Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Wir sprechen uns nachher weiter, Herr Höcherl; haben Sie keine Angst!
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- Herr Höcherl, ich frage nur immer: Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?
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- Es ist mehrfach von mir gefragt worden: Wie halten Sie es damit? Aber lassen wir es. Wir werden uns nachher weiter darüber unterhalten.
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- Herr Höcherl, was ereifern Sie sich zu so früher Morgenstunde? Sie kommen doch nachher dran! Herr Höcherl, nehmen Sie entgegen und zur Kenntnist, daß der allgemeine Normalisierungsprozeß eingeleitet ist,
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und der sollte auch bei Ihnen eintreten.
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- Herr Höcherl, haben Sie kein gutes Frühstück gehabt?
Seit Monaten entspannt sich die Lage, ohne daß dabei von einem Absturz der Konjunktur die Rede sein kann. Die Auftragseingänge der jüngsten Zeit beweisen das. Dies ist auch ein Erfolg unserer ausgewogenen Stabilisierungsmaßnahmen.
Aber wir wissen auch, mit dem Umschwung in der Konjunkturentwicklung trat ebenfalls eine andere Qualität der Konjunktur in Erscheinung. Waren die Preissteigerungen ursprünglich nachfragebedingt, so wurden sie nun mehr und mehr kostenbedingt. Daraus ergeben sich einige Grundlinien für die weiteren Strategien der Konjunkturpolitik im Jahre 1971.
Als erstes kann ich für 1971 folgendes erklären. Die Bundesregierung hält an ihrem Stabilitätskurs fest. Sie wird ihn unbeirrt fortsetzen. Angesichts des immer noch vorhandenen Kostendrucks müssen wir nach wie vor versuchen, die Spielräume für Preiserhöhungen einzuengen. Ein „Durchstarten" mit Hilfe von stärkeren Maßnahmen zur Nachfrageexpansion würde nur bedeuten, daß die Kosten- und Preiserhöhungstendenzen noch zusätzliche Nahrung erhielten. Zugleich wollen wir verhindern, daß Wachstum und Investitionen zu weit zurückgehen. Deswegen hat die Bundesregierung für das Jahr
1971 eine Zielkombination der mittleren Linie formuliert: ein weiteres Wachstum des realen Sozialprodukts um 3 bis 4 % bei einer Arbeitslosenquote unter 1 % ein Abbau der Preissteigerungen beim privaten Verbrauch auf 3 % und die Beibehaltung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Auch diese Zielvorstellung unterscheidet sich noch von einer theoretisch möglichen Optimalkombination. Die im Jahreswirtsaftsbericht vorgelegte Projektion ist vielmehr die realistische Perspektive einer schrittweisen Annäherung an das Gleichgewicht.
Diese Zielvorstellung stimmt voll mit den Orientierungsdaten der Bundesregierung vom 22. Oktober 1970 überein. Um es gleich zu sagen, niemand von uns will die Preispolitik oder die Lohnpolitik zum Prügelknaben der Konjunkturpolitik machen. Aber wir befinden uns jetzt tatsächlich in einer Konjunkturphase, in welcher das preispolitische Verhalten der Unternehmer und die lohnpolitischen Entscheidungen der Tarifvertragsparteien ein ganz besonderes Gewicht haben. Die Ziele, die wir uns für 1971 gesteckt haben, können nur Wirklichkeit werden, wenn sich alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten an unseren Wegweisern und Warntafeln ohne Verzögerung orientieren.
Immer noch haben wir es mit den Spuren der vergangenen Entwicklung zu tun. Die Versuchung, den Verteilungskampf fortzuführen, ist nicht gering. Sie kommt zum Ausdruck in der Ankündigung von Preiserhöhungen, die gegen den Markt und gegen die voraussichtliche Nachfrageentwicklung gerichtet sind. Verbandsvorsitzende, die etwa im Bereich von bestimmten Konsumgütern öffentlich Preissteigerungen für das ganze Jahr von bis zu 8 % für möglich oder angebracht halten, bringen ihren Branchen keinen Nutzen. Sie rühren an die Grenzen des marktwirtschaftlichen Prozesses. Dieser richtet sich nicht nach bestimmten Preisempfehlungen, sondern nach den Regeln des Wettbewerbs. Aber vor allem widersprechen solche Empfehlungen für ganze Branchen jedem stabilitätsgerechten Verhalten. Die gleiche Versuchung äußert sich in einigen veröffentlichten Lohnforderungen, die eher in der Nähe der Zunahmen von 1970 als in der Nähe der Orientierungsdaten der Bundesregierung liegen. Dabei weiß doch jeder, der große Schluck aus der Pulle im Jahre 1970 läßt sich nicht wiederholen. Ich verweise da mit besonderer Genugtuung auf die Zielprojektionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Unternehmerverbände, die beide im Jahreswirtschaftsbericht dargestellt sind. Sie stimmen mit denen der Bundesregierung sehr weitgehend überein. Alle drei bringen doch zum Ausdruck, wir alle wollen die englische Krankheit nicht haben.
Die Bundesregierung hat sich nicht gescheut, in ihrem Jahreswirtschaftsbericht die Konsequenzen eines von den Orientierungsdaten abweichenden Verhaltens der Marktparteien in einer „ungünstigen Alternative" ({5}) deutlich zu beschreiben: ein stärkerer Preisanstieg für den privaten Verbrauch von etwa 4 % sowie weniger reales Wachsturn bis hin zur Gefährdung der Arbeitsplätze. Niemand kann jetzt sagen, er habe von solchen Gefahren nichts gewußt. In der Tat, wenn wir unsere Kräfte
im Verteilungskampf erschöpfen, bei dem in der jetzigen Situation per Saldo nichts herauskommen kann, verpassen wir die Chance des Wohlstandszuwachses für alle. Der inflationäre Infekt würde hartnäckig bleiben, und dies um so mehr, als auch 1971 der Einfluß der Außenwirtschaft auf unsere Binnenkonjunktur wirksam sein wird. Denn auch jetzt leben wir natürlich nicht in einem „isolierten Staat". Wir werden ohnehin bei unserer Politik, genauso wie im vergangenen Jahr, die Einflüsse der internationalen Konjunktur auf die Entwicklung in unserem Land sorgfältig beachten müssen.
Das Bild der Weltkonjunktur wird sich im Jahre 1971 von der Wirtschaftslage, die im Jahre 1970 größtenteils vorherrschte, deutlich abheben: hier eine Belebung des wirtschaftlichen Wachstums in den Vereinigten Staaten, in Kanada und in Großbritannien und dort voraussichtlich eine Verlangsamung der Expansion, so vor allem in der Europäischen Gemeinschaft, im übrigen Kontinentaleuropa sowie in Japan. Nach der dynamischen Entwicklung im hinter uns liegenden Jahr wird der Welthandel etwas langsamer zunehmen; er wird aber durch die zu Beginn dieses Jahres wirksam gewordene Zollsenkung im Rahmen der Kennedy-Runde einen neuen Impuls erhalten. Dieser Impuls sollte nicht durch protektionistische Maßnahmen wichtiger Welthandelsländer zunichte gemacht werden.
Die Preisentwicklung wird international immer noch recht angespannt sein. Sie könnte jedoch in der Europäischen Gemeinschaft insgesamt und auch in den meisten Partnerländern dieser Gemeinschaft ihren Höhepunkt überschritten haben. Dort wie bei uns, überall kommt es nun darauf an, die der realen Konjunktur hinterherlaufenden Kostensteigerungen zu begrenzen und die Überwälzungsmöglichkeiten zu beschneiden.
Für die deutsche Wirtschaft bedeutet die internationale Umgebung, daß sie 1971 neben Märkten, auf denen das Geschäft schwerer wird, auch Märkte mit wachsender Nachfrage finden wird. Sie wird sich ihre Wettbewerbsposition dabei um so besser erhalten können, je schneller sie für entspannte Verhältnisse im eigenen Haus sorgt.
Die staatliche Wirtschaftspolitik wird - auch im Zeichen der hoffentlich nahenden Wirtschafts- und Währungsunion - die Bemühungen um die Begrenzung des Preis- und Kostenanstiegs in Europa unterstützen. Weniger als 1970 - damals mit dem Rükkenwind der Aufwertung - können wir freilich 1971 inflatorische Einflüsse aus dem Ausland von uns fernhalten. Noch mehr als 1970 gilt daher: Stabilität beginnt zu Hause. Dabei ist der von uns in der Jahresprojektion vorgezeichnete Weg eng; er ist ein schmaler Mittelweg. Aber er ist weder ein Weg der „einkalkulierten Inflation" noch. ein Weg der „gewollten Rezession".
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Meine Damen und Herren, unser klarer Stabilitätskurs für 1971 ist nur möglich, wenn zugleich volle Handlungsfreiheit für die Konjunkturpolitik gegeben ist. Die Politik muß in der Lage sein, jederzeit dann rasch und wirksam einzugreifen, wenn
die Normalisierung der Nachfrage und der Beschäftigung das angestrebte Maß überschreiten sollte. Neben der Preisstabilität werden in der Tat auch andere Ziele, wie Verstetigung der Investitionen, hoher Beschäftigungsgrad und angemessenes Wachstum, in den Vordergrund der wirtschaftspolitischen Aufmerksamkeit rücken. Aber die Maßnahmen des vergangenen Jahres schaffen dabei für uns auch eine günstige Ausgangslage für ein elestisches Handeln in diesem Jahr. Fünf Maßnahmengruppen sind in diesem Jahr möglich und vorgezeichnet; wir haben sie in Ziffer 68 des Jahreswirtschaftsberichts wertfrei dargestellt.
Die öffentlichen Haushalte sind mit einer Zuwachsrate von mehr als 12 % konjunkturgerecht. Alle Sachverständigen sind da einer Meinung. Der politische Theaterdonner, der im letzten Sommer in dieser Angelegenheit veranstaltet wurde, ist verhallt. Der Rest ist Schweigen.
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- Der Rest ist Schweigen, wie Figura zeigt.
Die Beschlüsse der Bundesregierung vorn 17. Januar haben dabei die weiter erforderliche Klarheit geschaffen: keine Steuererhöhungen für 1971. Falls die geplanten Ausgaben nicht durch entsprechende Steuereinnahmen gedeckt werden können, wird eine vertretbare Erhöhung der Nettokreditverschuldung ins Auge gefaßt.
Mit den Kon junkturausgleichsrücklagen und mit dem Konjunkturzuschlag verfügt die Bundesregierung im Augenblick über eine stattliche wirtschaftspolitische Reservemasse in Höhe von 5,6 Milliarden DM. Diese Reserve ist auf den Sonderkonten der Bundesbank eingesperrt und würde maximal, bei Erhebung des Konjunkturzuschlages bis zum gesetzlichen Endtermin, auf über 8 Milliarden DM anwachsen. - Meine Damen und Herren, das nenne ich eine „vorbeugende Konjunkturpolitik"!
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Über Zeitpunkt, Kombination und Dosierung der tatsächlich zu ergreifenden Maßnahmen wird die Bundesregierung, entsprechend der Entwicklung und orientiert an den Zielvorstellungen, entscheiden. Sie wird hierzu auch die anderen verantwortlichen Stellen der staatlichen Wirtschaftspolitik, also besonders den Konjunkturrat und die autonomen Gruppen hören.
Durch die Entwicklung selbst und durch das allen sichtbar angereicherte konjunkturpolitische Arsenal der Bundesregierung wird die Konzertierte Aktion einen verstärkten Resonanzboden haben. Die Bundesregierung wird sich bei ihren Entscheidungen oder Vorschlägen allein von den verfügbaren Indikatoren und Daten, vom Gesamtbild der Konjunktur, leiten lassen und nicht etwa von einseitigen Aspekten oder Emotionen.
Aus heutiger Sicht ergeben sich für die Wirtschaftspolitik folgende Perspektiven.
Erstens. Die fiskalpolitischen Bremsmaßnahmen aus dem Jahre 1970 sollen, soweit sie nicht schon
programmgemäß beendet sind, zunächst weiter- und auslaufen, so wie das durch die Juli-Beschlüsse programmiert ist. Ein vorzeitiger Stopp des Konjunkturzuschlages wird unter den gegenwärtigen Bedingungen von keiner staatlichen Instanz und auch nicht vom Sachverständigenrat befürwortet oder erwogen. Auch steht eine Rückzahlung des Konjunkturzuschlages heute und hier unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zur Diskussion.
({9})
Ich habe Verständnis dafür, daß die Frage der vorzeitigen Beendigung und der vorzeitigen Rückzahlung des Konjunkturzuschlages in den letzten Wochen und Monaten auf die Opposition so appetitanregend wirkte wie eine Wurst im Schaufenster.
({10})
So hieß es im „Pinneberger Tageblatt" vom 24. Dezember, just zum Heiligen Abend 1970: „Die CDU fordert eine sofortige Beendigung des 10 %igen Konjunkturzuschlages zur Lohn- und Einkommensteuer." Aber Herr Müller-Hermann wurde am 5. Januar 1971 im „Deutschland-Union-Dienst" bedeutend staatsmännischer, als er sagte: „Es ist daher ... zu früh, den Konjunkturzuschlag sofort zu stoppen. Es ist jedoch an der Zeit, sich um den richtigen Zeitpunkt des Stopps Gedanken zu machen."
({11})
Herr Stoltenberg variierte diesen wirklich wegweisenden Beitrag von Herrn Müller-Hermann am 14. Januar 1971 folgendermaßen: „Die CDU fordert die Bundesregierung auf, jetzt zu entscheiden, wann eine vorzeitige Beendigung des Konjunkturzuschlages möglich ist,
({12})
da diese Maßnahme sich nach den Feststellungen des Sachverständigenrates als Fehlschlag erwiesen hat." - Nun, Herr Stoltenberg, was die Haltung des Sachverständigenrates zur Einführung des Konjunkturzuschlages betrifft, so brauche ich nur - und das müssen Sie auch lesen - auf das im Jahresband veröffentlichte Sondergutachten des Sachverständigenrates vom 9. Mai 1970 zu verweisen, in dem der Rat diese Maßnahme - übrigens auch mit Sozialgrenze für niedrige Einkommen - selbst vorgeschlagen hat.
({13})
- Beide Gutachten sind im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung - in der Ziffer 7 - zitiert und gegeneinander abgewogen. Da ist deutlich gesagt: Zum Zeitpunkt der Entscheidung hat dieser Sachverständigenrat aus wohlerwogenen Gründen diese Maßnahme selber vorgeschlagen - auch im Unterschied zu Ihnen.
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- Also, hören Sie mal: Entscheidungsprozeß! Ich bitte Sie! Er begann Anfang Mai, dann kamen die Juni- und Juli-Debatte, und Anfang Juli ist entschieden worden.
({15})
Aber die öffentliche Debatte über eine vorzeitige Entscheidung beim Konjunkturzuschlag, an der sich die Opposition draußen im Lande so fruchtbar und anregend beteiligt hat, hat auch ihren Vorteil gehabt. Der damit verbundene Lernprozeß hat es allen klargemacht - ich nehme an, auch den Damen und Herren der Opposition -: wie das Gesetz es befiehlt, wird die Bundesregierung den Konjunkturzuschlag zum konjunkturgerechten Zeitpunkt auf Heller und Pfennig zurückzahlen.
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- Den Endtermin sehen Sie im Gesetz; er ist dort festgehalten. Im übrigen werden wir - das werden wir Ihnen zeigen - diese Sache mit dem Konjunkturzuschlag ehrlich zu Ende bringen.
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Wir werden ihn nicht verrechnen - etwa gegen eine Einkommensteuererhöhung oder überhaupt gegen eine direkte Steuererhöhung -, sondern wir werden ihn bar ins Haus zurückschaffen. Das ist unsere Haltung.
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- Konjunkturgerecht! Sie regen sich jetzt wieder so auf, wie Sie sich im Sommer 1970 über die Steigerungsrate eines kommenden, noch gar nicht existenten Haushalts aufgeregt haben. Das ist genau dasselbe. Nun warten Sie doch einmal ab, wann wir diese Entscheidungen treffen! Sie werden sich sicherlich freuen. Es wird eine Überraschung für Sie sein.
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- Wann wir diese Entscheidungen für einen vorzeitigen Stopp oder für eine vorzeitige Rückzahlung
({20})
des Konjunkturzuschlages treffen, meine Damen und Herren, das steht ganz konkret in Ziffer 70 des Jahreswirtschaftsberichts. Dort heißt es: „Wenn der private Verbrauch spürbar weniger expandiert als bisher", werden wir diese Maßnahme zur Stützung der Nachfrage ergreifen.
Zweitens. Die verstärkten fiskalischen Dämpfungsmaßnahmen vom Juli und die Zinsentwicklung im Ausland haben es der Deutschen Bundesbank erlaubt, im zweiten Halbjahr 1970 den Diskont bisher dreimal um insgesamt 11/2 Prozentpunkte zu senken. Die Bundesbank sollte zum gegebenen Zeitpunkt diesen monetären Kurs fortsetzen. Die Entwicklung im Ausland erleichtert eine solche Politik. Binnenwirtschaftlich wird ein deutliches Reagieren der Bundesbank auf den Entspannungsprozeß in der
Wirtschaft in dreifacher Sicht von Vorteil sein: erstens, um den in der Phase der hohen Zinsen aufgestauten Konsolidierungsbedarf kurzfristiger Kredite in der Wirtschaft zu decken; zweitens, um die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft zu stabilisieren und um die mittelständische Wirtschaft zu entlasten, die sich in der Restriktionsphase weit weniger Liquidität aus dem Ausland beschaffen konnte als die Großunternehmen; drittens, um eine konjunkturgerechte Ausgabenpolitik aller Gebietskörperschaften, z. B. auf dem Gebiet des Wohnungsbaus und bei den kommunalen Investitionen, zu ermöglichen. Das wären die Vorteile einer solchen Politik.
Die Bundesbank ihrerseits hat eine zusätzliche zins- und liquiditätspolitische Auflockerung oder Erleichterung an die Erwartung geknüpft, daß die Normalisierung der Wirtschaft sich stärker auf den Bereich der Löhne und der Preise erstrecken müsse. Wir haben dafür Verständnis. Auch der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten zur Geldpolitik ausdrücklich folgendes erklärt: Es „ ... wäre eine rasche und starke Zinssenkung seitens der Bundesbank spätestens dann angezeigt, wenn die Indikatoren der konjunkturellen Entwicklung ... die Tendenz, die unserer Prognose zugrunde liegt, einige Monate lang bekräftigt haben".
Drittens. Meine Damen und Herren, in dieser Konstellation muß sich die Bundesregierung bemühen, ihre Orientierungsdaten als Kurszahlen der Stabilität im öffentlichen Bewußtsein zu verfestigen. Sie wird es damit auch der Bundesbank erleichtern, rechtzeitig ihre entsprechenden Entscheidungen zu treffen.
Alle Teilnehmer der Konzertierten Aktion am 10. Dezember letzten Jahres haben die den Orientierungsdaten zugrunde liegenden wirtschaftlichen Ziele als wünschenswert und realisierbar bezeichnet. Die Bundesregierung hat dazu erklärt, daß Fortschritte in Richtung auf eine höhere Preisstabilität erreicht werden können, wenn sich unter anderem die effektiven Lohnsteigerungen im Jahresverlauf in einer Größenordnung von durchschnittlich 7 bis 8 % bewegen. Die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen könnten dann gleichzeitig um 3 bis 4 % ansteigen. Solche Größen entsprächen der voraussichtlichen Entwicklung an den Warenmärkten und am Arbeitsmarkt. Sie würden auch dem Charakter des Jahres 1971 als Jahr des Übergangs zu einem besseren Gleichgewicht gerecht.
Viertens. Hinter den Orientierungsdaten steht eine Wirtschaftspolitik, die den Unternehmern folgendes sagt.
Die gegenwärtige Lage rechtfertigt keinen Konjunkturpessimismus. Es lohnt sich gerade 1971, alte Investitionen finanziell zu konsolidieren und neu zu investieren.
Von den Unternehmern verlangen wir weiß Gott nicht karitative Preisgeschenke, sondern realistische Preisentscheidungen. Gerade in der Normalisierungsphase der Konjunktur können Preiserhöhungen einen unerwartet raschen Rückgang der Nachfrage bewirken. Damit würde einer befriedigenden
Entwicklung der Unternehmergewinne im Jahre 1971 ebenso der Boden entzogen wie den dringend erforderlichen kostensenkenden Investitionen. Gerade die Unternehmer sollten in dieser Situation die Flagge der Marktwirtschaft zeigen. Gerade bei weichender Nachfrage erhält der Leistungswettbewerb eine besondere Bedeutung. Eine offen oder stillschweigend nach oben koordinierte Preispolitik der Unternehmer könnte ihre Situation allenfalls für kurze Frist verbessern. Schon bald würde eine solche Politik der Koordinierung der Preise nach oben niemandem nützen und allen schaden, weil sie die marktwirtschaftliche Anpassung an die neue Konjunkturlage verzögert oder erschwert.
Die Unternehmer sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß es in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt vom 28. Oktober 1969 wörtlich folgendermaßen heißt:
Auf Dauer können Stabilität und Wachstum nur in einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung erreicht werden.
Diese Verpflichtung auf die Marktwirtschaft, Herr Höcherl, gilt also nicht nur für einige dafür besonders zuständige Kabinettsmitglieder, sondern diese Verpflichtung auf die Marktwirtschaft wird von der ganzen Bundesregierung als Richtschnur ihres Handeins angesehen.
({21})
- Bei dem, was wir von Ihrer Seite hören, fühlen wir uns manchmal darin ermutigt, für die Marktwirtschaft auch nach Ihrer Seite hin einzutreten.
({22})
- Jetzt redet der griechische Chor aber arg durcheinander, Herr Stoltenberg.
Fünftens. Den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften raten wir in dieser Konjunkturphase folgendes. Eine Normalisierung und Verstetigung des privaten Verbrauchs ist am Platze. Niemand sollte aus Furcht vor anhaltenden Preissteigerungen zukünftigen Konsum ohne Not in die Gegenwart vorverlegen. Das Sparerverhalten hat sich gegen Ende des Jahres erfreulicherweise stabilisiert. Die Börsenentwicklung profitiert davon. Und als Meinungsbarometer spiegelt sich in den Börsenkursen auch gestärktes Vertrauen wider, Vertrauen darauf, daß Bundesregierung und Bundesbank die Dinge stärker im Griff haben. Das ist der Grund.
({23})
- Wir sind jetzt ein bißchen weiter. Sie sind nicht à jour.
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Auch die Tarifpolitik sollte sich 1971 realistischen Maßstäben nähern. Und alle Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, daß eine expansive Nominallohnpolitik, der eine Preissteigerung auf den Fersen ist, auf mittlere Frist nur wenig Erfolg für eine reale Veränderung der Einkommensverteilung verBundesminister Dr. Schiller
spricht. Wenn sich die Lohnentwicklung jetzt und in Zukunft den Orientierungsgrößen sichtbar annähert, ist die Chance dafür gegeben, daß sich das nun erreichte hohe Nominallohnniveau auch in entsprechenden zukünftigen Realeinkommen niederschlägt.
Auch die Arbeiter und Angestellten haben ein Eigeninteresse am vollen Funktionieren des marktwirtschaftlichen Prozesses. Denn nur in diesem System können wir jenes Maß an leistungssteigernden Investitionen erwarten, das für neue und bessere Arbeitsplätze, für eine nachhaltige Verbesserung der Individualeinkommen und für ein Mehrangebot an öffentlichen Leistungen auf allen Gebieten der Infrastruktur unerläßlich ist.
({25})
- Nun, gerade für eine aktive Infrastrukturpolitik auf der Basis eines stetigen wirtschaftlichen Wachstums ist er sehr. So ist es.
In dieser Lage der Konjunktur müssen wir Risiko und Chance sorgsam abwägen. Das akute Risiko der gegenwärtigen Konjunktursituation liegt in der Erwartung weiter steigender Preise und in der Fortdauer des Kostendrucks.
({26})
Wenn in einer Gesellschaft der Glaube an die Unvermeidbarkeit von Preissteigerungen als Folge von früheren Lohnerhöhungen in ein bestimmtes Stadium getreten ist und sich weit ausgebreitet hat, so kann es zu einem Perpetuum mobile von Preis- und Lohnsteigerungen kommen. Wir halten dagegen weitere Preis- und Kostensteigerungen nicht für unvermeidbar, und wir werden unseren Kampf gegen die Inflationsmentalität nicht aufgeben.
({27})
- Zu dem Kampf gegen die Inflationsmentalität könnten Sie von der Opposition auch ein bißchen beitragen, wenn die Lage hier so realistisch eingeschätzt wird.
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Wir müssen dem Kostendruck auf zwei Wegen entgegenwirken: durch kostensenkende Investitionen und durch eine marktgerechte Lohnpolitik. Der technische Fortschritt muß ebenso zur Wirkung kommen wie eine konsequente Wettbewerbspolitik im Innern und nach außen. Es gibt in unserer freiheitlichen Ordnung und in dieser Konjunkturphase nur eine sehr schmale Wegstrecke, auf der hohe Beschäftigung und höhere Geldwertstabilität gleichzeitig zu haben sind. Wenn wir diesen Weg verfehlen, könnte die Alternative „Flucht in den Dirigismus" einerseits oder „stetige Erosion unserer Wohlstandsgesellschaft durch inflationäre Entwicklungen" andererseits heißen. Beide Alternativen wollen wir vermeiden, und beides werden wir vermeiden.
Meine Damen und Herren, dies ist eine ernste Herausforderung an alle Kräfte in unserer Gesellschaft. Denn wir finden in der westlichen Industriewelt, in den zahlreichen Preis- und Lohnstopps auf
der einen Seite und in den eruptiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf der anderen Seite, leider manche praktische Beispiele für die beiden unguten Möglichkeiten, die ich geschildert habe. Aber wir in der Bundesrepublik befinden uns da in einer sehr guten Lage, und das ist die große Chance für unsere weitere Stabilitätspolitik. Für uns ist die Wahl für den Weg des Gleichgewichts offen. Wir können frei optieren. Unsere autonomen Gruppen, die so viele Verdienste für die Stabilität unserer Gesellschaft haben, sind intakt. Unser Industrieapparat ist hochmodern und hocheffizient. Unser marktwirtschaftliches System funktioniert. Die kollektive Vernunft, wie sie sich etwa in der Konzertierten Aktion ausdrückt, ist in unserem Lande nicht aufgegeben.
({29})
Ja, unsere Bevölkerung hat einen sehr wachen Sinn dafür.
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Sie wünscht nämlich, daß wir die Probleme durch gemeinsame Anstrengungen lösen. So sollte es allen, Staat und Gesellschaft, nicht schwerfallen, die Entscheidungen für den Weg zum Gleichgewicht, die Entscheidung für die Vernunft zu treffen.
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Präsident von Hassel: Damit sind das Jahresgutachten
und der Jahreswirtschaftsbericht eingebracht. Ich danke dem Herrn Wirtschaftsminister.
Die Ausprache wird eröffnet mit dem ersten Sprecher, Herrn Dr. Müller-Hermann, für die CDU/CSU. Für ihn ist eine Redezeit von 50 Minuten angemeldet. Herr Dr. Müller-Hermann!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich wundert es nicht, daß die Rede des Herrn Bundeswirtschaftsministers bei der Koalition offenbar nur lustlos aufgenommen wurde.
({0})
Sie enthielt leider mehr Polemik als konstruktive Gedanken.
({1})
Sie hat damit einiges über die Qualität der Regierungsarbeit ausgesagt.
Trotzdem, meine Damen und Herren, soll der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung durch uns eine differenzierte Beurteilung erfahren. Anzuerkennen ist, daß er im Gegensatz zum Bericht des Vorjahres sehr viel vorsichtiger formuliert ist. Auch zeigt er immerhin die Risiken auf, die in der gegenwärtigen und vor uns liegenden Konjunkturentwicklung enthalten sind, während Herr Schiller soeben versucht hat, ein Bild zu malen, das mit der Wirklichkeit teilweise wenig zu tun hat.
({2})
Die CDU/CSU muß daher die Realitäten wieder etwas deutlicher werden lassen.
({3})
Meine Damen und Herren, der Bericht der Regierung und die Rede von Herrn Schiller können trotz aller Überheblichkeit so möchte ich sagen -, die der Herr Bundeswirtschaftsminister hier zur Schau getragen hat,
({4})
nicht das Vertrauen vermitteln, daß die Bundesregierung in der Beurteilung der konjunkturpolitischen Landschaft und vor allem im Einsatz des Instrumentariums festen Boden unter den Füßen hätte. Der Bericht spiegelt vielmehr die ganze Unsicherheit der Bundesregierung wider. Was nützt, Herr Minister Schiller, das Kursbuch 1971, wenn sich die Züge nicht daran halten?
({5})
Der Fahrplan der Regierungspolitik erinnert im Augenblick etwas mehr an die Flugtermine der Lufthansa in der gegenwärtigen Streikperiode.
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Die vielen unterschiedlichen Stimmen aus dem Regierungslager runden das Bild nur ab. Die Bundesregierung macht den Eindruck eines Blinden, der sich ohne festen Halt über eine Schnellverkehrsstraße tastet und sich nun darauf verlassen muß, daß er von wohlwollenden Passanten an die Hand genommen wird.
({7})
Und die bange Frage drängt sich auf: Wird er die andere Straßenseite auch sicher erreichen?
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist selbstverständlich bereit, in konstruktiver Weise bei der Lösung der wirtschaftspolitischen Probleme mitzuwirken.
({8})
Sie kann allerdings die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortlichkeit entlassen; denn zum Tätigwerden ist nun einmal in erster Linie die Regierung aufgerufen. Sie ist im Besitz aller Informationen und aller Instrumente, über die die Opposition leider nicht verfügt.
Es ist Gefahr im Verzuge, meine Damen und Herren, Gefahr nicht nur wie im vergangenen Jahr für die Stabilität des Geldwerts, sondern jetzt auch für die Arbeitsplätze und das Wachstum. Ich denke durchaus nicht daran, jetzt alles schwarz in schwarz zu malen; aber da, wo die Bundesregierung - ich möchte beinahe sagen: gewohnheitsmäßig - in Schönmalerei verfällt, ist es Pflicht der Opposition, die Dinge zurechtzurücken. Denn eine nüchterne Strategie setzt zunächst einmal eine nüchterne Analyse der Situation voraus. Ich muß daher einen Blick zurück tun, damit wir wissen, wo wir stehen.
Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Tatsache, daß die Bundesregierung den Boom des vergangenen Jahres eben nicht in den Griff bekommen hat. Der Bundeswirtschaftsminister mußte in
der Überkonjunktur vor Preissteigerungen von 4% kapitulieren; zugegeben: nicht in erster Linie durch seine Schuld, eher durch seine Schwäche, als er sich in einer zerrissenen und führungslosen Regierung nicht durchzusetzen vermochte.
({9})
Die Folge davon ist der uns heute alle so bedrückende Zielkonflikt zwischen Stabilität und Vollbeschäftigung. Die Bundesregierung deutet in ihrem Jahreswirtschaftsbericht selbst an, daß sie im Bann dieses Zielkonflikts jeweils das eine gefährdet, wenn sie das andere anstrebt. Dazu hätte es nicht kommen dürfen und nicht zu kommen brauchen. Der schwerste Vorwurf, den sich diese Regierung gefallen lassen muß, ist, daß sie das Ziel der Preisstabilität sträflichst vernachlässigt, ja, daß sie die besondere Bedeutung der Preisstabilität für eine moderne, aufwärtsstrebende Industriegesellschaft und für ihr eigenes Großprojekt der inneren Reformen total verkannt hat.
({10})
Gewiß, meine Damen und Herren, kann man sein Gewissen mit internationalen Zahlenvergleichen beruhigen. Ich will hier durchaus nicht um Stellen hinter dem Komma streiten.
({11})
Aber ich möchte einmal von dieser Regierung ein klares Wort hören, daß Inflationsraten wie die, mit denen wir jetzt leben müssen, zutiefst unsozial sind, die schwächsten Glieder der Gesellschaft am härtesten treffen,
({12})
daß sie die Sachwertbesitzer begünstigen, die Staatsfinanzen in Unordnung bringen und einen ständigen volkswirtschaftlichen Auszehrungsprozeß zur Folge haben.
({13})
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt der Bundesregierung nicht so sehr vorwerfen, daß sie vor einem Jahr zu optimistische Stabilitätsprognosen vorgelegt hat, sondern daß sie sich auf ihre falschen Prognosen, offenbar zu ihrer eigenen Gewissensberuhigung, noch verlassen hat, als alle kundigen Thebaner wußten, daß sie überholt sind. Ich darf dafür einige Beispiele nennen.
Im Jahreswirtschaftsbericht 1970 wurde der Preisanstieg beim privaten Verbrauch mit 3 % und der für die Inlandsnachfrage mit rund 4 % veranschlagt. Tatsächlich sind, wie wir wissen, die Lebenshaltungskosten im Jahresdurchschnitt um 3,8 % und die Preise bei der Inlandsnachfrage um 6,6 % angestiegen. Die Bundesregierung hat sich also um 30 bzw. 50 % verschätzt, und das war bereits im Frühjahr 1970 zu erkennen. Die Anlageinvestitionen sind in laufenden Preisen 1970 um rund 22 % gegenüber 1969 gewachsen. Der reale Zuwachs der Investitionen hat jedoch nur 9,8 %, bei den Bauten nur 5,2 % betragen. Das heißt, die Inflationsrate hat 1970 bei den Anlageinvestitionen insgesamt 12 und bei den
' Bauten allein rund 16 % ausgemacht. Auch dafür
gab es im Frühjahr 1970 sehr deutliche Anzeichen.
({14})
Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat hat sehr zu Recht in seinem Gutachten darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregierung bei ihren konjunkturpolitischen Maßnahmen allzusehr an dem für sie am günstigsten erscheinenden Indikator orientiert hat, nämlich am Lebenshaltungskostenindex. Typisch dafür war der bekannte Ausspruch des Herrn Bundeskanzlers: „Wenn die Preise über 4 % steigen, dann wird es ernst." Das war die von ihm für die Regierung ausgegebene Parole. Es ist fast müßig, heute darüber zu streiten, ob er sich von der mangelnden Sachkenntnis seiner Berater oder von der Angst vor der eigenen Courage hat leiten lasesn. Auf jeden Fall war es eine Ausflucht zu einer Zeit, als der Bundeswirtschaftsminister vielleicht gerade noch rechtzeitig die notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen verlangte - und dann von seinem eigenen Bundeskanzler im Stich gelassen wurde.
({15})
Auch heute, meine Damen und Herren, darf nicht der Lebenshaltungskostenindex, zumindest nicht er allein, der Indikator für die Beurteilung der Konjunktursituation sein. Die Gefahren gehen derzeit - wie bereits in den letzten Monaten - in erster Linie vom Kostendruck aus, der sich einerseits angesichts der immer noch großen Verbrauchernachfrage in einem weiteren Preisauftrieb auswirkt und der zum andern ein Nachlassen der Erträge und damit auch der zukünftigen Ertragserwartungen zur Folge hat. Mir scheint sogar, daß sich in dieser Lagebeurteilung Regierung und Opposition weitgehend einig sind. Die Opposition befürchtet allerdings eine nachhaltigere Strangulierung der Investitionsneigung und des Wirtschaftswachstums als die Regierung. Die Opposition muß der Regierung heute wie vor Jahresfrist vorhalten, daß sie die Gefahren, die von der Kostenentwicklung ausgehen, nicht nur nicht erkannt, sondern durch ihr eigenes Verhalten erst so recht heraufbeschworen hat.
Lassen Sie mich die Verantwortung der Regierung für diese Kostenentwicklung an einigen Beispielen begründen!
Der Herr Bundesfinanzminister hat sich in der Haushaltsgebarung durchaus nicht konjunkturgerecht verhalten, wie er es jetzt mit Hilfe der Gesamtausgaben für 1970 darzustellen versucht. Dieses Gesamtergebnis einer 7%igen Ausgabensteigerung wurde rein rechnerisch dadurch erreicht, daß die Mindereinnahmen am Jahresende den Finanzminister zu einer restriktiven Haushaltspolitik zwangen. Im Dezember 1970 wurden beispielsweise 19 % weniger ausgegeben als im Dezember des Vorjahres. Konjunkturpolitisch entscheidend war aber das erste Halbjahr, wo es Steigerungsraten von 11% und mehr gegeben hat.
({16})
Das zweite. Da diese Regierung als Gefangene ihrer Versprechungen eben das in ihrer Verantwortlichkeit liegende haushalts- und steuerpolitische Instrumentarium nicht zum rechten Zeitpunkt einsetzen wollte, blieb die ganze Last der antizyklischen Konjunkturpolitik weitgehend bei der Bundesbank, und ich füge hinzu: bis zu einem Zeitpunkt, wo es zumindest aus außenwirtschaftlichen Gründen längst an der Zeit gewesen wäre, seitens der Notenbank einen entgegengesetzten Kurs zu steuern. Die verhängnisvollen Folgen dieser einseitigen Konjunktursteuerungspolitik haben einige Teile der Wirtschaft mit besonderer Härte treffen müssen.
Ich denke in erster Linie an die mittelständische Wirtschaft, die nicht in der Lage war, sich über Selbstfinanzierung oder über eine günstige Kapitalbeschaffung im Ausland liquiditätsmäßig zu versorgen. Was der Herr Bundeswirtschaftsminister jetzt mit seiner Novelle zum Kartellgesetz, die so häufig angekündigt wird, der mittelständischen Wirtschaft zu helfen vorgibt, das ist durch Substanzverzehr und übermäßige Verschuldung mit einem bisher nicht dagewesenen Zug zur Konzentration schon vielfach vorweg aufgewogen, meine Damen und Herren.
Ich denke als zweites an den Baumarkt. Die Kostensteigerungen auf dem Bausektor und hier ganz besonders die hohen Kapitalkosten haben einen Preisschub bewirkt, an dem nicht nur der private Wohnungsbau, sondern mit Sicherheit alle Bereiche der Wirtschaft noch auf lange Zeit schwer zu knabbern haben werden.
Als drittes möchte ich auf die verheerenden Folgen dieser Konjunkturpolitik für die Landwirtschaft hinweisen.
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Gerade als ein Parlamentarier, den man sicherlich nicht zu dem Kreis der Agrarpolitiker rechnen darf, möchte ich hier auch im Namen meiner Fraktion erklären, daß man nicht einzig und allein der Landwirtschaft das Ausweichen in die Preise vorenthalten kann, das man, wenn auch gewiß zähneknirschend, allen anderen Bereichen der Wirtschaft zubilligt.
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Die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise haben einen Tiefpunkt erreicht - ein Umstand übrigens, Herr Schiller, der Ihnen bei der Darstellung des Lebenshaltungskostenindex zugute gekommen ist -, während gleichzeitig die Kreditkosten, die Kosten für Löhne, Bauten, Maschinen, Reparaturen, davongelaufen sind.
Sie werden sich, meine Herren auf der Regierungsbank, noch an die Debatte des vergangenen Jahres erinnern, als wir Sie vor billigen Taschenspielertricks mit den administrativen Preisen warnten. Mittlerweile hat sich erwiesen, daß die Bundesregierung dem Kostendruck auch bei den bundeseigenen Dienstleistungsunternehmen nachgeben und ganz erhebliche Tarifanhebungen genehmigen muß, weil eben die Gesetze des Marktes stärker sind als alle administrativen Klimmzüge.
Die Bundesregierung kann bei den staatlich beeinflußten Preisen aber nun nicht mit zweierlei Maß messen, meine Damen und Herren. Die Maßnahmen zur Strukturverbesserung in der Landwirt5204
schaft allein sind eben kein Ersatz für preis- und marktwirtschaftliche Maßnahmen.
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Wir fordern die Bundesregierung mit allem Nachdruck auf, das Gesetz der sozialen Symmetrie nun auch für die Landwirtschaft gelten zu lassen.
({20})
Natürlich wissen wir, daß die Bundesregierung die
Höhe der Agrarpreise nicht allein bestimmen kann.
({21})
- Das werden Sie ja nicht bestreiten! - Um aus
dem für die Landwirtschaft ungünstigen System der Preise und Kosten herauszukommen, muß auch eine Entlastung der Landwirtschaft von der Kostenseite her versucht werden. In früheren Jahren hatte sich die 15%ige Investitionsbeihilfe vorzüglich bewährt; leider ist die Bundesregierung davon abgegangen. Die landwirtschaftlichen Investitionen sind daher fast völlig zum Erliegen gekommen.
Ich möchte eine Anregung des Herrn Bundeskanzlers aufgreifen: Bei einer Auflösung der Konjunkturausgleichsrücklage muß dem Bereich der Landwirtschaft für Investitionen Priorität eingeräumt werden.
({22})
Lassen Sie mich nun auf die Entwicklung der Lohnkosten eingehen! Ich kann das nicht tun, meine Damen und Herren, ohne grundsätzliche Anmerkungen zur Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft und zur Stellung der Tarifpartner in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu machen; denn hier scheinen wohl auch fundamentale Unterschiede zwischen den Sozialdemokraten und uns zu bestehen.
Ein elementarer Bestandteil der marktwirtschaftlichen Ordnung ist die Freiheit der Tarifpartner. Zur Freiheit gehört jedoch Verantwortung. Wer und was die Verantwortung der Tarifpartner untergräbt, höhlt auf lange Sicht auch ihre Freiheit aus. Freiheit ohne Verantwortlichkeit kann nicht funktionieren, meine Damen und Herren,
({23})
und zur Freiheit und Verantwortlichkeit der Tarifpartner gehört, daß sie auch ein angemessenes Maß an Risiko tragen.
Man mag beklagen, daß sich die Tarifpartner bei ihrem Ringen um die Verteilung des Sozialprodukts gelegentlich mehr von kurzfristigen als von mittel-und langfristigen Erwägungen leiten lassen. Die Versuchung ist eben groß, wenn die Marktgegebenheiten dazu anregen. Nur trifft dieser Vorwurf eines zu kurzfristigen Konzepts die sozialen Gruppen gewiß nicht mehr als die staatlichen Instanzen. Ja, meine Damen und Herren, diese Bundesregierung bietet ein Beispiel dafür, wie ein auf den Augenblick bzw. auf den nächsten Wahltermin abgestellter Opportunismus auch die Sozialpartner zur Disziplinlosigkeit anregen muß.
({24})
Nach unserer Auffassung hat der Staat durch seine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dafür zu sorgen, daß die Autonomie der Tarifpartner und ihre Handlungsfreiheit gesichert bleiben. Es kann und darf aber nicht Aufgabe des Staates sein, durch Garantieerklärungen den Tarifpartnern sämtliche Risiken und damit auch jede Verantwortlichkeit abzunehmen.
Wir haben noch in Erinnerung, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister gerade zu der Zeit, als es seine Aufgabe war, Orientierungsdaten vorzulegen, öffentlich Aussagen gemacht hat, die von den Tarifpartnern geradezu als eine Aufforderung zum lohnpolitischen Tanz aufgefaßt werden mußten.
({25})
Dann kam der Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, der zum falschesten aller Zeitpunkte, auf der Spitze des Booms und auf der Spitze der Überspannungen auf dem Arbeitsmarkt, Garantieerklärungen abgegeben hat, die Unternehmer und Gewerkschaften als einen Freibrief ansehen mußten, ihren Teil von Verantwortung auf den Staat und dessen künftigen Aktivitäten abzuwälzen.
({26})
Nicht anders konnte auch die Erklärung des Kollegen Lenders aufgefaßt werden, der vor diesem Hause die Garantieerklärungen bestätigte und noch hinzufügte: „Kein Unternehmer hat eine rezessive Nachfragelücke zu befürchten."
({27})
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Ausspruch stammt von Herrn Schiller: 50% der Konjunkturpolitik sind Psychologie. Dann waren auf jeden Fall all solche Einlassungen der Bundesregierung und der Koalition mit Sicherheit Freudsche Fehlleistungen.
({28})
Damit kein Zweifel aufkommt: Auch für die CDU/CSU sind neben Stabilität und Wachstum gesicherte Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung übergeordnete Leitlinien unserer Politik. Ja, Vollbeschäftigung ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf ein Höchstmaß an Effizienz angelegt ist, einfach unabdingbar, insbesondere bei einem ohnehin so begrenzten Arbeitskräftepotential, wie es uns in der Bundesrepublik zur Verfügung steht. Aber, meine Damen und Herren, gerade durch diese Garantieerklärungen des vergangenen Jahres haben Sie auf seiten der Regierung und der Koalition in Wahrheit die Sicherheit der Arbeitsplätze doch gefährdet, weil in eine Phase der stärksten konjunkturellen Überforderung die Lohnansprüche der Gewerkschaften und die Preiserwartungen der Unternehmer noch provoziert und forciert wurden.
Ich möchte, damit kein Mißverständnis entsteht, folgendes hinzufügen: Diese Feststellungen sind kein einseitiger Vorwurf an die Adresse der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit - ich glaube, wie wir übereinstimmend feststellen können - in bemerkenswerter Weise ihrer Verantwortung Rechnung getragen. Die Folge war, daß es in der Nachkriegszeit - ich darf
bescheiden hinzufügen: unter der Verantwortlichkeit von CDU/CSU-Regierungen -({29})
einen allgemeinen Anstieg der Realeinkommen gegeben hat, wie er in der Welt seinesgleichen suchen kann. Wir stehen in der Vollbeschäftigung an der Spitze aller Industrienationen; hoffentlich bleibt das so. Wir haben die geringste Streikquote aufzuweisen; auch hier sage ich: Ich hoffe, das bleibt so. Heute werden die Gewerkschaften gerade durch die Ankündigungen der Regierung unter einen, wie ich sagen möchte, gewissen Handlungszwang gesetzt: sie müssen damit rechnen, daß das Niveau der Verbraucherpreise weiter ansteigt, sie müssen nach vielen orakelähnlichen Aussagen des Bundesfinanzministers mit allgemeinen Steuererhöhungen rechnen, sie müssen sich auf alle möglichen weiteren Unsicherheitsfaktoren einstellen. Man kann natürlich verstehen, daß die Gewerkschaften diese Unsicherheiten ebenso in ihre Lohnforderungen einkalkulieren wie die Unternehmer bei ihren Preis- und Investitionsdispositionen.
Heute steht die Bundesregierung vor dem von ihr selbst provozierten Dilemma: erhält sie den Blankoscheck zur Sünde aufrecht, und die Gewerkschaften halten sich daran, dann - darüber darf es keinen Zweifel geben - kommt es unweigerlich zur Rezession, weil die Unternehmer die steigenden Lohnkosten wegen der schrumpfenden Gewinnmargen nicht mehr verkraften können. Versucht die Regierung, durch vorzeitiges Gasgeben zu verhindern, daß eine Rezession kommt, dann droht uns mit Sicherheit eine Inflation, der gegenüber das Bisherige verblaßt, auch im internationalen Vergleich, und die Rezession kommt in der nächsten Runde um so sicherer.
({30})
Will man diese Entwicklung verhindern, bleibt der Regierung nur folgende Alternative: entweder versucht sie, den Tarifpartnern beizubringen, daß ihre Vollbeschäftigungsgarantie an die Einhaltung der Lohnorientierungsdaten gebunden ist - das versucht die Regierung wohl; ich empfehle in diesem Zusammenhang, sich anzuhören, was der ÖTV-Chef Kluncker gestern vor der Öffentlichkeit gesagt hat, nämlich daß ihn Lohnleitlinien überhaupt nicht interessieren -, oder aber die Regierung sieht sich gezwungen, wenn sie mit ihren Beschwörungsformeln keinen Erfolg hat, die Tarifhoheit der Tarifpartner einzuschränken oder ganz aufzuheben. Das kann niemand im Ernst wünschen.
Auf eine kurze Formel gebracht: die Abgabe einer bedingungslosen Vollbeschäftigungsgarantie ist in einer Marktwirtschaft gleichbedeutend mit der Abgabe des wirtschaftspolitischen Instrumentariums an die großen Gruppen unserer Gesellschaft. Wirtschaftspolitik wird dann eben nicht mehr in den Bundesministerien, sondern außerhalb des Verantwortungsbereichs der Bundesregierung betrieben. Das Heft des Handelns haben dann allein die Sozialpartner in der Hand. Hier können wir nur mit der Bundesregierung hoffen, daß es diesmal noch gutgeht.
Voraussetzung dafür ist aber zweierlei: daß die Bundesregierung das weitverbreitete Gefühl der Unsicherheit überwindet, das heute alle Schichten der
Bevölkerung erfaßt hat, weil sich die Regierungspolitik als fragwürdig und unglaubwürdig erwiesen hat, und daß sie, um das zu erreichen, ihre Politik der Gefälligkeiten und der Wolkenkuckucksheime beendet und der Öffentlichkeit klarmacht, daß sich die Koalition in ihren Anfangsversprechungen reichlich übernommen hat.
Lassen Sie mich den Rückblick in drei Punkten zusammenfassen:
Erstens: Der konjunkturpolitische Instrumentenkasten blieb zu lange ungenutzt; statt der Regierung mußte die Bundesbank handeln.
Zweitens: Die Konzertierte Aktion kam nicht zur Wirkung, weil die Bundesregierung nicht den Mut hatte, mit Orientierungsdaten zur rechten Zeit ihren Part in der Konzertierten Aktion zu spielen.
({31})
Drittens: Die Regierung hat sich in ihren Prognosen geirrt, mit ihren Erwartungen und Ankündigungen den Teppich der Realität verlassen und damit auch bei anderen den Eindruck erweckt, man könne den Produktivitätsfortschritt ungestraft auf die Dauer als Maßstab außer acht lassen. Damit nämlich hat die Bundesregierung den Kampf um die Verteilung des Kuchens erst so richtig angeheizt.
Die Bilanz dieser zurückliegenden 15 Monate ist jedenfalls kein überzeugender Beweis für die Globalsteuerung, die Sie, Herr Minister Schiller, einmal der staunenden Umwelt als die große Wunderwaffe angeboten haben. Zumindest im Kampf gegen den Drachen des Booms hat sich Ihre Globalsteuerung als ein stumpfes Schwert erwiesen.
Aber mit dieser kritischen Feststellung allein kommen wir sicherlich nicht weiter. Die Erfahrung bestätigt erneut, daß das Anheizen einer Konjunktur kein großes Problem ist. Das Problem ist, wie und mit welchem Timing man eine zum Überborden tendierende Konjunktur rechtzeitig in den Griff und unter Kontrolle bekommen kann. Hier müssen wir uns sicherlich gemeinsam bemühen: Politik, Wissenschaft, Wirtschaft im weitesten Sinne des Wortes. Die extremen Pendelausschläge im Konjunkturverlauf müssen nach wie vor mit zu kostspieligen volkswirtschaftlichen und auch, wie ich hinzufügen möchte, psychologisch-politischen Verlusten erkauft werden, als daß wir sie weiterhin als unausweichlich hinnehmen dürfen.
Ein besonders typisches Beispiel hierfür ist der Baumarkt. Im vergangenen Jahr haben eine übergroße Nachfrage nach Bauleistungen und die ungezügelte, unabgestimmte und teilweise auch unbescheidene Auftragsvergabe der öffentlichen Hand im Zusammenhang mit dem Kostendruck einen enormen Preisanstieg hervorgerufen. Die Bauwirtschaft sah sich zur Ausweitung ihrer Kapazitäten um fast jeden Preis angeregt. Auch hier - das dürfen wir ruhig auch einmal der Unternehmerseite sagen - waren die Erfahrungen des letzten Konjukturzyklus allzu schnell vergessen. Denn wenige Monate später klagt
die Bauwirtschaft über eine völlig unzureichende Auslastung ihrer Kapazitäten. Sie befürchtet jetzt Preisverfall und Entlassungen. Im vergangenen Jahr konnte die Bauwirtschaft gewissermaßen einen „Grand mit Vieren" spielen, heute muß sie sich auf einen „Null mit einer blanken Neun" einlassen.
({32})
Wir sollten auch folgendes nicht vergessen. Letztlich geben diese konjunkturellen Pendelausschläge den Gegnern des marktwirtschaftlichen Systems allzu billige Vorwände, das System als Ganzes in Zweifel zu ziehen. Dies ist neben den volkswirtschaftlichen Substanzverlusten ein weiterer politischer Anlaß, daß wir auch neue Wege nicht scheuen sollten, um kontinuierliche Konjunkturverläufe zu gewährleisten.
Wir haben gemeinsam nach den Erfahrungen der Jahre 1965, 1966 und 1967 einen neuen Weg beschritten, indem wir der Regierung mit dem Stabilitätsund Wachstumsgesetz ein breites Instrumentarium bereitstellten. Keine Regierung zuvor hat dieses Instrumentarium zur Verfügung gehabt, und kein Geringerer als Herr Schiller hat es als vorbildlich in der Welt charakterisiert. Wir sind nun um eine Erfahrung reicher: das beste Instrumentarium nützt nichts, wenn derjenige, dem es zur Verfügung steht, keinen oder keinen richtigen Gebrauch von ihm macht.
({33})
Das beste Instrumentarium kann eine schwächliche und autoritätslose Regierung nicht ersetzen. Gerade das Zügeln galoppierender Konjunkturrösser bedarf einer starken Hand. Wir halten es daher für notwendig, der Regierung einige rückgratstärkende Korsettstangen mehr zu verpassen. Wir wünschen, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz weiter zu entwickeln und gewisse Regulative in das Instrumentarium einzubauen, um damit in Zukunft ein höheres Maß an Stabilität zu gewährleisten. Die Diskussion, die in der Öffentlichkeit im Gange ist, sollte unter Hinzuziehung von Vertretern der Wissenschaft und der Wirtschaft auch auf der Ebene des Parlaments so bald wie möglich stattfinden.
Beim Ausblick auf das Jahr 1971 fordert die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung in erster Linie auf, sich endlich zu einer mittelfristigen Strategie für Stabilität und Wachstum durchzuringen.
({34})
Solange sie dazu nicht in der Lage ist, werden sich alle, die auf den Konjunkturablauf einwirken, eben auch vom Augenblickseffekt allein leiten lassen, und das kann kein gutes Ende nehmen.
So haben wir auch die große Sorge - Herr Minister Schiller, Sie haben sie heute nicht auszuräumen vermocht -, daß die Bundesregierung vielleicht eine neue Chance verpaßt, die Geldwertstabilität wiederzugewinnen, ohne dabei die Vollbeschäftigung zu gefährden. Wir erwarten von der Bundesregierung bestimmt nichts Unmögliches, und niemand geht nach den Fehlern des letzten Jahres etwa so weit wie Herr Schiller 1966, als er dem deutschen Volk eine Preissteigerungsrate von 1 % als sein Ziel und auch als einen Maßstab für solide Regierungsarbeit darstellte.
({35})
Der Jahreswirtschaftsbericht 1971 weist mit einem großen Maßnahmenkatalog darauf hin, daß die Bundesregierung über genügend expansive Mittel verfügt, falls sich die Gesamtnachfrage ungünstiger als vorausgeschätzt entwickelt. Das große „Durchstarten" - Herr Minister Schiller, ich fühle mich hier an die „Wurst im Schaufenster" erinnert, von der Sie vorhin gesprochen haben
({36})
ist doch die Taube, die der Zauberkünstler Schiller auch im Jahreswirtschaftsbericht im Zylinder versteckt hält, nicht ohne alle wissen zu lassen, daß sie nur darauf wartet, fliegen gelassen zu werden.
({37})
Einigen Leuten in der Koalition dauert doch das Warten schon viel zu lange. Wie lange wird die Bundesregierung wohl diesmal gute Nerven behalten? Vor allem der Herr Bundesfinanzminister, der nahezu ein Nervenbündel geworden zu sein scheint, macht uns hier Sorgen.
({38})
Was soll beispielsweise seine Erklärung zum Konjunkturzuschlag, er wolle ihn „bis zum bitteren Ende" auskosten? Der Bundeswirtschaftsminister deutet heute und im Jahreswirtschaftsbericht doch das genaue Gegenteil an.
Sie haben uns zitiert, Herr Schiller. Wir haben auf seiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Konjunkturzuschlag im Juli 1970 ohnehin und, wie mir scheint, mit Recht als ein zu dem Zeitpunkt nicht mehr wirksames Instrument angesehen. Wir sehen ihn auch heute nicht als ein Tabu an. Sobald es die konjunkturpolitische Entwicklung erlaubt, sollte der Konjunkturzuschlag gestoppt und, wie ich hoffe, entgegen allen Versuchungen des Herrn Bundesfinanzministers auch zurückgezahlt werden. Nur gilt es - und das ist das Entscheidende - psychologisch vorzubeugen, daß ein solcher Schritt bzw. zwei solche Schritte nicht als ein Indiz dafür mißverstanden werden, daß etwa die konjunkturpolitischen Gefahren bereits gebannt seien.
Leider sagt der Jahreswirtschaftsbericht - und das gilt auch für Ihre heutigen Auslassungen, Herr Minister Schiller - nichts darüber aus, wie die Bundesregierung bei anhaltendem Kostendruck Herr eines weiteren Preisauftriebs zu werden gedenkt. Bestimmt doch nicht ohne Grund hat Bundesbankpräsident Klasen noch vor wenigen Tagen seiner „ganz großen Sorge" darüber Ausdruck gegeben, daß trotz aller Beruhigungserscheinungen die Voraussetzungen für die Preisstabilisierung von der Kostenseite her nicht gegeben sind. So groß, wie sie dargestellt wird, scheint also die Übereinstimmung zwischen Bundesregierung und Bundesbank nicht zu sein.
Wir von der Opposition sind jedenfalls sehr viel weniger optimistisch als die Regierung, was die Lohn- und Preisbewegung anbetrifft. Wahrscheinlich sind wir hier wieder sehr viel realistischer als die Regierung. Wir werden in unserer Lagebeurteilung durch eine eigene Umfrage bei Verbänden und Unternehmen, die einen Anstieg der Lebenshaltungskosten für 1971 in Höhe von 4 % erwarten, nur bestärkt. Die Regierung ist uns und auch der deutschen Öffentlichkeit eine Antwort darauf schuldig, was sie an zusätzlichen Maßnahmen bereithält, wenn sich ihre Preisprognosen erneut als zu leichtfertig und zu illusionär erweisen. Vor allem, meine Damen und Herren, die Lohnpolitik der Gewerkschaften, über die der DGB erklärtermaßen sehr eindeutige Vorstellungen hat, hängt wie ein Damoklesschwert über allen Prophezeiungen der Bundesregierung.
So nimmt es nicht wunder, meine Damen und Herren, daß sich die Bundesregierung schon heute darum bemüht, am Ende des Jahres 1971 für alles und jedes eine Entschuldigung parat zu halten. Die wirtschaftspolitischen Äußerungen aus dem Regierungslager nehmen mehr und mehr die Gestalt eines Drehbuches über „Schuld und Sühne" an. Wer erhält den Schwarzen Peter? Gesucht wird derjenige, der schuld daran ist, daß die Geldentwertungsrate 4 % beträgt, die Arbeitsplätze gefährdet sind und die Zukunftsaussichten alles andere als rosig sind.
Inzwischen weiß eigentlich jedermann, daß die Inflationsentwicklung des letzten Jahres in allererster Linie hausgemacht ist. Trotzdem konnte es sich Herr Schiller auch heute nicht verkneifen, noch einmal sein Alibi in der verspäteten Aufwertung zu suchen. Dieses Argument fand bestenfalls noch im Frühjahr des vergangenen Jahres Gehör.
({39})
Danach verlegte sich die Bundesregierung - offenbar der mangelnden Zugkräftigkeit ihres Argumentes bewußt auf den Vorwurf, die Opposition rede die Preissteigerungen herbei. Das war zu der Zeit, als Herr Minister Schiller mit Theaterdonner
ich greife das Wort auf - dramatisierend von „Waterloo" und „Leipzig" sprach.
({40})
Einen Schritt weiter ging der wirtschaftspolitische Sprecher des DGB,
({41})
der - so mußte man ihn wohl verstehen - der Opposition unterstellte, mit Hilfe der preistreibenden Unternehmer diese Regierung stürzen zu wollen. Nun, meine Damen und Herren, wir betreiben den Sturz der Bundesregierung mit Sicherheit, bestimmt aber nicht auf dem Rücken unserer Bevölkerung!
({42})
Eine neue Palette bietet Klaus Dieter Arndt, ehemaliger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, der der Bundesbank jetzt schon vorwirft - oder wieder vorwirft -, daß sie eine Politik der
Rezession betreibe, um, wie er sagt, späte Rache für 1966 und 1967 zu üben.
({43})
Das geschieht zur gleichen Zeit, zu der der Herr Bundeswirtschaftsminister so großen Wert auf die völlige Übereinstimmung mit der Politik der Bundesbank legt.
({44})
Im Jahreswirtschaftsbericht selbst schließlich baut die Bundesregierung ihr Alibi für 1971 schon ganz groß auf. Ausführlich spricht sie in einem umfangreichen Kapitel von den möglichen Fehlentwicklungen des Jahres 1971 und die Verantwortung für diese Fehlentwicklungen - und vieles spricht dafür, daß sie die tatsächlichen Entwicklungen darstellen - wird von der Bundesregierung eindeutig den Tarifpartnern zugeschoben. Nicht weniger als zwölfmal - ich habe mich hoffentlich nicht verzählt - argumentiert die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit der Vorabentschuldigung, daß ihre Prognosen natürlich von dem Wohlverhalten der Tarifpartner abhängen. Daran ist durchaus etwas Richtiges. Nur muß die Frage erlaubt sein, meine Damen und Herren, ob nicht die Bundesregierung leichtfertig selbst die Geister heraufbeschworen hat, deren sie jetzt nicht Herr zu werden droht.
({45})
Die Beschwörungsformeln werden jedenfalls ebensowenig helfen wie falsche Anklagen.
Mit der Bundesregierung stimmen wir darin überein, daß die schwächste Stelle der Konjunktur derzeit die Investitionen sind. Die Bundesregierung rechnet selbst damit, daß die industriellen Investitionen 1971 real kaum noch zunehmen werden, daß wegen des Überhangs aus 1970 im Jahresablauf sogar ein absoluter Rückgang zu erwarten ist. Unsere skeptische Vorsicht in der Beurteilung der Lohnpolitik läßt auch nicht zu, daß wir uns große oder größere Hoffnungen machen als die Bundesregierung.
Auch die Neuorientierung der Kreditpolitik, auf die die Bundesregierung offenbar ihre Hoffnungen setzt, läßt zumindest auf sich warten. Am Ergebnis der Zentralbankratsitzung vom 20. Januar wird deutlich, daß in der konjunkturpolitischen Strategie nach wie vor fundamentale Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesbank und Bundesregierung bestehen. Wir müssen aber die Bundesbank, meine Damen und Herren, energisch gegen alle Vorwürfe in Schutz nehmen, sie lasse es an gesamtwirtschaftlicher Verantwortung fehlen.
Das ganze Dilemma der Regierungspolitik dokumentiert sich in einem sehr, sehr seltsam formulierten Satz des Jahreswirtschaftsberichts in Ziffer 70. Da heißt es:
Wenn und damit die wirtschaftliche Entwicklung nunmehr etwa in den von der Jahresprojektion vorgezeichneten Bahnen verläuft, sollte dieser Kurs der Kreditpolitik fortgesetzt werden.
Das „Wenn und damit" soll den Zusammenhang deutlich machen zwischen einer Lockerung der Kreditpolitik und dem Wohlverhalten der Tarifpartner. Nur - das müssen wir doch wirklich sachlich feststellen sehen Tarifpartner, Bundesbank und Bundesregierung diesen Zusammenhang jeweils völlig unterschiedlich.
Völlig offen läßt die Bundesregierung die Antwort darauf, wie sie die von ihr selbst projektierte Steigerung der Kassenausgaben für öffentliche Investitionen zu realisieren gedenkt. Vergessen wir nicht: zwei Drittel der öffentlichen Investitionen gehen von den Gemeinden aus, und deren Steuereinnahmen bekommen die Konjunkturabschwächung als erste zu spüren.
({46})
Um so weniger verstehen wir, daß trotz der doch sehr deutlichen und mahnenden Worte speziell des Städtetages weder der Jahreswirtschaftsbericht noch der Herr Bundeswirtschaftsminister heute ein klärendes Wort sagt, wie denn nun die Gemeinden mit ihrem dringlichen Investitionsbedarf fertig bzw. wie sie vor einem prozyklischen Verhalten bewahrt werden sollen.
({47})
Auch geht die Bundesregierug in ihrem Bericht und gehen Sie, sehr verehrter Herr Schiller, heute etwas zu leichtfertig und großzügig über die Tatsache hinweg, daß einem gegenüber 1970 auch nur gleichbleibenden Einsatz von öffentlichen Mitteln ein ganz erhebliches Minus an effektiven Leistungen gegenübersteht, weil eben die Kosten eine so ungewöhnlich unerfreuliche Entwicklung genommen haben. Unsere Warnungen jedenfalls haben sich erschreckend bestätigt, daß es ohne Preisstabilität keine inneren Reformen geben wird.
({48})
Eine moderne, hochentwickelte Volkswirtschaft wie die unsrige braucht eine wirtschaftspolitische Strategie, die auf einen längeren Zeitraum abstellt und langfristige Dispositionen möglich macht. Walter Eucken, ja wohl auch einer der geistigen Väter von Herrn Schiller,
({49})
hat einmal festgestellt:
Die nervöse Unrast der Wirtschaftspolitik, die heute verwirft, was gestern galt, schafft ein großes Maß an Unsicherheit und verhindert zusammen mit den verzerrten Preisrelationen viele Investitionen. Es fehlt die Atmosphäre des Vertrauens.
({50}) Das ist der Punkt, meine Damen und Herren. ({51})
Eine dauerhafte Besserung unserer wirtschaftlichen Situation hat zur Voraussetzung, daß sich das unternehmerische Wagnis wieder lohnt, daß Vertrauen da ist in eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die Eigentum, Wettbewerb und Leistung schützt.
Eine aktive Konjunkturpolitik bleibt mit Sicherheit blasse Theorie, solange diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Und, Herr Bundeswirtschaftsminister Schiller, Ihre Belehrungen über soziale Marktwirtschaft an unsere Adresse waren mit Sicherheit völlig fehl am Platz.
({52})
Das Rumoren starker Kräfte innerhalb Ihrer Partei, die unsere marktwirtschaftliche Ordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft aus den Angeln heben, ja, in ein planwirtschaftliches, sozialistisches System umfunktionieren wollen,
({53})
das schafft doch eben den Mangel an Vertrauen, der uns heute beschwert.
({54})
Ich hoffe nur, daß Sie sich auf der Regierungsbank über diese Zusammenhänge keinen Zweifeln hingeben.
Die Opposition ist durchaus bereit, der Regierung in einer schwierigen Situation zu helfen.
({55})
Wir tragen da alle eine gemeinsame Verantwortung. Das Vertrauen jedoch, meine Damen und Herren, das diese Bundesregierung selbst verspielt hat und das ,sie tagtäglich
({56})
durch die hinter ihr stehenden Kräfte aufs Spiel setzt oder aufs Spiel setzen läßt, kann ihr die CDU/ CSU mit Sicherheit nicht wiederbeschaffen.
({57})
Kürzlich schrieb ein bekannter Wirtschaftsjournalist auf der Detektivsuche nach dem Schuldigen für die Fehler und Irrwege der Bundesregierung, es müsse doch als graue Eminenz ein Parteigänger der Opposition in den Regierungskreisen sitzen, der im Auftrag und auf Rechnung der Union handle.
({58})
Das kann nicht stimmen. Ich bin sicher, Herr Ehmke hätte ihn aufgespürt und gefeuert.
({59})
Richtiger liegt hier wohl eine bestimmt nicht regierungsfeindliche Zeitung, die „Frankfurter Rundschau", die am 20. Januar schrieb:
... wie schön wäre es, wenn sich auf höchster
Ebene doch wenigstens ein Mann finden würde,
der Schiller und Möller unter einen Hut bringt,
({60})
der die große Politik den vielen Staatsmännern überläßt, sich um so banale Dinge wie Löhne und Preise, Geld und Kredit, Investitionen und Steuern kümmert und vor allem dafür sorgt, daß die Regierung dazu aus einem Munde spricht.
({61})
Von ihm könnte man ... wirklich sagen, er hätte sich um das Kabinett Brandt/Scheel verdient gemacht.
({62})
Ich habe aber einen noch viel unverdächtigeren Zeugen, nämlich Herrn Gaus. Ich habe gar nicht geahnt, daß ich noch einmal Schleichwerbung für den „Spiegel" machen würde.
({63})
Herr Präsident, gestatten Sie mir, hier einige Passagen aus dem gestrigen „Spiegel" vorzulesen:
Welche lebensgefährlichen Äußerungen sollen seine Minister wohl noch machen, wenn nicht jetzt ... für Brandt die Notwendigkeit gekommen ist, ein Wort zur Wirtschaftslage, zum Steueraufkommen und zu den daraus resultierenden Absichten der Regierung zu sagen?
({64}) Es heißt dann weiter:
Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung ist bekannt von Presse, Funk und Fernsehen - aber durch den Kanzler nicht.
Ein letztes Zitat, Herr Bundeskanzler:
Der Regierungschef und nicht sein Wirtschaftsminister muß in dieser Woche vor dem Parlament die aufschlußgehende Rede halten.
Wir wünschen, Sie kämen dieser Aufforderung nach.
({65})
Die Bundesregierung wirkt widersprüchlich, zerrissen, ziellos. Es fehlt eben eine klare Führung; Sachverstand und Solidität können sich nicht genügend durchsetzen. Die Verantwortung dafür trägt der Bundeskanzler.
({66})
Mit der CDU/CSU haben mittlerweile viele Menschen in der Bundesrepublik das Vertrauen verloren, daß der Bundeskanzler diesen seinen Aufgaben gewachsen ist.
({67})
Präsident von Hassel: Für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Junghans das Wort. Für ihn sind 45 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede von Herrn Kollegen MüllerHermann hat mich, wie auch im Jahre 1917, wieder enttäuscht.
({0})
Herr Müller-Hermann hat den Weg der CDU/CSU-Fraktion aus dem Jahre 1970 konsequent fortgesetzt. Er hat nämlich zum Schaden der Gesamtwirtschaft - d. h. zum Schaden der Unternehmer, der Arbeitnehmer und der Selbständigen - den Versuch unternommen, wieder zu verunsichern. Herr Müller-Hermann, konkrete Vorschläge haben Sie, wie gehabt, nicht gemacht. Ich habe Ihre Rede im Wortlaut vorher gehabt und habe sie mir durchgelesen. Nur in einem einzigen Punkt haben Sie einen konkreten Vorschlag unterbreitet; über das Wie sagen Sie aber auch da nichts. Dieser Vorschlag lautet:
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wünscht, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz weiter zu entwickeln und gewisse Regulative in das Instrumentarium einzubauen, um damit in Zukunft ein höheres Maß an Stabilität zu gewährleisten.
Herr Müller-Hermann, das ist der einzige Vorschlag in Ihrer 21seitigen gedruckten Rede.
({1})
Auch heute, Herr Müller-Hermann, fehlen deshalb Ihren Ausführungen - wie gehabt im Jahre 1970 - Sachverstand und Solidität. Nach dieser Rede, die nur Polemik und kaum einen Vorschlag enthielt, ist es für uns eigentlich erfreulich, festzustellen, daß nicht Herr Müller-Hermann darüber zu entscheiden hat, ob der Herr Bundeskanzler seinen Aufgaben gewachsen ist oder nicht.
({2})
- Herr Barzel, Sie würden bestimmt keinen Beifall von dieser Seite bekommen. Darauf können Sie sich verlassen. Der Beifall, den Sie bekommen, ist aus anderen Reihen zu erwarten, nehme ich an.
Wir debattieren, wie am Anfang eines jeden Jahres, den von der Bundesregierung vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht und das Sachverständigengutachten. Ich möchte, was das Sachverständigengutachten anbetrifft, dem Sachverständigenrat zunächst einmal im Namen meiner Fraktion ausdrücklich dafür Dank sagen, daß er wieder eine gründliche Analyse der deutschen Wirtschaft gegeben hat und daß er durch anregende Gedanken zur Konjunkturpolitik, Haushaltspolitik und Einkommenspolitik immer wieder die Diskussion über diese zentralen Fragen in Gang bringt und uns Politiker zur Auseinandersetzung damit zwingt. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Meinungen dabei nicht immer übereinstimmen können. Wir halten das für keinen Nachteil und hoffen, daß die Zusammenarbeit mit der Wirtschaftswissenschaft weiter so fruchtbar sein wird, wobei ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch die Wirtschaftsforschungsinstitute einbeziehe.
Anfang des Jahres 1971 empfiehlt es sich, auf das zurückzublicken, was 1970 in unserer Wirtschaft passiert ist, und zugleich einen Ausblick auf das Jahr 1971 zu geben. Ich möchte mich im wesentlichen auf den Rückblick beschränken; mein Kollege Professor Schachtschabel wird sich mit dem zweiten Teil stärker beschäftigen.
Daß das Jahr 1970 auch in der Wirtschaft ein bewegtes Jahr war, haben wir an den Ausführungen von Herrn Bundeswirtschaftsministers Schiller
gehört. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben sich ja in diesem Jahr - ({3})
Präsident von Hassel: Ich bitte, etwas mehr Ruhe zu bewahren.
Manche Abgeordnete von der Opposition können offenbar nicht mehr sitzen; die müssen schon stehen.
Präsident von Hassel: Darf ich um Ruhe bitten.
Wissen Sie, in der Opposition muß man nämlich Sitzkraft aufbringen, um diese bei der Abstimmung auch deutlich zu machen. Offenbar fehlt Ihnen diese Sitzkraft in diesem Hohen Hause.
Sie haben uns in diesem Jahr eine Konjunkturdebatte nach der anderen beschert. Sie sind - Herr Müller-Hermann hat das heute wieder bewiesen - mit den Kassandra-Rufen über das Schicksal der deutschen Wirtschaft - ich will mich sehr vorsichtig ausdrücken - nicht gerade sehr sparsam umgegangen. Ich muß daher um Verständnis bitten, wenn wir nicht nur Bilanz daraus ziehen, was das Jahr 1970 für die deutsche Wirtschaft, für den deutschen Bürger und für den deutschen Arbeitnehmer gebracht hat, sondern wenn wir, nachdem das Jahr 1970 zu Ende gegangen ist, auch danach fragen - Herr Müller-Hermann hat dazu leider keinen Beitrag geleistet -, welchen Beitrag die Opposition im vergangenen Jahre geleistet hat, wie es mit ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen ausgesehen hat und vor allen Dingen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wie es mit den Weissagungen Ihrer Wirtschaftspropheten ausgesehen hat.
({0})
- Es werden noch acht Redner sprechen, Herr Stoltenberg. Sehen Sie sich vor: Wir werden auf jeden Punkt, den Sie ansprechen, antworten.
Jetzt, nachdem die Bundesregierung ihre nüchternen Zahlen vorgelegt hat,
({1})
können wir sagen - darin stimmen wir mit dem Bundeswirtschaftsminister überein -, daß das Jahr 1970 insgesamt ein gutes und erfolgreiches Jahr war.
({2})
Das Sozialprodukt hat 1970 um 12,5 % zugenommen, das Wachstum betrug real - unter Ausschaltung der Preisentwicklung - 4,7 %.
({3})
Diese Zahlen können sich im Vergleich zu anderen Ländern sehen lassen. Auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik - der Herr Bundeswirtschaftsminister hat das gesagt war außergewöhnlich: Die Arbeitslosenquote ist auf
0,7 % zurückgegangen, und das bei einer Zuwanderung von 450 000 Gastarbeitern.
Auch die Einkommensverteilung - das muß einmal festgehalten werden - hat im letzten Jahr eine Entwicklung genommen, die unter dem Gesichtspunkt des sozialen Ausgleichs einen wirklichen Fortschritt bringt.
({4})
Die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit sind um 17 1/2 % gewachsen, die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen dagegen nur um 7 1/2 %. Als Folge davon, meine Damen und Herren, hat sich erstmals die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am Sozialprodukt, von 65 1/2 auf 67 1/2 % erhöht. Ich möchte daran erinnern, daß die Entwicklung 1967 und 1968 noch umgekehrt verlaufen war. Damals hatten die Unternehmereinkommen beträchtlich stärker zugenommen als die Einkommen der Arbeitnehmer. Wenn wir die Zuwachsraten in der Lohn- und Gehaltsentwicklung ansehen, können wir feststellen, daß damit im letzten Jahr
- nicht unter einer CDU/CSU-Regierung, Herr Müller-Hermann - das höchste Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt wurde. Das gilt sowohl brutto wie auch real; man braucht nur einmal den realen Kaufkraftzuwachs von 8% zu betrachten.
({5})
Ich kann deshalb hier ganz deutlich sagen: das Jahr 1970 war auch ein Jahr der Arbeitnehmer.
Nicht zufrieden - das sagen wir ganz offen, und da schließen wir uns der Meinung des Bundeswirtschaftsministers voll an - sind wir mit der Preisentwicklung des letzten Jahres.
({6})
Die Verbraucherpreise sind im Durchschnitt des Jahres 1970 um 3,8% gestiegen. Das ist gewiß eine hohe Zahl. Man kann aber diese Zahl auch nur dann richtig beurteilen, wenn man zum Vergleich heranzieht.
- wir sind die zweitgrößte Handelsnation -, was zur selben Zeit im Ausland vor sich gegangen ist.
({7})
- Sie können das im Sachverständigengutachten einmal nachlesen. Wenn wir uns die Preistabellen der westlichen Länder ansehen, stellen wir fest, daß nur Kanada und die Schweiz im Jahre 1970 geringere Preissteigerungen gehabt haben als wir. Ich möchte den Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich dazu beglückwünschen,
({8})
daß es ihm gelungen ist, die Bundesrepublik vom internationalen Preisgeleitzug abzukoppeln.
({9})
Meine Damen und Herren, man kann diese Leistung nur dann richtig würdigen, wenn man diese Zahlen mit denen des Jahres 1966 vergleicht, mit der Zeit also, als die CDU/CSU die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik trug. Damals war es nämlich genau umgekehrt: Mit einer Preissteigerungsrate von 3,7 % lagen wir an der Spitze dieses Preisgeleitzuges, waren wir die Lokomotive, während die Preissteigerungsrate der anderen EWG-Länder um 1,1 % darunter lag. Im Jahr 1970 sind also die Verhältnisse umgekehrt wie im Jahre 1966. Auch das gehört zu dieser Feststellung.
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg? Dr. Stoltenberg ({10}) : Herr Kollege Junghans, wollen Sie Ihren Glückwunsch auch auf die von Ihnen nicht genannten Zahlen erweitern, nämlich die Tatsache, daß 1970 die industriellen Erzeugerpreise um fast 7 % gestiegen sind, während sie 1966 um 1,8 % stiegen, und daß wir 1970 bei den für die inneren Reformen entscheidenden Baukosten auf 17% Steigerung gekommen sind im Gegensatz zu Frankreich, das bei 5,6 % lag?
({11})
Herr Kollege Stoltenberg, Sie wissen ganz genau, daß bei Preissteigerungen, wie auch der Sachverständigenrat eindeutig gesagt hat, der Lebenshaltungsindex entscheidend ist
({0})
und nicht der Deflator. Sie wollen immer wieder mit dem sogenannten Deflator Panik in die deutsche Bevölkerung hineinbringen - das ist ganz eindeutig -, indem Sie hier übertreiben.
({1})
- Nein, lassen Sie mich erst einmal zu Ende reden.
({2})
- Wir haben in vielen Wohnungsbaudebatten hier dargelegt, wo die Misere auf dem Baumarkt liegt. Sie wissen ganz genau, daß die strukturellen Schwierigkeiten der Bauwirtschaft, der Bauindustrie, einen. entscheidenden Anteil an den Preissteigerungen im Jahre 1970 gehabt haben.
({3})
- Sie können ja den ganzen Blumenkorb hier einmal ausbreiten. Der eine redet hier von Baupreisen, der nächste von Zinssteigerungen. Lassen Sie mich doch endlich einmal ausreden. Sie können doch nicht dauernd die Bevölkerung verunsichern wollen durch hingeworfene Zwischenrufe, nach denen der Redner schnappen soll.
({4})
- Na gut! Wir werden noch darauf zurückkommen, wer hier der Prophet im Lande ist.
Ich möchte noch einmal betonen, daß eine Preisentwicklung dieser Art für uns nicht akzeptabel ist. Wir sind aber auch realistisch genug, um zu sehen, wie schwierig es ist, sich von einer weltweiten Preisbewegung zu distanzieren. Wir begrüßen es daher besonders, daß die Bundesregierung sich bei der Wiedererringung der Preisstabilität ein maßvolles Ziel gesetzt hat und im Jahr 1971 eine Preissteigerungsrate von 3 % ansteuert. Dieses ist eine mittlere Linie, ist eine realistische und nüchterne Politik, die die Bundesregierung hier anvisiert. Wir sind mit der Bundesregierung der Auffassung, daß man nur auf eine langsame Preisberuhigung hinwirken darf, wenn man Schaden für die Wirtschaft und insbesondere eine Gafahr für die Arbeitsplätze vermeiden will. Das Kaltwasserbad, mit dem die Opposition die deutsche Wirtschaft im letzten Jahr von den Preissteigerungen herunterbringen wollte, hätte die Gefahr eines Kreislaufkollapses mit sich gebracht. Wenn wir also auf das Jahr 1970 zurückblicken, dann können wir feststellen, daß im Endergebnis etwas herausgekommen ist, das sich sehen lassen kann.
Denjenigen, die die Bundesregierung in massiven Weise kritisieren und dabei nicht gerade zimperlich sind, wenn es darum geht, unsere Bevölkerung zu verunsichern, denen möchte ich empfehlen, sich einmal zum Vergleich die wirtschaftliche Lage in den USA und in England anzusehen.
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Ich möchte hier nur folgendes sagen. Wenn in den Vereinigten Staaten - ohne daß wir uns in unangemessener Weise an die Brust klopfen - z. B. 1970 ein solches Ergebnis wie bei uns erreicht worden wäre, würde man dies als einen Triumph der Stabilitätspolitik feiern, und das - da bin ich sicher - sogar unter dem Beifall der dortigen Opposition.
Meine Damen und Herren, uns ist dieses Ergebnis auch nicht in den Schoß gefallen. Dazu war es erforderlich, daß Bundesregierung und Koalitionsfraktionen gemeinsam ein Stabilitätsprogramm verwirklicht haben, das die Grundlage für diese Entwicklung gelegt hat. Ich hätte hier gern gesagt: auch gemeinsam mit der Opposition. Aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie wissen ja selbst, daß Sie in dieser Hinsicht im letzten Jahr gepaßt haben. Um beim Skat zu bleiben, den Herr Müller-Hermann hier herangezogen hat: die CDU/ CSU hatte einen Null-ouvert auf der Hand und hat ihn nicht einmal gespielt. Sie hat sich leider darauf beschränkt, während des ganzen Jahres durch Schwarzmalerei unsere Bevölkerung zu verunsichern. Aus parteipolitischen Motiven - wir hatten ja Landtagswahlen, wie auch jetzt wieder; daher auch die Rede von Herrn Müller-Hermann - haben Sie ohne Rücksicht auf das gesamtwirtschaftliche Interesse ein psychologisches Klima erzeugt, das - und das werfe ich Ihnen vor - letzten Endes die Preise mit hochgetrieben hat.
Das Stabilitätsprogramm, das darf ich hier noch einmal wiederholen - und es ist manchmal langweilig, das zu hören -, begann mit der Aufwertung, die gleich nach dem Regierungswechsel be5212
schlossen wurde. Leider setzte dann die CDU/CSU-Fraktion ihre Antistabilitätspolitik fort und lehnte die Aufwertung ab. Ich muß immer wieder daran erinnern, daß Herr Müller-Hermann hier in der Debatte zur Aufwertung erklärt hat, daß man, wie er damals formulierte, mit dem Klotz am Bein einer überzogenen Aufwertungsrate auf die Dauer nicht leben könne. Damals wurde, wie heute wiederum, der Untergang der deutschen Wirtschaft prophezeit. Sie wollten wahrscheinlich Recht haben und Ihr Verhalten im Wahljahr 1969 nachträglich rechtfertigen. Auch wenn Sie sagen, das ist eine alte Kamelle - Sie haben es vorhin gesagt -: Der Sachverständigenrat hat auch in diesem Gutachten festgestellt, daß durch den Nichtaufwertungsbeschluß im Mai 1969 die Chance vertan wurde, der Preiswelle noch rechtzeitig entgegenzutreten. Später, im Laufe des Jahres 1970, als deutlich wurde, daß der Untergang nicht stattfindet, haben Sie umgeschaltet und behauptet, die Aufwertung habe überhaupt keine Wirkung gehabt. Nun, heute wissen wir, daß es nur der Aufwertung zu verdanken ist, wenn sich in der Bundesrepublik die Preise im Vergleich zum Ausland relativ maßvoll entwickelt haben.
({6})
Aber nun zurück zum Stabilitätsprogramm dieser Koalition. Im Laufe des Jahres 1970 hat die Koalition dann außerdem haushaltspolitische Maßnahmen zur Konjunktursteuerung durchgeführt. Auf der Ausgabenseite des Haushalts wurden zunächst 2,7 Milliarden DM gesperrt, von denen später im Verlauf des Jahres rund 2 Milliarden DM in echte Kürzungen umgewandelt wurden. Ferner wurde im Laufe des Jahres eine Konjunkturausgleichsrücklage durch Bund und Länder in Höhe von 2,6 Milliarden DM gebildet. Das war konkrete Stabilitätspolitik, die insbesondere bei den Konjunktursperren von der Koalition auch konkrete Entscheidungen darüber verlangte, an welchen Stellen im Haushalt, an welchen Ausgabepositionen die Kürzungen vorgenommen werden sollten. Da waren Entscheidungen zu treffen, die uns nicht leichtgefallen sind; ich sage das mit aller Deutlichkeit. Denn uns war klar, daß diese Kürzungen zum großen Teil auf Kosten der dringend notwendigen öffentlichen Investitionen gingen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat dann in regelmäßigem Abstand von uns gefordert, zusätzliche Kürzungen vorzunehmen bzw. diese Kürzungen zu erhöhen.
({7})
- Lassen Sie mich erst mal; Sie können vielleicht nachher fragen, wenn ich Ihnen das ganze vorgehalten habe. - Aber auf unsere dringliche Frage, uns konkret zu sagen, an welchen Ausgabepositionen die Kürzungen vorgenommen werden sollten, sind Sie uns bis heute die Antwort schuldig geblieben. Hier wäre von Ihrer Seite eine klare Entscheidung notwendig gewesen, wenn Sie hätten glaubwürdig sein wollen wie seinerzeit die SPD-Fraktion im Wahljahr 1965, als sie hier im Paket ihre Anträge zurückzog. Auch von der Opposition muß man verlangen können, daß sie Prioritäten setzt.
Herr Abgeordneter Junghans, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Nein.
({0})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben statt dessen in Ihrer Fraktion eine seltsame Arbeitsteilung kultiviert. Während sich Ihre Redner in den konjunkturpolitischen Debatten hier den Mantel des Stabilitätspolitikers umhingen und globale Haushaltskürzungen verlangten, haben andere Redner an gleicher Stelle, manchmal sogar am gleichen Tag, Anträge und Alternativvorschläge zu Gesetzentwürfen der Koalition und der Bundesregierung vorgebracht,
({1})
die auf Mehrausgaben von mehreren Milliarden DM hinausliefen,
({2})
Meine Damen und Herren, ich stelle ganz nüchtern fest: Ihnen ging es bei diesen Anträgen nicht um Stabilität, Ihnen ging es nur darum, verschiedenen Gruppen in diesem Land zu zeigen, daß die CDU/ CSU etwas besser könne als die Bundesregierung.
({3})
Offenbar sind Finanzierungsfragen für große Teile dieser Opposition Nebensächlichkeiten, mit denen sich ein Politiker nicht zu befassen habe.
({4})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang, wenn Sie es nicht glauben, an Ihre Anträge zur Beamtenbesoldung, zur Kriegsopferversorgung, zu den Bundeswehrausgaben, zur Mittelstandsförderung, zum Kindergeld. Sie wollten, wie man das manchmal im Jargon bei uns in Hannover nannte, hier den billigen Jakob machen.
({5})
Ich erinnere aber auch daran, wie die Opposition während des ganzen letzten Jahres den Bundesfinanzminister und seine Haushaltspolitik attackiert hat.
Herr Kollege Junghans, ich frage Sie erneut, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ott zulassen.
Nein.
({0})
Herr Kollege Ott, jeder Kollege hat das Recht, auf Zwischenfragen nicht zu antworten.
({0})
Ich erinnere nur daran, daß sich Herr Dr. Stoltenberg dabei besonders hervorgetan hat. Ich möchte hier einige Beispiele nennen.
Am 10. Juli sagte Herr Stoltenberg in diesem Hohen Hause:
Damit kann nach Inkrafttreten des Haushaltsgesetzes 1970 in den kommenden Monaten ein neuer Nachfragestoß an Verpflichtungsermächtigungen und Zahlungen ausgelöst werden, der die Wirkung der vorgesehenen steuerlichen Belastungen zunichte macht.
In der gleichen Rede warf Herr Dr. Stoltenberg der Bundesregierung fehlende Integration der Haushaltspolitik in das Stabilitätskonzept vor. Am 15. September wird Herr Dr. Stoltenberg in seinen Anschuldigungen noch massiver und sagt:
Insbesondere ist es zweifelhaft geworden, ob die Regierung überhaupt noch gewillt ist, die Vorschriften des Stabilitätsgesetzes zu beachten und zur Grundlage ihrer fiskal- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu machen.
({0})
Ein letztes Zitat, vom 7. Oktober, Herr Stoltenberg:
Die negativen Wirkungen einer konjunkturwidrigen staatlichen Ausgabenpolitik tragen den Boom in seiner Spätphase offensichtlich mit einem neuen inflatorischen Treibsatz noch weiter, einem Treibsatz, dessen Kraft und Dauer heute niemand exakt vorausschätzen kann.
({1})
Hier sollte offensichtlich der Herr Bundesfinanzminister zum Buh-Mann gestempelt werden.
Heute sind wir in der Lage, Bilanz zu ziehen. Wir stellen fest, während das Bruttosozialprodukt im Jahre 1970 um 12,5 % gestiegen ist, haben die Ausgaben des Bundes nur um 7 % zugenommen. Damit steht also fest: Die Haushaltspolitik des Bundesfinanzministers im Jahre 1970, Herr Dr. Stoltenberg, war erfolgreich. Sie war konjunkturgerecht und hat damit einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität geleistet. Ich möchte jedenfalls auch namens meiner Fraktion dem Herrn Bundesfinanzminister für diese Tatsache ausdrücklich die Anerkennung aussprechen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Äußerungen von Herrn Dr. Stoltenberg und auch heute die von Herrn Müller-Hermann zum Thema Haushaltspolitik im letzten Jahr sind nur ein Beispiel dafür, daß es
auch in unserem Lande wahre und falsche Propheten gibt wie überall. Herr Dr. Stoltenberg gehört doch offensichtlich nicht zu den wahren Propheten.
({3})
Wir haben im Juli vorigen Jahres an dieser Stelle weitere Beschlüsse zur Konjunktursteuerung gefaßt. Das war der 10%ige Konjunkturzuschlag, der nach dem Gesetz bis zum 30. Juni dieses Jahres erhoben werden kann und der spätestens bis zum 31. März 1973 wieder zurückgezahlt werden muß. Wir begrüßen aber ausdrücklich die Erklärung der Bundesregierung, daß sie, falls die konjunkturelle Situation es ermöglicht oder gar erforderlich macht, die Erhebung des Konjunkturzuschlages schon früher einstellen und auch die Rückzahlung früher vornehmen wird.
Herr Müller-Hermann, wie kann man einen Konjunkturzuschlag zunächst als wirkungslos bezeichnen und im nächsten Satz sagen, man müsse aber bei der Rückzahlung und Einstellung an die richtige konjunkturpolitische Situation denken, wie Sie das getan haben?
({4})
Im gleichen Atemzuge das Gegenteil zu sagen, ist, glaube ich, Ihnen hier vorbehalten.
Eine weitere Maßnahme, die im vorigen Jahr hier beschlossen wurde, war die Aussetzung der Möglichkeit der degressiven Abschreibung bis zum 31. Januar dieses Jahres.
({5})
Auch bei diesen beiden Beschlüssen hat die Opposition nicht gerade ihr Verantwortungsbewußtsein gezeigt. Es war ja auch gerade 14 Tage nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
({6})
Sie zogen über die Lande und malten die Konjunktur schwarz in schwarz. Als es dann aber hier in Bonn zum Schwur kam
({7})
und konkrete Maßnahmen zur Abstimmung standen, haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, das getan, was am einfachsten ist, nämlich nichts. Sie haben weder ja noch nein gesagt, Sie haben sich schlicht und einfach der Stimme enthalten. Das ist das Bequemste.
({8})
- Herr Stoltenberg, man kann nicht von der Wirkungslosigkeit sprechen und auf der anderen Seite im gleichen Atemzuge sagen: Ihr müßt das aber konjunkturgerecht einsetzen, wenn diese Maßnahme aufgehoben wird.
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Das ist unmöglich. Den Widerspruch müssen wir erst einmal erklären.
({10})
Ich fasse zusammen. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen haben im letzten Jahr ein konjunkturelles Dämpfungsprogramm verwirklicht, dem ein geschlossenes Konzept zugrunde liegt. Wir gingen davon aus, daß die Übersteigerungstendenzen durch eine Übernachfrage ausgelöst werden. Wir haben daher spezielle Maßnahmen zur Dämpfung für jede dieser vier Nachfragekomponenten der Gesamtwirtschaft getroffen:
1. Zur Eindämmung der Auslandsnachfrage wurde die Aufwertung der Deutschen Mark vollzogen.
2. Zur Eindämmung der Staatsnachfrage wurden Konjunktursperren bzw. Kürzungen und die Konjunkturausgleichsrücklagen beschlossen.
3. Zur Dämpfung der Investitionsnachfrage der Unternehmen wurde die degressive Abschreibung ausgesetzt.
4. Zur Dämpfung der privaten Verbrauchernachfrage wurde der Konjunkturzuschlag erhoben.
Herr Müller-Hermann, wenn Sie diese vier Maßnahmen betrachten, müssen Sie doch zugeben, daß Ihr Märchen, die Bundesbank habe die Last der Konjunkturpolitik allein getragen einfach nicht stimmt; es wird auch durch Wiederholung nicht wahrer. Es wurden also vier konkrete Maßnahmen beschlossen; ich habe sie aufgezählt.
({11})
Dieses Programm ist überzeugend. Dabei sind uns - das gebe ich offen zu - die Entscheidungen nicht immer leichtgefallen. Ich denke hier besonders an den Konjunkturzuschlag; um den wurde gerungen. Aber eines muß festgestellt werden: Immer wenn die Koalition in der Wirtschaftspolitik gefordert war, hat sie auch die notwendigen Entscheidungen getroffen. Das können wir von der CDU/CSU leider nicht sagen. Sie hat weder, wie heute wiederum in den Ausführungen von Herrn Müller-Hermann deutlich wurde, echte Alternativvorschläge gebracht, noch war sie bereit mitzuziehen. Es ist der Opposition nicht gelungen, klarzumachen, wo sie wirtschaftspolitisch steht. Ebenso ist der Opposition nicht gelungen, klarzumachen, was sie in der jeweiligen konjunkturpolitischen Situation konkret wollte, an welchen Haushaltspositionen sie Kürzungen vornehmen wollte, an welchen Investitionen sie sparen wollte.
Die deutsche Wirtschaft und die deutschen Arbeitnehmer sollten erkennen, daß die Bundestagswahl 1969 sie davor bewahrt hat, daß falsche Propheten an der deutschen Wirtschaft herumexperimentieren können.
({12})
In der Beurteilung der gegenwärtigen Wirtschaftslage stimmen wir mit der Bundesregierung überein.
Die konjunkturelle Entspannung, die sich jetzt in den meisten Branchen zunehmend bemerkbar macht, ist begrüßenswert. Die Normalisierung der Auftragseingänge, der Arbeitszeiten und der Gewinne ist ein Zeichen dafür, daß sich die Wirtschaft auf dem Weg zum Gleichgewicht befindet.
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch - und da stimmen wir mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister überein -, daß jeder konjunkturelle Umschwung die Tendenz hat, sich selbst zu verstärken und damit zu einem ungewollten Abschwung zu werden. Die Kurzarbeit in einigen Unternehmen und die anhaltend sinkenden Auftragseingänge sind ein Warnsignal, das wir mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten.
Ich möchte deshalb hier erklären, daß wir nicht auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft vertrauen. Wohin der Fetisch der sogenannten Selbstheilungskräfte führt, haben wir 1966 gesehen: 700 000 Arbeitslose und 350 000 Kurzarbeiter. Eine solche Wirtschaftspolitik, die mit der Angst um den Arbeitsplatz hausieren geht, können wir Sozialdemokraten nicht verantworten.
({13})
Wir sehen die Aufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik darin, durch Beeinflussung der Daten der Wirtschaft unmittelbar den Übergang in das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu ermöglichen. Eine Gefahr für die Arbeitsplätze darf und wird dabei nicht entstehen. Das hat der Herr Bundeskanzler - und wir danken ihm dafür, Herr Müller-Hermann - wiederholt versichert, und da kann er sich auch der Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sicher sein.
({14})
Mit Genugtuung haben wir auch zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung für den Fall, daß die Abschwächung ein unerwünschtes Ausmaß annehmen könnte, ein Konjunkturprogramm bereitstehen hat.
Als wichtigstes stabilisierendes Element sehen wir dabei den Bundeshaushalt 1971 mit seinem Haushaltsvolumen von 100 Milliarden DM an. Dieses Haushaltsvolumen ist - daran wird ja hoffentlich die Opposition nicht mehr zweifeln - konjunkturgerecht. Die Bundesregierung hat also, als sie im Juli diesen Haushaltsentwurf vorlegte, mit ihrer Einschätzung der konjunkturellen Lage richtiger gelegen als die CDU/CSU-Fraktion. Ich erinnere Sie, Herr Dr. Stoltenberg, daran, daß Sie noch am 7. Oktober in diesem Hohen Hause einen Angriff auf den Herrn Bundesfinanzminister geführt haben mit der Behauptung, der Entwurf des Bundesetats 1971 entspreche nicht den Erfordernissen des Stabilitätsgesetzes. Ich stelle fest, daß Sie sich auch in diesem Fall als falscher Prophet erwiesen haben und daß der Herr Bundesfinanzminister nachträglich voll gerechtfertigt wurde. Dabei hätte es sich ja eigentlich schon im Oktober bis zur Opposition herumsprechen müssen, daß die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mitten in einem Konjunkturumschwung war. Oder haben Sie vielleicht den Herrn
Bundesfinanzminister weniger aus sachlichen als
vielmehr aus taktischen Erwägungen angegriffen?
({15})
Auch in diesem Fall hat sich wieder gezeigt, daß kurzfristige Polemik um ihrer selbst willen meistens auf den Urheber zurückschlägt.
Sie haben im Juli 1970 hier verlangt - Sie, Herr Stoltenberg, oder wer es aus der großen Zahl Ihrer Wirtschaftsexperten auch war -, der Haushalt 1971 solle in einen Kern- und einen Eventualhaushalt geteilt werden, wie das Stabilitätsgesetz es verlange. Nun, auch dieses Gerede von Kern- und Eventualhaushalt ist jetzt vom Tisch.
Herr Abgeordneter Junghans, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe nicht mehr soviel Zeit.
({0})
Neben der geplanten antizyklischen Haushaltspolitik stehen - darauf hat der Herr Bundeswirtschaftsminister hingewiesen - die Konjunkturausgleichsrücklagen in Höhe von 3 Milliarden DM für schnell zu verabschiedende Investitionshaushalte bereit.
Wir begrüßen auch, daß die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht zum Konjunkturzuschlag eindeutig erklärt hat, daß, wenn ,die konjunkturelle Lage es erfordere, schnell über Einstellung und vorzeitige Rückzahlung des Konjunkturzuschlags entschieden werden kann, wie das Gesetz es befiehlt.
Mit den Orientierungsdaten für 1971 hat die Bundesregierung Markierungen für die Tarifvertragsparteien gesetzt. Es ist erfreulich festzustellen, daß sich die Größenordnungen mit den Orientierungsdaten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in etwa decken. Die Tarifvertragsparteien sind in der Gestaltung der Tarifabschlüsse autonom; die Ergebnisse sind aber von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Sie können daher einen wichtigen Beitrag zur Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung leisten. Dieser Verantwortung - das stelle ich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich fest - müssen sich alle Gruppen in diesem Lande bewußt sein.
Aber jede Bemühung um Stabilität des Wirtschaftsablaufs wird sehr erschwert, wenn die wirtschaftspolitischen Instanzen auf Bundes- und Länderebene nicht mit der Bundesbank an einem Strang ziehen. Die Bundesbank hat in der Vergangenheit die Stabilitätspolitik wirkungsvoll unterstützt. Wir würden es begrüßen, wenn die Bundesbank jetzt schon prüfte, ob zur Stabilisierung der Investitionsneigung nicht eine weitere Lockerung der geldpolitischen Restriktionen erforderlich ist.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß ein Umschwenken in der Geldpolitik einen langen Zeitraum braucht, bis es sich in einem veränderten Verhalten in der Wirtschaft niederschlägt, halten wir ein weiteres Beibehalten des harten Kurses nicht für angebracht.
Lassen Sie mich aber eines mit aller Entschiedenheit noch einmal deutlich machen. Die konjunkturpolitische Situation ist heute völlig anders als im Jahre 1966, als die 'Regierung Erhard wegen ihrer Entschlußlosigkeit scheiterte:
Erstens. Bundesregierung und Koalition sind fest entschlossen, die Vollbeschäftigung kompromißlos zu verteidigen. Eine „gewollte Rezession" zur Bereinigung wirtschaftlicher Anpassungsschwierigkeiten ist für uns nicht diskutabel.
Zweitens. Dem Bundeswirtschaftsminister und dem Bundesfinanzminister stehen mehrere Mittel zur Gegensteuerung zur Verfügung, über deren Einsatz jederzeit beschlossen werden kann.
Drittens. Dabei kann jeder Bürger - das stelle ich für unsere Fraktion nachdrücklich fest -, jeder Arbeitnehmer und jeder Unternehmer sicher sein, daß diese Bundesregierung und die Parteien, die sie tragen, dirigistische Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß ablehnen.
({1})
Die marktwirtschaftliche Ordnung ist für uns unantastbar.
Es wäre für die deutsche Wirtschaft, für Arbeitnehmer und Unternehmer bedauerlich, wenn die CDU/CSU-Fraktion auch im Jahre 1971 wie 1970 ihre Rolle als Opposition vor allem darin sähe, Wirtschaft und Bevölkerung zu verunsichern,
({2})
statt Alternativen zur Wirtschaftspolitik der Koalition zu entwickeln.
({3})
Nachdem ich hier die Bilanz der wirtschaftspolitischen Aktivität der Bundesregierung im Jahre 1970 - auch im Vergleich mit der Opposition - gezogen habe, möchte ich feststellen: die Opposition hat im letzten Jahr vor der deutschen Bevölkerung falsche Propheten auftreten lassen. Ihr sogenanntes wirtschaftspolitisches Alternativprogramm - auch das, was Herr Müller- Hermann hier nicht wieder vorgelegt hat - hat den Test mit dem Prädikat „nicht empfehlenswert" beendet.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kienbaum.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich frage mich, ob die Haushaltsführung mit .7 % Ausgabenzuwachs im Jahre 1970, ob der Exportüberschuß von 15,7 Milliarden DM im Jahre 1970, ob die Steigerungsrate für
die Lebenshaltungskosten mit nunmehr 3,8 % -entgegen den Ankündigungen -, ob diese und viele andere positive Abweichungen von düsternen Voraussagen die Propheten des Pessimismus in unserem Lande in Zukunft zu mehr Zurückhaltung, zu mehr Nachrüfen und Sorgfalt veranlassen werden.
({0})
Ihre heutige Rede, Herr Kollege Müller-Hermann, hat mich in dieser Hinsicht in einer Reihe von Abschnitten doch sehr enttäuscht.
({1})
Die FDP-Fraktion ist selbstverständlich nicht mit einer Inflationsrate von 3,8 % einverstanden.
({2})
Allerdings sieht sie sich bei Wertung aller verfügbaren Daten in ihrer Politik bestätigt. Sie sieht die Politik der Koalition und der Regierung bestätigt, die behutsame Maßnahmen in abgewogenen Zeitabständen vorsah. Diese Politik hat einseitige Pendelausschläge vermeiden können. Sie hat Maßnahme um Maßnahme zur Dämpfung des Booms getroffen. Das begann Anfang des Jahres 1970 mit der Konjunkturausgleichsrücklage. Ihr folgte die Kürzung des Haushalts, an der sich diesmal erfreulicherweise, wenigstens abschließend, die Opposition beteiligte. Dann kam der Konjunkturzuschlag. Eine ganze Reihe kleinerer ergänzender Maßnahmen schlossen sich an. Die Pendelausschläge zu scharf werden zu lassen, haben wir deshalb unter allen Umständen vermeiden wollen, weil stop und go schon angesichts der zeitlichen Phasenverläufe, der Dauer einer jeden Amplitude, schädigend und verunsichernd wirken.
({3}) Wir wollen diese Politik konsequent fortsetzen.
({4})
- Ich weiß zwar nicht, was im Zusammenhang von stop und go Ihr Zwischenruf „siehe Baumarkt!" besagen soll; aber darüber werden wir sicherlich noch Aufklärung bekommen.
Wir sind der Überzeugung, daß wir zu Beginn des Jahres 1971 eine ganze Reihe ausgezeichneter Voraussetzungen für die Fortsetzung dieser behutsamen Politik besitzen, möglicherweise sehr zum Mißvergnügen altbekannter Widersacher, Widersacher in der Sache wie im Kampf um die Regierungsverantwortung. Die wichtigsten Konjunkturdaten - lassen Sie mich das, obwohl es schon ungezählte Male vorgetragen worden ist, auch hier wiederholen - weisen auf weitere Entspannung. Die Differenzierung im Bereich der Wirtschaftssektoren, sowohl im Bereich der Industrie als auch des Handels und der Dienstleistungen, nimmt zu, ein, wie wir glauben, gutes Zeichen. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage ist geringer geworden. So ist es ganz natürlich, wenn einzelne Firmen, ja sogar Teilbranchen, wie zur Zeit z. B. die Elektrohaushaltsgeräteproduktion, Absatzprobleme, ja, Schwierigkeiten kennenlernen.
({5})
Natürlich werden auch hier und da Bedarfslücken auftreten. Wir sind nämlich der vielleicht etwas altmodischen Überzeugung, daß Schwierigkeiten dieser Art die eigenen Anstrengungen in der Wirtschaft und damit den Wettbewerb fördern, daß der innere Widerstand gegen Kostensteigerungen wächst, daß die Überprüfung des eigenen Leistungsprogramms zügiger erfolgt und sogar, falls nötig, einen Wechsel in der Geschäftspolitik von der Umsatzmaximierung zur Ertragsoptimierung zur Folge hat.
Wir sind darüber hinaus wie zu keiner Zeit vorher gerüstet, die Konjunktur durch den zusätzlichen Einsatz öffentlicher Mittel anzuregen, wann immer es nötig werden sollte. Herr Dr. Müller-Hermann, wir sind der festen Überzeugung, daß dieser Punkt noch nicht erreicht ist, und beantworten damit die sibyllinischen Erklärungen vor und nach dem Jahreswechsel, an denen Sie beteiligt waren. Ich glaube, es genügen Hinweise. Die Konjunkturausgleichsrücklage, der Konjunkturzuschlag - der Wirtschaftsminister erwähnte es -, haben es uns inzwischen ermöglicht, eine Reserve von 5,6 Milliarden DM anzusammeln. Ich betrachte das als eine Vorsorge und nicht als ein Vorbeugen, wie es heute irgendwann zum Ausdruck kam.
({6})
Diese 5,6 Milliarden werden sich - ich glaube, auch diese Schätzung ist erhärtet - auf 8 Milliarden DM erhöhen und bieten damit eine wesentlich größere Manövriermasse, als sie jemals in einem Jahreshaushalt durch Beschluß dieses Parlaments angesichts der vorfixierten, festgelegten Größenordnungen geschaffen werden könnte. Wir sind daher der Überzeugung, daß diese Voraussetzungen zur Verwirklichung der Ziele für 1971 ausreichen werden.
Unsere Vorrangziele, weitere Stabilisierung und Vorbereitung - darauf legen wir die Betonung - neuen Wachstums, haben allerdings bewußte und unbewußte Widersacher.
Herr Abgeordneter Kienbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Herr Kollege Kienbaum, glauben Sie wirklich, daß man im Hinblick auf diese 5,6 Milliarden aus der Konjunkturausgleichsrücklage und der Rücklage auf Grund der Steuervorauszahlungen von einer ausreichenden Vorsorge sprechen kann, wenn die entscheidenden Träger der öffentlichen Investitionen, die Gemeinden, gegenwärtig einen Rückgang ihrer Steuereinnahmen von 30 % verzeichnen müssen? Meinen Sie nicht auch, daß Sie dieses ganz ernste Problem in Ihre Betrachtungen einbeziehen müssen?
({0})
Sie brauchen sich keine Sorgen um diesen dritten Träger der öffentlichen Investitionen zu machen. Ich betone: es ist nur einer von dreien!
({0})
Wir werden Vorsorge für den Fall treffen, daß dieser eine von den drei Trägern der öffentlichen Investitionen - zu denen in ganz entscheidendem Maße private Investitionen hinzukommen - in ernste Schwierigkeiten kommen sollte. Die bis jetzt in diesem Zusammenhang bekanntgewordenen Zahlen lassen einige Übertreibung bei dem vermuten, was bisher von den Verbänden des kommunalen Bereichs verlautbart wurde. Aber das werden wir im Verlaufe des Jahres 1971 erkennen.
Ich hatte von den bewußten und unbewußten Widersachern gesprochen, mit denen wir uns ständig weiter auseinanderzusetzen haben werden. Ihnen muß klargemacht werden, daß sie bei ihren Aktionen sowohl mit wachsenem Widerstand als auch mit flexibler Angriffsstrategie zu rechnen haben. Als solche Widersacher gelten für uns u. a. alle Behinderer einer Anpassung und Effizienzverbesserung der öffentlichen Dienste an unsere gesellschaftliche Entwicklung. Gerade in den letzten Tagen haben wir auf dem Gebiete der Kulturpolitik überraschende Beobachtungen machen können. Als solche Widersacher gelten aber auch alle Antreiber der Verunsicherung bei Bürgern und der Leistungen anbietenden Wirtschaft. Da gibt es ganze Kompanien!
({1})
Insbesondere aber zählen zu diesen Widersachern alle jene - und das sollte in diesem Plenarsaal wie derum deutlich zur Sprache kommen -, die im Verteilungskampf, wie der Wirtschaftsminister es darstellte, ihre Forderungen überziehen. Da allerdings haben wir Sorgen. Das neue Jahr setzt mit Preissteigerungsankündigungen exotischer Größenordnungen leider unter Beteiligung öffentlicher Unternehmen - ein.
({2})
Dieser Beginn des Verteilungskampfes ist kurz danach durch den Streik bei der Lufthansa - mit seinen Streikgründen - fortgesetzt worden. Es ist auch nicht unbekannt geblieben, daß der Weg der Tarifforderungen bei Druck und Papier in ähnlicher Linie verläuft. Wir sehen in diesen Ereignissen zu Beginn des Jahres 1971 angesichts der erreichten Beruhigung und Dämpfung die Schwerpunkte der akuten Auseinandersetzung.
({3})
Die FDP hat die unternehmerische Dispositionsfreiheit wie die Tarifautonomie stets ein fundamentales Grundrecht unserer Gesellschaft und ihrer mündigen Bürger behauptet. Deshalb nehmen wir uns das Recht, Daten und Fakten so zu werten, wie es die Sache erfordert, und die Ergebnisse unserer Wertung uneingeschränkt und ungeschminkt der Öffentlichkeit bekanntzugeben.
Ich muß mich hier und heute aus Zeitgründen leider auf ein Beispiel beschränken. Mein Beispiel ist der gegenwärtige Streik bei der Lufthansa. Die Forderungen der Streikenden - sie betragen nicht 18 %, sie betragen tatsächlich rund 24 %
({4})
- erscheinen jedem Kenner von Konjunktursituation und -trend als abenteuerlich. Sie richten sich zudem gegen ein Unternehmen, das sich zu 75 % im Bundesbesitz befindet und in der Vergangenheit vielfältigen - ich wiederhole: vielfältigen Schutz vor Wettbewerb erhalten hat und weiterhin erhält. Auch die Streikenden selbst sind durch ein System von Lizenzen und Zulassungen vor Konkurrenz fast völlig abgesichert. Angesichts einer solchen Situation wird es die Streikenden, ihre Gruppenvertreter und auch das nationale Luftfahrtunternehmen daher hoffentlich nicht verwundern, wenn es Überlegungen gibt, die den offenbar ungerechfertigten Wettbewerbsschutz zur Disposition stellen und die falsch angelegten Zulassungsvorschriften für Mitarbeiter abwandeln wollen.
Auch in anderen Wirtschaftssektoren, auch bei im öffentlichen Besitz stehenden Unternehmen sollte darüber nachgedacht werden, daß bei Überreizen der Forderungen auf der Preis- wie auf der Tarifseite im Verteilungskampf - gleichgültig, von wem das auch kommt -, auch gegenüber der Idee des einmal kräftig Zulangens, genügend Werkzeuge zur Verfügung stehen, um der Herausforderung einzelner Gruppen wirksam zu begegnen - dabei wird es manchmal unvermeidlich eine zeitliche Verzögerung geben -, daß auch genügend Werkzeuge zur Verfügung stehen, um vermeintliche Vorrechte und Besitzstände abzubauen. Die FPD ist jedenfalls - mit ihrer Regierung entschlossen, Catch-as-catch-can-Methoden im Verteilungskampf zu verhindern. Sie ist entschlossen, realistischen Wirtschaftserwartungen zum Durchbruch zu verhelfen, Abenteurern dabei den Weg zu verlegen und jedem Erpressungsversuch zu Lasten der Gesamtheit unnachgiebig zu widerstehen und nachhaltig auch in die Zukunft hinein zu begegnen.
Wir sehen, Herr Müller-Hermann, keine Veranlassung zu Garantieerklärungen. Wir wollen eines garantieren, nämlich verschärften Wettbewerb und Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen, wo immer sie noch bestehen. Wir sind darüber völlig einer Meinung, daß nur ein solches Verhalten den mehr als 50 % Mitbürgern dient, die nicht im Erwerbsleben stehen. Bekanntlich ist die Erwerbstätigenquote geringer als 50 %. Das wissen Sie aber im übrigen auch.
({5}) - Auch bei der Regierung.
({6})
- Sie geben mir geradezu das Stichwort: Die Opposition zweifelt. Sie zweifelte auch 1970.
({7})
Das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht, das ich in
keiner Weise bestreiten will. Aber Sie müssen sich
einfach immer wieder vor die Frage gestellt sehen: was ist denn nun Ihr Weg? Wie wird die Opposition, oder wie werden Sie, Herr Dr. Müller-Hermann, vom Zweifler zum Überzeuger? Dazu bieten sich als Maßstab an Ihre Forderungen und Vorschläge, Ihre Ablehnungen und Ihre Abstinenz.
Auch hier bleibt nur für wenige Beispiele Zeit. Es fällt mir schwer, das Beispiel noch zu erwähnen; aber es ist ja heute von Ihnen wieder angesprochen worden: Abgelehnt hat die Opposition die Aufwertung. In Verbindung mit dieser Auseinandersetzung klingen mir noch die Kassandra-Rufe im Ohr, daß in kurzer Zeit der Export zugrunde gehen werde. Ich verweise auf 15,7 Milliarden DM Exportüberschuß im Jahre 1970.
Vorgeschlagen hat die Opposition - und daran
waren Sie beteiligt - den Stopp des Konjunkturzuschlags. Soeben hat Herr Stoltenberg mir die Frage vorgelegt, ob denn die 5,6 Millarden DM als Vorsorge- und Reservemasse wohl ausreichen könnten, und hat auf die Investitionsbedürfnisse der Kommunen verwiesen. Wie bringen Sie denn nun um alles in der Welt diese beiden Argumente miteinander in Einklang: auf der einen Seite den Konjunkturzuschlag unverzüglich zu stoppen,
({8})
auf der anderen Seite die Frage aufzuwerfen, wie denn der Investitionsbedarf des dritten Trägers der öffentlichen Investitionen, nämlich der Kommunen, gedeckt werden sollte? Wenn die Reversemasse größer sein muß, weil Sie um diese Bedürfnisdekkung Sorge tragen, können Sie doch auf der anderen Seite nicht den Zuschlag stoppen.
Herr Kienbaum, woraus schlußfolgern Sie, daß wir für einen sofortigen Stopp des Konjunkturzuschlages eintreten? Welche Äußerung gibt Ihnen Anlaß zu dieser Schlußfolgerung?
Die Zitate
({0})
von Herr Stoltenberg und zwei Zitate von Ihnen haben deutlich gemacht, daß Sie das anregen.
({1})
- Ich bin sehr erfreut darüber, daß Sie zwischen dem 15. Dezember und dem 30. oder 31. Januar Ihre Auffassung in dieser Hinsicht geändert haben. Das will ich gar nicht negativ bewerten. Das halte ich für sehr gut.
({2})
Ich komme auf einen dritten Punkt, auf die Frage der Abstinenz zu sprechen. Ich bin erstaunt darüber, daß ich, nachdem ich in der Sommerdebatte im Plenum diesem Hohen Hause die Bedeutung der Tarifpartner und ihrer Vereinbarungen, das Gewicht der Vereinbarungen der Tarifpartner an Hand von wenigen Zahlenbeispielen dargelegt habe, ein ernsthaftes Eingehen der Opposition auf diesen Problemkreis seit dieser Zeit immer noch vermissen muß. Auch das, was Sie heute morgen zu diesem Problemkreis zum Ausdruck gebracht haben, war allenfalls mit dem vorsichtigen Eintauchen des ersten Viertels eines Ruderblatts vergleichbar.
({3})
Es stellt sich also die Frage, wie angesichts dieser Forderungen und Vorschläge, der Ablehnung und der Abstinenz eine von uns - und zwar von der ganzen Regierungskoalition - gewünschte Zusammenarbeit in diesen lebenswichtigen Fragen zustande kommen soll. Wir glauben, daß sich eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet anbietet, das schon im vergangenen. Jahr eine Rolle spielte, nämlich auf dem Gebiet der Politik der Angebotsstärkung, ferner auf dem Gebiet des Vorranges von Investitionen vor Konsum und auf dem von mir schon zuvor erwähnten Gebiet des Ausbaus unserer Wettbewerbssituation. Wenn ich einmal nachdenke, wie die Interessenlage der Opposition eigentlich ist, so kann ich mir gar keinen Grund vorstellen, warum eine Zusammenarbeit auf diesen Gebieten nicht zustande kommen sollte. Unterstellen wir einmal, Sie würden 1973 die Regierung wieder übernehmen: Es kann dann doch nur in Ihrem Interesse sein - und das ist ein Gleichlauf mit den Interessen auch der jetzigen Regierung , daß diese Maßnahmen zügig und ohne Verzögerung ergriffen werden, daß sie mit dazu beitragen, über die Dämpfung hinaus zu einem neuen Anstoß zu Wachstum zu kommen. Das kann auch der zukünftigen Regierung ab 1973 - gleichgültig, wer sie stellt - nur recht sein.
Die FPD ist daher voll gespannter Erwartung, ob im Jahre 1971 Fakten wie die zu Beginn meiner Rede dargestellten zur Kenntnis genommen werden und von wem sie zur Kenntnis genommen werden. Sie ist darüber hinaus gespannt, ob die Opposition in ihrem Kampf um den Wiedergewinn der Macht der Konfrontation und damit der Verunsicherung auch der hier im Raum nicht beteiligten Mitbürger den Vorzug vor einem gestaltenden Gegenprogramm gibt.
({4})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir liegt daran, als Bundeskanzler für die ganze Regierung sehr nachdrücklich das zu unterstreichen, was der Herr Bundeswirtschaftsminister heute vormittag hier ausgeführt hat. Ich möchte auch gern von mir aus ein Wort an die Wirtschaft richten.
Aber vorweg möchte ich eine Bitte, die offentlich nicht falsch verstanden wird, an die Kollegen von der Opposition richten, die Bitte nämlich, bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung nicht außer acht zu lassen, daß Sie sich - nun, das schränke ich ein: sicherlich nicht jeder in gleichem
Maße, aber doch maßgebliche Sprecher der Opposition - gerade in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen - um es vorsichtig auszudrücken - im vergangenen Jahr wiederholt und gründlich geirrt haben.
({0})
Ich sage das nicht hämisch, sondern weil ich meine, der notwendige sachliche Meinungsstreit würde erleichtert, wenn die Sprecher der Opposition auch einmal zugeben könnten, daß sie sich geirrt haben.
({1})
Deshalb muß ich doch noch einmal auf ein paar Punkte zurückkommen, die uns in den zurückliegenden Monaten beschäftigt haben.
Erstens. Die Opposition hat für 1970 - das werden Sie zugeben - einen anderen, wesentlich ungünstigeren Wirtschaftsablauf vorausgesagt, als er tatsächlich eingetreten ist.
({2})
- Einen Augenblick. - Sie hat insbesondere die Gefahr der Inflation im Sinne eines Währungszerfalls - nicht im Sinne der inflationären Tendenz - an die Wand gemalt,
({3})
wie er Gott sei Dank tatsächlich nicht eingetreten ist.
({4})
- Ich darf meine Bemerkungen zu diesem ersten Punkt machen. Ich gebe Ihnen dann gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.
({5})
- Lassen Sie mich das doch einmal auseinandersetzen; denn ich füge ja gleich hinzu: die Steigerung der Verbraucherpreise für das Jahr 1970 um durchschnittlich 3,8 % ist natürlich ernst genug, und man verniedlicht diesen Preisauftrieb nicht, wenn man einmal darauf hinweist, daß die Realeinkommen kräftig gestiegen sind, und zum anderen Vergleiche mit vergleichbaren westlichen Industrieländern anstellt. Damit soll doch nicht, Herr Kollege Müller-Hermann, das Gewissen beruhigt werden, sondern die Objektivität gebietet einfach, diese Faktoren in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
({6})
Im übrigen ist es unser ernster Wille, den wirtschaftlichen Ablauf so zu beeinflussen, daß wir das Jahr 1971 mit einer geringeren Preisteigerungsrate abschließen können. Ich lade Sie herzlich ein, uns in diesem Bemühen zu unterstützen.
({7}) Bitte, Herr Kollege!
Herr Bundeskanzler, wenn das Statistische Bundesamt bei seinem letzten Bericht für den Dezember 1970 für die Lebenshaltungskosten eine Preissteigerungsrate von 4,3 % ausweist, frage ich Sie: Könnten Sie nicht zugestehen, daß die Opposition, wenn sie von einer inflatorischen Entwicklung spricht, nur den Sprachgebrauch Ihres Wirtschaftsministers anwendet, den er in langen Jahren entwickelt hat?
({0})
Verehrter Herr Kollege, mein Ausgangsargument war ein anderes, nämlich das, daß Sie einen wesentlich ungünstigeren Wirtschaftsablauf für das Jahr 1970 unterstellt hatten und daß Sie die von uns allen bedauerte zu weit „nach oben" gehende Preisentwicklung draußen im Lande schlechthin als eine Inflation an die Wand gemalt haben, so wie wir sie nach zwei Weltkriegen erlebt hatten.
({0})
- Bitte, Herr Kollege!
Herr Bundeskanzler, wenn Sie vom realen Zuwachs der Einkommen im Jahre 1970 sprechen, frage ich Sie: Wollen Sie mir zugestehen, daß das wohl für diejenigen unserer Mitbürger gelten mag, die im Erwerbsprozeß stehen, aber mit Sicherheit nicht für die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft, die Rentner und diejenigen, die im Alter auf ihre Ersparnisse angewiesen sind?
({0})
Der Wirtschaftsminister hat auf die Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen abgehoben. Wir wissen sehr wohl, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung
({0})
dann, wenn es um solche Preisauftriebstendenzen geht, hart betroffen werden. Wir wissen allerdings auch - das haben wir ja doch hier miteinander in jenen Jahren zustande gebracht -, daß die Rentner durch die dynamische Entwicklung der Renten, wenn auch nicht immer sofort,
({1})
ihren Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung bekommen. - Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, würden Sie dem Hohen Hause auch zur Kenntnis bringen, daß nach Aussagen des Statistischen Bundesamtes die Steigerungsrate der Preise für das Bruttosozialprodukt 1970 7 1/2 % hoch ist und daß das nach Aussage des Statistischen Bundesamtes die
höchste Preissteigerungsrate für das Bruttosozialprodukt ist, die wir seit 20 Jahren in diesem Staate hatten?
({0})
Nun können wir ja nicht alles durcheinanderbringen. Ich komme doch auch noch zu mehr Punkten. Sie können ja nicht bei meinem ersten Argument in Zwischenfragen alles hineinbringen wollen, was Sie insgesamt auf Lager haben.
({0})
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner?
Herr Bundeskanzler, ist es nicht entgegen der Unterstellung in einer vorhergegangenen Frage so, daß gerade in den letzten Jahren die Rentnereinkommen real stärker gestiegen sind als die Einkommen der aktiv Tätigen in der Wirtschaft?
({0})
Ich kann das nur bestätigen.
({0})
Herr Bundeskanzler, Herr Abgeordneter Höcherl möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, Herr Kollege Höcherl!
Herr Bundeskanzler, war es nicht so, daß Ihr Wirtschaftsminister bereits im Februar 1970 Bremsvorschläge gemacht hat, die im Kabinett und in der großen Regierungsfraktion abgelehnt wurden?
Jetzt möchte ich Ihnen folgendes sagen, Herr Kollege Höcherl. Sie verwechseln jetzt eine Aussprache im Bundestag mit einer Fragestunde.
({0})
Sie können nicht alles, was Sie auf Lager haben, ob es zu dem vorgebrachten Argument paßt oder nicht, hier loslassen und mich daran hindern, meine Ausführungen im Zusammenhang zu machen.
({1})
Ich bedauere, dieser Art von Zwischenfragen, die von einer zusammenfassenden Darlegung ablenken sollen, nicht folgen zu können.
({2})
Ich komme zu meiner zweiten Bemerkung.
({3})
- Ich habe doch nun wirklich versucht, ohne jede Schärfe anzufangen, und will versuchen, auch ohne jede Schärfe fortzufahren.
Meine zweite Bemerkung und Frage ist diese: Die Opposition hat - jetzt sehe ich einmal von dem Streit um die Aufwertung ab, zu dem schon einiges gesagt worden ist, soeben dankenswerterweise auch von Herrn Kollegen Kienbaum diesem unserem Stabilisierungsprogramm vom letzten Sommer nicht zugestimmt. Das ist im Meinungsstreit zwischen uns, Herr Kollege Höcherl, noch relevanter als die Anfang des Jahres oder im Frühjahr nicht zu Ende gekommene Diskussion in der Regierung. Sie standen ja konkret im Sommer vor der Frage, ob Sie dem dort vorgelegten Programm der Regierung zustimmen wollten oder nicht. Sie haben sich der Stimme enthalten, das ist Tatsache.
({4})
Manche Ihrer Sprecher haben draußen sogar die Zweifel gefördert, ob der Zuschlag zu den Steuern zurückgezahlt werden würde.
({5})
Das Mißtrauen, das es auf diesem Gebiet von alters her - dafür können Sie nichts und wir nichts
gegen Vater Staat in der Bevölkerung gibt, war für uns eine schwere Belastung. Inzwischen hat sich die Diskussion verschoben. Man diskutiert nicht mehr darüber, ob zurückgezahlt wird, sondern darüber, wann zurückgezahlt wird.
({6})
Jeder muß zugeben, daß diese Rückerstattung zum konjunkturpolitisch geeigneten Zeitpunkt von einiger Bedeutung sein kann.
Drittens. Dem Bundesfinanzminister ist während des ganzen Jahres 1970 unterstellt worden, er betreibe eine unverantwortliche, expansive Haushaltspolitik. Zuweilen wurde auch behauptet, die Konjunkturausgleichsrücklage werde nur fiktiv gebildet. Auch dieses Argument will ich nicht untergehen lassen. Beide Unterstellungen sind nun eindeutig widerlegt, meine Damen und Herren. Der Haushalt 1970 konnte mit einem insoweit besseren Ergebnis abgeschlossen werden, als es die allermeisten vermutet hatten; und niemand kann mir bestreiten, daß der Haushalt sparsam geführt wurde. Zum anderen sind die Konjunkturausgleichsrücklagen von Bund und Ländern keine Fiktion, sondern eine Realität und ein willkommenes Instrument künftiger konjunkturpolitischer Maßnahmen.
Viertens. Als der Haushalt 1971 im vergangenen Sommer aufgestellt wurde und als er hier im September eingebracht wurde, hielt ihn die Opposition für prozyklisch und konjunkturschädlich.
({7})
Inzwischen wird uns, wenn auch nur indirekt, bestätigt, daß unsere Einschätzung für das Jahr 1971
Deutscher Bundestag - (3. Wahlperiode Bundeskanzler Brandt
richtig war und daß dieser Haushalt, wenn man so sagen darf, durchaus gut in die Landschaft paßt.
({8})
Es hat auf diesem Wege manche Ungereimtheit gegeben. Herr Kollege Stoltenberg, Helmut Schmidt, der Verteidigungsminister, hatte Sie damals schon im Herbst auf den Widerspruch hingewiesen, der darin liegt, daß zu jenem Zeitpunkt durch Ihre Freunde und Sie - gerade durch Sie als einen maßgeblichen Sprecher - hier Abstriche vom Bundeshaushalt gefordert wurden, während Sie es in Kiel für richtig hielten, größere Bundeszuschüsse für Schleswig-Holstein zu fordern.
({9})
- Einen Augenblick, Herr Kollege Stoltenberg, ich habe dem noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Es ist auch leicht, in Schleswig-Holstein davon zu sprechen, daß die Gemeinden mehr Geld bekommen müßten, dabei aber nicht die Frage zu beantworten, a) was man selbst früher in Sachen Gemeindefinanzierung unternommen hat
({10})
und b) ob und in welcher Weise der Bundeshaushalt heute beschnitten wird oder ob zusätzliche Steuern erhoben werden. Wenn man das will, soll man es offen sagen. Und schließlich, Herr Kollege Stoltenberg, ist es auch bequem - ich komme auf die Landwirtschaft gleich zurück, nachdem Herr Müller-Hermann das Thema berechtigterweise mit hereingebracht hat -, in Schleswig-Holstein zu fordern, die Bauern müßten mehr bekommen, ihnen müßte nachdrücklicher geholfen werden. Aber es ist nicht korrekt, dann nicht darauf hinzuweisen, daß alle Entscheidungen und Beschlüsse über die europäische Agrarpolitik zur Zeit Ihrer politischen Regierungsführung gefällt worden sind.
({11})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Bundeskanzler, ist Ihnen bei der Anfrage über unsere Leistungen zur Gemeindefinanzreform entgangen, daß wir gemeinsam im Kabinett der Großen Koalition und in diesem Hause eine Finanzreform verabschiedet haben, die den Gemeinden ein Plus von fast 2h/2 Milliarden DM bringt, daß aber nach den Berechnungen des Oberbürgermeisters Vogel durch Ihre Inflationspolitik daraus ein Minus von 5 Milliarden DM geworden ist?
({0})
Ich denke, Herr Kollege Stoltenberg, das war doch ein bißchen zu sehr der Wahlkämpfer aus Schleswig-Holstein.
({0})
- Nein. Jetzt möchte ich fortfahren. Ich habe einen fünften Punkt vorzubringen.
({1})
- Lassen Sie sich doch Zeit! - Unverändert geblieben ist die polemische Haltung der Opposition gegenüber unserem innenpolitischen Arbeitsprogramm im allgemeinen, unseren Reformvorhaben im besonderen und vor allem auch in bezug auf die Möglichkeit ihrer Finanzierung.
({2})
Dazu je eine prozedurale und eine generelle Bemerkung.
Was das Prozedurale angeht, so hat die Opposition der Regierung durch ihre Große Anfrage vom 16. Dezember die Gelegenheit gegeben, sich demnächst umfassend zu diesem Komplex zu äußern. Das wird in den nächsten Wochen geschehen.
({3})
- Ihre Herren waren im Ältestenrat damit einverstanden, daß dies nach der Verabschiedung des Haushalts geschehen soll. - Bei dieser ausführlichen Darlegung wird der zeitliche und wird der finanzielle Rahmen gleichermaßen klargemacht werden. Diese Regierung und diese Koalition arbeiten weiterhin auf der Grundlage der Regierungserklärung vom Oktober 1969. Aber ich vergebe mir gar nichts, meine Damen und Herren, wenn ich in allem Freimut hinzufüge: wenn ich die Regierungserklärung heute neu vorzulegen hätte, würde ich sie natürlich, gestützt auf die Erfahrung zu manchen Punkten, was den zeitlichen Ablauf angeht, und auch, was die finanziellen Möglichkeiten angeht, konkreter und präziser formulieren. Man vergibt sich gar nichts, wenn man dies nach fünf Vierteljahren Erfahrungen so feststellt.
({4})
- Nein, nicht eine neue Regierungserklärung.
({5})
Ich könnte Ihnen Regierungserklärungen aus früheren Zeiten zeigen, von einem sehr anerkannten Bundeskanzler, verglichen mit denen unsere ein Meisterstück an Konkretisierung war.
({6})
Ich wünsche mir aber, gestützt auf unsere Erfahrungen, zeitliche und finanzielle Präzisierungen. Wenn wir also im nächsten Monat umfassend über unsere Reformvorhaben berichten und diskutieren,
({7})
dann wird in aller Offenheit darzulegen sein, was in dieser Legislaturperiode durchgeführt werden kann und was eines längeren Zeitraums bedarf
({8})
- was heißt: „Ja, ja"! das ist doch eine Selbstverständlichkeit -, obwohl die Planungen deswegen nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Man kann ja heutzutage das Wort „Planungen" aussprechen, ohne deswegen des Radikalismus verdächtigt zu werden.
({9})
Im übrigen brauchen wir mit dem, was wir im vergangenen Jahr abhaken konnten, Regierung und Koalition, nicht unzufrieden zu sein. Manches von dem, was wir uns vorgenommen haben, ist in den Berichten, die diese Regierung erstattet hat, schon durchaus deutlich gemacht worden.
({10})
Soweit die prozedurale Bemerkung.
Generell muß ich mich gegen die einander widersprechenden Behauptungen wenden, unsere Politik der Reformen stehe nur auf dem Papier, aber sie werde unser Land finanziell zugrunde richten.
({11}) Beides zusammen kann doch nicht stimmen. ({12})
Die große Mehrheit der Bevölkerung weiß, daß nur durch eine Politik, die die soziale Gerechtigkeit mehrt, die Modernisierung fördert und dadurch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft steigert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und zugleich ihre innere Stabilität gewährleistet werden kann.
({13})
Daß manche Reformen Zeit brauchen, daß alle Reformen finanziell abgesichert sein müssen
({14})
und daß die aktuellen jeweils gegebenen Möglichkeiten der Wirtschaft nicht überfordert werden dürfen,
({15})
ist für mich eine Selbstverständlichkeit.
({16})
Ich will das hier trotzdem betonen. Wir haben nicht die Absicht, uns zu übernehmen und andere zu überfordern. Wir haben aber auch nicht die Absicht, uns irremachen, entmutigen und zur gesellschaftspolitischen Anspruchslosigkeit verurteilen zu lassen.
({17})
Meine Damen und Herren, ich meine allen Ernstes, man sollte dem Inflationsgespenst vom vorigen Jahr nicht ein Rezessionsgespenst des Jahres 1971 folgen lassen.
({18})
Im vergangenen Jahr hat die behauptete Unsicherheit die Unternehmer auch nicht daran gehindert, kräftig zu investieren, und die behauptete Unsicherheit hat auch den Sparwillen nicht gebrochen. Immerhin, mit dem Krisengerede kann man Teile der Bevölkerung in Unruhe versetzen, und das ist schlecht. Die Bevölkerung soll wissen, daß wir entschlossen sind, unseren Kurs in Richtung Stabilität ohne Gefährdung der Arbeitsplätze - das füge ich hinzu - konsequent fortzusetzen.
Herr Kollege Müller-Hermann, Sie haben das, was in den vergangenen Monaten zur Vollbeschäftigung gesagt worden ist, einen Freibrief genannt. Ich kann das nicht gelten lassen.
({19})
Ich kann nicht gelten lassen, daß man angegriffen wird, wenn man nichts anderes sagt, als daß Vollbeschäftigung ein selbstverständliches Ziel jeder sozialen Politik in diesem Lande sein muß.
({20})
Außerdem haben es die Gewerkschaften bei all ihrem Beitrag zum deutschen Wiederaufbau und Ausbau und bei ihrem Grad an wirtschaftlicher Disziplin, verglichen mit dem, was Sie in anderen Ländern erleben, bisher nicht verdient und auch heute nicht verdient, mit Drohungen, die sich auf den Arbeitsplatz beziehen, unter Druck gesetzt zu werden.
({21})
Ich wollte das dem hinzufügen, was Karl Schiller gesagt hat und was ja im Grunde heißt: für diese Regierung gehört das Spiel oder die Drohung mit einer gewollten Rezession nicht zu ihrem Instrumentenkasten.
({22})
Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung darf sich nicht, wie der Bundeswirtschaftsminister schon richtig gesagt hat, von einseitigen und allzu kurzfristigen Aspekten leiten lassen, sondern sie muß und wird ihre Entscheidungen vom Gesamtbild der Wirtschaftslage abhängig machen, also auch gegensteuern, wann und wo es erforderlich ist. Wir können davon ausgehen, daß der Gipfel des Nachfragebooms überschritten ist und daß eine Normalisierung der Konjunktur eintreten wird. Das Jahr 1971 wird ein Jahr des Übergangs sein, das uns gewiß noch manche sorgenvollen Fragen stellt, das aber doch zu den Grundlagen führen wird, die für das wirtschaftliche Gleichgewicht erforderlich sind.
Wenn ich mich nun an die Wirtschaft wende, so vor allem auch, um der Befürchtung entgegenzutreten, daß unzumutbare Belastungen auf sie zukomBundeskanzler Brandt
men könnten. Davon kann keine Rede sein. Wohlwissend, daß dies nicht überall populär ist, haben wir den Tarifpartnern die Hinweise und Ratschläge gegeben, die wir aus unserer Verantwortung glaubten geben zu müssen. Dazu gehört allerdings auch der Hinweis auf ein angemessenes preispolitisches Verhalten oder, wie Herr Schiller es heute früh hier nannte, realistische Preisentscheidungen.
Viele Befürchtungen resultieren aus dem zumeist undifferenzierten und rein polemischen Gerede über Steuererhöhungen.
({23})
Zu diesem polemischen Gerede gehört auch der häufig nicht objektive Umgang mit Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung. Ich bitte zunächst einmal um mehr Sachlichkeit im Vorfeld der zu erörternden Steuerreform; denn das ist eine ganz andere Problematik als die, die heute aktuell in die Debatte gebracht wurde.
({24})
Jeder Sachkundige weiß, daß es die Absicht der Regierung ist, ihre Vorlagen zur Steuerreform zeitlich so einzubringen, daß sie von diesem Bundestag behandelt und am 1. Januar 1974 in Kraft treten können.
({25})
Es wird also nichts unter Zeitdruck geschehen. Alle sachlichen Erwägungen werden zur Geltung kommen. Die Regierung selbst wird für wirtschaftliche Ausgewogenheit sorgen. Wir erkennen den Wunsch der Wirtschaft voll an, mit klaren Daten der steuerlichen und sonstigen Belastung rechnen zu können.
Die Regierung hat erklärt, daß für 1971 Steuererhöhungen überhaupt nicht zur Debatte stehen. Sie hat verantwortlicherweise, meine Damen und Herren, nicht erklären können, daß sie ihren Aufgaben in der Folgezeit bei einer sinkenden Steuerlastquote gerecht werden könnte.
Diese Debatte muß entdramatisiert, muß versachlicht werden.
({26})
Im übrigen hat ja auch die CDU in ihrem nach der Meinung eines Teils ihrer eigenen Anhänger nicht übertrieben reformfreudigen Programm auf dem letzten Parteitag den Zusammenhang zwischen öffentlichen Aufgaben und den dafür zu erbringenden Leistungen durchaus deutlich gemacht.
Zur Landwirtschaft, Herr Kollege Müller-Hermann. Der Grund, weshalb der Wirtschaftsminister in seiner Betrachtung darauf heute nicht eingegangen ist, ist einfach der, daß noch in dieser Woche der Kollege Ertl seinen Entwurf des Agrarberichts dem Bundeskabinett unterbreitet. Der Agrarbericht wird ja dann alsbald hier behandelt werden.
({27})
Wir sehen wie Sie nicht nur die ungünstige Kostenentwicklung von den indusrtiellen Produkten her, sondern wir sehen auch die ungüstige Preisentwicklung der landwirtschaftlichen Produkte selbst. Trotzdem denke ich, daß Sie sich der Debatte draußen stellen sollten wie wir und nicht denen nach dem Mund reden sollten, die glauben, mit der Forderung „Weg mit dem Grünen Dollar!" seien die Probleme gelöst; das ist unrealistisch. Wir haben diese europäische Landwirtschaftspolitik nicht so gestaltet. Aber sie läßt sich eben auch nicht mehr willkürlich so zurückdrehen; das ist die Wahrheit.
({28})
Indem ich mich auf meine einleitenden Sätze beziehe, stelle ich in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsminister noch einmal folgendes fest. Erstens: Die Verpflichtung auf die Marktwirtschaft wird von der ganzen Bundesregierung als Richtschnur ihres Handelns angesehen. Zweitens: Die gegenwärtige Lage rechtfertigt keinen Konjunkturpessimismus. Drittens: Jetzt kommt es darauf an, die Entscheidungen für den Weg zum Gleichgewicht, die Entscheidung für die Vernunft zu treffen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({29})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stoltenberg.
({0})
- Ich bitte, dafür zu sorgen, daß auf der Tribüne Ruhe herrscht und der Redner hier ungestört sprechen kann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Wochen sehr viele unterschiedliche Bewertungen und Bilanzen zur Situation der Bundesregierung und ihrer Wirtschaftspolitik gehört. Was wir heute hier vom Kollegen Schiller und dann auch vom Bundeskanzler vernahmen, scheint mir in einer ganz ungewöhnlichen Weise durch Selbstgerechtfertigkeit und Selbstgefälligkeit bestimmt zu sein.
({0})
Ich bitte, den Störer zu entfernen. - Bitte fahren Sie fort, Herr Abgeordneter Dr. Stoltenberg.
Was hier heute vom Bundeskanzler und vom Kollegen Schiller zur tatsächlichen Situation der Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft gesagt wurde, unterscheidet sich doch nicht nur von der Sachverständigendiskussion außerhalb dieses Hauses, die von der Bundesregierung kaum in ihre Betrachtung einbezogen worden ist. Es steht auch im Gegensatz zu dem, was der Bundesfinanzminister selbst am 20. Januar, vor wenigen
5224 Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Dr. Stoltenberg
Tagen, erklärt hat - ich zitiere ihn noch einmal; das
ist die Bilanz von 15 Monaten Regierungspolitik -:
Wir haben zu viele Illusionen gehabt.
({0}) - Das sagt Alex Möller. Wir müssen abbauen, wir müssen die Realitäten stärker beachten.
({1})
Er ist dafür zur Ordnung gerufen worden, und es ist nicht einmal der Versuch gemacht worden, diese kritische Selbstbetrachtung und Selbstwürdigung, die wirklich an der Zeit ist, in die Darstellung der Bundesregierung einzuführen.
({2})
Ich glaube nicht, daß das ein Weg ist, das verlorengegangene und erschütterte Vertrauen wiederzugewinnen und zu stabilisieren; denn es ist doch nicht damit getan, daß die Sprecher der Koalition und auch der Bundeskanzler selbst es für richtig halten, hier Abgeordnete der Opposition unter dem Vorzeichen von Landtagswahlen persönlich zu attackieren und zu disqualifizieren!
({3})
Es kommt doch darauf an, daß diese Regierung endlich eine Antwort gibt auf die kritischen Anmerkungen des Sachverständigenrats, der Sparkassen, der wissenschaftlichen Institute und nicht zuletzt auf die Bemerkungen, die der Leiter eines wissenschaftlichen Instituts, der Kollege Arndt, aus seiner Sicht in den letzten Wochen selbst an die Adresse der Bundesregierung gerichtet hat.
({4})
Herr Bundeskanzler, Sie haben die von dem Ihnen eng verbundenen Herrn Gaus erwartete und vorgeschlagene Rede nicht gehalten, die die konkreten Antworten, die konkreten Entscheidungen bringt, die wir jetzt für die wirtschaftliche und innere Entwicklung unseres Landes brauchen.
({5})
Statt dessen hat es Polemik und Verzeichnung von Zitaten gegeben.
Ich bedaure sehr, daß Sie den Kollegen MüllerHermann in der Frage der Vollbeschäftigung falsch zitiert haben. Hier war zwischen uns nicht strittig und hier ist nicht strittig, daß es eines der entscheidenden Ziele der Wirtschaftspolitik sein muß, die Vollbeschäftigung zu sichern.
({6})
Aber was Sie am 1. Mai und am 27. April des vergangenen Jahres getan haben, war doch etwas ganz anderes. Sie haben unter dem Vorzeichen extremer Gleichgewichtsstörungen auf dem Arbeitsmarkt - wir hatten damals fast 1 Million Arbeitsplätze nicht besetzt - jene verdächtigt, die mehr Stabilitätspolitik verlangten, und ihnen vorgeworfen, sie nähmen es mit der Vollbeschäftigung nicht ernst.
({7}) Sie haben in der Tat bis heute nicht erkannt, daß die erschreckenden Kostensteigerungen auf Grund der Politik des vergangenen Jahres, die in Europa einsame Spitze sind, genau diese Vollbeschäftigung bedrohen, genau diese Vollbeschäftigung in Frage stellen, die Sie im vergangenen Jahr verbal, aber nicht tatsächlich gefördert haben.
({8})
Ich muß Ihnen offen sagen, Herr Bundeskanzler, nach soviel falschen Aussagen im vergangenen Jahr genügen die wohlklingenden Gemeinplätze nicht mehr, die wir heute von Ihnen gehört haben. Sie haben am 18. April vergangenen Jahres in Düsseldorf zur Situation der Wirtschaft und Konjunktur erklärt - ich zitiere -:
Wir sind insofern über den Berg, als wir feststellen können: die Arbeitsplätze sind sicher, der Wohlstand wächst immer weiter, und die Preisentwicklung wird sich beruhigen.
({9})
Sie haben den Bundesfinanzminister Möller, der am 21. April sagte: „Die Preisstabilität werden wir im Laufe des Jahres 1970 herstellen", ausdrücklich bekräftigt, als Sie am 1. Mai in der „Welt der Arbeit" schrieben, daß dieses von Herrn Möller erwähnte Ziel wohl noch in diesem Jahr erreicht werden könne. Heute müssen Sie sich, wenn sie wirklich in eine ernsthafte Sachdiskussion eintreten, mit den Aussagen führender wirtschaftswissenschaftlicher Institute auseinandersetzen, etwa mit der Studie von Herrn Professor Giersch in Kiel, in der Ihnen bescheinigt wird, daß wir nach den Fehlern des vergangenen Jahres allenfalls in zwei Jahren unter günstigen Voraussetzungen eine Chance haben werden, das gestörte wirtschaftliche Gleichgewicht wiederzugewinnen.
({10})
Das sollte das Thema Ihrer Betrachtungen und Ihrer programmatischen Aussagen in diesem Hause sein an Stelle einer Kette persönlicher Angriffe gegen Abgeordnete der Opposition hier, die doch nichts als ein Zeichen Ihres schlechten Gewissens und Ihrer Schwäche sind.
({11})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, bevor ich auf den Jahreswirtschaftsbericht näher eingehe, noch zu den drei Punkten Stellung nehmen, die mir hier vorzuhalten der Herr Bundeskanzler für richtig hielt, ohne daß ich vorher zur Sache gesprochen hatte.
({12})
- Ich habe heute noch nicht gesprochen, und es ist für mich ein einmaliger Vorgang, daß ein Bundeskanzler es für richtig hält, hier Abgeordnete der Opposition so persönlich anzugreifen, ohne daß es einen Bezug auf vorhergehende Ausführungen in diesem Hause gibt.
({13})
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode
Beim Thema der Gemeindefinanzreform habe ich mir erlaubt, in ihre Erinnerung zu rufen, daß wir doch gemeinsam in der Großen Koalition eine Reform verwirklicht haben, die den Gemeinden fast 2 1/2 Milliarden DM mehr bringt. Insofern ist es unbegreiflich, wenn Sie in Ihrer Wahlkampfrede in Flensburg und heute vor dem Forum des Bundestages mich auffordern, zu sagen, was wir denn in der Vergangenheit dazu eigentlich gemeint hätten. Das sollte doch bei aller einseitigen Beschäftigung mit der Ostpolitik noch in Ihrer Erinnerung geblieben sein als Regierungschef, der auch für die inneren Entscheidungen dieses Landes und für das Versagen dieser Bundesregierung die Verantwortung trägt.
({14})
Sie werden vielleicht die Rechnung des Präsidenten des Deutschen Städtetages, des Oberbürgermeisters Vogel, gelesen haben, der Ihnen auf Heller und Pfennig vorrechnet, daß als Folge Ihrer falschen Politik des Jahres 1970 aus dem Plus von fast 2 1/2 Milliarden DM ein Minus von 5 Milliarden DM geworden ist. Sie müssen sich - ich darf das auch dem Kollegen Schiller sagen - bei den sachlichen Betrachtungen über die Entwicklung im nächsten Jahr viel ernster mit der bedrohlichen Entwicklung der Gemeindefinanzen auseinandersetzen. Der Hinweis auf die Konjunkturausgleichsrücklage des Bundes und der Länder sowie der Hinweis darauf, daß man vielleicht die Steuervorauszahlung zurückzahlen könnte, genügen nicht, wenn die Städte und Gemeinden, die zwei Drittel der öffentlichen Investitionen tragen, jetzt erleben müssen, daß die Kosten steigen und ihre Einnahmen um 30 % sinken.
({15})
Sie haben hier noch einmal - ich muß sagen, das war eigentlich ein bißchen unter dem Niveau des Regierungschefs eine falsche Behauptung Ihrer sozialdemokratischen Parteifreunde im schleswigholsteinischen Wahlkampf aufgewärmt. Ich darf in Ihre Erinnerung rufen, Herr Bundeskanzler, daß der Vorschlag im Sommer vergangenen Jahres im Hinblick auf das Stabilitätsgesetz den Haushalt 1971 in einen Kernhaushalt und einen Eventualhaushalt aufzuteilen, auch von den in Ihrem Kabinett für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen gemacht wurde und daß der Präsident der Bundesbank, Karl Klasen, ihn öffentlich und auch intern gegenüber der Bundesregierung unterstützt hat. Insoweit befanden wir uns in guter Gesellschaft, weil es im Sommer vergangenen Jahres darum ging, die verhängnisvolle Signalwirkung auf jene Bereiche zu vermeiden,
({16})
von denen Herr Schiller, Herr Kienbaum und andere hier warnend gesprochen haben. Das war doch der Punkt, und das ist auch in den führenden deutschen Zeitungen noch einmal beim Abschluß des Etats 1970 klar gesagt worden, nämlich daß sich zwar die 7 % als Globalsumme ganz gut ausnehmen, daß sich aber dahinter eine Steigerung von 10 1/2 % in den ersten sechs Monaten und ein Minus
von fast 20 % im Dezember verbergen, als dem
Kollegen Möller bereits die Kassenmittel fehlten.
({17})
Sie können doch nicht, wie es hier geschehen ist und wie es auch der Kollege Junghans getan hat, die Kritik, die wir in vollem Einvernehmen mit den ständigen öffentlichen Warnungen des Präsidenten der Bundesbank, den Leitartikeln der großen deutschen Zeitungen sowie den Aussagen von Professor Giersch und anderen üben, in der Weise abqualifizieren, wie es hier immer wieder versucht wird.
({18})
Im übrigen ist es kein Gegensatz, wenn wir im Bundestag diese Aufgliederung, die, nebenbei bemerkt, keine Kürzung ist, vorgeschlagen und gleichzeitig in den finanzschwachen Ländern sagen, daß wir für eine verstärkte Förderung ihrer Aufgaben sind. Wir haben diesen Antrag im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir tun hier das, was wir draußen im Lande sagen, im Gegensatz zu Ihnen, die Sie manches draußen sagen, was wir Ihnen hier vorhalten müssen.
({19})
Ich habe die Diskussion um diese Variante bereichert, indem ich vorgeschlagen habe, die zusätzlichen Mittel, die auch Ihre Parteifreunde in den finanzschwachen Ländern fordern - Herr Kubel genauso wie Herr Lemke -, gegebenenfalls in einen Eventualhaushalt hineinzunehmen, damit sie erst dann konjunkturpolitisch wirksam werden, wenn es an der Zeit ist. Ich hoffe, daß Sie in der Lage sind, einen zwar etwas anspruchsvollen, aber im Grunde nicht zu komplizierten Gedankengang dieser Art nachzuvollziehen, statt ihn in demagogischer Weise zu entstellen.
({20})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun zum Thema Landwirtschaft folgendes sagen. Ich habe mit Befriedigung gelesen, daß sich der Landwirtschaftsminister, der Kollege Ertl, für eine Erhöhung der agrarischen Erzeugerpreise ausspricht. Auch der Kollege Schiller hat vor wenigen Wochen in einer vorsichtigen Wendung gesagt, dies könne notwendig sein. Aber wenn wir das draußen im Lande sagen, müssen wir uns von Ihnen dafür rügen lassen, dann erklärt der Herr Kollege Wienand in einer geschmackvollen Pressebemerkung, meine entsprechende Forderung in Kiel sei eine Vergiftung der politischen Atmosphäre.
({21})
Meine Damen und Herren, das ist ein Beweis nicht nur für den schlechten Stil, sondern auch für die Konzeptionslosigkeit dieser Koalition,
({22})
in der auch in dieser entscheidenden Frage jeder
anders spricht als sein Vorredner und alle nur
gleich sind in der Polemik. Es hätte Ihnen gut an5226
gestanden, Herr Bundeskanzler, in diesem Durcheinander und angesichts der Existenznot der Landwirte, die Sie in Flensburg gespürt haben, hier einmal ein klares Wort zu sagen, statt sich wieder hinter Herrn Ertl zu verstecken, von dem doch keiner weiß, ob seine Aussagen von der Koalition und seinen Kollegen im Kabinett überhaupt geteilt werden.
({23})
- Ja, natürlich! „Unverschämt", Herr Peters? Sie haben die Erklärungen von Herrn Wienand und von anderen gelesen und werden mir erlauben, das hier so zu sagen, wie ich es für richtig halte.
({24})
Meine Damen und Herren! Wir bedauern, daß die Bundesregierung es nicht für richtig gehalten hat, zu den sehr detaillierten Anmerkungen des Sachverständigenrates und seiner kritischen Würdigung der Konjunktursituation, der Fehler des vergangenen Jahres und der Aufgaben des nächsten Jahres so Stellung zu nehmen, wie es die Sache erfordert.
({25})
- Dann hätten Sie unsere Äußerungen zum Konjunkturzuschlag etwas sorgfältiger behandelt, Herr Kollege Schiller; das Zitieren eines früheren Gutachtens vom Mai entlastet Sie nicht davon, sich mit dem Dezember-Gutachten, das heute zur Beratung steht, auseinanderzusetzen. Sie kommen nicht daran vorbei, daß der Sachverständigenrat in diesem Gutachten die isolierte Maßnahme vom Juli für wirkungslos hält, und zwar mit ähnlichen Argumenten, wie wir sie im Juli vorgetragen haben.
({26})
Alles, was in diesem Gutachten zur Sache steht, sollten Sie ernster würdigen, als das geschehen ist. Der ganze Zwiespalt der anzuwendenden Konjunkturpolitik wird in dem schon von dem Kollegen MüllerHermann erwähnten Satz auf Seite 28 Ziffer 70 sichtbar. Hier heißt es: „Wenn und damit die wirtschaftliche Entwicklung nunmehr etwa in der von der Jahresprojektion vorgezeichneten Bahn verläuft, sollte dieser Kurs der Kreditpolitik fortgesetzt werden.." Das ist nicht nur ein schreckliches Deutsch; das zeigt Ihnen den fortbestehenden Gegensatz zwischen Bundesbank und Bundesregierung, der nicht aufgehoben ist, nicht einmal in einer Zeit, in der die Signale wirklich gefährliche Möglichkeiten anzeigen. „Wenn" ist die Bundesbank, und „damit" ist der Bundeswirtschaftsminister.
({27})
Sie waren nicht in der Lage, sich in diesem entscheidenden Punkt auf eine Aussage zu verständigen - in einer großen Frage, die das Schicksal des Jahres 1971 bestimmen wird. Wir empfehlen Ihnen, Herr Bundeskanzler, sich mit Ihrem Kabinett für einige Tage in Klausur zu begeben, alle diese offenen, heute nicht genügend beantworteten Fragen zu diskutieren und dann endlich mit einem bündigen und klaren Konzept in der Sache anzutreten, das diese
Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch das große Thema der inneren Reformen behandelt, und sich nicht auf Polemik und Gemeinplätze zu beschränken, wie das heute leider der Fall war.
({28})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Dr. Schachtschabel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesen Ausführungen und nach der Stellungnahme des Herrn Bundeskanzlers wie auch nach den Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers erscheint es ratsam, auf einen Punkt einzugehen, von dem wir glauben, daß er gerade in der jetzigen Situation Bedeutung und Gewicht hat. Das erste, was ich vorausstellen und worauf ich aufmerksam machen möchte, ist, daß nicht nur seitens der Opposition - wie das im vergangenen Jahre zur Genüge geschehen ist - eine nachweisliche Verunsicherung eingetreten ist, sondern daß auch außerhalb der Opposition eine ganze Reihe Bemerkungen laut geworden sind, die das Anliegen, das klare und deutliche Anliegen der Bundesregierung in Frage zu stellen versuchen. Ich darf nur darauf aufmerksam machen - lassen Sie mich das zur Einleitung vielleicht bemerken -, daß vor nicht allzu langer Zeit davon gesprochen worden ist, die Bundesregierung betreibe eine „intellektuelle oder gar praktische Demontage der Marktwirtschaft", wobei ich glaube, daß alle diese Äußerungen und Bemerkungen bewußt oder unbewußt nur dazu dienen sollen, die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in Frage zu stellen, möglicherweise auch die Grundeinstellung zur Marktwirtschaft, wie dies ganz klar und deutlich vorhin vom Herrn Bundeskanzler akzentuiert worden ist. Ich glaube, es macht sich kaum jemand die Mühe, die klare und eindeutige Stellungnahme der Bundesregierung wie der SPD zur Marktwirtschaft hervorzuheben.
Da wir auch über das, was im Jahreswirtschaftsbericht über 1971 steht, hier noch zu sprechen haben, so darf ich auf Ziffer 72 aufmerksam machen, wo deutlich gesagt wird, daß „die Marktwirtschaft im sozialen Rechtsstaat nicht nur den ökonomischen Erfolg und eine hohe gesamtwirtschaftliche Effizienz" sichert, sondern „auch im Wirtschaftsleben den höchstmöglichen individuellen Freiheitsraum" erlaubt.
Wir haben vorhin durch ein paar Zwischenbemerkungen gehört, daß auch das, was in der Diskussion hier und draußen vor sich geht, immer wieder darauf ausgerichtet ist, der jetzigen Regierung, insbesondere der SPD, möglicherweise kollektivistische und zwangswirtschaftliche Tendenzen zu unterstellen. Ich glaube, daß das glatter Unsinn ist und daß man das unter Umständen sogar als offensichtliche Böswilligkeit zu bezeichnen hat.
Lassen Sie mich von den Beweisen schweigen, die ich dafür anführen könnte; denn ich glaube, daß es notwendig ist, auf einen Vorgang einzugehen. Wenn man die Entwicklung unserer Wirtschafts- und Konjunkturpolitik bis zum Jahre 1966 betrachtet, darf
man, meine Damen und Herren, doch nicht vergessen und nicht daran vorbeigehen. - es wird zu leicht und zu oft vergessen , daß damals nur ein Laissezfaire-Prinzip vertreten worden ist, während wir uns heute - und ich glaube, es ist in zunehmendem Maße festzustellen, daß es wirksam und durchgreifend angewandt wird mit einem wirtschafts- und konjunkturpolitischen Instrumentarium befassen. Zu diesem konjunkturpolitischen Instrumentarium gehört auch das, was im Sachverständigengutachten niedergelegt ist, und das, was wir im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung finden. Wir können dabei darauf aufmerksam machen - wie es heute morgen in der Rede des Herrn Bundeswirtschaftsministers deutlich wurde , daß wir ein bestimmtes, ja, ich möchte sagen, ein umfassendes einsatzbereites Instrumentarium zur Verfügung haben und diese Wirtschaft sehr wohl zu steuern in der Lage sind.
Wenn wir auf das, was vor uns liegt, nämlich auf das Jahr 1971, mit einigen Bemerkungen eingehen dürfen, können wir zuerst einmal feststellen, daß das Sachverständigengutachten und der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung in der Diagnose der konjunkturellen Situation im wesentlichen übereinstimmen. Mit Recht ist heute morgen darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Jahr 1970 ein Jahr wirtschaftlicher Höchstleistungen gewesen ist. Dabei konnten vor allem durch ein beachtliches Wachstum der Vollbeschäftigung die Arbeitsplätze derart gesichert werden, wie dies kaum zuvor jemals der Fall gewesen ist.
({0})
Niemand leugnet oder übersieht, daß die Entwicklung des Preisauftriebs - wir haben es gehört: 3,8 % - laufend beobachtet und mit wirksamen Mitteln begrenzt worden ist. Auf alle Fälle konnte durch die praktizierte Wirtschafts- und Konjunkturpolitik eine konjunkturelle Normalisierung in der Bundesrepublik Deutschland erreicht werden.
({1})
Diese Feststellungen werden vom Sachverständigenrat - ich verweise auf Ziffer 179 des Sachverständigengutachtens - eindeutig bestätigt, der zugleich auch den aufgetretenen Vorgängen im einzelnen nachgeht, worauf wir jetzt nicht näher abheben wollen. Aber auch im Jahreswirtschaftsbericht wird dazu Stellung genommen, und es wird die von der Bundesregierung vertretene Konjunkturpolitik überzeugend erläutert.
Meine Damen und Herren, es ist bemerkenswert, daß nunmehr, nachdem es im Verlauf des wirtschaftlichen Prozesses zu einer Normalisierung gekommen ist, nachdem für jeden erkennbar, eine Konjunkturnormalisierung eingetreten ist, die CDU/ CSU-Opposition in ein für sie peinliches Dilemma geraten ist. Noch im Herbst 1970 hat die Opposition jedes Zeichen einer konjunkturellen Normalisierung geleugnet. Sie hat zudem im November des vergangenen Jahres lautstark, aber ohne eigene konkrete Vorschläge weitere Bremsmaßnahmen gefordert. Jetzt aber fühlt sie sich bemüßigt, vor einer Rezession, vor einer Arbeitslosigkeit und vor einer
durchschlagenden Geldentwertung zu warnen, wofür sie gern den Ausdruck „Stagflation" gebraucht. Ich erinnere daran, daß Herr Dr. Stoltenberg diesen Ausdruck sehr wohl gebraucht hat und, wie ich glaube, damit zur Gruppe derer gehört, die weiter den Verunsicherungsprozeß betreiben.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist nicht nur ein peinliches Dilemma, sondern auch eine Taktik, die beweist, wie wenig es der Opposition um sachbezogene Kritik geht und wie sehr es ihr darauf anzukommen scheint, den eingeschlagenen Weg der Verunsicherung fortzusetzen und weiter Unruhe zu nähren.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf einen Punkt der Rede von Herrn Dr. Müller-Hermann eingehen, um dies an dieser Stelle abzusichern. Herr Dr. Müller-Hermann hat davon gesprochen, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz müsse vervollkommnet werden. Ich erinnere zuerst einmal daran, daß eine solche gesetzliche Grundlage einer wirksamen Konjunkturpolitik überhaupt erst durch sozialdemokratische Initiative ermöglicht worden ist.
({3})
Wir sind - das möchte ich Ihnen, Herr Dr. Müller-Hermann, zu Ihrem Trost sagen - bereit und willens, ja, wir sind schon an der Arbeit, derartige Dinge zu überdenken und zu überlegen.
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Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß im Zusammenhang mit all den Versuchen der Verunsicherung und zu all dem, was hier gegen die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik vorgebracht worden ist, gesagt werden kann und muß, daß die Bundesregierung eine eindeutige Position einnimmt, aus der eine klare Einstellung vor allem zur Wirtschafts- und Konjunkturpolitik für das Jahr 1971 resultiert. Ihre Haltung ergibt sich auch aus ihrer Jahresprojektion, die den erklärten Zielen eines weiteren angemessenen wirtschaftlichen Wachstums bei hohem Beschäftigungsstand und vor allem einer Verminderung des Preisauftriebs entspricht. In dieser Jahresprojektion ist wesentlich, daß das nominale Bruttosozialprodukt mit plus 7 1/2 bis 8 1/2% veranschlagt wird, wobei eine Arbeitslosenquote zugrunde gelegt wird, die sich auch 1971 unter 1 % hält. Die projektierte Preisentwicklung wird mit rund plus 3 % angegeben, woraus sichtbar wird, mit welchem Nachdruck die Bundesregierung den von ihr eingeschlagenen Kurs zur Stabilität des Geldwertes verfolgt.
({5})
Es wird von jedem sachlich denkenden Beurteiler zugegeben werden, daß bei dem genannten Wachstum das vorgesehene Einspielen auf 3 % einen beachtlichen Schritt darstellt, um zu einer entwicklungsadäquaten Stabilität des Geldwertes zu gelangen. Wir wollen dabei nie vergessen, daß wir im internationalen Verband stehen und daß wir
auch gewisse Wirkungen von draußen mit zu verkraften haben.
({6})
Es ist klar, daß, wie es auch in Ziffer 37 des Jahreswirtschaftsberichtes ausgedrückt wird, niemand eine absolut gesicherte Aussage darüber machen kann, wie schnell der Prozeß der konjunkturellen Entspannung fortschreiten wird. Sicher ist aber, daß in dieser Situation den preis- und lohnpolitischen Entscheidungen ausschlaggebende Bedeutung zuzumessen ist. In der Tat kann angenommen werden, daß dann, wenn die autonomen Gruppen die von der Bundesregierung vertretenen Orientierungsdaten zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen, das Risiko des Zielkonflikts zwischen Preisstabilität und hohem Beschäftigungsstand minimiert oder sogar völlig ausgeschaltet zu werden vermag. Deshalb ist es erfreulich und auch dankbar zu vermerken - wir sagen: dankbar zu vermerken -, daß die Bundesregierung am 22. Oktober 1970 Orientierungsdaten im Sinne des § 3 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachtums der Wirtschaft beschlossen hat ich zitiere wörtlich -, „die diese gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten für 1971 aufzeigen, ohne die Entscheidungsfreiheit der am Wirtschaftsprozeß Beteiligten anzutasten".
Das bedeutet die volle Beibehaltung marktwirtschaftlicher Prinzipien, das bedeutet volle Tarifautonomie und das bedeutet schließlich auch die völlige Ablehnung preisdirigistischer Maßnahmen. Das verlangt aber auch konjunkturkonformes Verhalten der autonomen Gruppen, wobei die Orientierungsdaten als Entscheidungshilfen im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung und als Grundlage gesamtwirtschaftlicher Verantwortung zu verstehen sind. Das gilt gleichermaßen für die Unternehmerschaft wie für die Organisationen der Arbeitnehmerschaft.
Wenn wir noch einen für die kommende Entwicklung des Jahres 1971 wesentlichen Punkt nennen dürfen, dann können wir sagen, daß neben dem damit eben angesprochenen Ziel der Stabilität im Sinne der Sicherung des Geldwertes das Ziel des Wachstums sowie der Sicherung der Vollbeschäftigung eine ausschlaggebende Rolle spielt. Es ist bekannt, daß für die Erreichung der Ziele die Investitionen bzw. die Investitionsneigungen eine maßgebliche Bedeutung besitzen. Im Jahreswirtschaftsbericht - ich verweise auf Ziffer 39 - wird angenommen, daß sich die Investitionsentwicklung 1971 deutlich verlangsamen wird, wobei festgestellt ist, daß die Investitionsgüternachfrage bereits seit einigen Monaten rückläufig ist.
Wenn berücksichtigt wird, daß die bereits erwähnten Investitionserleichterungen - Senkung der Investitionssteuer am 1. Januar 1971 um erstmals 2 % sowie Rücknahme der Aussetzung der degressiven Abscheibung in die Berechnung der Orientierungsdaten bereits einbezogen sind, so werden die Investitionsplanungen im Jahre 1971 eine Steigerung der nominalen Anlageinvestitionen um etwa 5 % bewirken. Diese Steigerungsrate bedeutet aber infolge der Preisentwicklung real, daß die industriellen Investitionen 1971 kaum noch zunehmen werden.
Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß für die Investitionsausgaben des gesamten Unternehmersektors ohne Wohnungsbau, von denen etwa ein Viertel auf die Industrie entfällt, mit einer etwas höheren Zunahme gerechnet wird. Es wird mit plus 6 bis plus 8 % gerechnet.
Schließlich werden nach den Angaben der Bundesregierung die Ausgaben für den Wohnungsbau voraussichtlich nicht mehr so stark expandieren wie im Vorjahr. Trotzdem werden die Wohnungsbauinvestitionen 1971 real stärker als im Vorjahr zunehmen.
Für die von der Bundesregierung vertretene Wirtschafts- und Konjunkturpolitik ist es klar, daß dann, wenn eine rückläufige Investitionsneigung im unternehmerischen Bereich konjunkturell gravierend werden sollte, die öffentlichen Investitionen nachhaltig zu steigern sind, um durch die sich ausbreitenden rezessiven Tendenzen nicht die Ziele der Verstetigung des Wachstums und der Vollbeschäftigung gefährden zu lassen.
An dieser Stelle sei noch einmal vermerkt und der Klärung wegen hervorgehoben: das sind Möglichkeiten und Instrumente, die effizient eingesetzt werden können, von denen in der vergangenen Zeit aber nicht einmal die Rede gewesen ist.
Meine Damen und Herren, auf den Fall, diese Mittel einsetzen zu können und einsetzen zu müssen, ist die Bundesregierung vorbereitet. Auch der Konjunkturrat für die öffentliche Hand hat die Jahresprojektion 1971 der Bundesregierung gebilligt und ist zu der Feststellung gelangt, daß die gegenwärtigen Ausgabeplanungen in Bund und Ländern den konjunkturpolitischen Erfordernissen entsprechen. Da eine prozyklische Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand verhindert werden muß, wie ausdrücklich betont wird, so müssen die vorgesehenen Zunahmen der öffentlichen Investitionen seitens des Bundes, der Länder und auch der Gemeinden gesichert werden. Über die Möglichkeiten des Bundes und der Länder besteht Klarheit. Wir haben auf die prinzipiell zur Verfügung stehende finanzielle Manövriermasse aufmerksam gemacht.
Nicht ganz so einfach sind die Verhältnisse für den kommunalen Bereich; ich bin dankbar, daß darauf eingegangen worden ist. Dazu in aller Kürze noch ein paar Hinweise. Durch die Finanzreform sind die Gemeindefinanzen im Jahre 1970 um 2,2 Milliarden DM ohne Stadtstaaten oder um 2,8 Milliarden DM mit Stadtstaaten verstärkt worden. Wenn ferner die durch die vorausgenommenen Gewerbesteuerbeträge eingegangenen Mehreinnahmen berücksichtigt werden - abgesehen von verschiedenen anderen bei der Berechnung erforderlichen Umrechnungen -, so beläuft sich der für 1970 anzunehmende Betrag der Verstärkung der Gemeindefinanzen durch die Gemeindefinanzreform
auf 3,2 Milliarden DM. Allerdings das ist die
gravierende Situation stehen diesen VerbesseDr. Schachtschabel
rungen Kostensteigerungen im Personalsektor wie bei den Investitionen gegenüber.
Ich will auf Einzelheiten nicht eingehen, begrüße es aber, daß man hier auf diese sehr beachtenswerte und durchaus zu überlegende Situation eingegangen ist. Denn nach dem Jahreswirtschaftsbericht 1971 hat die Bundesregierung ein Wachstum der Gesamtausgaben in Höhe von rund 11 1/2 % veranschlagt; ich verweise auf die Ziffern 56 ff. Danach würde sich im Jahre 1971 ein Nettofinanzierungsdefizit von rund 4 Milliarden DM ergeben. Diese Entwicklung - das wollen wir ganz offen aussprechen - kann aus heutiger Sicht durchaus als realistisch bezeichnet werden. Auf der anderen Seite steht das Problem an, zu dieser Situation ernsthaft Stellung zu nehmen. Auch in diesem Zusammenhang sind Vorbereitungen getroffen worden. So ist zur Behandlung der mit der erforderlichen Entwicklung der öffentlichen Investitionen zusammenhängenden Probleme eine Arbeitsgruppe des Konjunkturrates gebildet worden.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, wegen der abgelaufenen Zeit abschließen. Aus der gekennzeichneten Situation wird klar, daß die Bundesregierung für 1971, weil wir auch den Blick in die Zukunft richten müssen, eine höchst aufmerksame Position bezogen hat. Sie vertritt durchaus zu Recht eine flexible Konjunkturpolitik, wofür ihr nicht nur eine Vielzahl konjunkturpolitischer Maßnahmen, sondern auch eine finanzielle Manövriermasse von jetzt etwa 5,6 Milliarden DM, maximal sogar von mehr als 8 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Sie wird ihre konjunkturpolitischen Möglichkeiten zeitgerecht realisieren - dessen kann die Opposition sicher sein , so daß das Gerede und das Gemauschle über eine sogenannte Stagflation völlig gegenstandslos ist.
({7})
Wenn die Opposition ihre stagflatorischen Auffassungen weiterhin laut werden läßt, so braucht sie sich nicht zu wundern, daß ihr ein höchst unverantwortliches und höchst gefährliches Verhalten angelastet werden muß.
({8})
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
({0}).
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Das Wort hat der Abgeordnete Mertes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht und das Sachverständigengutachten hat heute vormittag einen Stand erreicht, der es meines Erachtens nicht mehr notwendig macht, den Blick zurückzuwenden. Die Bilanz ist gezogen, und das Ergebnis dieser Bilanz
ist für die Opposition dieses Hauses eindeutig
negativ.
({0})
- Herr Kollege, ich erwarte selbstverständlich nicht, wenn ich diese Feststellung treffe, daß Sie oder der Kollege Stoltenberg als prominente Mitglieder der Christlich-Demokratischen Union daraus etwas an christlicher Demut lernen.
({1})
Aber wie dein auch sei - danke, gleichfalls! - - ({2})
- Ja, bitte, warum denn nicht? Ich will ja Ihre Phantasie,
({3})
die in den letzten Monaten so gesprudelt hat, hier nicht einengen. Tun Sie sich keinen Zwang an!
Ich meine, daß heute morgen in der Debatte etwas Gemeinsames zum Ausdruck gekommen ist, nämlich die Tatsache, daß Übereinstimmung in allen drei Fraktionen dieses Hauses darüber besteht, daß das Jahr 1971 ein Jahr des konjunkturellen Übergangs sein wird.
({4})
Damit bietet sich, Herr Kollege Höcherl, für uns alle wiederum die Chance, die wirtschaftliche Entwicklung an einen Wachstumspfad heranzuführen, der an den mittelfristigen Orientierungsdaten ausgerichtet ist. Dieser Weg wird allerdings - und es wäre völlig falsch, das leugnen zu wollen - nicht frei von Risiken sein. Das macht übrigens auch der Jahreswirtschaftsbericht in der Ziffer 61 eindeutig klar. Ich bin froh darüber, meine Damen und Herren, daß diese Bundesregierung nicht versucht, die Situation in irgendeiner Weise schönzufärben.
Worin bestehen nun, Herr Kollege Höcherl, diese Risiken? Nun, wir stehen einerseits vor einer Situation der konjunkturellen Entspannung. In den letzten Monaten des Jahres 1970 haben sich die Beruhigungstendenzen bei der Nachfrage, insbesondere nach Investitionsgütern, ständig verstärkt. Die Auftragspolster sind zum Teil spürbar zurückgegangen, da die Neuaufträge dem Volumen nach den Ausstoß der Industrie unterschritten haben. Diese Abschwächung fördert die Entspannungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt und entlastet den Produktionsapparat. Da dieser Prozeß natürlich nach Branchen und Regionen unterschiedlich verläuft, machen sich vereinzelt bereits Unterauslastungen der Kapazitäten bemerkbar, während andererorts noch starke Anspannungen bestehen. Insgesamt jedoch - und das ist wichtig dürfte sich innerhalb des nächsten halben Jahres oder Jahres keine Abschwächung abzeichnen, die über ein Maß hinausgeht, das als Normalisierung anzusehen ist.
Meine Damen und Herren, andererseits wird an der Preis- und Lohnfront der Abkühlung des konjunkturellen Klimas kaum Rechnung getragen. Auch im dritten Vierteljahr 1970 hat sich die Spanne zwischen Lohn- und Produktivitätsentwicklung ver5230
größert. In der Gesamtwirtschaft stand einem Anstieg der durchschnittlichen Individualeinkommen von rund 15 % im Verhältnis zum Vorjahr ein Zuwachs der Produktion je Erwerbstätigen von nur 3 % gegenüber. Die Lohn- und Gehaltssumme lag um fast 18 % über dem Vorjahresniveau. Diese Entwicklung hat zweifellos den Kostendruck verschärft. Die Lohnkosten der Industrie je Produktionseinheit stiegen etwa um 13 %. Das hat dazu geführt, daß die Unternehmen ihren Spielraum für Preiserhöhungen zunächst voll ausgenutzt haben und schließlich einen Teil der Lohnerhöhungen durch Gewinneinbußen kompensieren mußten. Verfolgt man diese Entwicklung bis heute, so hat sich, so meine ich, substantiell nichts geändert, insbesondere wenn man an die jüngsten gewerkschaftlichen Lohnforderungen von über 20 % denkt, aber auch an die Bereitschaft in manchen Branchen, mehr oder minder bereitwillig auf diese Forderungen einzugehen, um ein Abwandern von Arbeitskräften zu verhindern.
Dieses Verhalten der Tarifpartner kann zu einer weiteren Reduzierung der Gewinnmarge führen und die Investitionsneigung nachhaltig gefährden. Ein Weiterführen des Verteilungskampfes in der bisher praktizierten Weise würde jedoch langfristig keinem zum Vorteil gereichen, da hierin der Kern einer neuen Rezession liegen kann.
Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Belastung für die Industrie, z. B. aus der Lohnfortzahlung, nach einem System, Herr Kollege Höcherl, das wir Freie Demokraten nicht wollten,
({5})
und aus der Veränderung der Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherung im Jahre 1970 8 Milliarden DM betrug. Beide Reformen - das sei ganz objektiv und ohne Wertung festgestellt - tragen also die Gefahr in sich, im gegenwärtigen Zeitpunkt prozyklisch zu wirken. Ich möchte deshalb eindringlich alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten auffordern, mitzuhelfen, mögliche Fehlentwicklungen zu vermeiden, d. h. bei allen Dispositionen, die in die Zukunft hineinreichen, nur das zu tun und nur das zu fordern und zu gewähren, was über den Tag hinaus marktgerecht ist, kurz, sich den Orientierungsdaten der Bundesregierung anzupassen.
Gerade die Freien Demokraten legen großen Wert darauf, daß die Bundesregierung klar aufzeigt, was sie im Interesse der Gesamtwirtschaft für sinnvoll und angemessen hält. Die Einsicht in gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und Folgen kann den Willen modifizieren. Denn realistische Politik hat mit Vernunft zu tun, und es kann nicht vernünftig sein, eine Lohn- und Preispolitik zu betreiben, die zu weiteren Preissteigerungen und schließlich zum Kollaps der Wirtschaft führt, d. h. zu einer wesentlichen Einschränkung der Beschäftigung.
Im Augenblick sehe ich den größeren Aktionsraum, auf Löhne und Preise einzuwirken und die Wirtschaft vor erheblichen Gefahren zu bewahren, bei den Tarifpartnern und nicht so sehr beim einzelnen Unternehmer oder Konsumenten. Die Tarifpartner müssen begreifen, was für die Wirtschaft
und den Arbeitnehmer auf dem Spiel steht. Wenn sich die Lohnpolitik nicht in den Grenzen der Orientierungsdaten hält, kann sehr schnell der Zeitpunkt kommen, daß die Arbeitsplätze gefährdet sind, es sei denn, meine Damen und Herren, es wird versucht, diesen Einschnitt noch ein wenig hinauszuschieben, das aber eben um den Preis der Aufgabe der Stabilität. Das ist noch niemandem gut bekommen.
Mit dieser Aufforderung, sich an die Orientierungsdaten zu halten, soll keinesfalls einem dirigistischen Eingriff in die Einkommensverteilung oder in die Verhandlungen der Tarifpartner das Wort geredet werden. Aber wir stehen heute nun einmal vor der Situation, daß die Gefahr eines konjunkturellen Abschwungs bei gleichzeitigen Preissteigerungen nicht völlig von der Hand zu weisen ist.
Wir sind dahin, meine Damen und Herren, durch die wirtschaftspolitischen Fehler - da bitte ich den Kollegen Stoltenberg zuzuhören - in den Jahren 1968/69 gekommen, wie es die Sachverständigen in ihrem Gutachten unter Ziffer 203 ausdrücklich feststellen, wo es heißt: Wir verkennen nicht, daß die wichtigsten Versäumnisse nicht im Jahre 1970 lagen, sondern in der frühen und mittleren Phase des Aufschwungs. - Ich bitte, das nicht zu vergessen.
({6})
- Aber Sie haben zu der Zeit fleißig mit den Heizer gespielt.
({7})
Auf Grund dieser Fehler sind Bundesregierung und Bundesbank heute auf ein vernünftiges Handeln beider Tarifparteien angewiesen.
({8})
- Die Ziffer 70 haben Sie, Herr Stoltenberg, hier heute bereits in einer Form vorgetragen, die ein völlig falsches Bild ergab, weil Sie diese Ziffer aus dem Zusammenhang gerissen haben. Ich würde die Zitate gern fortsetzen; aber Sie wissen, daß jeder Kollege die Möglichkeit hat, das nachzulesen, wenn er es nicht bereits getan hat. Wenn man alle Zitate bringen wollte, könnte die Redezeit nicht eingehalten werden.
Ich sprach davon, daß die Gefahr eines konjunkturellen Abschwungs bei gleichzeitigen Preissteigerungen nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Daher erscheint es mir notwendig, in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam zu machen, daß sich der immer wieder behauptete Kausalzusammenhang zwischen Konjunkturablauf und Geldentwertung nicht eindeutig nachweisen läßt. Tatsächlich ist eine Geldentwertung nicht mit Ausschließlichkeit an eine bestimmte Phase des Konjunkturzyklus gebunden. Es kommt nachweislich sowohl in der Hochkonjunktur wie in der Abflachung, im Aufschwung wie in der Stagnation zu Geldentwertungsprozessen.
Es tut gut, sich in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, wo das spezifische Instrumentarium liegt, mit dem die Geldwertstabilität gesichert werden kann. Dies ist doch wohl zweifellos bei der Bundesbank der Fall, während andererseits die Fiskalpolitik die besseren Ausgangsmöglichkeiten bietet, um ein eventuelles Abgleiten in die Rezession zu verhindern.
({9})
- Die Bundesbank hat alles getan, was in ihren Kräften stand;
({10})
das ist von uns Freien Demokraten ausdrücklich anerkannt worden. Der Bundesbank, Herr Kollege Müller-Hermann, gebührt dafür Dank. Das hat aber mit dem nichts zu tun.
({11})
- Herr Kollege Höcherl, ich habe eine grundsätzliche Feststellung getroffen, die meines Erachtens in die Überlegungen mit einbezogen werden muß, weil sie für eine Politik in diesem Fall unumgänglich ist. Aus dieser Feststellung ergeben sich gleichzeitig die Aufgaben für die kommende Konjunkturphase. Bei der Fiskalpolitik wird ein tendenziell expansives Verhalten notwendig sein. Diese Forderung wird durch die Haushalte, die Reduzierung der Investitionssteuer vom 1. Januar an, das Ende der Aussetzung der degressiven Abschreibung seit dem 31. Januar sowie das Auslaufen des Konjunkturzuschlags unterstützt.
({12})
Bei der Bundesbank hingegen - und jetzt ergibt sich nachträglich, daß Ihr Zuruf vorhin überflüssig war - müssen die gegenwärtig gezogenen Bremsen zunächst noch angezogen bleiben, da das Ziel der Geldwertstabilität noch gefährdet ist. Weder Preis-und Kostensituation bei den Vorprodukten noch die Entwicklung der Geldmenge gibt zu der Erwartung Anlaß, daß sich bei der Zuwachsrate der Verbraucherpreise in absehbarer Zeit ein merklicher Rückgang einstellen wird. Insbesondere, meine Damen und Herren, gibt die Entwicklung der Geldmenge immer noch zu Sorge Anlaß; denn es ist offensichtlich, daß es weder zu hohen Preis- noch Lohnsteigerungen kommen kann, wenn nicht eine Geldmengenexpansion vorausläuft, die es ermöglicht, die höheren Preise, Löhne und Kosten zu bezahlen.
In diesem Zusammenhang wiederum begrüße ich die klare Absage der Bundesregierung und des Sachverständigenrates an das Konzept einer relativen Geldwertstabilität. Käme es zu einem Abbau der Widerstände gegen die momentane Höhe des Kaufkraftverlustes der D-Mark, so würde über kurz oder lang jeder Marktteilnehmer eine Entwertung von 4 % antizipieren, und die Chance, Stabilität in einer absehbaren Frist auch nur annähernd wieder zu erreichen, wäre vertan.
Nicht nur die konjunkturpolitischen Ziele, sondern auch die wettbewerbspolitischen Ziele sind durch eine solche Politik gefährdet. Während der Aussprache zum letzten Jahreswirtschaftsbericht habe ich hier ausgeführt, welche Gefahren mit einer stetigen Geidwertverschlechterung für den selbständigen Mittelstand, insbesondere, wenn es sich um lohnintensive Betriebe handelt, verbunden sind. Dieser selbständige Mittelstand müßte letztlich an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, und von den vorgesehenen Maßnahmen zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen bliebe wenig übrig.
Werfen wir kurz einen Blick auf diesen Teil des Jahreswirtschaftsberichtes. Im Bericht des letzten Jahres hatte die Bundesregierung angekündigt, die Voraussetzungen für eine einheitliche und koordi- vierte Strukturpolitik zu schaffen. Durch die Verabschiedung der Grundsätze einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen im Dezember des vergangenen Jahres hat sie hierfür einen weiteren Baustein geliefert. Mit diesen Grundsätzen und dem angefügten Aktionsprogramm liegt nun, so meine ich, eine Globalkonzeption für die Mittelstandspolitik vor, die von Fall zu Fall, namentlich im Bereich des Aktionsnroaramms, einer konkreten Ausaestaltung bedarf. Dabei müssen auch die hier vorhandenen großen Unterschiede in den einzelnen Wirtschaftszweigen Berücksichtigung finden. Die in den Grundsätzen und im Jahreswirtschaftsbericht dargelegten Maßnahmen gehen davon aus, daß das Wesen der Mittelstandspolitik die Hilfe zur Anpassung an den wirtschaftlichen und technischen Wandlungsprozeß ist. Einer Erhaltuncaspolitik überlebter Strukturen um jeden Preis wird eine eindeutige Absage erteilt. Das schließt jedoch keineswegs die Intention aus, soziale Härten bei der Anpassung zu mildern.
Mit diesem Ausgangspunkt bekennt sich die Regierung auch in diesem Teilbereich des Jahreswirtschaftsberichtes klar und eindeutig zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Hier - das sei am Rande bemerkt - möchte ich ausdrücklich das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, das in der Ziffer 72 formuliert ist, begrüßen. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Opposition, daß damit endgültig die Stimmen verstummen, die diese Regierung und die sie tragenden Parteien am Rande einer sozialistichen Planwirtschaft ansiedeln wollen.
({13})
Erneuerung im liberalen Geist heißt unverzerrter Wettbewerb, Absage an dirigistische Eingriffe und an den Verwaltungsstaat, damit Stärkung des selbständigen Mittelstandes und als Folge davon vielfältiges Angebot und größere Freiheit der Konsumwahl. Diese von der FDP vertretene Politik der Verstärkung des Angebots ist zudem gleichzeitig in erheblichem Umfang Mittelstandspolitik, was sich in unseren Forderungen nach Verbesserung der Möglichkeiten zur Kooperation und Rationalisierung im mittelständischen Bereich ausdrückt, ferner in der Verbesserung und Erweiterung des Beteiligungsfinanzierungssystems, in der Unterstützung der ange5232
wandten Forschung, im Abbau wettbewerbsverzerrender Steuern und in der staatlichen Förderung des Sparens im Betrieb, um nur einige Aspekte aus diesem Bereich zu nennen, über die es sicher keine großen Meinungsverschiedenheiten gibt.
({14})
Erneuerung der Marktwirtschaft, Herr Kollege Müller-Hermann, im sozialen Sinne ist für uns Liberale schwerpunktmäßig auch die Politik der Bildung breitgestreuten. Vermögens und der Erweiterung des Freiheitsraumes des Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz.
Die Verbesserung der Vermögensstruktur ist aber nur ein Aspekt der Vermögenspolitik. Der andere Aspekt ist die Erhaltung und möglichst Steigerung der volkswirtschaftlichen Spar- und Investitionsquote. Das heißt in unserer Auslegung: Schaffung eines Klimas, in dem die Bildung neuen Vermögens auch sinnvoll ist. Das ist ein Zustand der Preisstabilität,
({15})
der Garantie der Eigentumsordnung, möglichst sicherer und optimistischer Erwartungen, kurz, ein Zustand gesellschaftlichen Gleichgewichts.
({16})
Nur so können wir erwarten, daß zunehmend private Vermögen in der Wirtschaft angelegt und gebildet werden, daß die Arbeitnehmer zu einem festen Rückhalt der Marktwirtschaft werden. Die Forderung der kommenden Jahre heißt also Steigerung der Produktivität; denn nur so werden wir das internationale Niveau halten und die Zukunft mit allen ihren großen Aufgaben bewältigen können.
Leider mußte man in den vergangenen Monaten immer wieder feststellen, daß die Opposition ohne guten. Grund versuchte, das Klima in der Wirtschaft bewußt zu verschlechtern.
({17})
In dem Rundschreiben eines Industrieverbandes las ich gestern den bemerkenswerten Satz: „Bisweilen scheint die psychologische Belastung schädlicher als die wirtschaftliche Lage zu sein."
({18})
Meine Damen und Herren von der Opposition, das sollten Sie sich einmal in Ihr Stammbuch schreiben; denn Sie waren in den vergangenen Monaten ja diejenigen, die sich immer wieder bemühten, die Wirtschaftsentwicklung zu dramatisieren. Sie waren diejenigen, die zum Schaden aller versuchten, eine Inflationsmentalität zu beschwören.
({19})
Damit haben Sie ständig versucht, die Preisentwicklung zusätzlich negativ zu beeinflussen. Sie wollten
durch Ihr Gerede eine Wirtschaftsentwicklung herbeiführen, die es Ihnen ermöglichte, nachträglich noch einen schlüssigen Beweis für Ihre falschen Behauptungen zu liefern.
({20})
Inzwischen hat sich gezeigt - auch heute morgen wieder -, daß Sie Position für Position aufgeben mußten
({21})
und daß aus Ihrer Schwarzmalerei noch nicht einmal parteitaktischer Nutzen zu ziehen ist.
Wir werden neue Prioritäten setzen müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Stark ({0})? - Bitte!
Herr Kollege Mertes, würden Sie dann auch sämtliche Wirtschaftsblätter, vor allem die „Süddeutsche Zeitung" und „Die Zeit", sowie die Berichte der Bundesbank in denselben Chor einreihen, die nämlich genau das gesagt haben, was wir in den letzten Monaten erklärt haben?
({0})
Ich glaube, Sie verwechseln hier etwas: Sie sollten sich lieber die Kommentare guter Wirtschaftsredakteure ansehen
({0})
und nicht nur Meldungen lesen, in denen das wiedergegeben wird und wiedergegeben werden muß, was Sie in diesem Hause und noch mehr außerhalb in Versammlungen fälschlicherweise behaupten.
({1})
Meine Damen und Herren, wir werden verstärkt Prioritäten setzen müssen. Solche Prioritäten sind u. a. Bildung und Forschung sowie der Schutz unserer Umwelt. Die dazu notwendigen Mittel müssen aufgebracht werden. Dafür gibt es nur zwei Wege: freiwilliges Sparen oder Zwangssparen. Mit dem letzteren meine ich die Steuerschraube. Wir sollten darauf bedacht sein, möglichst viele Aktivitäten im privaten Sektor zu belassen und den Stadt wirklich nur dort einzuschalten, wo aus privatem Interesse keine gesellschaftlich notwendigen Aktivitäten entfaltet werden. Sonst haben wir in einigen Jahrzehnten die große Masse des Gesamtvermögens der Gesellschaft in der Hand des Staates. Ich muß Ihnen sagen: mir graut vor einem solchen Gedanken.
Meine Damen und Herren, wir dürfen in der Bundesrepublik diesen Weg nicht gehen,
({2})
und wir müssen darauf hinwirken, daß auch unsere Partner in Westeuropa diesen Weg nicht gehen. Die westeuropäische Wirtschafts- und Währungsunion darf weder eine Inflationsgemeinschaft noch eine Gemeinschaft des Staatskapitals und staatlicher Dirigismen werden, sondern sie muß eine Gemeinschaft der Freiheit sein, die allen ihren Bürgern gleiche Chancen einräumt und die großen Aufgaben der Zukunft gemeinsam in Angriff nimmt. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sind die Vereinheitlichung des sozialen Leistungs-, Sicherungs- und Steuersystems, das den marktwirtschaftlichen Bedingungen gerecht werden muß, und die gemeinsame Meisterung des Schutzes unserer Umwelt durch eine abgestimmte westeuropäische Umweltschutzgesetzgebung, die nicht einseitig zu neuen Wettbewerbsverzerrungen in einem Land führen darf. Der Schutz des Menschen vor seiner eigenen Technik ist nicht nur Sache eines Staates, sondern das gemeinsame Anliegen aller Menschen auf dieser immer enger werdenden Welt.
Wir haben jahrelang und sicher nicht zu Unrecht wie fixiert auf die Sprengkraft der Atomwaffen gesehen. Heute wird uns täglich immer mehr bewußt, daß sich daneben eine neue Gefahr ausbreitet, nämlich die schleichende Verseuchung unseres Lebensraumes. Wir warten daher alle mit Spannung auf das Programm der Bundesregierung zum Schutz unserer Umwelt, das uns in einigen Monaten vorliegen soll und das uns hoffentlich in schonungsloser Klarheit die Situation und die erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Kosten darlegt, die dabei für den Staat und für die Wirtschaft anfallen.
Schließlich möchte ich betonen, daß alle diese Anstrengungen ohne eine konsequente Stabilitätspolitik zwecklos sind. Die Bundesregierung - das hat sie hier deutlich gezeigt - ist ebenfalls dieser Auffassung, und wir Freien Demokraten werden sie in dieser Politik unterstützen.
Lassen Sie mich mit einem Satz schließen, den ich ebenfalls dem Rundschreiben entnehme, aus dem ich bereits vorhin zitiert habe. Es ist der Schlußsatz dieses Rundschreibens, und darin heißt es - nun muß ich auch den Verband nennen -:
Solange die Metallgießereien bereit sind, nicht nur ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein, sondern auch das Interesse der Gesamtheit im Auge zu halten, wird unsere Branche die Belastungen und Spannungen dieser Zeit überstehen.
Ich meine, meine Damen und Herren, daß der Inhalt dieses Satzes gemeinsames Gut aller Politiker bei ihren Bestrebungen werden sollte, aber auch gemeinsames Gut der Unternehmer und der Gewerkschaften.
({3})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Pohle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat der Opposition heute morgen nicht das gute Recht
abgesprochen, Kritik zu üben und streitige Debatten herauszufordern. Dieses Recht nehmen wir in der Tat für uns als eine der vornehmsten Aufgaben der Opposition in Anspruch.
Der Herr Bundeskanzler machte maßgebenden Sprechern der Opposition zum Vorwurf, daß sie sich in der Beurteilung der Konjunkturlage des Jahres 1970 geirrt hätten. Ich habe nicht feststellen können, daß dieser Hinweis mit Unterlagen versehen wurde. Er trifft sicher nicht zu.
({0})
Alle Sprecher der Opposition haben übereinstimmend im Laufe des Jahres 1970 an Hand der vorliegenden Indikatoren immer wieder darauf hingewiesen, daß wir uns immer noch in einer überschäumenden Konjunktur befinden, und haben immer wieder Maßnahmen der Regierung in Richtung der Dämpfung gefordert. Ich habe keine andere Stimme in diesem Hause gehört. ({1})
- Zunächst muß die Regierung Maßnahmen ergreifen, lieber Herr Junghans, und nicht die Opposition. Das haben Sie selbst immer wieder gesagt, solange Sie in der Opposition waren.
({2})
- Anwendung des Stabilitätsgesetzes! Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen: Eventualhaushalt und anderes mehr.
({3})
- Zum Beispiel auch Antrag Drucksache 1025. - Überschäumende Konjunktur, aufschäumender Boom ohne Dämpfung auf der einen Seite und Geldentwertung und Preissteigerungsrate auf der anderen hängen aber unmmittelbar zusammen, wenn man einmal von dem Moderator Aufwertung im Jahre 1969 absieht. Dieser Moderator blieb aber ohne die berühmten flankierenden Maßnahmen für die innere Kosten- und Preisentwicklung.
Ich wiederhole: Die Opposition hat das Wort „Inflation" und auch die Erscheinung der Inflation nicht erfunden, und kein Angehöriger der Opposition hat jemals - das möchte ich auch dem Herrn Bundeskanzler ins Gedächtnis zurückrufen - an dieser Stelle oder sonstwo von einer galoppierenden Inflation gesprochen. Ich erinnere daran, daß mein Fraktionsfreund Strauß hier vor einiger Zeit eine Rede gehalten hat, in der er sehr wohl zwischen galoppierender und schleichender Inflation unterschied. Aber man muß das Wort „Inflation" auch für eine schleichende Geldentwertung anwenden, und daß eine solche Erscheinung zu verzeichnen ist, läßt sich überhaupt nicht leugnen. Das erfinden nicht wir von der Opposition. Das kann man in jeder Zeitung lesen und von jedem wirtschaftswissenschaftlichen Institut erfahren. Wir befinden uns also in der angenehmsten Gesellschaft. W i r haben die Inflation nicht erfunden, sondern wir weisen, unser Recht als kritische Oppositionspartei in Anspruch nehmend,
mit erhobenem Finger darauf hin, daß diese Erscheinung vorhanden ist und daß es in erster Linie Sache der Regierung ist, mit ihr fertig zu werden, zum Wohle des Ganzen.
({4})
Deshalb glaube ich auch nicht, daß die Hinweise auf 1966/1967 stimmen. Schon durch die Zwischenfrage meines Freundes Stoltenberg ist heute morgen - dem Herrn Bundeswirtschaftsminister gegenüber, wie ich mich zu erinnern glaube - klargestellt worden, daß der wesentlichste Unterschied zu 1966/67 darin liegt, daß die industriellen Erzeugerpreise damals um 1,7 % gestiegen waren, während sie heute um 6 bis 8 % gestiegen sind, ganz abgesehen davon, daß die Lebenshaltungskosten im Dezember ja nun die 4,3 %-Marke - ({5})
- Na gut, aber es waren jedenfalls nicht weniger. 4,1 % waren es im November, und wenn es jetzt 4 % sind, schwankt es also um die 4 %.
Dabei ist es ein magerer Trost, Herr .Junghans, wenn man einen internationalen Vergleich anstellt und sagt: Wir liegen ja immer noch ganz gut im Rennen; die anderen liegen ja viel schlechter.
({6})
Das ist nur ein sehr schwacher Trost.
Ich will Ihnen die neuesten Zahlen vorlesen, die ich soeben im Platow-Brief gelesen habe. Im PlatowBrief vom 1. Februar wird die gesamtwirtschaftliche Preissteigerungsrate für das Jahr 1970 gegenüber dem Jahr 1969 nach OECD für die Bundesrepublik Deutschland mit 7 1/2 % festgestellt. Sie können das auf Blatt 2 der Platow-Briefe nachlesen. Alle anderen Länder liegen darunter: Italien am höchsten mit 61/2 %, dann Schweden mit 6 %, und dann geht es herunter bis Kanada mit 31/2 %. Das bedeutet, daß unsere Hauptkonkurrenten auf den Weltmärkten, die industrialisierten Staaten, sämtlich unter dieser gesamtwirtschaftlichen Preissteigerungsrate liegen. Wenn Sie die realen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts hinzunehmen - auf Seite 1. bis Platow nachzulesen -, stellen Sie fest, daß die Bundesrepublik Deutschland in den internationalen Überlegungen bezüglich der Erwartungen für die Entwicklung von 1970 bis 1971 mit 21/2% am Ende der Skala steht - Japan mit 8 % weitaus an der Spitze. Diese Feststellung berechtigt Platow zu folgender Schlußfolgerung - ich darf das mit Genehmigung des Präsidenten zitieren -:
Einen großen Unsicherheitsfaktor der internationalen Konjunktur bildet der überall grassierende Inflationsbazillus. Alle Bemühungen, diese Krankheit einzudämmen, waren bislang wenig erfolgreich. Zu keiner Zeit seit der Währungsreform war die Schwindsucht des Geldwerts so galoppierend und so weltweit wie im letzten Jahr. Niemand konnte sich dieser Seuche entziehen ... Wichtigstes Ergebnis der Tabelle ist: Die Bundesrepublik liegt in der Teuerung an erster Stelle. Mit 7 1/2 % wurde auch ein trauriger Rekord seit der Korea-Krise
erzielt, obwohl die D-Mark aufgewertet wurde. Die Länder mit der größten Stabilität waren Holland, die Schweiz und Kanada.
({7})
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in diesem Zusammenhang Elemente der Unsicherheit bestritten. Ich möchte darauf mit zwei Worten eingehen: Auch diese Unsicherheit, Herr Mertes, ist ja nicht von der Union erfunden worden.
({8})
Es wäre, glaube ich, wohl auch eine Blasphemie, die Unternehmungen und die Wähler draußen für so urteilslos zu halten, daß sie alles glauben, was ihnen die böse Union erzählt. Vielmehr schöpfen wir unser Wissen daher, daß wir mit den Leuten draußen sprechen. Dort sind die Unsicherheitselemente vorhanden; das läßt sich überhaupt nicht leugnen. Ich gebe Ihnen zu: es sind nicht nur ökonomische, sondern es sind auch psychologische Erwägungen, die dabei eine Rolle spielen. Herr Müller-Hermann hat heute morgen auch ein Zitat zu diesem Punkt gebracht.
Diese Verunsicherung hält an, und sie wird ganz bestimmt genährt durch gewisse Dinge, die ununterbrochen auf uns einströmen. Es gibt solche und solche Stimmen. Der SPD-Parteivorstand hat vor nicht allzu langer Zeit ein Flugblatt herausgegeben, dessen Schlußsatz lautet: „Wir wissen, was wir wollen: SPD". In dem gleichen Flugblatt liest man davor: „Warum wir uns das Geld für Reformen nicht zusammenstreichen lassen! - Weil es um Ihren Lebensstandard geht."
Herr Abgeordneter Pohle, gestatten Sie eine eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schachtschabel?
Bitte schön!
Herr Kollege, darf ich die Frage stellen, ob Sie wissen, daß doch eine ganze Reihe von derartigen Bemerkungen aus Ihren Kreisen gefallen ist. Ich zitiere nur die Zeitung „Die Welt" vom 26. August 1970, in der Herr Stoltenberg darauf hinweist, daß Schwierigkeiten und sogar inflationäre Prozesse eintreten. „GeneralAnzeiger" vom 2. Oktober 1970:
Der CDU-Sprecher Weiskirch erklärte in Bonn weiter, die inflatorische Entwicklung in der Bundesrepublik werde durch den von der Bundesregierung vorgelegten 100-Milliarden-Haushalt weiter angeheizt.
({0})
So geht es noch weiter. Herr Stoltenberg am 4. Oktober 1970 in der „Welt am Sonntag". Ich bitte das nachzulesen.
Herr Kollege, es ist mir natürlich bekannt, daß es solche Äußerungen gibt. Selbstverständlich ziehen meine Fraktionskollegen
und ich aus dem, was draußen gesprochen wird, die Nutzanwendung, indem wir dann das, was uns nicht gefällt, in der Öffentlichkeit und in diesem Hohen Hause zur Sprache bringen und tadeln.
Herr Dr. Pohle, gestatten. Sie eine zweite Zwischenfrage?
Bitte schön!
Ich möchte nur einen Beweis anführen. Ist Ihnen bekannt, daß am 4. Oktober 1970 gesagt worden ist, es bestehe die Gefahr, daß bald die Zinsen für einen Teil der älteren Anlagen nur noch den. Geldwertschwund deckten, also keinen echten Vermögensbetrag mehr darstellten?
({0})
Ist Ihnen andererseits die tatsächliche Entwicklung bekannt, daß die Sparquote 1969 12,4 % und 1970 12,1 % betragen hat?
Ich wußte nicht, Herr Kollege, daß man wahre Tatbestände nicht der Presse anvertrauen und nicht öffentlich von sich geben kann.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stoltenberg?
3)
Herr Kollege Pohle, sind Sie vielleicht in der Lage, dem Herrn Kollegen Schachtschabel den bedeutenden Unterschied von meinem Hinweis auf inflationäre Prozesse und dem Hinweis des Kollegen Schiller von heute morgen auf inflationäre Syndrome klarzumachen?
({0})
Ich glaube, ich brauche mich nach dieser Frage nicht selbst der mühevollen Aufgabe zu unterziehen, diese Unterschiede herauszuarbeiten. Sie sind heute morgen in der Debatte klar zum Ausdruck gekommen.
Meine Damen und Herren, ich sprach gerade von der Verlautbarung der SPD. Ich möchte jetzt in der Betrachtung fortfahren, ob diejenigen, die die Sätze, die ich vorgelesen habe, formuliert haben - es ging um die Sätze: „Warum lassen wir uns das Geld nicht für die Reformen zusammenstreichen? Weil es um Ihren Lebensstandard geht!" -, wirklich wissen, was sie geschrieben haben oder was sie wollen.
In dieser Schrift heißt es weiter, wir, die CDU! CSU, seien gegen die Reformen. Ich möchte hier in diesem Hohen Hause noch einmal mit aller Entschiedenheit festhalten: die CDU/CSU ist für Reformen - sie hat das immer bewiesen -, aber für durchdachte Reformen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel.
({0})
Wir sind gegen Luftschlösser, wir sind gegen leere Versprechungen, und wir sind gegen eine unsolide und inflationistische Politik.
({1})
Nicht die CDU/CSU oder die geheimnisumwitterte Fünfte Kolonne haben die Mittel für innere Reformen zusammengestrichen, sondern das hat diese Regierung mit ihrer widerspruchsvollen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik selbst fertiggebracht. Auf Grund des Zurückgehens privater Investitionen - darauf komme ich gleich zu sprechen - und auf Grund exorbitanter Preissteigerungen wird die öffentliche Investitionstätigkeit trotz mehr Geld in einigen Schwerpunktbereichen volumenmäßig kleiner sein als in den Vorjahren.
({2})
Das aber hat diese Regierung und nicht die Opposition zu verantworten. Darüber steht in diesem Flugblatt kein Wort.
Ich möchte hier noch eine andere Stimme im Zusammenhang mit dem oft genannten Vertrauen zitieren. Diese Stimme findet sich in der „Rheinischen Post" vom 2. Februar. Dort wird eine Auslassung von Herrn Joachim Steffen zitiert. Mit Genehmigung des Präsidenten möchte ich diese Passage vorlesen. Sie lautet:
Der Faschismus von heute wird nicht mehr in den Gewändern von gestern auftreten. Die Gefahr von heute sind nicht die Altnazis, unabhängig von ihrem Alter. Die Gefahr von heute sind jene, die Wirtschaft und Gesellschaft allein nach dem Interesse der Profitmaximierung gestalten wollen. Ihre SS trägt keine schwarzen Uniformen und errichtet keine Konzentrationslager. Ihre SS heißt Strauß und Springer und will deutsche Kapitalherrschaft in der EWG und ungestörte Meinungsmache,
({3})
beides mit dem Finger am Abzugsbügel atomarer moderner Raketen. Man kann nicht mit Totalitären den Totalitarismus bekämpfen, und man kann Ungeist nicht mit geistigen Waffen schlagen. Wer die Selbstbestimmung des Menschen in Freiheit verficht, ist in der Wahl seiner Verbündeten nicht frei, und er darf sich in dem Konflikt, der sich auf die Unmenschlichkeit bezieht, nicht vor dem physischen Kampf scheuen.
({4})
So weit Jochen Steffen. Es handelt sich also nicht um irgendeinen Juso, sondern es handelt sich um Herrn Steffen aus Schleswig-Holstein.
({5})
Ich zitiere das nicht, um hier einen Zwist zu säen, sondern um zu beweisen, daß mit solchen Stimmen das notwendige Vertrauen zur Stärkung der Investitionen nun einmal nicht zu erreichen ist.
({6})
- In diesem Fall nützt das Bekenntnis zur Marktwirtschaft überhaupt nichts. Da haben Sie völlig recht, Herr Müller-Hermann,
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat auf die volkswirtschaftliche Ausschüttung der sogenannten volkswirtschaftlichen Dividende verwiesen. Das ist natürlich richtig. Aber man muß im selben Atemzuge doch hinzufügen - und ich danke, daß die Herren Kienbaum und Mertes das erwähnt haben; das ist ein ganz wesentlicher Punkt --, daß die labile Lage, in der wir uns befinden, darauf zurückzuführen ist, daß im Laufe des Jahres 1970 eine katastrophale Verschlechterung der Erträge eingetreten ist, eine geradezu katastrophale Verschlechterung der Ertragslage in vielen Branchen. Das ist auch heute in diesem Hohen Hause in der bisherigen Diskussion mit Ausnahme der Hinweise meiner Kollegen Müller-Hermann und Stoltenberg nicht genügend zum Ausdruck gekommen.
Dieser Indikator steht natürlich in keiner Statistik, weil sich das erst in den Monatsbilanzen der Unternehmen, die nicht veröffentlicht sind, niederschlägt. Aber wer sie verfolgt, weiß, daß die gesamte Wirtschaft eine rückläufige Bewegung aufweist, weil die Unternehmen eben nicht mehr in der Lage sind, die Kosten zu verkraften. Wenn der Markt höhere Preise nicht hergibt wir verzeichnen ja dennoch alle die beklagenswerte Preissteigerung -, macht sich das bei den Erträgen bemerkbar. Was folgt daraus? Daraus folgt, daß zu der mangelnden Investitionsneigung großenteils auch ein mangelndes Investitionsvermögen hinzukommt. Und davor fürchten wir uns. Wir wollen keine Rezession; niemand in diesem Haus will sie. Aber wenn wir die Dinge treiben lassen, werden wir einer Rezession entgegengehen. Und man hat die Dinge bis zu dem Augenblick treiben lassen, in dem die Regierung im Jahreswirtschaftsbericht erstmalig ein Orientierungsdatum setzte und erstmalig mit ernsten Worten zu diesen Fragen Stellung nahm. Das ist im Laufe des Jahres 1970 unbestrittenermaßen nicht geschehen.
ich wehre mich deshalb gegen das böse Wort des Herrn Bundeskanzlers, von einer Drohung mit der Rezession zu sprechen.
({7})
Niemand in diesem Hause will eine Rezession.
({8})
- Niemand will Rezession, genausowenig wie Inflation. Aber man soll niemandem unterstellen, daß solche Absichten bestünden, wenn man sich mitten im Umbruch von einer überschäumenden Konjunktur in eine Lage befindet, in der plötzlich mangels Erträgen und mangels Vertrauen nicht mehr investiert wird. Mit dieser Lage muß man fertig werden, mit dieser Lage muß die Regierung fertig werden und nicht die Opposition.
({9})
Wir haben schon lange Konjunkturmaßnahmen gefordert. Wir haben sie im Laufe des Jahres 1970 gefordert, wir haben sie im vorigen Winter gefordert. Die einzigen, die sie im Regierungslager offenbar wollten, konnten sich nicht durchsetzen.
Das waren nämlich der Herr Bundeswirtschaftsminister und sein damaliger Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Arndt; ich untersuche nicht, aus welchen Gründen. Das ist heute morgen zur Sprache gekommen. Im Februar wäre Zeit gewesen, zu handeln. Damals hatte die Bundesregierung aber Steuersenkungs- und nicht Steuererhöhungspläne zur Steuerung der Konjunktur. Erst als das ausgeräumt war, nämlich nach den nordrhein-westfälischen Wahlen, wurde das Ruder herumgeschwenkt: plötzlich wurden Konjunkturzuschläge verhängt.
({10})
Zu diesem Zeitpunkt waren aber dreiviertel Jahre, Herr Junghans, verstrichen, vertan. Man muß handeln, solange sich die Konjunktur aufwärts bewegt und nicht, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat. Das ist eine Binsenweisheit, die gerade die beiden Herren, die ich genannt habe, am allerehesten kennen.
Ich möchte mir ersparen, auch noch auf die Gebührenerhöhungen und die Hypotheken-Zinserhöhungen zu sprechen zu kommen, die gerade heute durch die Presse geistern; insbesondere Gebührenerhöhungen bei den Gemeinden.
({11})
Der Bundeskanzler hat den Haushalt betrachtet. Ich will über den Haushalt 1971 nicht sprechen. Wir haben morgen und übermorgen Gelegenheit, über diesen Haushalt lange zu diskutieren. Der Haushalt 1970 ist ausgeglichen. Der Ausgleich ist durch genau die 2 Milliarden DM ermöglicht worden, die vorher von uns im Haushaltsausschuß beantragt worden waren. Es ist aber unrichtig, Herr Junghans, wenn Sie behaupten, die Opposition habe ausgabewirksame Initiativen ergriffen. Sie haben dazu die Kriegsopfer, die Besoldung und dergleichen angeführt. Herr Junghans, ich erinnere Sie an den gemeinsamen Beschluß dieses Hauses, herbeigeführt durch die Initiative unseres Fraktionsvorsitzenden Dr. Barzel, daß diese ausgabewirksamen Initiativen samt und sonders - mit Ausnahme gerade der Gebiete, die Sie genannt haben - bis zur Einreichung des Haushalts 1970 zurückgestellt werden sollten.
({12})
Das war keine Forderung. Wir haben die ausgabewirksamen Initiativen samt und sonders zurückgestellt. Aber Sie haben Kriegsopfer und Besoldung erwähnt. Das waren gerade die Gebiete, die wir gemeinschaftlich in diesem Hause in einer Entschließung ausgenommen haben.
({13})
Die Opposition, meine Damen und Herren, hat die Verpflichtung -
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Porzner?
Herr Porzner!
Herr Pohle, hat Ihre Fraktion nicht einen Gesetzentwurf zur Förderung des Zonenrandgebietes vorgelegt, der mindestens 1,1 Milliarden DM Mehrausgaben verursacht, auch ohne daß Sie sich überlegt hatten, woher Sie die Mittel nehmen wollen, ob Sie die Steuern eventuell erhöhen oder welche Ausgaben Sie kürzen würden?
Der Entwurf über die Zonenrandförderung, Herr Porzner, ist mir bekannt. Aber er ist unter dem Vorbehalt eingereicht worden, zunächst im Rahmen der Fraktionen des Bundestages darüber zu sprechen, ob Möglichkeiten bestünden, diese Ausgaben aus dem Haushalt zu decken, nur unter diesem Vorbehalt! Das wissen auch Sie ganz genau.
({0})
Im übrigen hat der Herr Bundeskanzler von dem großen Reformprogramm gesprochen. Unsere große Anfrage wird am 26. Februar behandelt. Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß der Herr Bundeskanzler der Ansicht ist, daß die Regierungserklärung in diesem Punkt hätte konkreter und präziser gefaßt sein können. Das war, glaube ich, wörtlich sein Ausdruck. Dies ist eine Einsicht; aber gute Einsichten kommen natürlich niemals zu spät. Ich darf nur darauf hinweisen, daß die Sprecher der Opposition schon damals darauf hingewiesen haben, daß es ein illusionäres Programm sei und daß Prioritäten gesetzt werden müßten. Wir sind deshalb auch sehr befriedigt, daß der Herr Bundesfinanzminister fünf Vierteljahre später nun auch zu der Ansicht gekommen ist, daß die Programme in dieser Form Illusionismus seien.
({1})
- Zu spät.
Niemand - das darf ich gleich hinzufügen, auch an ein Wort des Herrn Bundeskanzlers anknüpfend -, denkt daran, einer gesellschaftspolitischen Anspruchslosigkeit das Wort zu reden;
({2})
das hat er heute morgen gesagt. In einer Gesellschaft, die sich seit 1949 ununterbrochen zum Wohl des einzelnen entwickelt hat - zugegeben, daß viele Aufgaben noch unbewältigt sind -, wirkt dieses Wort von einer gesellschaftspolitischen Anspruchslosigkeit wirklich leicht blasphemisch.
({3})
Ich möchte noch ein Wort zu dem Kollegen Kienbaum sagen. Er hat beachtenswerte Vorschläge gemacht, und Herr Mertes hat sich diesen Vorschlägen teilweise angeschlossen. Dabei haben sich beide Herren auf die vorzüglichen Darlegungen des Jahreswirtschaftsberichts über die soziale Marktwirtschaft, insbesondere die Ziffern 70 und 71, bezogen. Herr Kienbaum, Sie müssen Ihre Vorstellungen in erster Linie an die Regierung und nicht an ¡die Opposition richten. Die Regierung hat ja die Administrative in der Hand, und die Regierung kann von Ihren wertvollen Gedanken - Angebotsstärkung, Appell an die Tarifpartner und dergleichen - sicherlich in ganz anderem Maße Gebrauch machen, als die Opposition das kann. Deshalb danke ich Ihnen für diese Worte und bitte Sie, diese Worte an die Regierung zu richten.
({4})
Ich freue mich, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister heute noch einmal das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft bekräftigt hat. Das hätte ich auch von ihm nicht anders erwartet. Ich darf mir aber doch erlauben, noch einmal hier in aller Form festzuhalten, daß die soziale Marktwirtschaft schon Allgemeingut der Union war, als von der sozialdemokratischen Seite noch niemand daran dachte, sich auf dieses Pferd zu setzen.
({5})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Der Streit, wann hätte gehandelt werden müssen, führt zu der tiefer liegenden Frage: Welche Rolle spielt eigentlich die antizyklische Globalsteuerung im konjunkturellen Auf und Ab? Erfüllt sie ihren Anspruch, die Konjunkturausschläge zu glätten, oder aber bewirkt sie das Gegenteil? Ich möchte nicht Zitate aus der Wissenschaft bringen, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Offensichlich hat die traditionelle Konjunkturpolitik Konsequenzen, die mit ihrer Zielsetzung nicht in Übereinstimmung stehen. Eine entscheidende Voraussetzung der bisher praktizierten Konjunkturpolitik ist es, daß sie erst dann eingreift, wenn der Schaden schon eingetreten ist und deutlich wahrnehmbar ist.
Man muß sich nach den bisher gemachten Erfahrungen in der Tat ernsthaft die Frage stellen, ob dieser Ansatzpunkt ausreicht. Besser und wichtiger wäre es zweifellos, wirtschaftliche Ungleichgewichte erst gar nicht entstehen zu lassen - das ist genau das, was wir unmittelbar nach der Regierungserklärung hier schon geäußert haben - oder bereits in ihrer Entstehung zu bekämpfen und nicht erst dann, wenn sich das Ungleichgewicht in voller Breite mit Kosten-, Lohn- und Preisexplosionen durchgesetzt hat.
Würde man von dieser Zielsetzung ausgehen, ergäben sich für die staatliche Wirtschafts- und Fiskalpolitik mehrere Schwerpunkte, die eine deutliche Akzentverschiebung kennzeichnen.
Erstens. Der Staat muß in seinem Finanzbereich für Stetigkeit sorgen. Eines ist ohne das andere nicht denkbar, gleichgültig, wieviel man darüber sinnieren mag, ob die Fiskalpolitik ein Hilfsmittel der Konjunkturpolitik ist oder nicht. Das heißt, entgegen der bisherigen Praxis müßten die öffentlichen Ausgaben und die öffentlichen Investitionen in ihrem Wachstum am gesamtwirtschaftlichen Produktionsvolumen konsequent ausgerichtet sein und nicht hin- und herschwankend.
Zweitens. Es müssen Methoden entwickelt werden, um die eigentlichen gesetzlichen Veränderungen des Geld- und Kreditvolumens wirksamer als bisher zu beeinflussen. Auch hier muß das Ziel eine Verstetigung des Geld- und Kreditvolumens durch
Anpassung des Geldvolumens an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Beeinflussung seiner Umlaufgeschwindigkeit sein. Das ist zweifellos nicht geschehen; man weiß, daß das Geldvolumen inzwischen die stattliche Milliardensumme einschließlich der Sichtverbindlichkeiten unter drei Monaten von 131,4 Milliarden DM im November 1970 erreicht hat, ein Plus von 20 % gegenüber dem Vormonat und gegenüber einem viel geringeren Plus des Zuwachses des Bruttosozialprodukts. Ein großes Geldvolumen ist immer das Zeichen dafür, daß Geld im Lande herumvagabundiert, und ist immer ein Zeichen nicht etwa für einen hohen Vermögensstand eines Volkes, sondern dafür, daß hier inflatorische Tendenzen obwalten.
({6})
Heute wissen wir, daß die Bekämpfung einer eingetretenen Rezession technisch und vor allem politisch verhältnismäßig leicht ist, daß jedoch die Wahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts im Aufschwung schwieriger und für eine entscheidungsunwillige oder entscheidungsunvermögende Regierung nahezu aussichtslos ist.
Am leichtesten sind jedoch die Bestimmungen des § 2 des Stabilitätsgesetzes zu erfüllen, nämlich die Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts, und an diesen Punkt halten wir uns heute. - Bitte, Herr Porzner!
Herr Pohle, sind Ihre Ausführungen zum Geldvolumen so zu verstehen, daß die CDU/CSU jetzt für eine restriktive Geldpolitik plädiert?
Nein, das will ich nicht sagen. Wir sind dafür, daß alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden, die der Bundesbank mil denen der Regierung und der Fiskalpolitik, und dann muß eine konzertierte Aktion in der Geld- und Kreditpolitik einsetzen.
({0})
- Von heute auf morgen läßt sich das überhaupt nicht machen, Herr Porzner. Aber man muß darauf sehen, daß sich das Geldvolumen nicht unmäßig vergrößert. Bisher hat sich die Vergrößerung des Geldvolumens an die Steigerung des Bruttosozialprodukts gehalten. Diese Grenze ist verlassen, und das ist ein Warnzeichen, das ist ein Signal.
Meine Damen und Herren, heute ziehen wir in Erfüllung der gesetzlichen Bestimmung des § 2 des Stabilitätsgesetzes die Bilanz, indem die reale Entwicklung kritisch der im Sachverständigengutachten und im Jahreswirtschaftsbericht niedergelegten Ausdeutung gegenübergestellt wird. Reicht es aus, staatlicherseits erst dann Aktionsversuche zu starten, wenn eine Gefahr für das wirtschaftliche Gleichgewicht bereits vorliegt? - Die Ergebnisse zeigen, daß diese Frage nicht mit Ja beantwortet werden kann. Denn das Ziel der Konjunkturpolitik ist es nicht, erst dann einzugreifen, wenn die Ungleichgewichte bereits bestehen, sondern, ihre Entstehung zu verhindern. Unsere heutigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen sind von großem Gewicht. Was vor einem Jahr an konjunkturpolitischen Indikatoren vorhanden war, trifft für dieses Jahr nicht mehr zu. Ich möchte keine amtlichen Zahlen nennen, darf aber darauf hinweisen, daß die Zielprojektionen, die nicht von uns, sondern von der Bundesregierung gegeben worden sind, samt und sonders nicht eingetroffen sind. Auch die Prognose im Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht, also die amtliche Korrektur der Jahresprojektion, hat die tatsächliche Entwicklung nicht getroffen. Das Ergebnis ist: Zwischen Annahmen und realer Entwicklung einzelner Indikatoren klaffen so erhebliche Abweichungen, daß sie als Entscheidungshilfe mehr Unheil als Nutzen stiften. Früheren Projektionen erging es nicht viel besser. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, daß die Wahrscheinlichkeit, den konjunkturellen Wendepunkt noch vor dem Umbruch vorherzusagen, im Durchschnitt unter 50 % liegt. 75%ige Wahrscheinlichkeit erreichen die Prognostiker erst drei bis vier Monate nach - ich wiederhole: nach - dem Umbruch. Eine annähernde Sicherheit, nämlich zu ungefähr 90%, ist erst im fünften und sechsten Monat nach dem tatsächlichen Ereignis gegeben.
Die Fehlerhaftigkeit von Prognosen und ihre nicht quantifizierbaren Auswirkungen auf wirtschaftliche Dispositionen stellen also, solange keine besseren Methoden vorliegen, für die Wirtschaftspolitik kaum kalkulierbare Risiken dar. Daran wird deutlich, auf welches Abenteuer sich eine Regierung einläßt, die ihre Politik auf einem derartigen Zahlenwerk aufbaut. Darüber hinaus hat der Staat nicht einmal sich selbst in der Hand, um die Annahmen für den eigenen Bereich zu erfüllen. Das zeigt der Satz in Nr. 31 des Jahresberichts, wo es heißt:
Die gesamten staatlichen Bruttoinvestitionen in jeweiligen Preisen nahmen mit 241/2 % mehr als doppelt so stark wie nach der Jahresprojektion zu.
Meine Damen und Herren, die Politik der Bundesregierung kann nach allem nicht unsere Zustimmung finden. An die Stelle von Sicherheit und Vertrauen ist - aber nicht durch die Schuld der Union - Unsicherheit und Mißtrauen getreten. Diese Bundesregierung steht nämlich in einem schweren Konflikt. Sie steht vor der Aufgabe, jetzt gleichzeitig das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen und ihre Reformprogramme in irgendeiner Form zu retten. Trotz mehr Steuereinnahmen in Milliardenhöhe - die Steuerschätzungsfrage will ich hier nicht auch noch anschneiden; sie hat uns im Finanzausschuß beschäftigt - reicht das Geld nicht aus; eine zwangsläufige Folge von Unstabilität und mangelnder Solidität.
Eine Wirtschafts- und Konjunkturpolitik, meine Damen und Herren, die auf eingebauten Fehlern aufbaut, ist von ihrem Ansatz her bereits mit vielen Fragezeichen zu versehen. Sie steht in der ständigen Gefahr, daß durch verspätete Maßnahmen, durch eine nicht richtig dosierte, falsche oder unterlassene Mittelkombination aus der antizyklischen Steuerung ein prozyklischer Verstärkungsfaktor erster Ordnung wird, der die Ausschläge verstärkt und damit genau das Gegenteil von dem Erstrebten erreicht. Die Wirtschaftspolitik aus einem Guß, die
Wirtschaftspolitik der Rationalität einer aufgeklärten Gesellschaft und in ihrem Gefolge die Konjunkturpolitik versprechen mehr, als sie leisten. Sie gleichen einem ungedeckten Scheck. Wer ihnen blindlings vertrauen wollte, wäre nicht allzu gut beraten.
Lassen Sie mich mit einem Zitat schließen, meine Damen und Herren, einem Zitat, das aus dem Munde des verehrten Herrn Bundeswirtschaftsministers besonders glaubwürdig klingt. Es ist vom Februar 1969 und lautet:
Unser kategorischer Imprativ heißt: Wahrung der Stabilität des Preisniveaus. Wir werden wohldosiert und wohlabgestuft, sanft und gleitend gegensteuern. Die Werkzeuge liegen griffbereit.
Das ist ein gutes Wort.
Ich unterschreibe es Satz für Satz und bemerke abschließend lediglich, daß damals, als dieses Wort gesprochen wurde, die am Lebenshaltungskostenindex gemessene Geldentwertungsrate genau 2,2 % betrug.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Kater.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit großer Aufmerksamkeit, allerdings auch mit zunehmender Anteilnahme, muß ich gestehen, bin ich den bisherigen Beiträgen der Sprecher der Opposition gefolgt. In Anbetracht dessen, was Sie noch vor kurzem in Düsseldorf auf Ihrem so reformfreudigen Programmparteitag der CDU, Herr Pohle, als wirtschaftspolitische Alternative zur Koalition angekündigt haben, bin ich allerdings heute bisher ein wenig enttäuscht worden. Ich kann, wenigstens bisher, zu den Aussagen der Oppositionsredner nur den Ausspruch zitieren: Eine positive Rückkopplung oppositioneller Strömungen in politische Innovation findet hier nicht statt.
Meine Damen und Herren, alle Sachkundigen, selbst Prominente CDU-Wirtschaftspolitiker - ich unterstreiche das -, sofern sie nicht die Absicht haben, die Situation zu dramatisieren und politisch auszuschlachten, haben festgestellt, daß der Boom überwunden ist und daß auch kein Anlaß besteht, zu befürchten, es müsse nun unbedingt eine Talfahrt in die Rezession angetreten werden. Die Auftragsbestände in fast allen Wirtschaftszweigen sind auch jetzt noch relativ hoch. Vor allem dort, wo man aus übermäßigen Spannen und hohen Absatzerwartungen im In- und Ausland den Markt überschätzt oder Fehlinvestitionen vorgenommen hat, haben sich Lager angehäuft und wird die Produktion der Nachfrage angepaßt, indem man das Risiko der Überproduktion durch Kurzarbeit nicht selten den Arbeitnehmern überläßt.
Meine Damen und Herren, wenn man nicht wirtschaftspolitische Wunschvorstellungen, sondern die Wirklichkeit der Wirtschaft sieht, muß man doch erkennen und, wie ich meine, wohl auch anerkennen, wie hier bereits festgestellt wurde, daß 1970
ein Jahr der wirtschaftlichen Höchstleistungen war, daß es 1970 gelungen ist, den Boom zu bändigen und sein Auswuchern zu verhindern, und daß 1970 und auch zu Beginn des Jahres 1971 die Arbeitsplätze hi der Bundesrepublik sicher waren und sicher sind.
({0})
Wenngleich der Preisauftrieb mit 3,8 %, wie hier schon mehrfach festgestellt wurde, unerfreulich war, so hinkt der häufig gebrachte Vergleich des Jahres 1970 mit dem Jahre 1966 ganz gewaltig.
({1})
- 1966 sind die Realeinkommen kaum gestiegen, Herr Müller-Hermann, und 1966 war der Preisanstieg auf dem Weltmarkt vergleichsweise sehr gering. Wer diese Fakten, die unter anderem im Gegensatz zur Lage des Jahres 1970 stehen, vergißt oder sie gar öffentlich verschweigt, muß es sich ge- fallen lassen, wenn man ihn der Demagogie bezichtigt.
({2})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal fragen: Wie ist unter Berücksichtigung dieser Darstellungen und Klarstellungen beispielsweise die Lage der Arbeitnehmer in dieser wirtschaftlichen Entwicklung zu sehen? Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes erklärte am 11. Oktober 1970 - ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren :
Gegenüber allen Versuchen, Unzufriedenheit mit der Bundesregierung durch Inflationsangst zu erzeugen und der Bevölkerung einzureden, daß es ihr ständig schlechter gehe, möchte ich hier einmal mit aller Deutlichkeit feststellen: Der tatsächliche Lebensstandard der Arbeitnehmer in diesem ersten Jahr einer Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung ist stärker gestiegen als in irgendeinem anderen Jahr seit 15 Jahren. Die Zielprojektion des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die eine Steigerung der realen Kaufkraft pro Arbeitnehmer von durchschnittlich 8 % für 1970 vorsieht, wird voraussichtlich voll erreicht werden. Damit wird es erfreulicherweise gelingen, den Lohnrückstand aus den Jahren 1968 und 1969 ganz erheblich zu verringern.
Soweit Herr Vetter.
Diese Annahme vom Oktober 1970 hat sich inzwischen, wie wir wissen, voll bestätigt. Die nominale Effektivlohnanhebung je Beschäftigten brachte den höchsten Anstieg seit Bestehen der Bundesrepublik.
({3})
Trotz erheblicher Preiserhöhungen stieg auch die reale Kaufkraft je Beschäftigten über 8%.
({4})
- Zu den Rentnern haben Sie vorhin schon etwas gehört, Herr Müller-Hermann; ich darf Sie nur noch einmal daran erinnern.
Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin stieg das durchschnitt5240
liche Monatseinkommen je beschäftigten Arbeitnehmer 1970 gegenüber 1969 um 150 auf 1153 DM. Nach Abzug der Lohnsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge verblieb netto ein Mehreinkommen von 100 DM monatlich, d. h. rund 1200 DM jährlich. Nach weiterem Abzug der gestiegenen Lebenshaltungskosten haben sich die durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen 1970 real - also bezogen auf die Preise von 1969 - um 800 DM, d. h. um 8,5%, erhöht.
Es gibt also keinen Zweifel daran - das muß
in diesem Hause einmal sehr deutlich gesagt werden -: Die Arbeitnehmer haben damit am Einkommenszuwachs dieser Wachstumsperiode kräftig partizipiert.
({5})
Die Einkommensverteilung wurde 1970 eindeutig zugunsten der Arbeitnehmer korrigiert.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklung gilt es im Jahre 1971, in der Endphase des Booms, auf dem Weg zur Normalisierung stabilitätspolitisch abzusichern. Das kann nur geschehen - auch darüber müssen wir uns alle im klaren sein -, wenn sich die Lohnforderungen wie die Gewinnerwartungen dieses Jahres an der inzwischen normalisierten Geschäftslage orientieren. An die nachfrageinduzierte Preiswelle des Vorjahres darf sich in diesem Jahr nicht eine kosteninduzierte Preisbewegung anschließen. Eine solche Entwicklung auch das muß ich in diesem Zusammenhang sagen - würde nach der Korrektur der Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer im Jahre 1970 eine Rückkorrektur zugunsten der Unternehmer zur Folge haben.
Nach den Vorstellungen der Bundesregierung können und sollen sich die Effektivverdienste je beschäftigten Arbeitnehmer 1971 im Jahresdurchschnitt um 8,5 bis 9,5 % erhöhen. Dies ist auch von den lohnpolitischen Vorstellungen des DGB nicht weit entfernt.
Herr Abgeordneter Kater, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Herr Kollege, wie wollen Sie die Entwicklung vermeiden, die Sie eben als bedrohlich und abzulehnen dargestellt haben, daß nämlich jetzt eine Kostenexplosion kommt, wenn die vom Staat kontrollierten Preise und Gebühren jetzt als nächste Phase ganz bedeutend in die Höhe gehen? Ich nenne nur Bahn und Post.
Herr Kollege, diese Entwicklung kann man dadurch vermeiden, daß man sich an die Regeln und Möglichkeiten bzw. an jene Vorschläge hält, die von der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht ziemlich eindeutig dargestellt worden sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch betonen: Gerade in diesem Jahr sollte es unserer Meinung nach möglich sein, die Lohndrift, d. h. den Abstand zwischen dem effektiven und dem tariflichen Lohnniveau, der sich im Boom erfahrungsgemäß vergrößert, weiter abzubauen.
Lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?
Ich möchte meine Ausführungen gern im Zusammenhang vortragen.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition zielt auch im Jahre 1971, einem Jahr der verhaltenen Konjunktur, eindeutig und unmißverständlich auf einen weiteren Anstieg der realen Kaufkraft je Beschäftigten in der Bundesrepublik. Ich möchte auch keinen Zweifel daran lassen, daß, falls sich im Verlauf dieses Jahres eine über das normale Maß der Konjunkturberuhigung hinausgehender Beschäftigungsrückgang abzeichnen sollte, wie er auch nach den jüngsten konjunkturpolitischen Beurteilungen der Forschungsinstitute nicht völlig auszuschließen ist, wir mit der Bundesregierung Stützungsmaßnahmen zur Verhinderung eines derartigen Beschäftigungseinbruchs durchführen werden. Eine Rezession wird im Jahre 1971 nicht stattfinden.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch einmal auf die sozialpolitischen Maßnahmen des Jahres 1970 rückschauend hinweisen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann, oder lehnen Sie Zwischenfragen überhaupt ab?
Ich werde jetzt meine Dinge im Zusammenhang vortragen.
Der Redner lehnt Zwischenfragen ab.
Wer den Katalog der vielen sozialpolitischen Reformen des Jahres 1970, von der Verbesserung der Kriegsopferversorgung über die Krankenversicherungsänderungsgesetzgebung bis zum zweiten Wohngeldgesetz, ansieht, wird zugeben müssen, daß das Jahr 1970 auch sozialpolitisch eine beachtliche Bewegung zu größerer sozialer Sicherheit für die Arbeitnehmer gebracht hat.
({0})
Meine Damen und Herren, ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was ich damit meine, und zwar am Beispiel der Vermögensbildung. Die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ist durch das dritte Vermögensbildungsgesetz entscheidend gefördert worden. Der Begünstigungsrahmen wurde von 312 auf 624 DM erhöht und die Förderung auf mittlere und untere Einkommensschichten konzentriert. Mit diesem Gesetz wurde der tarifvertraglichen Vermögensbildung zum Durchbruch verholfen. In welchem Maße, das wird durch die folgende Feststellung im Jahreswirtschaftsbericht sehr deutlich:
Bis Ende 1969 machten rund 5,7 Millionen Arbeitnehmer von dem Vermögensbildungsgesetz Gebrauch, davon nur rund 1 Million auf Grund von Tarifverträgen. Die Gesamtzahl erhöhte sich bis Ende 1970 bereits auf rund 12,5 Millionen Arbeitnehmer, davon rund 8 Millionen auf Grund von Tarifverträgen.
Dies ist ein Anfang einer allmählichen Verteilungskorrektur.
({1})
Die Bundesregierung - ich werde gleich etwas mehr dazu sagen - strebt nach ihren eigenen Worten eine zunehmende Beteiligung immer breiterer Bevölkerungsschichten an dem Vermögenszuwachs in unserer Volkswirtschaft an. Dem stimmen wir zu.
({2})
Als Konsequenz dieser Haltung erwarten wir im Vermögensbericht der Bundesregierung konkrete Vorstellungen über den Ausbau der Vermögenspolitik. Wir erwarten besonders einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung der Beteiligung der Arbeitnehmer am Vermögenszuwachs der Wirtschaft. Das Vierer-Programm der Staatssekretäre bietet meiner Ansicht nach hierfür eine durchaus geeignete Grundlage,
({3})
und ich bin der Auffassung, daß die parlamentarische Beratung eines Beteiligungsgesetzes die Konjunktur dieses Jahres nicht belasten kann; denn es ist wohl selbstverständlich - hier stimme ich mit der Bundesregierung völlig überein -, daß ein solches Gesetz eine flexible Veränderung der Belastung der Wirtschaft je nach den konjunkturellen Erfordernissen gestatten muß.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir nach den Ausführungen des Herrn Kollegen Pohle noch einige Anmerkungen zur Situation der Unternehmen. In den letzten Monaten ist viel, manchmal, wie mir scheint, zuviel über die Gewinnentwicklung im Unternehmenssektor geklagt worden. Dabei spielten sicher die Auswirkungen der restriktiven Kreditpolitik der Bundesbank ebenso wie die sich in der Endphase eines Booms regelmäßig ausbreitende Stimmungslage eine gewisse Rolle. Vergegenwärtigt man sich jedoch das effektive Zahlenbild, so korrigiert sich dieser negative Eindruck. Das Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, das im Jahre 1968 immer im Vergleich zum Vorjahr - um den Traumsatz von 17,6 % stieg, 1969 einen Zuwachs von 5,9 % aufwies, erhöhte sich 1970 um den beachtlichen Satz von 7,5 % und wird voraussichtlich selbst 1971 dieses Gewinniveau nominal noch um 3 bis 4 % überschreiten. So weit die Entwicklung des Bruttoeinkommens. Betrachtet man das verfügbare Einkommen der Unternehmer, d. h. die Nettoeinnahmen der Privaten aus Unternehmertätigkeit und Vermögen zuzüglich der Abschreibungen, also den gesamtwirtschaftlichen cash flow, dann ergibt sich
nach einem Anstieg von 6,5 % im Jahre 1969 eine sehr kräftige Erhöhung um 12,4 % im Jahre 1970 und auch für 1971 nach der bekannten Jahresprojektion der Bundesregierung immer noch eine solche von 5 %. Ich meine, diese Nettozahlen zeigen noch viel deutlicher als die Bruttozahlen, daß das Jahr 1970 ein ausgesprochen gutes Geschäftsjahr war.
({4})
Ich bin davon überzeugt, daß sich dies auch in den demnächst vorliegenden Abschlüssen der Unternehmen sehr deutlich widerspiegeln wird.
({5})
Aus diesen Zahlen ist ferner ersichtlich, daß das Jahr 1971 mit einem Anstieg der Abschreibungen um rund 10 % und des gesamten verfügbaren Einkommens der Unternehmen um 5 % kein Abstieg in den Keller werden wird, wie manche befürchten und einige prophezeien, sondern für die Endphase eines Booms in relativ guter Verfassung durchlaufen werden kann. Davon zeugen im übrigen auch die insgesamt gesehen immer noch sehr hohen Auslastungen der Kapazitäten und die Auftragsbestände, die in einer auslaufenden Wachstumsperiode wohl in keinem Nachkriegszyklus so günstig lagen wie heute. Selbst die Selbstfinanzierungsquote einschließlich Vermögensübertragungen dürfte sich gegenüber den beiden Vorjahren, in denen sie 68% betrug, nicht wesentlich verändern.
Was will ich damit sagen? Ich will damit sagen, daß zum Pessimismus keine Veranlassung besteht, auch deshalb nicht, weil, wie hier schon gesagt worden ist, die Bundesregierung und die Bundesbank für eine antizyklische Wirtschaftspolitik sehr gut gerüstet sind. Den Unternehmern bleibt zu sagen: die nächste Wachstumsperiode kommt bestimmt. Kluge Unternehmer werden auch daran ihre Investitionsentscheidungen messen. Im übrigen teile ich die Meinung, die vor kurzem der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages, Herr Düren, geäußert hat, als er feststellte, gute Nerven und kühles Blut seien erforderlich, um gegenüber der sich abschwächenden Konjunktur die richtige Einstellung zu finden. Er hat in diesem Zusammenhang eine Panikreaktion angesichts der objektiv noch immer günstigen Wirtschaftslage als unangemessen bezeichnet.
({6})
Lassen Sie mich abschließend folgendes feststellen. Zu Recht sagt die Bundesregierung in ihrem Bericht, daß Wirtschaftspolitik ein Stück Gesellschaftspolitik ist und in Zukunft noch mehr sein muß. Genau das ist unsere Position. Schauen Sie sich doch einmal um! Beobachten Sie die soziale Entwicklung in Westeuropa, und beobachten Sie die Wirtschaftspolitik unserer Nachbarländer! Preisstopp und Lohnstopp gehören dort zum guten Ton. Wir versuchen demgegenüber die soziale Unrast und den sozialen Nachholbedarf durch gesellschaftspolitische Reformen schrittweise aufzufangen.
({7})
Wir halten entgegen anderslautenden Unterstellungen an der Wirtschaftspolitik der freien Entscheidung der Gewerkschaften und der Unternehmer fest.
({8})
Auch wenn Vertreter der Unionsparteien draußen und hier immer wieder versuchen, ihren eigenen Mangel an einer klaren Konzeption in der Wirtschaftspolitik
({9})
hinter dem Nebel einer manchmal in der Quelle klaren, meist in der Mündung trüben Ideologie zu verstecken, so müssen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, doch wissen: wichtig ist auch in der Wirtschaftspolitik nicht die Ideologie, die man vorgibt, sondern wichtig ist und bleibt allein die Art und Weise, nach der man handelt.
({10})
- Klatschen Sie nicht zu früh; denn so gesehen ist die wirtschaftspolitische Handlungsweise der Opposition in der Vergangenheit nicht gerade sehr überzeugend gewesen.
({11})
Sie haben in den letzten Jahren mehr als einmal total versagt.
({12})
Dafür nur noch zwei Beispiele: zum erstenmal im
Jahre 1965/66, als Sie die deutsche Wirtschaft in die
gewollte Rezession à la Schmücker getrieben haben,
({13})
und zum zweitenmal 1969, als idas Nein der CDU/ CSU in der Großen Koalition zur Aufwertung der D-Mark einen rechtzeitigen Stabilitätskurs in diesem Land verhindert hat.
({14})
Meine Damen und Herren von der Opposition, seien Sie sich darüber im klaren: nicht nur in diesem Hause, sondern auch in den Diskussionen draußen wird Ihre Kritik an der gegenwärtigen Konjunkturpolitik auch an Ihrer Selbstkritik gegenüber Ihrer vergangenen Wirtschaftspolitik gemessen werden.
({15})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle haben den Äußerungen der Sprecher der Opposition hier sehr aufmerksam gelauscht. Wir haben Herrn Müller-Hermann vernommen, wir haben Herrn Stoltenberg, den wackeren Kämpen aus unserer gemeinsamen, meerumschlungenen Heimat gehört, und wir haben Herrn Pohle vernommen.
({0})
Wenn wir uns nun den Inhalt dieser Reden ansehen, stellen wir fest: Ihr Tenor ist im großen und ganzen Kritik. Das ist Ihr gutes Recht. Es wird Kritik an früheren Beschlüssen oder „Versäumnissen" geübt; es wird die heutige Lage grau in grau geschildert; und es wird sodann von seiten der Opposition ein düsteres Bild über die nächste Zeit entwickelt. Aber was ich beim besten Willen bei keinem Redner - trotz aller Beredsamkeit der Herren Sprecher der Opposition - vernommen habe, das ist irgendein konkreter Hinweis auf irgendein konjunkturpolitisches Kontrastprogramm für das Jahr 1971.
({1})
Es sind ein paar Fragen an uns gerichtet worden, die ich beantworten will; aber ich habe vergebens versucht, etwas zu finden, was mir als Ansatzpunkt zu einem konjunkturpolitischen Kontrastprogramm der Opposition für das Jahr 1971 dienen könnte. Im großen und ganzen kann ich nur sagen: Störung in Bild und Ton.
({2})
Sie, Herr Müller-Hermann, haben z. B. von Ihren Prognosen gesprochen und haben sich bei Ihrer düsteren Prognose auf eine Umfrage bei Unternehmensverbänden und Einzelunternehmen gestützt. Ich kenne diese schöne Fleißarbeit. Wir wissen auch, daß Sie bei dem einen oder anderen Empfänger Ihrer Unterlage wegen Ihrer gezielten Fragen ein Lächeln hervorgerufen haben. Aber Sie hätten sich die Kosten dieser gesonderten Umfrage bei den Unternehmen und Unternehmerverbänden zugunsten Ihrer Parteioder Fraktionskasse sparen können, Herr Müller-Hermann. Sie hätten nämlich auf unsere guten Dienste zurückgreifen können. Denn die großen Wirtschaftsverbände haben alle miteinander ihre eigene Stellungnahme zur Lage der deutschen Wirtschaft zu Beginn dieses Jahres vorgelegt und auch wichtige Teile davon publiziert.
({3})
- Sie, Herr Müller-Hermann, sagen schlankweg, Sie hätten aus einer Meinungsbefragung eine 4%ige Steigerung der Lebenshaltungskosten im Jahre 1971 herausgelesen; und Sie haben das hier so verkündet, als sei dies im Sinne der Opposition doch eine ganz schöne Steigerungsrate. Ich kann nur eines feststellen: Der Gemeinschaftsausschuß der deutschen Wirtschaft, die Spitzenorganisation der deutschen Unternehmer, hat eine Jahresproduktion, eine prognoseartige Projektion, vorgelegt, und darin steht klar und deutlich, daß für das Jahr 1971 dort eine Preissteigerungsrate für den privaten Verbrauch von 3 % vorausgesehen wird. Das können Sie auch im Jahreswirtschaftsbericht nachlesen. Wir haben nämlich auf Seite 25 die drei Projektionen des DGB, der Unternehmerverbände und der Bundesregierung nebeneinandergestellt. Ich kann mir nicht
vorstellen, Herr Müller-Hermann, daß es neben dieser offiziellen und lange diskutierten Stellungnahme der deutschen Unternehmensseite noch eine Art Subkultur gibt, die mit Prognosen von 4 % an Sie herantritt. Ich halte das kaum für möglich. Auf jeden Fall tun Sie der Entwicklung der deutschen Wirtschaft im Jahre 1971, in diesem Jahr des Überganges, damit keinen großen Gefallen. Es heißt ganz konkret in der Stellungnahme der Verbände zum Jahreswirtschaftsbericht: -
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller-Hermann?
Herr Minister, können Sie sich vorstellen, daß auch bei den Verbänden und Unternehmen eine Reihe von Voraussetzungen, die zu der ersten Antwort auf Ihre Anfragen gegeben wurden, heute nicht mehr so eingeschätzt werden, wie Sie es vielleicht noch heute tun?
Ich kann mir, was Hypothesen betrifft, gar nichts vorstellen. Denn alle diese Verbände wußten von dem Material und kannten das Jahresgutachten des Sachverständigenrats, das Ausgangsbasis für alle Überlegungen war, und haben sich nach den Debatten in der Konzertierten Aktion zu Hause in aller Ruhe ihre Meinung gebildet und uns am 10./11. Januar ihre Auffassungen über das Jahr 1971 übermittelt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es da noch irgendwelche Verschiedenartigkeiten in den Voraussetzungen geben kann.
({0})
- Ebenso wie alle anderen müssen wir auch annehmen, daß in diesem Jahre autonome Entscheidungen in der deutschen Wirtschaft möglich sind, die sich im Rahmen oder nicht im Rahmen der Orientierungsdaten bewegen, wodurch die Entwicklung jeweils anders laufen kann. Nur Sie setzen ein solches Verhalten im Sinne der ungünstigen Alternative anscheinend schon als vorgegeben voraus. Wir tun dies nicht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Aber, Herr Kollege Schiller, wollen Sie nicht dem Kollegen MüllerHermann konzedieren, daß es sich um eine bedingte Prognose handelt - wie es auch im Text Ihrer Drucksache heißt -, die von den Verbänden sowohl an ganz klare Voraussetzungen der Geld- und Kreditpolitik als auch an einen Erfolg der Konzertierten Aktion gebunden ist, die sich offensichtlich für das Jahr 1971 nicht abzeichnen.
Ich will Ihnen vorlesen - ich wollte es eben schon tun -, was von der Gemeinschaft der deutschen Unternehmensverbände zu diesen drei Prozent sowie zur Perspektive der Konjunkturpolitik im Jahre 1971 gesagt worden ist. Es heißt dort wörtlich:
Es gilt, die Überleitungsphase abzusichern. Deshalb halten wir jede Verschärfung des bisherigen Restriktionskurses für verfehlt.
- Schon das ist interessant. Wir halten daher an den vorgesehenen Terminen für das Auslaufen der verschiedenen restriktiven Maßnahmen ({0}) zunächst fest. Für eine vorzeitige Beendigung der Erhebung des Konjunkturzuschlages sehen wir gegenwärtig keinen Anlaß. Wir schlagen jedoch vor, diese Frage erneut in der nächsten Sitzung der Konzertierten Aktion zu prüfen. Wenig aktuell erscheint uns die Frage, ob bereits in diesem Jahr eine vorzeitige Rückzahlung des Konjunkturzuschlages in Betracht gezogen werden sollte. Insgesamt gesehen, dürfte das für 1971 vorgesehene Volumen der öffentlichen Ausgaben die Möglichkeit bieten, einer eventuell zu starken konjunkturellen Abschwächung im späteren Verlauf des Jahres entgegenzuwirken.
Das ist die Stellungnahme der deutschen Unternehmerschaft zur Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung in diesem Jahr. Auch wenn Sie, Herr Müller-Hermann und Herr Stoltenberg, durch Ihre eigenen Umfragen irgendwie aus einem Zwischendeck andere Meinungen erfahren und damit an dieser Stelle auftreten, müssen Sie zur Kenntnis nehmen, daß das, was ich hier verlesen habe, die offizielle Meinung der Wirtschaftsverbände ist. Sie sind still geworden. Sie werden die grolle und wohlabgewogene Übereinstimmung dieser Sprecher der deutschen Unternehmerschaft mit der Politik dieser Regierung, was die Konjunktur betrifft, feststellen. Das können Sie einfach nicht ableugnen.
({1})
- Weshalb zweifeln Sie denn? Sagen Sie doch selber auch, wie diese Leute es getan haben: Wir halten diese und diese Maßnahmen für richtig; wir haben höchstens noch einen Zweifel, ob sich andere so vernünftig verhalten.
({2})
Sie weichen nun aus, von diesem Jahr auf das vorige Jahr. Ich bin nun just an diesem Jahr und möchte gern wissen, was uns in diesem Jahr -1971 - diese großartige Opposition auf diesem wichtigen Feld zu sagen hat.
({3})
Ich stelle fest, daß alle die großen Männer, die so große Reden halten, uns hier mit Invektiven etwa über die Schwäche der Regierung oder mit anderem überziehen, aber wenn es zur Kasse geht, keinen Groschen an Konjunkturpolitik in der Tasche haben.
({4})
Herr Dr. Stoltenberg!
Herr Kollege Schiller, wenn das alles so schön ist und so eindeutig, wie Sie es hier wieder einmal darstellen, warum haben Sie dann in den Jahreswirtschaftsbericht zum erstenmal eine ungünstige Alternative aufgenommen, die - unter bestimmten Voraussetzungen, die Sie selbst beschreiben - von wesentlich höheren Preissteigerungen ausgeht und auch von einer Gefahr für die Vollbeschäftigung? Das ist doch ein klarer Widerspruch zu dem, was Sie jetzt hier vereinfacht darstellen.
Soeben ging es allein - um exakt zu bleiben - darum, wie die Unternehmerschaft in ihren Organisationen in diesem Jahr zu der Konjunkturpolitik dieser Regierung steht.
({0})
Nun das andere! Auch das ist im Jahreswirtschaftsbericht erklärt, Herr Stoltenberg. Vielleicht haben Sie jetzt bei Ihren neuen Aufgaben nicht so viel Zeit, das alles durchzulesen.
({1})
Ich komme nachher noch auf einen anderen Punkt.
- Wir sind in einer Phase der Konjunktur, Herr Stoltenberg, wo das Verhalten von Unternehmern
- preispolitisch. - und von Tarifvertragsparteien
- lohnpolitisch - eine ganz besondere Bedeutung hat. Wir sind nun auch der Meinung, Herr Stoltenberg, daß beide, Unternehmer und Tarifvertragsparteien, weiterhin in Freiheit zu entscheiden haben. Wir haben ihnen die Orientierungsdaten gegeben. Das ist ein behutsames Warnsystem. Wir haben auch gesagt, daß weiterhin Freiheit ist und kein Dirigismus. Wenn sich die eine oder die andere Seite - oder beide - in freier Entscheidung von den Orientierungsdaten weit entfernen, dann wird in diesem Jahr das Ergebnis insgesamt ein schlechteres sein.
({2})
Dies mußte gesagt werden, weil es in diesem Jahr viel mehr als sonst in einer Phase des Übergangs, in einer Phase der Normalisierung der Konjunktur, tatsächlich auf die autonomen Kräfte der Wirtschaft selber ankommt, auf die berühmten Selbstheilungskräfte,
({3})
die sonst von Ihnen so gerne zitiert werden. Nur, wie Sie meinen, wie sich die Wirtschaft verhalten sollte, das habe ich von Ihnen immer noch nicht gehört.
({4})
- Ich wollte Ihre Meinung haben.
({5})
Sie haben ja meine Antwort und die Antwort dieser Bundesregierung durch den Herrn Bundeskanzler heute schon vernommen. Wir stehen zu diesen Orientierungsdaten als einem Mittel der Orientierungshilfe in einer freien Gesellschaft. Und wir vertreten sie.
({6})
- Das sagen Sie nun wieder,
({7})
statt daß in einer solchen Lage die Opposition, die sich groß und stark gibt und auch noch staatstragend und staatsförderlich sein will oder sich gibt,
({8})
sagt: Richtig, diese Orientierungsdaten kommen hin;
auch wir sind der Meinung, es wäre gut, wenn alle
miteinander sich in Vernunft diesen Daten annäherten.
({9})
Herr Stoltenberg macht ein nachdenkliches Gesicht;
vielleicht kommt er ja noch auf den richtigen Weg.
({10})
Herr Müller-Hermann hat an einer Stelle seiner Rede gesagt, wir hätten für den Fall des Rückganges der Investitionen, für den Fall, daß die Konjunktur zu weit nach unten geht, sicherlich ein Arsenal an Instrumenten zur Hand, - z. B. die 5,6 Milliarden DM als Reservemasse. Sie haben dann zusätzlich die Frage gestellt: Was hat eigentlich die Regierung vor, wenn der umgekehrte Fall eintritt, daß die Konjunktur nicht weiter nach unten geht und die Preise dem nicht langsam nachfolgen, sondern daß alles wieder frisch-fröhlich im Sinne einer Überhitzung nach oben geht? Ich finde diese Frage berechtigt, wenn ich auch eine solche Entwicklung für nicht sehr wahrscheinlich halte.
({11})
- Herr Müller-Hermann, Sie haben nach dem Verhalten der Regierung in dem Fall gefragt, daß es zu
einem stärkeren Preisauftrieb durch das Fehlverhalten verschiedener Kräfte kommt. Auf diese Frage kann ich hier nur erneut deutlich sagen und unterstreichen: Für diesen Fall besonderer und nicht so wahrscheinlicher Preissteigerungen steht uns die gesamte Stabilisierungspalette des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zur Verfügung, alle Paragraphen, die für geeignete Stabilisierungsmaßnahmen in Frage kommen. Sollten wir an diesen Dingen lange und schwer zu tragen haben, dann würden auch bestimmte Paragraphen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes - etwa die, die mehr am Anfang des Gesetzes stehen - unsere besondere Aufmerksamkeit wecken, und zwar immer im Rahmen der Marktwirtschaft. Sie ersehen aus meiner Antwort, daß wir selbst auch an eine Situation, in der die Zeichen alle anders stehen als heute angenommen, daß wir auch an die andere Seite des Spielfeldes der Konjunktur denken. Wenn sich also wider Erwarten eine Entwicklung zur anderen Seite hin vollzöge, würden wir ihr mit zusätzlichen Mitteln auf Grund des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes begegnen.
Ein Weiteres. Sie haben gesagt, man müßte in einer Novelle des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Regelmechanismen einbauen. Ich glaube, Sie haben von „gewissen Regulativen" gesprochen. Das ist ein neues Zauberwort. Das ist in der Tat alles sehr leicht gesagt. Aber bisher haben wir aus Ihrem Kreis und von den vielen, die für Regelmechanismen eintreten, noch nie ein praktisches Rezept vernommen, wie denn ein solcher Automatismus funktionieren soll, der bei Eintreten eines bestimmten Ungleichgewichts dafür sorgt, daß z. B. die Steuern automatisch in dieser oder jener Weise verändert werden. Die Praktikabilität solcher Mechanismen ist uns noch nicht bewiesen.
Sie sprachen in diesem Zusammenhang auch von der Wissenschaft. Wir haben unseren Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium gebeten, uns dazu ein Gutachten zu erstellen. Die Damen und Herren des Beirats werden sich in allernächster Zeit mit diesem Thema beschäftigen. Wenn das Gutachten vorliegt, werden wir uns selbstverständlich, vielleicht auch anläßlich in Zukunft fälliger Arbeiten zur Novellierung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, auch mit Ihnen zusammensetzen, um diesen Fragenkomplex zu erörtern.
Herr Bundeswirtschaftsminister, können wir aus diesen Ausführungen entnehmen, daß Ihnen die bisherigen Instrumente des Stabilitätsgesetzes ausreichend erscheinen, oder ist es nicht vielmehr so, wie Herr Kollege Schachtschabel gesagt hat, daß zusätzliche Instrumente, an denen auch Ihre Fraktion arbeitet, notwendig sind, um das Gesetz auszubauen und so anwenden zu können, daß es eben allen Erfordernissen moderner Konjunkturpolitik entspricht?
Lieber Herr Kollege, ich kann in einem gewissen Sinne die Worte des Herrn Bundeskanzlers wiederholen: Wir alle haben aus den Erfahrungen gelernt.
Wir haben auch folgendes gelernt. Wenn es z. B. im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz einen § 26 mit konjunkturellen Steuererhöhungen - 10 % für eine bestimmte Zeit - gibt, wäre es doch z. B. auch gut, wenn es in dem Gesetz die mildere Variante gäbe, die wir im letzten Jahr durch ein Sondergesetz haben einführen müssen. Solche Erfahrungen haben bei uns dazu geführt, einmal eine Liste über Dinge anzulegen und zu führen, die bei einer Novelle geregelt werden könnten. Mehr nicht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Frerichs? - Bitte.
Darf ich fragen, Herr Bundeswirtschaftsminister, ob die Bundesregierung die Absicht hat, eine solche Novelle zum Stabilitätsgesetz bald vorzulegen?
Ich würde sagen, wir lassen uns insgesamt noch einige Monate Zeit, um diese Erfahrungen nach allen Seiten hin zu sammeln. Für die augenblickliche Lage im Jahre 1971 hilft uns eine Novelle so oder so auf jeden Fall nicht. Für die Lage des Jahres 1971 würden wir - wenn es notwendig wäre -auf das vorhandene Stabilitätsgesetz, so wie es geschrieben ist, zurückgreifen.
({0})
- Vielen Dank.
Nun noch ein Punkt. Sie haben von der Vollbeschäftigungsgarantie gesprochen, Herr Müller-Hermann. Zu dem, was der Herr Bundeskanzler damals - ich glaube - in Hannover gesagt hat, kann ich nur das wiedergeben, was ich dabei empfunden habe; denn ich war, wie Sie wissen, aus rein persönlichen Gründen - ich war nicht ganz gesund -nicht in Hannover. Ich habe das damals so aufgefaßt, Herr Müller-Hermann, daß der Herr Bundeskanzler, als er über diese Fragen sprach, im Sinne des § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes gesprochen hat. Da heißt es nämlich:
Die Maßnahmen dieses Gesetzes sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand, ... beitragen.
Wenn Sie so wollen, enthält das Stabilitätsgesetz in dieser Fassung die Verpflichtung der Regierung, sowohl für die Stabilität als auch für ein ausgeglichenes Wachstum als auch für das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und schließlich auch für einen hohen Beschäftigungsstand alles zu tun. Darin sehe ich keine Differenz. Ich sehe auch keinen Anlaß, diese Äußerung etwa in dem Sinne zu bewerten, daß eine Überbeschäftigungsgarantie gegeben worden sei. Ich glaube, niemand von uns hat so etwas gewollt.
Nun ein paar Worte zu Herrn Althammer. Herr Althammer, ich habe mich gewundert, daß ein Mann, der als Budgetexperte mit Zahlen so gut umgehen
kann, bei Zahlen so leicht danebengreift. Der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte lag im Dezember letzten Jahres um genau 4 % über dem des Dezember des Vorjahres und nicht um 4,3 %.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Ist Ihnen der statistische Wochenbericht vom 22. Januar 1971 Seite 1 und dabei folgender Satz bekannt?
In der Berechnung des Index ohne die am stärksten ernte-, saison- und witterungsabhängigen Nahrungsmittel sowie ohne Blumen, Kohle und Heizöl lag der Index im Dezember 1970 0,2 % über dem Stand vom Vormonat und 4,3 % über dem Stand vom Dezember 1969.
Ich kann Ihnen das schriftlich vorlegen.
Lieber Herr Althammer, da haben Sie sich hei den verschiedenen Indices in der Reihe vergriffen. Sie haben einen Index genommen, der die saisonabhängigen Waren nicht einschließt. Der allgemeine Lebenshaltungsindex - lieber Herr Althammer, Sie können jetzt beim Statistischen Bundesamt anrufen -, der alle privaten Haushalte und alle Güter in dem entsprechenden Warenkorb umfaßt, stand im Dezember bei 4 %.
Wir haben auch einen Index für Rentner, und im Zusammenhang damit haben Sie Ihr Bedauern groß unterstrichen. Dieser Index ist im Jahresdurchschnitt 1970 gegenüber 1969 nicht stärker gestiegen als der allgemeine Lebenshaltungskostenindex, nämlich um genau 3,8 %.
({0})
- Natürlich ist das für alle zuviel. Das habe ich auch in meinen ersten Einlassungen gesagt, das hat der Herr Bundeskanzler gesagt. Nur, diese 3,8 % für Renter entsprechen in diesem Jahr dem allgemeinen Durchschnitt. Im Jahre 1966 war das anders, nur damit Sie es wissen. Wenn Sie es nämlich vergleichen, stellen Sie fest, daß der allgemeine Preisindex der Lebenshaltung im Jahre 1966 um 3,7 % und der Index für die Rentnerhaushalte um 4,2 % gestiegen sind. Wenn Sie in dieser Hinsicht Krokodilstränen weinen, sehen Sie sich also vor! Das Jahr 1966 war schlechter.
({1})
- Sie sprachen von Ihrer Seite von den Rentnern, und Sie wissen: was die Rentner bedrückt und betrifft, ist einmal das, was wir eben genannt haben. Das war im Jahre 1966 schlimmer als im Jahre 1970. Zum anderen ist es die nicht so weit gegangene Dynamisierung der Renten. Dazu wissen Sie auch
- ich wiederhole es nur , daß diese Bundesregierung den 2%igen Krankenkassenbeitrag für Rentner im Jahre 1970 abgeschafft hat. Das sind zwei volle Punkte.
({2})
- Es macht bei 6,4 % immerhin etwas aus, wenn außerdem eine Belastung in Höhe von 2 % des Einkommens entfällt.
Zum anderen wissen Sie auch alle, daß diese relativ bescheidene Steigerung der Renten entsprechend der dynamischen Formel der Rentenbemessung mit dem Verlauf in den drei vorangegangenen Jahren zusammenhängt. Dieser Dreijahresverlauf ist immer noch durch die Rezession des Jahres 1966/67 nach unten hin befrachtet und beschwert. Die Rezession kommt heute immer noch in der Rentenbemessung zum Ausdruck und läßt sich nicht wegdiskutieren. Dies zu den Zahlen.
Nun komme ich zu Herrn Stoltenberg. Herr Stoltenberg sagte mir, ich müsse etwas sachlicher oder etwas mehr auf die Meinung des Sachverständigenrates zum Thema Konjunkturzuschlag eingehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Porzner?
porzner ({0}) : Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß die Renten im Jahre 1967 um 8 %, im Jahr darauf um 8,1 %, dann um 8,3 %, im Jahre 1970 um 6,35 % und 1971 um 5,5 % gestiegen sind, was zusammen mehr als 41 % ausmacht, und daß damit die Rentensteigerungen über den Lohn- und Gehaltserhöhungen liegen?
({1})
Das ist mir bekannt, und die letzten beiden Zahlen aus dieser Reihe, 6,4 und 5,5 %, habe ich genannt. Ich habe auch die Ursache dafür angegeben, warum diese Zuwachsraten heruntergehen. Das ist die Rezession 1966/67.
({0})
- Das können Sie ja vielleicht mit ihm unmittelbar besprechen. Ich glaube, im Moment habe ich diesen Fall geklärt.
Nun zur Stellungnahme des Sachverständigenrates zum Konjunkturzuschlag. Herr Stoltenberg, ich sage Ihnen noch einmal: der Rat hat in seinem Sondergutachten vom 9. Mai diesen Konjunkturzuschlag in dem Paket seiner verdienstvollen Vorschläge selber genannt.
({1})
- Er macht das nicht im Dezember, sondern er gibt sein Gutachten, wie Sie wissen, am 15. November ab. Das spielt eine Rolle.
In der Fassung, die er erarbeitet hat - ich würde so sagen: Oktober/November -, hat er in der Tat
zu diesem Konjunkturzuschlag die Meinung erörtert, Herr Stoltenberg, ob er nicht mehr zu Lasten der Ersparnis und weniger zu Lasten des Konsums gegangen sei. Das ist die Frage, Herr Stoltenberg, und dazu hat sich die Bundesregierung in Ziffer 7 geäußert. Wir sind der Meinung, daß dieser Konjunkturzuschlag, im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in seiner härteren Form vorgesehen, seine Wirkung getan hat.
Im übrigen glaube ich auch nicht, ohne hier der Autonomie der Sachverständigen entgegenzutreten, daß die zwei oder drei Monate, in denen der Konjunkturzuschlag bei Fertigstellung des Gutachtens schon in Kraft war, als Erfahrungszeit ausgereicht haben, um endgültig zu sagen, er gehe zu Lasten der Ersparnis und nicht zu Lasten des Konsums.
Es gibt eine Untersuchung - Herr Stoltenberg, wenn Sie mir einen Moment zuhören wollen - aus dem Ifo-Institut. Da sind die Unternehmer gefragt worden, aus welchem Grunde sie ihre Investitionen, ihre Bestellungen reduziert hätten, etwa im Sinne der Normalisierung der Konjunktur. Dabei sind zu 50 % der Konjunkturzuschlag und/oder die degressive Abschreibung als Ursachen für zurückhaltende Bestelltätigkeit bei Investitionsgütern von seiten der Unternehmer angegeben worden. Ich glaube, daß ist schon ein Anzeichen dafür, daß die Sache gewirkt hat.
Nur, Herr Stoltenberg, es kommt ja immer darauf an, wie die Lage bei Beschluß, bei der Entscheidung war. Es kommt nicht darauf an, wie man das später so oder so betrachtet. Und was lag in der Phase der Entscheidung im Juli von Ihrer Seite vor? Da lagen Vorschläge für eine Stabilisierungsanleihe, Vorschläge für attraktiv ausgestattete Steuergutscheine und ähnliches vor, soweit ich die Stabilitätsprogramme der CDU aus jener Zeit noch alle übersehe. Dazu hat sich der Sachverständigenrat in der Form geäußert, Herr Stoltenberg: Keinesfalls sollte ein Stabilisierungsprogramm ausschließlich aus der Emission von Steuergutscheinen oder einer Stabilisierungsanleihe bestehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abg. Dr. Stoltenberg?
Herr Kollege Schiller, wenn Sie hier schon unsere Vorschläge behandeln, würden Sie uns dann jedenfalls konzedieren, daß wir uns bereits drei Monate vor Ihnen für eine Maßnahme analog dem § 26 ausgesprochen haben in der von Ihnen eben zitierten Art und daß wir zweitens gesagt haben, daß dies allerdings nur mit einer Aktivierung der Konzertierten Aktion, die Sie nicht vorgenommen haben, wirksam sein kann und daß wir darin voll mit den Feststellungen des Sachverständigenrates in Ziffer 197 seines Berichts übereinstimmen?
Herr Stoltenberg, es tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht konzedieren; denn diese Maßnahmen, mit denen Sie damals gespielt haben, Steuergutscheine und Stabilitätsanleihe, sind nicht Maßnahmen im Sinne
des § 26 des Stabilitätsgesetzes. Die freiwillige Bereitstellung von Ersparnissen, das war doch weiße Salbe, Herr Stoltenberg, Sie wissen es doch selber.
Der Sachverständigenrat hat damals ganz deutlich gesagt: Soweit solche Maßnahmen lediglich zu einer Umschichtung in der Geld- und Kapitalanlage führen, stellen sie eine zusätzliche Belastung des Kapitalmarktes dar, was gegenwärtig unerwünscht ist. Das ist die Stellungnahme zu den beiden damals von Ihnen ventilierten, aber nicht vorgeschlagenen Hilfsmaßnahmen.
({0})
- Nein, dort hat er ganz klar gesagt, daß Maßnahmen, die pflichtmäßig erlassen und dann von den einzelnen Betroffenen durchgeführt werden, wirkungsvoller seien als Maßnahmen, die auf andere Weise freiwillig befolgt werden könnten.
({1})
- Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten bei dieser vergangenen Sache nicht bleiben. Ich habe auf das geantwortet, was Herr Stoltenberg mich gefragt hat.
Herr Stoltenberg, ich verweise noch einmal auf die Ziffer 7 dieses Jahreswirtschaftsberichts. Sie werden sehen, daß wir uns da mit den verschiedenen Meinungen des Sachverständigenrats befaßt haben.
Sie haben gesagt, wir hätten in der Ziffer 70 zur Bundesbankpolitik und zur Geldpolitik eine verschiedene Meinung zum Ausdruck gebracht, eine Meinung der Bundesregierung, die anders sei als die Meinung der Bundesbank.
({2})
„Wenn und damit", - nun, Herr Stoltenberg, ich habe schon versucht, es Ihnen persönlich zu erklären. Die eine Seite ist der Meinung, eine gewisse Annäherung an die normale Entwicklung sei die Voraussetzung für das weitere Durchhalten einer solchen Politik, und wir sind der Meinung, Herr Stoltenberg, daß die Lockerung der derzeitigen Kredit- und Geldpolitik der Bundesbank Ihrerseits wieder ein Beitrag dazu wäre, daß es zu einer Fortsetzung dieser Entwicklung im Sinne der Normalisierung kommt. Ich sehe zwischen dem Wenn, das die Voraussetzung, und dem Damit, das den Zweck für dieselbe Sache, die Zielrichtung wiedergibt, überhaupt keinen Widerspruch. Wir haben uns darüber geeinigt.
({3})
- Aber selbstverständlich. - Im übrigen haben wir auch Verständnis dafür - das habe ich deutlich zum Ausdruck gebracht -, wenn die Bundesbank selber nach Prüfung der Daten zu der Auffassung kommt, daß sie die Dinge noch ein wenig abwarten muß.
({4})
- Ich hoffe sehr, Herr Stoltenberg, daß wir das beide tun, daß wir beide dieselbe Auffassung von der deutschen Sprache haben. Nur darf ich Ihnen eines sagen: was wir beide mit „wenn" oder „damit" beschreiben, ist nicht ein einmaliger Akt, sondern eine Entwicklung. Die Bundesbank ist der Meinung, es müßte ein bißchen anfangen, und wir sind der Meinung, die Bundesbank muß auch dabei sein, damit es weitergeht, und das ist kein Widerspruch.
({5})
Nehmen wir es ganz klar, wir haben einen Verlauf, der 10 Zeiteinheiten umfaßt, und die Bundesbank sagt: Nach der Zeiteinheit 1 mache ich das soundso und lockere meine Kreditpolitik. Dann sind wir sehr einverstanden. Das ist nämlich für uns wichtig, damit es die folgenden Zeiteinheiten bis 10 im Sinne dieser normalisierten Entwicklung weitergeht. So ist es. - Aber es tut mir leid, daß wir uns hier so weit in die Scholastik hineinbegeben.
Ein nächstes Wort zu den Gemeindefinanzen. Herr Stoltenberg, es ist nicht gut, wenn auch Sie als Haushaltsmann anfangen, so flott mit negativen Zahlen herumzuwerfen. Sie sagten, Mindereinnahmen der Gemeinden 30 %. Ich kann Ihre Quellen nicht nachprüfen. Ich kann nur feststellen: Einnahmen der Gemeinden an Steuern und steuerähnlichen Einnahmetiteln im Jahre 1969 18,9 Milliarden DM, im Jahre 1970 18,4 Milliarden DM und 1971 20,4 Milliarden DM. Weiter wissen wir alle, Herr Stoltenberg, daß die Gewerbesteuer von den Gemeinden aus dem Jahre 1970 in das Jahr 1969 vorgezogen worden ist, eine Sache, über die der Finanzminister sehr viel besser Auskunft geben kann als ich und die das ganze Jahr 1970 beeinflußt hat. Das macht eine Summe von etwa 2 1/2 Milliarden DM aus, die aus dem Jahre 1970 in das Jahr 1969 gegeben worden sind. Deswegen sind die Einnahmen aus Gewerbesteuern im Jahre 1969 in der Statistik natürlich besonders hoch. - Ich hoffe, ich habe Ihnen wenigstens klargemacht, daß das, was uns an Zahlen vorliegt - und ich habe mir gerade vom Finanzminister noch einmal die neuesten Zahlen geben lassen -, nicht die kategorische Aussage einer Abnahme der Steuereinnahmen der Gemeinden um 30 %, um fast ein Drittel, rechtfertigt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Darf ich Sie nur um der Klarheit willen darauf hinweisen, Herr Minister, daß ich hier nicht vom Jahresvergleich gesprochen habe, sondern von Äußerungen von Stadtkämmerern und auch von Finanzministern, die den Koalitionsparteien angehören, über die Entwicklung der letzten Monate, November und Dezember? Ich glaube nicht, daß Sie durch solche Jahresvergleiche den unerhöhten Ernst der Verschlechterung der kommunalen Finanzen in den letzten zwei, drei Monaten hinwegbringen können.
Herr Stoltenberg, wenn Sie vom unerhörten Ernst sprechen, dann verlangt der unerhörte Ernst der Lage der Gemeindefinanzen auch von Ihnen, daß Sie als Sprecher der Opposition in Wirtschafts- und Finanzfragen hier mit exakten Prozentzahlen aufwarten. 30 % so schlechthin, das scheint mir einfach vorbeigelungen zu sein. Es ist aus der Statistik nicht zu ersehen, und wenn, dann muß man sagen, was sich gegenüber wem um 30 % verändert hat. Zahlen der Finanzstatistik rechtfertigen diesen globalen Vorwurf nicht.
Ich darf noch ein Wort zur Landwirtschaft sagen. Ich kann nur auf das hinweisen, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat, und darf nur das wiederholen, was ich am 21. Januar auf Befragen zur Preislage in der deutschen Landwirtschaft gesagt habe. Es ist sehr einfach. Wir haben nach der Aufwertung für den landwirtschaftlichen Einkommensausgleich für vier Jahre pro Jahr 1,7 Milliarden DM bewilligt. Als Ausgangsbasis haben wir eine Senkung der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise um etwa 7 % angenommen. Dadurch sind die 1,7 Milliarden DM entstanden, und wir haben festgestellt, daß die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise bis zum September letzten Jahres immer innerhalb dieser Marge waren, also, sagen wir, von Null bis minus 6,5 abgefallen sind. Erst ab Oktober sind sie unter die vorausberechnete Marge gesunken. Mein Beitrag zu diesem Thema ist nur: vom allgemeinen wirtschaftlichen Standpunkt aus - ich will konkret sein - halte ich es für überlegenswert, was zu tun ist, damit sich die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise wieder an diese vorauskalkulierte Marge von minus 7 % heranbewegen. Das scheint mir ökonomisch legitim zu sein. Das übrige wird durch den Einkommensausgleich gedeckt.
Was ich hier nicht unterschreiben kann, Herr Müller-Hermann und Herr Stoltenberg, das sind so globale Reden von Existenznot und Hilfen schlechthin. Da müssen Sie schon sagen, was zu tun ist. Ich habe mich selbst schon in einer früheren Debatte hier im Deutschen Bundestag dafür ausgesprochen, daß man gezielte Preiskorrekturen vornimmt, und ich habe jetzt gesagt, die Preisentwicklung müßte man wieder so hinbringen, daß man auf den vorausberechneten Stand kommt. Aber so allgemeine Redensarten, die dann darußen im Lande den Eindruck erwecken, Sie seien für eine 10 %ige Anhebung aller Preise - ({0})
- Ja, dann haben Sie auch den Mut und sagen Sie das. Wenn Sie das nicht wollen, hört sich das schon ganz anders an. Vorhin habe ich Ihr Plädoyer so aufgefaßt, als ob Sie für eine globale, über alles gehende Heraufsetzung der Agrarpreise seien. Wir haben uns bemüht, in dieser Angelegenheit so konkret wie möglich zu sein. Im übrigen ist das alles für uns - ich sage es noch einmal - Vorbereitung. Wir warten auf die Vorschläge der Brüsseler Kommission und wir wissen, daß uns unser Kollege Ertl dazu seine Stellungnahme geben wird.
Da können Sie ganz sicher sein, wir werden uns mit dem Kollegen Ertl einigen. Es gibt da keine verschiedenen Meinungen. Wir haben auch in diesem Kabinett eine sehr enge Zusammenarbeit auf den Gebieten der Landwirtschaftspolitik und der allgemeinen Wirtschaftspolitik.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Struve?
Ja, bitte!
Herr Minister, darf ich aus Ihrer Prozentrechnung entnehmen, daß Sie die Entwicklung des Unkostenfaktors völlig unberücksichtigt lassen wollen, was bei einer Betrachtung der Erzeugerpreise, wie Sie sie anstellen, darauf hinauslaufen würde, daß die Erzeugerpreise für vier Jahre eingemauert sind, degressiv gestaffelt, nach dem Abkommen, das Sie abgeschlossen haben, sogar absinken, so daß die Unkosten immer weiter steigen und die Schere immer weiter auseinandergeht?
Herr Struve, ich bin nicht der Meinung, daß ich etwa in meiner verkürzten Darstellung hier Anlaß gegeben hätte, von mir zu glauben, ich ließe bei der Landwirtschaft den Kostenfaktor außer acht. Selbstverständlich wird man den in den Brüsseler Verhandlungen auch berücksichtigen. Bloß können Sie von mir nicht verlangen - dazu bin ich nicht Agrarminister, Gott sei Dank nicht -, daß ich hier eine Vorausberechnung mache. Ich antworte nur auf Ihre Äußerung, auch in bezug auf die Entwicklung der Betriebsmittelpreise. Ich bin der Meinung, daß man bei kommenden Unterhaltungen auch diesen Faktor berücksichtigen sollte. Aber, Herr Struve - das muß ich mit aller Deutlichkeit sagen; das geht viele draußen im Lande an -, man kann zwar über die Preise von seiten der landwirtschaftlichen Erzeuger schimpfen, nur sollte man nicht immer den Einkommensausgleich in Höhe von 1,7 Milliarden DM vergessen, etwa nach der alten Methode: Was gegessen ist, ist vergessen. Der Ausgleich wird noch drei Jahre weitergezahlt. Er deckt einen Teil der landwirtschaftlichen Preissenkung ab.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich glaube, wir sollten dieses Thema jetzt abschließen.
Ich habe gesagt, daß wir in Zukunft beide Faktoren, Einkommensausgleich und Betriebsmittelpreisentwicklung, berücksichtigen müssen.
({0})
- In diesem Fall nehmen Sie bitte Rücksicht darauf,
daß ich nicht meinem Kollegen Ertl vorgreifen will.
({1})
- Ja, ich bin viel konkreter gewesen als Sie.
({2})
Sie haben hier nur schlechthin Ihr Wehklagen über die Existenznot der deutschen Bauern formuliert; nichts anderes.
({3})
- Immerhin habe ich damit für jeden, der die Dinge kennt, angedeutet, daß hier etwas drin ist, nämlich eine bestimmte Spanne zwischen dem, was im Dezember oder November gewesen ist, und dem, was wir alle miteinander uns einmal vorgenommen hatten. Das ist weit mehr als das allgemeine und unverbindliche Klagelied über die Lage. Insofern hinkt die Opposition auch in diesem Bereich, Herr Stoltenberg, hinter der Regierung her.
Ich will jetzt nicht im einzelnen auf die Äußerungen von Herrn Pohle eingehen, insonderheit seiner Außerung in Sachen Projektionen, Berechnungen, Quantifizierungen. Herr Pohle, es ist schade, daß Sie sich so kritisch geäußert haben. Sie wissen, wir haben es jetzt erreicht, daß nicht nur die Regierung mit solchen Gesamtrechnungen arbeitet, sondern auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Unternehmensverbände. Das ist ein Fortschritt im Sinne der Versachlichung der wirtschaftspolitischen Debatte. Wir sollten diesen Fortschritt gerade bei den autonomen Gruppen begrüßen und nicht als nutzlos heruntermachen. Es ist schon nützlich, festzustellen, Herr Pohle, daß z. B. die Unternehmer in ihrer eigenen Projektion keine unbegrenzten Vorstellungen in bezug auf ihre eigene Preispolitik haben, sondern die Zahl von 3 % schriftlich genannt haben, die ich hier schon mehrfach erwähnt habe.
Nun zum Gesamttenor Ihrer Ausführungen von der Opposition. Angesichts der Meinung der Wirtschaft draußen - ich werde Ihnen dazu noch einen einzigen Satz verlesen - sehe ich bei der Opposition die Gefahr, daß sie auch diesmal den Zug verpaßt.
({4})
- Ja, genau! Z. B. heißt es in dem neuen Schreiben des Bundesverbandes deutscher Banken, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels, des Deutschen Industrie- und Handelstages, der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, der besonders stabilitätsbewußt ist und in vielen schwierigen Fragen immer sein Stabilitätsbewußtsein zum Ausdruck gebracht hat, wörtlich - Herr Stoltenberg, Sie sollten da einmal hinhören -:
Die an der Konzertierten Aktion beteiligten Unternehmensverbände begrüßen die konjunkturpolitischen Feststellungen und Empfehlungen des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung.
Dieser Satz wurde am 1. Februar 1971 geschrieben. Sie sprechen zwar von Vertrauenskrise, Vertrauenserschütterung und ähnlichem, aber Sie sehen, daß es in Wirklichkeit nicht so ist. Das Klima, das sich in diesen Briefen, in diesen sachlichen Debatten zwischen der Wirtschaft und der Regierung zeigt, ist ein Klima des sachlichen Sich-Aussprechens. Sie von der Opposition sollten da eigentlich mitmachen; aber Sie machen - wenigstens bisher - nicht in sachlicher Zusammenarbeit, sondern Sie malen die Lage schwarz und schwärzer. So sagen Sie, es drohten Rezessionsgefahren und ähnliches.
({5})
- Nein, es ist anders. Eine solche Entwicklung kann
unter den und den Bedingungen klar vermieden
werden. An das Wehklagen haben Sie sich gewöhnt.
Ich sage der Opposition nur, sie sollte sich besinnen, sie sollte sich selber die Frage vorlegen, warum sie nicht an diesen gemeinsamen Anstrengungen von Wirtschaft und Regierung mitarbeitet, gerade jetzt, wo es auf die Verhaltensweisen aller ankommt, der Unternehmer und der Gewerkschaften.
({6})
Sie sollte durch ihre Äußerungen das Klima nicht verschlechtern.
({7})
Deswegen kann ich sie nur noch einmal auffordern, bei den Anstrengungen mitzumachen.
({8})
Wie auch immer Sie sich entscheiden, diese Bundesregierung - ich sage es noch einmal - wird sich in ihrem Kurs nicht beirren lassen, zumal da sie weiß, daß sie auf diesem Kurs draußen im Lande gute Verbündete hat.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höcherl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht ist eine gute Arbeit. Ich bekenne es ganz offen. Und er ist zum erstenmal ausgestattet mit Alternativen. Das hat man früher nicht gelesen. Man ist bescheidener geworden, man hat auf dem Markt etwas gelernt, obwohl Herr Professor Schiller schon sehr lange in diesem Geschäft steht. Aber von dem Übermut von 1969 ist nichts mehr vorhanden.
({0})
ich war - möchte ich fast sagen - zu Tränen gerührt, als ich die Ausführungen und Darstellungen, Ihr Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft gelesen habe. Müller-Armack und Professor Erhard müssen vor Neid erblassen. Ich kann Ihnen nur meinen Respekt sagen, daß Sie das geschafft haben.
Das kann nur im Umlaufverfahren geschehen sein; so geschlossen ist nämlich das Kabinett in diesen Fragen nicht. Aber Sie verdienen Respekt, daß Sie das ausgesprochen haben, und wir werden noch darüber sprechen, ob das ein verbales Bekenntnis bleibt oder ob diesem Bekenntnis auch Taten folgen. Wir von der Opposition werden vielleicht auch eine Sonderausgabe an die Jusos schicken - das leisten wir uns -, damit man es auch dort zur Kenntnis nimmt,
({1})
damit sich nicht Dinge wie bei Ihrer Wahlfahrt, Herr Bundeskanzler, in entsprechender Begleitung nach Bremen wiederholen, wo Sie einen sehr beachtlichen Kollegen als „Brandt-Opfer" dargebracht haben.
({2}) Sie wissen schon, was ich meine.
({3})
Es wäre auch ganz gut - da liegt nämlich der Hase im Pfeffer -, wenn Sie einige schrille Töne in Schleswig-Holstein, in Süd-Hessen usw. dämpfen würden. Das ist die Vertrauenskrise. Es nimmt Ihnen niemand ab, daß Sie, beim besten Willen, auf die Dauer gesehen, diese Grundsätze verwirklichen können, weil Sie von allen Seiten her bedrängt werden und Ihnen der Nachwuchs erhebliche Schwierigkeiten macht.
Dazu kommt das, was sich die Regierung an Widersprüchlichkeiten geleistet hat. Beim Reformprogramm der Bundesregierung - der Herr Bundeskanzler mußte heute in einer schönen Geste etwas zurechtschneiden, auch das soll anerkannt werden - mußte eben Premieren-Effekt dabei sein. Dabei waren es altgediente Herren mit Erfahrungen in Landesregierungen und drei Jahren Großer Koalition, die eigentlich schon hätten wissen müssen, wie hart die Wirklichkeit aussieht. Aber der Premiereneffekt mußte sein.
({4})
Inzwischen ist das alles abgehängt. Die Steuererleichterungen sind verschoben auf, - wir wissen schon wie lange.
Sie sagen selbst: 50 % der Wirtschaftspolitik sind angewandte Psychologie. Dazu gehört aber ein Vertrauensklima, dazu gehört, daß eine Regierung nicht etwas anderes verspricht, als sie halten kann, daß sie nicht schon nach wenigen Tagen ihr Versprechen zurücknehmen muß und dann von Steuererhöhungen spricht, daß sie nicht alles auf 1972 verschiebt. Vier ausgewachsene Staatssekretäre, bei denen man den Sachverstand eigentlich konzentriert finden müßte, arbeiten ein Papier aus, das sofort wieder zurückgezogen werden muß, weil es nicht das Licht der Öffentlichkeit finden darf - jetzt noch nicht, vielleicht in einer etwas harmonischeren Koalition. Das ist doch die Lage. Unser Gegenkonzept wäre: aufrichtiger, realistischer, wahrheitsgemäßer! Das würde Vertrauen schaffen.
({5})
Herr Schiller hat sich sehr über die Kritik beklagt, wenn er auch zunächst gesagt hat, sie müsse sein. Aber wir geben ja nur eine Kritik wieder. Wir erfinden keine eigene, sondern wir geben die harte Kritik der Sachverständigen wieder. Sie haben das Zeugnis gefälscht. Sie haben erklärt, das sei nicht ganz so, wie Sie es dem Parlament - also Ihren Eltern - vorzeigen sollten. Da haben Sie es dann umgeschrieben. So war es doch!
({6})
Was sagt der Ihnen doch sehr nahestehende Bundesbankpräsident in einer bewundernswerten Art der Pflichterfüllung? Er sagt, daß er eine Krise befürchte, daß er in seiner Geldpolitik - die sich so verhängnisvoll für viele Kreise und Wirtschaftssektoren auswirkt - keinen neuen Kurs einschlagen könne. Das sind die Ergebnisse Ihrer bisherigen Politik!
Sie fodern eine Gegenkonzeption. Das aber setzt voraus, daß Sie zunächst selber eine Konzeption haben.
({7})
Sie sind aber nur getrieben und geschoben worden. Die Gegenkonzeption besteht in der Wiederherstellung des Vertrauens. Wir haben Ihnen auf dem ganzen Wege Schützenhilfe gegeben. Wir waren bereit - gegen taktische Oppositionsinteressen -, dafür zu sorgen, daß Sie wieder herunterkommen vom Piedestal Ihrer großen Versprechungen, damit Sie wahrheitsgemäßer werden.
({8})
Ich will Ihnen sagen, was wir tun würden. Wir würden dieses Reformprogramm zurechtschneiden, es wahrheitsgemäß darstellen und dann der Öffentlichkeit sagen: So ist die Lage; das muß geschehen; das können wir in diesen vier Jahren machen. Aber wir würden kein illusionäres Gewebe hinstellen. Eine solche wahrheitsgemäße Darstellung würde helfen, und sie hat schon einmal geholfen.
({9})
- Das ist keine Büttenrede, sondern das sind für Sie unangenehme Wahrheiten, und ich weiß, daß Ihnen das wehtut.
({10})
Im zweiten Teil seiner Auslassungen hat sich Herr Kollege Schiller etwas mit der Opposition beschäftigt und erklärt, die Opposition habe nur Kritik, grau in grau. - Ja, heller ist die Landschaft nicht! Sie ist grau!
({11})
Wir haben ja nur die Situation geschildert, und das dürfen wir doch wohl. Im übrigen befinden wir uns in bester Gesellschaft mit Verwandten von Ihnen. Wir haben hier die Gewerkschaften angehört. Sie haben in ihrer wissenschaftlichen Begutachtung erklärt, sie befürchteten 500 000 Arbeitslose. So weit sind wir noch niemals gegangen. Wir sind sogar sehr zurückhaltend, weil wir wissen, daß wir wegen der psychologischen Situation unsere Worte wägen müssen und nicht Öl ins Feuer gießen dürfen. Diese
Zurückhaltung ist oppositionspolitisch gar nicht so einfach.
({12})
- Sie brächten das nicht fertig; das wissen wir aus vergangenen Zeiten.
({13})
Ja, und dann haben Sie noch Mohrenwäsche betrieben, Herr Kollege Schiller. Sie haben die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers in Hannover etwas abzuwaschen versucht. Ja, damals ging es nicht um Vollbeschäftigung. Da herrschte wie heute eine sensationelle Überbeschäftigung. Es bestand überhaupt kein Anlaß, ein solches Wort auszugeben. Welchen taktischen Zweck es hatte, das ist uns vollkommen klar.
Was Sie zur Landwirtschaft sagen, Herr Professor Schiller, ist zu wenig: Überlegenswert, unbestimmt und dann der zufriedene Hinweis darauf, daß die schlechten Preise in der Landwirtschaft Ihnen wenigstens einige Millimeter bessere Stabilität ermöglicht haben. Das reicht für die Landwirtschaft nicht aus. Sie, Herr Bundeskanzler, haben gesagt, Sie hätten die EWG-Agrarpolitik in der Vergangenheit nicht eingeführt. So kann man sich aber aus einer bestimmten historischen Situation nicht wegstehlen. Das, nämlich der Zusammenschluß mit den Überschußländern, war die Bedingung für den europäischen Zusammenschluß. Der Überschuß mußte in irgendeiner Form politisch aufgenommen werden; sonst gäbe aus auch in Zukunft kein gemeinsames Europa. Jedenfalls sollte man jetzt nicht alles auf dem Buckel einer Gruppe und nur auf einem einzigen Sektor austragen wollen, sondern man sollte den Mut finden, die Wahrheit zu sagen.
Mit einem gefährlichen Stolz wird gesagt, daß die Lohnpolitik grandiose Erfolge aufzuweisen habe. Liegt das aber nicht sehr nahe bei Ihrer eigenen Warnung, Herr Professor Schiller, die Sie im Jahreswirtschaftsbericht ausgesprochen haben, nämlich daß die Lohnpolitik kein Instrument der Umverteilung sein dürfe? Natürlich müssen Sie nach beiden Seiten Weihrauch streuen; das ist klar. Aber woher kommt es denn, Herr Kater - um gleich auf eine Bemerkung von Ihnen zu antworten -, daß die Tarife von Bundesbahn und Bundespost demnächst mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen erhöht werden müssen? Ist das nicht das Ergebnis einer übertriebenen Lohnpolitik, die sich von der Produktivität entfernt hat, weil man geglaubt hat, unsere Volkswirtschaft könne das in diesem Verbund alles tragen? So ist es doch.
Herr Abgeordneter Höcherl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus?
Ja, selbstverständlich!
Herr Kollege Höcherl, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Überschüsse in der EWG nie so tatkräftig abgebaut worden sind wie im Jahre 1970 durch diese Regierung?
({0})
Das war das Erbe, das ich meinem Kollegen und Freund Ertl hinterlassen habe.
({0})
- Ja! Haben Sie noch nichts von der Intervention B, den Exportanstrengungen und all den Dingen gehört, die wir gemacht haben? So war es. Sie, Herr Kollege Gallus, sind einfach zu jung in diesem Geschäft.
({1})
Herr Kollege Schiller, die Vorschläge der Kommission liegen auf dem Tisch. Sie reichen nicht aus, um dem Übelstand wirklich abzuhelfen. Ich möchte von Ihnen ein klares Bekenntnis haben, ob Sie über diese Vorschläge der Kommission hinausgehen und etwas Ernsthaftes unternehmen wollen, damit unsere Landwirtschaft aus dem Preisdruck herauskommt.
({2})
Ich darf mich nun einigen Bemerkungen des Herrn Bundeskanzlers zuwenden; ein Teil davon ist schon von anderen Kollegen abgehandelt worden. Der Herr Bundeskanzler meinte, die Opposition habe sich geirrt. Wie schlafwandlerisch aber ist die Regierung in die ökonomische Landschaft gegangen: ohne Führung, ohne Richtung und ohne Wegweiser! Sie haben sich geirrt. Wir haben uns auch geirrt aber nur insofern, als wir es nicht für möglich gehalten hätten, daß man in einem Jahr derart abwirtschaften kann. Das war unser Irrtum.
({3})
Das Wort „Inflation" ist von uns in der Form überhaupt nicht gebraucht worden; dafür gibt es Beweise.
({4})
Aber der Kollege Ertl hat sich - das war eine unglaubliche Disziplinlosigkeit - auf der Grünen Woche erlaubt, von einer „inflationären Entwicklung" zu sprechen.
({5})
So weit bin ich nicht einmal gegangen.
Herr Abgeordneter Höcherl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Peters?
Ja.
Herr Kollege Höcherl, Sie haben gesagt, Sie hätten das Wort „Inflation" nicht gebraucht. Haben Sie nicht in Bayern das Plakat „SPD gleich Inflation" gesehen? Hat das nicht die CSU geklebt?
Meine Damen und Herren, ich bin durchaus bereit, über Wahlslogans zu sprechen. Wollen wir damit anfangen? Dann würde aber eine dicke Kiste aufgemacht! Was meinen Sie, was Sie darin an SPD-Produkten finden! Ich glaube, hier ist nicht der geeignete Ort, solche Debatten zu führen.
Herr Abgeordneter Höcherl gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kirst?
Jawohl!
Herr Kollege Höcherl, sind Sie bereit, sich daran zu erinnern, daß Sie außerhalb jeden Wahlkampfes auf einer Podiumsdiskussion mit mir und einem anderen Kollegen vor einigen Wochen in Neheim-Hüsten ständig von „Inflation" gesprochen haben?
Von inflationären Entwicklungen.
({0})
Ich erinnere mich sehr wohl. Es war eine sehr nette Diskussion. - Die inflationäre Entwicklung ist heute schließlich Allgemeingut aller Erkenntnis.
({1})
Herr Abgeordneter Höcherl, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Abgeordneten Althammer?
Herr Kollege Höcherl, könnten Sie dem Herrn Kollegen Peters den Hinweis geben, daß auf dem Plakat, das er angesprochen hat, die inflationäre Entwicklung durch das Kleinerwerden der D-Mark dargestellt war?
Herr Kollege Peters hat es gehört. - Nun, der Herr Bundeskanzler hat auf die Haushaltspolitik verwiesen und erklärt, die Regierung hätte damals recht gehabt. Meine Damen und Herren, eine Metamorphose hat sich ereignet. Der Herr Kollege Finanzminister hat - anerkennenswerterweise sehr frühzeitig - den Haushaltsplan für 1971 mit einer sehr beachtlichen Steigerungsrate vorgelegt. Wegen der Signalwirkung in der damaligen Landschaft hat alle Welt damals gegen diesen Haushalt Stellung genommen. Heute versucht man, aus den späteren Notwendigkeiten eine große prophetische Gabe zu konstruieren. Ich muß schon sagen, das ist eine Metamorphose - wahrhaft großartig!
({0})
Das taktische Geschick ist nicht zu übersehen. Damals aber war es grundfalsch.
({1})
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, was Sie tun
würden, wenn Sie jetzt die Regierungserklärung
wieder schreiben würden. Das ist ein guter Vorsatz. Warum tun Sie es eigentlich nicht?
({2}) Das wäre der beste Weg.
Nun komme ich zu dem Rezessionsgespenst. Niemand von uns malt ein Rezessionsgespenst. Aber Sie werden wohl von solchen Vorstellungen geplagt, die Ihnen von der Wissenschaft und der Bundesbank sehr deutlich vorgezeichnet werden. Wir tun das nicht. Wir haben selbst Angst von einer solchen Rezession, weil sie uns alle treffen würde.
Etwas ganz Gefährliches, Herr Bundeskanzler, haben Sie in diese Debatte getragen, indem Sie den Begriff der Vollbeschäftigung immer mit einem gewissen Soupçon oder Verdacht gegen uns vortragen und dabei so etwas wie manipulierte Unterbeschäftigung usw. anklingen lassen.
({3})
Sie haben sich darüber beschwert, wie die Opposition mit Äußerungen von Regierungsmitgliedern umgeht. Herr Bundeskanzler, ich will nicht alte Dinge aufwärmen; aber Sie hatten auch einige Male Pech, und absoluter Tabellenführung auf diesem Gebiet ist unser Freund Wehner. Das kann wohl nicht bestritten werden.
({4})
Es ist jedenfalls etwas Gefährliches, unterschwellig solche Dinge auszustreuen und dann mit entsprechender Nachhilfe in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Es gibt leider Leute, die sich dazu bereit finden. So etwas sollten wir auch zwischen Regierung und Opposition nicht hinnehmen. Ich würde so etwas auf unserer Seite nicht billigen können und darf Sie bitten, hier ein klärendes Wort zu sprechen.
({5})
- Herr Stoltenberg meint, im Süden werde etwas drastischer gesprochen. Ja, das kommt gelegentlich vor.
Das ist eine gefährliche Sache, weil die Vollbeschäftigung oder die gute Beschäftigung eine so entscheidende Angelegenheit ist.
Was die Behandlung der Landwirtschaft durch den Herrn Bundeskanzler betrifft, so reicht sie nicht aus. Herr Bundeskanzler, Sie müssen jetzt schon
- zur Vorbereitung der anstehenden Aufgaben - ganz klar sagen: Hier sind unsere Grenzen; das sind unsere Zahlen; das wollen wir. Wir unterstützen Sie dabei.
Diese Debatte, meine Damen und Herren, war meines Erachtens bei all ihrer Gegensätzlichkeit so angelegt, daß sich ein gemeinsamer Weg ergibt. Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn Sie bei der von Ihnen beschworenen sozialen Marktwirtschaft bleiben, wenn Sie das Stabilitätsgesetz anwenden, wie Sie es hätten anwenden wollen - es ist Ihnen bloß nicht ganz gelungen -, dann verteidigen wir Sie. Wir verteidigen Sie immer und müssen Sie verteidigen gegen Ihre Widersacher in den eigenen Reihen.
({6})
Wir werden Sie auf diesem Weg der sozialen Marktwirtschaft führen, halten, stützen, und das ist der einzige Weg, um nicht in die Rezession zu kommen!
({7})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Arndt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Höcherl hat hier in seinem altbekannten Charm und mit seiner alten Technik geschlossen; Minister Schiller gegen Minister Möller, Minister Möller gegen Minister Schiller, beiden gegen den Kanzler und den Kanzler gegen alle übrigen zu loben. Diesem Lob wie auch jedem anderen Lob schließen-wir uns gern an. Tatsächlich hat die Bundesregierung in dem Jahreswirtschaftsbericht und in der Stellungnahme zum Sachverständigengutachten eine klare Position bezogen, die für das Jahr 1971 - für die Gegenwart und die übersehbare Zeitstrecke - die einzig mögliche ist. Das, was an Entscheidung noch von uns, von diesem Haus - auch von Ihnen - in dieser Woche verlangt ist, ist eine Zustimmung zum Bundeshaushalt mit einer Etatsumme von 100 Milliarden DM. Das ist das, was im Augenblick konjunkturpolitisch notwendig ist.
({0})
Denn darauf können sich Erwartungen für das Jahr 1971 gründen, Erwartungen der Unternehmen, der Bauwirtschaft - im Hochbau und im schwer bedrohten Tiefbau -, ,der öffentlichen Bediensteten, der Menschen an den Universitäten, die auf neue Laboratorien warten und die wissen wollen, mit welchen Stipendien sie rechnen können. Das ist eine klare Basis.
Wie wir wissen, haben die Länder eine ähnlich expansive Politik 1971 vor. Bund und Länder können das, weil in den Jahren 1970 und auch 1969 - auch dieses Jahr soll aus der Konjunkturpolitik nicht ausgeklammert werden - sparsam gewirtschaftet worden ist, weil auch dringliche Programme zurückgestellt worden sind. Sie können 1971 nachgezogen werden und müssen nachgezogen werden. Denn das Programm dieser Regierung - so sieht es die sozialdemokratische Fraktion - besteht ja nicht aus Wirtschaftspolitik allein, so wichtig und so voraussetzend für alles andere sie ist.
Das Programm der Regierung besteht darin, aus diesem Land ein moderneres Land zu machen, das sich den Aufgaben der nächsten Jahre, wenn nicht des nächsten Jahrzehnts, gewachsen zeigt. Diese Konzeption ist gar nicht so neu. Auch die Opposition hat zu der Zeit, als sie die Regierung führte, Wachstum und Stabilität als Unterbegriffe eines größeren Ganzen empfunden, als Unterbegriffe der politischen Entwicklung und der Stabilität politischer Verhältnisse.
Ich darf aus der Rede zur Einbringung des Haushaltssicherungsgesetzes vom 29. November 1965 zitieren. Es sprach Herr Barzel:
Dr. Arndt ({1})
Meine Damen und Herren, ich nehme an, niemand in diesem Hause wird bestreiten, daß die Politik ... zwingend voraussetzt, daß unsere Wirtschaftskraft wächst. Unsere sozialen Leistungen, unsere kulturellen Vorhaben, unsere an der Selbstbestimmung Deutschlands orientierte Außen- und Verteidigungspolitik, unser Mühen um Erleichterungen in der Zone -, dies und vieles mehr erfordert eine dynamische Wirtschaft, verlangt überschüssige wirtschaftliche Kraft. Dieses Wachstum wollen wir bei Stabilität. Unser gutes deutsches Geld muß bleiben, was es ist: eine der stabilsten Währungen der Welt.
Das ist die D-Mark geblieben, und das wird sie auch bleiben. Denn so schwierig es für eine Regierung ist, so schwierig es für den Bundeswirtschaftsminister und den Finanzminister ist, die Konjunktur des Morgen heute zu steuern, zu einer Zeit zu handeln, zu der die öffentliche Meinung sich noch an Daten der Vergangenheit orientiert, so schwierig das ist und sosehr, wie Herr Höcherl meinte, ursprüngliche Zuversicht vielleicht moderiert wurde, so sehr ist es doch in diesen vier Jahren, in denen der Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Schiller hieß, gelungen, nicht nur aus der Rezession herauszukommen, nicht nur Stabilität im Aufschwung zu erreichen, sondern auch international gesehen etwas an Wirtschaftspolitik ohne große Verzögerungen vorzuführen, was einmalig ist und worum wir in der ganzen Welt beneidet werden.
({2})
- Ich verstehe sehr gut, daß Sie in diesen Tenor nicht ohne weiteres einstimmen können; denn es ist die legitime Pflicht der Opposition, die Regierung zu kritisieren.
({3})
Und bei dieser Kritik ist es natürlich auch notwendig, nicht alles schönzufärben, sondern statt dessen vielleicht ein bißchen schwarzzumalen, Worauf es hier doch aber ankommt, ist, ob Ihre Kritik wie die Kritik, die wir an dieser und jener Aktion zu üben gewöhnt sind, auch dazu beiträgt, die Regierung nach vorn zu bringen, ihr den Rücken zu stärken, um sich in dem internationalen Wettbewerb, dem sich unser Land ausgesetzt sieht, voll zu behaupten.
({4})
- Das glaube ich nicht, denn Ihre Kritik führte ja im letzten entscheidenden Moment von der Aktion weg. Das ist Ihnen heute oft genug gesagt worden, Herr Müller-Hermann. Sie waren im Frühjahr für zusätzliche Stabilitätsmaßnahmen und haben Sie dann im Juni nicht mitgemacht, obwohl es damals gar nicht eindeutig war, daß die Konjunkturlage diese Maßnahme vielleicht nicht mehr so dringlich machte. Sie haben sie nicht mitgemacht.
({5})
Sie haben sich dieser Entscheidung entzogen. Deswegen ist das Urteil über die Stabilitätspolitik des Jahres 1970, daß die Kleine Koalition mehr an Stabilitätsmaßnahmen zustande gebracht hat als ihre große Vorgängerin, ein eindeutiges Urteil.
({6})
- Ich nenne nur die Stabilitätsmaßnahmen des Haushalts, den Konjunkturzuschlag, die Aussetzung der degressiven Abschreibungen. Das sind alles unpopuläre Maßnahmen für beide Parteien, die die Regierung tragen. Aber diese Maßnahmen sind durchgesetzt worden, und das ist der entscheidende Beitrag.
({7})
Gut, man mag die vierteljährliche Verzögerung bedauern; Sie haben sie bedauert.
({8})
Von dem Vorwurf, nach einem Vierteljahr, als es zum Schwur kam, diese Maßnahmen nicht mitgetragen zu haben, können Sie sich nicht weißwaschen. Das ist geschehen, und dieser Vorwurf kann auch mit aller Polemik nicht entkräftet werden.
({9})
Das hängt Ihnen an wie das Nein zur Aufwertung im Jahre 1969. Hinterher können Sie immer sagen, die Aufwertung und der Konjunkturzuschlag hätten früher kommen müssen. Beides kam immerhin noch so rechtzeitig, daß es entscheidende Wirkungen für die Konjunkturberuhigung gehabt hat.
Herr Abgeordneter Arndt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stark?
Herr Kollege Dr. Arndt, Sie sprechen gerade von der Aufwertung. Bin ich richtig informiert, daß Sie Ihrer Regierung indirekt vorwerfen, daß sie eine zweite Aufwertung versäumt hat, weil die Bundesbank ihr widersprochen hat? So ist es in „Capital", Nr. 2, Seite 24, nachzulesen.
Ich habe in dieser Zeitschrift festgestellt, daß eine Aufwertung im Jahre 1970 deswegen nicht möglich war, weil die Bundesbank dagegen war. Ohne die Bundesbank kann eine währungspolitische Maßnahme ersten Ranges nicht durchgeführt werden, auch wenn sie legal in einer solchen Frage eigentlich nicht mitbestimmt. Von einem Vorwurf an die Bundesregierung kann also keine Rede sein.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Dr. Arndt, können Sie uns erklären, wie Sie zu der - in derselben Zeitschrift dargelegten - Auffassung kommen, die Bundesbank hätte mit der Ablehnung einer weiteren Aufwertung Rache an Herrn Bundeswirtschaftsminister Schiller nehmen wollen, demselben Herrn Schiller, der heute das Verhalten der Bundesbank gelobt hat?
Sie müssen das Interview noch einmal lesen. Das steht dort nicht drin.
Darf ich Ihnen Ihre Ausführungen vorlesen?
Ja, bitte!
Ich zitiere:
Welche Motive hatte die Bundesbank? Verschiedene, wie immer bei politischen Entscheidungen: fachliche Orthodoxie, starker Umerziehungsdrang, Schiller in die Lage von Schmücker zu bringen, und späte Rache für 1966 und 1967 zu üben. Das alles kann in einem Rat von Menschen zusammenkommen.
({0})
Sie haben nicht gesagt, welche Motive.
Es ging um die Ablehnung einer weiteren Aufwertung durch die Bundesbank. Sie haben in der Antwort auf die Frage, was die Motive der Bundesbank waren, von Rache an Schiller gesprochen.
Es ging in dem Interview um zwei Dinge. Erstens ging es um die Ablehnung der Aufwertung durch die Bundesbank. Das ist extern wie intern klar und war im Jahre 1970 praktisch ein Verzicht ,auf eine Bremsmaßnahme, die zusätzlichen Einfluß auf Preisstabilität gehabt hätte. Zweitens ging es um Restriktionsmaßnahmen klassischen Stils, die die Deutsche Bundesbank an Stelle dieser Maßnahmen verhängt hat, die aber zwei Dinge nicht verbessert haben: die Preisentwicklung und die starke Entwicklung des Geldvolumens.
Ich muß sagen, der jüngste Beschluß des Zentralbankrats, die Mindestreserven nicht zu senken, bei dem gegenwärtigen Kurs ,zu bleiben, wird die Konjunkturpolitik der Bundesregierung nicht gefährden. Er kann aber dazu führen, daß die Bemühungen der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Notenbank erschwert werden, in diesem wirtschaftspolitisch wirklich schwer kämpfenden Land wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen. Dazu kann dieser Beschluß führen.
Für die Finanzierung unserer Unternehmen und für die Finanzierung .des öffentlichen Bedarfs ist eine gleichgerichtete Notenbankpolitik in dieser offenen Welt nicht unbedingt notwendig. Für die
Bundesregierung und für unsere Unternehmen ist von Wichtigkeit, daß die amerikanische Notenbank ihrerseits bereit ist, ,den Geldmarkt und den Kapitalmarkt weiter aufzulockern. Bei der Durchlässigkeit der internationalen Märkte wird das die entsprechenden Wirkungen haben.
Nun zurück zu meinen Ausführungen. Wir brauchen Wachstum, weil unser Volk voran will. Wir brauchen Stabilität: unser Volk will das Erreichte sichern. Zu beidem gehört Vollbeschäftigung. Und der Herr Bundeskanzler hat mit der Erklärung, daß die Politik der Bundesregierung darauf gerichtet ist, jedem Arbeitswilligen in diesem Lande auch einen Arbeitsplatz zu ermöglichen, etwas sehr Richtiges und etwas sehr Notwendiges ausgesprochen.
({0})
- Aber Sie beanstanden, daß er er das gesagt hat. Fast jeder Redner von Ihnen hat daran herumkritisiert. Das erklärt doch, Herr Kollege Höcherl, daß Sie sich den Einwand und Vorwurf gefallen lassen müssen, Ihnen sei die Vollbeschäftigung nicht gleich hohen Ranges, wie das für die Bundesregierung, für die sozialdemokratische und Freie Demokratische Fraktion der Fall ist.
({1})
Herr Abgeordneter Arndt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Burgbacher?
Ja.
Herr Kollege Arndt, wollen Sie nicht einen wesentlichen Unterschied in der volkswirtschaftlichen Bedeutung zwischen Überbeschäftigung und Vollbeschäftigung anerkennen?
Der Herr Bundeskanzler hat keine Überbeschäftigungsgarantie gegeben. Er hat nicht gesagt, daß jeder seinen Arbeitsplatz, sondern daß jeder Arbeitswillige einen Arbeitsplatz behält. Das haben Sie damals in der Regierung Erhard nämlich nicht geschafft..
({0})
Mit welchem Recht können Sie unsere Bedenken gegen die Überbeschäftigung in Forderungen nach Nichtvollbeschäftigung ummünzen?
({0})
Da Sie immer gegen diese Formulierung des Herrn Bundeskanzlers polemisieren
({0})
Dr. Arndt ({1})
- übrigens stammt sie letzten Endes von Keynes -, setzen Sie sich dem nicht unberechtigten Verdacht aus, daß Sie es mit dieser Frage nicht so ernst meinen, Herr Burgbacher.
Herr Abgeordneter Arndt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner?
Ja.
Schließen Sie in Ihre Vorstellungen von der Vollbeschäftigung oder Überbeschäftigung auch die Aufgabenstellung mit ein, ständig auch für die nunmehr rund zwei Millionen ausländischen Arbeiter Beschäftigung zu beschaffen, koste es, was es wolle?
Ich gehe sehr gerne darauf ein, weil es tatsächlich sehr schwer ist, in Deutschland Vollbeschäftigung zu definieren, in einem Deutschland, das nicht nur gern Freizügigkeit aus allen Ländern der EWG akzeptiert, sondern das darüber hinaus auch bereit ist, ausländische Arbeitskräfte aus anderen Ländern, vornehmlich des mediterranen Raums hier beschäftigen, verdienen und etwas lernen zu lassen. Gestatten Sie mir, meine Antwort so zu formulieren: dieses Volk und diese Regierung wären sehr schlecht beraten, wenn sie bei Vollbeschäftigung nur an die eigenen Landsleute dächten.
({0})
Zwei Millionen Menschen, die zu Hause keine Arbeit haben oder nur eine schlechte Arbeit haben oder in der Landwirtschaft dieser Länder zusätzlich herumsitzen, die hier aber etwas lernen können, die ihre Familien ernähren können bis zu dem Jahr, wo ihre eigene Wirtschaft, vielleicht mit unserer Hilfe, so weit gekommen ist, daß sie zu Hause arbeiten können: das ist ein Beitrag zur politischen Stabilität im Mittelmeerraum, der dem der Sechsten Flotte nicht wesentlich nachsteht.
({1})
Deswegen, Herr Kollege, ist jedes Spiel mit den Gastarbeitern als einer Art industrieller Reservearmee, von denen man 100 000 oder 200 000 beliebig abschreiben kann - ({2})
- Da bin ich sehr dankbar. Ich nehme es gerne auf, daß Sie das nicht wollen. Ich bin sehr froh.
Dann hat aber der Herr Bundeskanzler mit seiner Rede vom Mai 1970, in der Vollbeschäftigung noch gar nicht mal in diesem weiten europäischen Sinne ausdrücklich definiert war - vielleicht aber gemeint war -, mehr als recht. Dann müßte man ihn beinahe bitten, diese Rede in den nächsten Monaten noch recht oft zu halten.
({3})
Herr Abgeordneter Arndt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ott?
Herr Kollege Dr. Arndt, da Sie vorher von der Rezession sprachen, ist Ihnen in Erinnerung, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister Schiller im Frühjahr 1967 im Zusammenhang mit den Ursachen für die Rezession den Ausdruck gebraucht hat: „Wir" - Sie, die SPD und er selbst -„alle waren damals Sünder." Das hat Herr Schiller selber erklärt, und er hat sich selbst eingeschlossen. Ich werde Ihnen das Zitat bringen.
({0})
Herr Ott, das hat er nicht in dem Sinne gesagt, daß er an der Konjunkturpolitik der damaligen Jahre schuld war, ganz sicher nicht. Im Gegenteil, ich erinnere mich, daß bei der Einbringung des Stabilitätsgesetzes durch die Regierung Erhard im September oder August 1966 die SPD-Fraktion schon Ankurbelungsmaßnahmen gefordert hat, und zwar eine halbe Milliarde mehr für die Post oder für den Straßenbau. Hätten Sie das damals gemacht, dann wäre die soziale Marktwirtschaft nicht in den Graben gefahren.
„Soziale Marktwirtschaft", diesen Begriff wärmen Sie neuerdings wieder sehr stark auf. Man hört ihn immer wieder in der Debatte. Aber ich glaube nicht, daß Sie ihn reaktivieren können. Für uns gilt die Formulierung des Stabilitätsgesetzes, und die heißt „marktwirtschaftliche Ordnung", ohne Adjektive, was letzten Endes Kartelle heißt, was letzten Endes heißen kann: Sollten wir nicht doch Löhne und Preise an diesen Stellen etwas unter öffentliche Kontrolle nehmen? Das wird in der Welt modern. Kollege Kater hat darauf hingewiesen, daß das in europäischen Ländern um sich greift, daß das auch in der US-amerikanischen Konjunkturdiskussion um sich greift.
({0})
Wir sollten davon ja abstehen und nicht zu Begriffen kommen wie „Marktwirtschaft zweiter Stufe" und „soziale Marktwirtschaft", Begriffe, die letzten Endes unser Volk auf eine falsche Fährte führen können. Es gibt keinen besseren Lenkungsmechanismus als den der Marktwirtschaft. Es gibt keinen besseren Schutz vor Ausbeutung der Arbeitskraft als marktwirtschaftliche Ordnung.
({1})
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie haben durch die Manuskripte die Hinweislampe übersehen.
In dieser Woche kommt es darauf an, daß der Etat im Volumen ungeschmälert verabschiedet wird. Alles andere, was
Dr. Arndt ({0})
dann noch notwendig werden könnte, steht im Jahreswirtschaftsbericht in der Darlegung der wirtschaftspolitischen Ziele. Arbeitsgruppen der Regierung sind daran, Programme für notwendige Infrastrukturmaßnahmen vorzubereiten. Das genügt für den Augenblick. In dieser Woche sind 100 Milliarden DM für den Bundesetat und damit für die Bevölkerung die Hürde; ich hoffe, wir können sie gemeinsam nehmen.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Graaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß mich zunächst einmal der Ansicht des Herrn Wirtschaftsministers anschließen. Denn auch nach der Rede des Herrn Kollegen Höcherl habe ich nicht feststellen können, daß die Opposition sachgerechte Beiträge zur heutigen Diskussion hat zur Verfügung stellen können. Alles, was bisher von der Opposition zu hören war, ist der Versuch, eine Negativstimmung zu erzeugen, Polemik gegen die Regierung vorzutragen und es den Regierungsfraktionen und der Regierung selbst zu überlassen, Sachbeiträge zu formulieren. Meine Damen und Herren, ich hätte es lieber gesehen, Sie hätten aus der eigenen Erfahrung mit dieser Marktwirtschaft den Versuch unternommen, einige positive Bemerkungen dazu zu machen, wie man in der Zukunft verfahren soll.
Herr Kollege Höcherl hat davon gesprochen, die CDU/CSU wolle kein Öl ins Feuer gießen. Aber mir scheint doch die Frage berechtigt: was tun Sie eigentlich hier? Und noch mehr: was tun Sie draußen, indem Sie aus nahestehenden Informationsdiensten - und ich bitte um Genehmigung, sie hier zu zitieren, obwohl sie hier nicht aufgetreten sind - deren Weisheiten zitieren, aus diesen Informationsdiensten, die mit gewohnter Regelmäßigkeit eine Verteufelung nach der anderen in die Welt setzen, um dieser Regierung zu schaden und um Wirtschaft und Bevölkerung zu verunsichern. Da haben wir erst einmal das Gerede von der großen Inflation. Dann wird mit schlichter Eindringlichkeit dargelegt, daß doch kein Mensch daran glaube, daß dieser Konjunkturzuschlag jemals zurückgezahlt würde. Und wenn das dann verbraucht ist, dann spricht man von der großen Krise, die jetzt bevorstehe, und von den unerträglichen Steuererhöhungen. Und wenn diese Steuererhöhungen noch nicht ausreichend sind, dann spricht man von der totalen Enteignung, indem man ein Gutachten wiederaufleben läßt, das sich der Bundesfinanzminister Strauß einmal zur Erbschaftsteuer machen ließ, um zu zeigen, wohin man kommt. Dann verunsichert man die nächste Gruppe, indem man von der Sozialisierung der freien Berufe spricht.
Meine Damen und Herren, ich frage mich: was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie damit diese Regierung angreifen? Mir scheint, wenn Sie in dieser Form Unruhe in unsere Bevölkerung bringen, dann setzen Sie Unsicherheit in die Zukunft der Bundesrepublik und damit die Bundesrepublik selbst aufs Spiel. Dann aber, meine Damen und Herren von der
Opposition, würde ich Ihnen empfehlen, einen Regierungswechsel besser nicht mehr anzustreben.
({0})
Ich frage mich: haben Sie eigentlich aus dem Jahr 1966 überhaupt nichts gelernt?
({1})
- Das damalige Gesundbeten der Wirtschaft hat Sie doch noch in die große Rezession geführt und Sie dazu geführt, der SPD die Mitverantwortung zu geben, die sie angestrebt hat. Aber Sie haben die Richtlinie der Politik in Ihren Händen gehalten; der Bundeskanzler wurde ja von Ihnen gestellt. Nur, er hatte ein sehr schönes Instrument, um diese Richtlinienkompetenz möglichst nicht gebrauchen zu müssen. Er hatte den Kreßbronner Kreis, über den er einmal selber in schlichter Einfalt gesagt hat: Worüber wir uns da nicht einigen, das klammern wir aus. Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, dieser Kreis hat nicht umsonst damals den Namen „Krisenbonner Kreis" bekommen.
Ich glaube, diese Koalition, die heute die Bundesrepublik regiert, hat daraus einiges gelernt. Nicht nur wir Freien Demokraten haben leidvolle Erfahrungen mit einer Koalition mit der CDU/CSU gehabt. Wir erinnern uns nur zu genau, daß jede Meinungsverschiedenheit, die in jeder Koalition vorkommt, von dem anderen Partner zum Streit in der Koalition erklärt und mit Großmannssucht des kleineren Partners begründet wurde. Dazu stand dann der großen Koalitionsfraktion eine Kette von Publikationsorganen als Stimmungsmacher zur Verfügung. Wo Sie damit gelandet sind, meine Damen und Herren, haben Sie doch selber alle gemerkt.
Ich verschweige nicht, meine Damen und Herren, daß es auch in der heutigen Koalition hier und da Schwierigkeiten geben kann und geben wird. Es kann gar nicht sein, daß auf allen Gebieten alle Teilnehmer dieser Koalition immer nur gleicher Meinung sind. Aber wir tun etwas anderes, meine Damen und Herren. Dann diskutieren wir, bis wir eine gemeinsame Lösung gefunden haben. Ich verspreche Ihnen, das wird die vorgesehenen Reformen keineswegs stören können.
({2})
Aber, meine Damen und Herren, wir haben auch nicht vor, eine Politik auf der Straße zu treiben. Wir lassen uns auch nicht durch noch so hektische Außerungen der Opposition dazu verführen, uns wegen des einen oder anderen Landtagswahlkampfs von unserer Gemeinsamkeit abbringen zu lassen. Wir haben uns vorgenommen, diese vier Jahre zu regieren, und Sie dürfen sicher sein, wir werden sie regieren. Dann werden sich die Koalitionspartner - jeder für sich - ihren jeweiligen Wählern stellen und die Erfolge der gemeinsamen Politik sowie den eigenen Anteil an dieser Politik deutlich machen. Dieses Votum fürchten wir dann allerdings nicht.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breidbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Arndt, Sie haben hier neben vielem Gutem den Versuch unternommen, ein klein bißchen das Klagelied von der Schwierigkeit der Konjunktursteuerung zu singen. Ich meine, daß dieser Tatbestand jedem hier im Hause bekannt ist. Das wissen wir seit Jahren, die wir Regierungsverantwortung getragen haben. Das weiß Herr Schiller ebenso. Ich weiß nicht, Kollege Arndt, ob wir mit solchen Einreden weiterkommen.
Ich habe es bedauert, daß Sie in diesem Zusammenhang eine Argumentation fortgesetzt haben, die immer wieder - und der Kollege Höcherl ist schon darauf eingegangen - unterschwellig darstellt, die CDU/CSU sei gegen die Vollbeschäftigung. Herr Kollege Arndt, ich hatte bisher geglaubt - ich muß Ihnen das offen gestehen -, daß Sie nicht bereit seien, dieser Argumentation zu folgen, weil ich von Ihnen so viel kluge Worte im Zusammenhang mit dieser Wirtschaftspolitik hier gehört habe. Fragen sich doch einmal selber ganz ehrlich, ob man dieser Partei, der CDU/CSU, die 1949 ohne Arbeitsplätze begonnen hat, Vollbeschäftigung in diesem Staat zu schaffen, heute noch unterstellen kann, daß sie gegen die Vollbeschäftigung sei!
({0})
Herr Abgeordneter Breidbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Arndt?
Gern.
Herr Kollege Breidbach, wären Sie bereit, die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zur Eröffnung der Hannover-Messe zu akzeptieren? Dann ist der ganze Streit und die ganze Unklarheit über die Position der CDU/CSU dahin. Dann sind wir einig.
Herr Kollege Arndt, wir haben doch versucht - gerade hat es noch Herr Professor Burgbacher getan - darauf aufmerksam zu machen - das war doch auch Ihr Problem -, daß die Überbeschäftigung, die vorhanden war, im Interesse einer langfristigen Vollbeschäftigung mit Preisstabilität und Wirtschaftswachstum abgebaut werden mußte.
({0})
Herr Kollege Schiller, Sie haben ständig - auch hier wurde schon darauf eingegangen -, darauf hingewiesen, daß Sie von der Christlich-Demokratischen Union ein Kontrastprogramm erwartet haben. Wenn ich solche Argumente höre, muß ich mich immer fragen, in welchem Saal manche Leute in den letzten 15 Monaten gesessen haben, denn meines Erachtens müßte jeder die Kontrastvorstellung der Christlich-Demokratischen Union unter jeweils veränderter wirtschaftlicher Situation hier zur Kenntnis genommen haben.
({1})
Zum zweiten. Zu diesem Punkt macht es sich immer sehr schön, auf ein Kontrastprogramm hinzuweisen, Herr Kollege Schiller, nur kommen Sie damit nicht aus dem Obligo, daß Ihr Jahreswirtschaftsbericht hier diskutiert und kritisiert wird und daß das unsere Aufgabe als Oppositionspartei ist.
({2})
Sie berufen sich, Herr Kollege Schiller, immer wieder auf die unterschiedlichen oder auf die einheitlichen Zahlen, die Sie jetzt hier aufzeigen, der einzelnen Wirtschaftsforschungsinstitute im Hinblick auf die Zielprojektionen in der Frage der Preissteigerungen und weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß dies ja alles mit Ihren Vorstellungen übereinstimme. Nach all den Berufungen auf Daten und Zahlen und den Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit damit gemacht haben, dürfen Sie uns doch nicht verübeln, wenn wir uns in diesem Zusammenhang etwa auf Herrn Arndt berufen, der in der letzten Ausgabe des hier schon zitierten Wirtschaftsmagazins „Capital" im Gegensatz zu Ihren optimistischen Darstellungen sehr eindeutig erklärt hat, unter 3,5 % gehe es nicht, und das auch noch im Verein mit Herrn Poullain, der im Frühjahr dieses Jahres ähnliche Erklärungen über Ihre Wirtschaftspolitik abgegeben hat, die sich leider Ende 1970 bewahrheitet haben.
({3})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur allgemeinen Situation, die ich einem Zitat entnehmen möchte. Ich glaube, daß dieses Zitat die Debatte, aber auch die Situation der Regierung sehr treffend wiedergibt. Da heißt es:
Seit der letzten großen Auseinandersetzung in diesem Hause um die Preissteigerungen sind 3 volle Monate vergangen, Zeit genug, um zu konstatieren, daß die Bundesregierung in der Zwischenzeit nichts erreicht hat, um Preisstabilität herbeizuführen. Ja, sie hat noch nicht einmal erreicht, daß wir der Preisstabilität näher kommen. Wir sind also auf dem gleich hohen Niveau einer mehr als schleichenden Inflation, und für den April werden weitere Preissteigerungen erwartet. Diese Preisbewegung zeigt sich trotz der konjunkturellen Abflachung, die sich fortgesetzt hat.
So Professor Karl Schiller am 16. Februar 1966. Ich finde, treffender kann die heutige Situation nicht beschrieben werden.
({4})
Herr Kollege Schiller, ich werde gleich noch deutlicher etwas zum Jahreswirtschaftsbericht sagen. Mir macht das Zitieren von Herrn Schiller einfach Spaß, weil eine Woche Schiller-Gespräche ungefähr für ein Jahr Zitate liefert. Sie haben auch in Ihrer letzten Rede vor einer guten Stunde hier wieder darauf hingewiesen, daß man von den Tarifpartnern verlangen kann, sie sollten sich aus Vernunftsgründen an Orientierungsdaien halten. Ich interpretiere das
etwas frei. In diesem Zusammenhang haben Sie einmal 1966 gesagt, ebenfalls am 16. Februar:
Jahrelang hatten manche Kreise versucht, den deutschen Gewerkschaften oder den Tarifparteien insgesamt den Schwarzen Peter für die schleichende Geldentwertung anzuhängen.
Genau das tun Sie hier, Herr Kollege Schiller, ({5})
im Jahreswirtschaftsbericht und in Ihren Einlassungen.
Wenn Sie behaupten - das haben Sie heute morgen sehr deutlich getan -, dieses Jahr sei ein Jahr des Kampfes dieser Bundesregierung für die Preisstabilität gewesen: Herr Kollege Schiller, hier ist schon einmal das Wort Skagerrak gefallen. Ich kann Ihnen nur sagen, diesen Kampf haben Sie verloren, weil wir die höchsten Preissteigerungsraten während 20 Jahren Bundesregierung zum Abschluß des Jahres 1970 bei den Verbrauchsgüterpreisen haben. Von den Investitionspreisen sollte man in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen.
({6})
Auch zu Ihrer Behauptung über die Baupreise ist etwas zu sagen. Man kann das fortsetzen. Die Skala hat sich zwischenzeitlich geändert. Früher standen wir in diesem Bereich zu Recht unten. Zwischenzeitlich, Herr Kollege Schiller - auch darüber vermißt man sehr viel an konkreten Daten -, stehen wir hinsichtlich der Investitionspreise im Bausektor doch ziemlich oben, teilweise ganz oben an der Spitze der Preisunstabilität in Europa und auch darüber hinaus.
Sie sind in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht von der Behauptung ausgegangen, die Sie dann relativiert haben, daß die Bruttolohn- und -gehaltssummen nominal um 14,5% und real um 8 % gestiegen sind. Diese Steigerung liegt - auch das zeigt wieder einmal, was von Zielprojektionen zu halten ist - zunächst um 2 bis 3 % über Ihren eigenen Vorstellungen, die Sie Anfang 1970 entwickelt haben.
Sie haben darauf hingewiesen, daß damit das Lohn-lag aus dem Jahre 1969 beseitigt sei. Es gibt maßgebliche Stimmen, die genau das bezweifeln und vermuten, daß diese Ihre These nicht richtig ist. Wenn diese maßgeblichen Stimmen recht haben, dann stimmt Ihre Zielprojektion im Hinblick auf Bruttolohn- und -gehaltssteigerungen nicht, weil man von den Tarifpartnern schlechterdings nicht so einfach erwarten kann, daß sie bei anderer Auffassung über die Zahlen, die Sie hier im Moment gegeben haben, sich an diese Zahlen halten. Die andere Situation, die sich im Laufe dieses Jahres entwickelt, auf die ich jetzt noch eingehe, müßten Sie bitte schon mit berücksichtigen.
Was steckt nun hinter diesen Steigerungen? Sie haben heute morgen gesagt, daß man freimütig und ohne Beschönigung dazu Stellung nehmen muß. Herr Kollege Schiller, dahinter steckt zunächst einmal, daß der Staat durch seine Eingriffe über direkte Steuern, über Preissteigerungen, an denen er nicht schuldlos ist, aber auch über Änderungen der Steuerklassen, die mit der Hebung der Gehalts-und Lohneinkommen zusammenhängen, doch tatsächlich den Versuch unternimmt - ob er das will oder nicht, gewissermaßen zwangsläufig -, den Arbeitnehmern in die Tasche zu fassen und einen großen Teil des Gehaltszuwachses wegzunehmen, den sie zweifellos hätten, wenn eine vernünftigere Wirtschaftspolitik betrieben worden ware.
({7})
Hier sind die Wirtschaftsmagazine zu Rate gezogen worden. Herr Kollege Schiller, wenn Sie sich einmal genauer ansehen, was das Wirtschaftsmagazin „Capital", wie ich meine, recht deutlich vorgerechnet hat, so müssen Sie feststellen, daß, bei Licht besehen, Ihre Angaben über die realen Zahlen etwas anders aussehen. „Capital" überschreibt seine ausgezeichnete Tabelle, die ich jedem Mitglied dieses Hauses empfehlen kann, mit den einleitenden Sätzen:
11 1/2 durchschnittlich, genau zwischen 9 und 17 % müssen Arbeitnehmer mehr verdienen, wenn sie den Inflationsverlust der letzten zwölf Monate ausgleichen wollen. Zwar stiegen die Preise nur um 4 %. Doch wenn das Nettogehalt um 4 % zunehmen soll, muß der Bruttoverdienst um mindestens 11 % wachsen; denn am höheren Gehalt ist der Staat auch stärker beteiligt. Wer Ende 1969
- das ist die Eingangszahl noch monatlich 1200 DM brutto verdiente, braucht in diesem Jahr 146 DM mehr, um die 32 DM mehr ausbezahlt zu bekommen, die den 4 % Inflationsverlust entsprechen.
({8})
Das ist genau die Position, die man in diesem Zusammenhang sehen muß.
Über die Bemerkung, daß die Rentner, die Ärmsten der Armen - man darf es in diesem Zusammenhang sagen -, am meisten benachteiligt sind, wird relativ leicht hinweggegangen. Wir wollten uns die Lösung dieses Problems nicht zu leicht machen. Vielleicht wäre es des Geistes der Edlen in diesem Hause wert, einmal zu überlegen, welche Möglichkeiten wir finden, um zu verhindern, daß eintritt, was 1957 keiner gewollt hat, weil damals keiner von 4 % Preissteigerungsrate ausgegangen ist, nämlich den Einkommensverlust der Rentner durch die nachträglichen Erhöhungssätze bei der Dynamisierung auszugleichen.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frage der Preiserhöhung kann man, glaube ich, hier noch mehr ausweiten. Mir scheint, daß wir uns gemeinsam - dazu haben wir das Angebot von Herrn Schiller und auch das Angebot von Herrn Höcherl - überlegen müßten, was man tun soll. Wir haben sehr dankbar zur Kenntnis genommen, daß der Bundeskanzler heute morgen auf den Boden der Realität zurückgefunden hat. Aber, Herr Bundeskanzler, entschuldigen Sie, ich kann Ihnen Ihre Einlassung nicht abnehmen, daß Sie erst heute die Erfahrung machen, wie schwer es ist, ein Regierungs5260
programm aufzustellen, und wie schwer es ist, ein Regierungsprogramm zu realisieren; Sie haben ja schon einige Jahre in einem Kabinett der Großen Koalition alles miterlebt.
({10})
Lassen Sie mich noch auf den Punkt Tarifpartner eingehen. Ich habe wie einige andere Kollegen aus der Bundestagsfraktion der CDU/CSU den komischen Verdacht, daß hier der Versuch unternommen wird - ({11})
- Ihr habt doch euer Kräumchen noch vor euch. Warten wir doch mit den gesellschaftspolitischen Kongreß ab, in welcher Sprache ihr dann hier reden werdet. Ich sehe in Anbetracht dessen, was wir hinter uns haben, ganz optimistisch in die Weltgeschichte.
({12})
Wir sind ja schließlich nicht unter dem Gesetz angetreten, im Jahre 1970 partout die Mitbestimmung zu verwirklichen, wenn wir das Thema schon anschneiden. Aber wenn ich eure Aussagen vor den Wahlen lese, dann nimmt sich das, was in Düsseldorf passiert ist, gegenüber dem, was hier in der Regierungserklärung gesagt und nun auch gemeinsam von dieser Seite des Hauses mitgetragen wird, nahezu harmlos aus.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird Wert darauf gelegt, daß die Zielprojektion von den Tarifpartnern eingehalten wird. In diesem Zusammenhang hat der Kollege Kater ein recht interessantes Phänomen der Tarifpolitik angeschnitten, indem er hier erklärt hat: wie müssen versuchen, die Lohndrift zu verringern, Effektivlöhne und Tariflöhne näher zusammenzuführen. Herr Kollege Kater, diese Frage ist so alt, wie in diesem Hause Wirtschaftpolitik gemacht wird. Aber sie wird nicht effektiver dadurch, daß man sie laufend wiederholt. Wenn man sie aber schon laufend wiederholt - jetzt mache ich den Part, den Sie uns vorwerfen -, dann muß man aus Gründen der Redlichkeit gleichzeitig sein Patentrezept auf den Tisch legen. Weil dieses Patentrezept nicht da ist, besteht eben die Gefahr, daß die Zielprojektion beim Einkommen nicht eingehalten werden kann, weil wir die Effektivlöhne zu unser aller Bedauern wahrscheinlich nicht in den Griff bekommen können.
Im Jahreswirtschaftsbericht wurde eine recht interessante Aussage gemacht, über die ich mich eigentlich gefreut habe, weil es sich um einen seit langem von der CDU/CSU vorgebrachten Diskussionspunkt handelt, nämlich um die Frage der Vermögensbildung. Im Bericht wird wiederholt, dies sei eine gesellschaftspolitisch wichtige Aufgabe. Es blieb dem Kollegen Kater überlassen, die sogenannten positiven Auswirkungen des Dritten Vermögensbildungsgesetzes hier einmal darzulegen. Damit das Bild abgerundet wird, gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Negativen. Das Negative ist - das ist
unsere Behauptung, die man im übrigen nachweisen kann und mit der wir uns in bester Gesellschaft von Wirtschaftspolitikern und von Vermögenspolitikern befinden -, daß wieder einmal, wie in der allgemeinen Tendenz dieser Wirtschaftspolitik, diejenigen, die bis heute nicht sparen konnten, die nicht unter Tarifverträge fallen oder in regional oder sektoral schwachen Gebieten beschäftigt sind, nicht an der Vermögensbildung nach dem Dritten Vermögensbildungsgesetz partizipieren. Genau das ist der Grund dafür, daß wir als Kontrastprogramm unser Beteiligungslohngesetz vorgelegt haben.
({14})
Herr Kollege Schiller, wenn es Ihnen mit Ihren Zielvorstellungen im Jahreswirtschaftsbericht ernst ist, sind Sie herzlich eingeladen, sich an der Verabschiedung dieses Beteiligungslohngesetzes zu beteiligen. Dann wird zumindest ein Punkt dieser Zielprojektion am Ende des Jahres 1971 eindeutig als verabschiedet gelten können.
({15})
- Kollege Geiger, Sie verlangen doch von uns Vorschläge. Jetzt machen wir welche, und da passen sie Ihnen nicht. Wir sind also partout nicht in der Lage, Kollege Geiger, immer genau das zu tun, was Ihnen in Ihr Konzept paßt, sondern wir machen Alternativvorschläge, wir sagen, was wir für gut halten, und wenn wir tendenziell auf einer Linie liegen, sollten wir daran bügeln, daß wir etwas Vernünftiges im Interesse derjenigen zustande bringen, für die wir ja alle etwas tun wollen. Das ist doch unsere Aufgabe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Buschfort? - Bitte.
Wie haben Sie das vorhin gemeint, als Sie sagten, daß der Hilfsarbeiter in der Metallindustrie in strukturschwachen Gebieten einen geringeren Vermögensbildungsbetrag erhalte als im Ruhrgebiet? Wie ist das zu verstehen?
Kollege Buschfort, das kann man ganz einfach verstehen. Sie müssen doch zugeben, daß die Gewerkschaften nicht in allen Tarifbereichen in der Lage sein werden, die 312 DM in 1970 oder 1971 durchzusetzen, geschweige denn die 624 DM. Das kann doch bei der jetzigen Kostensituation von den Betrieben gar nicht verkraftet werden. Darüber hinaus haben wir einige Millionen Beschäftigte, die durch Tarifvertrag nicht erfaßt werden können.
({0}) Das ist doch die Situation.
Eine weitere Zwischenfrage.
Herr Kollege Breidbach, können Sie mir einen Tarifbereich der Metallindustrie nennen, wo das Gesetz keine Anwendung findet?
Kollege Buschfort, ich habe nicht von der Metallindustrie gesprochen, sondern von der allgemeinen Situation. Ich meine aber speziell, daß dies in der Metallindustrie sehr gut gehen kann. Sie gehört zu den guten Tarifbereichen, in denen dies möglich ist. Aber wir dürfen doch hier in diesem Hause nicht eine Politik nur für einen einzigen Tarifbereich machen, sondern wir müssen eine Politik für alle Arbeitnehmer betreiben. Das ist doch das Entscheidende.
({0})
Herr Präsident, meine Redezeit läuft ab; gestatten Sie mir noch einige Fragen an Herrn Schiller.
Herr Kollege Schiller, im Zusammenhang mit Ihrer Zielprojektion hätte ich gern gewußt, ob Sie bei der Arbeitslosenquote von 1 % einkalkuliert haben, daß diese Quote bei den Schwierigkeiten, die wir regional und sektoral haben, wahrscheinlich nur gehalten werden kann, wenn a) Überstunden abgebaut werden und b) eine verstärkte Kurzarbeit eintritt. Diese Fragen finde ich im Jahreswirtschaftsbericht nicht beantwortet. Mir scheint es notwendig zu sein, daß darauf eine klare Antwort gegeben wird, damit man sich notfalls auf die Situation einstellen kann, wie wir uns alle gemeinsam darauf einstellen müssen, daß dies im Jahre 1971 nicht so schön laufen wird, wie es heute hier von den Vertretern der Regierung dargestellt worden ist.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lenders.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allem sehr verehrter Herr Kollege Breidbach! Herr Kollege Breidbach, Zahlenspiele sind Glückssache, und Vergangenheitsbewältigung ist - das gilt nicht für Sie allein, sondern auch für einige Ihrer Kollegen - sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen. Ich kann nicht auf alle Bemerkungen eingehen, die Sie hier gemacht haben; aber in einigen Punkten möchte ich es tun.
Sie haben hier den Versuch gemacht, das, was der Herr Bundeswirtschaftsminister und was Herr Kater an realer Einkommensentwicklung und Einkommenssteigerung für die Arbeitnehmer im Jahre 1970 dargestellt haben, mit einem Zahlenspiel zu relativieren, das ich jetzt nicht wiederholen will. Aber, Herr Breidbach, Sie kommen nicht darum herum, daß pro Kopf der Arbeitnehmer real - d. h. unter Abzug des Verlustes durch die Preissteigerung, auch unter Abzug der Steuererhöhungen - 8 % im Jahre 1970 durchschnittlich pro Arbeitnehmer übriggeblieben sind. Dieser Prozentsatz steht in einem Papier des Deutschen Gewerkschaftsbundes, und da steht auch noch der Satz - das müßten Sie eigentlich wissen -, daß das die höchste Einkommenssteigerung real pro Kopf der Arbeitnehmer seit der Währungsreform gewesen sei. Da beißt keine Maus einen Faden ab, auch nicht Ihre Zahlenspielereien.
({0})
- Lesen Sie das nach, Herr Kollege Breidbach! Ich
kann Ihnen auch das Papier zur Verfügung stellen.
Herr Abgeordneter Lenders, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich gestatte jetzt keine Zwischenfrage.
Herr Kollege, der Redner gestattet keine Zwischenfrage.
Das zweite ist, Herr Kollege Breidbach, daß Sie ebenso wie Herr Müller-Hermann auf die bedauerliche Preisentwicklung beim privaten Verbrauch im Jahr 1970 hingewiesen haben. Der Herr Bundeswirtschaftsminister und alle Sprecher der Koalitionsfraktionen haben gesagt: Die Preissteigerungen waren zu hoch. Sie haben aber auch gesagt, woher das kam, während Sie in bezug auf bestimmte Gruppen - Rentner, Landwirte usw. dicke Krokodilstränen vergießen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich muß Sie daran erinnern - natürlich geschieht das zum x-tenMale; ich greife hier auf das Gutachten des Sachverständigenrates zurück, und zwar auf die Ziffern 190, 192 und 203, wo dies eindeutig festgestellt ist -, daß der Verlust der Geldwertstabilität - Ziffer 190 - schon im Jahr 1969 eingetreten ist, nämlich von dem Zeitpunkt an, als sich die damalige Bundesregierung - das war in diesem Fall Ihr Votum - gegen die außenwirtschaftliche Absicherung, gegen die Aufwertung aussprach. Der Sachverständigenrat sagt:
Damit war endgültig die Chance vertan, der Preiswelle, die der inzwischen überaus starke Boom in sich trug, noch rechtzeitig wirksam entgegenzutreten.
({0})
Und an anderer Stelle erklärt der Sachverständigenrat in Würdigung der von dieser Regierung vorgenommenen Aufwertung - die Aufwertung war natürlich wichtig, aber sie kam eben leider zu spät -.
Vom Herbst 1969 an konnte es nicht mehr darum gehen, Geldwertstabilität kurzfristig wieder zu erreichen, sondern allenfalls darum, noch schlimmere Gefahren für das Ziel der Geldwertstabilität zu verhüten.
Das ist die Aussage und das Votum des Sachverständigenrates, und deswegen verstehe ich nicht, daß gerade Sie, Herr Breidbach, sich hier immer wieder hinstellen und über die Preisentwicklung im Jahr 1970 lamentieren, ohne diese Hintergründe zu sehen und daß Sie Ihre eigene Schuld an dieser Entwicklung leugnen.
({1})
5262 Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Lenders
- Meine Damen und Herren, ich berufe mich lediglich auf das, was der Sachverständigenrat dazu gesagt hat. Daß wir - jetzt komme ich auf das zurück, was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat - dieses Maß an Stabilität, das auch wir selbstverständlich nicht für ausreichend halten, in dieser vom Bundeswirtschaftsminister beschriebenen Umwelt gehalten haben, das ist allerdings ein Erfolg der Stabilitätspolitik dieser Bundesregierung und der Koalition aus SPD und FDP, die mit der Aufwertung im Jahr 1969 einsetzt. Darüber hinaus sollten wir uns im klaren sein.
({2})
Meine Damen und Herren, die Bewältigung der Vergangenheit hat ihre Schwierigkeiten. Ich möchte zunächst noch einmal ein Wort des Bundeskanzlers und damit eine Perspektive für das Jahr 1971 aufgreifen, eine Perspektive, die im Jahreswirtschaftsbericht vom Bundeswirtschaftsminister dargestellt worden ist, die die volle Unterstützung der Koalitionsfraktionen findet und die der Bundeskanzler in die meiner Meinung nach sehr passenden und eindeutigen Worte gekleidet hat:
Die Bevölkerung in der Bundesrepublik soll wissen, daß wir entschlossen sind, unseren Kurs in Richtung Stabilität ohne Gefährdung der Arbeitsplätze konsequent fortzusetzen.
Dieses Wort des Bundeskanzlers muß hier noch einmal unterstrichen werden.
({3})
Herr Breidbach, Sie haben den Versuch gemacht, Herrn Müller-Hermann in bezug auf das Problem der Vollbeschäftigung, das hier eine Rolle gespielt hat, aus der Klemme zu helfen.
({4})
Diesen Versuch haben Sie am untauglichen Objekt gemacht. Sie können das, was Ihnen vielleicht nur unterstellt wird, was Ihnen jedenfalls vorgeworfen wurde und was Sie zurückgewiesen haben, doch nicht damit entkräften, daß Sie sagen: Wir haben in den fünfziger Jahren Arbeitsplätze geschaffen und Arbeitslosigkeit beseitigt. Darum geht es gar nicht. Herr Müller-Hermann hat in seinem Beitrag gesagt, die Abgabe einer bedingungslosen Vollbeschäftigungsgarantie - damit hat er auf den Bundeskanzler abgehoben - ist in einer Marktwirtschaft gleichbedeutend mit der Abgabe des konjunkturpolitischen Instrumentariums an die gesellschaftlichen Gruppen. Das ist Ihr Vorwurf, und wenn Sie diesen Vorwurf erheben, müssen Sie sich sagen lassen, daß Sie den Verdacht erwecken, Sie wollten den Knüppel der Vollbeschäftigung hinter der Tür halten, um diese Gruppen zur Raison zu bringen. Das ist aus diesem Beitrag zu entnehmen. Wenn Sie es anders interpretieren, nehme ich das gern zur Kenntnis; aber diesem Verdacht setzen Sie sich aus.
({5})
Das ist ganz eindeutig. Daraus sind die Beiträge meiner Freunde zu begründen, und deshalb richten wir die eindeutige Frage an Sie.
Nun, Herr Müller-Hermann, möchte ich auf zwei Punkte eingehen, die Sie in bezug auf die Vergangenheitsbewältigungen angesprochen haben. Einmal haben Sie gesagt, der konjunkturpolitische Instrumentenkasten bleibe zu lange ungenutzt; die Regierung habe also der Bundesbank das Handeln überlassen. Dieser Vorwurf ist auch von Herrn Höcherl und von Herrn Pohle erhoben worden. Er ist in der Form erhoben worden, daß gesagt wurde, das Stabilitätsgesetz habe versagt, weil diese Regierung keinen Gebrauch davon gemacht habe. Nun, meine Damen und Herren, das sind im Grunde nur Wiederholungen; aber man muß es Ihnen wahrscheinlich immer wieder vor Augen führen. Sehen Sie sich den Katalog dessen an, was diese Bundesregierung seit dem Oktober vorigen Jahres getan hat; auch der Bundeswirtschaftsminister hat es noch einmal aufgeführt. Keine Regierung der Nachkriegszeit hat in einer solchen konjunkturpolitischen Situation wie der, in der wir gestanden haben, so viele Maßnahmen zur Rückerlangung des Gleichgewichts ergriffen wie diese Bundesregierung.
({6})
Das steht eindeutig fest, und so ist es auch in der Öffentlichkeit angeklungen. Wenn Sie sagen, wir hätten die Bundesbank alleingelassen, dann muß ich antworten: Mit der Aufwertung - Sie erinnern sich sicher, daß damals 20 Milliarden abgeflossen sind - und mit den Maßnahmen vom Juli dieses Jahres haben wir die Handlungsfähigkeit der Bundesbank (E in bezug auf ihr konjunkturpolitisches Instrumentarium erst wieder hergestellt. Das ist der Gesichtspunkt, den Sie berücksichtigen müssen.
Nun komme ich zur Konzertierten Aktion. Bei Herrn Müller-Hermann und auch in anderen Beiträgen klingt immer durch, die Konzertierte Aktion habe im Jahre 1970 nicht funktioniert. Dazu möchte ich ein eindeutiges Wort sagen, das Sie, Herr Kollege Breidbach, als Gewerkschaftler verstehen müßten. Der Kausalzusammenhang, von dem Sie, Herr Müller-Hermann, ausgehen, ist völlig falsch. Es kann und konnte nicht Aufgabe der Konzertierten Aktion im Jahre 1930 sein, nach der Gewinnexplosion der Jahre 1968 und 1969, die einen ganz eindeutigen Verteilungseffekt hervorgerufen hatte, die notwendige Verteilungskorrektur in Frage zu stellen.
({7})
Diesen Standpunkt hat der Bundeswirtschaftsminister vertreten, und in diesem Standpunkt haben wir ihn unterstützt.
({8})
- Ihre Kritik geht immer dahin, die Konzertierte Aktion habe sichtlich nicht funktioniert.
({9})
Nach dem Ausgleich hat die Bundesregierung, hat
der Bundeswirtschaftsminister im Oktober - das
wird im Jahreswirtschaftsbericht deutlich gesagt -Orientierungsdaten gegeben.
({10})
Er hat sie nicht nur gesetzt und erläutert, sondern im Jahreswirtschaftsbericht hat die Bundesregierung - darin unterstützen wir sie - mit Recht die Konsequenzen möglicher Fehlentwicklungen bei einem Fehlverhalten von Wirtschaft und Gewerkschaft aufgezeigt, wenn diese ihre eigenen Projektionen, die sich weitgehend mit der Zielprojektion der Bundesregierung decken, nicht einhalten und ihren eigenen Projektionen nicht folgen würden. Darin unterstützen wir die Bundesregierung. Das ist kein Eingriff in die Tarifautonomie; das sind Orientierungsdaten, an denen sich das Verhalten dieser Gruppen in dieser schwierigen Phase der Rückgewinnung der normalen Konjunkturentwicklung orientieren soll. Das zu dem Rückblick.
Ich möchte aber auch noch einen Ausblick tun. Sie gefallen sich ja immer sehr gern darin -- die Jusos sind diesmal relativ verschont worden -, darauf hinzuweisen, wie verunsichert die Wirtschaft in bezug auf ihre Investitionsplanungen sei, weil diese Regierung angeblich nicht wisse, was sie wolle: mal Reform, mal nicht Reform, mal dieses, mal jenes, mal Steuererhöhung, mal nicht Steuererhöhung.
({11})
Das haben wir ja heute alles von Ihnen gehört.
Meine Fraktion hat natürlich Verständnis für den Wunsch von Wirtschaft und Gesellschaft, über dieses Jahr hinaus für die kommenden Jahre über die finanziellen Belastungen Klarheit zu gewinnen. Auch der Herr Bundeswirtschaftsminister ist soeben darauf eingegangen. Dieser Wunsch entspricht dem Postulat mittelfristiger Planung, dem wir ja auch im Rahmen der Finanzplanung folgen.
Zunächst möchte ich aber folgendes festhalten. In der gegenwärtigen Konjunkturphase, im Jahre 1971, wird die Wirtschaft steuerlich nicht zusätzlich belastet. Das ist eindeutig hier festgestellt, sowohl vom Bundeswirtschaftsminister als auch vorher vom Bundesfinanzminister. Im Gegenteil: die Wirtschaft wird gegenüber dem Vorjahr steuerlich entlastet. Das Jahr begann mit der planmäßigen Herabsetzung der Investitionssteuer, mit einer steuerlichen Entlastung in Höhe von etwa 800 Millionen DM im Jahre 1971. Am 1. Februar wurde jetzt - wie vorgesehen - die degressive Abschreibung wieder eingeführt. Und spätestens Mitte dieses Jahres läuft der Konjunkturzuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer wieder aus. Dieses Jahr 1971 ist also konjunkturgerecht ein Jahr der steuerlichen Entlastung für die Wirtschaft. Das ist eine Entwicklung, die sich auch auf die Investitionstätigkeit der Wirtschaft positiv auswirken wird und die der Wirtschaft auch für dieses Jahr eine klare Dispositionsgrundlage gibt.
Nun wird sich das Bundeskabinett im Frühjahr - - auch das haben wir heute gehört - mit der Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung befassen und auch über die Eckdaten der Steuerreform entscheiden. Auch der Vermögensbildungsbericht wird vorgelegt werden. Damit werden binnen kurzem klare Daten für eine längerfristige, mittelfristige Kalkulation und Planung der Wirtschaft vorliegen. Ich glaube, das ist notwendig und wünschenswert. Das wird auch geschehen. Deswegen kann ich das Lamento über die Unsicherheit, das hier immer angestellt wird, nicht verstehen.
Ich sehe die gelbe Lampe vor mir, ich muß also langsam zum Abschluß kommen. Lassen Sie mich noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen: Die Aufgabe dieses Jahres heißt, eine ausreichende Beschäftigung zu sichern. Das wird uns, das wird dieser Bundesregierung gelingen. Die Aufgabe dieses Jahres heißt, die Wirtschaft zu größerer Preisstabilität zurückzuführen. Das muß uns gelingen. Dieses Jahr, das Jahr 1971, wird ein Jahr der wirtschaftlichen Konsolidierung werden. Furcht und Pessimismus, meine Damen und Herren, sind aber die schlechtesten Ratgeber für eine gute und gesunde wirtschaftliche Entwicklung.
({12})
Ich glaube, daß Walter Hesselbach - mit diesem
Zitat möchte ich schließen - in diesen Tagen in einem Interview mit Recht eine optimistische Haltung zur Schau getragen hat, als er sagte auf die Wirtschaft und auf die Opposition gezielt -, daß der modisch gewordene Konjunkturpessimismus keine Grundlage für eine vernünftige Entwicklung ist. Wir alle - auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - sollten uns das zu Herzen nehmen.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Burgbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und. Herren! In Ziffer 72 des Jahreswirtschaftsberichtes ist die Vermögensbildung angesprochen. Dazu möchte ich einige - mit Rücksicht auf die Zeit kurze Ausführungen machen. Die Leistungen dieser Regierung auf diesem Gebiet sind nach unserer Ansicht sehr bescheiden.
({0})
Wir haben dem 624-DM-Gesetz zugestimmt, weil 624 DM nun einmal unzweifelhaft mehr sind als 312 DM.
({1})
Wir haben diesem Gesetz aber nur mit Bedenken zugestimmt, weil von 22 Millionen unselbständig Tätigen bei einem Betrag von 624 DM 8 bis 10 Millionen mangels Kasse draußen vor der Tür bleiben müssen. Wir halten dieses Gesetz nicht für einen wesentlichen Beitrag zur Vermögensbildung.
Das eigentliche Problem ist - darüber sind sich, so hoffe ich, alle Fraktionen dieses Hohen Hauses einig -, daß bei aller Wirtschaftsstärke, bei aller guten wirtschaftlichen Entwicklung die Vermögensverteilung vor allem im Bereich des Produktivkapitals nicht als gerecht im rechtsstaatlichen Sinne angesehen werden kann.
({2})
- Späte Erkenntnis bei Ihnen, bei mir nicht!
({3})
- Hören Sie doch mit Ihren 20 Jahren auf. In den 20 Jahren haben wir weit mehr geleistet, als Sie bisher zu leisten angefangen haben.
({4})
Ich wiederhole: Das 624-DM-Gesetz ist kein Beitrag zur Lösung des Problems der Vermögensbildung. Ich will das auch kurz begründen, weil mir das wichtig erscheint. Um mich vor Mißverständnissen zu schützen, schicke ich folgendes voraus. Ich gehöre wie Sie zu denen, die der Meinung sind, daß jeder, bevor er mit dem Wertpapiersparen anfängt, Bargeld gespart haben muß. Das ist ganz eindeutig. Auch die Wirtschaft und die gesamte Volkswirtschaft verlangen dieses Kreditkapital. Die 624 DM gehen an die Banken und Sparkassen. Diese teilen sie wieder an die Wirtschaft aus, und die Wirtschaft macht, so Gott will - das müssen wir alle hoffen -, einen höheren Gewinn damit, als die Zinsen kosten. Dieser höhere Gewinn schlägt sich in der Manövriermasse für Vermögenspolitik überhaupt, in dem jährlichen Vermögenszuwachs, nieder. Bei dieser Methode wird der jährliche Vermögenszuwachs aber immer wieder zum alten Eigentum hin gelenkt, d. h. die offene Schere geht nicht zu, sondern öffnet sich weiter.
Wir sind deshalb der Meinung, daß unsere Vorlage des Beteiligungslohngesetzes, die in erster Lesung durch dieses Hohe Haus gegangen ist und jetzt im Sozialausschuß zur Beratung ansteht, nunmehr allmählich zur weiteren Behandlung und Beschlußfassung kommen muß. Dieses Gesetz ist der erste bescheidene Anfang, allen unselbständig Tätigen den Zugang zum Produktionskapital außerhalb der Tarifforderung und außerhalb der Besoldungsordnung freizumachen. Wir sollten uns in diesem Ziele einig sein.
In Ziffer 72 des Jahreswirtschaftsberichtes wird ein Vermögensbildungsbericht in Aussicht gestellt. Er ist für November/Dezember 1970 schon einmal in Aussicht gestellt worden. Hoffentlich bringt ihn uns der Osterhase.
({5})
Hoffentlich ist in diesem Bericht nicht eine Wiederbelebung der unglückseligen Vorlage der vier Staatssekretäre über die gesetzliche Gewinnbeteiligung an allen Unternehmen bestimmter Größenordnung enthalten. Dieser Vorschlag geht wiederum am Ziel vorbei. Er ist sogar gefährlich, weil er die Produktivkraft und die Wachstumskraft unserer Wirtschaft zu behindern statt zu fördern vermag. Keine Vermögenspolitik kann damit beginnen, daß die Produktionskraft gemindert wird. Keine Vermögenspolitik kann sich darauf verlassen, daß die Menschen besser seien, als sie sind. Von dem Plan der vier Staatssekretäre, der ja wie eine Rakete am Himmel, dann aber schnell wieder verschwunden war,
({6}) habe ich so etwas läuten gehört, er werde im Ver- mögensbildungsbericht eine fröhliche Auferstehung feiern. Ich hoffe, das ist nicht der Fall.
Und noch etwas: Ein Komet, der aufstieg, war die Bundes-Holding. Sie ist dann so in Etappen nicht etwa zum Mond geflogen, sondern auf der Erde geblieben und in der Versenkung verschwunden. Sie ist nicht mehr da. Wir begrüßen es, daß sie nicht mehr da ist.
Die angekündigte Privatisierung der VEBA begrüßen wir. Es ist der erste Teil der von uns eingebrachten Vorlage bezüglich der VEBA- und FibagPrivatisierung. Wir hoffen, daß auch diese Vorlage die Zustimmung dieses Hauses findet.
Mit anderen Worten: Wir glauben, daß unsere beiden Vorlagen - Sie rufen ja immer nach Alternativen von der Opposition; hier haben Sie sie - die Zustimmung des Hauses finden, weil sie wirklich geeignet sind, das eigentliche Grundproblem zu lösen, nämlich bei der Beteiligung aller unselbständig Tätigen am Produktionskapital den ersten bescheidenen Anfang zu sichern.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nur noch einige wenige Bemerkungen, mutmaßlich wohl zum Abschluß dieser Debatte. Herr Burgbacher, ich meine, daß es sicherlich nicht die richtige Stunde ist, jetzt nach dieser langen wirtschaftspolitischen Debatte noch über vermögenspolitische Pläne grundsätzlich und ausführ- lich zu diskutieren. Da Sie aber das Thema aufgegriffen haben, muß ich Ihnen doch sagen, daß Ihre kurzen Bemerkungen und auch die Einlassung des Kollegen Breidbach unsere Einwände gegen Ihre Vorstellungen natürlich nicht aus der Welt schaffen können. Denn im Gegensatz zu Ihnen meine ich, daß Ihre Vorschläge, die noch in diesem Hohen Hause liegen, nicht zur Lösung des Problems, das wir alle gemeinsam erkannt haben, führen können. Ich darf nur daran erinnern, daß der Vorwurf - das ist vielleicht etwas grob gezeichnet -, dieses Beteligungslohnsystem sei eine Art Zwangssparen, bis heute nicht aus der Welt geschafft worden ist. Er wird auch nicht aus der Welt geschafft werden können. Die Gefahr, daß das Ziel, das an sich erreicht werden soll, infolge der bekannten kreislaufbedingten Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht erreicht wird, kann auch durch Ihre Pläne nicht ausgeräumt werden.
Alle Fraktionen in diesem Hause sind sich einig, daß hier ein Problem der Lösung harrt. Wir sagen aber auch ganz offen: wir suchen noch nach einem geeigneten Weg. Ich glaube, es ist besser, das offen zu sagen, als zu behaupten, man haben schon - was tatsächlich nicht der Fall ist - eine Patentlösung für dieses schwierige Problem.
({0})
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Burgbacher?
Bitte schön!
Herr Kollege, Sie haben auch das Wort Zwangssparen gebraucht. Glauben Sie nicht, daß wir ohne Pflichten nicht leben können? Kennen Sie die Pflichten, die uns alle umgeben, die uns Gewohnheit geworden sind, z. B. den Schulzwang? Sagen Sie Schulzwang, Versicherungszwang, Altersversicherungszwang, oder sprechen Sie von Pflichten, die zu Rechten werden
- erfüllte Pflichten werden nämlich immer Rechte
-, und wollen Sie in einem Staat, der mit auf Eigentum beruht, nicht anerkennen, daß wir die Pflicht haben, jedem den Weg zum Eigentum der Produktionsmittel freizumachen?
({0})
Herr Professor, ich glaube, Sie haben durch Ihre Frage treffend belegt, daß ich recht hatte. Ich bin allerdings der Meinung, man sollte den Menschen möglichst wenig zu seinem Glück zwingen und möglichst viel der freien Entscheidung überlassen. Aber wir wollen diese Probleme jetzt nicht weiter erörtern.
({0})
- Herr Müller-Hermann, ich habe - fast kann ich
sagen - vor wenigen Sekunden offen und ehrlich gesagt: wir sind noch dabei, um eine Lösung zu ringen, und - um das zu wiederholen - wir gefallen uns nicht darin, zu behaupten, Patentlösungen zu haben, von denen wir selbst wissen, daß sie es nicht sein können.
Herr Professor Burgbacher, Sie haben den Staatssekretärs-Plan, über den ich nicht weiter reden will, angeführt. Er zeigt doch aber unabhängig davon, ob man ihn für geeignet hält oder nicht, wie schwer angesichts der Dimensionen diese Zielvorstellung zu verwirklichen ist, - wenn man sieht, wieviel man dann wenigen wegnehmen muß, um vielen wenig zu geben. Das war es doch, was uns bei diesen Kombinationen und Überlegungen verblüfft hat. Aber ich meine, Herr Professor, wir sollten abwarten, bis der Vermögensbildungsbericht vorliegt.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Burgbacher?
Ich bin gerne bereit, die Frage zu beantworten.
Sie sagen, Sie lehnen den Zwang und diese Pflichten ab, Sie wollen niemanden zu seinem Glück zwingen. Wissen Sie, daß Sie damit eigentlich die gesamte gesetzliche Sozialpolitik ablehnen?
Herr Kollege Burgbacher, man muß immer die richtigen Dimensionen sehen. Das war sicher nicht meine Absicht. Aber ich bin Ihnen dankbar für die Erklärung - das kam ja auch schon in Ihren eigenen Ausführungen zum Ausdruck , daß Sie hier - mit zweifelhaftem Erfolg; das muß ich hinzufügen - die Dinge zwangsweise regeln wollen. Das sollten wir doch einmal festhalten.
Meine Damen und Herren, ich wollte vor allem noch einige Worte zu dem anfügen, was insbesondere Herr Kollege Höcherl hier heute nachmittag gesagt hat. Wenn ich es scherzhaft sagen darf: er hat wohl versucht, die Szene zum Tribunal zu machen. Das gerät dann bei ihm sehr leicht nicht dazu, sondern wir sind ihm deswegen gar nicht böse - zum Gaudi. Aber unabhängig davon bedürfen einige seiner Einlassungen noch einiger sehr harter und ernster Antworten.
Herr Kollege Höcherl hat von der Wiederherstellung des Vertrauens gesprochen. Darüber kann man reden. Dann muß man aber auch ehrlich eingestehen, wer denn seit 15 Monaten landauf, landab, wo es gerade paßt, und auch, wo es nicht paßt, versucht, das Vertrauen in diesem Land zu zerstören.
({0})
- Und im Ausland dazu, Herr Wehner, sehr richtig!
Dann hat Herr Höcherl davon gesprochen, die Gewerkschaften hätten Sorge - wenn ich ihn richtig verstanden habe - vor 500 000 Arbeitslosen. Er hat das so zusammenhanglos hier hingestellt. Da er von einem Gespräch gesprochen hat, kann ich ihn nur so verstehen, daß sich diese Sorgen aus dem Gespräch mit ihm ergeben haben. Anders kann man das wohl nicht verstehen. Hier muß doch die Beziehung klargestellt werden.
({1})
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Ist Ihnen entgangen, Herr Kollege Kirst, daß das Wirtschaftswissenschaftliche Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes im November diese großen Sorgen und auch die Gefahr von 500 000 Arbeitslosen schriftlich in einer Stellungnahme zu 1971 ausgesprochen hat? Oder gehört das auch zu der Panikmache, die Sie hier verurteilt haben?
Diese Sorgen sind dann aber nicht beziehungslos, zusammenhanglos, wie hier von Herrn Höcherl, dargestellt worden, sondern diese Sorgen sind dann verifiziert worden auf bestimmte Entwicklungen, die herbeizuführen nicht die Absicht und nicht der Wille dieser Regierung ist.
({0})
- Herr Müller-Hermann, ich würde Ihnen und Ihrer ganzen Fraktion, damit wir uns diese unangenehmen Auseinandersetzungen sparen, empfehlen, in Ihrer eigenen Argumentation hier und draußen vorsichtiger zu sein. Aber Sie können nicht verlangen, daß wir uns dauernd das gefallen lassen, was hier in diesem Hause und draußen in allen Bereichen der
Politik an Verketzerung - um es nicht schlimmer zu sagen - über uns ausgegossen wird.
({1})
Ich werde morgen früh wahrscheinlich noch des näheren darauf eingehen.
({2})
- Das hat mit Schulmeisterei nichts zu tun.
({3})
Ich will mich gar nicht darüber ereifern, in welcher Art hier gesprochen wird. Aber wenn hier Unwahrheiten gesagt werden, dann müssen sie widerlegt werden,
({4})
die Unwahrheit z. B., die Herr Höcherl geäußert hat, indem er so leichthin erklärte - in der Hoffnung, daß es mindestens in irgendwelchen Provinzpressen abgedruckt wird -: Da sieht man mal, wie schnell man abwirtschaften kann.
({5})
- Sehr wahr, Herr Stoltenberg? Dann bringen Sie doch den Beweis dafür in der wirtschaftlichen Situation, in der wir uns befinden! Die Preisentwicklung will ich damit nicht verniedlichen; das ist hinreichend gesagt worden. Aber Wirtschaft besteht ja aus mehr, besteht aus allen Daten. Wer angesichts des heutigen Status quo behauptet, von Abwirtschaften reden zu dürfen, der kommt mir vor wie ein Mensch, der behauptet, er würde in der Wüste frieren.
({6})
Und noch einmal: Herr Höcherl hat es hier abgestritten. Der Kollege Nölling ist, glaube ich, nicht im Saal. Wir waren damals zu dritt in NeheimHüsten. Um auch hier zur Wahrheit zu verhelfen: Natürlich hat Herr Höcherl den Vorwurf der Inflation erhoben. Die Abschwächung mit der inflatorischen Entwicklung war eine spätere Replik auf meine Entgegnung. Schließlich hat Herr Kollege Höcherl behauptet, wir würden jetzt den Haushalt 1971 darüber reden wir Gott sei Dank in den
nächsten Tagen - als prophetische Gabe hinstellen.
Das haben wir nicht getan. Wir - ich und andere haben es von dieser Stelle aus im September und Oktober gesagt: Wir wissen nicht, wie die konjunkturelle Situation bei der Verabschiedung des Haushalts sein wird oder wie sie sich für die Dauer der Zeit, in der er vollzogen wird, abzeichnen wird; wir behaupten gar nicht, Propheten zu sein. Wir wollen die Entscheidung über diesen Haushalt zur rechten Zeit, und das wird eben in den nächsten Tagen sein.
Ich will mit dieser Bemerkung schließen. All das, was Sie neben einigen sachlichen Beiträgen, die von anderer Seite schon anerkannt worden sind, hier heute geboten haben, was Sie in diesen Monaten ständig und überall bieten, gehört zu der großen Konzeption, die Sie sicherlich haben, die Sie von Lehrmeistern aus alten Zeiten übernommen haben, zu der großen Konzeption der Angstmacherei. Mit dieser Angstmacherei haben Sie - das wäre eine Untersuchung wert - seit 1953 in Deutschland wahlpolitische Geschäfte gemacht.
({7})
Sie befinden sich diesmal jedoch in der für Sie schlechten Situation - weil Sie in der Opposition sind und wir gemeinsam regieren -,
({8})
daß im Laufe der Zeit der Beweis erbracht werden kann, daß diese Angstmacherei unbegründet ist. Die Zeit wird auch insofern für uns arbeiten.
({9})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Das Jahresgutachten 1970 soll auf Vorschlag des Ältestenrates dem Ausschuß für Wirtschaft - federführend -, dem Finanzausschuß und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung, der Jahreswirtschaftsbericht 1971 dem Ausschuß für Wirtschaft als federführendem Ausschuß, dem Finanzausschuß und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Andere Anträge werden nicht gestellt. Es ist so beschlossen.
Damit stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Plenarsitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 3. Februar 1971, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.