehrjähriger Diskussion darin einig, daß das Anliegen, das diesem Gesetzentwurf zugrunde gelegt ist, gerechtfertigt ist. Es geht also meines Erachtens nur noch um die Art der Durchführung, um die Trägerschaft und natürlich auch um die Kosten und deren Träger.
Sie alle wissen, daß wir von der CDU/CSU-Fraktion mit unserem Gesetzentwurf im Jahre 1971 eine sogenannte versicherungsrechtliche Lösung über die Unfallversicherung vorgeschlagen haben. Sie, Herr Minister, schlagen nun die Regelung im Rahmen des Bundesversorgungsgesetzes vor. Ich darf Ihnen versichern, daß das für uns keine Grundsatzfrage ist. Wir werden in den Ausschüssen sehr nüchtern zu überlegen haben, welche Regelung im Interesse der Opfer der Straftaten die sinnvollere ist. Uns kommt es vor allem darauf an, daß wir zur Beratung dieses Gesetzes nicht noch einmal zwei oder drei Jahre brauchen und dann vielleicht wieder neu beginnen müssen. Wir geben diesem Gesetz im Interesse der Opfer von Straftaten eine allererste Priorität.
Über eines wird zu reden sein, über die Kosten. Herr Minister, die Bundesregierung hat sehr schlicht und einfach - und von ihrer Seite aus verständlich -- in den Entwurf hineingeschrieben: die Kosten dieses Gesetzes tragen die Länder. Ich persönlich - wir haben das noch nicht völlig ausdiskutiert - bin der Meinung, daß dann, wenn die Regelung im Rahmen des Bundesversorgungsgesetzes kommt, vom sachlichen und vom verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt her der Bund die Kosten tragen muß. Darüber werden wir diskutieren; wir wollen uns hier nicht endgültig festlegen.
Auf eines möchte ich noch hinweisen. So sehr dieser Gesetzentwurf zu begrüßen ist, darf es doch nicht dazu kommen, daß der Gewalttäter, der Straftäter völlig aus der Verantwortung entlassen wird und daß die Wiedergutmachung auf Kosten des Steuerzahlers geschieht. Das wäre unter finanziellen
Dr. Stark ({2})
Gesichtspunkten, aber auch unter strafrechtspolitischen Gesichtspunkten sehr bedenklich.
({3})
- Dem Straftäter muß - bei aller Bejahung der Resozialisierung - im Bewußtsein gehalten werden, daß er durch seine Straftat oder seine Gewalttat Mitmenschen rechtswidrig und schuldhaft Schaden zugefügt hat.
({4})
- Ja, ich möchte das sehr unterstreichen; ich sage das auch für die rechtspolitische Diskussion, denn es darf auch nach außen nicht so verstanden werden, als würden wir, was die Wiedergutmachung des Schadens anbetrifft, den Straftäter aus seiner Verantwortung völlig entlassen. Ich weiß sehr wohl, was in den Gesetzentwürfen steht. Da brauche ich von Ihnen keinen Hinweis.
Zum Schluß aber noch zwei weitere Anregungen:
Wir sollten im Rahmen der Beratung dieses Gesetzentwurfs und auch der Strafvollzugsreform überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, neben der gesetzlichen Regelung, die wir hier schaffen, einen Fonds einzuführen, an den ,die Geldstrafen und Geldbußen der Straftäter abgeführt werden - statt sie in die Staatskasse fließen zu lassen -, damit aus diesem Fonds - neben den gesetzlichen Leistungen - in besonders schweren Fällen und auch in rechtlichen Grenzfällen den Opfern von Straftaten geholfen werden kann. Ich wundere mich - auch als Anwalt - immer wieder, wie der Staat bei uns darum besorgt ist, „seine" Geldstrafe und seine Kosten hereinzubekommen, wie wenig er sich aber darum kümmert oder bisher gekümmert hat - und deshalb machen wir das Gesetz -, was mit den Schäden der Opfer der Straftaten geschieht. Das ist ein Vorschlag, den ich in der Beratung zu überdenken bitte.
Ein Zweites: Wir müßten daran denken, daß der Straftäter in einer sinnvollen und sein Leistungsvermögen nicht übersteigender Weise von vornherein mit in die Wiedergutmachung des Schadens einbezogen wird. Ich weiß sehr wohl, daß das im Augenblick noch sehr oft an der Mittellosigkeit scheitert. Aber wir müssen im Rahmen der Beratungen des Strafvollzugsgesetzes, wo wir zu einem vernünftigen Entlohnungssystem der Gefangenen für ihre Arbeit in den Gefängnissen kommen wollen, dafür sorgen, daß hier von Anfang an ein Teil zur Wiedergutmachung des Schadens verwendet wird.
Bei diesen beiden Anregungen, meine Damen und Herren, möchte ich es bewenden lassen. Auf alle Einzelheiten des Gesetzentwurfs einzugehen, würde jetzt zu weit führen. Ich weiß sehr wohl, daß wir uns in den Ausschüssen noch über viele Dinge werden unterhalten müssen, über das Subsidiaritätsprinzip, über die Frage, ob Angehörige, die verletzt wurden, mit einbezogen werden sollen. Über all diese Fragen können wir in den Ausschüssen beraten.
Ich darf dem Hohen Hause versichern, daß meine Fraktion an einer zügigen Beratung dieses Gesetzentwurfs interessiert ist und alles dafür tun wird, damit dieser Gesetzentwurf im Interesse der Opfer von Straftaten und Gewalttaten sehr bald verabschiedet wird.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dürr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem in der ersten Beratung eines Gesetzes nur die Grundsätze der Vorlagen besprochen werden sollen und nachdem wir in der vergangenen Legislaturperiode, im September 1971, schon über dieses Thema diskutiert haben, braucht mein Beitrag nicht auf alle Gesichtspunkte einzugehen.
Der sozialpolitische Aspekt dieses Gesetzgebungsvorschlags ist von besonderer Bedeutung. Erstmalig soll ein Gesetz geschaffen werden, wonach materielle Nachteile, die ein unschuldiges Opfer einer Gewalttat erleidet, in angemessener Weise ausgeglichen werden sollen. Der staatliche Gesetzgeber dokumentiert damit einmal mehr seine Hinwendung zum sozial Schwachen und Schutzbedürftigen.
Dieses Gesetz ist ein weiterer Beweis für den besonderen Stellenwert, den diese Regierung der Qualität der sozialen Sicherheit einräumt. Dieser Gesichtspunkt des zentralen Interesses sozialdemokratischer Politik an der sozialen Sicherheit tritt vor alle anderen.
Daß sich die Kriminalpolitik dem Opfer einer Straftat zuwendet und eine Regelung erstrebt, die dessen Interessen gerecht wird, ist neu. Bisher war die Neigung, die Rolle des Opfers zu sehen und die Lage des Betroffenen zu erleichtern, gering. Sie wissen aus der Diskussion um den § 218, daß sogar darüber gestritten wurde, ob beim Schwangerschaftsabbruch die sogenannte ethische oder kriminologische Indikation zur Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs führen solle oder nicht. Viele waren der Ansicht, daß die Frau als Opfer einer Gewalttat noch zusätzlich mit Strafe zu belegen sei, wenn sie den Abbruch der ihr durch eine Vergewaltigung aufgezwungenen Schwangerschaft vornehme oder zulasse.
Das Verbrechen ist eine Störung des sozialen Lebens, das nicht nur den geschädigten einzelnen, sondern alle Glieder der Rechtsgemeinschaft angeht. Dies gilt um so mehr, je weniger es möglich ist, von dem Schuldigen den unmittelbaren Ersatz des Schadens zu erlangen. Deshalb ist es angebracht, eine Verpflichtung der Gemeinschaft zur Hilfeleistung für den durch eine Gewalttat geschädigten einzelnen anzunehmen. - Dieser Gedankengang des italienischen Rechtsphilosophen Del Vecchio beschreibt besser als der gar zu einfache Satz, „der Staat, der es nicht fertig bringt, seine Bürger vor Straftaten zu schützen, hat jedenfalls die Opfer angemessen zu entschädigen", die Aufgaben und Möglichkeiten des Staates.
Lassen Sie mich bitte eine besondere Härte des bisherigen Rechtszustandes herausgreifen: Insbesondere wenn das Opfer einer Gewalttat durch das an ihm begangene Verbrechen arbeitsunfähig wird, beDürr
steht die Gefahr, daß dieser Mensch für den Rest seines Lebens auf Sozialhilfeleistungen angewiesen bleibt. Bei Pflichtversicherten ist es zwar häufig so, daß die durch die Gewalttat verursachte Arbeitsunfähigkeit zur Gewährung von einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit führt. Besonders schwierig war es aber bisher für die Opfer von Gewalttaten, die beruflich Selbständige, Hausfrauen oder Schüler waren. Den Opfern von Gewalttaten aus dieser Gruppe wird dieses Gesetz ganz besonders zugute kommen.
Ein Hinweis erscheint mir bereits bei dieser ersten Diskussion erforderlich. Wer an einer Gewalttat mitschuldig ist - etwa deshalb, weil er eine Schlägerei provoziert hat -, kann nicht auf Entschädigung nach diesen Vorschriften rechnen. Die Vermutung, daß künftig nach einer Wirtshausrauferei beide Parteien mit verbundenen Köpfen auf die Behörde marschieren und als angebliche Opfer von Straftaten Entschädigung beantragen, reizt zwar zum Lächeln. Aber eines ist klar: Diese Kampfhähne werden mit diesen Anträgen kein Glück haben.
Nun hat Herr Kollege Dr. Stark wieder ein wenig die Urheberrechtsdebatte angefacht. Das Urheberrecht an Gesetzen über Entschädigung für Opfer von Straftaten
({0})
kommt klar und deutlich, Herr Kollege Vogel, dem Gesetzbuch des Hammurabi zu. Dort steht nämlich, daß die Gemeinde des Tatorts die Opfer eines Raubs zu entschädigen hat; eine Lösung, die bei der heutigen Mobilität der Straftäter nicht mehr ganz angebracht ist.
Herr Stark, Sie haben kritisiert, daß der Gesetzentwurf erst jetzt kommt. Da bin ich anderer Meinung. Gerade dann, wenn gesetzgeberisches Neuland betreten wird, erspart gewissenhafte Vorbereitung durch die Bundesregierung dem Parlament im allgemeinen, insbesondere aber dem Rechtsausschuß Zeit und Mühe.
({1})
- In diesem Fall nein. Im übrigen kennen Sie die Belastung des Rechtsausschusses genügend, um zu wissen, daß wir uns, wenn dieser Gesetzentwurf ein halbes Jahr früher in erster Lesung behandelt worden wäre, trotzdem hätten sagen müssen, daß er im Rechtsausschuß erst nach Abschluß der Eherechtsreform behandelt werden kann. Soweit sind wir uns wahrscheinlich einig.
({2})
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist ohne jeden Zweifel ein zustimmungspflichtiges Gesetz. Deshalb ist die Stellungnahme des Bundesrates im ersten Durchgang von besonderer Bedeutung. In der Stellungnahme des Bundesrates zu dem Gesetzentwurf heißt es, bei der Frage der Kostentragung dürfe man sich nicht von der Kostenschätzung im Betrag von 11,7 Millionen DM im ersten Jahr beirren lassen. Der Bundesrat führt weiter aus:
Darüber hinaus kann eine Ausdehnung des Gesetzes nicht ausgeschlossen werden. Das Gesetz birgt die Gefahr in sich, in Richtung auf eine allgemeine Volksversicherung gegen schwere Unglücksfälle jeder Art im Laufe der Zeit ausgeweitet zu werden.
Der Bundesrat fügt hinzu:
Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß mit dem Gesetzentwurf eine Entwicklung eingeleitet wird, deren Kosten weit über die im Regierungsentwurf angegebenen hinausgehen können.
Schließlich zitiert die Ländervertretung einige Sätze, die Ihnen sicher aus der Sitzung des Bundestages vom 17. Mai dieses Jahres noch in Erinnerung sind:
So gut unsere Wirtschaftslage im internationalen Vergleich ist, so wenig dürfen wir daran vorbeigehen, daß die Vorgänge draußen in der Weltwirtschaft von uns eine Besinnung auf das Mögliche verlangen . .. Damit stellt sich schärfer als zuvor die Notwendigkeit, der an den Staat gerichteten Leistungserwartung auch das notwendige Verantwortungsbewußtsein für die Leistungsfähigkeit des Staates wieder an die Seite zu stellen ... Deswegen müssen wir bei der Ausgestaltung der öffentlichen Haushalte - ... nicht nur vom Bund - für 1975 alle übertriebenen Forderungen abwehren .. .
Dieses Zitat aus der Regierungserklärung von Helmut Schmidt und die vorher angeführten Warnungen des Bundesrates legen die Vermutung nahe, die Ländervertretung sei dafür, dieses Gesetz nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zu verabschieden. Aber weit gefehlt! Der Bundesrat bittet die Bundesregierung sogar, im weiteren Gesetzgebungsverfahren darauf hinzuwirken, daß das Gesetz zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in Kraft tritt. Die ganzen Warnungen und Beschwörungen des Bundesrates dienen nur zur Begründung der Ansicht, mit den Kosten dieses Gesetzes sollten nicht die Länderhaushalte belastet werden, sondern der Bund solle diese Kosten übernehmen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir sind zu jeder Sparsamkeit bereit. Wir lassen auch über eine Bagatellklausel, wie sie der Bundesrat vorschlägt, mit uns reden, obwohl uns die untere Grenze von 500 DM sehr hoch angesetzt zu sein scheint. Es ist uns auch nicht neu, daß in Art. 104 a Abs. 3 des Grundgesetzes die Möglichkeit steht, daß eine Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern erfolgt oder der Bund die Kosten ganz übernimmt. Ich widerspreche aber energisch der Behauptung des Kollegen Stark, nach der Verfassung müsse der Bund diese Kosten tragen. Herr Kollege Dr. Stark, die Kurzformel „Im Falle eines Falles zahlt Hans Apel alles"
8244 Deutscher Bundestag --- 7. Wahlperiode Dürr
steht weder wörtlich noch sinngemäß im Grundgesetz.
({4})
Im übrigen darf ich hier auf die zutreffenden Ausführungen in der Gegenäußerung der Bundesregierung verweisen.
Es war für Finanzfachleute bisher immer beruhigend, daß die Justiz in Bund und Ländern stets extrem sparsam war. Nun ist aber - darin sind wir uns alle einig - gute Justiz nicht völlig wohlfeil zu haben. Das gilt für dieses Gesetz ebenso wie für die Strafvollzugsreform, und darüber ist Einigung zwischen den Rechtspolitikern vom Bundesjustizministerium über den Bundestag bis zu den Länderregierungen und Länderparlamenten relativ leicht herzustellen. Ich glaube, die Finanzpolitiker sollten unsere gemeinsame Mahnung, nicht am falschen Platz zu sparen, nicht überhören.
Wir betreten bei diesem Gesetz gesetzgeberisches Neuland. Das macht eine besonders gewissenhafte Beratung in den Ausschüssen nötig. Diese wollen wir vornehmen, und wir hoffen, daß dieses Gesetz zu guter Zeit wird verabschiedet werden können.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Schoeler.
von Schoeler ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Eine gesetzliche Regelung zur Entschädigung der Opfer von Gewalttaten ist von allen Fraktionen dieses Hauses wiederholt gefordert worden. Der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, geht von der Überlegung aus, daß diejenigen, die auf Grund einer Gewalttat pflege- oder hilfsbedürftig, ja in manchen Fällen sogar erwerbsunfähig und damit bis an ihr Lebensende nicht nur in ihrer wirtschaftlichen, sondern auch in ihrer sozialen Stellung erheblich benachteiligt sind, vom Staat in Zukunft nicht alleingelassen werden sollen.
Die zweifellos hohe Popularität dieser Forderung hat in der Vergangenheit viele Politiker dazu verleitet, nicht mit der notwendigen Entschiedenheit falschen Erwartungen und nicht erfüllbaren Hoffnungen, die an ein solches Gesetz geknüpft werden, zu begegnen. Wenn auch hier in dieser Debatte wieder von 35 000 bis 40 000 Straftaten, die betroffen sein könnten, die Rede ist, so ist dies falsch. Auch nach der Begründung des Gesetzentwurfs geht es maximal um einige tausend Fälle. Es geht auch nicht um die Entschädigung der Opfer von Straf taten, wie Herr Kollege Stark gesagt hat, sondern es geht nur um die Entschädigung der Opfer von G e w a l ttaten.
({1})
Ich meine, hier ist die Stelle, deutlich nach draußen die Hoffnungen und Erwartungen zu begrenzen. Deshalb will ich hier eindeutig feststellen: Nach dem vorliegenden Entwurf soll nur derjenige einen Entschädigungsanspruch erhalten, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nur bei einem relativ geringen Teil von Straftaten also sollen die Opfer einen Entschädigungsanspruch haben. Der darüber hinaus in § 2 des Entwurfs vorgesehene Ersatz von Sachschäden ist im Umfange begrenzt. Mit aller Entschiedenheit würden wir Freien Demokraten eine Ausweitung der mit dem Entwurf vorgeschlagenen Entschädigungspflicht ablehnen. Eine allgemeine Versicherung jedes Bürgers gegen die Folgen von Straftaten kommt unseres Erachtens aus grundsätzlichen Überlegungen nicht in Betracht.
Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf zeigt, daß die lange Diskussion sich gelohnt hat. Im Gegensatz zu der von der Opposition 1971 vorgeschlagenen gesetzlichen Regelung, die unzureichend war, enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung nun eine genaue Abgrenzung der Anspruchsvoraussetzungen, eine befriedigende Sonderregelung für die Opfer von Verkehrsstraftaten, deren heute schon auf Grund freiwilliger Vereinbarungen der Versicherungswirtschaft gegenüber anderen Opfern von Straftaten verbesserte Position noch weiter ausgebaut werden soll. Der Entwurf enthält jetzt auch eine präzise Abgrenzung des persönlichen und sachlichen Geltungsbereich des Gesetzes sowie eine unbedingt erforderliche Regelung für den Regreß beim Schädiger. In dieser Frage sind wir uns einig, Herr Kollege Stark, wie ich gehört habe. Nur wundert es mich, daß Sie dieses Erfordernis jetzt so ausdrücklich betonen, während Ihr Gesetzentwurf aus dem Jahre 1971 einen Regreß nicht vorsah.
Besonders begrüßen wir Freien Demokraten die Aufnahme des § 3 in den Gesetzentwurf, nach dem die Entschädigungsleistung in bestimmten Fällen versagt werden kann. Die Gefahr war doch nicht auszuschließen, daß zwielichtige Existenzen die „Rechtswohltat" eines solchen Gesetzes dazu benutzen, ihren Lebensunterhalt durch gegenseitige Verwicklung in Raufhändel auf eine vom Gesetzgeber nicht gewollte neue Grundlage zu stellen. Ob dies durch die vorliegende Fassung völlig ausgeschlossen ist, werden die Beratungen im Rechtsausschuß ergeben müssen.
Allerdings birgt auch dieser Entwurf noch offene Fragen. So werden wir beispielsweise sehr eingehend darüber sprechen müssen, ob die Verweisung auf das Bundesversorgungsgesetz, selbst wenn sie trotz Bedenken unumgänglich sein sollte, und die damit verbundene Zuweisung von Rechtsstreitigkeiten an die Sozialgerichtsbarkeit in ,der praktischen Anwendung nicht zu außerordentlichen Schwierigkeiten führen muß, wenn das Sozialgericht das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzung und damit das Vorliegen einer strafbaren Handlung feststellen soll.
Erhebliche Bedenken ergeben sich auch aus den mit dem Entwurf zusammenhängenden finanziellen und damit haushaltspolitischen Fragen. Die Begründung des Regierungsentwurf weist in aller Ausführlichkeit auf die außerordentlichen Schwierigkeiten einer Schätzung der auf Bund und Länder zukomDeutscher Bundestag --- 7. Wahlperiode von Schoeler
menden Ausgaben nicht nur beim Inkrafttreten des Gesetzes, sondern auch in den folgenden Jahren hin. Der Rechtsausschuß des Bundestags wird prüfen müssen, ob die Grundlage für eine endgültige Verabschiedung des Gesetzes ausreichend ist.
Abschließend möchte ich auf den Zusammenhang mit dem Strafvollzugsgesetz hinweisen, das wir zur Zeit im Strafrechtssonderausschuß beraten. Wenn in dieses Gesetz, einer Forderung der FDP entsprechend - Herr Kollege Starke hat sich eben im gleichen Sinne ausgesprochen -, die Zahlung eines Arbeitsentgelts für Strafgefangene aufgenommen wird, wird den Opfern von Gewalttaten in vielen Fällen, in denen der Gesetzentwurf sich nun bemüht, durch eine direkte staatliche Hilfe Härten auszugleichen, entscheidend geholfen sein. Ich möchte daher diese Gelegenheit benutzen, um an die Bundesländer zu appellieren, ihren Widerstand gegen eine solche Regelung im Strafvollzugsgesetz aufzugeben.
Die Fraktion der FDP stimmt der Überweisung an den Rechtsausschuß zu.
({2})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache der ersten Beratung. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage an den Rechtsausschuß, federführend, und an den Innenausschuß, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Haushaltsausschuß, mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung, zu überweisen. - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe auf den Punkt 12 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes
- Drucksache 7/2434 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Sonderausschuß für die Strafrechtsreform ({0}) Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei jedem Verkehrsunfall ist es notwendig, eine Reihe tatsächlicher Feststellungen zu treffen, teils um ungeeignete Fahrer durch Entziehung der Fahrerlaubnis für einige Zeit aus dem Verkehrsgeschehen auszuscheiden, andererseits aber auch deswegen, um die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche zu ermöglichen. Wir haben seit langem in unserem Strafgesetzbuch den Tatbestand der Unfallflucht, § 142 StGB. In etwa 30 000 Fällen im Jahresdurchschnitt wird dieser Tatbestand angewendet und führt zur Verurteilung.
In der Praxis sind zwei Zweifelsfragen aufgetaucht, die der Klärung durch den Gesetzgeber bedürfen. Erstens einmal die Frage, ob es genügt, daß jemand zwar am Unfallort verharrt, aber beispielsweise schweigend in der Menschenmenge der neugierigen Zuschauer und nicht zu erkennen gibt, daß er an dem Unfall beteiligt war. Der Entwurf sieht vor, daß in einem solchen Fall der Betreffende nicht nur am Unfallort zu verbleiben, sondern auch auf seine Beteiligung an diesem Unfall aufmerksam zu machen hat.
Eine zweite Lücke hat sich in den Fällen ergeben, in denen sich jemand mit einem rechtfertigenden Grunde - etwa rasche Verbringung eines Verletzten ins Krankenhaus - von der Unfallstelle entfernt hat. Die Frage war, ob er in diesem Falle verpflichtet war, anschließend die Polizeidienststelle aufzusuchen und seine Unfallbeteiligung anzugeben. Auch diese Zweifelsfrage soll durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung geklärt und gelöst werden.
Schließlich - dritter und letzter Punkt -: Es soll die Ermächtigung nach dem Straßenverkehrsgesetz neu gefaßt werden, die es ermöglicht, in der Straßenverkehrsordnung die Pflichten der Verkehrsteilnehmer im Falle eines Unfalles präziser zu regeln.
Insgesamt strebt der Entwurf an, die Folgen der Verkehrsunfälle - etwa 1 Million im Jahr - für die Beteiligten erträglicher zu machen und zu sozial vernünftigeren und gerechteren Lösungen zu kommen.
Ich bitte, der Überweisung an den Ausschuß zuzustimmen. Ich hoffe, daß wir auch bei der Regelung dieser Frage zu einer breiten, vielleicht sogar einmütigen Zustimmung kommen.
({0})
Damit ist die Vorlage begründet. Das Wort in der Aussprache wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen, den Gesetzentwurf an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform - federführend - sowie an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen - mitberatend - zu überweisen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung betr. Sonderprogramm zur regionalen und lokalen Abstützung der Beschäftigung nach § 6 Abs. 2 StWG
- Drucksache 7/2589 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß ({0})
Ausschuß für Wirtschaft
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haase.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Sonderprogramm der Bundesregierung zur Abstützung der Beschäftigung liegt vor; dieses Programm ist dem Bundestag zugeleitet.
({0})
- Wenn sich die Kollegen von der CDU geeinigt
haben, werden wir auch klarer sehen, was der
Haase ({1})
Zweck dieser Aussprache sein soll. - Der Bundestag hat hier in dieser Frage nur ein Vetorecht. Da der zuständige Wirtschaftsausschuß in der letzten Woche darüber gesprochen und klar zu erkennen gegeben hat, daß seitens der Opposition keine Einwendungen erhoben werden, stellt sich natürlich die Frage: Wozu dann diese Diskussion hier?
Angesichts der Bedeutung dieses Sonderprogramms - das will ich allerdings akzeptieren - ist durchaus eine kurze Diskussion angemessen.
({2})
- Natürlich, einer kurzen; von mir aus hätten wir darauf verzichten können; Sie wollten die Diskussion haben.
Dieses Programm ist eine Sofortmaßnahme vor allen Dingen im Bereich des Hochbaus. Der Bund stellt gemeinsam mit den Ländern Mittel in Höhe von 950 Millionen DM zur Verfügung - das ist eine ganze Menge -, damit vor allen Dingen den von der Arbeitslosigkeit im Bereich des Baumarkts Betroffenen schnelle Hilfe gewährleistet werden kann. Dieses Programm muß sich - das will ich an dieser Stelle doch einmal deutlich machen - trotz der Schwierigkeiten bewähren, die wir bei der Vorbereitung des Programmes erleben mußten.
Das Programm und die Wirksamkeit des Programmes hängen vor allen Dingen von der Zusammenarbeit und der Koordination zwischen Bund und Ländern ab. Aber wie betragen sich die Länder? Bayern hat gegen das 600-Millionen-DM-Programm des Bundes bereits im Frühjahr Verfassungsklage erhoben. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg erklärt bei der Vorlage des 950-Millionen-DMProgramms, die bundesfreundliche Haltung des Landes Baden-Württemberg müsse überprüft werden. Darüber hinaus waren sich auch die Länder untereinander uneinig: Bayern bezog im Planungsausschuß Stellung gegen das Saarland, Ministerpräsident Filbinger von Baden-Württemberg in der Presse gegen Bayern und Nordrhein-Westfalen. Dazu darf ich aus der „Süddeutschen Zeitung" - mit Genehmingung des Herrn Präsidenten - zitieren:
Filbinger nannte den Verteilungsschlüssel des Konjunkturprogramms, aus dem beispielsweise 61,3 Millionen für Bayern und 95,7 Millionen für Nordrhein-Westfalen vorgesehen sind, völlig ungerechtfertigt.
So sieht das dann aus. Das geht nach der Methode: Saar ohne Bayern, Baden-Württemberg aber mit Nordrhein-Westfalen gegen Schleswig-Holstein oder Bayern mit Niedersachsen gegen Nordrhein-Westfalen, dagegen aber Baden-Württemberg ohne Rheinland-Pfalz gegen Bayern und Nordrhein-Westfalen oder aber Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein gegen den Bund, je nachdem. Das geht alles zu der Melodie, die wir alle ja, nehme ich an, in vorgerückter Stunde kennen: „Wenn der Hund mit der Wurscht übern Eckstein springt". Dieses läßt sich verlängern. Es wird nur deutlich, daß dieses Programm des Bundes trotz dieser Haltung der Länder funktionieren muß. Wir wünschen dem Bund, daß er sich mit diesem Programm genauso erfolgreich wie mit dem 600-Millionen-Programm durchsetzen kann, zumal wenn das Programm noch einige Erfahrungen berücksichtigt, die jetzt sicher in der Praxis gemacht werden.
Meine Damen und Herren von der Fraktion der CDU/CSU, dies ist ganz natürlich. Man kann keinen Trockenschwimmkurs nach dem Motto abhalten: Dann werden wir die Lebensrettung schon vornehmen. Dies alles zeigt sich doch immer erst, wenn man hineingesprungen ist. Hier wird geschwommen, und hier werden auch Erfahrungen gemacht.
Ich möchte für die sozialdemokratische Fraktion sagen: Diese Erfahrungen müssen natürlich bezüglich der Auswertung Folgen haben. Wenn neue Programme gemacht werden - und es besteht ja diese Möglichkeit, daß solche Programme notwendig sind -, werden sie sicher auch mit den Erfahrungen bestückt werden, die man bei den alten Programmen hat machen können. Dies ist eine ganz natürliche Sache und bedarf eigentlich kaum eines Wortes der Kritik, es sei denn, man könnte sagen, wie dies alles bei der Haltung der Länder, die ich geschildert habe, von Anfang an hätte besser gemacht werden können.
Wir stehen natürlich in einer schwierigen Situation. Nicht der generelle Konjunkturabschwung macht uns zu schaffen, wie dies in den Jahren der - ich weiß nicht, ob gewollten - Rezession um 1967 der Fall war, sondern der Konjunkturverlauf, der durch sektorale und regionale Probleme beeinträchtigt wird. Hier geht es darum, trotz eines allgemeinen deutlichen Konjunkturkurses, den die Regierung hält, was richtig ist, in flexibler Weise auf regionale und sektorale Schwächen Einfluß zu nehmen. Aber, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, Sie sind doch diejenigen gewesen, die immer gesagt haben: Wir wollen gar keine Eingriffe in die Wirtschaft haben.
({3})
Dann muß ich Sie doch fragen: Wie wollen Sie denn diese Probleme lösen? Wollen Sie sie mit dem allgemeinen Gerede lösen? Wollen Sie sie lösen, indem Sie einfach die Pleiten mittels Staatsgeldern sanieren? Oder haben Sie tatsächlich Vorstellungen? Ich habe bisher keine gehört. Nur muß man in diesem Zusammenhang natürlich fragen: Wo sind denn da die Alternativen, die Sie aufzeigen sollten, wenn Sie Kritik üben?
Die Aufgabe, in einem regionalen, sektoralen schwächlichen Bereich zu arbeiten und gegebenenfalls mit Hilfe staatlicher Maßnahmen Schwierigkeiten auszuräumen, bedarf des direkten oder indirekten staatlichen Eingriffs. Darüber sind wir uns doch klar. Eben dieses ist der Punkt, nach dem Sie gefragt werden, wenn Sie an diesem Programm Kritik üben. Wir sind der Meinung, daß es eines solchen Instrumentariums bedarf. Aber ich sagte schon vorhin, daß dieses Instrumentarium aus der Erfahrung heraus wachsen muß. Dieses Instrumentarium ist bisher erfolgreich gewesen.
Lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zu den neuen Zahlen der Arbeitslosigkeit und des Preisauftriebs machen, um Ihnen bereits hier auf das zu entDeutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Haase ({4})
gegnen, was Sie sicher hinterher hier vortragen werden.
({5})
- Ich kenne doch Ihre Gedanken und weiß, warum Sie dies hier inszeniert haben.
({6})
- So wohlmeinend gut können Sie gar nicht sein. Dies ist eine Frage, die wir differenzierter sehen. Sie wissen genau - und wir sehen dieses Problem mindestens genauso wie Sie -, daß es im Einzelfall ein schwieriges Los ist, arbeitslos zu sein; darüber gibt es gar keine Diskussion. Es geht aber hier nicht um das Einzellos, sondern darum, wie man die Dinge differenziert und vernünftig betrachtet. Man muß sehen, daß wir einen Bereich von 150- bis 200 000 Arbeitslosen auch in Hochkonjunkturzeiten gehabt haben, und diese wollen Sie bitte erst einmal abziehen, weil es eine Frage ist, wie man und ob man diese Leute überhaupt vermitteln kann. Es ist eine Frage der Vermittlungsfähigkeit, es ist kein konjunkturelles Problem.
Zu berücksichtigen ist auch, daß ein Teil der Frauen sich arbeitslos gemeldet hat. Hier muß man natürlich fragen, ob die gerade von Frauen ausgeübte Freizeitbeschäftigung konjunkturell so zu bewerten ist, daß man mit entsprechenden Programmen, die man gar nicht sektoral fassen kann, in diesen Bereich eingreifen kann. Dies ist eine Frage der Globalsteuerung. Hier würde ich aber sehr dringend an das erinnern, was wohl auch Sprecher Ihrer Fraktion im Bundestag immer wieder erklärt haben, die gesagt haben, daß sie dieses Verhalten und die Politik der Bundesregierung durchaus für richtig halten.
Zu den Preisen! Die gestern bekanntgewordene Preissteigerungsrate von 7,3 % ist eigentlich der Beweis dessen, daß es uns in diesem Lande besonders gut geht.
({7})
-- Ich will Ihnen das erklären. Vielleicht lachen Sie dann nicht mehr. Es dürfte Ihnen entgangen sein, daß gerade in diesem und im nächsten Monat sehr deutlich die Preiserhöhungen im Bereich der Urlaubsreisen und Urlaubsgestaltung im Ausland durchschlagen. Dies ist einer der entscheidenden Gründe, der die Zahl auf 7,3 % hinaufgedrückt hat. Natürlich ist im Ausland alles noch teurer geworden als bei uns, und infolgedessen ist dieser Preisaufschwung, den wir zunächst im Inland mit Deutscher Mark zu bezahlen haben, sehr erkennbar. Dies muß man berücksichtigen, wenn man sich über dieses Problem verbreitern will. In der Differenzierung sieht eben doch alles ein bißchen anders aus.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir können im Bundestag wohl auch in Zukunft nicht darüber streiten, ob ein Land mehr oder weniger von diesen Bundesmitteln erhält. Wir können nur sagen: Diese Bundesmittel müssen so verteilt werden
- natürlich zusammen mit den Ländern -, daß sie dort wirken, wo es im Augenblick Schwierigkeiten
geben könnte. Wir meinen, daß insoweit dieses Programm erfolgreich ist, und glauben auch, es wird sich in den nächsten Monaten herausstellen, daß richtig war, was geschehen ist. Deshalb begrüßt die sozialdemokratische Fraktion ausdrücklich das 950-
Millionen-Programm als ein adäquates Mittel zur Begrenzung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in bestimmten Räumen. Dies, meine Damen und Herren, war veranlaßt zu sagen, nachdem Sie gemeint haben, Sie müßten hier diskutieren.
({8})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schröder ({0}) .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meiner Eigenschaft als Mitberichterstatter des Haushaltsausschusses für diese Vorlage hat mich meine Fraktion gebeten, hier einige grundsätzliche Bemerkungen zu der heutigen Vorlage zu machen. Ich habe nicht die Absicht, Herr Kollege Haase, mich in die Reihe der hochqualifizierten wirtschaftspolitischen Sprecher einzureihen. Deshalb will ich auch darauf verzichten, hier eine wirtschaftspolitische Debatte vom Zaune zu brechen.
({0})
Aber eines lassen Sie mich doch vorweg bemerken. Jene Bagatellisierung der in der Zwischenzeit immerhin auf über 530 000 angestiegenen Arbeitslosen, die Sie hier soeben vorgenommen haben, kann meine Fraktion nicht mitmachen.
({1})
Wir betrachten diese Zahl mit Sorge. Uns stimmt sie nachdenklich. Im übrigen möchte ich Sie, sehr verehrter Herr Kollege Haase und die Kollegen der SPD, daran erinnern, daß es ja niemand anders gewesen ist als Ihr jetziger Bundeskanzler, der noch vor gar nicht allzulanger Zeit sehr lautstark, wie es bei ihm üblich ist, verkündet hatte, daß bei zwei Prozent die Grenze ist, die eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung nicht mit zu verantworten gedenkt.
({2})
Meine Damen und Herren, bereits am 19. Dezember 1973 und dann erneut am 6. Februar 1974 hatte die Bundesregierung einige Maßnahmen und Sonderprogramme für Gebiete mit speziellen Strukturproblemen vorgelegt, die darauf ausgerichtet waren, Schwierigkeiten in sektoraler und regionaler Hinsicht in den Griff zu bekommen. Ich glaube, daß wir wohl übereinstimmen, wenn wir heute feststellen, daß diese beiden Maßnahmen und Programme die Beschäftigungsentwicklung in diesen Bereichen nicht in den Griff bekommen haben. Aus diesem Grunde war es offensichtlich notwendig, dieses heutige Sonderprogramm vorzulegen.
Lassen Sie mich dazu einige wenige Anmerkungen machen, wobei ich vorweg noch einmal unterstreichen möchte - ich sehe den Herrn Bundeswirt8248
Schröder ({3})
schaftsminister auf der Regierungsbank daß es
keine Debatte und keine Auseinandersetzung über die grundlegende Richtung der Wirtschaftspolitik gibt. Es kann also keine Debatte darüber geben, daß etwa der generelle Stabilitätskurs, soweit man die Politik der Regierung überhaupt als Stabilitätspolitik bezeichnen kann, hier in Frage gestellt werden soll.
({4})
- Lassen Sie mich, Herr Kollege Ehrenberg, zu diesem Sonderprogramm und den regionalen und sektoralen Aspekten deshalb vier Bemerkungen machen.
Erstens. Dieses Programm kommt unserer Auffassung nach zu spät, insbesondere wenn ich auf die ansteigende Zahl von Arbeitslosen, vor allem in den strukturschwachen Gebieten, blicke. Es kommt auch zu spät, wenn ich daran denke, daß aller Voraussicht nach zu befürchten ist, daß dieses Programm überhaupt erst im Jahre 1975, also nicht mehr in diesem Jahr, greifen wird. Ich meine, daß die Regierung sich deshalb überlegen sollte, ob nicht im Eingangsvermerk zu diesem Gesetzentwurf eine Bestimmung eingefügt werden sollte, nach der die Auftragsvergabe entsprechend der Begründung bis zum 31. Dezember dieses Jahres und beim Modernisierungsprogramm bis zum 31. März 1975 erfolgen muß. Nur so kann doch überhaupt erreicht werden, daß die Zielvorstellungen, die in diesem Programm entwickelt sind, verwirklicht werden.
Zweitens. Dieses Programm ist offensichtlich etwas überhastet entstanden, weil ,der Bund einseitig die Förderungskriterien festgelegt und teilweise die mühsam errungenen Prioritätsentscheidungen der Länderparlamente und Landesregierungen im Ausgabenbereich wegen des sich selbst gesetzten Zeitdrucks nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Drittens. Das Schwergewicht der Infrastrukturverbesserungen sowie ,der sonstigen Fördermaßnahmen sowohl im Teil A als auch im Teil B des Programms liegen zu einem erheblichen Ausmaß in Ballungsgebieten. Das widerspricht nicht nur den gemeinsamen Grundsätzen der Regional- und Raumordnungspolitik von Bund und Ländern, sondern hier werden auch die einleitend so nachdrücklich apostrophierten Arbeitslosenkriterien für die Auftragsvergabe zumindest nicht voll und eindeutig eingehalten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schachtschabel?
Jawohl.
Herr Kollege, haben Sie die Freundlichkeit, mich darüber aufzuklären, ob Ihnen der Passus in der Drucksache 7/2589 bekannt ist, in dem es heißt:
... das Vorliegen hinreichend vorgeplanter Maßnahmen, die bis 31. Dezember 1974 ... zu Auftragsvergaben führen .. .
Ist Ihnen dieser Passus bekannt? Wenn ja, frage ich Sie, warum Sie dann Ihre Bemerkung bezüglich der Terminierung der Aufträge angebracht haben.
Herr Kollege, dieser Passus ist mir sehr wohl bekannt. Ich weiß aber aus den Ausführungsverordnungen beispielsweise in meinem Heimatbereich, daß es sich hier - zumindest ist es offensichtlich von den anwendenden Verwaltungsbehörden so verstanden worden - um eine Soll-Vorschrift und nicht um eine MußVorschrift handelt. Mir ging es darum, mit meiner Bemerkung darauf hinzuwirken, daß es sich hier ganz klar und unzweideutig um eine Muß-Vorschrift handeln muß, wenn dieses Programm in absehbarer Zeit wirken soll.
({0})
-- Herr Kollege Ehrenberg, ich komme nicht aus Oldenburg.
({1})
Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung hinzufügen und ein Problem ansprechen, das unserer Auffassung nach von haushaltspolitischer Relevanz ist. Im Gegensatz zu den finanzstärkeren Ländern verfügen die finanzschwächeren Länder, wie Sie wissen, nicht über ausreichende Mittel der stillgelegten Investitionssteuer zur Finanzierung ihres Eigenanteils am Teil A dieses Programms. Daher sollen sie durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung ermächtigt werden, zur Finanzierung ihres Fehlbedarfs die Konjunkturausgleichsrücklage 1969, 1970 und 1971 anzugreifen. Dies führt jedoch insbesondere bei den finanzschwächeren Ländern dazu, daß sie am Tag X, wenn nämlich tatsächlich in erheblichem Umfange allgemeine konjunkturbelebende Programme erforderlich und vorgelegt werden, nicht über ausreichende stillgelegte Mittel verfügen, sofern nicht die finanzstärkeren Länder bereit sind, Mittel an die finanzschwächeren Länder abzutreten.
({2})
Die Bundesregierung hätte deshalb - Herr Kollege
Ehrenberg, lassen Sie mich diesen Gedanken noch
zu Ende führen, damit Sie richtig einhaken können
dafür Sorge tragen müssen, daß schon jetzt beim 950-Millionen-DM-Programm ein angemessener Ausgleich zwischen den Ländern erfolgt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich!
Durch diese Ausführungen haben Sie mir die Frage, die ich Ihnen stellen will, noch leichter gemacht. Wären Sie und Ihre Fraktion bereit, Ihren Ministerpräsidenten Filbinger, der für Baden-Württemberg mehr und nicht weniger aus diesem Programm wollte, darüber aufzuklären, wie sich die Finanzlage der Länder von Nord nach Süd darstellt?
Herr Kollege Ehrenberg, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei der Beurteilung dieses Problems nicht von partikularen Interessen, sondern von gesamtwirtschaftlichen Aspekten leiten.
({0})
Lassen Sie mich -- insbesondere aus meiner Sicht als Mitglied des Haushaltsausschusses - noch eine letzte Bemerkung anfügen. In der Überschrift dieses Konjunkturprogramms wird auf § 6 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Bezug genommen. In der Begründung des Antrags der Bundesregierung ist allerdings von dem, was § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes als Voraussetzung für das Wirksamwerden bestimmter Maßnahmen - so auch dieser Maßnahmen - vorschreibt, überhaupt keine Rede. Ich will damit sagen, daß diese Vorlage keine Absicherung durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz findet. Herr Kollege Ehrenberg, Sie wissen noch besser als ich, daß in § 1 dieses Gesetzes ausdrücklich davon die Rede ist, daß eine „gefährdende Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit" Voraussetzung für das Wirksamwerden bestimmter Maßnahmen ist. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, und die Bundesregierung argumentiert ja auch bewußt dahin gehend, daß davon keine Rede sein könne, sondern daß es sich eben um ein sektorales und regionales Sonderprogramm handelt. Herr Kollege Ehrenberg, diese Bemerkung ändert nichts daran - damit komme ich zum Schluß -, daß dieses Programm - freilich unter Bedenken - unsere Zustimmung findet. Ich bringe diese Bedenken nicht zuletzt deshalb vor - dies sage ich weniger im Blick auf das Finanzministerium als vielmehr im Blick auf das Wirtschaftsministerium, das ja nicht das erste Mal dabei ist, uns in eine Grauzone finanzieller Leistungen des Bundes hineinzuführen -
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Er hatte sich schon wieder gesetzt. Deshalb dachte ich, seine Meldung sei überholt. Bitte schön!
Ich möchte, anknüpfend an Ihre letzte Bemerkung, folgende Frage stellen. Kann ich Ihre Interpretation so verstehen, daß man erst eine allgemeine Rezession veranstalten muß, um das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz anwenden zu können? Sind nicht auch Sie der Auffassung, daß partielles Vorbeugen durchaus im Sinne des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes liegt?
Herr Kollege Ehrenberg, ich habe nicht ohne Grund betont, daß ich diesen Punkt aus der Perspektive des Haushaltsausschusses und auch des Haushaltsrechtes angesprochen habe, weil es hier darum geht, daß wir es als Parlament in unserer Gesamtheit - ich meine, daß wir diese Frage unabhängig von der Zugehörigkeit zu Opposition oder Regierungsfraktionen betrachten müssen - auf die Dauer nicht zulassen sollten, daß Grauzonen finanzieller Leistungen herbeigeführt werden;
({0})
denn dieses Gesetz - Ihrer Feststellung habe ich entnehmen können, daß Sie hier mit mir übereinstimmen - ist weder durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz - es werden nämlich die Voraussetzungen nicht erfüllt - noch durch die allgemein üblichen haushaltsrechtlichen Regelungen abgedeckt.
({1})
- Ich bin im Schlußsatz.
Ich erwähne das deshalb, meine Damen und Herren, weil wir ja erst in diesen Tagen ein zweites Beispiel dieser Art, nämlich das Verstromungsgesetz, beraten haben, mit dem ebenfalls eine solche Grauzone zusätzlicher Leistungen, die eigentlich in den Haushalt gehört, geschaffen wird. Hiervor möchten wir die Bundesregierung mit allem Nachdruck warnen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, insbesondere diese letzten Bemerkungen durchaus ernst zu nehmen; denn die Opposition ist bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Ich meine, daß die Regierung die Verpflichtung hat, insbesondere auch eine Ergänzung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes vorzuschlagen, damit wir eben, Herr Kollege Ehrenberg, eine echte gesetzliche Absicherung solcher Maßnahmen haben, die wir ja beide
({2})
übereinstimmend durchaus für notwendig halten.
Trotz dieser Bedenken, meine Damen und Herren, wird die CDU/CSU-Fraktion dieser Vorlage ihre Zustimmung geben. damit wenigstens etwas in Richtung auf die sektoral und strukturell gefährdeten Gebiete geschieht.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Interesse der Sache möchte ich zu dieser Zeit keine Schärfe mehr in die Debatte bringen; sonst müßte ich auf den verehrten Kollegen Schröder antworten: Grauer geht es nicht.
Meine Damen und Herren, das vorgelegte Sofortprogramm der Bundesregierung spricht für sich. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß die Regierung glaubt, auf eine Begründung verzichten zu können. Aber da ich den Bundeswirtschaftsminister auf der Regierungsbank sprungbereit sehe, darf ich davon ausgehen, daß er zumindest zu der nicht sehr überzeugenden Kritik der Opposition noch einige abschließende Bemerkungen machen wird.
Meine Damen und Herren, das Konzept der Regierung - so darf ich für die Fraktion der Freien De8250 Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Hoppe
mokraten erklären - zeichnet sich durch Treffsicherheit und Schnelligkeit aus. Es ist eine angemessene Antwort auf die regionalen und sektoralen Notstände. Es zielt in einen Wirtschaftsbereich und es zielt in Gebiete, in denen die Arbeitslosigkeit ein kritisches Niveau erreicht hat.
Die Bundesregierung hat zu Recht die Gefahr ernst genommen, die von dort für unsere Stabilitätspolitik ausgehen kann. Das Programm ist deshalb der gelungene Versuch, die globale Konjunkturpolitik dort durch gezielte Maßnahmen zu ergänzen, wo sie bestimmte Branchen und Regionen über Gebühr stark belastet. Es geht darum, die aus den strukturellen Anpassungsprozessen entstehenden Risiken so zu begrenzen, daß sich aus ihnen keine Gefährdung der Gesamtwirtschaft entwickeln kann. Unser Wirtschaftsminister hat hierfür den treffenden Ausdruck „Abfedern" benutzt.
Meine Damen und Herren, das Programm ist aber nicht nur zielgerecht, sondern auch treffsicher angelegt. Wir wissen, daß es durch eine Belebung der Bautätigkeit zu der erwünschten Ausstrahlung auf andere Wirtschaftsbereiche kommen wird. Durch beschränkte Ausschreibung wird sichergestellt, daß die Aufträge auch wirklich in den betreffenden notleidenden Regionen verbleiben. Dieses Verlangen ist besonders nachhaltig aus dem Zonenrandgebiet laut geworden. Dem kommt die Vorlage in vollem Umfange nach.
Schließlich werden durch dieses Programm, wie schon beim 600-Millionen-DM-Programm im Frühjahr des Jahres, insbesondere solche Investitionen gefördert, die den Wohn- und Freizeitwert der Gemeinden heben. Das ist, so meinen wir, ein willkommener Beitrag zur regionalen Strukturverbesserung.
Herr Kollege Schröder, ich habe hier noch einmal das Frühjahrsprogramm genannt. Ich hoffe, der Wirtschaftsminister wird Sie davon überzeugen können, daß Ihre Behauptung, das neue Programm komme zu spät, geradezu absurd ist. Es kommt - auch das werden Sie sich sagen lassen müssen - gerade zur rechten Zeit, um im richtigen Augenblick Anschluß an bereits laufende Maßnahmen zu finden. Wäre es früher gekommen, wären mit diesem Angebot ganz sicher einige Bürokratien und einzelne Regionen überfordert worden.
({0})
Das Programm zeichnet sich besonders durch seine Unmittelbarkeit aus. Alle Länder haben erkannt, daß jetzt nicht die rechte Zeit ist, sich über die Frage zu streiten, wer was auf dem Gebiet regionaler Wirtschaftsentwicklung tun darf. Im Interesse der Sache wird es zu einem programmatischen Verfahren kommen.
Die Abwicklung erfolgt zügig, jedenfalls nach der Planung der Bundesregierung, wie sie in dieser Vorlage ihren Ausdruck gefunden hat. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß die Bürokratien auch tatsächlich in der vorgesehenen Zeit diesem Anspruch gerecht werden.
Die Aufträge sollen bis zum 31. Dezember vergeben sein. Selbst für das Modernisierungsprogramm des Wohnungsbauministeriums gilt der 31. März nächsten Jahres bereits als letzter Termin. Damit wird dem Anspruch auf schnelle Hilfe auch in diesem Bereich voll Rechnung getragen.
Alle, die Verantwortung tragen, werden sich für die Durchführung des Programms einzusetzen haben, egal welcher politischen Couleur sie angehören. Der Bauwirtschaft und den notleidenden Regionen ist ganz gewiß nicht mit einem Parteienstreit über die Aufteilungsquote geholfen. Es kommt darauf an, daß wir schnell und wirksam handeln. Die Bundesregierung hat hier ein entscheidendes Zeichen gesetzt. Deshalb sollten wir die Kritik aus den Reihen der Opposition, wie sie heute aus einigen Ländern erschallt, nicht überbewerten. Im Finanzplanungsrat - daran darf ich noch einmal erinnern - haben alle Länder den Kriterien der Aufschlüsselung und Verteilung zugestimmt, ich sage: alle Länder, so daß sich die Kritik, die jetzt zu hören ist, vor diesem Hintergrund etwas seltsam und oft sehr parteipolitisch gequält ausnimmt.
({1})
Oder es ist - lassen Sie mich das so milde behandeln, Herr Kollege Schröder - ein bildungspolitisches Problem: hier kommen politische Spätentwickler zum Zuge, die jetzt Kritik äußern, obschon sie vorher gemeinsamen Willen zur Lösung der anstehenden Probleme bekundet haben. Ihnen selbst muß ich sagen: Sie haben die Notsituation in regionalen und sektoralen Bereichen treffend gekennzeichnet und geraten deshalb mit sich in Widerspruch, wenn Sie gleichzeitig bestreiten, daß die von der Regierung vorgesehene Anwendung des Stabilitätsgesetzes auch tatbestandsmäßig ist. Ich würde aber auch auf Grund der haushaltspolitischen Verantwortung, die wir gemeinsam zu tragen haben, mit Ihnen sagen, daß wir bei einer Fortentwicklung des Stabilitätsgesetzes prüfen sollten, ob nicht tatsächlich auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die Notwendigkeit besteht, unser Instrumentarium dem differenzierten Wirtschaftsprozeß anzupassen. Es wäre nicht auszuschließen, daß wir sonst mit einer sehr pauschalen Gesetzesformulierung einmal in Schwierigkeiten geraten könnten. Andererseits darf tatsächlich nicht zugelassen werden, daß mit dem Anspruch stabilitätspolitischer Maßnahmen das Haushaltsrecht des Parlaments unterlaufen wird.
({2})
Vizepräsident frau Funcke: Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Friderichs.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Ich will nur noch kurz auf diese Vorlage und auf die dazu gemachten Bemerkungen eingehen. Die Bundesregierung hat in der Drucksache, die Ihnen vorliegt, dargelegt, warum sie der Auffassung ist, daß dies nach § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes erfolgt. Es ist soeben auch durch
Zwischenfragen noch einmal dargelegt worden, daß
der § 1 ja auch eine präventive Möglichkeit bietet,
({0}) und die ist angewendet worden.
Nun kann man sicher, Herr Abgeordneter Schröder, über diese Frage streiten. Ich bin nun der Meinung, daß Sie dann, wenn Sie persönlich oder die ganze Opposition der Meinung sind, § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes sei nicht erfüllt oder hier nicht anwendbar, konsequenterweise Ihre Zustimmung versagen müssen, denn dann sind die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, und man kann der Opposition gar nicht zumuten, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Das ist unmöglich. Wenn Sie sagen: das ist nicht erfüllt, müssen Sie konsequenterweise auch sagen: wir lehnen das ab.
({1})
Ich hätte dafür volles Verständnis; das ist Ihre Entscheidungsfreiheit. Diese Vorlage gründet auf § 1 des Stabilitätsgesetzes, und wer sagt: der liegt nicht vor, muß konsequenterweise nein sagen, wobei es sich natürlich nicht um ein Gesetz handelt, sondern um eine Vorlage der Bundesregierung.
({2})
Ich will zu dem zweiten Punkt etwas sagen. Die Frage „zu spät?" ist eine Ermessensfrage. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich nicht früher wollte und mein Kollege Apel auch nicht, und das sind ja die beiden nach § 6 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zuständigen Bundesminister. Warum? Weil dieses Programm eben nicht ein Herumwerfen der Stabilisierungspolitik ist - die geht vielmehr konsequent weiter -, weil wir aber nach der Sommerpause - und die haben wir bewußt abgewartet - prüfen wollten, ob eine Abfederung in bestimmten Regionen und Sektoren erforderlich wird. Wir kamen dann zu diesem Ergebnis und haben es getan.
Nun kommt aber die Frage: Ist der Zeitpunkt denn dann richtig? Herr Abgeordneter Schröder, ich bin der Meinung, er ist deswegen richtig, weil wir mit diesem Programm den nahtlosen Anschluß an das Programm vom 6. Februar finden. Dieses Programm ist im Laufen und ich werde mich auch gleich zu Ihren Bedenken äußern, wie langsam das alles gehe, wobei Sie den 31. Dezember für das jetzige Programm herangezogen haben.
Das Programm vom 6. Februar ist per 9. Oktober, also per vorgestern, abgerufen mit 48,1 %
({3})
von den 300 Millionen sind also bei uns im Ressort 48,1 °/o abgerufen. Das bedeutet: die Maßnahmen sind am Laufen; denn es wird ja nach dem Baufortschritt abgerufen. Die Abrufquoten schwanken zwischen den einzelnen Bundesländern zwischen 20 % und 58,3 % der verfügbaren Mittel. Ich kann aber jetzt schon sagen, daß offensichtlich für das gesamte Programm die Voraussetzung der Auftragsvergabe bis zum Stichtag und des ersten Abrufs der Mittel bis zum 30. September erfüllt ist, so daß wir
jetzt, wenn Sie die Termine beachten, mit dem zweiten Programm den nahtlosen Anschluß finden. Denn die Anträge für das zweite Programm müssen bei der Bundesregierung bis zum 5. November vorliegen. Sie können früher eingereicht werden; dann geht das Verfahren schneller.
Wir haben, was sicher auch einmalig oder erstmalig ist, mit den Ländern vereinbart, daß die Projekte, wenn sich der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesfinanzminister bis zum 21. November nicht äußern, genehmigt sind. Das heißt, wir haben zum erstenmal den Tatbestand, daß Schweigen als Zustimmung gilt, weil wir eben in unserem Kompetenzbereich den ganzen Behördenapparat so kurz anbinden wollten wie irgend möglich.
Zum ersten Programm muß ich Ihnen sagen: Wir hatten beim letzten Mal als Abgabefrist für die Anträge den 31. März. Ob Sie es glauben oder nicht, bis 10. April waren die Dinge draußen. Sie sehen also, daß hier durchaus zügig gearbeitet wird. Ich sage noch einmal, daß wir damit den unmittelbaren Anschluß finden. Im übrigen sind alle diese Dinge mit den Länderwirtschaftsministern und im Finanzplanungsrat mit den Länderfinanzministern im Detail besprochen worden, in einer - das muß ich ausdrücklich sagen - im großen und ganzen hervorragenden Kooperation.
Dann hat es eine Kritik gegeben, die Sie indirekt ein wenig übernehmen. Sie sagen: Die Mittel gehen zu sehr in die Ballungsräume. Sie müssen den Charakter des Programms sehen. Der Charakter ist eben nicht einfach eine Aufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe. Dann hätten wir das auf andere Weise machen können. Den Charakter dieses Programms habe ich mit meinen Länderkollegen - erst auf Abteilungsleiterebene und dann in einer Ministerbesprechung - sehr ausführlich erörtert. Wir haben uns dort auf folgende Kriterien geeinigt: 50 % der Mittel nach dem Programmteil A werden nach dem Anteil eines Landes an den absoluten Arbeitslosenzahlen bemessen, und 50 % der Mittel werden bemessen nach dem Anteil der Länder an den Gemeinschaftsaufgaben neuer Prägung ab 1. Januar 1975. In dieser Neuabgrenzung haben wir zum ersten Mal - ich wünschte die Europäische Gemeinschaft hätte eine solche Regionalpolitik - drei Kriterien zugrunde gelegt, nämlich die Einkommensdisparität zum Bundesgebiet - also eine entscheidende strukturelle gesellschaftspolitische Komponente -, die Infrastrukturdisparität und ein Arbeitsplatzdefizit, und zwar einen sogenannten Arbeitsplatzkoeffizienten struktureller Art. Das heißt, in dieses Sonderprogramm fließt akut die Arbeitslosenziffer ein - das nannte der Abgeordnete Hoppe „abfedern" -. Aus der strukturellen Komponente fließt dreierlei herein: Einkommensdisparität, Infrastrukturdisparität und noch einmal der negative Arbeitsplatzkoeffizient, so daß auch hier diese Komponente noch einmal mit hereingeht. Ich glaube, daß es gelungen ist, hier wirklich ein sehr, sehr an der Sache und an modernen Erkenntnissen regionaler und sektoraler Strukturpolitik ausgerichtetes Einmalprogramm zu machen, dem ich insofern auch einen gewissen Testcharakter beimesse.
Richtig ist, daß durch die Komponente Arbeitslosenziffer Ballungsgebiete berücksichtigt werden; denn wir haben Ballungsgebiete, in denen die Arbeitslosenziffern höher sind als in schwachstrukturierten Räumen. Nur dadurch kommt es auch, daß die Länderquote von der Quote im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe erheblich abweicht. Das haben wir aber mit den Ländern besprochen. Nur ein Land ist - zum Teil durch spätere Pressekampagnen polemischer Art - dagegen Sturm gelaufen. Das ist das Land Baden-Württemberg,
({4})
weil in der Tat das Land Baden-Württemberg nur mit einer sehr geringen Quote beteiligt ist.
({5})
- Ich halte das für sehr gut. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Ich halte das für sehr gut, weil wir uns mit den Länderwirtschaftsministern auf diese Kriterien geeinigt haben. Bei Anlage dieser Kriterien kommt für Baden-Württemberg nicht mehr heraus. Ich halte nichts davon, immer mit der Gießkanne über das Land zu gehen, wenn man gezielte Maßnahmen durchführen will.
({6})
Ich will Ihnen klar sagen, warum Baden-Württemberg zahlenmäßig so schlecht dabei wegkommt. Baden-Württemberg ist das einzige Land, in dem die Zahl der offenen Stellen höher ist als die Zahl der Arbeitslosen im Bauhauptgewerbe. Dies war eines der Kriterien.
({7})
- Entschuldigen Sie bitte, genau diese 50 %-Komponente Infrastruktur bekommt Baden-Württemberg voll. Dadurch bekommt es die 12 Millionen DM. Über die Arbeitslosenzahl bekommt es praktisch nichts, weil die Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Alle anderen Länder fanden diese Kriterien tadellos. Wir haben uns geeinigt, nur - ({8})
- Bitte, entschuldigen Sie. Sie sehen doch daran, daß das überhaupt nichts mit Parteipolitik zu tun hatte. Das waren ganz sachliche, ökonomische Daten. Es wäre doch geradezu grotesk, wenn Sie in ein Land, das mehr offene Stellen im Bauhauptgewerbe hat als Arbeitslose, mit einem Sonderprogramm Hochbau hineingingen, nur weil da irgendwelche merkwürdigen Paritäten zu halten sind. Das verantwortet dieser Minister nun wirklich nicht mehr; das kann man einfach nicht machen.
({9})
Ich will eins hinzufügen. Wenn man ein bißchen durchleuchtet, weiß man nämlich, daß die Arbeitslosen, die beispielsweise im Baugewerbe im Bayerischen Wald gemeldet sind, zu einem erheblichen Teil Arbeiter sind, die als Pendler in Baden-Württemberg gearbeitet haben. Ich würde es für falsch halten, mit einer Investitionsspritze nach Baden-Württemberg zu gehen, um das Pendlerdasein wieder in Bewegung zu setzen. Dann halte ich es allerdings für richtiger, im Bayrischen Wald mit den Mitteln Hochbaumaßnahmen durchzuführen und dort die Beschäftigung zu bieten, wo die Menschen leben, statt diese Menschen durch ein Sonderprogramm aus der Familie herauszureißen.
({10})
Das waren ganz einfache, nüchterne Überlegungen. Ich habe für diese merkwürdige Polemik überhaupt kein Verständnis, zumal man weiß, in welcher Sachlichkeit die Kollegen Wirtschafts- und Finanzminister das beraten und sich auf die Kriterien geeinigt haben. Nun gut, aber es ist manchmal so, daß man Kriterien für richtig hält, und wenn man hinterher auf die Landkarte schaut, plötzlich merkt, daß man davon keinen Vorteil hat. Aber dann muß man doch zu dem Beschluß stehen und das auch draußen vertreten. Deswegen habe ich für das, was dort unten läuft, überhaupt kein Verständnis. Aber lassen wir das; wir führen das Programm so durch. Alle anderen Länder sind ja auch damit einverstanden.
Sie sehen ja auch an den Mitteln, die in die einzelnen Länder gehen, daß das mit früheren Verteilungsschlüsseln à la Gemeinschaftsaufgabe, Bevölkerungsanteil, Industriedichte gar nichts zu tun hat. Die Philosophie des Programms ist eine andere. Wenn Herr Filbinger dagegen polemisiert, hat er offensichtlich die Philosophie entweder nicht verstanden oder er polemisiert wider besseres Wissen gegen das Programm. Diese beiden Möglichkeiten hat er; er kann sich eine nach freier Wahl davon aussuchen.
Nun haben Sie gesagt: diese armen Länder usw. usf., die da nicht ihre Komplementärmittel anbieten können. Auch darüber haben wir mit den Ländern ausführlich diskutiert. Das war die Zuständigkeit des Kollegen Apel; er hat das im Finanzplanungsrat getan. Und nun will ich Ihnen sagen, was dabei herauskam. Für den Bund ist die Finanzierung über die Investitionsteuer unproblematisch; denn wir haben an Investitionsteuer fast so viel bei der Bundesbank liegen, wie wir zur Finanzierung dieses Programms benötigen. Die Länder insgesamt haben auch genug Investitionsteuer. Aber die Länderanteile decken sich nicht mit den Verteilungsquoten. Vor dem Problem standen wir.
Die Lage ist so, daß die Überschußländer über 54 Millionen DM mehr Investitionsteuer bei der Bundesbank haben, als benötigt wird. Die schwachen Länder haben 83,5 Millionen DM zuwenig Investitionsteuer. Daraufhin haben wir gesagt: Wollt ihr das nicht unter euch ausgleichen? Wollen nicht die Investitionsteuerüberschußländer die Investitionsteuerdefizitländer mit den entsprechenden Mitteln ausstatten? Das wäre für die Bundesregierung das allereinfachste Verfahren gewesen. Deswegen haben wir es vorgeschlagen.
Ich will nur eine Zahl nennen. Baden-Württemberg hat z. B. einen Überschuß an Investitionsteuer von 34,5 Millionen DM. Wenn es den zur Verfügung gestellt hätte, hätten die anderen Länder ihre Programme aus Investitionsteuer finanzieren können.
Dazu waren die Überschußländer nicht bereit. Daraufhin haben wir gesagt: Gut, dann bieten wir den schwachen Ländern - weil wir eure Probleme kennen - an - aber auch nur diesen , aus der obligatorischen Konjunkturausgleichsrücklage den Teil abzurufen, der zur Komplementärfinanzierung bei ihnen fehlt. Wir haben ihnen eben nicht zumuten wollen, das über die allgemeinen Haushalte oder über Nachtragshaushalte zu finanzieren; sondern wir sind den komplizierten Weg der Auflösung eines Teils der Konjunkturausgleichsrücklage wegen dieser Länder gegangen.
Herr Abgeordneter Schröder, nun muß ich Ihnen etwas dazu sagen: Dazu brauchen Sie § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes. Die Länder wären ohne Inanspruchnahme des Kapitalmarktes sonst eben leider nicht in der Lage gewesen, mitzufinanzieren. Ich hätte es nicht für korrekt gehalten, daß wir die schwach strukturierten Länder in dieser Lage nun noch einmal doppelt gekniffen und sich die reichen Länder ins Fäustchen gelacht hätten, weil sie auf die Investitionsteuer hätten zurückgreifen können. Man muß doch die Dinge so sehen, wie sie sind, und deswegen sind wir diesen Weg gegangen.
Nun sagen Sie, dies sei eine neue Grauzone. Ich überlasse das Ihrer Beurteilung, was Sie als Grauzone empfinden. Ich glaube, diese Vorlage ist sauber formuliert, sie ist absolut transparent. Sie können nachlesen, wieviel in welches Land geht für welche Maßnahmen. Es ist alles konkret aufgezeichnet, nicht so wie früher einmal beim Gasgeben alles pauschal, und, Herr Abgeordneter Schröder, es ist nicht so wie beim Gasgeben nach 1966/67, daß die Maßnahmen erst in der nächsten Hochkonjunktur wirksam werden. Wir haben ausdrücklich gesagt: 1. Die Ausschreibung muß - nicht soll - bis zum 31. Dezember erfolgt sein, sonst klappt der Mittelabruf nicht. 2. Die Baumaßnahmen sollen - hier ist die Soll-Vorschrift - spätestens bis zum 31. Dezember 1975 fertiggestellt sein.
Damit haben wir zwei Ziele verfolgt: Erstens wollten wir nicht in einen nächsten Konjunkturaufschwung hineinlaufen, und zweitens wollten wir durch die kurze Fristsetzung der Fertigstellung erreichen, daß es sich nicht primär um Großprojekte handelt, sondern primär um mittlere und kleinere Bauvorhaben, weil die mittlere Bauindustrie und Bauwirtschaft im Moment am stärksten betroffen ist und weil sie sich an den ganz großen Projekten im allgemeinen nicht beteiligen kann. Wir haben also auch noch eine Größenstrukturkomponente eingebaut über die Fristsetzung und über die Möglichkeit der beschränkten Ausschreibung der Gemeinden, was zur Folge hat, daß endlich einmal ortsansässige mittlere Firmen mit der Auftragsvergabe bedacht werden, so daß die ortsansässigen, nicht in Beschäftigung stehenden Bauarbeiter beschäftigt werden und nicht über das Hereinströmen von Großfirmen aus Ballungszentren die Möglichkeit besteht, in den schwach strukturierten Räumen die Arbeit den mittleren Betrieben dort wegzunehmen. Das ist alles einmal zusammen zu sehen, und ich glaube, daß man daher dieses Programm vorzeigen kann, daß es gut ist und daß man es nicht mit dem Titel „Grauzone" belegen sollte, es sei denn, Sie sind der Meinung, die Gemeinschaftsaufgabe als Ganzes sei eine Grauzone. Darüber kann man diskutieren, denn die Transparenz der Gemeinschaftsaufgabe für die Parlamente auf den Ebenen Länder und Bund ist schwieriger als die klare Zuordnung: nur Bundeskompetenz oder nur Landeskompetenz.
Ich will heute und hier auf das Verstromungsgesetz nicht eingehen. Dazu haben wir Zeit, wenn es verabschiedet wird, und dort haben Sie Gelegenheit, Ihre Kritik anzubringen. Sie werden auch dort die Gelegenheit haben, dagegen zu stimmen und zu sagen, wie Sie sich den Einsatz von 35 Millionen Tonnen deutscher Steinkohle zur Verdrängung des Ols aus der Stromproduktion vorstellen. Sie werden dann Gelegenheit haben, zu sagen, wie Sie sich auf Dauer die Energiesicherung dieses Landes vorstellen. Wir haben eine klare Vorstellung, und diese haben wir Ihnen in Form eines Gesetzes vorgelegt. Ich werde bei der Debatte auch klar sagen, welche Regelung ich noch sympathischer gefunden hätte. Ich werde dann auch sagen, an wem sie gescheitert ist, und darüber können wir ja hier diskutieren.
({11})
Eine letzte Bemerkung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. In der Tat ist zu prüfen, ob und wann wir dieses Gesetz novellieren. Ich glaube sicher, daß wir uns, wenn es novelliert wird, auch mit dem § 1 beschäftigen werden, jedenfalls dann, wenn die Opposition weiterhin sagt, der § 1 biete keine Möglichkeit einer präventiven Politik.
({12})
Wenn dies Ihre Meinung ist, müssen wir den § 1 ändern, denn ich bin nicht bereit, Verantwortung für die Wirtschaft in diesem Lande zu tragen, wenn ein präventives Vorgehen in diesem Bereich nicht möglich ist. Das können Sie uns nicht zumuten.
({13})
Die Regierung war aber der Meinung - und ich glaube, sie ist gut beraten -, man solle die Novellierung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nicht anpacken in einer besonders schwierigen wirtschaftspolitischen Lage, denn immer dann, wenn man das in einer solchen Lage tut, kommt es zu sehr einseitigen und nicht ausgewogenen Formulierungen. Das wäre so gewesen, wie wenn wir Ihrem seinerzeitigen Rat gefolgt wären und das Energieprogramm im letzten Winter fortgeschrieben hätten. Wahrscheinlich müßten wir es dann jetzt schon wieder ändern, weil sich niemand des Eindrucks der damaligen Akutsituation hätte entziehen können. Wir sind sehr wohl dabei, die Arbeiten an diesem Gesetz fortzuführen. Warum ich beim Stabilitäts- und Wachstumsgesetz etwas zögere, will ich Ihnen offen sagen. Wenn wir das novellieren, müssen wir uns auch auf einer ausreichenden wissenschaftlichen Basis mit den Problemen der Indexierung, der Regelmechanismen und all
der Dinge auseinandersetzen können, die die moderne Volkswirtschaftswissenschaft uns an die Hand gegeben hat. Wir müssen aber ausreichend Zeit haben zu prüfen, ob sie so sind, daß sie nicht nur theoretische Denkmodelle, sondern in der politischen Praxis anwendbar sind. Wenn dies alles geprüft ist, werden wir ohne Hast und Hektik, aber zum richtigen Termin selbstverständlich an die Novellierung herangehen. Zeitdruck bekommen wir nur, wenn Sie weiterhin sagen: Du darfst dieses Gesetz nicht präventiv anwenden. Dann stehen wir unter einem massiven Zeitdruck. Aber wir werden ja an Ihrem Verhalten zu dieser Vorlage erkennen, ob dies nur eine Bemerkung war oder ob das Ihre wirkliche Auffassung ist.
Denn wenn Sie - ich muß das zum Schluß noch einmal sagen - diese Vorlage nicht als vom § 1 gedeckt ansehen, könnten Sie ihr, weil sie gesetzwidrig wäre, gar nicht zustimmen.
({14})
Meine Damen und Herren! Das Wort wird nicht mehr gewünscht.
Der Ältestenrat empfiehlt, den Gesetzentwurf an den Haushaltsausschuß - federführend -- und an den Wirtschaftsausschuß - mitberatend - zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe das Haus auf Mittwoch, den 16. Oktober 1974, 13.30 Uhr zur Fragestunde ein. Die Sitzung ist geschlossen.