Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung nach Artikel 56 des Grundgesetzes. Namens des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich alle Ehrengäste aus dem In- und Ausland.
Meine Herren Präsidenten! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Bundestag und Bundesrat sind heute zu einer gemeinsamen Sitzung zusammengetreten, um der Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland beizuwohnen. Zum dritten Male in der Geschichte der Bundesrepublik geht dieses höchste Amt, das nach unserer Verfassung zu vergeben ist, auf einen neuen Inhaber über.
Ein Vierteljahrhundert einer neuen Epoche deutscher Geschichte liegt hinter uns, einer Epoche des Friedens, der Freiheit und des Aufstiegs aus Not und Elend. Auch sie hat ihre Schattenseite, auch sie hinterläßt ungelöste Probleme. Aber sie steht in einem deutlichen und erfreulichen Kontrast zu jenem vergangenen Geschichtsabschnitt des Niedergangs, der Zerstörung durch die Hybris totalitärer Macht und einer unvorstellbaren Mißachtung allen Rechts.
Es ist nicht meine Absicht, diese Stunde erneut einer Bestandsaufnahme zu widmen, nachdem der scheidende Bundespräsident bereits am Jubiläumstage ein eindrucksvolles Bild des Geleisteten und zugleich auch von den vor uns liegenden großen Aufgaben gezeichnet hat. Etwas von dem, was uns an jenem Tage bewegte, sollte aber auch in dieser Stunde mit aufklingen. Ich meine damit die Dankbarkeit gegenüber all denen, die in diesen 25 Jahren dazu beigetragen haben, daß sich bei uns in einer stetigen Entwicklung die freiheitliche parlamentarische Demokratie tief und fest zu verwurzeln vermochte.
Es sei mir zu dieser Stunde erlaubt, einen solchen Dank auch in einer ganz persönlichen Form auszusprechen, indem ich mich an jene zehn Abgeordneten wende, die dem Deutschen Bundestag als dem zentralen Organ unserer parlamentarischen Demokratie von Anfang an, also seit seiner Konstituierung am 7. September 1949, ununterbrochen bis zum heutigen Tage angehört haben. Es sind dies in alphabetischer Reihenfolge: Professor Dr. Ludwig Erhard, Dr. Hermann Götz, Dr. Richard Jaeger, Erwin Lange, Dr. Erich Mende, Dr. Martin Schmidt ({0}), Dr. Gerhard Schröder, Dr. Franz Josef Strauß, Richard Stücklen und Herbert Wehner. Empfangen Sie den Dank stellvertretend für alle, die unserem Staat in den vergangenen 25 Jahren durch ihren politischen Einsatz unermüdlich gedient haben.
Unser besonderer Dank aber gilt zu dieser Stunde den Männern, die seit 1949 an der Spitze unseres Staates gestanden haben - unseren Bundespräsidenten. Es ist gewiß keine einfache Aufgabe, die an dieses Amt gestellten Anforderungen und Erwartungen zu erfüllen. Einerseits sind die dem Bundespräsidenten übertragenen politischen Befugnisse eng begrenzt. Aber auf der anderen Seite soll er in ganz bestimmten Situationen eine Entscheidungsohnmacht oder -unfähigkeit des Parlaments ausgleichen. Er steht somit, wie man gesagt hat, als eine besondere Reservemacht für besondere parlamentarische Notsituationen zur Verfügung, Notsituationen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik zum Glück noch nicht gegeben hat.
Das Grundgesetz ist im Vergleich zu manchen anderen Verfassungen in den Aussagen über die allgemeinen Zwecke und Aufgaben der Staatsorgane zurückhaltend. Es beschränkt sich auf die Aufzählung einzelner Rechte, Befugnisse und Funktionen. Und doch ist auch der Präsident unserer Republik mehr als die Summe dieser Funktionen. Aber was er ist, hängt in entscheidendem Maße von ihm selbst ab. Er ist als der höchste Repräsentant nach innen wie nach außen in weitem Maße auf etwas angewiesen, was sich juristischer Definition entzieht und was wir Autorität nennen. Damit ist nichts anderes gemeint als das im Persönlichen, in dem Gewicht, der Kompetenz, dem Ethos der Person liegende Vermögen, Gehör verlangen und finden zu können und durch die Wirkung seiner Person und ihres Wortes die Gesamtheit zu binden. Seine Stel7620
Präsident Frau Renger
lung gibt ihm auch die Möglichkeit, durch ein ganz auf sich gestelltes Urteilsvermögen zu raten, zu mahnen, zu warnen und Maßstäbe zu setzen. Darin liegt die Bedeutung dieses Amtes, aber auch seine schwer zu tragende Bürde.
Daß dieses Amt hohes Ansehen und großen Respekt genießt, verdanken wir seinen drei bisherigen Inhabern Theodor Heuss, Heinrich Lübke und Gustav Heinemann. Jeder von ihnen hat von seiner Persönlichkeit her Unverwechselbares in die Ausformung dieses Amtes eingebracht. Jeder von ihnen hat das getan, was seiner Überzeugung nach das Amt von ihm verlangte. Trotzdem, so scheint mir, verbindet die drei Amtsinhaber etwas wesentlich Gemeinsames. Bei aller Verschiedenheit ihrer politischen Herkunft und ihres Werdeganges empfanden sie sich und handelten als die Diener einer tiefen und überzeugenden Humanität.
Meine Damen und Herren, Dank schulden wir auch den Frauen unserer Bundespräsidenten. Sie haben ihren Gatten bei der Erfüllung ihrer Amtspflichten zur Seite gestanden. Sie haben auch der Frau an der Seite des Bundespräsidenten eine vorbildliche Prägung gegeben, ohne dabei auf eine entsprechende Ausstattung des Amtes zurückgreifen zu können. Müttergenesungswerk, Altenhilfe, Hilda-Heinemann-Stiftung, Wohnstättenwerk für geistig behinderte Erwachsene sind die bekanntesten Beispiele für ein nachhaltig segensreiches soziales Wirken. Ihnen ließen sich Dutzende anderer Aufgaben hinzufügen.
So haben Sie sich, hochverehrte Frau Heinemann, in den fünf Amtsjahren an der Seite Ihres Gatten mit großer Energie vorwiegend sozialen Problemen gewidmet. Sie haben neben den Belastungen, die sich aus den Repräsentationspflichten eines Staatsoberhauptes zwangsläufig gerade auch für Sie ergaben, unermüdlich nach unkonventionellen Wegen zur Verbesserung schlechter Lebensverhältnisse gesucht, wo auf eingefahrenen Gleisen nicht weiterzukommen war. Darüber hinaus haben Sie auch an der Entwicklung der darstellenden Kunst regen Anteil genommen und durch Ausstellungen in der Villa Hammerschmidt begabten Künstlern den Weg zur Öffentlichkeit geebnet. Für Ihr soziales und kulturelles Engagement und für die liebenswürdige und unnachahmliche Weise, mit der Sie Ihren Gatten in seinem verantwortungsvollen Amte unterstützt haben, sind wir Ihnen Dank schuldig.
Nun aber darf ich mich Ihnen, Herr Dr. Heinemann, persönlich zuwenden, um Ihnen unseren Dank zu sagen für alles, was Sie in der Ausübung Ihres Amtes für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bürger getan und geleistet haben. Ich weiß sehr wohl, daß Sie, Herr Dr. Heinemann, kein Freund großer Worte sind. Es fiele mir jedoch sehr schwer, Sie aus dem Amt scheiden zu lassen, ohne wenigstens andeutungsweise die von Ihnen gesetzten Schwerpunkte Ihrer Präsidentschaft zu würdigen.
Sie haben das höchste Amt unseres Staates mit dem Vorsatz angetreten, allen Bürgern mit besonderer Aufgeschlossenheit und in betont unkonventioneller Weise zu begegnen. Durch Ihr ständiges Gespräch mit den Bürgern aller Bevölkerungsgruppen haben Sie zur Verbundenheit des Volkes mit seiner demokratisch gewählten Führung entscheidend beigetragen. Zahllos sind Ihre Diskussionen mit Schülern und Studenten, mit Rentnern und ausländischen Arbeitnehmern, mit den Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unserem Land, mit Soldaten, Sportlern, Landwirten, Künstlern und Wissenschaftlern. Aus all diesen Gesprächen zogen Sie wohl die Erkenntnisse über die Probleme, Vorstellungen und Erwartungen Ihrer Gesprächspartner, die Sie dann aber auch der Öffentlichkeit vermittelten.
Sie haben aber auch Wahrheiten ausgesprochen, die nicht für alle Bürger unseres Landes nur bequem waren. Schon als Bundesjustizminister haben Sie in einem Augenblick höchster Spannungen zwischen der jungen Generation und den sogenannten Etablierten das Bild von dem ausgestreckten, einen vermeintlich Schuldigen suchenden Zeigefinger geprägt und hierbei zu bedenken gegeben, daß drei Finger dieser Hand auch auf uns selbst weisen. Noch heute, sechs Jahre nach Ihrem Appell an uns alle, werden wir häufig bei Diskussionen über spannungsgeladene Themen an dieses Wort erinnert.
Während Ihrer Amtszeit haben Sie immer wieder Anstöße zur Aufarbeitung der Geschichte unseres Volkes gegeben. Sie fragten, ob es denn richtig sei, daß uns Deutschen die Demokratie immer nur von außen aufgezwungen wurde, oder ob nicht vielmehr unser Volk in Vergangenheit und Gegenwart zahllose eigene Anstrengungen aufzuweisen hat, die deutlich machen, wie oft auch bei uns um mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität gekämpft worden ist.
Verehrter Herr Dr. Heinemann, Sie haben aber auch mit der Ihnen eigenen Hartnäckigkeit unser Volk stets darauf hingewiesen, daß die Starken und vom Glück Begünstigten unter uns die Pflicht haben, sich der Schwächeren, der Gebrechlichen, der Alten und aller jener, die unschuldig an den Rand unserer Wohlstandsgesellschaft gedrängt wurden, anzunehmen. Sie haben uns ins Gewissen geredet.
Die Ausschüsse des Deutschen Bundestages waren regelmäßig bei Ihnen zu Gast. Viele wertvolle Anregungen für unsere Parlamentsarbeit ergaben sich aus den freimütigen Gesprächen, die die Abgeordneten dieses Hohen Hauses bei solcher Gelegenheit mit Ihnen führen konnten. Seit 1919, schon als Student, waren Sie politisch tätig. Mit Ihrem Rat, den Sie aus Ihrem reichen Erfahrungsschatz als Rechtsanwalt, als an der Leitung von Industrieunternehmen Beteiligter, als Kirchenmann, Kommunal- und Landespolitiker, als Bundestagsabgeordneter, Bundesminister und schließlich als Bundespräsident vermitteln konnten, haben Sie denen zur Seite gestanden, die politische Entscheidungen zu vollziehen und zu verantworten haben, wie Sie es schon in Ihrer Antrittsrede versprachen. Sie haben damit eine Aufgabe erfüllt, in die die Öffentlichkeit kaum einen Einblick haben konnte, die aber gleichwohl zu den bedeutsamen Funktionen dieses Amtes gehört.
Ihre Verbundenheit mit Berlin hat Sie, verehrter Herr Heinemann, die Herzen der Berliner gewinnen
Präsident Frau Renger
lassen. Sooft wie nur möglich haben Sie sich mit Ihrer Gattin während Ihrer Amtszeit zu jeweils mehrtägigen Besuchen in der alten deutschen Hauptstadt aufgehalten. Sie haben dadurch dokumentiert, daß Berlin mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist und bleibt. Die Stadt Berlin hat Sie zu ihrem Ehrenbürger ernannt und dadurch ihren Dank bekundet.
Sie haben während Ihrer Amtszeit diejenigen Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland besucht, die während der unseligen Jahre des HitlerKrieges besonders leiden mußten. In den Niederlanden, in Dänemark und in Norwegen, in Italien, in Luxemburg und in Belgien konnten Sie durch Ihr Auftreten bereits geschlagene Brücken der Verständigung festigen und dank Ihrer eigenen politischen Vergangenheit das neue demokratische Deutschland beispielhaft vertreten. Sie haben zugleich den Unterschied zwischen hergebrachtem Nationalismus und unverzichtbarem Patriotismus deutlich zu machen verstanden, gemäß der Maxime aus Ihrer Antrittsrede, in der Sie sagten:
Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist uns er Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten.
Ihr Sinn für Rechtschaffenheit, Ihr oft sehr direktes Ansprechen vieler Probleme, die uns bedrängen, haben uns allen gutgetan. Gutgetan hat auch die Offenheit, in der Sie die Bürger unseres Staates stets darauf hingewiesen haben, daß sie erst dann als mündige Bürger zu bezeichnen sind, wenn sie außer den ihnen zustehenden Rechten auch die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft des Volkes anerkennen. Sie haben dies vorgelebt und dadurch nach den fünf Jahren Ihrer untadeligen Amtsführung einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Als einer der letzten noch im vorigen Jahrhundert geborenen aktiven Politiker treten Sie nun, wie Sie selbst sagten, in die Reihen der Bürger zurück. Dem scheidenden Bundespräsidenten bekunden wir unseren tiefempfundenen Dank und unser aller Anerkennung. Zu seinen Ehren erheben sich die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften, um vor der Öffentlichkeit im Namen des deutschen Volkes zu bezeugen:
Gustav Heinemann hat sich um das Vaterland verdient gemacht.
Meine Damen und Herren, dem Dank an den scheidenden Bundespräsidenten schließe ich einen herzlichen Willkommensgruß an den neu gewählten Bundespräsidenten Walter Scheel an.
Sie bringen, Herr Bundespräsident, aus Ihrer bisherigen Arbeit eine große politische Erfahrung mit. Ihre politische Laufbahn begann unmittelbar nach Ihrer Rückkehr aus dem Kriege. Sie haben damals mit Tatkraft für den Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz für sich und Ihre Familie gearbeitet und ich gleichzeitig der politischen Arbeit für unser Land zur Verfügung gestellt. In beidem bewiesen Sie eine glückliche Hand, und die deutsche Politik
erhielt durch Sie viele Impulse. Über 20 Jahre lang sind Sie Mitglied ides Deutschen Bundestages gewesen, zeitweilig auch einer seiner Vizepräsidenten, und vorher waren Sie bereits im Landtag. Als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit zuständig für die Entwicklungspolitik, lernten Sie das Feld der internationalen Beziehungen von einer Seite kennen, die großes Verständnis, aber auch Realitätssinn verlangt. Als Außenminister und Vizekanzler haben Sie dann bis vor kurzem an entscheidender Stelle die Politik unseres Landes mitbestimmt.
Mit Ihrem Vertrauen in die Vernunft, Ihrer Zuversicht, Überzeugungstreue und Ihrer der Welt zugewandten, zupackenden Art haben Sie schwierigste politische Führungsaufgaben zu meistern verstanden. Seit nunmehr auch beinahe 20 Jahren haben Sie sich durch Ihre Arbeit in den europäischen Versammlungen, Parlamenten und Räten die Angelegenheiten Europas zu eigen gemacht. Internationale Zusammenarbeit ist für Sie nie eine bloß deklamatorische Formel gewesen. Dies alles hat Ihnen viele zu Freunden gemacht und große Sympathien in Deutschland wie im Ausland eingetragen. Damit haben Sie einen Fundus an Vertrauen erworben, der es Ihnen erlaubt, mit Zuversicht den Aufgaben entgegenzublicken, die jetzt auf Sie als Träger dieses höchsten Amtes unserer Republik zukommen werden.
Ich weiß, daß Ihre hochverehrte Gattin Ihnen ebenso zur Seite stehen wird.
Ich wünsche Ihnen für dieses Amt Gesundheit, Kraft und Segen.
Das Wort hat jetzt der scheidende Herr Bundespräsident.
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D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann: Frau Bundestagspräsidentin! Herr Bundesratspräsident! Meine Damen und Herren! Als ich vor fünf Jahren das Amt des Bundespräsidenten antrat, habe ich hier gesagt: „Die Leistungen von gestern werden morgen schon nicht mehr zählen." Ich habe Anlaß, heute mich selbst an dieses Wort zu erinnern; es macht bescheiden und selbstkritisch. Die anerkennenden Worte, mit denen in diesen Tagen des Abschieds meine Tätigkeit gewürdigt wurde, höre ich dankbar. Ich danke insbesondere auch Ihnen, Frau Bundestagspräsidentin, und den Mitgliedern der hier versammelten gesetzgebenden Körperschaften. Wie sollte ich mich nicht freuen, wenn mein Wollen und Tun bei vielen Verständnis und Zustimmung gefunden hat.
Damit ist aber die Frage nicht abgetan, ob in den Jahren von 1969 bis 1974 von mir und uns allen, die wir in politischer Verantwortung stehen, getan oder versäumt worden ist, was nötig war, um den Aufgaben unserer Zeit gerecht zu werden. Dieser Frage hat sich jeder zu stellen, zumal aber der, der sein Amt in andere Hände gibt. Sie ist die Frage derer, für die wir arbeiten, und die Frage derer, die nach uns kommen. Jeder muß für sich selbst diese Frage beantworten.
D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann
Ich möchte in dieser Stunde dreierlei aussprechen: wofür ich zu danken habe, worum es mir ging und was ich wünsche.
Ich danke zuerst meinen Mitarbeitern im Bundespräsidialamt. Ich danke darüber hinaus allen denen, die mir durch hilfreiche Beratung, durch stärkende Ermunterung, durch mitdenkende Kritik geholfen haben. Darin sind eingeschlossen Anhänger verschiedener politischer Richtungen, wie denn auch Freundschaften und persönliche Beziehungen über die Grenzen der Parteien hinweg ungetrübt geblieben sind.
Ein Bundespräsident hat den Vorzug, dieses Land kennenzulernen wie wenige andere, seine verschiedenen Gegenden, unzählige Menschen, die unterschiedlichsten Einrichtungen, Gruppen und Bestrebungen. Dabei war es für mich immer erneut bewegend zu erfahren, wieviel aufopfernden Einsatz, wieviel treue Pflichterfüllung, wie vielfältige Initiativen es gibt, um auf herkömmliche oder neuartige Weise Notstände zu lindern, kleine und große Probleme anzugehen, neue Möglichkeiten des Lebens zu gestalten, zugleich auch, wie wach und mitsorgend öffentliche Angelegenheiten mitbedacht werden. Dies alles hat mich in der Gewißheit bestärkt, daß freiheitliche Demokratie die menschenwürdigste Form von Staat und Gesellschaft ist. Nur in ihr kann sich so viel Eigenständiges und so viel Teilnahme an den Fragen des Gemeinwohls entwickeln. Es hat mich in der Zuversicht bestärkt, daß die Demokratie nun endlich tiefe Wurzeln in unserem Volke schlägt. Dies ist der sicherste Schutz, den ein demokratischer Staat haben kann.
Worum ging es mir? Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Aufgaben des Bundespräsidenten haben sich nach meiner Erfahrung bewährt. Nur was die Dauer der Amtszeit des Bundespräsidenten anlangt, so frage ich, ob es nicht angebracht wäre, sie etwa auf sieben Jahre zu stellen, jedenfalls aber eine Wiederwahl auszuschließen. So wenig ich selbst angesichts meines Alters das Verlangen hätte, noch länger zu amtieren, so könnte eine etwas längere, aber dann nicht weiter verlängerbare Amtszeit die Verwertung von Erfahrungen verbessern und vor allem allseitig eindeutige Gegebenheiten schaffen.
Die Pflichten des Amtes nach meinen Kräften zu erfüllen und seine Möglichkeiten auszuschöpfen, war mein Bestreben. Nach außen kam es darauf an, die Verständigung zu unterstützen, die auf friedliche Beziehungen zu allen Staaten, sonderlich zu den europäischen Nachbarn, zielt. Dabei konnten die Belastungen, die durch das Unheil des Nationalsozialismus, das über die Nachbarn und über uns selbst gekommen ist, nicht ausgespart werden. Es mußte darüber in Offenheit gesprochen werden, damit deutlich wurde, was wir daraus gelernt haben. Darum habe ich z. B. bei der ersten Auslandsreise in Amsterdam die Schowbourg, d. h. den Sammelort der holländischen Juden vor ihrem Abtransport in die Vernichtungslager, und bei deren letzten Auslandsreise in Belgien das Fort Breendonk, die Hinrichtungsstätte der belgischen Widerstandskämpfer, besucht. Ich bin dankbar dafür, daß ich auf diese Weise helfen konnte, über das Geschehene hinweg
einen gemeinsamen Weg unserer Völker in die Zukunft zu ebnen. Gern hätte ich deshalb auch die an mich ergangene Einladung zum Besuch der Sowjetunion wahrgenommen, was leider nicht mehr möglich war.
Zu Hause soll der Bundespräsident unbeschadet eigener politischer Meinung über den Parteien stehen. Er soll zu allen Gruppen im Lande Fühlung halten und zu ihrer Zusammenarbeit beitragen. Man hat mich manchmal „Bürgerpräsident" genannt. Damit ist wohl meine Bemühung gemeint, den Abstand, der mit dem höchsten Staatsamt zu den Bürgern gegeben ist, so weit wie möglich zu verringern. Ich wollte nicht abgetrennt sein von den täglichen Sorgen und Hoffnungen meiner Mitbürger. Ich wollte helfen, Untertanengesinnung und Unterwürfigkeit in staatsbürgerliches Selbstbewußtsein und staatsbürgerliche Mitverantwortung zu verwandeln. Wir alle wissen, daß hier bei uns eine Vergangenheit nachklingt, die sich mit lebendiger Demokratie nicht verträgt. Hier liegt auch der Grund dafür, daß ich mich bemüht habe, die Erinnerungen an freiheitliche Bewegungen in unserer Geschichte lebendig zu machen. Von daher auch meine Versuche, am steifen Protokoll einiges zu ändern.
Die vielen Bittschriften an den Bundespräsidenten als „Bundesklagemauer" deuten auf vielfältige Nöte und Bedrängnisse. Viel zu groß sind dabei freilich die Erwartungen. Denn die Vollmachten dieses Amtes sind sehr begrenzt und müssen in einem Rechtsstaat begrenzt bleiben. Ich bin froh, wenn es mit Hilfe des Bundespräsidialamtes in manchen Fällen gelungen ist, die Maschinerie etwas beweglicher zu machen und zu vermenschlichen.
Den verschiedenen Randgruppen in unserer Gesellschaft hat die besondere Aufmerksamkeit von meiner Frau und mir gegolten. Die großen und an Zahl leider zunehmenden Gruppen der körperlich und geistig Behinderten sind eine Aufgabe für uns alle, die über gesunde Glieder verfügen. Unsere so sehr auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtete Gesellschaft ist ja nur dann eine menschliche Ordnung, wenn sie behinderten Minderheiten volle Achtung, volle Gemeinschaft und ein Höchstmaß an Eingliederung gewährt.
Die ausländischen Arbeiter in unserer Mitte dürfen nicht Objekte der Ausbeutung sein. Sie müssen als Mitarbeiter gewertet werden, die mit uns Anspruch auf die Früchte gemeinsamer Arbeit haben.
In alledem ging es mir darum, einen Beitrag zu leisten für ein Leben unserer Bürger in Frieden und Freiheit, für die Verankerung der Demokratie, für die Festigung und Humanisierung des Rechtsstaates und für seine Entwicklung zu einer sozialen Demokratie. Eben hierauf zielen auch meine Wünsche für die Bundesrepublik Deutschland.
Oft und immer wieder habe ich auf die Schatten über dem heutigen Weg der Menschheit hingewiesen: Hunger, Unterdrückungen, Rohstoffkrisen, Zerrüttung des Gefüges der Weltwirtschaft, Umweltzerstörungen, Rüstungswettlauf, - um nur einige Bedrängnisse zu nennen. Diese Schatten sind in den
D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann
letzten fünf Jahren nicht heller, eher noch dunkler geworden. Es kann uns nicht beruhigen, daß wir noch so gut dran sind. Wie sollen Kinder und Enkel auf einer Erde leben können, die wir ausrauben und zerstören? Das ist die Frage.
Mich erfüllen. Unruhe und Ungeduld über die noch immer bei uns herrschende Kurzsichtigkeit. Vieles von dem, was wir treiben, worüber wir uns streiten, müßte uns endlich klein erscheinen im Verhältnis zur Größe der Gefahr, die es abzuwenden gilt. Wer heute nur für sich selbst sorgen will, verspielt mit ,der Zukunft anderer auch die eigene. Das richtet sich auch gegen Reformmüdigkeit, von der heute oft gesprochen wird. Freilich, wir erfahren, wie schwer Reformen durchzuführen sind. Aber es muß uns klar sein: in einer so schnell sich verändernden Welt kann nur bewahren, wer zu verändern bereit ist. Wer nicht verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.
Ich gebe zu, daß ich erst im Laufe der Jahre erkannt habe, wieviel Vordergründiges auch mich vom Wesentlichen abgelenkt hat. Um so dringender wünsche ich allen Verantwortlichen in den Parlamenten wie außerhalb der Parlamente, daß sie näher zusammenrücken möchten und daß jede unserer Regierungen, wie immer sie aussieht, Mut und Tatkraft finde, ohne Rücksicht auf Wählerstimmen offen auszusprechen, was vor uns steht und wie sie dem begegnen will. Ist das ganze Haus bedroht, verzankt sich die Familie nicht um Haushaltsgeld oder Küchenzettel. Sie wird sich im Not-Wendenden zusammenfinden.
So gilt es auch für uns heute, nüchtern, unerschrocken und mit Weitblick unsere Arbeit auf die Zukunft auszurichten, mögen uns auch manchmal Gefühle der Ratlosigkeit oder der Ohnmacht anfechten. Es ,gilt, ihnen zum Trotz die relative Utopie einer besseren Welt, von der ich in meiner Antrittsrede sprach, als Leitbild festzuhalten.
In einer Erörterung der Frage nach dem Sinn unseres Lebens las ich kürzlich folgende Begebenheit: In der Mitte des vorigen Jahrhunderts tagte in einem Staat des nordamerikanischen Mittelwestens das Parlament dieses Staates. Und wie es dort manchmal vorkommt, zog ein fürchterliches Unwetter herauf, ein Orkan, und verdunkelte den Himmel. Es wurde schwarz wie die Nacht. Die Parlamentarier wollten voll Entsetzen die Sitzung abbrechen und aus dem Sitzungssaal stürmen. Darauf sagte der Sprecher des Parlaments: „Meine Herren! Entweder die Welt geht jetzt nicht unter, und unser Herr kommt noch nicht - dann ist kein Grund vorhanden, die Sitzung abzubrechen. Oder unser Herr kommt jetzt - dann soll er uns bei der Arbeit finden. Die Sitzung geht weiter!"
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Mit solcher Gesinnung möchte ich selber, solange Gott mir Kraft gibt, auf meine Weise an unseren gemeinsamen Aufgaben weiterhinbeteiligt werden.
Ich verabschiede mich von Ihnen allen mit herzlichen Wünschen für Ihre Arbeit und Ihr persönliches Ergehen.
Ich grüße alle Bürger unseres Staates und die Bürger des anderen deutschen Staates mit dem Wunsche einer friedlichen Zukunft.
Meine Frau und ich grüßen Herrn Bundespräsidenten Walter Scheel und seine Frau. Ich wünsche Ihnen, Herr Bundespräsident, Kraft und Weisheit für das Amt, das nun Ihrer wartet.
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Meine Damen und Herren, Sie haben dem scheidenden Bundespräsidenten mit großem Beifall gedankt.
Meine Damen und Herren, am 15. Mai dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Walter Scheel zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Vor den versammelten Mitgliedern der Bundesversammlung hat er die Wahl angenommen und mit dem heutigen Tage das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland angetreten.
Nach Artikel 56 unseres Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den in unserer Verfassung vorgeschriebenen Eid. Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten, zur
Eidesleistung
zu mir heranzutreten.
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Herr Bundespräsident, ich überreiche Ihnen die Urschrift des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und bitte Sie, den Eid zu sprechen.
Walter Scheel, Bundespräsident: Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß der Herr Bundespräsident Walter Scheel den vorgeschriebenen Amtseid geleistet hat.
Herr Bundespräsident, im Namen der hier versammelten Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates spreche ich Ihnen die herzlichsten Glückwünsche für Ihr hohes Amt aus.
Herr Bundespräsident, ich darf Sie nunmehr bitten, das Wort zu ergreifen.
Walter Scheel: Bundespräsident: Frau Präsident! Herr Bundesratspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Eid, den ich soeben abgelegt habe, ist mir ernste Verpflichtung. Mit Ehrfurcht vor der Aufgabe und mit Liebe zu unserem Land will ich das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland ausfüllen.
Ihr freundliches Willkommen, Frau Präsident, zugleich im Namen meiner Kollegen - ich muß wohl
meiner ehemaligen Kollegen - des Deutschen Bundestages, ermutigt mich.
Ich wäre nicht aufrichtig, wollte ich in dieser Stunde verschweigen, daß mir der Abschied aus diesem Hause schwerfällt. 21 Jahre hatte ich die Ehre, mitten unter Ihnen die Interessen meiner Wähler, die Interessen unseres Volkes zu vertreten. Hier habe ich mein politisches Rüstzeug erhalten. Der Bundespräsident der nächsten fünf Jahre ist ein Parlamentarier mit Leib und Seele.
Aber diese Jahrzehnte der Zusammenarbeit mit Ihnen haben auch viele menschliche Bindungen über die Parteigrenzen hinweg wachsen lassen. Die verehrten Kollegen mögen mir verzeihen, wenn ich hier nur einen Namen nenne. Ich meine den Mann, dessen Stellvertreter im Amt des Bundeskanzlers ich in den letzten viereinhalb Jahren gewesen bin; ich meine Willy Brandt.
Fünf Jahre Regierungszusammenarbeit mit der CDU/CSU, viereinhalb Jahre in Koalition mit der SPD und - nicht zu vergessen - fünfeinhalb Jahre Vorsitzender der FDP: das wird die parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten zu dem werden lassen, was sie sein soll: eine Bindung, die nicht Ferne, sondern Nähe zu allen schafft.
Sie, verehrter Herr Heinemann, haben uns in den vergangenen fünf Jahren immer wieder aufgefordert, ein natürliches, entspanntes Verhältnis zum Staat und zu seinen Institutionen zu finden. Noch vor wenigen Tagen, am 25. Jahrestag des Grundgesetzes, haben Sie uns bleibende Wertungen
und Mahnungen auf den Weg gegeben. Wir alle sind Ihnen dankbar dafür. Der Dank für Ihr Werk schließt die bedeutende Leistung Ihrer Gattin mit ein. Auf dem, was Sie, Herr Heinemann, und die ersten beiden Bundespräsidenten, Theodor Heuss und Heinrich Lübke, an ausgewogenem Staatsbewußtsein in diesem Lande geschaffen und gefördert haben, kann ich weiterbauen.
Nichts charakterisiert die Entwicklung der letzten Jahre augenfälliger als das Verhalten der jungen Menschen diesem Staat gegenüber. Am Ende der sechziger Jahre demonstrierten viele - und nicht nur Studenten - gegen den Staat. Heute gehen viele auf die Straße, um den 25. Jahrestag des Grundgesetzes zu feiern.
Wir alle brauchen diesen Staat. Groß sind die Leistungen der letzten 25 Jahre; noch größer sind die Probleme, die vor uns liegen. Eine neue Generation ist herangewachsen. Sie geht in ihren Erwartungen von dem aus, was heute ihre Lebenswirklichkeit ist. Sie hat nicht in die Abgründe der deutschen Geschichte geschaut, und vielen sagen ihre Höhepunkte nichts.
Wir leben in einem Gemeinwesen, das selbst in vielerlei Hinsicht ein solcher Höhepunkt ist. Sozialer Ausgleich und sozialer Friede sind Wirklichkeit. Wissenschaft und Kunst können sich mit den Leistungen anderer Völker messen. Die großen Freiheiten der Meinungsäußerung, der politischen Betätigung, der individuellen Entfaltung sind unbestritten. Die Einsicht in den Zusammenhang von Freiheit,
innerem Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand ist weit verbreitet. Millionen Deutsche kennen heute Lebenschancen, von denen ihre Eltern nur träumen konnten.
Und dennoch: Wenn wir uns bei uns und in der Welt umsehen, entdecken wir Probleme von neuen, nie gekannten Dimensionen. Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung hat uns an die Grenzen des Möglichen geführt und die Grenze des Vernünftigen an manchen Stellen bereits überschritten. Immer schwerwiegender wird die Gefährdung des Ganzen durch einseitige Expansion einzelner Zweige. Wirtschaftlicher Wohlstand kann in Raubbau umschlagen, der die Lebensgrundlage kommender Generationen gefährdet. Wir dürfen an einer solchen Entwicklung nicht mitschuldig werden.
Die weltwirtschaftliche Lage hat sich im letzten Jahr in erdbebenartigen Schockwellen nachhaltig verändert. Die abrupten Verschiebungen in den ohnedies gestörten Zahlungsbilanzen und die daraus resultierenden Gefahren für die internationale Handels- und Währungsordnung sind dabei nur die eine Seite der Medaille; die andere Seite ist die mit dieser globalen Umverteilung von Einkommen veränderte weltpolitische Konstellation. Wir sehen, daß es jetzt innerhalb der Entwicklungsländer eine neue Gruppe der plötzlich reichen Erdöl- und Rohstoffländer gibt, und wir müssen erkennen, daß immer mehr Länder - reich geworden oder arm geblieben - einen grundlegenden Wandel der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ordnung anstreben. Weltwirtschaft und Weltpolitik bleiben nicht ohne Folge für Europa und für die Bundesrepublik in Europa. Einem Land, das der Leistung seiner Bürger, aber auch der Gunst mancher Umstände, eine vergleichsweise starke und widerstandsfähige Volkswirtschaft verdankt, kommt in der neuen Lage in der Welt eine besondere Verantwortung zu.
Wenn es uns bei den wirtschaftlichen Problemen von morgen mit all ihren weltweiten Abhängigkeiten nicht gelingt, die wirtschaftspolitische Diskussion über die Anwendung der geeigneten Mittel in diesem Lande zu versachlichen, werden wir die schweren Zeiten, denen wir entgegengehen, sicherlich nicht bewältigen.
Im Zentrum der wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen in unserem Lande steht der Ruf nach Stabilität. Das ist gut und richtig so. Innerer Friede und sozialer Fortschritt können auf Dauer nur auf der Grundlage einer stabilen Währung gedeihen. Stabilität ist aber mehr als Preisstabilität. Eine Volkswirtschaft kann auch bei geringen Preissteigerungen unausgeglichen sein. Wir müssen die Ausgewogenheit aller wirtschaftlichen Daten im Auge behalten - nicht zuletzt unser Verhältnis zu unseren Partnern auf den Weltmärkten. Maßgebend für die innere und äußere Stärke eines Staates ist letztlich seine wirtschaftliche und politische Stabilität. Beide sind untrennbar miteinander verbunden.
Es gibt neue Aufgaben. Die Menschen suchen ein neues Gleichgewicht. Dabei blicken sie auf den Staat. Er soll all das garantieren, was wir heute besitzen; er soll all das von uns fernhalten, was unser
Bundespräsident Walter Scheel
Wohlbefinden beeinträchtigen könnte. Den Staat, der dies zu leisten vemöchte, gibt es nicht. Aber wir haben schon einmal, gleich nach dem Kriege, vor Bergen von Schwierigkeiten gestanden. Auch wenn die neuen Fragen in mancher Hinsicht anders sind, ist es nützlich, sich darauf zu besinnen, wie wir damals damit fertig geworden sind. Den geistigen und moralischen Kräften, die unser Volk aus dem Chaos geführt haben, dürfen wir auch heute vertrauen.
Ich denke vor allem an zwei Dinge: Als der deutsche Arbeiter, statt am schwarzen Markt zu handeln, für wertloses Geld seinen Betrieb wiederaufgebaut hat, als der deutsche Unternehmer jede verdiente Mark in seinen Betrieb steckte und sich selbst mit einem bescheidenen Lebensstandard begnügte, sind sozialer Friede und soziale Partnerschaft bei uns begründet worden. Auch von daher rührt der moralische Anspruch der Arbeitnehmer auf ein Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht. Ein Recht, wie es alle im Bundestag vertretenen Parteien in der einen oder anderen Form gesetzlich verankern wollen.
Diese aus der Erfahrung gewachsene Bereitschaft der Sozialpartner zur Zusammenarbeit ist unser wichtigstes Kapital, um die Zukunft zu meistern. Ich setze mein volles Vertrauen in die Vernunft der deutschen Arbeiter und Unternehmer und in die Bereitschaft aller Menschen unseres Landes, den neuen Problemen unserer Zeit mit derselben Solidarität zu begegnen, die uns geholfen hat, bei aller Gegensätzlichkeit Gemeinsames zu schaffen.
Es gibt aber noch eine zweite Kraft und Erfahrung. In der Bundesrepublik hat die parlamentarische Demokratie zum erstenmal in der deutschen Geschichte die Probe bestanden. Ich glaube an die Weisheit und Wirksamkeit der freiheitlichen Institutionen und demokratischen Spielregeln. Man muß sie nur beachten. Durch sie werden wir auch in Zukunft den richtigen Weg finden. Das setzt allerdings voraus, daß wir in der Ordnung unserer sozialen und wirtschaftlichen Dinge den Grundsatz beherzigen, der zusammen mit der Solidarität der Menschen uns vorwärts gebracht hat: Wir wollen den einzelnen Menschen ermutigen, seine Möglichkeiten selbst zu suchen, seine Möglichkeiten selbst zu entfalten und sie einzubringen in das Ganze des Gemeinsamen. Nur die persönliche Freiheit vermag die schöpferischen Kräfte freizusetzen, die wir in den vor uns liegenden Jahren so sehr benötigen. Es kommt auf den einzelnen an, auf seine Initiative, seine Mitwirkung, seine Entfaltung.
Unsere demokratische Ordnung ist kein totes Organisationsprinzip mechanischer Kräfte. Sie regelt einen lebendigen Organismus, in dem Spannungen und Konflikte entstehen und ausgetragen werden. Der Grad der Menschlickkeit in solchen Auseinandersetzungen wird durch die Toleranz bestimmt, mit der wir dem anderen und dem anders Denkenden begegnen.
Die Kirchen haben sich beim Aufbau unserer Gesellschaft nach dem Kriege als wirkende Kraft bewährt. Sie haben durch ihr Verhältnis zueinander das Bewußtsein für den Wert der Toleranz gestärkt.
Einer solchen Ordnung der Toleranz, des Verständnisses und des Ausgleichs haben die Väter des Grundgesetzes den staatlichen Rahmen gegeben. Nur eine solche Ordnung ermöglicht Gerechtigkeit und auch Freiheit unter den Menschen. Denn Freiheit muß auch für den Schwachen gewährleistet sein. Wer eine freiheitliche Demokratie will, muß d e n Staat wollen, in dem sie sich allein verwirklicht.
Wir verstehen uns zu Recht als ein pluralistisches Staatswesen. Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Organisationen und Gruppen bringen dem Staat gegenüber ihre Interessen zur Geltung. Das ist gut so. Darin darf sich der Pluralismus aber nicht erschöpfen. Die Würdigung der allgemeinen Zusammenhänge und die Suche nach übergeordneten Lösungen, die dem Gesamtinteresse dienen, müssen die Vertretung der Partikularinteressen bestimmen. Wer diesen Grundsatz mißachtet, richtet den freiheitlichen Staat mit seiner inneren Vielfalt zugrunde. Verzichten wir also in der Wirtschaft wie in der Politik auf demagogische Bekundungen! Gehen wir mit Solidarität und in Freiheit an die Lösung der Probleme!
Aus dem allen ergibt sich für uns die große Lehre: Miteinander, nicht gegeneinander! Und: Der freie Wille des Einzelnen ist entscheidend. Also: Solidarität und Freiheit. Ich vertraue auf die Einsicht der Verantwortlichen in diesem Lande. Was ich als Bundespräsident dazu beitragen kann, durch Gespräch und Begegnung mehr staatsbürgerliche Gemeinsamkeit wachsen zu lassen und die Entfaltung des Einzelnen zu fördern, das soll geschehen.
Es war immer die Verbindung von Bürgerfleiß und schöpferischer Leistung, die unser Land ausgezeichnet hat. Auch heute leistet die Bundesrepublik Deutschland einen stolzen Beitrag zur kulturellen Entwicklung Europas und der Welt. Die Vertreter der Wissenschaften und der Künste haben einen Anspruch auf Mitsprache. Lassen wir es nicht zu, daß manche deutsche Leistung im Ausland besser bekannt ist als bei uns!
Die Partnerschaft von Kapital und Arbeit und der Pluralismus im geistigen Leben sind zwei Säulen unserer ausgeglichenen Gesellschaft. Das Zusammenwirken von Bund und Ländern ist die dritte.
Kurzfristige Interessen sollten uns nicht den Blick verbauen für die historische Leistung des föderalistischen Gedankens in Deutschland. 1945 haben wir in den Gemeinden nicht gewartet und nicht warten können, bis eine Zentralregierung das Zeichen zum Wiederaufbau gab. Lebensmut und Lebensfähigkeit der kleineren Gebietseinheiten waren unzerstört. So haben wir uns da, wo wir standen, an die Arbeit gemacht. Das war angewandter Föderalismus, und nur als Bundesstaat konnte unser Vaterland sich neu erheben.
Aber auch heute, da die angestammte und festgewurzelte Eigenständigkeit der lokalen menschlichen Gemeinschaften immer mehr von den ausgreifenden Organisationsformen und den globalen Interessen von Wirtschaft und Technik verdrängt wird, bleiben Gemeinde, Kreise und Länder unersetzliche Entscheidungszentren und Zwischenglieder, die das
Bundespräsident Walter Scheel
Ganze erst lebendig werden lassen. Der demokratische Wille zur Selbstbehauptung in alten, gewachsenen Ordnungen darf im Bestreben nach durchaus erwünschter Rationalisierung nicht durch unnötige Übertreibungen untergraben werden.
Ich bekenne mich zum ausgewogenen Föderalismus. Er läßt sich nicht für eigensüchtige Zwecke mißbrauchen. Eigenständiges und aktives Glied zu sein für das große Ganze, das ist der tiefste Sinn des Föderalismus. Mehr denn je gilt für das Verhältnis von Bund und Ländern: Miteinander, nicht gegeneinander!
Wir Deutschen hatten es immer ein wenig schwer, zur äußeren Umwelt das rechte Verhältnis zu finden. Weltbürgertum und Verbrüderung sind immer wieder von Mißtrauen und Abkapselung abgelöst worden.
Ein ausgewogenes Verhältnis zur Umwelt wird noch schwieriger, wenn staatliche Macht und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auseinanderklaffen. Während wir handelspolitisch in weltweiten Maßstäben denken, gibt es in unserer Politik die Gefahr provinzieller Genügsamkeit. Wenn wir nur noch das für wichtig halten, was bei uns geschieht, werden wir bald für niemanden mehr wichtig sein.
Der Patriot dieses Jahrhunderts, in dem Millionen auf der Suche nach neuen Vaterländern zu Weltbürgern wurden, ist nicht der Gegenpart des Weltbürgers. Im Gegenteil, Patriotismus, der aus der Toleranz wächst, und Weltbürgertum schließen einander nicht aus - sie bedingen sich.
Es gilt, unsere Aufmerksamkeit und unser Gewissen zu schärfen für das, was in der Welt geschieht. Hunger, Krankheit und Armut sind weiter verbreitet denn je. Ich meine, das gesunde Eigeninteresse müßte uns vor dem Versuch bewahren, eine Insel von Privilegierten zu sein in einem Meer von Armut. Solidarität endet nicht an Staatsgrenzen.
Die Teilung Deutschlands hat dies alles nicht einfacher gemacht. Der Bundespräsident ist ein Staatsoberhaupt in Deutschland. Über das „Provisorium" ist viel Falsches gedacht und gesagt worden. Ein Vierteljahrhundert hat manches geklärt.
Aber eines ist nicht provisorisch: Die politischen Kräfte in diesem Lande werden auch in Zukunft nicht darauf verzichten, einen Zustand des Friedens in Europa anzustreben, in dem das deutsche Volk auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes seine Einheit wiedererlangt.
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Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir die Bundesrepublik Deutschland als Staat im vollen Sinne des Wortes. Wenn auch die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes in historischen Dimensionen gedacht werden muß, so brauchen wir dafür doch ein auf Dauer angelegtes Instrument. Dies ist unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland.
In wenigen Tagen werde ich Berlin besuchen. Ich tue dies nicht im Geiste einer Demonstration. Ich weiß, daß das Viermächte-Berlin-Abkommen eine
Lage geschaffen hat, die uns einerseits praktische Erleichterungen bringt, andererseits aber den Zustand der Teilung noch deutlicher macht. Wenn der Bundespräsident Berlin besucht, so tut er es, um jene Bindungen zu entwickeln, von denen das Abkommen spricht.
Alle diese Gedanken und Ziele würden im Winde verwehen, wenn es nicht gelänge, unsere Jugend dafür zu gewinnen. Es bleibt eine Schicksalsfrage, ob sich die Jugend die Erfahrung der Älteren zunutze macht. Wenn die Aufbauarbeit eines Vierteljahrhunderts, wenn die Politik dieses Landes einen bleibenden Sinn haben soll, dann kann es nur der sein, unseren Kindern die Irrtümer und Fehler, die wir Älteren gemacht, erlebt und erlitten haben, zu ersparen. Denn wer aus der Geschichte nicht lernen will, muß sie wiederholen.
So laßt uns denn gemeinsam diese entscheidende Aufgabe anpacken. Laßt uns immer und immer wieder fragen, ob wir bei alldem, was wir tun, an die Zukunft unserer Jugend denken. Laßt uns die Mauern des Mißverständnisses und der Vorurteile niederreißen. Wenn es uns nicht gelingt, die Verantwortung rechtzeitig auf die junge Generation zu übertragen, dann war alle Arbeit umsonst.
Aber auch die Jugend hat ihren eigenen und besonderen Beitrag zur Lösung der gemeinsamen Aufgaben zu leisten. Ich sehe diesen vor allem darin, daß die jungen Menschen ihren Sinn für die moralische Qualität des politischen Handelns zum Maßstab des Urteils machen. In der Tat besteht ja ein Staatswesen nicht um seiner selbst oder um einer abstrakten Leistungsfähigkeit willen, sondern um den Menschen ein reicheres, befriedigendes Leben zu ermöglichen. Das kann der Staat nur tun, wenn seine Träger an sich und ihr Handeln die höchsten Maßstäbe anlegen. Wohl dem Gemeinwesen, dem es gelingt, die Erfahrungen der Älteren zu verbinden mit dem Sinn der Jüngeren für Recht und Unrecht.
Die Vereidigung eines neuen Bundespräsidenten ist nur ein Pulsschlag im Leben unseres Volkes. Wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Aber wir wissen, was uns Kraft gibt: die Lehren aus unserer Geschichte, das Bild unserer Zukunft und die ungebrochene Schaffenskraft unseres Volkes.
Unser Weg führt uns zu einem Deutschland, das seinen Platz in der Welt als Teil Europas einnimmt. Ein vereintes Europa wird der Welt ein Beispiel geben: Ein Beispiel des friedlichen Zusammenwirkens der Völker, ein Beispiel der Solidarität und Gerechtigkeit, ein Beispiel der Freiheit, ja auch ein Beispiel der Macht ohne Anmaßung.
So verstehe ich auch die Worte des Amtseides, den ich vor Ihnen geleistet habe. Das Wohl des deutschen Volkes, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm abzuwenden - das ist nicht wenig! Meine Kraft ist gering, wenn nicht die Hilfe der Bürger hinzukommt.
Das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes werden uns den rechten Weg weisen. Laßt uns alle
Bundespräsident Walter Scheel
unsere Pflichten erfüllen und gegen jedermann Gerechtigkeit üben.
Damit unser Volk ohne Furcht in die Zukunft blicken kann, möge uns allen Gott helfen.
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Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. Ich erteile nunmehr dem Herrn Präsidenten des Bundesrates das Wort.
Herr Bundespräsident! Verehrter Herr Dr. Heinemann! Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mann, der das höchste Amt in diesem Staat fünf Jahre hindurch innehatte, ist wieder Bürger 'wie jeder andere in dieser Republik. Er 'hat dem Wohle des deutschen Volkes seine Kraft gewidmet, wie er geschworen hatte.
Gustav Heinemann gebührt Dank. Ihm gebührt die nachdrückliche Anerkennung aller, die zu diesem Staat und zu seiner Verfassung stehen. Diesen Dank und diese Anerkennung hier auszusprechen, ist dem Präsidenten des Bundesrates vornehmste Pflicht.
Dem neuen Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ziemt unsere Reverenz. Sie, Herr Präsident Scheel, haben ein verantwortungsvolles Amt übernommen. In dieser Stunde Ihrer Vereidigung versichern Sie alle Demokraten in diesem Lande ihrer Unterstützung und ihrer Solidarität.
Wir haben vorhin vieles über die Bedeutung und die Aufgaben des höchsten Amtes in unserem Staate gehört. Lassen Sie mich einen Aspekt nochmals hervorheben, der mir besonders wichtig erscheint.
Das Grundgesetz hat in bewußter Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung das Amt des Bundespräsidenten von der Ausübung der politischen Macht getrennt. Es hat ihm nicht jene außergewöhnlichen Vollmachten gegeben, welche den vom Volk gewählten Reichspräsidenten nahezu zwangsläufig in das Kräftespiel der politischen Gruppierungen hineingezogen haben. Der Bundespräsident steht über den Gewalten im Staat. Er kann deshalb - über parteipolitische und sonst trennende Gegensätze hinweg - als unabhängige Instanz inmitten der politischen Strömungen Brücken schlagen und ausgleichend wirken, aber auch Impulse geben und manche Dinge anstoßen. Es war ein Glück für uns alle, daß Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, diese integrierende Mittlerrolle des Präsidentenamtes - wie Ihre Vorgänger - bejaht und während Ihrer Amtszeit mit Leben 'erfüllt haben.
Die verbindende Kraft und persönliche Autorität des Staatsoberhauptes ist für das Gedeihen des Staates vor allem dort unentbehrlich, wo es um den Abbau der Polarisierung im politischen Raum geht. Unsere freiheitliche Demokratie lebt aus der Solidarität und von der Toleranz der Demokraten. Zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Demokratie haben wir erreicht, daß 97 % der Bürger in Wahlen für demokratische Parteien stimmen. Keine
der großen Gruppen unseres Volkes steht diesem Staat teilnahmslos oder gar ablehnend gegenüber. Diese positive Entwicklung darf nicht durch eine Verschärfung der politischen Auseinandersetzung aufs Spiel igesetzt werden. An dieser Forderung müssen wir uns alle messen lassen. Eine weitere gegenseitige Entfremdung der politischen Kräfte würde gemeinsame politische Aktionen noch mehr erschweren.
Es ist ein Merkmal unserer Industriegesellschaft, daß der einzelne immer stärker hinter Organisationen und Verbänden zurücktritt. Die gesellschaftlichen Gruppierungen haben in der Tat eine wichtige und gestaltende Aufgabe. Sie sind in einer immer komplizierter werdenden Welt Sprachrohr und Anwalt unzähliger Bürger, die auf sich allein gestellt ihre persönlichen Anliegen und ihre legitimen Bedürfnisse weniger deutlich in das politische Geschehen einbringen können.
Die Kehrseite dieser Entwicklung ist freilich nicht zu übersehen. Die organisierten Interessen gewinnen mehr und mehr an Einfluß und Macht. Sie sind aber von der Verfassung her nicht auf das Gemeinwohl aller Bürger verpflichtet. Die Verantwortung für die Gesamtheit trägt allein der Staat, und niemand kann ihn hieraus entlassen. Um die persönliche Freiheit zu sichern, brauchen wir daher heute mehr denn je einen kraftvollen demokratischen Staat. Er muß die verschiedenartigen Interessen und Bedürfnisse zusammenfassen und den notwendigen Ausgleich herbeiführen. Nur der Staat gibt den ordnenden Rahmen und garantiert die unerläßlichen Spielregeln für unser Zusammenleben.
Diesen Staat mit seiner freiheitlichen Rechtsordnung gilt es daher zu schützen und zu stärken, nicht allein in Parlamentsreden und Feierstunden, sondern dort, wo seine Grundordnung angegriffen wird. Hier darf es keine Halbherzigkeit, hier darf es nur die geschlossene Solidarität aller Demokraten geben. Ohne die lebendige Kraft des Staates und ohne ein entsprechendes demokratisches Staatsgefühl der Bürger gibt es keine Freiheit und keinen wirklichen Fortschritt.
Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, haben die Gesamtheit der Interessen, das Ganze des Gemeinwesens in hervorragender Weise repräsentiert. Sie haben den Kontakt und den Meinungsaustausch mit allen unseren Mitbürgern, zumal mit der Jugend, gesucht und gefunden. Es ist Ihnen in der Tat gelungen, den Staat den Bürgern näher zu bringen. Das Vertrauen, das Sie während Ihrer Präsidentschaft erworben haben, kommt uns allen zugute. Denn ein Gemeinwesen kann nur Leben entfalten und zu sich selber finden, wenn es vom Vertrauen seiner Bürger getragen wird. Erst aus dem Vertrauen erwachsen Gemeinschaftssinn und Frieden nach innen.
Ich bin überzeugt, daß auch der föderative Aufbau unseres Staates den gegenseitigen Konsens der Bürger und ihren Gemeinschaftssinn stärkt. Das bundesstaatliche System - das können wir wohl mit Fug und Recht sagen - hat sich insgesamt bewährt. Wir begreifen ja Föderalismus nicht negativ als partikulare Zersplitterung, sondern positiv als eine Ord7628
Präsident Dr. Filbinger
nung, welche die regionalen Kräfte mobilisiert, das Engagement der Bürger stärkt und das politische Handeln lebensnah gestaltet. Gerade in unserer Zeit, in der die Abhängigkeit des einzelnen im Geflecht sozialer und wirtschaftlicher Zwänge ständig zunimmt, wird der demokratische Wert einer bundesstaatlichen Verfassungsordnung spürbar. Es nimmt uns deshalb nicht wunder, daß die Anziehungskraft des föderativen Systems mehr und mehr wächst, wie uns ja der Blick auf manche unserer Nachbarstaaten zeigt. So sehe ich auch in den unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat kein Unheil, sondern einen Normalfall in einem Bundesstaat, eine Situation, der sich die demokratischen Kräfte verantwortungsbewußt stellen müssen.
Der Bundesrat hat sich in der Vergangenheit als verantwortungsvolles Gesetzgebungsorgan erwiesen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines erwähnen: Seit 1969 und bis auf den heutigen Tag ist noch kein einziges Bundesgesetz am Bundesrat gescheitert, und zwar nicht zuletzt dank der Arbeit des Vermittlungsausschusses. Ich würde es daher sehr begrüßen, wenn auch der neue Bundespräsident - gewählt aus Bund u n d Ländern - seine ausgleichende Vermittlerrolle darauf richtet, Verständnis für Arbeit und Funktion des Bundesrates zu wecken.
Meine Damen und Herren, wir können heute in Teilen unserer Gesellschaft eine große Ungeduld feststellen. Verbesserungen und Veränderungen sollen möglichst sofort und möglichst weitgehend herbeigeführt werden. Nicht selten gerät in Vergessenheit, daß nur Ausdauer und zähe, oft mühevolle Arbeit zum Erfolg führen. Viele sehen im übrigen nicht, daß die Mittel immer begrenzter werden.
So ist auch der Blick auf das, was wir in 25 Jahren Aufbauarbeit erreicht haben, durch den Nebel einer Inflation der Wünsche verdunkelt worden. Das Wort Reform ist dabei in Mißkredit geraten. Eine Rückbesinnung auf das politisch und wirtschaftlich Mögliche tut Not. Dabei dürfen wir freilich nicht stehenbleiben. Es wäre gefährlich, in eine Reformmüdigkeit zu verfallen, auf die Diskussion von Grundsätzen und Leitbildern zu verzichten. Ohne den freien Wettstreit der überzeugenden Ziele und Programme würden wir bald einen Stau vorfinden, der gewaltsam nach Entladung drängt. Wir brauchen Reformen, wir wollen Reformen.
Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß Reform nicht heißen kann: Ablehnung alles Gegebenen. Es ist das große Verdienst der modernen Naturwissenschaften, namentlich der Verhaltensforschung, uns die Augen für den Wert und die Notwendigkeit von Erfahrung und Tradition wieder geöffnet zu haben. Es geht um die Prüfung, welche Elemente
einer vorgefundenen Ordnung bewahrt und welche als überholt oder hinderlich umgeformt oder aufgegeben werden müssen. Das ist ein ungemein schwieriges Unterfangen. Viel einfacher wäre es da, in revolutionärem Rigorismus die bestehenden Strukturen allesamt einzureißen, alle Wertvorstellungen über Bord zu werfen.
Nun sind aber Freiheit und Selbstverwirklichung, Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen, Ehe und Familie für uns unverzichtbare Bestandteile eines menschenwürdigen Zusammenlebens, und das müssen sie auch bleiben. Das gilt auch für das Leistungsprinzip, das Tragen von Verantwortung sowie für die Bereitschaft zur Pflichterfüllung und zum Verzicht. Wenn wir den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Reformen stellen wollen, können wir diese Werte nicht beiseite lassen. Sie müssen vielmehr sozial eingebunden und für eine humane Gesellschaft fruchtbar gemacht werden.
Meine Damen und Herren, allein die freiheitliche Demokratie ermöglicht den notwendigen Wandel auch den Wechsel der staatlichen Macht - ohne Gewalt. Was bleiben muß, ist unsere Verfassungsordnung. Sie bildet die gemeinsame Grundlage für das politische Handeln. Sie enthält die Wertordnung, an der sich dieses Handeln auszurichten hat. Aufgabe des Bundespräsidenten wird es weiterhin sein, die Werte der Verfassung im Bewußtsein der Bürger lebendig zu halten, auf das sie fortwährend verwirklicht werden.
Ich bin überzeugt, daß auch Sie, Herr Bundespräsident Scheel, dies als eine wichtige Aufgabe des Präsidenten dieser Republik ansehen. Ihre reiche politische Erfahrung hat Sie die Verantwortung erkennen lassen, die Sie für diesen Staat tragen. Diese Erfahrung wird Ihnen sicher helfen, die vielfältigen Aufgaben Ihres neuen Amtes zu bewältigen und dabei auch das politische Klima in unserem Lande günstig zu gestalten.
In Ihrem schwierigen Amte wünschen Ihnen alle, die zu diesem Staate stehen, Kraft und Erfolg zum Wohle unserer Demokratie, zum Wohle der Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
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Ich danke dem Herrn Präsidenten des Bundesrates.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des Bundesrates geschlossen.