Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung erstattet hier heute zum zweitenmal Bericht über die Lage im geteilten Deutschland. Gleichzeitig liegt dem Hohen Hause die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP zur Außenpolitik vor.
Wie ich es hier vor Jahresfrist zugesagt habe, sind in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation dem Hohen Hause außerdem Materialien zugeleitet worden, die es erleichtern mögen, die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR in einigen wichtigen Lebensbereichen zu vergleichen.
Meine Damen und Herren, in unserer Antwort auf die Große Anfrage, zu der sich die Regierung im Verlauf der bevorstehenden Debatte noch ausführlicher äußern wird, sind die politischen Bestrebungen und Bedingungen dargelegt worden, die sich aus der Lage der Bundesrepublik Deutschland ergeben und die von außen auf unser Land einwirken. Selbstverständlich kann die Lage in Deutschland nicht unabhängig von den Bewegungen beurteilt werden, die in der Welt und insbesondere in Europa wirksam sind. Es ist also angebracht, die kennzeichnenden Ereignisse des Jahres 1970 deutlich zu machen, die für uns gültigen Prinzipien noch einmal zu unterstreichen und dabei nicht zuletzt auch die Einstellung unserer Verbündeten darzulegen.
In der Antwort auf die Große Anfrage ist dargelegt worden, daß unsere Ostpolitik durch unsere Verbündeten eine einhellige Unterstützung gefunden hat. Wir fühlen uns um so mehr ermutigt, auf dem als notwendig erkannten Weg fortzufahren, als die Bestätigung durch die führenden Repräsentanten der mit uns verbündeten Mächte nicht nur in der Vertraulichkeit von sogenannten Vier-Augen-Gesprächen ausgesprochen wurde. Auch in den Konferenzen der westeuropäischen Gemeinschaften und des atlantischen Bündnisses ist unsere Politik nachdrücklich unterstützt worden. Die dazu veröffentlichten Kommuniqués darf ich als bekannt unterstellen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ich Anfang dieser Woche gemeinsam mit dem Außenminister und anderen Kabinettskollegen in Paris war. Wir haben uns dort erneut davon überzeugen können, mit welch freundschaftlichem Verständnis unsere Bestrebungen begleitet werden. „Frankreich unterstützt Sie vorbehaltlos", sagte Präsident Pompidou in einer Rede, die - lassen Sie mich diese noble Geste nicht verschweigen - in Deutsch vorgetragen wurde.
Gerade bei diesen jüngsten Gesprächen in Frankreich ist deutlich geworden, wie sehr unsere West-und unsere Ostpolitik einander bedingen, wie sehr
sie zusammengehören. Mit anderen Worten: die westeuropäische Zusammenarbeit und Einigung - die wir aktiv fördern, wie alle wissen - hindert uns nicht, bessere Beziehungen zum Osten zu ententwickeln, sondern ist eine Grundlage dieses unserer Überzeugung nach notwendigen Bemühens.
Mit großem Interesse und viel Verständnis verfolgen auch zahlreiche Regierungen, maßgebende Persönlichkeiten und die Presse des neutralen Auslandes und in weiten Teilen der Dritten Welt unsere auf Abbau der Spannungen und auf die Organisation des Friedens gerichtete Politik. Viele wissen, daß Europa in der weltweiten Zusammenarbeit mehr leisten kann als bisher, wenn diese Bemühungen zum Erfolg führen. Man bestreitet heute auch in der östlichen Welt kaum noch, daß deutsche Politik dem Frieden gilt. Und man weiß, daß wir bei unseren Bemühungen um Verständigung niemand ausnehmen, auch nicht die DDR.
Aus dieser Sicht ist es nur folgerichtig, daß wir bei der Unterzeichnung des Vertrags in Moskau am 12. August vergangenen Jahres unsere Übereinstimmung mit der Sowjetunion erklären konnten, daß alle Abkommen, die wir mit den Partnern des Warschauer Paktes abschließen wollen, politisch ein einheitliches Ganzes bilden. Niemand wird von wirksamer Entspannung in der Mitte Europas sprechen können, solange nicht alle diese Elemente vorhanden sind.
Darüber hinaus möchte ich hier festhalten: diese Verträge - nach dem jetzigen Stand konkret: der mit der Sowjetunion und der mit der Volksrepublik Polen - widersprechen in keinem Punkt unserer Stellung als Glied der Europäischen Gemeinschaft und als Verbündeter in der NATO. In West und Ost, in Nord und Süd gibt es weder besondere deutsche Interessen noch spezielle deutsche Vorbehalte, die unsere Entscheidung für eine Politik des Ausgleichs schmälern oder beeinträchtigen könnten.
Dabei haben wir in Moskau klargemacht, daß kein Vertrag uns hindern kann noch darf, auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, in dem unser Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dies entspricht dem Auftrag unserer Verfassung ebenso wie unserer Überzeugung. Niemand wird jedoch glauben, eine Wunschvorstellung sei schon dadurch nahe, daß man sie zu Papier gebracht hat.
Auch im Verhältnis zu Polen haben wir das deutsche Interesse im weitesten Sinne im Auge, wenn wir das Unsere tun, damit der deutsche Name nicht mehr als Symbol von Unrecht und Grauen benutzt werden kann, sondern als Zeichen der Hoffnung auf Aussöhnung und friedliche Zusammenarbeit gilt. Daß diese Hoffnung nicht vergeblich ist, dürfte sich auch an der Zahl der Deutschen zeigen, die in den kommenden Monaten in die Bundesrepublik kommen werden.
Für das Verhältnis zur DDR gilt: wie es nach den Grundsätzen der Vereinten Nationen im Verhältnis zwischen den Staaten vorgesehen ist, muß auch in diesem Fall im Vordergrund aller Anstrengungen die friedliche Regelung der Beziehungen auf der
Grundlage der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, des friedlichen Zusammenlebens und der Nichtdiskriminierung stehen.
Meine Damen und Herren, die Begegnungen von Erfurt und Kassel im vergangenen Jahr waren für das Nebeneinander der beiden staatlichen Ordnungen auf deutschem Boden wichtig, auch wenn sie nur ein Beginn des Gesprächs waren. Ende Oktober haben wir folgerichtig die Absprache mit der Regierung der DDR getroffen, auf offiziellem Wege einen Meinungsaustausch über Fragen zu führen, deren Regelung der Entspannung im Zentrum Europas dienen würde und die für beide Staaten von Interesse sind.
Zu alledem stehen wir. Hier ist eine Basis, die an keine Voraussetzungen gebunden ist und auf der man 1971 arbeiten kann. Es lag nicht an uns, wenn die auf Grund dieser Vereinbarung geführten ersten Gespräche zwischen den Staatssekretären nur zögerlich in Gang kamen. Am Dienstag dieser Woche fand die vierte dieser Begegnungen statt, und viele weitere werden wohl folgen, ehe man von positiven Ergebnissen wird sprechen können, die wir wünschen. Ich betrachte es immerhin als Fortschritt, daß diese Besprechungen den quasi sensationellen Anstrich verlieren, den sie zuerst gehabt haben.
Die 20 Punkte, die ich in Kassel am 21. Mai 1970 dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Herrn Stoph, übermittelte, bleiben die Richtschnur für unsere Vorstellungen darüber, wie gleichberechtigte Beziehungen sachlich geregelt werden können. Die DDR hat Verkehrsfragen in den Vordergrund gerückt. Das ist interessant, und wir sind bereit, über alle auf diesem Gebiet anstehenden Fragen, über einen umfassenden Vertrag oder einander ergänzende Abkommen zu sprechen. Sofern die Fragen des Berlin-Verkehrs betroffen sind, werden wir allerdings - wie bisher - Grundsatzvereinbarungen der Vier Mächte nicht vorgreifen.
Dieser Überblick über die Entwicklung seit meinem Bericht vor einem Jahr macht deutlich, wie sehr die Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Gesamtzusammenhang gesehen werden muß. Eine isolierte Lösung der unser Volk bewegenden Fragen ist ebensowenig möglich wie etwa der Versuch, allein den Frieden sichern zu wollen. Die Geschichte hat uns gelehrt, zur Entfachung von Krisen genügt einer, aber zur Erhaltung des Friedens sind alle notwendig.
Was sonst zwischen den Staaten in Europa möglich ist, müßte auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland möglich sein. Die nun schon über zwei Jahrzehnte andauernde künstliche Abschnürung hat keine Stabilität und Ruhe gebracht. Im Gegenteil, sie hat Spannungen und Krisen heraufbeschworen, die es im Interesse Europas und Deutschlands zu überwinden gilt.
Niemand kann wissen, ob es nicht - sogar gegenüber der heutigen, für unser Volk durchaus unbefriedigenden Lage - noch wieder Rückschläge geben wird. Wir beeinflussen das Geschehen um uns herum, aber es wirkt noch stärker auf uns ein. TrotzBundeskanzler Brandt
dem sollten wir uns nicht von dem Versuch abbringen lassen, ein Konfrontationsdenken abzubauen, das vor allem noch von der Führung der SED gepflegt wird und letzten Endes auf Kosten der Menschen geht. Diese Menschen fordern mit Recht, zumindest das heute Regelbare auch tatsächlich anzupacken.
Dabei gehen wir aus von dem, was ist. Wir stellen keine Vorbedingungen und errichten keine unüberwindbaren Hindernisse. Es geht ganz einfach um die selbstverständliche Tatsache, daß die Entspannung in Europa nicht ein Gebiet mitten in Europa aussparen kann: die Bundesrepublik und Berlin nicht, auch nicht die DDR.
Das Jahr 1970 hat die deutschen Fragen auf zum Teil neue Art, aber jedenfalls wieder stärker auf die Tagesordnung der europäischen und internatiolen Politik gebracht. Was in Gang gebracht wurde, gilt es nun konsequent und geduldig fortzuführen.
Etwa in diesem Rahmen, meine Damen und Herren, müssen wir die heutige Lage der Nation betrachten.
Zum besseren Verständnis der inneren Situation in den beiden Staaten, die das Deutschland von 1970/71 ausmachen, hat die Bundesregierung in den Materialien, die Bundestag und Bundesrat zugeleitet wurden, den Versuch einer vergleichenden Darstellung der Entwicklung hüben und drüben vorgelegt. Diese Materialien sind das Arbeitsergebnis einer Gruppe von Wissenschaftlern, die unter der Leitung von Professor Dr. Peter Christian Ludz stand. Sie hat unabhängig und selbständig nach wissenschaftlichen Methoden gearbeitet, unbeschadet laufender Konsultationen mit den jeweils zuständigen Stellen der Bundesregierung.
Die Wissenschaftlergruppe hat ihre Arbeit auf solche Lebensbereiche konzentriert, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, die sich aber auch für einen fundierten empirischen Vergleich nach dem Stand der Forschung und Statistik überhaupt eignen. Die nach diesen Maßstäben ausgewählten Bereiche, die von der Bevölkerungs- und Erwerbsstruktur über die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche bis zur Situation der Jugend reichen, stehen in engem Zusammenhang mit drei Fragen, die für den Wettbewerb der in den beiden Teilen Deutschlands bestehenden Ordnungen wichtig sind, nämlich mit dem Selbstverständnis als industrielle Leistungsgesellschaft, mit Wachstum und Modernisierung des jeweiligen Systems und mit der zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, fachlicher und wissenschaftlicher Ausbildung.
Hier sind einige Faktoren ermittelt worden, die für die Menschen im geteilten Deutschland von erheblicher Bedeutung sind oder werden können. Dabei muß allerdings in aller Klarheit und mit Nachdruck gesagt werden, Vergleich bedeutet natürlich nicht Gleichstellung, und nüchterne Wiedergabe von Daten bedeutet nicht Billigung der politischideologischen und gesellschaftlichen Zustände im anderen Teil Deutschlands. Gleichwohl sollten derartige Untersuchungen fortgesetzt und vertieft werden; ihr Gewicht liegt nicht so sehr in der Darstellung als solcher als in dem Nutzen und den Folgerungen, die die politisch Verantwortlichen daraus ziehen. Wo es um die Lage der Nation geht, soll also mit dem Beitrag der Wissenschaft das politische Urteil erleichtert und die politische Diskussion versachlicht werden. Ich hoffe jedenfalls, daß die „Materialien" nicht nur in der Debatte dieses Hohen Hauses, sondern auch draußen in der Öffentlichkeit, in Wissenschaft, Politik und Bildungsarbeit Beachtung finden und daß die künftigen Arbeiten durch Kritik und Vorschläge gefördert werden.
Den Mitgliedern der wissenschaftlichen Kommission möchte ich von dieser Stelle aus die gebührende Anerkennung aussprechen. Mein Dank gilt im besonderen auch dem federführenden Bundesminister Egon Franke, der die Initiative zur Bildung der Kommission ergriffen und die Durchführung ihrer Arbeiten gefördert hat.
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Meine Damen und Herren, bei Betrachtung der Lage unseres geteilten Volkes, wie sie in den „Materialien" deutlich zum Ausdruck kommt, darf man nicht dem Irrtum verfallen, die heutigen Probleme der Deutschen seien allein die Folge des Entstehens zweier deutscher Staaten im Jahre 1949. Die Ursprünge liegen, wie wir wissen, weiter zurück. Dazu möchte ich an das erinnern dürfen, was ich in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 sagte:
Diese Regierung geht davon aus, daß die Fragen, die sich für das deutsche Volk aus dem zweiten Weltkrieg und aus dem nationalen Verrat durch das Hitler-Regime ergeben haben, abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden können. Niemand kann uns jedoch ausreden, daß, die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben wie alle anderen Völker auch. Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.
Und in dem Bericht zur Lage Nation vor einem Jahr, am 14. Januar 1970, fügte ich hinzu:
25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Hitler-Reiches bildet der Begriff der Nation das Band um das gespaltene Deutschland ... Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinn eine deutsche Nation gibt und geben wird, soweit wir vorauszudenken vermögen.
Diese Feststellungen bildeten die Grundlage meiner Erklärungen in Erfurt und Kassel, aber auch die Grundlage der Gespräche, die der Außenminister und ich und unsere Mitarbeiter in Moskau und Warschau geführt haben. Für uns konnte und kann es nicht in Frage kommen, aus taktischen, um nicht zu sagen opportunistischen, Gründen Teile der geschichtlichen Entwicklung auszusparen.
Für uns kommt es auch nicht in Frage, den Begriff Nation scheinbar zeitgebundenen, kurzfristigen Notwendigkeiten anzupassen. Ich zögere nicht, in dieser Frage einen Mann zu zitieren, der am 30. November 1970 unter anderem erklärte:
Wir sind Patrioten und Internationalisten zugleich. Denn, ob man es wahrhaben will oder nicht, die Nation ist eine Wirklichkeit, die in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird. Damit es fruchtbare internationale Beziehungen zwischen den Staaten gibt, müssen die Nationen unter sich Beziehungen der Zusammenarbeit, der Verständigung und der Freundschaft entwickeln. Das bedeutet, daß wir entschlossene Gegner dessen sind, was man den nationalen Nihilismus nennen kann.
Soweit das Zitat. Es stammt vom Vorsitzenden der Fraktion der Kommunistischen Partei Frankreichs im dortigen Senat, Jacques Duclos, einem Mann, den ich den Verantwortlichen der SED gewiß nicht vorzustellen brauche. Er stützt sich in seiner Erklärung des Begriffs „Nation" übrigens auch auf kommunistische Klassiker. Und bei ihm findet sich kein Wort davon, daß nur bestimmte Kreise der Bevölkerung die Nation bilden und andere, die „klassenpolitische Gegner" sind oder solche genannt werden, davon ausgeschlossen wären.
Es ist der SED-Führung vorbehalten geblieben, die „bürgerliche Nation" von einer „sozialistischen Nation" zu unterscheiden, wobei bemerkenswerterweise davon gesprochen wird, daß in der Bundesrepublik „Reste der alten bürgerlichen deutschen Nation" erhalten geblieben seien. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, spricht man in der DDR seit Anfang 1970 sowohl vom „sozialistischen Staat deutscher Nation" wie vom „sozialistischen deutschen Nationalstaat", wodurch der Fortbestand der einen deutschen Nation gleichermaßen bestätigt und abgestritten wird.
Diese Feststellungen und Hinweise zeigen, wie schwierig Gespräche sind, wenn der Partner zwei Dinge zu gleicher Zeit haben und sein will. Denn wenn auch die DDR immer wieder unter Berufung auf den „sozialistischen deutschen Nationalstaat" erklärt, daß es keine „besonderen Beziehungen" zwischen den beiden deutschen Staaten geben könne, so nimmt die gleiche Führung für sich das Recht in Anspruch, „eine offensive Politik" - wie man es dort nennt - „der friedlichen Koexistenz gegenüber der BRD" zu führen. Mit keinem Staat der Welt beschäftigt sich die DDR so ausführlich und so aktiv wie mit unserer Bundesrepublik. Und nun frage ich: Ist dies nicht die von der Führung der DDR sonst so gerne angeprangerte Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Staates? Und geht das nicht oft bis zur Aufforderung an unsere Bürger, sich gegen die innere Ordnung ihres Staates aufzulehnen?
Ich sage das nicht nur im Sinne der notwendigen Abgrenzung. Ich möchte auch deutlich machen, daß eine solche Haltung, wenngleich negativ, das besondere Interesse an dem in der Bundesrepublik lebenden Teil des deutschen Volkes zeigt. Hier geht es, um es deutlich zu sagen, um ein Interesse besonderer Art, um die ungewollte Dokumentation der „besonderen Beziehungen", die sonst abgestritten werden. Aber das besondere Interesse wird so geltend gemacht, daß dadurch die Kluft zwischen den beiden Teilen Deutschlands tiefer wird als zwischen anderen Staaten unterschiedlicher ideologischer und gesellschaftspolitischer Struktur. Die gemeinsame nationale Basis führt die Führung in Ost-Berlin nicht zur Abschwächung, sondern zur Überspitzung des OstWest-Gegensatzes.
Von der anderen Seite werden so oft die politischen Realitäten beschworen. Deshalb sei an dieser Stelle in aller Eindringlichkeit festgestellt: Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind für uns keine formalen Begriffe.
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Sie sind Aufträge unserer Verfassung, des Grundgesetzes, und bilden die unveräußerliche Grundlage unserer staatlichen und gesellschaftlichen Existenz. Wir stellen uns gern jedem Wettbewerb, bei dem es um mehr persönliche Freiheit und um mehr soziale Gerechtigkeit geht.
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Aber in einem Punkt sind wir mit Herrn Ulbricht, dem Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretär, einig, wenn er von Abgrenzung spricht: Es kann weder ideologisch noch gesellschaftlich eine Vermischung der Gegensätze, noch kann es eine Verniedlichung der Meinungsunterschiede geben; das gilt - leider - gerade für die beiden Staaten in Deutschland, die so verschiedenen Systemen angehören. Aber auch diese beiden Staaten müßten ein friedliches Nebeneinander erreichen können, bei dem keiner den anderen bevormundet, sondern beide untereinander und nach außen ein Beispiel geben, daß friedliche Zusammenarbeit auch zwischen so unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen möglich ist.
Nation ist eine Frage von Bewußtsein und Willen. Die Polemik in Ost-Berlin gegen die Nation bestätigt die Existenz von Bewußtsein und Willen, die auch drüben weithin erhalten geblieben sind. Die verschiedenen Auffassungen zu diesem Thema brauchen die Bemühungen um ein geregeltes, sachliches Nebeneinander der beiden deutschen Staaten nicht zu stören. Allerdings müssen beide Seiten respektieren, daß die Vier Mächte Kompetenzen für Deutschland als Ganzes und Berlin haben und behalten werden. Diese Situation ist kein Hindernis für die Absicht der Bundesregierung, Abkommen mit der DDR jene klare Verbindlichkeit zu geben, die auch sonst zwischen Staaten üblich und erforderlich ist.
Die Regierung in Ost-Berlin hat es für richtig gehalten, unsere Bemühungen um ein friedliches Nebeneinander und um die Regelung sachlicher Fragen anzuzweifeln oder gar zu diffamieren. Die Bundesregierung wird sich dadurch nicht beirren lassen; sie bleibt dabei, daß die internationalen Beziehungen der DDR dann auf weniger Hindernisse stoßen, wenn sich in bezug auf die Lage in Deutschland selbst die erforderlichen Regelungen erzielen lassen werden.
Es geht uns um Erleichterungen, um Verbesserungen für die Menschen in beiden deutschen Staaten im Verhältnis zueinander, und es geht außerdem um die gemeinsame Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa und in der Welt. Das ist kein Ausspruch mit erhobenem Zeigefinger, sondern ein ehrlicher, notwendiger Hinweis zum Thema der nationalen Verantwortung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei keinem anderen Thema wird die Problematik der Lage unserer Nation gegenwärtig so deutlich wie bei Berlin. Doppelte Spaltung, deutsche Kompetenzen und Zuständigkeiten, teils der Vier, teils der Drei Mächte bilden die komplizierten Faktoren der wirklichen Lage.
Wenn von der Entspannung in der Mitte Europas die Rede ist, so ist die Entspannung der Lage in und um Berlin der Sache nach davon überhaupt nicht zu trennen. Die Haltung der Bundesregierung dazu war immer klar. Sie ist am 7. Juni vergangenen Jahres im Hinblick auf die Verhandlungen mit der Sowjetunion auch öffentlich so formuliert worden:
Es wird davon ausgegangen, daß die Viermächteverhandlungen dazu führen, die enge Verbindung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin sowie den ungehinderten Zugang nach West-Berlin zu sichern. Ohne eine solche Sicherung wird ein Gewaltverzichtsvertrag nicht in Kraft gesetzt werden können.
Soweit das Zitat aus dem Beschluß der Bundesregierung vom 7. Juni vergangenen Jahres.
Wenn ich das hier in Erinnerung rufe, so um hinzuzufügen: Die Bundesregierung bleibt bei ihrem Standpunkt. Sie wird den sachlichen Zusammenhang, auf den sie die Beteiligten immer wieder hingewiesen hat, nicht auflösen.
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Es ist daran zu erinnern, daß die Berlin-Gespräche, die sich inzwischen zu Verhandlungen verdichtet haben, auf westliche Initiative hin im Sommer 1969 begonnen haben. Den Anstoß dazu hatte eine Äußerung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika bei seinem Besuch in Berlin Anfang 1969 gegeben. Er sagte damals vor der Belegschaft der Siemens-Werke - ich darf zitieren -:
Wenn wir sagen, wir lehnen jede einseitige Änderung des Status quo in Berlin ab, so heißt das nicht, daß wir den Status quo als zufriedenstellend ansehen ... Lassen Sie uns, uns alle, die Situation in Berlin als einen Appell zum Handeln betrachten, als eine Aufforderung zur Beendigung der Spannungen einer vergangenen Zeit, hier und überall auf der Welt. Unsere gemeinsame Haltung läßt sich am besten durch ein Goethe-Zitat ausdrücken: Ohne Hast, doch ohne Rast.
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Schritt für Schritt werden wir uns gemeinsam bemühen, einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
- Das war, wie gesagt - für denjenigen, der das mit der „Hast" für besonders wichtig hält -, nicht gestern, sondern im Februar 1969, und jetzt schreiben wir Januar 1971.
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Es gab in der Vergangenheit Zeiten, in denen Berlin sich gegen mächtige Kräfte, die es zu überwältigen drohten, behaupten mußte. Ihre Entschlossenheit
- das war an die Adresse der Berliner gerichtet in jenen Zeiten der Gefahr hat über jeden Zweifel bewiesen, daß Drohung und Zwang niemals erfolgreich sein können. Durch Ihre Stärke haben Sie Bedingungen geschaffen, die zu gelegener Zeit eine andere Art Entschlossenheit zulassen könnten - eine Entschlossenheit, daß wir durch Verhandlungen von Regierungen miteinander und Versöhnung unter den Menschen der Teilung dieser Stadt, dieser Nation, dieses Kontinents und dieses Planeten ein Ende bereiten werden.
Nun wird - ich sagte es schon - seit geraumer Zeit darüber verhandelt, ob und wie unbeschadet einiger nicht zu vereinbarender grundsätzlicher Positionen eine befriedigende Berlin-Regelung erzielt werden kann. Dabei war und ist es eine Selbstverständlichkeit für die Bundesregierung, daß sie sich über die einzunehmenden Positionen in engster Verbindung mit den drei Westmächten hält. Ich kann hier feststellen, daß die Zusammenarbeit der vier westlichen Regierungen im Laufe der letzten Monate gerade auf diesem Gebiet eine Intensität gewonnen hat, wie es sie bis dahin kaum jemals gegeben hat. Es besteht vollständige Übereinstimmung über die Kriterien und die Inhalte, die eine Berlin-Regelung haben muß, wenn sie in unserem Sinne und dem der Westmächte befriedigend sein soll.
Dazu gehören einige Erfordernisse, die sich mir noch in meinen Jahren als Regierender Bürgermeister von Berlin stark eingeprägt haben. Ich sage hier ganz offen, meine Damen und Herren, ich hätte mir seinerzeit eine gemeinsame politische Anstrengung aller Beteiligten gewünscht, durch die Berlin - im Sinne unseres Grundgesetzes - zum Land der Bundesrepublik Deutschland geworden wäre, und ich bin auch hier dafür eingetreten.
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Die Entwicklung ist anders verlaufen, aber nicht so, daß West-Berlin zur sogenannten „selbständigen politischen Einheit" werden könnte. Worauf es heute ankommt, sind die gewachsenen Bindungen, ist die enge Zusammengehörigkeit. Und wenn ich dies sage, gibt es mir die willkommene Gelegenheit, auf die gute Zusammenarbeit und das volle Einvernehmen mit dem Senat von Berlin hinzuweisen; er nimmt konstruktiv an allen erforderlichen Überlegungen teil.
An dieser Stelle möchte ich den drei Westmächten und ihren Regierungschefs danken für ihr Verständ5048
nis, das sich im Grundsätzlichen wie auch in der täglichen praktischen Arbeit ausdrückt,
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vor allem aber dafür, daß sie das überragende vitale Interesse der Bundesrepublik für West-Berlin anerkennen. Dies ist ja auch vertraglich fixiert, aber es ist entscheidend, daß sich daraus eine praktische Abstimmung der Interessen ergeben hat.
Außerdem kann ich feststellen, daß die Erwartung der Bundesregierung eingetroffen ist, wonach der Moskauer Vertrag die Berlin-Verhandlungen fördern und intensivieren werde.
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- Fragen Sie mal Herrn Kollegen Schröder, ob es heute leichter oder schwerer ist, unter Berufung auf vitale deutsche Interessen mit der Sowjetunion über Berlin zu sprechen oder nicht.
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Wir haben natürlich weiterhin keinen eigentlichen Rechtstitel gegenüber den Vier Mächten, aber auch auf sowjetischer Seite wird unser vitales Interesse an einer befriedigenden Berlin-Regelung nicht mehr bestritten. Mehr sage ich nicht, aber das sage ich, weil es zur Bestandsaufnahme dieses Januar 1971 dazugehört.
Die Vier Mächte haben für die Berlin-Verhandlungen besondere Vertraulichkeit vereinbart. Die Bundesregierung, die diese Verhandlungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv fördert, hat sich dem angeschlossen. Sie muß sich dadurch in der öffentlichen Auseinandersetzung Zurückhaltung auferlegen, obwohl sie viel Verständnis dafür hat, daß unsere Öffentlichkeit diese Verhandlungen mit besonders lebhaftem Interesse verfolgt.
In einer Solchen Situation - das weiß ich - sind Mißverständnisse zuweilen unvermeidbar. Dennoch ist es im großen und ganzen gelungen, zwischen Regierung, Koalitionsparteien und Opposition eine weithin übereinstimmende Beurteilung in der Berlin-Frage sicherzustellen. Es wäre gut, wenn wir dies im gemeinsamen Interesse und zugunsten Berlins beibehalten könnten.
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Die Bundesregierung ist sich mit den in Berlin engagierten Mächten darin einig, daß es für die außerordentlich komplizierten Verhandlungen, in denen schließlich die Ergebnisse einer mehr als 20jährigen Entwicklung berücksichtigt werden müssen, keinen Zeitdruck geben darf. Gleichzeitig sollte aber zügig gearbeitet werden, so daß diese Verhandlungen, wenn ihr Stand es als sinnvoll erscheinen läßt, auch eine weitere Intensität, also einen konferenzähnlichen Charakter, annehmen könnten.
Ich enthalte mich jeder zeitlichen Prognose. Aber ich will noch einmal versuchen, das Ziel zu umreißen. Die Berlin-Regelung muß der Wirklichkeit Rechnung tragen, wie sie ist, d. h., sie muß WestBerlin durch zeitlich nicht begrenzte Vereinbarungen zwischen Ost und West nach menschlichem Ermessen störungsfrei machen und dadurch eine ruhige Entwicklung der Stadt für die Zukunft eröffnen. Berlin, das Symbol der Auseinandersetzungen des kalten Krieges, muß zu einem Symbol des respektierten Nebeneinander und des Miteinander im Zentrum eines friedlich zusammenarbeitenden Europas werden.
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Die Bundesregierung - und ich bin überzeugt, dieses ganze Haus - verurteilt aufs schärfste die Schwierigkeiten und Behinderungen auf den Straßen nach Berlin.
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Dies ist ein untauglicher Versuch, faktische Kompetenzen zu demonstrieren und damit Druck ausüben zu wollen. Störungen auf den Zugangswegen sind Störungen der Verhandlungen.
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Es ist offensichtlich, daß die Regierung der DDR immer wieder neue Vorwände benutzt und damit die Situation verschärft, gerade während die Verhandlungen im Gange sind, Verhandlungen, deren Ziel es unter anderem ist, den unbehinderten Zugang zu vereinbaren. Unsere Antwort kann nach meiner Überzeugung nur politisch sein: Es wird keine Berlin-Regelung geben, die das Recht auf freie Versammlung nicht ebenso gewährleistet wie den unbehinderten Zugang.
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Die Bundesregierung steht - ich sagte es schon in anderem Zusammenhang - in engem Kontakt mit den Drei Mächten, die eine besondere Verantwortung für alle mit Berlin zusammenhängenden Fragen tragen.
In diesem Rahmen bleibt es weiterhin Sache der Bundesregierung, der wirtschaftlichen Situation West-Berlins besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Auch wenn die Sicherheit der Stadt und ihrer Zufahrtswege in der Verantwortung der Drei Mächte liegt, so tragen wir doch ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Lebensfähigkeit dieser Stadt, die hier niemand mehr am Herzen liegen kann als einem Bundeskanzler, der dort während eines Jahrzehnts wesentliche politische Verantwortung getragen hat.
Wenn wir auf das vergangene Jahr zurückblicken, hat die Bundesregierung und haben wir hier gemeinsam, Bundesregierung und Bundestag, weitere wirksame Maßnahmen getroffen, um die Schwierigkeiten, die die Lage der Stadt mit sich bringt, soweit wie möglich zu beheben. Ich erinnere hierzu an die noch im vergangenen Jahr in Kraft getretene neue Fassung der Berlinförderungsgesetzes und an die Richtlinien zur Förderung der Arbeitsaufnahme in West-Berlin. In beiden Fällen geht es um bedeutsame neue Regelungen für Arbeitnehmer und Unternehmer. Die Bemühungen um Arbeitskräfte und um wirtschaftliches Wachstum für Berlin sind auch
1970 von Erfolg gewesen. Wenn die politische Situation verbessert wird, so wird sich dies auch auf die Wirtschaft positiv auswirken. Die Sicherung der Lage Berlins wird es der Stadt ermöglichen, wenn man soweit ist, verstärkt ihren besonderen Beitrag zum wirtschaftlichen und kulturellen Austausch in Deutschland und in Europa zu leisten.
Meine Damen und Herren! Die Spaltung Deutschlands, die uns der Krieg hinterließ, hat auch diesseits der Grenzlinie gelegene Landstriche hart getroffen: aus einem Kernland wurde ein abseits der Wirtschaftsströme liegendes Randgebiet. Historisch gewachsene, politische, kulturelle und wirtschaftliche Bindungen wurden zerrissen.
In Übereinstimmung mit einem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 2. Juli 1953 haben die Bundesregierungen seitdem wiederholt betont, daß sie das innerdeutsche Randgebiet vorrangig fördern wollten. Diese Regierung hat dem Hohen Hause den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, das die bisherigen Förderungsmaßnahmen und -präferenzen für die betroffenen Gebiete absichern soll. Zudem bringt es wesentliche Verbesserungen, insbesondere auf dem Gebiet des Wohnungsbaus und der sozialen Einrichtungen. Zusätzlich sollen weitere 80 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden, wobei sich die Planungen jetzt über die Wirtschaftsförderung hinaus auf Infrastrukturmaßnahmen konzentrieren werden.
Meine Damen und Herren! Bei den Bemühungen, für alle Betroffenen die Folgen der Teilung Deutschlands nach bestem Vermögen erträglicher zu gestalten, denke ich auch heute besonders an die große Gruppe unserer Bevölkerung, die als Folge des Krieges vor 25 Jahren ihre alte Heimat verloren hat. Niemand sollte sich anmaßen, über jene abfällig zu urteilen, die auch heute noch über den Verlust ihrer Heimat im Osten Schmerz und Trauer empfinden.
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Sie trugen eine schwerere Last als viele andere Deutsche. Und gerade ihre Vertrauensmänner waren es, die sich schon vor 20 Jahren in der Charta von Stuttgart von Haß freigehalten und den Ausgleich mit den östlichen Nachbarn gesucht haben. Jene Charta war ein Dokument der Menschlichkeit und der Vernunft, das den Blick in die Zukunft richtete und den barbarischen Methoden der Vergangenheit eine deutliche Absage erteilte. Gewisse Leute wollen heute den Vertriebenen gegenüber den Eindruck erwecken, als sei durch den von uns unterzeichneten Vertrag mit Polen eine reale Möglichkeit auf Rückkehr in die alte Heimat verlorengegangen, als seien sie gewissermaßen erst heute vertrieben, als habe jetzt ein Verzicht auf greifbare Rechte stattgefunden. Dazu möchte ich bei dieser Gelegenheit nur folgendes sagen. Wenn wir heute um des Friedens willen bereit sind, von den bestehenden Grenzen in Europa, d. h. auch in Osteuropa, auszugehen und sie zu achten, dann bedeutet dies keineswegs eine Legitimierung oder ein stillschweigendes Einverständnis mit der Vertreibung der Deutschen aus diesen Gebieten, die 1945 und 1946 stattgefunden
hat. Den Krieg haben wir allerdings, wie wir alle wissen, nicht erst jetzt verloren, und über die Haltung der ausländischen Mächte, einschließlich unserer engsten Verbündeten, hat man sich auch längst orientieren und informieren können.
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Wir wollen - nicht zuletzt durch den Vertrag Barrieren zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk abbauen, Barrieren, die sich aus einem schwierigen historischen Erbe, insbesondere aber aus dem zweiten Weltkrieg ergeben haben.
Bei den Verlusten durch die Vertreibung ging es nicht nur um die Grundlagen materieller Existenz, es geht auch um ein Gebiet, das große Leistungen und Beiträge zum deutschen Kultur- und Geistesleben erbracht hat. Die Bundesregierung will dieses kulturelle Erbe zusätzlich pflegen helfen.
Für die materiellen Verluste der Vertriebenen hat die Bundesrepublik gewiß keinen auch nur annähernd vollen Ersatz schaffen können. In den meisten Fällen ist dennoch die wirtschaftliche Eingliederung gelungen. Persönliche Tüchtigkeit, Geschick, nicht zuletzt auch die günstige Wirtschaftsentwicklung in unserer Bundesrepublik haben dazu beigetragen. Diejenigen unserer Mitbürger aber, die den Krieg nicht mit dem Verlust der angestammten Heimat mit all ihren unwägbaren Quellen bezahlen mußten, bitte ich um ihr Verständnis und ihre Hilfe für alle, die bei uns noch immer nicht ganz zu Hause sind.
Nach dem Abschluß des Vertrages mit Polen werden viele Familien die Aussicht haben, ihre dort lebenden Angehörigen bei sich aufnehmen zu können. Wie Sie wissen, treffen in diesen Tagen erste kleinere Gruppen in der Bundesrepublik ein.
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- Seit dem Zeitpunkt - das verstehen Sie doch wohl -, von dem hier die Rede ist.
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Die Umstellung auf das Leben bei uns wird manchen dieser Menschen zunächst nicht leichtfallen. Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder werden das ihnen Mögliche tun. Es bedarf aber der Mitwirkung aller Mitbürger, um diesen Deutschen, die zu uns kommen, die Last der Eingewöhnung und des Neubeginns zu erleichtern. Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik Deutschland aber, woher sie auch stammen, rufe ich auf, das Ihre dazu zu tun, daß die Versöhnung mit dem polnischen Volk dauerhafte Wirklichkeit wird.
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Dies gilt gleichermaßen für den von uns angestrebten Ausgleich mit den Völkern der Tschechoslowakei, für die Aussöhnung und Zusammenarbeit mit dem Osten überhaupt.
Unsere Bemühungen, das Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und zum anderen Teil Deutschlands zu normalisieren, haben in den letzten Monaten - abgesehen von dem legitimen Meinungsstreit über Inhalt und Form; der wird ja auch
hier ausgetragen werden - zu recht heftigen Aktionen kleiner Gruppen geführt, deren Lautstärke in keinem Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke stand und steht. Diese Gruppen, die unter der mißbrauchten, in diesem Fall makabren Parole „Widerstand" versuchen, auch einen Teil der Heimatvertriebenen für ihre Ziele zu mißbrauchen, repräsentieren nicht die Politik unseres Landes und nicht den Willen der Bevölkerung.
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Es handelt sich um eine Sammlung von Resten radikaler Organisationen, die mit immer neuen Methoden versuchen, unzufriedene Mitbürger für ihre verwerflichen Zwecke einzufangen.
Wir wissen, wie solche Aktionen auf dem Hintergrund der Geschichte bei unseren Nachbarn wirken, auch bei unseren Freunden im Westen. Die Untaten des Hitler-Regimes haben in der öffentlichen Meinung der Nachbarländer und darüber hinaus tiefe Spuren hinterlassen. Übernervöse Reaktionen in diesen Ländern mögen wir ablehnen, aber wir müssen sie deshalb doch zu verstehen versuchen, auch wenn sie nicht durch die Tatsachen gerechtfertigt sind.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung Ziele und Methoden der erwähnten Gruppen ablehnt; gerade weil viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger noch in Erinnerung haben, wie zerstörerisch solche Kräfte wirken können. Die Wahlen der letzten Zeit haben im übrigen deutlich zum Ausdruck gebracht, daß unser Volk nicht gewillt ist, sich Extremisten und offensichtlichen politischen Abenteurern anzuvertrauen.
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Wir haben uns mit Energie gegen jene zu wehren - mögen sie von der einen oder von der anderen Seite kommen -, die Gewalt oder Terror zum Mittel politischer Auseinandersetzung machen wollen.
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Und nationalistische Hetze verbietet sich darüber hinaus durch unsere bitteren Erfahrungen ebenso wie nach dem Auftrag unserer freiheitlichen Verfassung.
Meine Damen und Herren! Es ist gesagt und geschrieben worden, das erste Jahr dieses neuen Jahrzehnts sei für manche im Hinblick auf die Ereignisse in Europa gewissermaßen ein „deutsches Jahr" gewesen. Ich würde nach alter Berliner Manier sagen, ob es nicht auch eine Nummer kleiner zu haben ist. Jedenfalls vergessen wir nicht, was sich aus den Anstrengungen vieler ergibt. Wir können jedoch ohne Selbstgefälligkeit sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland bei den schwierigen Bemühungen - und sie bleiben schwierig - um einen gesicherten Frieden kein stiller Teilhaber, sondern eine treibende Kraft ist, und so soll es auch bleiben.
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Dies gilt in gleicher Weise für die westliche, zumal
die westeuropäische Zusammenarbeit wie auch für
die mühevolle Verständigung mit den östlichen Nachbarn.
Unsere Politik leidet nicht an Gleichgewichtsstörungen.
({18})
Die Förderung der westeuropäischen Zusammenarbeit, die Weiterentwicklung des Atlantischen Bündnisses und die Pflege bewährter Freundschaften bleiben das Fundament unserer Politik. Wir stehen mit beiden Beinen fest in der westlichen Gemeinschaft. Die enge und unauflösliche Partnerschaft mit unseren Freunden und Verbündeten ist nicht nur die Basis für unsere gemeinsamen Bemühungen um die Befriedung Europas, sie stellt auch einen großen Wert an sich dar.
Auf der anderen Seite können und wollen wir - wie unsere Partner im Westen - uns damit nicht zufrieden geben. Die Bundesrepublik hat in dem Prozeß, der letztlich auf Entspannung in Europa abzielt, eine abgestimmte, aber eigenständige Rolle übernommen. So wichtig es ist, daß wir mit unseren westlichen Partnern Hand in Hand gehen, so klar ist es auch, daß eine Reihe von Barrieren und Hindernissen nur von uns, den Deutschen, selbst aus dem Weg geräumt werden können. Die Hinterlassenschaft des vom Deutschen Reich begonnenen und verlorenen Krieges müssen wir - wenn wir einen Neubeginn wollen - zu einem großen Teil selbst beseitigen. Die Überwindung der europäischen Spannungssituation wird auch von unserem eigenen Beitrag abhängen, zumal was die Herstellung eines tragbaren und verträglichen Verhältnisses zwischen den beiden Staaten in Deutschland angeht. Dies ist eine Aufgabe, die uns niemand abnehmen kann, sondern die wir selbst anzupacken haben.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß wir von folgenden Tatsachen und Erwartungen ausgehen:
Erstens. Das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen.
Zweitens. Die deutsche Nation bleibt auch dann eine Realität, wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist.
Drittens. Die auf Bewahrung des Friedens verpflichtete Politik der Bundesrepublik Deutschland erfordert eine vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur DDR. Die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die für uns gültige Grundlage für Verhandlungen.
Viertens. Der rechtliche Status von Berlin darf nicht angetastet werden. Im Rahmen der von den verantwortlichen Drei Mächten gebilligten Rechte und Aufgaben wird die Bundesrepublik Deutschland ihren Teil dazu beitragen, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins besser als bisher gesichert wird.
Fünftens. Ein befriedigendes Ergebnis der Viermächteverhandlungen über die Verbesserung der Lage in und um Berlin wird es der Bundesregierung
ermöglichen, den am 12. August 1970 in Moskau unterzeichneten Vertrag mit der Sowjetunion den gesetzgebenden Körperschaften zur Zustimmung zuzuleiten.
Sechstens. Im gleichen zeitlichen und politischen Zusammenhang werden die gesetzgebenden Körperschaften über den am 7. Dezember 1970 in Warschau unterzeichneten Vertrag mit der Volksrepublik Polen zu entscheiden haben.
Ich habe mich bemüht, meine Damen und Herren, sachlich zu berichten; denn ich bin davon überzeugt: wir werden der Lage der Nation nur dann gerecht, wenn wir fähig sind, den Meinungsstreit so zu führen, daß er dem Gegenstand und unser aller Verantwortung gerecht wird.
({19})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, ich danke dem Herrn Bundeskanzler für die Abgabe des Berichts zur Lage der Nation 1971.
Es ist vereinbart worden, daß die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP betreffend Außenpolitik der Bundesregierung nicht extra begründet wird, sondern in den Punkt c - Aussprache über den Bericht der Bundesregierung - einbezogen wird.
Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat auf der Gästetribüne eine Delegation des Parlaments der Volksrepublik Polen Platz genommen. Ich begrüße die Gäste namens des Deutschen Bundestages ) auf das herzlichste.
({20})
Zur Eröffnung der Aussprache gemäß Buchstabe c des einzigen Punkts unserer Tagesordnung erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Barzel. Für ihn ist eine verlängerte Redezeit von bis zu 60 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wir, Herr Bundeskanzler, wollen - um an Ihre letzten Worte anzuschließen - den Meinungsstreit, den die Politik der Bundesregierung ebenso wie ihre Regierungserklärung notwendig machen, so führen, daß er, wie Sie sagten, dem Gegenstand und unser aller Verantwortung gerecht wird.
Vorneweg möchte ich zwei Punkte klarstellen, Herr Bundeskanzler. Wir haben den Protest unterstützt, den Sie hier - ich glaube, für das ganze Haus - hinsichtlich der Schikanen in und um Berlin abgegeben haben. Ich möchte hinzufügen, Herr Bundeskanzler, daß ich glaube, daß es Ihnen wohl angestanden hätte, einen Satz mehr hinzuzufügen,
({0})
etwa den Satz, meine Damen und Herren - - ({1})
Aber, meine Damen und Herren, ich dachte, wir
kriegten 1971 von Ihrer Seite einen anderen Beginn. Wenn Sie nicht einmal zuhören können, was wir in den ersten Sätzen sagen, dann muß ich Sie auf die nächsten doch noch gespannt machen.
({2})
Herr Bundeskanzler, wir meinen, Sie hätten hinzufügen können: So, durch solche Art von Schikanen, wird es eine Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages nicht geben, weil das gegen Geist und Buchstaben dieses Vertrages verstößt!
({3})
Der zweite Punkt, Herr Bundeskanzler, den wir ausräumen möchten er kann dann, wenn Sie mögen, in dieser Debatte damit erledigt sein -, ist folgender. Sie haben gesagt:
Nach dem Abschluß des Vertrages mit Polen werden viele Familien die Aussicht haben, ihre dort lebenden Angehörigen bei sich aufnehmen zu können. Wie Sie wissen, treffen in diesen Tagen erste kleinere Gruppen ... ein.
Es ist Ihnen sicher bekannt, daß durch die verdienstvollen Bemühungen des Deutschen Roten Kreuzes in dem Zeitraum von 1955 bis September 1970 368 266 Deutschen die Ausreise aus Polen gestattet wurde. Diese Zahl ist sachlich, sie ist richtig, und allein das ist ein ungeschminktes Bild der Wirklichkeit.
({4})
Wir haben gesehen, daß diese Regierungserklärung eigentlich erst am Schluß konkret wird. Vorher umschreibt sie mehr, beschreibt sie mehr, verschweigt sie sehr viel, als das sie aussagt.
({5})
Es ist eine andere Regierungserklärung als vor einem Jahr - das kann man verstehen -, viel mehr in Moll, und sie enthält einige Punkte, die wir gern festhalten werden; denn sie beweisen - darüber freuen wir uns, Herr Bundeskanzler , daß es doch noch sinnvoll ist, gelegentlich miteinander zu sprechen.
({6})
- Wollen Sie, daß das ganz aufhört? Wollen Sie die totale Konfrontation in diesem Hause?
({7})
In einigen anderen Punkten muß der Kern klarer gemacht werden. Ich möchte deshalb gleich auf die, wie ich meine, wichtigste Ziffer Ihrer Schlußerklärung, nämlich die Ziffer 5, zu sprechen kommen. Dort haben Sie, wenn ich es recht verstehe, entgegen früheren Aussagen und auch entgegen den allgemeinen Beteuerungen dieser Erklärung, soeben angekündigt, daß die Verträge von Moskau und Warschau zur Ratifikation gebracht werden sollen, sobald ein befriedigendes Berlin-Ergebnis vorliegt. Herr Bundeskanzler, wir notieren, daß hier folgende Entwicklung zu verzeichnen ist: erst hieß es befriedigende Berlin-Lösung, dann befriedigende Berlin-Regelung; jetzt ist nur noch von dem „Ergebnis" die Rede. Was das sein soll, werden wir nachher im einzelnen zu erörtern haben.
Herr Bundeskanzler, von den notwendigen innerdeutschen Regelungen, von Entspannung in Deutschland - so sprachen Sie z. B. in Erfurt davon, daß alle Deutschen von dieser Politik etwas haben müssen -, von alledem reden Sie nun nur noch am Rande. Für uns ist das der Kern einer vernünftigen Ostpolitik,
({8})
und ohne Lösungen im Kern, der Lage der Deutschen in Deutschland, und ohne unwiderrufliche Fortschritte in diesem Zentralpunkt werden Sie, Herr Bundeskanzler, zwar versuchen können, das von Ihnen geschnürte Gesamtpaket aufzuschnüren
- dies war doch Ihre Ankündigung von heute -, aber dabei werden wir Ihnen freilich nicht helfen, sondern wir werden die Ratifikation - jetzt gebrauche ich ein Wort Ihres Herrn Außenministers
- von „Fragmenten" in diesem Hause zu bekämpfen wissen.
({9})
Sie wissen, Herr Bundeskanzler, daß Grundlage für sehr vieles der Brief unserer Fraktion vom 10. August des vergangenen Jahres an Sie ist. In ihm ist bereits völlig deutlich gemacht, daß für uns der hier beschriebene innerdeutsche Fortschritt ebenso zu den Voraussetzungen einer Gesamtbeurteilung aller Dinge gehört wie eine befriedigende BerlinLösung. Ich verweise auf den Text, den ich hier nicht erneut vorzutragen brauche. Wir haben immer gesagt - und wir bleiben dabei -, daß es keine Entspannungspolitik geben kann, ohne daß die Deutschen in Deutschland davon etwas merken, und das Zusammenhängen all dieser Dinge bleibt die Voraussetzung. Herr Bundeskanzler, haben Sie nicht selbst noch in Moskau, und zwar verbindlich, alle diese Abmachungen als eine Einheit betrachtet? Haben Sie nicht selbst immer wieder gesagt - und lenken nun davon ab -, es käme nichts zustande, wenn nicht alle Deutschen in ganz Deutschland etwas davon hätten? Dies haben wir nun heute in Ihrer Ziffer 5 nicht mehr gehört. Haben nicht Sie selbst, Herr Bundeskanzler, oftmals Fortschritte in Deutschland und innerdeutsche Regelungen auch international als unentbehrliche Bestandteile Ihrer Politik bezeichnet? Haben Sie nicht früher selbst z. B. eine europäische Sicherheitskonferenz für sinnlos gehalten - sind dies nicht Ihre Worte? -, solange die Dinge in Deutschland zwischen seinen Teilen und für die Deutschen nicht in Ordnung sind? Wollen Sie nun wirklich die Rivalität zweier Unversöhnlichkeiten in Deutschland auf einer europäischen Sicherheitskonferenz oder in der UNO auch noch institutionalisieren und zementieren, Herr Bundeskanzler?
({10})
Wir sehen Sie hier in einer veränderten Position und halten dies heute fest als einen weiteren Verzicht dieser Bundesregierung.
Unserem Verlangen, daß eine innerdeutsche und eine Berlin-Regelung mit in das Gesamtpaket hineingehört, daß also bei der Ostpolitik die Deutschlandpolitik im engeren Sinne nicht ausgespart werden kann, ist entgegengehalten worden, damit gebe man Ulbricht ein Veto-Recht gegen unsere gesamten Entspannungsbemühungen. Das, meine Damen und Herren, ist nun das denkbar schlechteste Gegenargument. Denn wenn wir auf die Lage der Deutschen in Deutschland hinweisen und das zum zentralen Maßstab machen, dann vertreten wir unser zentrales, vitales Interesse und tun nichts als unsere Pflicht, für die wir hier da sind, Herr Bundeskanzler.
({11})
Was sonst soll denn Ulbricht - so ist doch die Logik Ihrer Politik zu verstehen - zum Einlenken bewegen, wenn nicht das Interesse der Sowjetunion und der übrigen osteuropäischen Staaten an dem, was Sie anspruchsvoll „historische Wende" genannt haben? In der Rede von heute haben Sie diesen Anspruch durch keine Tatsache belegen können, Herr Bundeskanzler. Was sonst soll ihn dazu bewegen?
Aber vielleicht gibt es bei Ihnen wirklich den Aspekt, daß Sie wirklich glauben - was ja doch Ihre Propagandisten immer wieder sagen - an angeblich diametrale Gegensätze zwischen Moskau und Ost-Berlin. Wir, meine Damen und Herren, sind immer von der sehr weitgehenden Übereinstimmung der Interessen zwischen der SED und der KPdSU und zwischen der DDR und der Sowjetunion ausgegangen. Ist es nicht vielleicht eine sowjetische Taktik, daß man Moskau den besseren Willen unterstellt und Ulbricht ganz bewußt den Part des „Bremsers", des „Quertreibers", des „Querulanten" spielen läßt? Ich meine, keiner von uns sollte sich seine europäische Szenerie nach Wunschbildern zurechtmachen. Ulbricht spielt genau nach sowjetischer Regie, und diese Rolle macht sein viel zitiertes ominöses Gewicht aus.
({12})
Sie haben eben, Herr Bundeskanzler, auf die amtlichen westlichen Kommuniqués verwiesen. Nun, wir haben den Beschluß des NATO-Rates vom Mai im Ohr, welcher als zentrales Prinzip einer europäischen Friedensordnung das Selbstbestimmungsrecht nannte. Im Dezember-Kommuniqué der NATO, dessen Berlin-Passage wir unterstützen, unterstreichen unsere Partner die Notwendigkeit - ich zitiere - „eines Einverständnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über eine auf dem Verhandlungswege gefundene Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen, welche die Besonderheiten der Situation in Deutschland berücksichtigt". Wenn man es jetzt so betrachtet, Herr Bundeskanzler, dann haben Sie doch Möglichkeiten, sich auf östliche und auf westliche Positionen zu stützen, wenn Sie etwa sagten: Es gibt nichts ohne Forischritt hinsichtlich der Lage der Deutschen in Deutschland! Das ist doch die Chance, die Sie haben. Ich frage Sie nun: Warum und wofür haben Sie das heute weggegeben, Herr Bundeskanzler?
Wir haben hier sehr ungern bemerkt, daß Ihre Worte zur Europapolitik immer noch dünner werden. Wir hören zu wiederholten Malen nur noch das Wort „Zusammenarbeit", wo wir von Einigung, von Vereinigung sprechen.
({13})
- Natürlich, meine Damen und Herren. Sprechen Sie nicht mehr von der europäischen Einheit, sind Sie nicht wie wir für den europäischen Bundesstaat? Ist Ihnen diese lockere Zusammenarbeit genug, die jetzt dauernd angeboten wird? Glauben Sie nicht mit uns, daß in Paris eine Schmälerung europäischer, gemeinsam eingenommener Positionen passiert ist?
({14})
Dies nur als Merkpunkt für die spätere Debatte.
Zurück zur Lage im geteilten Deutschland: Herr Bundeskanzler, Sie schließen - wie Sie eben sagten - Rückschläge nicht aus. Für solche Nüchternheit wird die CDU/CSU Sie niemals tadeln; denn das steht der deutschen Politik besser an.
({15})
- Es ist die Möglichkeit einer Opposition, eine Regierung zu loben oder zu tadeln. Ich bin im Augenblick beim Tadeln, Herr Kollege Schäfer.
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Nüchternheit steht der deutschen Politik besser an
- und dies haben Sie sicher bemerkt - als die sehr bombastischen Worte, die wir aus Moskau haben hören müssen.
Herr Bundeskanzler, wir würden gerne von Ihnen hören, wie Sie ein Dilemma, das Sie eben beschrieben haben, beantworten; denn das allein zu beschreiben, ist keine Politik. Sie sagten - und das ist sicher richtig -, zur Entfachung von Krisen genüge einer, aber zur Erhaltung des Friedens seien alle
B) nötig. Und zugleich wollen Sie dann das „Konfrontationsdenken" abbauen. Wo ist nun, Herr Bundeskanzler, so fragen wir, der andere, der Partner, der Gleichgesinnte? Wenn es ihn nicht gibt, Herr Bundeskanzler, wo ist dann die reale Basis Ihrer Politik? Oder klammern Sie die innerdeutschen Dinge aus, weil es keinen Partner dafür gibt, der bereit ist, zum Frieden beizutragen, zu dem alle mitwirken müssen, wie Sie sagen? Dann aber ist nach Ihren eigenen Worten das Ganze keine Friedenspolitik, weil hier eben einer das Gegenteil macht.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie diese richtigen Sätze noch einmal überdenken - und ich möchte Sie dazu ermuntern -, dann müßten Sie doch eigentlich mit uns meinen: es gibt, weil alle zur Friedenspolitik gehören - so Ihre Worte -, eben nichts ohne unwiderruflichen Fortschritt auch in Deutschland.
({17})
Nun zu Ihrem Bericht, der uns nicht zufriedenstellen konnte, der auch Wichtiges verschwiegen hat. Herr Bundeskanzler, daß unser Volk noch immer geteilt ist und daß dem anderen Teil des Landes wichtige Grundfreiheiten und Grundrechte vorenthalten werden, ist nicht die Schuld dieser Regierung und nicht die Schuld der vorangegangenen Regierungen. Aber wir können und müssen erwarten, daß hier deutlich davon gesprochen wird, in vergleichenden Übersichten und in Ihrer Ansprache deutlich wird, woran die Spaltung Deutschlands liegt und daß eben den Deutschen Grundrechte und Grundfreiheiten versagt werden! Dies hätten wir gern in Ihrer Rede
oder in den Materialien oder im Vorwort des Kollegen Franke deutlich gehört.
Die Bundesregierung hatte vor einem Jahr ein sehr anspruchsvolles ost- und deutschlandpolitisches Programm verkündet. Es ist wohl an der Zeit, daran zu erinnern, was alles gewesen ist und was von diesen Punkten nicht eingetreten ist. Sie haben, Herr Bundeskanzler, die bis zum Oktober 1969 bestehenden festen Grundlagen der in diesem Haus vertretenen Parteien, wie sie in der gemeinsamen Resolution vom 26. September 1968 ihren Niederschlag gefunden haben, bewußt - wie wir heute wissen - verlassen. Statt dessen entschlossen Sie sich zu einem Programm der Vorleistungen, dem bisher immer noch nur Erwartungen und Hoffnungen gegenüberstehen.
Wir haben die Pflicht zu nüchterner Prüfung des Solls und des Habens dieser Politik, insbesondere dann, wenn der Regierungschef das unterläßt. In der genannten Entschließung dieses ganzen Hauses die FDP war damals lediglich in einem Punkt anderer Meinung - haben wir alle versprochen, unter keinen Umständen - insoweit waren wir einig, Herr Mischnick - das Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Leider kam dieser zentrale politische Grundsatz in cien 20 Punkten von Kassel nicht mehr vor. Heute - wir haben das wohl vermerkt, Herr Bundeskanzler - haben Sie davon wieder gesprochen.
Die Entschließung vom 26. September hielt an dem im Deutschland-Vertrag zusammen mit den Verbündeten niedergelegten Ziel fest, an „einem wiedervereinigten Deutschland, das eine freiheitlichdemokratische Verfassung besitzt und in die Gemeinschaft der europäischen Völker eingebettet ist". In den Kasseler 20 Punkten löste sich dies in die nebelhafte Formulierung auf, DDR und Bundesrepublik seien in ihren Verfassungen auf die Einheit der Nation ausgerichtet. Selbst wenn, Herr Bundeskanzler, eine Politik betrieben wird, die auf einen Modus vivendi abzielt, muß auf präzise Formulierungen Wert gelegt werden. Dies gilt um so mehr, als der Adressat dieser Politik keinen Zwischendie Endgültigkeit der Abmachungen unterstreicht, seinerseits aber das sozialistische Gesamtdeutschland nicht nur in seiner Verfassung proklamiert, sondern dieses Ziel konsequent und unbeirrt anstrebt.
Herr Bundeskanzler, keine Regierung kann auf das Selbstbestimmungsrecht und auf das Recht, in einem Staat leben zu wollen, verzichten. Das könnte höchstens das deutsche Volk selbst in freier Entscheidung, und das hat es bisher nicht getan, und das wird es auch nicht tun.
({18})
In der zitierten Entschließung wird die Anerkennung des anderen Teils Deutschlands als „zweiter souveräner Staat deutscher Nation" abgelehnt. In Kassel bot der Bundeskanzler die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der DDR an und ließ sogar die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als möglich erscheinen. Nirgends ist zu sehen, daß sich die DDR oder die Sowjetunion auf die Konstruktion
eines innerdeutschen Verhältnisses zweier deutscher Staaten einließen. Eine solche Konstruktion setzte im übrigen auch das Einvernehmen der Vier Mächte über sie voraus; ihr Einvernehmen über die Rechtsgrundlagen von 1945; ihr Einvernehmen, daß es sich um einen Modus vivendi nur bis jenem Zeitpunkt handelt und handeln kann, an dem das deutsche Volk Gelegenheit erhält, über die Zukunft Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung in Freiheit selbst zu entscheiden.
Es wird durch die Bundesregierung von „zwei Gesellschaftsordnungen" in Deutschland gesprochen. Der Anspruch, die Verhältnisse drüben schlicht als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich als eine Diktatur auf deutschem Boden, wird in den Materialien als „Werturteil" abgetan. Der Bundeskanzler hat das zwar eben mündlich abgemildert, aber zugleich diese Materialien gelobt. Wir könnten die Andersartigkeit der DDR erst dann als eine gleichberechtigte und vergleichbare Größe zur Bundesrepublik Deutschland ansehen, wenn eine entscheidende Voraussetzung gegeben wäre: Das wirkliche, freiheitliche Einverständnis unserer Landsleute zwischen Rostock und Dresden.
({19})
Im letzten der Kasseler 20 Punkte und auch heute wieder hat der Bundeskanzler der DDR eine Verbesserung ihrer internationalen Stellung, auch durch Aufnahme in internationale Organisationen, in Aussicht gestellt. In dem Bahr-Papier, das bekanntlich die Artikel des Vertrages und die verbindlichen Absichtserklärungen, verbindlich für diese Regierung, enthält, ging die Regierung noch weiter. Obwohl die DDR nicht das geringste Entgegenkommen zeigte, wird in Punkt 3 der Absichtserklärung die Mitgliedschaft der DDR in den Vereinten Nationen zugesagt. Die unerläßlichen Vorbedingungen hierfür finden wir allerdings nirgendwo schriftlich fixiert, -schon gar nicht in Papieren, die auch die Unterschrift anderer tragen. Ebenso verhält es sich mit der schriftlich fixierten und zugesagten Absicht der Regierung, alles von ihr Abhängende für die Vorbereitung und Durchführung einer Europäischen Sicherheitskonferenz zu tun, Nirgends steht in den Absichtserklärungen eine Formulierung, welche Voraussetzungen für eine solche Konferenz gegeben sein müssen.
In dem Art. 3 des deutsch-sowjetischen Vertrages werden folgenschwer Oder-Neiße-Linie und innerdeutsche Demarkationslinie als Grenzen gleichgesetzt. Der deutsch-polnische Vertrag enthält im Art. I die endgültie Anerkennung dieser Linie als polnische Westgrenze. Da aber die Verträge ein Ganzes bilden sollen, sind sie wechselseitig interpretierbar, und wenn nun die Oder-Neiße-Linie als endgültig anerkannt wird: Welchen Charakter, Herr Bundeskanzler, soll dann in Zukunft die Zonengrenze haben?
Durch die Verträge von Moskau und Warschau wurde eine Statusveränderung der DDR vorgenommen. Hatte der Bundeskanzler aber nicht früher solche Vereinbarungen in einem innerdeutschen Zusammenhang gebracht? Wo sind diese guten Vorsätze jetzt geblieben, wenige Monate, nachdem sie gefaßt worden sind?
Meine Damen und Herren, ich bin noch immer bei der Liste der von der Bundesregierung erbrachten Vorleistungen. In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 bezeichnete die Regierung die DDR ohne Enschränkung als zweiten deutschen Staat. Es bleibt festzuhalten, daß mit dieser Erklärung, die ihr nichts gebracht hat, nicht nur die gemeinsame Basis dieses Hauses verlassen wurde, sondern auch, wie zu hören ist, Verbündete vor ein Fait accompli gestellt wurden. Hier wurde eine Kernforderung des Ostens ohne Not, ohne den Versuch zu einem Arrangement und ohne jede Gegenleistung erfüllt.
({20})
Die für Deutschland als Ganzes besonders verantwortlichen Westmächte werden sicherlich inzwischen zweierlei festgestellt haben, erstens, daß ihre Rechte aus dem Deutschland-Vertrag im gleichen Ausmaß ausgehöhlt werden, wie die Bundesrepublik Deutschland sie von ihren Pflichten aus diesem Vertrag de facto entbindet, und zweitens, daß ihre originären Siegerrechte weniger wert werden, wenn der Betroffene Angelegenheiten, die in einen Friedensvertrag gehören, vorweg alleine regelt.
({21})
Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen wurde - das sollte wohl eine Signalwirkung sein - in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen umbenannt. Mit dem entsprechenden Ausschuß des Hauses gelang das gleiche. Wie war die Antwort von drüben? Der Deutschlandsender nannte das „eine freche Provokation".
Im innerdeutschen Sportverkehr hat die Zulassung der Hymne der DDR und ihrer Symbole nicht etwa eine Belebung des Sportverkehrs zwischen beiden Teilen des Landes bewirkt. Ganz im Gegenteil! In den Materialien ist auf Seite 21 nachzulesen, daß 1970 ein nennenswerter Sportverkehr nicht mehr stattgefunden habe.
Es gibt einen einzigen Punkt, an dem eine bescheidene Gegenleistung der DDR sichtbar geworden ist, das sind die Postvereinbarungen. Ich glaube aber, hier weiß jeder, daß das, was wirklich geworden ist - wir anerkennen dies -, hinter dem tatsächlichen Bedarf weit zurückbleibt.
({22})
Vor einer Vorleistung, die sonst in diesen Katalog gehört haben würde, hat uns - dies sei hier erwähnt - der Bundesminister der Innern bewahrt. Es war zu hören, daß in der Regierung beabsichtigt war, den Wortlaut des Soldateneides zu ändern. Der Soldat der Bundeswehr sollte, so war zu hören, fortan nicht, mehr geloben, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Wir danken Ihnen, Herr Bundesinnenminister, als dem Hü ter der Verfassung, daß Sie sich dieser Entpflichtung gegenüber dem ganzen deutschen Volke widersetzt haben.
({23})
Diese Liste der Vorleistungen ist keineswegs vollständig. Sie ließe sich um weitere Punkte ergänzen.
Fragen wir: Woran liegt es, daß diese Vorleistungen bisher noch nicht zu einer Entspannung in Europa und in Deutschland geführt haben? Das liegt sicher einmal daran, Herr Bundeskanzler, daß Sie das Goethe-Wort, das Sie vorhin nach dem Zitat des Präsidenten Nixon zitierten, selbst nicht befolgt, sondern sich unter Zeitdruck und Schlagzeilenzwang gesetzt haben.
({24})
Wir sehen dies grundsätzlicher: Wenn man den über lange Jahre mit großer Zähigkeit immer wiederholten kommunistischen Behauptungen glaubt, dann beruht die Spannung in Europa darauf, daß Berlin keine selbständige politische Einheit ist, die DDR nicht in aller Form anerkannt, die Oder-Neiße-Linie nicht als endgültige Westgrenze Polens bestätigt und das Münchener Abkommen nicht als von Anfang an ungültig bezeichnet wird. Jeder kennt diese fünf Forderungen seit 15 Jahren. Die Bundesregierung ist offenbar - und soweit wir sehen, mit geringen Abweichungen - dabei, Schritt für Schritt alle diese Forderungen im Grunde zu erfüllen. Und nun merkt man, daß das Erfüllen dieser Forderungen keineswegs zur Entspannung führt.
({25})
Meine Damen und Herren, ,darüber kann sich aber nur wundern - und dann in eine Stimmung des Moll geraten -, wer etwa geglaubt haben sollte, diese kommunistischen Erklärungen umschrieben die wirklichen Spannungsursachen. Die Ursache der
) Spannung in Europa liegt nicht in diesen Tatsachen, wie nun jedermann sichtbar wird; die Ursache liegt im unveränderten Machtwillen der Kommunisten, in der durch Moskau bewirkten Blockbildung und in der Unterdrückung der Menschenrechte in der Hälfte Europas.
({26})
Das sind die Spannungsursachen, und nur wer alle Zähigkeit und alle Geduld darauf verwendet, diese wirklichen Spannungsursachen Millimeter für Millimeter abzubauen, also bessere Wirklichkeiten für die Menschen und das Zusammenleben zu schaffen, betreibt Entspannungspolitik. Das Erfüllen kommunistischer Forderungen ohne Gegenleistungen hat mit Entspannung nichts, mit der Stärkung der Vorherrschaft der Sowjetunion alles zu tun.
({27})
Meine Damen und Herren, wir anerkennen, daß im Interzonenhandel der Warenaustausch gestiegen ist, wenngleich wir sehen, welche großen Vorteile die andere Seite daraus hat. Wir wollen dazu nichts rügen. Ich erwähne diesen Punkt, weil hier interessant ist, wie man drüben in Ost-Berlin auf eine Politik der Bundesregierung reagiert, die nachgibt und Positionen räumt. Jedermann weiß, daß seit Jahren die DDR gegen die angeblich diskriminierende Widerspruchsklausel im innerdeutschen Handel polemisiert hat. Dann hat man sie hier abgeschafft. Was ist die Antwort derer drüben? Sie führen sie nun für sich mit Wirkung vom 1. Januar 1971 ein. Das sind die Tatsachen.
Und wenn Sie nach Guinea sehen, Herr Bundeskanzler, dann muß man sich doch die Frage stellen, wohin diese Politik führt, die solche Möglichkeiten schafft, wie sie dort gegeben sind.
Wenn Sie weiter die Materialien durchsehen, können Sie - und das wird wohl in der Debatte eine Rolle spielen - feststellen, daß dort notiert wird: Rentnerreisen - keine Veränderung, daß weiter gesagt wird: Reisen in die DDR - eine merkliche Steigerung. Die Zahl ist so korrekt wie die Mitteilung, daß erst jetzt Familienzusammenführung aus Polen stattfinde. Tatsächlich belief sich die Zahl 1967 auf 1,4 Millionen Reisende, 1968 auf 1,2 Millionen, 1969 auf 1,1 Millionen und 1970 auf 1,2 Millionen. Wenn die Zahl der Reisenden 1970 also noch unter der von 1968 bleibt, sollte man sich dessen nicht rühmen.
Im Bereich des Rechts- und Amtshilfeverkehrs verzeichnen die Materialien als Veränderungen lediglich zusätzliche Erschwerungen zur Erzwingung der Anerkennung der DDR. Im postalischen Bereich ist nachzulesen, daß es unverändert lange Laufzeiten im Paket- und Briefverkehr gibt und daß die Behinderungen durch Kontrollen und Beschlagnahmen der DDR fortbestehen. Zu kulturellen Kontakten ist registriert: keine Neubelebung, sondern Zurückweisung. Die Reduzierung der Sportbeziehungen auf den Nullpunkt erwähnte ich bereits. Und wenn unter dem Titel Jugendbegegnungen von zahlreichen Gesprächen die Rede ist, will ich dies nicht näher vertiefen.
Aber, Herr Bundeskanzler, ich halte es für eine unentschuldbare Auslassung, daß in den Materialien die besondere Lage Berlins und seiner Bewohner, die menschlichen Härten der Teilung Deutschlands und der deutschen Hauptstadt nicht oder nicht genügend aufgeführt sind. Wir sagen dies, weil wir uns als Methode dieser Regierung daran gewöhnt haben, daß die Auslassung zur politischen Art beliebter Vorleistung geworden ist.
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Herr Bundeskanzler, wie steht es nun mit dem innerstädtischen Verkehr in Berlin, mit dem Personenverkehr über die Härtestelle? Wie sieht es mit der Zahl der Besucher aus, die vom freien Teil der Stadt aus den Ostteil aufsuchen, der übrigens von der SED zur Hauptstadt der DDR proklamiert wurde, aber - wir stellen das heute noch einmal fest- rechtlich kein Teil der DDR ist?
In den Materialien finden wir den Hinweis, daß sich die Zahl im Personenverkehr nach Berlin gesteigert habe. Nun gut, aber wir vermissen die Aussage über die Behinderungen dieses Personenverkehrs im Jahre 1970. Haben sich nicht, wie zu hören ist, im Jahre 1970 die Zahlen der im Berlin-Verkehr Zurückgewiesenen, der zeitweilig Festgehaltenen und Verhafteten gegenüber 1969 annähernd verdoppelt?
Fast nichts, Herr Bundeskanzler, ist in den Materialien unter dem Vorwort des zuständigen Ministers über die Situation an der Zonengrenze zu finden. Ich freue mich, daß Sie diesen Mangel offenbar
I selbst empfunden und deshalb in Ihrer Rede ein paar Sätze eingeschoben haben. Diese Linie und deren endgültige Fixierung als Staatsgrenze - ein Ehrentitel für einen Minengürtel, mitten im Frieden, mitten durch ein Volk -,
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das hat nichts mit Menschlichkeit zu tun, aber das muß man auch aussprechen. Auch dann, wenn man es nicht ändern kann, muß man es aussprechen.
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Denn man kann nicht Menschenrechte im Munde führen, aber die Tatsachen, die sie verletzen, verschweigen.
Warum hat die Bundesregierung nicht berichtet, daß die Zahl der Grenzzwischenfälle 1970 zugenommen hat? Warum überläßt sie es den mittleren Einheiten des Bundesgrenzschutzes, die Öffentlichkeit über die zunehmende Härte dieser Zonengrenze zu unterrichten? Die Zahl der Grenzverletzungen ist gegenüber 1969 gestiegen. Der Minengürtel wurde dichter, der Eisengitterzaun länger, die Mauer in Berlin wurde perfekter.
So sieht, Herr Bundeskanzler - und das gehört auch in den Bericht zur Lage der Nation, wenn er vollständig sein soll -, in wenigen Strichen ein Stück innerdeutscher Wirklichkeit nach 16 Monaten neuer Ostpolitik aus, die eine „Wende" bedeuten sollte. Ihre Politik sei ein „neuer Anfang", wurde gesagt, Herr Bundeskanzler. Wir fragen: wenn so der neue Anfang aussieht, wie sieht dann das Ende aus?
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Wir sehen die Erosion der politischen und rechtlichen Position, und wir sehen Verschlechterungen für die Menschen. Wenn mir das Vokabular des Kollegen Wehner zur Verfügung stünde, würde ich das „Desaster" nennen.
({32})
Man könnte dies fortsetzen, meine Damen und Herren, man könnte auf das hinweisen, was Herr Stoph, was Herr Verner sagt - der stellvertretende Verteidigungsminister -: das „Feindbild" gegenüber der Bundesrepublik Deutschland sei in diesem Jahr zu festigen. Man könnte die Kampagne der DDR-Führung hier bei uns Gesetze zu beanstanden, und den Katalog - wir haben ihn für die Debatte da - der diskriminierenden Gesetze in der DDR gegen uns hier vortragen. Ich will darauf verzichten. Wir sehen systematische Versuche - und da freue ich mich, daß der Herr Bundeskanzler gezeigt hat, daß er dies auch sieht -, Einfluß auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu erlangen. Sie haben uns, Herr Bundeskanzler an Ihrer Seite, wenn Sie mit gleicher Energie gegen die Leute von rechtsaußen protestieren, die Sie hier mit Recht kritisiert haben, wenn das auch gegen linksaußen unverändert geschieht.
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Herr Breschnew - und seine Gefolgsleute in OstBerlin stehen ihm in nichts nach - hat erklärt, daß es nun um die Durchführung des Potsdamer Abkommens, wie er es versteht, in der Bundesrepublik Deutschland geht. Und Herr Ulbricht - Herr Bundeskanzler, mit dem haben wir es zu tun und nicht mit Jacques Duclos ({34})
hat sein von den Sowjets abgesegnetes Maximalprogramm am 14. Januar 1971 veröffentlicht, nach dem Besuch Winzers in Moskau; ich will das ganze nicht vorlesen, obwohl es zu einem realistischen Blick gehört. Aber lassen Sie mich sagen, daß er - ich zitiere - von der „objektiven und unvermeidlichen weiteren Abgrenzung zwischen den Systemen" spricht und dazu sagt:
Wenn die Politik des Gegners auf Verklammerung mit der DDR hinausläuft, kann es nur um entscheidende Abgrenzung gehen. Das ist die Voraussetzung für eine offensive Politik der friedlichen Koexistenz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland.
Das gehört in den ungeschminkten Blick auf die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland, meine Damen und Herren.
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Hier Erfurt, Kassel, Moskau, Warschau, und dort „Abgrenzung" und „Feindbild". Das ist ein Fazit nach 16 Monaten.
Herr Bundeskanzler, wir fordern Sie auf: Keine Vorleistungen mehr! Schluß mit dem Reden von einer Aufnahme der DDR in die UNO!
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Solange Ost-Berlin den Kalten Krieg anheizt, keine Erleichterungen gewährt und Entspannung nicht will, darf diese Bundesregierung keinen Millimeter weitergehen; und ich meine den Millimeter so, wie er ist, nicht den Ehmke-Millimeter, der neulich hier in einer Debatte eine Rolle gespielt hat.
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Zu Sachen Berlin: Ich begrüße, Herr Bundeskanzler, daß Sie - ich glaube, erneut - eine Absage erteilt haben an die, die mit dem Gedanken spielen sollten, West-Berlin zu einer selbständigen politischen Einheit zu machen. Das findet unsere Unterstützung. Ich kann nur hoffen, daß die gemeinsame Position, die der Westen gerade in der Berlin-Frage unter Mitwirkung der CDU/CSU aufgebaut hat, jenem Prozeß des Abbröckelns entzogen wird, dem er in den letzten Wochen durch die vieldeutigen Äußerungen der Regierungskoalition ausgesetzt war. Wenn auf der westlichen Seite die drei Mächte, die Bundesregierung, der Senat von Berlin und die Opposition übereinstimmen, bleibt das auf die Sowjetunion auf die Dauer nicht ohne Wirkung. Wenn wir dagegen auseinanderfallen, ist das schlecht für Berlin.
Wir sind, Herr Bundeskanzler, trotz des beginnenden Wahlkampfes in Berlin bereit, bestimmte Punkte dort nicht kontrovers und nicht öffentlich, sondern vertraulich zu behandeln. Natürlich setzt dies voraus, daß die Gemeinsamkeit auf der verabredeten richtigen Linie bleibt, und es wäre hilfreich,
wenn wenigstens solange der Herr Kollege Wehner in dieser Frage nicht sein Hauptgefechtsfeld suchen würde.
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Als befriedigend sehen wir eine Berlin-Regelung an, die dem von der Bundesregierung dargestellten Geist des deutsch-sowjetischen Vertrages entspricht. Die Sowjetunion stellt ihn leider anders dar als die Bundesregierung, und wenn das strittig wird mit den Interpretationen, hat sie sicher die stärkere Kraft als wir. Die Bundesregierung sagt, alle Realitäten, wie sie am 12. August, dem Tag der Unterzeichnung, bestanden hätten, seien zu respektieren. Wenn das richtig ist, Herr Bundeskanzler, dann darf es an dem keinen Abstrich geben, was jetzt mit Zustimmung der drei Mächte Wirklichkeit in Berlin ist. So steht es auch im NATO-Kommuniqué vom November 1970.
Befriedigend ist eine Berlin-Regelung also nur dann, wenn die Sowjetunion selbst den Zugang nach Berlin und die Bewegungsfreiheit in Berlin garantieren, wenn sie die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund respektieren - und zwar einschließlich des Rechtes, Berlin außenpolitisch zu vertreten - und wenn die Berliner den übrigen Bundesbürgern hinsichtlich ihrer Reisemöglichkeiten gleichgestellt werden. Herr Bundeskanzler, ich sage dies hier nicht, um anzugreifen. Sie haben aber so viel von Zugang und Wirtschaft gesprochen, daß ich doch das Gesamte der Bindungen hier noch einmal betonen möchte, damit jeder Klarheit hat.
({39})
Wenn man sagt, auf solche Forderungen könnten die Sowjets nicht eingehen, dann sagt man nichts anderes, als daß eben eine befriedigende Berlin-Lösung nicht möglich ist. Auch die gelegentlich herumgeisternde Idee, es würde ja genügen, wenn die Sowjets diese Rechte stillschweigend hinnnähmen, ist unbefriedigend. Der deutsch-sowjetische Vertrag ist ja auch nichts Stillschweigendes, sondern etwas anderes.
({40})
Außerdem gäbe das den Sowjets und der DDR die Möglichkeit, die Auseinandersetzung jederzeit wieder zu eröffnen, und dies ohne Zweifel nicht in dem so oft fälschlicherweise zitierten Gegensatz zwischen DDR und Sowjetunion.
Meine Damen und Herren, es ist hier gelegentlich nach unserer Position in all diesen Bereichen gefragt worden. Das gehört in die Debatte, und ich will es hier aus besonderen Gründen einführen.
Erstens. Die deutsche Politik, in den außenpolitischen Hauptfragen am besten von allen Fraktionen gemeinsam getragen und deshalb abgesichert gegen östliche Spaltungsversuche, muß sich immer wieder bemühen, durch Gespräche und Verhandlungen mit allen Mitgliedern des Warschauer Paktes konkrete Ergebnisse zu erreichen, die die Entspannung fördern, die Zusammenarbeit verbessern, den Menschen helfen und so den Weg zur Lösung aller politischen Streitfragen in einer europäischen Friedensordnung bereiten.
Zweitens. Konkrete Bausteine für den Weg zu einer europäischen Friedensordnung sind vor allem Gewaltverzicht; Freizügigkeit für Informationen, Meinungen und Menschen; Jugendaustausch; kulturelle, wirtschaftliche, wissenschaftliche Zusammenarbeit.
Drittens. Wo solche Fortschritte in Vertragsform niedergelegt werden, wird unser Urteil dazu zuerst vom Inhalt und dann von der Form der Abrede bestimmt.
Viertens. Bei alledem dürfen weder die Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes, schon im Interesse Berlins, noch der Vorbehalt des Friedensvertrages noch etwa das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes beeinträchtigt werden; denn unser Ziel bleibt, so wie es das Grundgesetz bestimmt: Die Einheit Deutschlands in Freiheit zu vollenden.
Meine Damen und Herren, wir halten daran fest
- entgegen dem, was der Bundeskanzler gesagt hat , daß wir das Ergebnis dieser Ostpolitik insgesamt zu würdigen wünschen, daß „Fragmente", die vorher vorgelegt werden, von vornherein nicht mit unserer Unterstützung rechnen können. Damit wir uns ganz verstehen, füge ich hinzu: Die Verträge und Ergebnisse, die uns bisher vorliegen, entsprechen den Maßstäben, die ich eben nannte, nicht. Die Deutschen in Deutschland haben nämlich von dieser Politik bisher nichts; sonst hätte der Bundeskanzler wenigstens einen Punkt vorgetragen.
({41})
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen
- und auch soeben wieder durch den Bundeskanzler - ist besonders häufig über die deutsche Nation geschrieben und gesprochen worden. Der 100. Jahrestag der Reichsgründung bot Anlaß zu historischen Rückblicken. So viel ist klar: Nationen - und ich denke, wir brauchen uns nicht zu schämen, von der deutschen Nation zu sprechen - werden nicht von Menschen gemacht. Sie sind vielmehr mit dem Wesen des Menschen gegeben und deshalb auch nicht beliebig manipulierbar, wie wir es aus der DDR hören.
Das Schicksal der deutschen Nation ist mehr als das Schicksal anderer Nationen auf unserem Kontinent mit dem Frieden in Europa verknüpft. Dies war so, und die ist so. Bismarck hat das gewußt, und er hat es als eines seiner Motive bezeichnet - und das hätte ich gern in den Gedenkreden gehört
-, daß es endlich aufhören müsse, daß Deutsche auf Deutsche schießen.
({42})
Das Deutsche Reich Bismarcks hat seine Teile - das sollte man eben heute auch bedenken - den widerstreitenden europäischen Koalitionen entzogen.
({43})
- Ich bitte doch um Ruhe. Hier benimmt sich jeder, wie er es kann.
({44})
Das Deutsche Reich Bismarcks hat seine Teile - und dies sollte man heute bedenken - den widerstreitenden europäischen Koalition entzogen. Der einheitliche Staat war nicht einfach ein Selbstzweck, er war ein Weg, friedlich in einem Hause zu wohnen und in Frieden mit den europäischen Nachbarn zu leben. Und dies ist das souveräne Recht eines jeden Volkes, selbst zu bestimmen, ob und wie es in einem Hause zu leben wünscht.
Für uns Deutsche ist es eine besondere Pflicht, im Blick auf die Geschichte zu erkennen, daß sich die staatliche Lebensform der deutschen Nation nur in ihren europäischen Zusammenhängen konstruktiv gestalten läßt, Das ist das politische Grundthema der Vergangenheit wie der Gegenwart unseres Volkes. Weil es den Deutschen verwehrt ist, so zu leben, wie sie es wollen - und es gehört für mich zu dem Traurigsten, daß das an diesem Gründungstag amtlich nicht gesagt wurde -, erstattet die Bundesregierung alljährlich den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland. Seine Aufgabe ist es, die Situation darzustellen, wie sie ist, jene Veränderungen deutlich zu machen, die sich seit dem letzten Bericht ergeben haben, sei es zum Guten oder sei es zum Schlechten.
Der Bericht soll aufzeigen, ob wir diesem Ziel unseres Volkes, der Verwirklichung seines Rechtes auf Selbstbestimmung, näher gekommen sind oder nicht. Zu diesem zentralen Thema hat die Bundesregierung nichts gesagt. Sie schweigt zum Kern des Problems, und schlimmer: Wir müssen der Ziffer 5 Ihrer Rede entnehmen, Herr Bundeskanzler, daß dies die Ankündigung war, das zentrale Thema dieser Politik hintanzustellen.
({45})
Dazu sagen wir: Die Preisgabe des Rechtes aller Deutschen auf Selbstbestimmung durch die endgültige Etablierung des SED-Regimes mit Hilfe oder Zustimmung der CDU/CSU kommt für uns nicht in Betracht. Das widerspräche der Verfassung, unseren Verträgen, den Menschenrechten und dem Willen unserer Landsleute - und die, Herr Bundeskanzler, haben in Erfurt nicht demonstriert für die Anerkennung einer Diktatur, sondern für einen Kanzler des freien Deutschland, den sie stärken wollten in seinem Willen, für Freiheit und Einheit der Deutschen zu wirken.
({46})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in diesem Augenblick nur drei Punkte aufgreifen; wir werden ja heute und morgen noch ausführlich miteinander reden können.
Wenn ich die zentrale These des Kollegen Barzel aufgreife - zumal im ersten Teil seiner Rede, aber auch zum Schluß hat er sie wieder aufleben lassen; ein Punkt, den ich zu respektieren habe -, dann muß ich vor allen Dingen den Kollegen der Union sagen: Das bedeutet, daß Sie hier durch Ihren Vorsitzenden sagen, Sie wollten zurückkehren zur Politik der 50er und frühen 60er Jahre,
({0})
die unter dem Bundeskanzler Erhard und dem Außenminister Schröder so nicht mehr galt.
({1})
Denn bis dahin galt als These - machen wir uns nichts vor -: Wir können an Entspannungsvorhaben nur mitwirken, wenn es die durch uns für erforderlich gehaltenen Fortschritte in der deutschen Frage gegeben hat - um nicht salopp zu sagen: erst, nachdem die DDR abgeschafft worden ist.
({2})
Ich sage Ihnen: Auf diesem Wege finden Sie die Unterstützung keines unserer Verbündeten.
({3})
Das muß das deutsche Volk wissen. Die vom Führer der Opposition vorgeschlagene Politik - ich sage es noch einmal - findet die Unterstützung keines der Verbündeten der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Zweiter Punkt!
({5})
- Nein, ich mache jetzt meine Bemerkungen im Zusammenhang.
({6})
- Ich habe Zeit.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, Ruhe zu bewahren, damit der Redner gehört werden kann.
Herr Kollege Barzel hat an der Ziffer 5 meiner Zusammenfassung herumgemacht und versucht, auch zu unterstellen, die Formulierung „befriedigendes Ergebnis der VierMächte-Verhandlungen über die Verbesserung der Lage in und um Berlin" sei etwas anderes als „befriedigende Berlin-Regelung".
({0})
- Regelung! Verehrter Herr Kollege Barzel, da Sie das Manuskript ja vorher hatten und es vermutlich auch durchgelesen haben, hätten Sie sich leicht davon überzeugen können, daß an fünf Stellen meiner Darlegungen vor dieser Zusammenfassung der Begriff „Berlin-Regelungen” vorgesehen ist. Also bauen Sie hier bitte keine Pappkameraden auf!
({1})
Wir haben den Zusammenhang zwischen einer befriedigenden Berlin-Regelung und der Ratifizierung der Verträge immer wieder betont.
Niemand wird uns dabei allerdings davon abhalten können, jeweils das politische und diplomatische Verfahren zu wählen, von dem wir überzeugt sind, daß es am zweckmäßigsten ist. Ich gebe zu, da gibt es Unterschiede - manche, die sich auch aus der unterschiedlichen Wahrnehmung von Aufgaben in dieser Zeit ergeben. Aber es kann auch auf diesem Gebiet nicht vernünftige Politik sein - auch nicht für eine Opposition -, dort am stärksten aufzutrumpfen, wo der Einfluß am schwächsten ist.
Dritte Bemerkung: Ich habe leider nicht den ersten Teil mit Ihren einleitenden Bermerkungen bekommen können, den ich jetzt gerne gehabt hätte, sehr verehrter Herr Kollege Barzel, die sich auf Europa bezogen. Aber ich habe Sie so verstanden, als hätten Sie in Ihrer Einleitung auch sagen wollen, der Außenminister und ich oder der Wirtschaftsminister, der Außenminister und ich und die anderen, die da waren, hätten in Paris in diesen Tagen Rückschritte in bezug auf die Europa-Politik hingenommen. Ich muß mich mit allem Nachdruck dagegen wehren. Zu einer solchen Formulierung kann man nur kommen, wenn man praktische Politik an blutleeren Wunschvorstellungen orientiert.
({2})
Was haben wir in Paris gemacht? - Wir haben in offener Aussprache mit unseren Partnern - jeder hat seinen Standpunkt dabei vertreten - eine Reihe solcher Positionen herausgearbeitet, von denen wir überzeugt sind, daß sie uns bei der Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion helfen, konkret weiterzukommen. Das ist es, worauf es ankommt, nicht auf eine Politik wohlklingender Phrasen, sondern auf eine Politik tatsächlicher Veränderung von Fakten.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege meiner Bundestagsfraktion Professor Carlo Schmid hatte anläßlich der letzten Debatte zur Lage der Nation am 15. Januar 1970 folgende Bemerkung gemacht:
Nation ist ein Produkt des Willens und nicht nur der gleichen Sprache, nicht einmal nur ein Produkt des Wissens um die gleiche geschichtliche Herkunft von alters her.
Diese Aussage gilt heute wie in Zukunft. Sie unterstreicht, daß es eine deutsche Nation geben wird, solange die Teilung in zwei deutsche Staaten nicht dem Willen der Deutschen entspricht.
Insofern stimmt es eben nicht, Herr Dr. Barzel, wenn Sie hier meinen feststellen zu können, wir hätten unsere Forderung auf Selbstbestimmungsrecht für unser Volk aufgegeben. Der Herr Bundeskanzler hatte diesem Thema „Selbstbestimmung für unser Volk" bei seiner damaligen Regierungserklärung einen weiteren Gedanken hinzugefügt. Er hatte gesagt:
Wir sind alle in Deutschland zu Haus. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung für den Frieden unter uns und in Europa.
Diese zusätzliche Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers macht für uns Sozialdemokraten deutlich, daß Selbstbestimmung für unser Volk heute mehr ist als ein bloßes Recht. Sie beinhaltet die Pflicht der Deutschen, an der Sicherung des Friedens konstruktiv und nüchtern mitzuarbeiten. Um diese Nüchternheit bemühen wir uns. Diese Nüchternheit ist schmerzlich. Diese Nüchternheit läßt sich natürlich mit den tönernen Worten des Vorsitzenden der Oppositionsfraktion nicht erreichen.
Wir müssen uns aber in diesem Zusammenhang, wenn wir über Selbstbestimmung für unser Volk reden, darüber im klaren sein können, daß wir verbindlich politisch nur für die Bundesrepublik handeln können, daß wir uns darüber selbst und anderen nichts vormachen dürfen und - das scheint mir sehr wichtig zu sein - daß die in Moskau und Warschau unterzeichneten Verträge unseren außenpolitischen Spielraum erweitert haben.
Lautstarkes Geschrei und Bluffen kann über diese Tatsache, daß wir nur für die Bundesrepublik politisch handeln können, nicht hinwegtäuschen. Unter der Kategorie Bluff ist die Bemerkung des Führers der Opposition auf dem CDU-Parteitag zu bewerten - - vielleicht könnte man sie auch als Psychodiagramm des Rainer Barzel bezeichnen -, daß er aus Warschau mehr mitgebracht habe als seinerzeit der Bundeskanzler.
({0})
Dies ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr als ein Witz.
({1})
Es macht deutlich, daß Herr Kollege Barzel augenscheinlich verkennt, daß das Auditorium, welches er in Warschau hatte, und der Empfang, der ihm gegeben wurde - wir begrüßen, daß der Führer der Opposition dieses Hauses dort würdig empfangen wurde -, nur möglich waren, nachdem der Herr Bundeskanzler einige Wochen vorher ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen aufgeschlagen hatte.
({2})
Herr Kollege Barzel, bei allem Verständnis dafür, daß es in Ihrer Partei um Nachfolgeprobleme geht, verkennen Sie bitte nicht Ursache und Wirkung!
({3})
Unter dem Thema „Beschränkung unserer Aktionsfähigkeit" muß auch die von Herrn Kollegen Barzel wieder vorgetragene Forderung dargestellt werden, die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages nicht nur mit einer befriedigenden Berlin-Lösung zu verbinden, sondern auch vorher innerdeutsche Fortschritte zu verlangen. Wer das will, ist entweder in Unkenntnis über die tatsächliche politische Situation in Deutschland, oder aber er will
sich bereits heute ein Alibi dafür schaffen, warum er eines Tages die Ratifizierung der Verträge, die im Interesse der deutschen Nation liegt, ablehnen will.
({4})
Die Opposition hier im Hause und draußen muß wissen, daß sie die Grenzen der vertretbaren Opposition längst überschritten hat.
({5})
Die Argumentation der politischen Unsauberkeit, der pauschalen Verdächtigungen ohne Beweisführung, schwächt nicht den Bundeskanzler und die Bundesriegrung, sie schwächt Deutschland und deutsche Interessen. Diesen Vorwurf muß sich die CDU gefallen lassen.
({6})
Die CDU/CSU sollte sich aber auch einmal selbst fragen, wie sie ihrer totalen Isolierung in der westlichen Welt entgehen will, nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu den christdemokratischen Schwesterparteien in Westeuropa.
({7})
- Herr Stücklen, welche Interessen Sie vertreten, haben wir gesehen; Sie haben den CDU-Parteitag ja ganz schön erpreßt!
({8})
Wenn ich deutlich gemacht habe, daß wir mit Druck und mit Bluff keine Politik machen können, dann unterstreiche ich, daß ebensosehr die Politik der sozialliberalen Koalition und dieser Bundesregierung nicht durch Druck, Bluff und andere Maßnahmen erschüttert werden kann. Die Orientierungspunkte unserer Politik gegenüber Osteuropa sind unverrückbar. Es sind: Recht auf Selbstbestimmung, Streben nach nationaler Einheit und Freiheit im Rahmen einer europäischen Friedensordnung, die Festigung unserer Zusammengehörigkeit mit WestBerlin ohne die Beeinträchtigung der Verantwortung der Vier Mächte für ganz Berlin, die Respektierung der Rechte und Verantwortlichkeiten der drei westlichen Alliierten für Deutschland als Ganzes und die Festigung der westlichen Integration auch als Beitrag einer gemeinsamen Haltung Westeuropas auf dem Wege zu einer europäischen Friedensordnung.
Das gegenwärtige Trommelfeuer aus Ost-Berlin bringt uns von diesen Grundpositionen nicht ab. Dieses gegenwärtige Trommelfeuer, das sich insbesondere auf führende Sozialdemokraten richtet, ist kein Beweis der Stärke und der Gelassenheit in OstBerlin. Insbesondere aber müssen sich die Ostberliner fragen lassen, wie denn eigentlich diese Art von schrillem crescendo - das kann sich ja noch steigern - und damit der Verteufelung der Bonner
Politik und ihrer maßgeblichen Vertreter in Moskau und Warschau wirkt; denn dort muß es doch als eine offensive Anklage dagegen verstanden werden, daß diese Regierungen in der Lage gewesen sind, mit uns Gewaltverzichtsverträge abzuschließen.
Wenn die DDR meint, uns in der aktuellen Situation oder auch später erpressen zu können, so müssen wir ihr sagen: sie irrt sich. Sie wird sich mit dieser Politik selbst in die Isolierung begeben, wobei ich unterstreiche, daß wir diese Isolierung nicht wollen. Wir wollen eine Entspannungspolitik nach Osten, die, wie es der Herr Bundeskanzler dargestellt hat, alle Nachbarn und auch den zweiten deutschen Staat mit einbezieht. Wir müssen aber in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam machen, daß die Aktion der DDR zweifelsohne den Fortschritt in der Entspannungspolitik beeinträchtigt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zu Berlin machen. Der Herr Bundeskanzler hat mit Nachdruck unterstrichen, daß eine befriedigende Berlin-Lösung in den unverzichtbaren Zusammenhang mit unserer Ostpolitik gehört. Das hat die Bundesregierung, wie der Herr Bundeskanzler dargestellt hat, bereits vor der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrages erklärt. Die Sowjetunion weiß das. Wir gehen davon aus, wir sind sicher, meine Damen und Herren, daß die Sowjetunion auch weiter den deutsch-sowjetischen Vertrag will.
Der Herr Kollege Barzel meinte auf eine angebliche Sprachverwirrung Anfang dieses Jahres hinweisen zu müssen. Wir können ihm sagen, diese Sprachverwirrung ist nicht durch Äußerungen verantwortlicher sozialdemokratischer Politiker entstanden, sondern durch eine ungenaue Berichterstattung in der Presse, die dann ihrerseits die Wellen geschlagen hat, die wir kennen.
({9})
- Als Herr von Wechmar von Sprachverwirrung sprach, meinte er damit sicherlich als Adressaten einzelne deutsche Presseorgane; denn sie haben doch diese Sprachverwirrung erst zustande gebracht.
({10})
- Ich will Ihnen zugeben, Herr Kollege Barzel, daß in den Ausführungen von Herrn Kollegen Wehner so viel steckt, daß es schon genaues Hinhören verlangt, wenn man begreifen will, worum es geht. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen den Ausführungen von Herrn Wehner und Ihren Ausführungen.
({11})
Meine Damen und Herren, im Namen der SPD-Fraktion unterstreiche ich im folgenden die Feststellungen unseres Fraktionsvorsitzenden. Erstens. Es wäre in der Tat ein Desaster für unsere Außenpolitik, wenn die mit der Sowjetunion und Polen unterzeichneten Verträge an der deutschen Seite scheitern sollten. Das heißt, daß wir es ablehnen,
den Ratifizierungsvorgang immer mehr mit weiteren, irrealen, weil nicht im Zusammenhang mit diesem Vertrag lösbaren Forderungen zu befrachten. Es gibt keine Alternative zu dieser Politik. Aus diesem Grunde muß diese Politik konsequent zu Ende geführt werden.
Zweitens. Ohne eine befriedigende Berlin-Lösung wäre der Moskauer Vertrag ein Papier ohne den gewollten Geist dieses Vertrages. Er wäre damit nicht lebensfähig. Deshalb kann er auch nicht vorher und ohne eine befriedigende Berlin-Lösung in Kraft gesetzt werden. Es geht, Herr Kollege Barzel, aber auch nicht an, daß wir schon vorher einen unmöglich realisierbaren Katalog der Maximalforderungen aufstellen, der dann quasi abzuhaken wäre und Ihnen die Möglichkeit gäbe, zu jedem beliebigen Punkt festzustellen, daß die Berlin-Lösung eben nicht befriedigend sei.
Eine für die Sozialdemokraten befriedigende Berlin-Lösung ist eine Lösung, die Berlin aus der Sphäre eines beliebig verwendbaren Druckknopfes zur Erhöhung oder zur Reduzierung der Ost-West-Spannung herausbringt. Wir schließen uns der Forderung des Bundeskanzlers nach Sicherung der Zugangswege an. Eine befriedigende Berlin-Lösung muß die Lebensfähigkeit dieser Stadt stärken und ihre gewachsenen Bindungen zum Westen sichern. Dabei darf die Viermächteverantwortung für Berlin nicht abgebaut werden.
Meine Damen und Herren, wir sollten in diesem Hause eine Minute überlegen, ob es in diesem Zusammenhang nach den von mir gemachten Feststellungen zweckmäßig ist, weiterhin mit Schlagworten wie „Junktim" oder „Berlin als Prüfstein" zu arbeiten.
({12})
- Augenblick! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist in diesem Zusammenhang Herrn Kollegen Dr. Schröder sehr dankbar, daß er in Moskau das Wort „Junktim" nicht verwandt hat, aber deutlich gemacht hat, daß erst eine befriedigende Berlin-Lösung diesen Vertrag lebensfähig macht und damit hier Ratifikationsvorgänge möglich macht.
({13})
Wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir mit dem Begriff „Auftragsverhandlungen" nicht anderen die Möglichkeit geben, sich hinter ihrer scheinbaren oder tatsächlichen Souveränität zu verstecken.
Außenminister Scheel hat in einem Interview in diesen Tagen eine befriedigende Berlin-Lösung als eine Lösung definiert, der die vier Alliierten, der Berliner Senat und die beiden deutschen Staaten zustimmen können. Dieser Definition ist nichts hinzuzufügen. Sie macht aber deutlich, daß die Bundesrepublik und die DDR in der Tat ihren Part unter der Viermächteverantwortung zu spielen haben.
Wir lehnen es ab, daß hier in diesem Hause darüber spekuliert wird, ob und gegebenenfalls wie weit und wann in den Viermächteverhandlungen um Berlin und in den Gesprächen der Bevollmächtigten der beiden deutschen Regierungen Ergebnisse erzielt werden können.
Wir unterstreichen, daß sich die Lage der Berliner verbessern muß, daß wir keinen Status quo minus akzeptieren, wie ihn die DDR augenscheinlich will, und ich denke, das ist die Meinung des gesamten Hauses.
Unsere Außenpolitik gegenüber Osteuropa, gegenüber unseren westlichen Verbündeten und gegenüber der Dritten Welt ist eine Außenpolitik aus einem Guß. Das oberste Prinzip dieser Politik hat der Herr Bundeskanzler im letzten Satz seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 dargestellt. Er hat damals ausgeführt: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Innern und nach außen." Das heißt konkret, daß wir Frieden halten wollen, aber berechtigte nationale Interessen unbeirrt, aber konziliant vertreten, die Interessen der Nachbarn zur Kenntnis nehmen, objektiv würdigen und verstehen, nach einem allseits vertretbaren, vorwärtsweisenden Kompromiß suchen und für die Durchsetzung dieser Politik den langen politischen Atem haben.
Mit dieser Politik, Herr Kollege Barzel - hier gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und uns -, haben wir in der westeuropäischen Integration, die sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt en Detail diskutiert werden wird, Erfolg gehabt. Was wäre wohl passiert, Herr Kollege Barzel, wenn wir den Extrempositionen und den Extremforderungen einzelner Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion, insbesondere des Kollegen Professor Hallstein, gefolgt wären? Die nächste EWG-Krise wäre damit programmiert worden.
Es ist eben falsch, wenn Sie sagen, daß der Herr Bundeskanzler und der Herr Außenminister in Paris Lösungen anvisiert haben, die dieses Europa - wie Sie es nennen - immer dünner werden lassen. In Paris sind sicherlich nicht alle Blütenträume gereift. Erreicht worden ist aber, daß der Prozeß der europäischen Integration weitergeht, daß auf diesem Wege unveränderbare Fakten geschaffen werden. Auch hier gilt das, was wir in der Ostpolitik zu beachten haben; auch die Interessen anderer wirken auf uns ein und müssen politisch von uns zur Kenntnis genommen werden.
Ich möchte zum Thema EWG nur noch den Stellenwert der EWG für unsere Nation, für unser Volk darstellen. Dieser Stellenwert ist ein dreifacher.
Erstens. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist kein Selbstzweck zur Einräumung von ökonomischen Vorteilen auf der Basis der Gegenseitigkeit.
Zweitens. Die EWG ist unvollendet; sie muß sich konsequent weiterentwickeln und verwirklichen und damit als Bauelement einer europäischen Friedensordnung wirken.
Drittens. Die EWG gibt und wird noch stärker unserem Volk seinen Platz in einem Europa der guten Nachbarschaft geben.
Wir stehen nach Osten erst am Anfang des Weges der guten Nachbarschaft. Wir müssen aber
unterstreichen - damit keine Mißverständnisse entstehen -: es geht gegenüber Osteuropa nicht um Integration, sondern um eine sich fortentwikkelnde Kooperation. Aber auch in der Ostpolitik kommen wir nicht umhin, die Berechtigung eigener Positionen unserer Nachbarn zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt hier nicht nur objektive nationale Interessen, die nicht übersehen werden können. Wir können auch nicht umhin, festzustellen, daß es subjektive Vorbehalte gegenüber Deutschland allgemein und gegenüber der Bundesrepublik im besonderen gibt, die wir, wenn wir eine realistische Politik machen wollen, nicht ohne weiteres beiseite schieben können.
({14})
- Ich will Ihnen einige dieser subjektiven Vorbehalte nennen: z. B. die Voreingenommenheiten auf Grund historischer Erfahrungen, das persönliche Erleben verantwortlicher Politiker, die Wirkung einer jahrzehntelangen Propaganda, Herr Stücklen, selbst auf die, die diese Propaganda machen, und innere Unsicherheiten in der Beurteilung der aktuellen und der künftigen Entwicklung des eigenen Landes in Osteuropa und Osteuropas insgesamt. Aber wir können auch nicht übersehen, Herr Stücklen, daß subjektive Vorbehalte natürlich auch aus unserer ökonomischen Kraft und unserem militärischen Potential erwachsen.
({15})
- Wir werfen uns nichts vor, Herr Kollege Stücklen. Wir müssen nur, wenn wir realistische Politik
machen, auch dies mit in unser Kalkül einbeziehen.
Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren, bleiben die 20 Punkte von Kassel die entscheidende Grundlage für unsere Politik gegenüber der DDR. Diese 20 Punkte sollen auch die subjektiven Vorbehalte der Regierung der DDR berücksichtigen und den Weg für völkerrechtlich verbindliche Verträge ohne doppelten Boden freilegen. Diese Verträge sollen den Frieden in Europa sichern und unserem deutschen Volk dienen. Unsere Position ist im Gegensatz zur Position der CDU/CSU in diesen Fragen klar:
Erstens. Es gibt zwei deutsche Staaten. Jeder ist von dem anderen unabhängig in Angelegenheiten, die seine innere Hoheitsgewalt anlangen. Keiner kann für den anderen handeln. Wir sehen die innerdeutschen Realitäten, sanktionieren aber nicht die völkerrechtliche Teilung unseres Landes.
Zweitens. Aus dem Fortbestand der besonderen Rechte und Vereinbarungen der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin erwachsen besondere Verpflichtungen der beiden deutschen Staaten.
Drittens. Die gewachsenen Bindungen zwischen West-Berlin und uns stehen nicht zur Disposition.
Wir begrüßen, daß die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation für unsere Politik eine Grundlage legen. Die Bundesregierung hat angekündigt, daß sie auf dieser Basis weiter arbeiten will. Sicherlich werden hier weitere Fortschritte möglich sein. Wichtig ist für uns in diesem Zusammenhang insbesondere die Aussage, daß die tiefgreifenden politischen Unterschiede, ja, die Unvereinbarkeit der politischen Systeme dadurch nicht verwischt wird.
Herr Kollege Barzel, wenn Sie in Ihren Bemerkungen meinen, West-Berlin sei in diesen Materialien nicht enthalten, so ist das falsch. Für uns ist es selbstverständlich - und ich denke, für Sie auch -, daß in alle Aufbereitung des Materials, das Deutschland anlangt, West-Berlin eingeht, und zwar auf dem Konto und auf der Seite der Bundesrepublik. Dies bedarf wenigstens aus dem Selbstverständnis der Sozialdemokraten keiner besonderen Anmerkung und keines besonderen Hinweises.
Ich halte es auch für geradezu peinlich, wenn Sie in diesem Zusammenhang versuchen, Mauer- und Grenzzwischenfälle der Ostpolitik und der Deutschlandpolitik der Bundesregierung anzulasten,
({16})
- zumindest aber so zu argumentieren, als sähen wir diese Probleme nicht.
({17})
- Herr Kollege Barzel, wir sehen diese Probleme sehr genau.
({18})
In dieser Frage gibt es, zwischen uns und Ihnen zweifelsohne keine Meinungsverschiedenheiten.
({19})
Ausgemacht peinlich, Herr Kollege Barzel - und dies muß ich im Namen meiner Fraktion bedauern -, ist, daß es Ihnen vorbehalten blieb, das schwierige Thema Guinea, das Drama, das sich in Guinea abgespielt hat, in diese Debatte einzubeziehen
({20})
und zumindest den Eindruck erwecken zu wollen, als sei dies indirekt auch die Verantwortung der Bundesregierung, indem sie eine neue deutsche Ostpolitik versucht. Diese Unterstellung weise ich mit allem Nachdruck zurück.
({21})
So hat der Herr Kollege Barzel es dargestellt, und wir weisen das zurück. Dies ist unredlich.
({22})
Die Opposition greift unsere Ost- und Deutschlandpolitik an. Wir halten das für ihre Aufgabe, sind aber der Meinung, daß es Zeit wird, konkrete Alternativen auf den Tisch zu legen. Auch für die
Opposition muß nun bald die Zeit der frommen Sprüche vorbei sein.
({23})
- Das Lippenbekenntnis, Herr Kollege Marx, zu einer aktiven Ostpolitik hören wir zwar, aber wenn es um konkrete Schritte geht, dann weichen Sie - und das hat uns der Herr Kollege Dr. Barzel vorgemacht - entweder in Leerformeln aus, mit denen politisch nicht hantiert werden kann, oder aber in billige Polemik.
({24})
Gegenüber Polen und der Sowjetunion sind subjektive Vorbehalte ebenfalls von uns mit einzukalkulieren. Wir müssen wissen, daß sie auch politisch virulent werden können. Insofern ist das öffentliche Auftreten maßgeblicher Politiker der Bundesrepublik insbesondere in den osteuropäischen Ländern für den Erfolg unserer Politik wichtig. Unsere Fraktion hat den Eindruck, daß der Besuch unseres Kollegen Dr. Schröder in Moskau in diesem Zusammenhang ein positiver Beitrag für die gemeinsam versuchte Ostpolitik war.
Unsere Ostpolitik läuft - das hat insbesondere die Antwort auf die Große Anfrage deutlich gemacht - Hand in Hand mit unseren westlichen Alliierten. Sie ist die unübersehbare Konsequenz unserer Westpolitik, aber wir haben hier, wie der Herr Bundeskanzler unterstrichen hat, einen eigenständigen Beitrag zu leisten, um die Dinge, die national von uns geregelt werden können, im Kontext mit unseren Alliierten auch zu regeln.
Wir tun das insbesondere mit dem mit Polen unterzeichneten Vertrag. Wir haben nicht nur hier das nachvollzogen, was unsere westlichen Alliierten bereits vor uns getan haben, wir haben insgesamt als gleichberechtigter Partner der westlichen Allianz aufgehört, endlich aufgehört, andere für uns handeln und agieren zu lassen. Wir tun selbst etwas für die europäische Friedensordnung und unser Recht auf freie Selbstbestimmung.
Wir hören in diesen Wochen Debatten darüber, daß zumindest Gruppen der Opposition in diesem Hause ernsthaft daran denken, nach der Ratifizierung der beiden Ostverträge diese in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungsgemäßheit überprüfen zu lassen. Wir haben hier niemandem einen Rat zu geben, selbstverständlich ist jedem dieser Schritt unbenommen, wir möchten Sie aber darauf aufmerksam machen, daß es angesichts der gegebenen politischen Realitäten in Mitteleuropa und in unserem Lande, die, meine Herren von der CDU, nicht zuletzt Sie selbst mit geschaffen haben,
({25})
keine andere Politik gibt, um dem Recht auf Selbstbestimmung für unser Volk Genüge zu leisten. Es
wird Ihnen schwerfallen, zu beweisen, daß die
Ostverträge diesem Recht auf Selbstbestimmung zuwiderlaufen oder es gar unmöglich machen.
Die CDU/CSU bietet auch in unserem Verhältnis zu Polen gegenüber der Politik, die die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen begonnen haben, keine konstruktive Alternative:
Erstens. Das Offenhalten der Grenzfrage ist, falls nicht nur wahltaktisch bestimmt, der beste Weg zur Blockierung unserer Friedenspolitik nach Osten.
({26})
Zweitens. Diese Frage ist kein Tauschobjekt mehr. Wenn sie es überhaupt jemals war, dann hat das die CDU selbst verspielt.
({27})
Drittens. Heute gewinnen wir allerdings durch diesen Vertrag einen anderen Gegenwert: die Chance der Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas und den Gleichklang unserer Ostpolitik mit unseren westlichen Verbündeten.
Viertens. Unser Volk kann und muß die Wahrheit ertragen, daß unser Wohlstand und unsere wirtschaftliche Kraft uns heute und in der Zukunft nicht helfen können, 1945 und das, was davor war, auszulöschen, denn 1945 haben wir die Ostgebiete unwiderruflich verloren.
({28})
Wir erkennen die Vertreibung nicht als rechtmäßig an. Wir setzen die uns betreffenden Abkommen und Verträge, die unsere Sicherheit und unsere Freiheit garantieren, nicht außer Kraft. Die Bundesrepublik kann nur für sich sprechen. Sie allerdings stellt die Westgrenze Polens nicht mehr in Frage. Die im deutsch-polnischen Vertrag vorgesehene Fortentwicklung der gegenseitigen Beziehungen gibt uns auch Möglichkeiten, über die jetzt anlaufende Auswanderung deutschstämmiger Bürger hinaus den Prozeß der menschlichen Beziehungen voranzubringen.
Die CDU/CSU-Spitze behauptet, unsere Ostpolitik diene nicht dem deutschen Volke und nütze einseitig der Sowjetunion. Herr Kollege Dr. Barzel hat das heute etwas vornehmer formuliert, aber in der Sache hat er dasselbe gesagt. Im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion stelle ich folgendes fest: Diese Behauptungen verschiedener führender Politiker der CDU/CSU sind nicht nur eine ungeheuerliche Verleumdung des Bundeskanzlers, der Bundesregierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit, sie untergraben auch die Möglichkeiten unserer Ost- und Deutschlandpolitik und gefährden sie damit.
({29})
Wahr ist dagegen, Herr Kollege Barzel, daß der deutsch-sowjetische Vertrag die Sowjetunion ausdrücklich auf einen umfassenden Gewaltverzicht gegenüber der Bundesrepublik festgelegt hat.
({30})
Die Sowjetunion akzeptiert mit diesem Vertrag zum
erstenmal unsere westliche Bündnispolitik und die
ihr zugrunde liegenden Verträge. Wir haben mit diesen Verträgen unseren Anspruch auf Selbstbestimmung nicht aufgegeben. Wir haben damit unsere freiheitliche Grundordnung abgesichert.
({31})
- Schauen Sie einmal selber genauer nach! Ich bin nicht dazu da, Ihnen Nachhilfeunterricht zu geben.
({32})
Hektik und Verwirrung in die ostpolitische Debatte hat die Opposition bewußt durch die Verwendung unlauterer Argumente gebracht. Einzelne Vertreter der CDU/CSU benutzen ihre Opposition gegen unsere Ostpolitik immer deutlicher als Waffe zur Übertrumpfung von anderen Wettbewerbern innerhalb der Partei um die bald frei werdenden Führungspositionen der CDU/CSU.
({33})
Der CDU-Parteitag hat den unübersehbaren Einfluß der Machtstellung der CSU innerhalb der CDU deutlich gemacht.
({34})
Wir haben deshalb leider wenig Hoffnung auf eine baldige Versachlichung der Haltung der Opposition zur Außenpolitik der Bundesregierung.
Wir haben den langen Atem für unsere Außenpolitik nach Westen wie nach Osten. Bundeskanzler Brandt und Außenminister Scheel haben stets darauf aufmerksam gemacht, daß der politische Prozeß der Entspannung zwischen den Blöcken risikoreich ist, gute Nerven verlangt und Zeit kostet. Auch in der westlichen Integrationspolitik werden wir noch manche Klippe geschickt umschiffen müssen. Uns läßt der Fortgang unserer Ostpolitik nicht gleichgültig. Mit heißem Herzen, aber mit kühlem Verstand wollen wir unseren Beitrag im Interesse Deutschlands leisten und den Frieden in Europa sicherer machen. An uns soll und darf es nicht liegen, wenn es darum geht, echte - also keine vorgetäuschten - Fortschritte zu erzielen, die alle Beteiligten und alle Betroffenen akzeptieren können. Die Ratifizierung der Verträge ist nicht Selbstzweck, sondern Basis und Voraussetzung einer weiterreichenden Entspannungspolitik in Europa.
({35})
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Erfüllung des vor Jahresfrist gegebenen Versprechens hat die Bundesregierung eine deutsche Bestandsaufnahme vorgelegt. Im Gegensatz zu dem, was hier von Herrn Dr. Barzel gesagt worden ist, möchte ich feststellen, daß diese Bestandsaufnahme in strenger Sachlichkeit und einem konsequenten Verzicht auf Anprangerung und Polemik die wichtigsten Lebensbereiche unseres gegen seinen Willen gespaltenen Volkes vergleicht und die tatsächliche Situation in unserem Vaterland beschreibt.
Wir danken der Bundesregierung, dem Herrn Bundesminister Franke und der Wissenschaftlichen Kommission unter Leitung von Professor Ludz für die geleistete Arbeit. Ich werde auf einzelne Punkte noch zurückkommen. Mir scheint in dem Vergleich der Situation der innenpolitische Teil in unserer bisherigen Aussprache etwas zu kurz gekommen zu sein.
Wichtig erscheint mir zunächst dies: Dieser Lagebericht macht in seiner Form und Thematik deutlich, worum es dieser Bundesregierung geht, sowohl in der Deutschland- wie in der Ost- und Europapolitik, und wie notwendig der eingeschlagene Weg ist. Ausgangspunkt und Ziel aller Bemühungen ist und bleibt - getreu dem Auftrag unserer Verfassung - das ganze deutsche Volk. Das heißt aber auch, daß ich in allen meinen Bemühungen eben nicht nur an formale Dinge denken darf, sondern immer die Menschen des ganzen Volkes dabei im Auge behalten muß.
({0})
Wenn diese Bundesregierung hier über die Lage der deutschen Nation Rechenschaft ablegt, dann kann sie eben nicht nur von dem Bereich sprechen, in dem sie selbst unmittelbare politische Einwirkungen hat. Sie muß das Vergleichbare vergleichen, aber auch das Gemeinsame, wie es hier geschehen ist, betonen. Dies, meine Damen und Herren - das ist unsere feste Überzeugung -, ist in der Tat eine neue Sprache echter politischer Verantwortlichkeit, die hier zum Ausdruck kommt.
({1})
Es ist die Sprache einer Politik, die wir Freien Demokraten seit Jahren als notwendig erkannt und gefordert haben. Diese Koalition - das muß doch in aller Deutlichkeit gesagt werden - hat damit Schluß gemacht, gesamtdeutsches Pathos und bloße Deklamation an die Stelle des praktischen Handelns zu setzen.
({2})
Wir wollen eben nicht nur beklagen, sondern versuchen, mit praktischer Politik - wenn auch in schwierigen Einzelmaßnahmen - das Beklagenswerte zu überwinden.
Diese Regierung hat Ernst gemacht mit der Erkenntnis, daß der innerdeutsche Immobilismus der letzten zwei Jahrzehnte niemandem außer denen geholfen hat, die die deutsche Einheit eben nicht wollten, und daß wir durch diesen Immobilismus auseinandergetrieben worden sind. Diese Bundesregierung - daß man darüber überhaupt noch sprechen muß, ist an sich schon bedauerlich - hat unabänderliche Tatsachen zur Kenntnis genommen, den sinnlosen und unheilvollen Weg der Konfrontation verlassen und konkrete Schritte unternomMischnick
men, um das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander zu versachlichen und auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten.
Ich habe mit Freude gehört, daß auch von der Opposition von der Geduld und der Ruhe gesprochen worden ist, die hierzu notwendig ist. Nur frage ich mich dann, wie das mit dem ständigen Schreien zu vereinbaren ist, daß nicht zwei, drei Tage nach der Unterschrift unter einem Vertrag schon die Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Das paßt doch nicht zueinander.
({3})
Ob wir die Legitimität der Verantwortlichen in Ost-Berlin von unserem Rechtsstaatsverständnis in Frage stellen oder nicht in Frage stellen, daß sie Macht ausüben, daß sie in ihrem Bereich Herrschaftspositionen haben, darf uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß allein in der Kooperation im Rahmen der von der Bundesregierung aufgezeigten Grenzen eine Chance liegt, trotz der tiefgreifenden Unterschiede der Wirtschafts- und Gesellschaftsysteme noch einen Teil des gemeinsamen Bandes der Nation zu erhalten.
Ich habe bewußt von der Chance gesprochen, die hierin liegt, von nichts mehr. Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben nie einen Zweifel darüber gelassen, daß sie es als einen schweren Weg ansehen und daß man hier nicht mit spektakulären schnellen Erfolgen rechnen kann. Deshalb sind wir ja auch bereit, diese Politik langfristig anzulegen und sie nicht danach zu messen, ob wir von Wahltermin zu Wahltermin einen Erfolg präsentieren können.
({4})
Der Herr Bundeskanzler hat hier in absoluter Offenheit und ohne jede vom Kollegen Kiesinger vor einigen Tagen in Aussicht gestellte Schönfärberei dargelegt, wie schwierig diese Gespräche mit der DDR sind. Das ist immer wieder betont worden. Trotzdem kann aber niemand sagen, daß bisher nichts geschehen sei, daß sich nichts verändert habe. Keiner unserer Landsleute wird vergessen, was in Erfurt und in Kassel war. Eine große Mehrheit unseres Volkes hüben und drüben hat verstanden - davon sind wir fest überzeugt , wie ernst es uns ist um das Bemühen, wirklich Lösungen zu finden, die Bestand haben und nicht etwa bei jeder Gemütsschwankung des einen oder anderen Verantwortlichen wieder in Frage gestellt werden.
Niemand wird auch bestreiten können, daß allen Rückschlägen und aller Stagnation zum Trotz seit jenen Begegnungen eine Veränderung in Deutschland eingetreten ist, die für die gesamte Nation bedeutungsvoll ist: Die Zeit der totalen Ignoranz ist zu Ende gegangen. Die 20 Punkte von Kassel liegen auf dem Tisch, und wir wissen, wie unbequem diese 20 Punkte gerade auch der DDR sind.
({5})
Sie sind ein Ausdruck des guten Willens der Bundesregierung und haben - das wird oft übersehen und auch von manchen in der politischen Auseinandersetzung nicht voll genutzt - in den anderen osteuropäischen Staaten, den Staaten des Warschauer Paktes, eine Beachtung gefunden, die deutlich macht, wie sehr man dort beginnt, den Zusammenhang zwischen diesen 20 Punkten und unseren Normalisierungsbestrebungen zu erkennen. Mit dieser Politik wird eine Außenpolitik, eine Ostpolitik der praktischen Vernunft betrieben und nicht der heillosen Illusion. Ziel dieser Politik ist es, wie es auch der Bundeskanzler noch einmal zum Ausdruck gebracht hat, zu vertraglichen Regelungen zu kommen, weil dies nach unserer Meinung auf die Dauer die einzige Möglichkeit sein wird, in Europa tatsächlich zu einer Entkrampfung zwischen den beiden deutschen Staaten zu gelangen. Aber diese Politik trägt nach unserer festen Überzeugung auch dazu bei, die Einheit der Nation zu wahren und sie nicht etwa zu gefährden, indem nämlich das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem anderen Teil Deutschlands
({6})
aus der politischen und geistigen Verkrampfung der vergangenen 20 Jahre herausgelöst wird. - Wenn Sie jetzt entgegenhalten, Herr Kollege Stücklen: „zwei deutsche Staaten", so muß ich sagen, es ist doch feststellbar, daß in den letzten 20 Jahren die Verkrampfung stärker geworden ist und daß wir jetzt den Versuch unternehmen, sie abzubauen. Das ist doch der entscheidende Unterschied.
({7})
Das Bemühen dieser Regierung, das Verhältnis der Bundesrepublik zum anderen Teil Deutschlands auf eine neue Grundlage zu stellen und die Einheit der Nation durch Kooperation, wenn ich so sagen darf, in wertneutralen Lebensbereichen zu wahren, konnte doch von vornherein nur dann realistisch sein, wenn es zugleich die Zustimmung derjenigen Staaten fand, die mit der DDR im Warschauer Pakt verbunden sind. Und deshalb war es eben notwendig, das Problem DDR : Bundesrepublik nicht einseitig zu betrachten, sondern erst die Normalisierung des Verhältnisses zu unseren osteuropäischen Nachbarn als Grundlage für eine Entspannung und Entkrampfung des Verhältnisses der Deutschen untereinander zu nehmen. Es ist deshalb doch nur folgerichtig gewesen, daß die Bundesregierung mit ihren Initiativen in der deutschen Frage mit dem Ausgleich mit den übrigen Mächten verband, also den Vertragsabschluß mit der Sowjetunion und mit Polen. Wir werden ja morgen im Zuge der Debatte über die Große Anfrage noch im einzelnen über dieses Problem zu diskutieren haben.
({8})
- Ich bin sicher, daß auch morgen noch weitgehend dazu Stellung genommen werden wird. Herr Kollege Stücklen, wenn Sie nicht ganz orientiert sind, daß untereinander, auch zwischen den Geschäftsführern darüber gesprochen worden ist, morgen in
erster Linie die Große Anfrage zu behandeln, dann will ich das hier nachholen.
({9})
- Aber lieber Kollege Stücklen, wenn Sie es so formalistisch sehen, lasse ich Sie gern dabei. Ich bin jedoch sicher, daß Sie morgen noch einiges sagen wollen. Wenn meine Orientierung richtig ist, will z. B. Kollege Marx morgen für Sie zur Großen Anfrage eine Art Eröffnungsrede halten. Wenn Sie das vergessen haben sollten, tut es mir leid.
({10})
- Sie wollen es nicht mehr? - Dann macht das deutlich - -({11})
Wenn Sie das nicht wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen, Herr Kollege Marx, daß ich nicht verstehe, weshalb ein solches Drängen bestand, unbedingt diese sitzungsfreie Woche zu benutzen, um den gesamten Bericht zu behandeln. Wir sind davon ausgegangen, daß Sie so viel zu sagen haben, daß Sie zwei Tage dazu brauchen. Aber wenn Sie das nicht wollen, - das liegt an Ihnen!
({12})
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Marx?
Aber bitte!
Zur Klarstellung, Herr Kollege Mischnick, Sind Sie bereit, noch einmal zur Kenntnis zu nehmen, was ich vorhin in Form eines Zwischenrufes sagte: Wir werden heute nachmittag, wenn Sie es wünschen, jederzeit und in jeder Länge und Gründlichkeit auch die Debatte über die Große Anfrage führen? Ich würde dann heute nachmittag damit beginnen. Es ist gar nicht daran zu denken, daß wir das nicht wollen.
Ich habe nicht gesagt, daß Sie es generell nicht wollten. Ich dachte, Sie wollten das morgen machen. Aber wenn Sie es heute machen wollen, - uns ist es egal, wie Sie die Dinge im einzelnen behandeln.
Wir gehen davon aus, daß es nicht nur außenpolitische - ich werde in meinen Ausführungen noch dazu kommen -, sondern auch eine ganze Reihe von innenpolitischen Problemen zu beachten gilt, wenn man zur Lage der Nation Stellung nimmt. Ich bin der Meinung, daß man mit der Zeit sparsam umgehen und die Dinge möglichst systematisch behandeln sollte.
Meine Damen und Herren, wir haben immer wieder betont - das ist auch heute erfreulicherweise zum Ausdruck gekommen -, daß zwischen der Berlin-Lösung und dem deutsch-sowjetischen Vertrag ein enger Zusammenhang besteht. Wir Freien
Demokraten stimmen mit dem, was der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister gesagt haben, überein, daß eine akzeptable Berlin-Regelung - wie wir immer betont haben - Voraussetzung für die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages ist. Im Detail hier darüber zu debattieren, was unter einer solchen Regelung im einzelnen zu verstehen ist, halten wir - gemeinsam, wie wir inzwischen feststellen konnten - nicht für richtig.
Nur so viel scheint mir jetzt notwendig zu sein, noch zu sagen: Entscheidend ist und bleibt, daß die gewachsenen Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland nicht angetastet werden dürfen. Diese müssen unsere osteuropäischen Nachbarn und die DDR als Realität zur Kenntnis nehmen. Lassen Sie mich hier einen Satz einfügen, weil vorhin der Zuruf „Berlin-Verkehr" kam. Wir gehen davon aus, daß es z. B. das gute Recht des Fraktionsvorsitzenden der Freien Demokraten in Berlin ist, die Fraktionsvorsitzenden der FDP in das Berliner Abgeordnetenhaus einzuladen, und wir haben das Recht, dieser Einladung zu folgen.
({0})
Wer dieses Recht des Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus bestreitet, der bestreitet damit gleichzeitig die eigenständige Handlungsfähigkeit gewählter Organe in West-Berlin, vergeht sich damit gegen den Vier-Mächte-Status und widerspricht dem, worüber sich die Vier Mächte in der Vergangenheit immer einig gewesen sind. Das muß man mit aller Deutlichkeit feststellen. Das hat nichts mit Provokation zu tun; das hat nichts mit Störaktion zu tun. Das hat alles damit zu tun, oh das Westberliner Abgeordnetenhaus und seine Fraktionen voll handlungsfähig und frei sind, das zu tun, was sie selbst für richtig halten. Das müßten doch gerade diejenigen von der SED besonders gut verstehen, die manchmal davon sprechen, West-Berlin zu einer selbständigen Einheit machen zu wollen. Sollte das bedeuten, daß sie dann auch vorschreiben, wer eingeladen werden, wer nach Berlin kommen darf? Gerade mit diesen Maßnahmen hat sich die SED nach meiner Überzeugung insofern selbst einen schlechten Dienst erwiesen, als sie deutlich macht: es geht ihr nicht darum, die Entspannung zu unterstützen, sondern im Gegenteil selbst die Entspannungsbemühungen ihres eigenen großen Partners in Frage zu stellen.
Der Verlauf der Berlin-Gespräche hat gezeigt, daß zumindest die Sowjetunion und die Staaten Osteuropas diesen Zusammenhang zu erkennen beginnen. Ich gehe zuversichtlich davon aus, daß wir deshalb, weil diese Übereinstimmung besteht und daher der Wille vorhanden ist, zu einer Ratifizierung der Verträge zu kommen, auch eine Lösung, die allseits - wie es der Außenminister formuliert hat - akzeptabel ist, finden werden.
Das Fundament und die Voraussetzung für diese aktive Politik der Normalisierung des Verhältnisses zu Osteuropa und zum anderen Teil Deutschlands ist und bleibt für uns die bewährte Partnerschaft mit unseren Freunden und Verbündeten in Westeuropa und in der Atlantischen Gemeinschaft. Sie alle ich wiederhole es, auch wenn es die Kollegen
von der Opposition nicht gern hören wollen ---unterstützen und befürworten die Außenpolitik dieser Bundesregierung. Daran gibt es keinen Zweifel.
({1})
Die Gemeinschaft des Westens zu halten und zu stärken, wie das schon im ersten Amtsjahr der neuen Bundesregierung unter Beweis gestellt worden ist, wird natürlich auch für die Zukunft eine Grundlage unserer Politik sein. Nur sie allein kann das Fundament sein, von dem aus wir mit Ruhe und Zuversicht in Verhandlungen über übergeordnete europäische Lösungen eintreten können.
Bei aller Bedeutung, die der Ostpolitik zukommt, sollte daher nicht vergessen werden, daß die ersten Schritte des Bundesaußenministers nach Bildung dieser Regierung der Überwindung der seit Jahren andauernden europäischen Krise galten. Der auf Initiative der deutschen Delegation zurückgehende Beschluß von Den Haag vom Dezember 1969 und die inzwischen ja auch erfolgte Aufnahme von Verhandlungen mit den vier beitrittswilligen Staaten sind Meilensteine auf dem Wege der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die neben weiteren beachtlichen Fortschritten in der Westeuropapolitik besonders hervorzuheben sind. Das soll man nicht immer verkleinern. Im Gegenteil!
({2})
Wir haben allen Anlaß, gemeinsam darüber erfreut zu sein, daß hier ein Schritt nach vorn gegangen worden ist.
({3})
Auch hier darf sich die Regierung durch die in jüngster Zeit ohne deutsches Verschulden eingetretenen Verzögerungen nicht daran hindern lassen, auf dem als richtig erkannten Weg fortzuschreiten. Wir sind gewiß, daß das, was im Augenblick an Schwierigkeiten aufgetaucht ist, schneller zu überwinden sein wird, als das in der Vergangenheit möglich war, eben weil das Ineinandergreifen von West- und Ostpolitik heute garantiert ist und nicht eine einseitige Haltung eingenommen wird.
Was stellt sich aber nun der Bürger unseres Landes vor, wenn wir hier die Lage der Nation insgesamt diskutieren und dafür die Materialien vorliegen? Mir scheint eine nüchterne Betrachtung der Zahlen und Daten notwendig zu sein, die uns mit diesem Material dankenswerterweise erstmalig in dieser Konzentration vorgelegt worden sind.
Erstens. In beiden Teilen Deutschlands ist langfristig in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht eine stetige Aufwärtsentwicklung festzustellen.
Zweitens. Dabei hat sich allerdings der Abstand zwischen der DDR und der Bundesrepublik in der wirtschaftlichen Entwicklung weder gehalten noch etwa verringert, sondern er ist interessanterweise größer geworden.
Drittens. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß sich dieser Abstand - von Teilbereichen abgesehen - weiter vergrößern wird.
Wenn man nun versucht, die Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklung zu ergründen, so kann man folgendes feststellen.
Erstens. Sie liegen nicht darin, daß man in der DDR oder in der Bundesrepublik etwa fleißiger oder nicht fleißiger wäre oder daß die Erwerbsquote höher oder nicht höher gewesen wäre. Im Gegenteil: wenn man diese Gesichtspunkte - Arbeitszeit, Erwerbsquote - betrachtet, müßten eher die Ergebnisse in der DDR besser liegen.
Zweitens. Auch die unterschiedliche Ausgangslage der Nachkriegszeit bietet in bestimmten Teilbereichen keine ausreichende oder gar überzeugende Erklärung dafür, daß diese unterschiedliche Entwicklung eingetreten ist. So war sie z. B. in der Landwirtschaft nicht so verschieden, daß sich daraus die unterschiedlichen Erträge ergäben, die wir heute aus den Materialien feststellen können.
Vergleiche in allen Sektoren nach verschiedensten Kriterien lassen daher nur folgenden Schluß zu - man sollte bei einem solchen Bericht zur Lage der Nation auch daran wieder einmal erinnern -: Die Ursachen für diese unterschiedliche Entwicklung müssen zu einem beträchtlichen Teil im unterschiedlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen System liegen, dessen Praxis auch bei gleicher oder vergleichbarer Ausgangssituation - zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Das ist für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit; mir scheint das aber bei einer solchen Gelegenheit zu betonen deshalb notwendig zu sein, weil es schon wieder viele in unserem Lande gibt, die genau das, was wir uns in jahrzehntelanger Arbeit erarbeitet haben, heute vergessen haben und zum Teil Mythen nachhängen, wie man hier bessere gesellschaftspolitische Voraussetzungen schaffen könne.
Wir dürfen uns jedoch nicht mit der Tatsache beruhigen, daß sich unser System bisher als wirksamer erweist, sondern wir müssen die eigenen Probleme in vielen Teilbereichen nicht nur sehen, sondern uns bemühen, sie auch zu erkennen und zu meistern, und auch bedenken, welche Konsequenzen es auf die Dauer hat, wenn diese unterschiedliche Entwicklung weitergeht und die Diskrepanz in der Entwicklung in den beiden deutschen Staaten größer wird.
Wir wissen, daß wir uns mit der gegenwärtigen Situation nicht zufriedengeben dürfen. Es gibt eine Reihe von Tatbeständen, die, für sich allein betrachtet, nicht als optimal und zufriedenstellend gelöst bezeichnet werden können. Bei uns handelt es sich hier nicht um systembedingte Konsequenzen, sondern um die Frage, ob sich unsere Gesellschaft mit diesem Problem immer in der nötigen und richtigen Weise auseinandergesetzt hat.
Aber eine solche langfristige Betrachtungsweise läßt auch noch einige andere interessante und wesentlich erscheinende Schlußfolgerungen zu: Die gesellschaftspolitische Entwicklung in der DDR - in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik - basiert ja auf der gleichen Ideologie wie in den anderen Staaten des Warschauer Paktes. Sie ist im
Prinzip - wenn ich das einmal so sagen darf - ein
geistiger, politischer und wirtschaftlicher N achvollzug
dessen, was durch die Sowjetunion vorgezeichnet
wurde. Ein wesentlicher Unterschied liegt natürlich
in der 30jdhrigen Differenz von 1917 bis 1945.
Diese nicht unbeträchtliche Zeitspanne läßt vermuten,
daß es eben nicht gelungen ist, Schwierigkeiten
und Mängel zu vermeiden, die sich bei dem
erstmaligen Versuch gezeigt haben, sozialistische
Ideologie und Theorie in die Praxis umzusetzen.
Das sollte doch einmal eine Fundgrube für alle
diejenigen in unserem Lande sein, die immer wieder
glauben, daß man hier für die Gestaltung unseres
gesellschaftlichen Systems etwas finden könne. Es
wäre gut, wenn mancher, der uns mit sehr viel
Ideologie eine bessere Politik bescheren will, zuerst
einmal die Kenntnis vertiefte über das, was an Erfahrungen
bei anderen schon vorhanden ist.
({4})
Es ist doch offensichtlich so, daß das, was in verschiedenen
Modellen und politischen Ideologien als
zwangsläufig richtig, als möglich, als erreichbar angesehen
wird, in der Praxis dann sehr oft zu anderen
und dabei zumeist sehr schlechten Ergebnissen
führt.
Es ist in der politischen Diskussion häufig üblich,
im Rahmen eines punktuellen Vergleichs den Vorteil
des einen Systems und den Nachteil des anderen
abzulesen und zu messen. Dies muß nicht, aber
es kann natürlich zu Fehlprognosen führen, wenn
man sich nicht mit dem Gesamtzusammenhang auseinandersetzt.
So sind z. B. die Volksrepubliken stolz auf ihre
"sozialen Errungenschaften". Ich halte es für notwendig,
darüber heute etwas zu sagen, weil durch
die zahlreicher werdenden Begegnungen auch die
ständig wachsende Auseinandersetzung mit den
Uberlegungen unserer neuen Gesprächspartner erforderlich
ist. Der Begriff "soziale Errungenschaften"
bedeutet mehr, als bei uns im allgemeinen in der
Sozialpolitik unter "soziale Leistungen" verstanden
wird. Aber selbst wenn wir einmal nur den Teilbereich
dessen untersuchen, was im Hinblick auf die
sozialen Leistungen als Ausfluß der sozialen Errungenschaften
oder des sozialen Fortschritts verglichen
werden kann, stellen wir fest, daß das
soziale Leistungsniveau, insgesamt gesehen, absolut
und relativ betrachtet, bei uns wesentlich höher
liegt als in der DDR. Es hat sich erneut gezeigt, daß
Sozialpolitik im engeren Sinne eben nur im engsten
Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik, d. h. mit
der Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems,
gesehen werden muß.
Interessant ist auch eine Gegenüberstellung der
sozialen Leistungen für die Wechselfälle des Lebens
in den beiden deutschen Staaten. Bemerkenswert
ist dabei auch die völlig andere Betrachtungsweise.
Dieser Vergleich der sozialen Leistungen in
beiden Teilen Deutschlands zeigt sowohl im Hinblick
auf die Institutionen wie auf die Bemessung
der jeweiligen sozialen Leistungshöhe prinzipielle
Unterschiede. Hier sollten wir uns ins Gedächtnis
zurückrufen, daß Sozialleistungen in der DDR eben
nicht die Funktion haben, Lohnersatz oder Einkommensersatz
darzustellen, wie es bei uns ist. Sie sind
dort nach wie vor ganz in der Linie der sogenannten
klassischen Sozialpolitik auf die Sicherung eines
Existenzminimums ausgerichtet, wenn man von der
bevorzugten Behandlung ideologischer Kader oder
bestimmter Berufsgruppen absieht, denen eine besondere
politische oder wirtschaftliche Bedeutung
beigemessen wird.
Der Hintergrund dieser Regelung liegt auf der
Hand - und wir sollten uns dessen immer bewußt
sein -: der Konsum soll in dem Bereich, aus dem
ein produktiver Beitrag nicht oder nicht mehr zu
erwarten ist, möglichst in Grenzen gehalten werden,
um die entsprechenden Mittel für andere wirtschaftliche
oder sonstige Zwecke zur Verfügung zu
stellen.
Das spiegelt sich beispielsweise auch in der Lebenserwartung
wider. Hier zeigt sich, daß unser
freiheitliches System im ganzen gesehen ohne die
Vokabel "soziale Errungenschaften" diesen Methoden
eben doch weit überlegen ist. Das in einer solchen
Debatte wieder einmal festzustellen scheint
mir erforderlich zu sein,
({5})
um gerade denjenigen, die ständig bemüht sind,
all das, was bei uns geschaffen worden ist, in Frage
zu stellen und als nicht ausreichend zu bezeichnen,
deutlich zu machen, daß Ihr Hinweis auf die bessere
Lösung von der praktischen Politik her widerlegt
ist.
({6})
Aber, lieber Herr Kollege Stücklen, Sie können
dessen sicher sein, daß ich das nicht nur sagen
werde, sondern schon sehr oft gesagt habe. Ich wäre
allerdings dankbar, Herr Kollege Stücklen, wenn
Sie dann auch innerhalb Ihrer eigenen Reihen mit
daran denken würden. Manchmal habe ich den
Eindruck, wenn ich an die CDU/CSU denke, so eine
Art Selbstbedienungsladen vor mir zu haben, wo
sich jeder das herausnimmt, was er in politischen
Dingen gerade braucht.
({7})
Sogar einen Supermarkt. Aber "Supermarkt"
geht mir deshalb ein bißchen zu weit, weil mir der
gigantische Sprachgebrauch der CDU/CSU etwas
fernsteht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige
zusammenfassende Bemerkungen zur Gesamtsituation
machen, wie sich uns die Lage im demokratischen
Teil der deutschen Nation darstellt.
Nach einem Amtsjahr kann natürlich eine Bundesregierung
nur einen Teil dessen verwirklichen, was
sie sich vorgenommen hat. Aber die gesamte innenund
außenpolitische Bilanz dieser Bundesregierung
und der sie tragenden Koalition ist positiv. Im Innern
wurde mehr soziale Gerechtigkeit durch Verbesserung
bei der Kriegsopferversorgung, bei der
Krankenversicherung, beim Lastenausgleich,
({8})
beim Kindergeld, beim Wohngeld, bei der Förderung der Vermögensbildung erreicht. Das wir in einem Jahr so viele Gesetze über die Bühne gebracht haben, wie Sie es in vier Jahren absoluter Mehrheit nicht geschafft haben, behagt Ihnen nicht. Dafür habe ich Verständnis.
({9})
Nach gründlicher Vorarbeit wird diese Regierung
in der Lage sein, in diesem Jahr folgende Gesetze
- ich will sie nicht alle im einzelnen aufzählen - ({10})
- Ich bin gern dazu bereit, wenn Sie es hören wollen, weil Sie es offensichtlich immer wieder hören müssen.
({11})
- Sie stellen wohl fest, daß wir uns das als Ziel gesetzt haben. Wenn Sie die Zeit, die Sie zum Zählen verwandten, dazu benutzt hätten, Alternativen zu entwickeln, wäre das eine große Tat gewesen!
({12})
Ob das der Ausbau der Gesundheitssicherung, die Frage des Umweltschutzes, die Sicherung innerhalb der verschiedenen Lebensbereiche ist - all das macht deutlich, daß für uns die Lage der Nation sowohl eine innenpolitische als auch eine außenpolitische Aufgabe ist. Nach außen haben wir - darüber gibt es keinen Zweifel - durch unsere konsequente Friedenspolitik mehr Sicherheit und ein
({13}) wachsendes Ansehen erreicht. Dies, meine Damen und Herren von der Opposition, ist doch wohl eine gesunde Grundlage, auf der wir eine konstruktive Politik im Sinne des Fortschritts und des Friedens zum Wohle aller aufbauen können.
In der Außenpolitik ist es dieser Koalition gelungen, den Hauptmangel früherer westlicher Positionen gegenüber den Völkern des Ostens abbauen zu helfen, der einfach darin bestand, daß die auf Aussöhnung gerichtete Politik nicht immer so klar und so konsequent getrieben wurde, wie es nötig gewesen wäre, um glaubwürdig zu sein. Genau das ist jetzt erreicht worden. Wem die Zukunft unseres Volkes nicht gleichgültig ist, muß deshalb weiterhin das politische Bemühen der Bundesrepublik bejahen, das Verhältnis zwischen Ost und West umzugestalten und zu verbessern, damit eine allgemeine europäische Friedensordnung möglich wird. Dieses Endziel eines wichtigen Annäherungsprozesses erfordert von uns - das wissen wir - Zeit und Geduld.
Ich hätte allerdings gern einmal das Rezept dafür gewußt, Herr Kollege Barzel, wie es möglich war, zu erreichen, daß am selben Abend des Tages, an dem Sie erklärten, Sie hätten in Warschau erreicht, daß die Aussiedlung sofort beginnt, im Fernsehen zu sehen war, wie der Zug mit den ersten Aussiedlern ankam. Das war wirklich eine artistische Leistung, die hier in dieser kurzen Zeit vollbracht wurde!
({14})
Herr Kollege Barzel, Sie haben darauf hingewiesen, daß schon früher Aussiedlungen möglich waren. Ich weiß aber sehr genau, daß die Zahl der Aussiedler aus den polnischen Gebieten sehr, sehr klein war und daß es sehr viel Mühe gekostet hat, eine Lösung dieser Frage in einem überschaubaren Zeitraum für alle diejenigen zu erreichen, die unter diese Vereinbarung fallen. Das ist der entscheidende Fortschritt gegenüber früher, nur in kleinen Grüppchen in die Bundesrepublik kommen zu können.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
Herr Kollege Mischnick, sind Sie bereit, sich an die Zeit zu erinnern, als wir beide im Kabinett Adenauer mit solchen Dingen zu tun hatten? Sie werden es deshalb im deutschen Interesse, das der Regierungssprecher bestätigt hat, zu schätzen wissen, wenn ich für die Opposition mitteilen kann, daß die Verantwortlichen in Polen mir versichert haben, niemand werde einen Nachteil daraus haben, daß er einen solchen Antrag stellt.
Wenn Sie die Güte hätten, in dem Kommuniqué des Bundeskanzlers über seinen Besuch nachzulesen, würden Sie dort weder den Jugendaustausch noch die deutsch-polnische Industrie- und Handelskammer noch andere Dinge finden. Wenn Sie mehr wissen wollen, wird der Außenminister, der ebenso wie der Herr Bundeskanzler informiert ist, Sie gern darüber unterrichten.
Lieber Herr Kollege Barzel, eins enttäuscht mich, nämlich daß Sie mich auf diese Art und Weise zwingen, noch einmal festzustellen, daß Sie offensichtlich das, was von der Bundesregierung nach Abschluß des Vertrages erklärt worden war, in Zweifel gezogen haben; denn da war bereits festgestellt, daß diese Möglichkeiten insbesondere der Aussiedlung gegeben sind und daß sie durchgeführt werden. Sie haben also praktisch die Zusatzbestätigung bekommen. Wenn Sie die zusätzlich brauchten - bitte sehr.
Herr Abgeordneter Barzel, ich bitte aber, nunmehr eine konkrete Frage zu stellen.
Sind Sie bereit, Herr Kollege Mischnick, aus dem Kommuniqué der Bundesregierung vom 7. Dezember zu entnehmen, daß die Normalisierung abhängig sei von der Ratifikation des Vertrages, und aus der „Tribuna Ludu" von vorgestern zu entnehmen, daß es jetzt, vorher, bereits möglich sei, praktische Dinge zu tun?
({0})
Aber Herr Kollege Barzel, Sie wissen doch genauso wie alle diejenigen Kollegen, die im Auswärtigen Ausschuß oder bei den Informationsgesprächen dabei waren, daß mehrfach
festgestellt worden ist, daß auch die ersten Aussiedlungen nicht zu warten brauchten, bis die Ratifizierung des Vertrages erfolgt. Das ist von Anfang gesagt und festgestellt worden. Insofern war es eben nichts Neues.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäfer?
Aber bitte!
Herr Abgeordnerter Mischnick, ist es nicht so, wie eine Information besagt, die mich erreicht hat, daß die Gesprächsthemen des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion sich nur in dem Rahmen des bereits zwischen den Regierungen Vereinbarten bewegten?
Da ich selbst nicht dabei war, kann ich es nicht bestätigen. Aber meine Vermutung geht dahin - und meine Erfahrung mit Gesprächspartnern aus den osteuropäischen Ländern bestätigt mich -, daß diese Gesprächsthemen genau in dem Rahmen gewesen sein werden. Und wenn wir, andere Kollegen Besuche in Warschau und in anderen Staaten durchführen, werden wir wahrscheinlich das gleiche erleben. Denn es ist doch nicht zu erwarten, daß die Regierung eines anderen Landes in dem Augenblick, wo sie mit einem Vertreter einer Oppositionspartei oder einer Regierungspartei spricht, plötzlich eine andere Meinung zum Ausdruck bringt oder zusätzliche Erklärungen abgibt gegenüber dem, was in den Verhandlungen von Regierung zu Regierung geschehen ist. Das ist normalerweise nicht zu erwarten.
({0})
Meine Damen und Herren, die Friedens- und Entspannungspolitik der Bundesregierung scheint leider in jüngster Zeit einen Bodensatz extremistischer Gruppen zu mobilisieren, die durch demonstrative Aktionen Aufsehen zu erregen versuchen. Bedauerlicherweise zeigt sich hier sehr, sehr deutlich, in welcher Form legitime Gefühle der Menschen, die ihre Heimat verloren haben, mißbraucht werden können. Die Freien Demokraten verstehen die Gefühle der Betroffenen. Sie haben bei ihren politischen Initiativen stets versucht, damit verbundene legitime Interessen zu wahren. Das gilt auch für die Mitgestaltung und Mitverantwortung unserer Partei an der Friedenspolitik nach dem Osten. Der Mißbrauch, den diese radikalistischen Grüppchen betreiben, ist aber der Wahrung der Interessen der Betroffenen abträglich, jedoch glücklicherweise nicht repräsentativ für die Bevölkerung, erfreulicherweise nicht einmal repräsentativ für die angeblich Vertriebenen selbst. Wir wissen, daß Heimatvertriebene und Flüchtlinge in einer großen Zahl immer mehr gerade der Politik dieser Regierung ihre Unterstützung leihen aus der Erkenntnis, daß die vergangenen 20 Jahre mit dem bloßen Nein für sie selbst, für die von ihnen gewünschten menschlichen Verbindungen uns nicht einen Schritt weitergebracht haben.
({1})
Meine Damen und Herren, das Ziel dieser Bundesregierung ist es, zu helfen, mit dieser Politik auch europäische Probleme zu meistern, und eine ganze Reihe von Fragen mit anpacken zu helfen, die in der täglichen Diskussion für uns von großer Bedeutung geworden sind. Vor Jahren war man fast noch der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn man von Fragen der Wasser-, Luftverschmutzung, Lärmbekämpfung usw. sprach. Heute ist es ein zentrales Thema. Aber auch das ist ein Thema, das wir nicht am Eisernen Vorhang enden lassen können. Oder wollen Sie vielleicht diese Probleme, die über europäische Grenzen hinweggehen, an ideologischen Grenzen aufhängen? Sie können sie doch nur lösen, wenn sie die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß man auf die Dauer auch in diesen Bereichen aus der Konfrontation durch vertragliche Vereinbarungen zu einem Miteinander kommt. Deshalb sind neben der Frage unserer Deutschland- und Ostpolitik auch solche Fragen für die praktische Politik ein Problem der täglichen Auseinandersetzungen geworden.
({2})
- Herr Kollege Windelen, wenn Sie darüber lächeln, dann haben Sie heute noch nicht erkannt, daß wir diese Frage nicht mehr allein national betrachten können, sondern daß wir sie über die Grenzen hinaus betrachten müssen.
({3})
Dazu brauchen wir auch die Verbindung und die Zusammenarbeit mit den östlichen Ländern und Völkern. Das in dieser Gänze mit einzubeziehen, darum geht es uns.
({4})
- Entschuldigen Sie, ich habe nicht gesagt, das sei neu, sondern ich habe nur die Hoffnung, daß Sie das bei Ihren Prüfungen mit überlegen und nicht aus ideologischen Gründen Grenzen aufrichten, wo wir sie nicht gebrauchen können. Darum geht es doch.
({5})
Meine Damen und Herren, wir haben die gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten in den Staaten des Warschauer Pakts mit unserer Bereitschaft, zu vertraglichen Lösungen zu kommen, nicht befürwortet. Wir haben uns mit unserer Bereitschaft, zu Verträgen zu kommen, nicht auf den Boden dieser Gesellschaftssysteme gestellt, wie das so manchmal unterstellt wird. Wenn dann Behauptungen aufgestellt werden, diese Bundesregierung, diese Koalition wolle ein sozialistisches Deutschland schaffen, dann steckt doch dahinter der Versuch, damit deutlich zu machen, daß die Außenpolitik eigentlich wohl das Ziel hätte, die Umstruktuierung unserer Gesellschaft zu erreichen. Ich bedaure, daß gestern im Bayerischen Landtag durch
den Ministerpräsidenten diese Unterstellungen gegenüber der Bundesregierung erfolgt sind.
({6})
- Sie sagen: Haben Sie etwas anderes erwartet? - Aber von einem Ministerpräsidenten, der als Bundesratsmitglied und möglicher Bundesratspräsident Partner der Bundesrepublik ist, muß ich erwarten,
({7})
daß er solche Unterstellungen und Diffamierungen gegenüber der Bundesregierung unterläßt und sich nicht im Parlament in einen miserablen Wahlkampfstil begibt, wie es dort geschehen ist.
({8})
Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen - ({9})
- Es ist keine simple Unterstellung, sondern eine Feststellung.
({10})
Herr Kollege, Sie haben die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage, aber nicht zu einem Zwiegespräch im Plenum.
Ich verstehe den Kollegen Stücklen, daß er es so viel lieber macht. Herr Kollege Stücklen, genau auf das, was Sie soeben gesagt haben, habe ich hingewiesen, daß er eben als Bundesratsmitglied und Bundesratspräsident hier mitwirkt. Deshalb halte ich diese Beurteilung der Politik der Bundesregierung in dieser Form im Landtag für doppelt verwerflich. Dabei bleibe ich, und da gibt es nichts abzustreiten.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß ein Zitat aus der Botschaft von Papst Paul VI. zum Weltfriedenstag bringen. Dieses Zitat lautet:
Dem Frieden kommt auch das immer dichtere Netz von menschlichen Beziehungen zugute: auf kultureller, wirtschaftlicher, kommerzieller, sportlicher und touristischer Ebene; man muß zusammenleben .. .
Wir sind dazu bereit, meine Damen und Herren. ({1})
Wir hoffen, daß die Opposition diese Erkenntnis auch hat, daß das Zusammenleben höher stehen muß als das Beharren auf juristischen Fehden, die uns keinen Schritt weiterbringen können.
({2})
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
({0})
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gradl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zur Information unserer Kollegen aus den anderen Fraktionen: Wir sind gern bereit, eine gewisse säuberliche Scheidung, soweit die Sache das überhaupt gestattet, zwischen der Erörterung des Berichts über die Lage der Nation und der außenpolitischen Diskussion über die Große Anfrage vorzunehmen. Wir haben uns jedenfalls darauf eingestellt, mit unseren Rednern zunächst das Thema Lage der Nation und den Bericht dazu zu behandeln.
Ehe ich damit für meinen Teil den Anfang mache, möchte ich eine Bemerkung vorausschicken, zu der ich durch den Satz veranlaßt bin, den der Herr Bundeskanzler heute morgen gesagt hat, er hätte sich seinerzeit - in den Jahren, als er Regierender Bürgermeister war - eine gemeinsame politische Anstrengung gewünscht, durch die Berlin im Sinne unseres Grundgesetzes zum Land der Bundesrepublik geworden wäre. Gegen diese Aussage ist natürlich nichts einzuwenden. Nur hat er sie in Richtung auf diejenigen gemacht, die damals nicht Oppositnon, sondern Regierung waren, und hat - jedenfalls objektiv - den Eindruck erweckt, als ob bei denen irgendwie Verantwortung oder Schuld dafür sei, daß es zu so etwas nicht gekommen sei. Prompt fiel dann auch aus den Reihen unserer Nachbarn der Name Adenauer.
Ich glaube nicht, daß so etwas einfach stehengelassen werden kann und daß das für die gemeinsame Anstrengung, die wir heute für Berlin anzustellen haben, überhaupt förderlich ist. Natürlich bleibt es dabei, daß wir auch als Opposition in der Sache Berlin gemeinsame Anstrengungen unterstützen, so gut das nur möglich ist. Aber es muß klargestellt werden, daß damals von Schuld auf deutscher Seite, und sei es auch nur Schuld durch Nicht-tätig-Werden, nicht die Rede sein kann. Ich darf folgendes in Erinnerung rufen.
Jeder, der damals im Zusammenhang mit Berlin Politik gemacht hat, weiß, daß die Alliierten immer Wert darauf gelegt haben, daß Berlin seinen besonderen Status behält und daß dieser Status nicht durch eigenständige deutsche Aktivität beeinträchtigt wird. Die Alliierten haben diesen Standpunkt vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Blockade bezogen, und wir haben mittlerweile alle gelernt - nicht nur in der Zeit des Chruschtschow-Ultimatums, sondern wir erleben es ja auch jetzt -, daß es richtig war, auch wenn es den Deutschen, die damals Politik machten, nicht gefallen haben mochte und nicht gefallen hat, sich diesem Wunsch der Alliierten, die Zuordnung Berlins zur Bundesrepublik nicht im vollen Sinne des Grund5072
Dr. Gradl
gesetzes zu vollziehen, zu fügen. Dies war Realismus, den man damals üben mußte. Heute sind wir froh, daß wir diese gemeinsame Basis mit den Alliierten haben.
Zugleich aber hat sich dieser Realismus nicht darauf beschränkt, in der Statusfrage zurückhaltend zu sein. Sondern die, die damals die deutsche Verantwortung hatten, sind es gewesen, die die Sicherheit Berlins zusätzlich durch die Verpflichtungen des Deutschland-Vertrages gewährleistet haben. Und alle gemeinsam - Sie und wir - haben dazu beigetragen, daß Berlin seine erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung nehmen konnte. Damals auch sind alle diese politischen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik, um deren Bewahrung wir heute so zäh ringen müssen, entwickelt worden. Ich meine also, man sollte die alten Streitfragen nicht hervorziehen. Das führt uns nicht weiter. Und so, wie es heute anklang, war es eben falsch.
Meine Damen und Herren, mir ist die Aufgabe zuteil geworden, politisch einiges zu den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971 zu sagen, die uns von der Bundesregierung vorgelegt worden sind. Es handelt sich um nahezu 400 Seiten. Man kann sich natürlich nicht in wenigen Tagen ein abschließendes Urteil bilden, ganz abgesehen von der Fülle der Einzelheiten. Ich will aber sagen, im ganzen ist der Bericht eine Arbeit, die zwar politische Kritik braucht - diese werde ich nachher bringen -, die aber doch viel Information über das gespaltene Deutschland zusammenfaßt und in einer sehr übersichtlichen Weise darstellt, wenn Sie so wollen, in einer Art Lexikon. Allerdings, wenn man dieses Wort sagt, stutzt man schon, denn dies ist ein Lexikon besonderer Art, dies ist ein Lexikon, wie es kein Land in Europa sonst braucht,
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dies ist ein Lexikon der deutschen Zerrissenheit, ein Lexikon der deutschen Spaltung.
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In diesen Materialien erscheint Deutschland in einer höchst sinnfälligen Weise als ein gesellschaftspolitisches Experimentierfeld, das es ja tatsächlich leider ist. Hier stellt sich dar, wie unser Volk gezwungen ist, sozusagen am eigenen Leibe zu erproben, wie zwei völlig entgegengesetzte gesellschaftspolitische Systeme funktionieren. Ich meine, da muß man doch wohl hinzufügen und hätte man in diesem Bericht in der Einleitung sagen sollen - ablassend von politischer Zurückhaltung, die wenigstens im Vorwort nicht in dem Maße am Platze war, wie sie geübt worden ist -, daß diese Deutschen dieses Experimentierfeld nicht sein wollten und daß am wenigsten die 17 Millionen auf der anderen Seite die Rolle des Experimentierfeldes für das kommunistische Modell übernehmen wollten.
Sagen Sie nicht, daß diese Materialien das eine sind und politische Aussagen das andere! Dieser Bericht bekommt sein Eigenleben; die Materialien gehen als solche in die Welt hinaus und werden unabhängig von allem anderen gelesen. Daraus entstehen Eindrücke, und da hätte man vorsorgen sollen. Es gibt noch andere Beispiele. Ich werde noch
einige nennen, damit die rechte politische Wertung im Sinne freiheitlicher deutscher Demokratie deutlich wird. Sie ist um so mehr nötig, wenn man meint, aus Gründen politischer Räson ständig von zwei deutschen Staaten reden zu sollen. Der Bericht tut das in einer geradezu penetranten Weise, so, als ob er beinahe jede Möglichkeit gesucht hat, nicht in irgendeine der anderen, durchaus möglichen und ehrenhaften Bezeichnungen auszuweichen. Das ist eines der Beispiele dafür, wie mit diesem scheinbar von politischer Wertung freigehaltenen Bericht dennoch Politik versucht wird, indem man systematisch eine bestimmte politische Auffassung stetig zu träufeln sucht.
In die Einleitung und das Vorwort dieses Berichtes hätte dann eben auch wenigstens ein Wort hineingehört, um zu sagen, daß am Anfang dieser Entwicklung, die so nebenher ein Lexikon der deutschen Spaltung zur Folge hat, am Anfang der DDR eben Täuschung und Zwang gestanden haben. Damit dies wenigstens an einem Beispiel demonstriert wird, will ich daran erinnern, daß im Gründungsaufruf der KPD vom 11. Juli 1945 zu lesen war:
Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre; denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.
Das ist ein Beispiel für viele Täuschungen aus jener Zeit. Die Tinte war noch nicht trocken, da begann man schon mit der Sowjetisierung.
Ich habe gesagt: Täuschung u n d Zwang. Zwang - ich will das jetzt nicht vertiefen; aber lesen Sie einmal die Rede nach, die Ulbricht zur Vorbereitung der 25-Jahr-Feier des sogenannten Vereinigungsparteitages gehalten hat. Da lobt er die Besatzungsmacht in einer überströmenden Weise, und jeder, der es damals erlebt hat, weiß, warum.
Dies, meine Damen und Herren, sind die Geburtshelfer der DDR, dies sind die Urmängel, von denen sie bis auf den heutigen Tag nicht mehr freigekommen ist. Sie ist zwar eine Realität, aber keine gesunde, sondern eine kranke Realität, eine Realität, die Absperrung und Isolierung braucht, um bestehen und sich behaupten zu können. Dies - heute ist ja von den Ursachen dieser deutschen Situation gesprochen worden - sind mit, natürlich nicht allein, aber mit die eigentlichen Ursachen der deutschen Misere und der permanenten Spannung in der Mitte Europas.
Eine anderes Thema: Schwergewicht des Berichts ist der Vergleich der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands. Wer die Berichte des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung und die Berichte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin regelmäßig verfolgt, der wird von den hauptsächlichen Erkenntnissen, die der Text vermittelt, nicht überrascht sein. Natürlich bedarf diese Fülle von Auskünften in den Materialien auch ihrer sorgfältigen Überlegung; aber man kann sagen, das Bemühen um zuverlässige Aussage ist unverkennbar, und für die Ausschüsse dieses Hohen Hauses wird es sicher
Dr. Gradl
geraten sein, sich mit diesen Materialien und ihren Aussagen zu befassen. Für uns hier ist das Gesamtergebnis entscheidend, und dieses Gesamtergebnis ist für die Bundesrepublik eindeutig positiv.
Nur ein paar Daten zur Verdeutlichung! Der Bericht sagt über die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität, daß sie im Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche in der Bundesrepublik um rund die Hälfte höher sein dürfte als in der DDR. Er sagt, daß die Ausnutzung des Produktionspotentials, bezogen also auf bei vollem Einsatz von Arbeit und Kapital zu erzielende Produktion, in der Bundesrepublik 91 %, in der DDR 80 % beträgt. Ein bemerkenswerter Vergleich, wenn man bedenkt, daß der Sinn der Planwirtschaft eigentlich ist, eine möglichst vollständige Ausnutzung der jeweiligen Apparatur zu erreichen. Oder eine Aussage des Berichtes -: Infolge stärkerer Rationalisierung des Energieeinsatzes in der Bundesrepublik war hier der industrielle Eigenverbrauch, auf die Produktionseinheit bezogen, um etwa 20 % unter der der DDR. Eine der Erklärungen für die permanente Energiekrise, die drüben besteht. Oder der Wohnungsbau von 1950 bis 1968: in der Bundesrepublik je Einwohner dreimal so hoch wie in der DDR, von den Wohnungsqualitäten ganz zu schweigen. Der Abstand der sogenannten Realeinkommen der Arbeitnehmerhaushalte in der DDR von den Arbeitnehmerhaushalten in der Bundesrepublik: rund 45 °/o. Der Bericht faßt zusammen - damit will ich diese Kurzdarstellung des Gesamtvergleichs auch gleich schließen -:
Von 1960 bis 1969 ist das Wachstum des privaten Verbrauchs und der Ersparnisse in der Bundesrepublik stärker gewesen als in der DDR. Der Abstand im Lebensstandard . . . hat sich weiter vergrößert.
Dies, meine Damen und Herren, ist also das Ergebnis eines objektiven Vergleichs zwischen den beiden Teilen.
Nun muß ich sagen, dies gehört wieder zu dem Kapitel „politische Verdeutlichung", die mir in den „Materialien" fehlt. Ich hätte gewünscht, und es wäre sicherlich dienlich für alle die gewesen, die dieses Material mal in die Hand nehmen sollen, wenn man ihnen einen Hinweis gegeben hätte, daß es hier nicht nur um Zahlenvergleiche geht, daß hier vielmehr die größere Leistungsfähigkeit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Sinne der freiheitlichen Demokratie und der Marktwirtschaft deutlich wird
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und daß sich hierin eben ein großer Erfolg von 20 Jahren Bundesrepublik verdeutlicht.
Jedermann von uns weiß, Zahlen und Fachaussagen machen noch nicht die Wirklichkeit voll lebendig. Ich will deshalb an ein paar Beispielen - wieder nur an ein paar Beispielen - die Wirklichkeit der DDR selbst sprechen lassen. Damit man nicht den Vorwurf antikommunistischer Verfälschung erheben kann, wähle ich nur Aussagen der anderen Seite, zitiert nach dem „Neuen Deutschland", gemacht bei den mehrtägigen Beratungen über die wirtschaftliche Situation im Dezember vergangenen Jahres. Da sieht es dann so aus - Dutzende von Zitaten könnte man anbringen -, daß es das Problem des Kaufkraftüberhangs, das uns beschäftigt, offensichtlich auch in der zentralistischen Planwirtschaft der DDR gibt, wo es so etwas eigentlich ja nicht geben sollte. Herr Schürer vom ZK der SED sagt dazu:
Gleichzeitig bestehen Probleme in der Struktur und im Sortiment der Warenfonds und auch im Tempo der Entwicklung der Warenfonds im Verhältnis zum Wachstum der Kaufkraft, die schrittweise gelöst werden müssen.
Herr Stoph äußerte sich am 11. Dezember genauso. Über die Schwierigkeiten der bürokratischen Vollplanung äußert sich Herr Schürer:
Die Analyse der Durchführung von Investitionen hat eindeutig ergeben, daß wir Effektivitäts- und damit auch Zeitverluste dadurch erleiden, daß zu viele Investitionen nebeneinander, mit zu langer Zeitdauer und ungenügender Vorbereitung durchgeführt werden und die unvollendeten Investitionen wachsen.
Oder über die Versorgungslücken - Paul Verner, Mitglied des Politbüros -:
Gegenwärtig gibt es bei einer Reihe wichtiger Erzeugnisse noch ernste Versorgungslücken. Das betrifft z. B. warme Unterbekleidung, Trainingsbekleidung, Arbeits- und Berufsbekleidung, winterfestes Schuhwerk, Hausschuhe, Öfen und Herde, Wintersportgeräte, Batterien, Anbaumöbel, Handwerkszeuge, Bügeleisen, Pionier-Füllhalter und Kugelschreiber."
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Und Ernst Wolf, Mitglied des ZK, fügt hinzu: Aber
ich verstehe nicht, daß es keine Gummistiefel gibt.
Offenbar ist man soweit, daß man sich drüben offen mit der Frage auseinandersetzen muß, ob dieses System, das man in der DDR eingeführt und entwickelt hat, eigentlich den Ansprüchen der modernen Industriegesellschaft wirklich genügt. Nehmen Sie Paul Verner nach „Neues Deutschland" vom 10. Dezember:
Nun gibt es einige Genossen, darunter Wirtschaftsfunktionäre, die die Ansicht vertreten, das ökonomische System habe sich nicht bewährt.
Und Herr Stoph greift dieselbe Frage am nächsten Tage auf: Ob die Wirksamkeit des ökonomischen Systems des Sozialismus ausreicht, die komplizierten volkswirtschaftlichen Prozesse zu beherrschen, diese Frage hätten Genossen gestellt.
Dies ist die Wirklichkeit, die hinter den Zahlen steht und die man mit einbeziehen muß, wenn man auf Grund von Materialien beurteilen will, wie sich die Situation im Vergleich darstellt. Ich sage das weiß Gott nicht mit hämischer Genugtuung. Denn das ist ja eben die wirtschaftliche Wirklichkeit, mit der sich 17 Millionen Deutsche drüben herumplagen müssen. Nur fragt man sich natürlich auch - ich greife auf, was der Kollege Mischnick heute morgen gesagt hat -: Diese 17 Millionen drüben sind ja
Dr. Gradl
nicht etwa weniger tüchtig und fleißig und geschickt als die Millionen Deutsche hier; was hätten sie wohl für sich und für das Ganze erreicht, wenn sie die Möglichkeiten der freien Eigenverantwortung und Eigenleistung gehabt hätten, die bei uns gegeben waren?
Die politische Darstellung in den Materialien ist im wesentlichen auf das erste Kapitel beschränkt. Da werden die beiden Teile Deutschlands einmal in ihrem Verhältnis zur Welt und zum anderen in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt. Im Verhältnis zur Welt ist es nicht viel mehr als eine Quellensammlung. Da fällt eigentlich mehr auf, was nicht gesagt ist, als das, was gesagt ist. Mir ist z. B. folgendes aufgefallen. Man zitiert zwar völlig korrekt, man weist auf den Deutschland-Vertrag, auf die Londoner Schlußakte und all diese Dinge hin; aber vergebens - ich habe es jedenfalls nicht gefunden - sucht man in diesem Zusammenhang nach jener Aussage der Drei Mächte - die ja auch in Verbindung mit den Londoner Erklärungen steht -, derzufolge - wörtlich - die Westmächte die Bundesregierung als die einzige deutsche frei und rechtmäßig gebildete und daher für Deutschland als Vertreter des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen befugte Regierung betrachten.
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Warum eigentlich nicht zitiert? Wenn sich jemand an Hand der Materialien informieren wollte, woher der völlig abwegige Vorwurf der „Alleinvertretungsanmaßung" kommt, hier könnte er zur Quelle durchstoßen - und zu schämen brauchen wir uns doch dieser Bewertung der Bundesrepublik nicht.
({5}) Heute vormittag hat der Kollege Apel
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gemeint, Herr Barzel habe die Bundesregierung mit den Vorgängen in Guinea in eine Verbindung gebracht, die den Eindruck erwecken soll oder erweckt hat, die Bundesregierung sei schuld an Vorgängen, die wir alle bedauern, die besonders unsere Landsleute in Guinea betreffen. Das, was im ersten Kapitel des Berichts über das Verhältnis zur Dritten Welt steht, veranlaßt mich, einen Augenblick darauf einzugehen. In dem Bericht wird über die Aktivitäten beider Teile Deutschlands in der Dritten Welt gesagt, die DDR sei in ihrer ganzen Entwicklungspolitik bestimmt - das darf ich jetzt einmal kurzgefaßt sagen - durch das Primat des Strebens nach völkerrechtlicher Anerkennung. Nun, dies wissen alle. Aber dann kommt ein Zusatz: „Gegen die Bundesrepublik wird oft direkt oder indirekt politisch-ideologisch polemisiert." Dies ist sehr verhalten gesagt. Die Autoren konnten natürlich nicht wissen, was nachher geschehen ist. In Guinea wird nun durch die Wirklichkeit verdeutlicht, wie die Bundesrepublik diffamiert und wie gegen sie gehetzt wird.
Herr Kollege Apel, in diesem Zusammenhang hat Herr Barzel gesagt und dies nach meiner Meinung völlig unzweideutig zum Ausdruck gebracht: Das, was wir in Guinea bezüglich der Aktivität der DDR an Ort und Stelle und der Konsequenzen dieser Aktivität erlebt haben, sollte uns und vor allen Dingen die Regierung mahnen, vorsichtig zu sein, wenn der DDR Zugang zu internationalen Organisationen und Institutionen verschafft werden soll.
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Das, was in Guinea offenbar geworden ist, gibt uns einen Vorgeschmack davon, was wir an giftigen deutschen Auseinandersetzungen auf der Weltbühne zu erwarten haben - an denen wir dann sicher nicht schuld sein werden -, wenn dieses Ost-Berlin von heute Zugang zu internationalen Organisationen und zu fremden Hauptstädten haben sollte.
Deswegen darf ich in diesem Zusammenhang die Regierung daran erinnern, daß der Punkt, der sich auf die Hereinnahme der DDR in internationale Institutionen, z. B. in die UN, oder auf die Mithilfe dazu bezieht, der letzte der 20 Kasseler Punkte ist. Das heißt, daß 19 Punkte vorher anständig geregelt werden müssen. Das heißt, daß es eben nicht mehr dieses Ost-Berlin sein darf, das wir z. B. in Guinea in seiner Aktivität erlebt haben. Wir werden darauf bestehen, daß die Bundesregierung an dieser Reihenfolge festhält.
Meine Damen und Herren, ein Abschnitt in diesen Materialien heißt: Verhältnis zueinander. Hier gibt es interessante Hinweise und Darstellungen, z. B. über das stete Wachsen des innerdeutschen Handels, Der innerdeutsche Handel ist im vergangenen Jahr tatsächlich auf 4,5 Milliarden DM gewachsen. Aber hinsichtlich des Austauschs sieht es doch so aus, daß die DDR für 400 Millionen DM weniger geliefert hat als wir. Wenn man nun hinzunimmt, daß die Nettoverschuldung der DDR im Interzonenhandel - niedrig gerechnet - etwa 1,5 Milliarden DM beträgt, dann bekommt dieser Interzonenhandel schon sein eigenes Gesicht. Es wird nämlich deutlich, daß der Anstieg nicht so sehr die Folge eines vernünftigeren Verhaltens der anderen Seite ist, die sich nunmehr bemüht, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß zwei ursprünglich zusammengehörige Teile wieder anfangen, normal miteinander umzugehen, sondern daß er die Folge finanzieller Vorleistungen der Bundesrepublik ist. Ich könnte dazu eine Kette von etwa 30 Einzelmaßnahmen aufzeigen,
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eine Kette jedenfalls von mehr als zwei Dutzend Maßnahmen, die die Bundesregierung - nicht erst jetzt diese Regierung - seit 1967 getroffen hat, um von unserer Seite aus den innerdeutschen Handel etwas weiterzubringen. Wie man in den „Materialien" zu dem Ergebnis kommen kann, daß sich die innerdeutschen Handelsbeziehungen auf dem Wege zu einer Normalisierung befinden, verstehe ich deshalb nicht ganz.
Aber ich will keinen Irrtum aufkommen lassen. Ich polemisiere nicht dagegen und keiner meiner Freunde wird in diesem Zusammenhang dagegen polemisieren, daß sich die Bundesregierung mit unser aller Zustimmung darum bemüht, den innerdeutschen Handel zu entwickeln. Er ist ja ein Rest von deutscher Wirtschaftseinheit. Vielleicht - wer
Dr. Gradl
weiß das? - entwickeln sich daraus einmal einige Ansätze und Antriebe für eine allmähliche Wiederherstellung des natürlichen Zusammenhangs.
Aber, meine Damen und Herren, eine Frage wird man wohl an die andere Seite stellen dürfen, die nämlich, wo denn nun eigentlich ein entsprechendes Verhalten der anderen Seite bleibt. Wo bleibt eine positive Antwort darauf, daß wir der DDR - trotz aller Gegensätze - im Ergebnis eine permanente beachtliche wirtschaftliche und finanzielle Hilfe geben, daß wir ihr bei der Überwindung ihrer Planrückstände und sonstigen Schwierigkeiten helfen, daß wir ihr Zugang zu modernen technischen Apparaturen erleichtern, daß die andere Seite durch uns - weil wir uns mit ihr trotz allem in deutscher Einheit verbunden fühlen - Zugang zum EWG-Bereich hat und am EWG-Nutzen teilnimmt? Wenn man das alles miteinander sieht, dann ist die Frage wohl verständlich und erlaubt: Wo eigentlich bleibt wenigstens eine Änderung im politischen Umgangston der anderen Seite?
Noch ein paar Bemerkungen zu dem Abschnitt der Materialien, der die Überschrift trägt „Sonstige Kontakte". Das ist eigentlich der Teil, in dem alle die Dinge zusammengefaßt sind, die in der gespaltenen Nation bzw. - eben weil es die Spaltung gibt - den Menschen dieser Nation besonders wehtun.
Herr Barzel hatte heute vormittag auf die Postverhältnisse hingewiesen. Ich habe einmal nachgesehen - das zuständige Ministerium hatte uns im Ausschuß darüber informiert -, wie es mit den 74 Fernmeldeleitungen ist im Verhältnis zu dem Fernsprechnetz, das wir ansonsten haben. 74 - und das ist schon ein Fortschritt - haben wir zwischen den beiden Teilen Deutschlands, mit Belgien haben wir 674; mit Österreich haben wir 823, obwohl die Bevölkerungszahl wesentlich geringer ist als in der DDR. Wir können mit allen möglichen Ländern, wir können mit New York und sonstwohin automatisch im Selbstwählverkehr sprechen. In der DDR jedoch gibt es - der Kontrolle halber oder aus noch anderen Gründen - nur handvermittelte Leitungen.
„Sonstige Kontakte" - lakonische Mitteilung in den Materialien: „keine Neubelebung der kulturellen Kontakte" 1969/70, „Rückgang der Begegnungen" im innerdeutschen Sportverkehr. Die Zahlen sind schon so klein, daß man denkt, es sei ein Druckfehler: 1969 noch 57 Begegnungen, 1970 im ersten Halbjahr 10 Begegnungen.
Und dann der Abschnitt über den Reiseverkehr. Das ist eigentlich das bitterste Kapitel. Da steht zu „Rentner-Reisen", was wir wissen: nur ältere und frühinvalide Bürger aus der DDR hatten eine eingeschränkte Möglichkeit, in die Bundesrepublik zu reisen; zirka eine Million. Und in die andere Richtung - Stichwort Reisen in die DDR aus der Bundesrepublik -: nicht viel mehr als umgekehrt Rentner, also auch eine Million. Jeder von uns weiß, daß die Deutschen dutzendmillionenfach in die anderen Nachbarländer fahren können. Auch das ist deutsche Realität. Wenn irgendwo eine Vermenschlichung dringend wäre, dann hier. Ich meine, die Vorstellung ist eigentlich unerträglich, daß es weiterhin unbegrenzt so bleiben soll, daß DDR-Bewohner über 60 Jahre alt werden müssen, um einmal an den Rhein oder in die Alpen fahren zu können.
Offenbar hat man auf der anderen Seite die Sorge, die Menschen liefen davon. Aber in Wirklichkeit ist doch - diese Zahl steht nun wieder nicht in dem Bericht; ich habe sie jedenfalls nicht gefunden - die Zahl der Rentner, die in der Bundesrepublik bleiben, minimal; es sind wenige Promille. Warum? - Weil niemand, der seine Umwelt und seinen Patz im Leben gefunden hat, die vertraute Umgebung, die Arbeitskollegen, die Freunde, die Gräber der Eltern gern verläßt. Ich glaube, daß das auch bei den 40-und 50jährigen nicht anders wäre; denn die haben ja auch schon ihren Platz im Leben gefunden und geschaffen. Selbst unter diesem Gesichtspunkt gibt es also keine Rechtfertigung für die jetzige, praktisch totale Blockierung der menschlichen Begegnungen durch die andere Seite.
Meine Damen und Herren, vor diesem trüben Hintergrund und angesichts des Moskauer Vertrages gewinnt die Frage nach dem künftigen innerdeutschen Verhältnis ihre besondere Bedeutung. Es ist die Frage nach deutscher Normalisierung.
Der Herr Bundeskanzler hat heute in einer kurzen Intervention eine zugespitze Bemerkung etwa des Inhalts gemacht, unsere Haltung - die der Opposition - erschöpfe sich in dieser Frage darin, bei den Verträgen und alledem erst mitzuwirken, wenn die DDR abgeschafft sei. Herr Apel hat dann seinerseits gesagt, wir seien dabei, uns mit diesem Beharren auf innerdeutschen Fortschritten ein Alibi gegen die Verträge zu verschaffen. Andere bei Ihnen haben von Hürden gesprochen, die wir uns aufbauten. Ich will dazu nur klarstellend sagen: wir sind doch keine Illusionisten in der Beurteilung des Verhaltens der anderen Seite. Wir wissen doch auch, daß die andere Seite Angst hat vor einer allzu starken Auflockerung, daß sie Sorge hat um das, was sie Stabilisierungsprozeß in ihrem Bereich nennt. Wir wissen doch, daß, wenn man Fortschritte im innerdeutschen Verhältnis machen will, dies eben - ob es uns gefällt oder nicht - leider nur möglich ist auf der Basis des jetzigen fundamentalen, derzeit unüberwindbaren politischen Gegensatzes. Dies wissen wir alles. Aber wir hängen uns - und dies, meine ich, ist unser gutes Recht - an ein Kernwort des Moskauer Vertrages. Dieses Kernwort des Moskauer Vertrages heißt „Normalisierung", und wir meinen. Normalisierung kann in der Mitte Europas überhaupt nicht entstehen, solange der Zustand menschlicher und sachlicher Isolierung und Absperrung der anderen Seite so bleibt, wie er ist, solange dieser Zustand diktierter Feindseligkeit bleibt. Wenn man aber Normalisierung will, muß man, so meinen wir, eben darauf bestehen - und wir werden das als Opposition tun -, daß im innerdeutschen Verhältnis ein überzeugender Anfang gemacht wird.
Dies meinen wir, wenn wir sagen: nicht nur Berlin. Ich als Berliner stehe nicht im Verdacht, die Bedeutung Berlins zu unterschätzen. Wenn wir sagen: nicht nur befriedigende Berlin-Regelung, sondern
Dr. Gradl
auch im innerdeutschen Verhältnis überzeugende Ansätze und Fortschritte, dann meinen wir die Normalisierung in dem Sinne, wie sie in dem Moskauer Vertrag verstanden werden muß, wenn er einen Sinn haben soll - und es ist doch bescheiden, was wir verlangen -, nämlich Normalisierung durch Menschlichkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wienand.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal bei dem ersten Redner der Opposition, Herrn Dr. Barzel, anknüpfen und, nachdem ich über Mittag Gelegenheit hatte, seine Rede, die mir im Rahmen der Darstellung heute morgen nicht in allen Punkten klargeworden war, nachzulesen, doch auf einige Punkte eingehen, die nach meinem Dafürhalten sehr wohl geeignet sind, hier unterschwellig etwas weiterzuführen, was in letzter Zeit - nicht unterschwellig, sondern sehr deutlich - von anderen prominenten Rednern der Opposition teilweise in einem Vokabular draußen gesagt worden ist, das zumindest, wenn es hier ins Haus gebracht würde, unsere Zusammenarbeit und auch die Auseinandersetzungen ganz erheblich erschweren würde.
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- Ich denke an Herrn Kiesinger, der von der „Hege) monie" sprach und von anderen, die „die Politik der Russen erfüllen".
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Ich darf deshalb auf Seite 2 der ausgedruckten Rede verweisen, die Herr Dr. Barzel gehalten hat und die mir schriftlich vorliegt. Er stellt dort wörtlich die Frage:
Haben Sie nicht früher selbst z. B. eine europäische Sicherheitskonferenz für sinnlos gehalten - sind dies nicht Ihre Worte? -, solange die Dinge in Deutschland zwischen seinen Teilen und für die Deutschen nicht in Ordnung sind?
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherr von Guttenberg?
Herr Kollege Wienand, würden Sie so freundlich sein, zu verdeutlichen, in welcher Weise die Äußerung des früheren Bundeskanzlers Kiesinger, der von der Gefahr einer Hegemonie der Sowjetunion in Europa gesprochen hat, die Auseinandersetzungen in diesem Hause belasten könnte?
In dem Zusammenhang, wie er es auf einem Parteitag in Baden oder Südbaden dargestellt hat, in dem er zum Ausdruck brachte, daß diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien bereit seien, diese Politik mitzumachen, und damit diese in den Geruch brachte, als seien wir Willensvollstrecker anderer und als würden wir hier keine deutsche, unseren Interessen dienende Politik betreiben.
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Ich darf zu dem Zitat zurückkehren. Herr Dr. Barzel hat dann weiter gefragt:
Wollen Sie nun wirklich die Rivalität zweier Unversöhnlichkeiten in Deutschland auf einer europäischen Sicherheitskonferenz oder in der UNO auch noch institutionalisieren und zementieren, Herr Bundeskanzler?
Jeder Satz eine Frage! Was schwingt da mit? Zunächst einmal dies, daß man hier nicht von einem eigenen Konzept spricht, das ja ohne Frage über Jahrzehnte in der Politik versucht wurde, das uns aber weder einer europäischen Sicherheitskonferenz noch der Lösung dieser Frage näher gebracht hat. Ohne Frage schwingt weiter auch mit, als wolle man jetzt Bewährtes, auf dem unsere Sicherheit gründet, wie später von Ihnen gesagt wurde, verlassen, indem man nicht ohne Hast, aber ohne Rast weiter Politik betreibt, und als sei man, wie es in der Rede dann weiter hieß, im Zwang oder im Zug der Schlagzeilen.
Ich sagte, daß das geeignet ist, alles weiterzuführen. Dazu muß ich aber darauf hinweisen, daß hier eine Bundesregierung ein in sich geschlossenes Konzept angeboten hat. Dieses Konzept wurde in dem Zusammenhang, wie er hier angesprochen worden ist, auch der Öffentlichkeit, auch den anderen zur Diskussion gestellt, am konkretesten wohl mit den 20 Punkten von Kassel. Bis heute haben wir hier nicht eine andere konzeptionelle Darstellung erlebt, sondern nebulos herangeholte Argumente, die dann unter Bezugnahme auf Angebliches, in Wirklichkeit nicht Vorhandenes bei den Alliierten nicht mit getragen und gestützt würden, als würde von daher unsere Sicherheit in Frage gestellt, für die in der Bundesrepublik ja angeblich bisher nur eine Partei Garant gewesen sei.
Ich halte das nicht für eine gute Sache und möchte deshalb heute an dieser Stelle die Meinung aussprechen, daß die deutsche Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, zu erfahren, ob das Konzept „Sicherheit durch Entspannung" einen eigenwilligen Alleingang dieser Bundesregierung und der sie tragenden Parteien darstellt oder ob diese Sicherheitspolitik derjenigen unserer NATO-Verbündeten entspricht, nämlich in vollem Einklang mit ihnen betrieben wird.
Dazu ist es, meine Damen und Herren, erforderlich, sich die Entwicklung und die tiefgreifende Wandlung der nordatlantischen Allianz vor Augen zu halten. Zweifellos war ein wesentliches Motiv für ihre Gründung, der stalinistischen Außenpolitik entgegenzuwirken, dem damaligen sowjetischen Expansionismus Einhalt zu gebieten. Nach Ausbruch des Korea-Krieges kam es so bewußt und notwendigerweise zu einer Strategie und Rüstung gegen die Sowjetunion, wie es damals auch hier im Hause formuliert wurde.
Dabei, meine Damen und Herren von der Opposition, ist es jedoch nicht geblieben. Heute ist dies die Geschichte gewordene Anfangsphase der NATO, der jedoch gewisse deutsche Sicherheitsexperten noch immer verhaftet sind. Sie wollen und können vielleicht auch nicht zur Kenntnis nehmen, daß zwischen 1945 und 1965 drei militärtechnische Revolutionen stattgefunden haben, die entscheidende sicherheitspolitische Auswirkungen haben mußten und hatten. So führte erstens der Zuwachs an Kampfkraft durch thermonukleare Waffen zum weitgehenden, wenn nicht endgültigen Verlust der zivilen Sicherheit. Die neuen Waffen haben die Rüstungskraft millionenfach erhöht und machen im Kriege erstmalig jede Trennung von Kombattanten und Nichtkombattanten, von Kulturgütern und Rüstungszentren technisch unmöglich.
So führte zweitens der Zuwachs an Reichweite durch Interkontinental- und U-Boot-Raketen zum Verlust der geographisch bedingten Sicherheit. Heute erreichen Raketen in kurzer Zeit jeden beliebigen Punkt dieser Erde und lassen erstmalig jede prinzipielle Unterscheidung zwischen geographisch gefährdeten und nicht gefährdeten Gebieten illusorisch, ja, wie viele meinen, unmöglich erscheinen.
Drittens führte der Zuwachs an Vergeltungskraft durch die beiderseits bestehenden, im zweiten Schlag einzusetzenden Kapazitäten zum Verlust der autonom bestimmten Sicherheit. Sowohl die NATO als auch der Warschauer Pakt können heute noch Teile ihres Militärpotentials vor einem Überraschungsangriff schützen und mit diesen Teilen einen zweiten Schlag ausführen, der für den Angreifer verheerende Folgen hat. Solange die beiderseitige Vergeltungsfähigkeit unverwundbar bleibt und sämtliche Schutzvorkehrungen des Gegners durchdringt, liegt die eigene Sicherheit mit in der Hand des potentiellen Gegners - und wir sollten uns das merken, weil hier eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis dessen liegt, was heute an Politik betrieben werden muß -: Beabsichtigt er, einen Teil dieser Erde oder gar den ganzen Globus unbewohnbar zu machen - was technisch möglich ist -, könnten erstmalig alle militärischen Gegenmaßnahmen präventiver oder vergeltender Art wirkungslos bleiben.
Aus diesen drei militärtechnischen Umwälzungen folgt: Sicherheit ist weder für eine Weltmacht noch für ein Bündnis durch Streitkräfte allein aufrechtzuerhalten. Jede sicherheitspolitische Souveränität ist fiktiv geworden. Die waffentechnologische Entwicklung hat dazu geführt und wird verstärkt dazu führen, daß heute, - anders als bei der Gründung der NATO - trotz aller Gegensätze und Divergenzen vitale Interessenausgleichsgemeinschaften zwischen den Staaten und Bündnissen bestehen bzw. entstehen oder sich entwickeln. Sie reichen von der Verhinderung des großen Krieges bis zur Verminderung der Rüstungslasten. Die Kuba-Krise und ihre nichtkriegerische Beilegung haben uns die Interessenparallelität der Weltmächte vor Augen geführt. Atomar gerüstete Staaten und Pakte können ihre militärischen Mittel nur unter der Gefahr der eigenen Vernichtung gegeneinander gebrauchen.
Diese Erkenntnis hat im vergangenen Jahrzehnt zu einem doppelten Wandel in unserer Sicherheitspolitik geführt: militärisch von der Strategie der massiven Vergeltung zur Strategie der flexiblen Antwort; politisch von einer Strategie gegen das andere Bündnis zu einer Strategie gegen den Krieg. Politisch sehr bewußt und logisch spricht deshalb Helmut Schmidt als der erste sozialdemokratische Verteidigungsminister der Bundesrepublik von der Notwendigkeit einer Kriegsverhinderungsstrategie; denn er meint und sagt - in Übereinstimmung mit seinen NATO-Kollegen -:
Tatsächlich ist Strategie heute weitgehend zu
der Kunst geworden ist, Kriege zu vermeiden.
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Der Unterhalt gegeneinander ausgewogener Streitkräfte steht im Dienst dieser Aufgabe, reicht aber allein nicht aus. Die NATO hat deshalb auf Anregung des belgischen Außenministers 1967 über ihre künftigen Aufgaben nachgedacht. Mit der Annahme des nach seinem Initiator behandelten Harmel-Berichtes haben die Regierungen der 15 NATO-Länder im Dezember 1967, also noch zur Zeit der Großen Koalition, eine wesentliche Ausweitung der politischen Aufgaben der Allianz beschlossen.
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Marx?
Bitte sehr!
Herr Kollege Wienand, wären Sie bereit, mir zu versprechen, daß Sie frühere Bundestagsdebatten nachlesen, auch die Äußerungen früherer, nicht sozialdemokratischer Verteidigungsminister, deren klares und eindeutiges Konzept es war, für die Bundeswehr und für die NATO eine Kriegsverhinderungsstrategie zu entwickeln und gemeinsam durchzusetzen?
Ich habe das sehr wohl zur Kenntnis genommen, habe nur das Gefühl, daß das heute nicht mehr in der Erinnerung der Opposition ist. Sonst könnte sie die Politik, die gemacht worden ist, nicht bekämpfen.
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Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Herr Kollege Wienand, können wir uns zumindest auf den Satz verständigen, daß wir in diesem Sektor versuchen sollten, nicht Gefühle, sondern Tatsachen zu artikulieren?
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Ich halte mich hier nur an die Tatsachen und an die Fakten, während andere draußen an Gefühle appellieren; das erschwert die ganze Auseinandersetzung.
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Diese hat seit der Zeit, zu der Gerhard Schröder das deutsche Verteidigungsressort verwaltete, zwei Hauptfunktionen:
- Sie sehen, ich komme schon selbst auf das, was Sie ansprechen wollten, Herr Kollege Dr. Marx -neben der traditionellen Aufgabe, durch ausreichende militärische Stärke gegenüber Aggressionen abschreckend zu wirken, als neue Aufgabe die Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhaftere Beziehungen zu Osteuropa.
So zusammengefaßt die beiden Hauptaufgaben zur Zeit Gerhard Schröders.
Wörtlich stellt sich die Allianz die neue Aufgabe:
Jeder Bündnispartner sollte an der Förderung besserer Beziehungen zur Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten in vollem Maße mitwirken. Mit ihnen gemeinsam sollen friedliche Regelungen erarbeitet werden. Der Weg zu Frieden und Stabilität
- darin sind die Regierungen der NATO-Staaten seit 1967 einig -beruht vor allem auf dem konstruktiven Einsatz der Allianz im Interesse der Entspannung.
Soweit das ganze Zitat und nicht nur ein Satz, der paßt, wenn man dies oder jenes darstellen will.
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Es ist also nicht eine durch die Regierung Brandt/ Scheel herbeigeführte Aufweichung unserer sicherheitspolitischen Basis, sondern ein inzwischen drei Jahre alter NATO-Grundsatz, daß militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung darstellen.
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Der Harmel-Bericht von 1967 geht in seinen sicherheitspolitischen Grundvorstellungen sogar weiter als Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969.
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- Ich komme auch darauf. Man kann ja nur ein Wort hinter dem anderen sagen und nicht alles so sprunghaft darstellen, wie es draußen gelegentlich geschieht, damit die Verwirrung größer wird.
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Der Bundeskanzler spricht in seiner Regierungserklärung zwar auch von den beiden Seiten der Sicherheitspolitik, versteht darunter aber unsere Bemühungen erstens um Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle und zweitens um Gewährleistung ausreichender Verteidigung der Bundesrepublik. Erst das Weißbuch 1970 der Bundesregierung stellt als notwendige Ergänzung neben die Sicherheit durch Abschreckung die zusätzliche Sicherheit durch Spannungsabbau. Es ist daher nur konsequent und logisch, wenn die Materialien zum heutigen Bericht zur Lage der Nation diese Grundsätze zusammenfassen und unsere Sicherheitspolitik nunmehr unter einem dreifachen Aspekt gliedern. Sie wirkt erstens an der Aufrechterhaltung eines stabilen militärischen Gleichgewichts im Rahmen des Bündnisses mit. Auf dieser Grundlage will sie zweitens durch Überwindung des Ost-West-Gegensatzes den Frieden in Europa festigen. Sie bemüht sich drittens ständig um eine Begrenzung und Kontrolle der Rüstungen aller Staaten. Die deutsche Sicherheitspolitik ist also nichts anderes als ein kongruenter Bestandteil der von allen NATO-Staaten beschlossenen und praktizierten Sicherheitspolitik. Wer mit irgendwelchen Kunststücken versucht, der Öffentlichkeit oder dem nicht so gut informierten Bürger etwas anderes darzustellen, der stellt die gemeinsame Grundlage der Sicherheitspolitik in Frage und nicht diese Bundesregierung.
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Technische Umwälzungen haben zu dieser Ausweitung gezwungen. Die NATO war es, die zeitlich vor der Bundesrepublik neben ihr herkömmliches und gewiß auch mit unserem Beitrag bleibendes Ziel - die Friedenserhaltung durch Abschreckung
- ein neues Ziel gesetzt hat, nämlich die Friedensgestaltung durch Entspannung, Herr Kollege Dr. Marx. Die Außen- und Sicherheitspolitik der sozial- (I demokratisch geführten Bundesregierung hat den Grundsatz „auch Sicherheit durch Entspannung" nicht allein erfunden, sondern notwendigerweise dieses neue Teilkonzept endlich mit- und nachvollzogen. Die deutsche Öffentlichkeit hat, so möchte ich denken, einen Anspruch darauf, zu erfahren, ob die von dieser Koalition getragene Regierung und die von ihr unternommenen Entspannungsbemühungen inhaltlich im Einklang mit der Entspannungspolitik unserer Verbündeten oder, wie teilweise behauptet wird, im Gegensatz dazu stehen. NATO und Warschauer Pakt haben seit ihrem Bestehen durch Kriegsverhinderung ein Optimum an Sicherheit für Deutschland geliefert. Unsere ungelösten nationalen Probleme, in die uns der Hitlersche Angriffskrieg gestürzt hat, haben jedoch weder dem West- noch dem Osteuropäer in gleichem Maße psychologisch und damit auch politisch Sicherheit vor Deutschland gegeben.
({6})
- Ich möchte diesen Gedanken gern zu Ende bringen. - Hier ist der Ort, dies auszusprechen. Die Bundesrepublik Deutschland muß und soll jedoch ein Staat ohne besondere und zusätzliche Sicherheitsprobleme werden, d. h. ein territorialsaturierter Staat. In den frühen fünfziger Jahren, als über die Einheit Deutschlands entschieden wurde, haben wir Sozialdemokraten vor dieser Entwicklung gewarnt, aber wir unterlagen. Heute bleibt uns nur noch übrig, gemeinsam das Beste aus der inzwischen eingetretenen Situation zu machen.
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stücklen?
Herr Kollege Wienand, sind Sie tatsächlich der Meinung, daß der Warschauer Pakt einen Beitrag zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geleistet hat, und glauben Sie, daß auch die Tschechen - das wollte ich Sie fragen -der Meinung sind, daß der Warschauer Pakt zur Sicherheit einen Beitrag leistet?
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Herr Kollege Stücklen, Ihre Zwischenfrage bestätigt, daß wir in der Tat im Denken teilweise, gewiß aber in der Argumentation sehr weit auseinander sind.
({0})
Der Warschauer Pakt ist eine Realität, die wir sehen, und der Warschauer Pakt hat stets in der Zeit bis heute in einer gewissen sicherheitspolitischen Interdependenz zur NATO gestanden, gleichviel, wie ich das jetzt qualifiziere. In dieser Interdependenz und in der Disziplinierung nach jeder Seite hin hat das bestanden, was - teilweise von dieser Seite aus - eingebracht wurde, um es in der einen oder anderen Situation nicht zum Ausbruch einer Krise kommen zu lassen, weil dadurch kontrolliert wurde. Das mag unbefriedigend sein, und das mag moralisch von dem einen oder anderen unterschiedlich zu bewerten sein. Das ist aber der Fakt, von dem wir auszugehen haben.
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Bitte sehr!
Herr Kollege Wienand, vielleicht habe ich Sie falsch verstanden. Sie sprachen von der NATO und dem Warschauer Pakt, „die beide zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben". Vielleicht war das „und Warschauer Pakt" nicht vorgesehen; es war vielleicht ein Lapsus.
Ich habe gesagt: NATO und Warschauer Pakt haben seit ihrem Bestehen durch Kriegsverhinderung - denn weder der Warschauer Pakt noch die NATO haben einen Krieg angefangen; die NATO hätte es, weil sie ein reines Defensivbündnis darstellt, eh nicht getan - optimal zur Sicherheit beigetragen. Das ist meine Aussage.
({0})
Ob berechtigt oder nicht, die Furcht vor dem Bonner Revisionismus - ({1})
- Ja, hören Sie doch bitte, was die Schlußfolgerungen daraus sind, Herr Kollege Marx! - Ob berechtigt oder nicht,
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die Furcht vor dem „Bonner Revisionismus" diente unter anderem mit als Grund für die Abkapslung der Osteuropäer. Das ständige Schüren von Angstgefühlen gegenüber dem Provisorium Bundesrepublik mit seiner ungelösten Grenzfrage haben sowohl die Osteuropäer als auch wir teuer bezahlen müssen. Das Schreckgespenst „deutsche Gefahr", zu Unrecht so dargestellt, war mit ein Vorwand, die osteuropäischen Verteidigungsetats ständig zu steigern, und zwang die NATO-Staaten im Gegenzug zu Etaterhöhungen.
Diese Kosteneskalation kann weder im Interesse westeuropäischer noch im Interesse osteuropäischer Regierungen und Parlamente liegen. Weder unsere Bündnispartner noch wir bilden uns ein, wir könnten schon heute die Konfrontation der beiderseitigen Militärpotentiale durch die immer wieder angesprochene politische Kooperation ersetzen. Worauf es uns ankommt, ist die Ergänzung der bisher funktionierenden Abschreckung durch Vereinbarungen mit der anderen Seite, die sich positiv auf die gemeinsame Sicherheit auswirken.
In unserer heutigen Sicherheitslage sind die ungeschützten Bevölkerungszentren der NATO-Staaten leider Geiseln in der Hand potentieller Gegner und auch, wenn man so will, des Warschauer Pakts. Umgekehrt stellen die gleichfalls meist ungeschützten Städte Osteuropas ein Faustpfand für die westliche Sicherheitspolitik dar. Die Außenpolitik jedes einzelnen NATO-Staates hat deshalb so vitale Bedeutung auch für die Lebenschancen der Bevölkerung aller übrigen NATO-Mitglieder.
Wir handeln deshalb im Sicherheitsinteresse aller unserer NATO-Verbündeten, wenn wir die deutsche Frage entschärfen. Denn es ist unseren Verbündeten auf die Dauer wohl nicht zuzumuten - und wir wollen und können es ihnen nicht länger zumuten -, durch die Mitgliedschaft der ungefestigten, territorial unbefriedigten Bundesrepublik mehr gefährdet zu sein als durch die Mitgliedschaft jeden anderen NATO-Partners; betonen doch nicht nur Verlautbarungen aus dem Raum des Warschauer Vertrages, sondern auch, wenn auch in gefälligerer Form, zahlreiche Kommuniqués der NATO immer wieder die Sonderbelastung und die Risiken, die aus dem weiter schwelenden deutschen „Gefahrenherd" erwachsen können.
So mahnte uns 1967 der Harmel-Bericht, daß dauerhafte europäische Sicherheit nicht möglich ist ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannung in Europa bildet. Wir verstehen dies nicht nur als Mahnung an uns; denn allein können wir den Kern der Spannung nicht beseitigen. Weil sich jedoch die Bundesregierung bemüht, diese Spannung abzubauen, haben uns die NATO-Partner im Mai 1970 in Rom ihre Unterstützung und ihr Verständnis für unsere Verhandlungen und Gespräche mit der Sowjetunion, Polen
und der DDR zugesichert. Niemanden kann es überraschen, daß sie ausdrücklich bestätigen:
Die Bemühungen um die Lösung offener Probleme und um einen Modus vivendi in Deutschland stellen einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit in Europa dar.
Bestätigung und Ermutigung in ihrer Entspannungspolitik hat die Bundesregierung wiederholt von ihren NATO-Verbündeten und von Mitgliedern des Europarates erfahren, zuletzt anläßlich der Brüsseler Ministerratstagung vom Dezember vergangenen Jahres. Dort haben die Außen-, Verteidigungsund Finanzminister der Allianz die Unterzeichnung des Moskauer und des Warschauer Vertrages mit Befriedigung zur Kenntnis genommen und sie als Beiträge zur Minderung der Spannungen in Europa ausdrücklich begrüßt. Das ist deshalb wichtig, weil der Nordatlantikrat bei dieser Gelegenheit noch einmal die Komponenten unserer Sicherheitspolitik nannte. Es heißt im Kommuniqué vom Dezember 1970, die Allianz werde sich zur Gewährleistung der Sicherheit in den siebziger Jahren auch weiterhin auf das miteinander verbundene Konzept der Verteidigung und der Entspannung stützen.
Im übrigen sollten wir uns vergegenwärtigen, daß Staaten der NATO und Staaten des Warschauer Paktes seit langem auf den verschiedensten bilateralen und multilateralen Ebenen zusammenarbeiten. Die Kooperation von Bündnismitgliedern beider Pakte ist im wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und humanitären Bereich längst Wirklichkeit geworden. Ihre gegenseitige Durchdringung steckt jedoch erst in den Anfängen. Sie hat schwere Rückschläge erlitten. Um solche Rückschläge, die im Grunde tiefe Unsicherheit verraten, künftig zu vermeiden, ist es erforderlich, durch vermehrte Zusammenarbeit die Regierungen Osteuropas von der Aufrichtigkeit westlicher Entspannungsbemühungen zu überzeugen. Ein dichteres Netz bestimmter interessenausgleichender Beziehungen zwischen West- und Osteuropa hätte - das ist meine Meinung - die Rückschläge nicht erleichtert, sondern erschwert, wird sie vielleicht auf lange Sicht unmöglich machen. Gerade die Bundesrepublik war es in der Vergangenheit, die gewiß zu Unrecht für die Rolle des Friedensstörers in der Propaganda herhalten mußte. Unsere unerfüllten Wünsche und unerfüllbaren Hoffnungen haben oft genug Eingriffe in die Rechte und Freiheiten osteuropäischer Staaten rechtfertigen müssen.
Einer so motivierten Politik haben wir mit dem Abschluß der Verträge von Moskau und Warschau zumindest wirksam entgegengesteuert, wenn nicht gar schon ein Ende zu setzen versucht. Mir scheint, daß auf diesem Wege, der die bestehende Stabilität für wirkliche Entspannung nutzt, die politische Struktur Europas zum Nutzen aller Europäer verbessert werden kann. Dies setzt voraus, daß wir den territorialen Status quo so hinnehmen, wie wir ihn vorfinden. Wie dies auch ohne Respektierung der bestehenden Grenzen erfolgen könnte, sehe ich nicht, denn als Grenze hat Bundeskanzler Adenauer
die Demarkationslinie schon auf der Londoner Konferenz vertraglich bestätigt.
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Das war im Oktober 1954. Dennoch haben bis heute deutsche Territorial- und Grenzfragen eine ständige Sorge auch für unsere Verbündeten dargestellt. Die Entspannungsbemühungen der Bundesregierung stehen so gesehen auch inhaltlich in Einklang mit der Entspannungspolitik unserer Verbündeten. Die deutsche Öffentlichkeit hat weiter Anspruch darauf, zu erfahren, ob die von der sozialliberalen Koalition verfolgte Entspannungspolitik die Sicherheit der Bundesrepublik im Effekt erhöht oder verringert.
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Guttenberg?
Bitte sehr!
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Bundeskanzler Adenauer im Jahre 1954 die Elbe-Werra-Linie nicht als Grenze bezeichnet hat, sondern daß in der Vereinbarung von 1954 vom Gewaltverzicht hinsichtlich der Grenzen der Bundesrepublik und hinsichtlich der Wiedervereinigung die Rede ist und daß also damit ein Unterschied zwischen den Grenzen einerseits und der Linie, die Deutschland trennt, andererseits gemacht wird.
Als Grenze hat Bundeskanzler Adenauer die Demarkationslinie schon 1954 vertraglich bestätigt. Das ist meine Formulierung gewesen, und diese Formulierung rechtfertigt sich aus dem, was damals geschehen ist.
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Das Kernproblem deutscher Außenpolitik hat Fritz Erler von diesem Platz aus bereits im Februar 1955 umrissen, indem er sagte:
Wir müssen uns darüber klar sein, daß es heute nicht mehr darum geht, Verteidigung in einem Krieg zu organisieren, sondern daß es heute für uns - und ich meine, für die Menschheit - darauf ankommt, Sicherheit vor einem Krieg überhaupt zu schaffen.
Das ist das entscheidende Problem.
Wir haben die Bundeswehr zum Zwecke der Kriegsverhinderung, um unseren Beitrag im Bündnis zur Erhaltung des Friedens zu leisten, aufgebaut, nennen jedoch ihre politische Funktion, die Produktion von Sicherheit, aus alter Gewohnheit noch immer Verteidigung. Nur ungern bezeichnen wir ihre prohibitive Rolle, die Kriegsverhinderung, mit dem häufig fehlgedeuteten Begriff Abschreckung, ohne den es kaum möglich ist, die neuartige Funktion der Bundeswehr zu erfassen.
Um ausführlich die neuartige Funktion, die sich zwingend aus dem jetzigen NATO-Konzept ergibt, hier in aller Ruhe diskutieren und beraten zu können, haben die Koalitionsfraktionen zur Stunde eine Große Anfrage eingebracht, über die wir dann im März, nachdem die Antwort der Bundesregierung schriftlich vorliegt, uns in Ruhe werden auseinandersetzen können.
Verteidigung versetzt unsere Soldaten bis Kriegsbeginn in den Wartestand, während Abschreckung ihnen bereits den Frieden als Ernstfall zuweist, indem sie sich täglich zu bewähren haben. - Verehrter Herr Kollege Dr. Barzel, wenn Sie vorhin so mit einer Handbewegung auf das, was sich zunächst Fachleute im Ministerium im Zusammenhang mit Eid und Gelöbnis ausgedacht haben, hingewiesen haben, so glaube ich, wir werden bei dieser verteidigungsund sicherheitspolitischen Debatte Gelegenheit haben, auch darüber zu reden und herauszuarbeiten, wer solche Vorschläge gemacht hat und mit welchen sich dann der Minister und wir identifizieren. Mir lag daran, auch das aus der Diskussion so wieder herauszubringen, daß es nicht unnötig zur Belastung wird. Denn wir wissen alle um dieses recht diffizile Problem, auch aus der Sicht der Kirchen.
Ich gehe davon aus, daß wir alle, die wir dem 6. Bundestag angehören, mit den jüngsten Überlegungen Carl-Friedrich von Weizsäckers übereinstimmen, wenn er für die Bundesrepublik und vergleichbare Industrienationen feststellt - ich darf zitieren -:
Wir haben keine Aussicht, einen Krieg auszuhalten, ja nur zu überleben; wir sind darauf angewiesen, ihn zu verhindern.
Mit unserer bisherigen Sicherheitspolitik haben wir in der Tat dazu beitragen können, Kriege gegen das Bündnis und damit gegen die Bundesrepublik und ihre Verbündeten zu verhüten. Mit unserer jetzigen erweiterten Sicherheitspolitik wollen wir zusätzlich erreichen, daß sich das Mißtrauen Osteuropas gegen die Bundesrepublik als unbegründet erweist. Diesem sicherheitspolitischen Ziel dienen die Verträge von Moskau und Warschau. Den Frieden sicherer machen: das ist mehr als ein Schlagwort. Zusätzlich zu dem waffentechnisch bedingten Nichtkrieg brauchen wir den politisch vereinbarten Nichtkrieg. Er allein verdient den Namen Frieden.
Gerade auch in unserer Sicherheitspolitik müssen wir uns freimachen von falschen Grundvorstellungen wie etwa der: Eine Politik zum eigenen Vorteil ist dann eine besonders gute Politik, wenn sie zugleich für den anderen nachteilig ist. Für den Fortbestand des Nichtkrieges zwischen NATO und Warschauer Pakt gilt heute die ebenso schlichte wie richtige Weizsäcker-Formel. Nur wenn die Amerikaner wissen, daß die Russen ruhig schlafen, können die Amerikaner ruhig schlafen, und umgekehrt. Die eigene Sicherheit hängt ab vom Sicherheitsempfinden, vom berechtigten Sicherheitsanspruch des Gegenüber. Im jeweiligen eigenen Interesse liegt es, die andere Seite nicht zu verunsichern, sondern ihr im Gegenteil das Gefühl des Nichtbedrohtseins zu geben.
Sehen Sie in dieser Interdependenz auch mein Bild von vorhin von der optimalen Sicherung beider Militärpakte.
({1})
Denn das Sicherheitsgefühl der anderen Seite ist zu einem Faktor der eigenen Sicherheit geworden. Wir sollten uns abgewöhnen, das Sicherheitsbedürfnis der Osteuropäer gegenüber dem westlichen Militärpotential für objektiv unberechtigt oder illegitim zu halten. Fremde Potentiale erzeugen nun einmal Unbehagen, gleichviel, wer sie verwaltet. Dieses Umdenken mag dem einen oder anderen schwer fallen oder gar unmöglich sein, sofern er die Sicherheitsfrage nicht auch einmal aus der Perspektive der anderen sieht. Auf der anderen Seite werden auch die Verantwortlichen Osteuropas sich daran gewöhnen müssen, die Legitimität unseres Strebens nach Sicherheit anzuerkennen und unsere Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt, in der WEU und in den Gemeinschaften vorbehaltlos zu akzeptieren. Die Regierungen der Sowjetunion, Polens und der Bundesrepublik Deutschland haben 1970 diesen wechselseitigen Sicherheitsanspruch vertraglich festgehalten. Jeweils in Artikel 4 von Moskau und Warschau islt vereinbart die strikte Respektierung der von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge - so im Moskauer Vertrag - bzw. die strikte Respektierung der früher getroffenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen - so im Warschauer Vertrag.
Herr Abgeordneter Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abg. Kiep? - Bitte sehr!
Herr Wienand, darf ich Sie fragen, ob Sie mit Ihrer Bemerkung, die Sie vor wenigen Minuten machten, man müsse erkennen, daß die Sorge der Völker der Warschauer Paktstaaten vor dem westlichen Bündnis objektiv nicht unberechtigt sei, sagen wollen, daß in dem westlichen Bündnis auch nur der Schatten einer Möglichkeit oder einer Chance oder einer Gefahr zu einem Aggressionskrieg gegen den Osten liegt?
Herr Kollege Kiep, ich habe vorhin selbst gesagt, daß vom westlichen Bündnis kein Angriffskrieg ausgehen kann, da es absolut defensiven Charakter hat. Ich habe mich dann bemüht, auch aus der Sicht anderer etwas zu beleuchten. Ich bitte mir, nachdem ich mich rund 18 Jahre mit dieser Problematik befasse, wenigstens zu unterstellen, genau zu wissen, was das westliche Bündnis kann und was es nicht kann. Wenn ich mich jetzt aber bemühe, mich auch in die Sicht der anderen mit hineinzuversetzen, um aufzuzeigen, wie es aus dieser Stellung nach vorne etwas zur Normalisierung geben kann, dann sollten Sie mir nicht unter5082
stellen, ich wollte das NATO-Bündnis anders interpretieren, als wir es gemeinsam sehen.
({0})
Gestatten Sie eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Kiep? - Bitte!
Würden Sie mir dann zustimmen, daß es besser und klarer gewesen wäre, wenn Sie statt „objektiv" gesagt hätten „subjektiv"?
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Sehen Sie, das kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Ich habe in sorgfältiger Abgrenzung wenn Sie das nachlesen, werden Sie es feststellen - mich bemüht, auch aus der Sicht der anderen hier einen Diskussionsbeitrag mit zu leisten, weil wir in der Vergangenheit zuviel aneinander vorbeigeredet haben und jetzt endlich einmal diese Dinge aufarbeiten müssen.
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- Von mir aus allein die anderen, wenn Sie das erleichtert in dieser pharisäerhaften Darstellung hier.
({1})
Unsere Sicherheit wird also nicht irgendeiner Entspannungseuphorie geopfert, vielmehr werden unsere Verteidigungs- und Beistandsverträge nicht berührt, d. h. vertraglich geschützt. Vor ein paar Jahren noch hätte man jede Bundesregierung zu diesem zusätzlichen sicherheitspolitischen Erfolg beglückwünscht.
Zu den überholten Grundvorstellungen des kalten Krieges gehört daher auch der Wunsch nach und die Begünstigung von inneren Schwierigkeiten im Bereich des gegnerischen Militärpakts. Der Sicherheitspolitik dieser Regierung und dieser Koalition liegt genau die gegenteilige Auffassung zugrunde. Im Einvernehmen mit unseren NATO-Partnern sind wir der Meinung, je geringer die inneren Schwierigkeiten und Spannungen der Staaten Osteuropas sind, desto sicherer können sich ihre westeuropäischen Nachbarn fühlen. Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas aufzunehmen und auszubauen, gebietet daher auch unser eigenes sicherheitspolitisches Interesse.
Worauf kommt es also an? Unsere Sicherheitspolitik muß dem Bündnis weiter ein hinlänglich starkes Militärpotential zur Verfügung stellen, dasdazu beiträgt, die auf Europa wirkenden Gesamtpotentiale beider Pakte insgesamt im Gleichgewicht zu halten.
({2})
- Wir sind überzeugt davon, und Sie werden Gelegenheit haben, wenn die Antwort zu der Großen
Anfrage vorliegt, Ihre Bedenken vorzubringen.
Hoffentlich können Sie dann auch Roß und Reiter nennen und bleiben nicht nur bei vagen Darstellungen.
Unsere Sicherheitspolitik muß jedoch zusätzlich den gegenwärtigen Zustand dafür ausnutzen, neue Möglichkeiten zu erkunden. Sie muß neue Regelungen vereinbaren mit jenen, die über die Sicherheit Westeuropas mitbestimmen, mit den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes. Denn ob allein das bereitgestellte Militärpotential der NATO-Mitglieder auch in Zukunft einen Krieg ersparen kann, muß bezweifelt werden. Noch nie war langjährig durchgehaltene Funktionstüchtigkeit zugleich eine Garantie für die Zukunft. Wer aber für unsere Zukunft verantwortlich ist und wer die rasante Entwicklung moderner Waffentechnologie verfolgt, muß nach zusätzlichen Sicherungen Ausschau halten, die das bestehende System der Kriegsverhütung zunächst ergänzen und später sogar einmal ersetzen können. Denn das Ausmaß unserer Sicherheit wird nur zu einem Teil von der Effektivität der Streitkräfte bestimmt. Nicht minder entscheidend für unsere Sicherheit ist der politische Rahmen, das politische Verhältnis zur Gegenseite. Nur im Einvernehmen mit den Staaten Osteuropas - das wird niemand bestreiten wollen - ist es möglich, die Rüstungslasten zu senken und gleichzeitig die Sicherheit in Europa zu erhöhen. Ohne gemeinsame Absprachen jedoch ist es wahrscheinlich - darauf weist die Weiterentwicklung der Waffentechnik hin -, daß die NATO ihre Rüstungslasten erhöhen muß und daß gleichzeitig die Sicherheit Europas Einbußen erleidet.
Auch die Mitarbeiter des Weizsäcker-Forschungsinstituts kommen in ihrer soeben vorgelegten Studie über Kriegsfolgen und Kriegsverhütung zu dieser Erkenntnis. Es heißt dort, daß auf eine permanente technische Stabilisierung der Kriegsverhinderung durch Abschreckung nicht zu rechnen ist. Sie haben festgestellt: Die technische Weiterentwicklung der Waffen bietet günstigenfalls die Aussicht, daß der jetzige Sicherheitsgrad der Verhütung eines Weltkrieges gewahrt bleibt. Sie enthält aber eine Fülle von Möglichkeiten, daß er sich verschlechtert.
Unsere Sicherheit kann heute, wie wir wissen, nur relativ sein. Das Zeitalter absoluter Sicherheit für bestimmte Menschen oder bestimmte Gebiete ist unwiderbringlich zu Ende gegangen. Für uns als Politiker wäre es sowohl kurzsichtig als auch unverantwortlich, wollten wir uns auf die dauerhafte Verläßlichkeit ausbalancierter Waffensysteme verlassen. Die gegenwärtige, waffentechnologisch bedingte Stabilität schafft uns die für Verhandlungen und Vereinbarungen dringend erforderliche Zeit. Wir erkennen deutlich: Der zeitliche Spielraum ist begrenzt. Vor seinem Ende müssen Ersatzsysteme für die künftige Sicherheit gefunden sein; denn schon ist der Punkt berechenbar, an dem eine hemmungslos weiterentwickelte Waffentechnik begrenzte Kriege wieder erfolgversprechend machen könnte.
Ich darf zusammenfassen: Unsere Abschreckungsbemühungen haben wie die des Warschauer Paktes das Ziel, den Krieg zu verhindern. Ziel unserer EntWienand
spannungsbemühungen ist es, den daraus resultierenden Frieden so zu gestalten, daß er sicherer wird. Nur auf der Basis funktionierender Kriegsverhinderung und nur in einer entspannten Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens wird es möglich sein, auch im dritten Bereich unserer Sicherheitspolitik Fortschritte zu machen, Fortschritte auf dem Felde der Rüstungsbegrenzung und des Rüstungsabbaus. Deshalb sollten wir folgendes sehen: die Entspannungspolitik dieser Bundesregierung. schafft im Effekt nicht weniger, sondern entscheidend mehr Sicherheit für die Bundesrepublik und für Deutschland. Ich habe vorhin schon auf die von uns eingebrachte Große Anfrage hingewiesen. Sie wird inzwischen vorliegen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte über die Lage der Nation steht unter anderen Bedingungen als frühere Debatten dieser Art. Während diese Debatten bis 1969 eine bedauerliche Elegie auf Zustände zu sein schienen, die kaum zu ändern waren, erfolgte 1870 seitens der jetzigen Bundesregierung eine Absichtserklärung.
({0})
- Ich meine: 1970. Ich kann mich ja auch einmal versprechen; das ist besser, als danebenzudenken.
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1971 stehen wir mitten in der Effektuierung dessen, was 1970 angekündigt war. Die Europa- und die Weltpolitik sind in Bewegung geraten.
({2})
Ob das nun in Ursache und Wirkung mit uns zusammenhängt, kann egal sein. Aber eines ist sicher: die Weltpolitik ist in Bewegung geraten. Da Deutschland der Schlüsselpunkt, einer der Angelpunkte europäischer Politik ist, sind wir uns der großen Verantwortung bewußt, die wir dadurch tragen.
Wir handeln in geistiger Unabhängigkeit und lehnen es ab, Sklave vorgefaßter Meiningen und sonstiger Dogmen zu sein.
Wer wie ich nunmehr fünf politische Systeme hat erleben müssen, dem ist die Relativität bewußt, die darin liegt, kaisertreu, königstreu erzogen worden, 1918 mit sehr großen inneren Schwierigkeiten Demokrat geworden zu sein und 1933 - wenn auch ohne Erfolg - unter dem Versuch gestanden zu haben, davon überzeugt zu werden, daß das Führertum das Richtige sei. Wer dann wie ich in der gleichen Stadt mit demselben Wort „Demokratie", östlich und westlich, völlig verschiedene Begriffe serviert bekommt, für den ist es einigermaßen schwer, sich zurechtzufinden, und er flüchtet sich in die geistige Unabhängigkeit.
Meine Damen und Herren, was wir tun, hat tiefe Rückwirkungen auf alle Gebiete, insonderheit auf die Innenpolitik in der Bundesrepublik und in der DDR. Bevorzugt will ich mich diesen Fragen widmen. Nach Antritt der neuen Regierung ist in der Bundesrepublik unzweifelhaft eine Polarisierung, eine Position des Entweder-Oder eingetreten; das ist bei einer so starken Opposition vielleicht unvermeidlich.
Lassen Sie mich ein sehr ernstes Wort zu 'der trotzdem verlangten Gemeinsamkeit sagen. Wer wollte leugnen, daß dieses Prinzip höchst erwünscht ist! Aber es fragt sich doch: Gemeinsamkeit auf welcher Basis, Gemeinsamkeit mit wem? Sie können doch nicht leugnen, daß es uns schwer wird, diese Gemeinsamkeit derzeit bei Ihnen, meine Damen und Herren, zu suchen angesichts der fundamentalen Unterschiede, die die - erfreuliche -Diskussion in Ihren Reihen beleben. Es gibt da fundamentale Unterschiede. Sie reichen von kompromißloser Ablehnung bis zur Prüfungsbereitschaft und zur Einsicht in die unvermeidlichen Notwendigkeiten. Wer Gemeinsamkeit fordert, sollte in diesem Punkte erkennen, daß Ostpolitik angesichts der lebenswichtigen Bedeutung für unsere Nation das ungeeignetste Mittel wäre, als Motiv für eine gewünschte Regierungsablösung zu dienen. Wir werden - das lassen Sie sich bitte sagen - die Gemeinsamkeit suchen und praktizieren, soweit es möglich ist und soweit erkennbar ist, wohin Sie wirklich wollen. Aber wir werden das, was wir als notwendig erkannt haben, weder verwässern noch behindern oder gar verhindern lassen; denn wenn wir das täten, hätten wir keine Gemeinsamkeit der Aktion, sondern eine Gemeinsamkeit der Schuld.
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Auch Halbheiten wären politisch wertlos. Deswegen erinnern wir uns - und wir nehmen auch gern Lehren von jemandem an, der andere politische Absichten hat -, wie seinerzeit Bundeskanzler Adenauer gehandelt hatte, als er sein politisches System unter dem massiven Widerstand der damaligen Opposition unter Dach und Fach brachte. Er hat es mit Ihren Stimmen durchgesetzt, und das werden wir, mutatis mutandis, auch mit unseren Stimmen tun.
In der DDR hat das, was hier geschieht, Unsicherheit und deswegen Verhärtung hervorgerufen. Ich verweise auf eine Verlautbarung des Herrn Minister Franke, die das ausdrückt: „Es zeigt sich hier erneut die herkömmliche Erfahrung, daß sich der Prozeß der Bildung neuer Meinungen und Verhaltensweisen in der DDR sehr langsam, aber immer unter dem Schirm äußerlicher Verhärtung vollzogen hat." Wer nun idiese äußerliche Verhärtung mit demselben Bedauern wie Sie feststellt, kann - wie Sie - glauben, daß das der Endzustand sei. Wir glauben aber, daß gerade das ein Beweis sein kann - nicht sein muß - dafür, daß sich die DDR dieser Entwicklung nicht entziehen kann. Denn das kann sie nicht; auch sie ist mitten im Wandel, so wie wir es sind und bleiben werden.
In der Tat: Wer sich einmal in die Situation des Herrn Ulbricht hineinversetzt, 'muß doch feststellen,
daß in seinem Herrschaftsbereich eine tiefe Enttäuschung über die Tatsache erklärlich ist, daß man zwar in Karlsbad vereinbart hatte, Besprechungen oder gar Verträge mit der Bundesrepublik nur dann abzuschließen, wenn die vorherige Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik erfolgt sei. Und heute? Der Vertrag von Moskau, der Vertrag von Warschau ist unterschrieben. Über die Anerkennung ist nicht geredet worden. Wer wollte annehmen, daß das in einem totalitären Staat nicht zu inneren Spannungen führen sollte? Ein Ausfluß dieser Spannungen kann sehr wohl das sein, was wir heute uns gegenüber erleben.
Unsere Friedenspolitik hat keine Alternative, wohl aber schmerzliche Konsequenzen. Würden wir diese Konsequenzen nicht beachten, so müßte alles Lippenbekenntnis bleiben. Bei uns in der Bundesrepublik sind wir dem Grundsatz treu geblieben und werden ihm treu bleiben, einzustehen für die Freiheit unserer Nation, für unser Recht auf Selbstbestimmung und für Annäherung mit dem Ziel - wann immer das möglich ist -, auch die staatliche Einheit der Nation wiederherzustellen.
Lassen Sie mich ein Wort zu einem Problem sagen, das vielen Menschen im Ausland nicht recht verständlich ist, nämlich die Tatsache, daß 25 Jahre nach dem Krieg die volle Souveränität dieser beiden Staaten nicht hergestellt ist, die Souveränität in den Fragen, wo es eben gerade um das Gemeinsame in der Nation geht. Ich glaube, wir könnten glücklich sein, wenn es unter allseitiger Zustimmung möglich wäre, auch die Deutschland-Verträge dadurch überprüfbar zu machen, daß die äußeren Verhältnisse eine Wendung zum Besseren genommen haben. Unsere Methode erfordert gemäß den Umständen, die wir 1969 vorgefunden haben, Geduld. Sie erfordert lange Zeiträume, und wir haben erkannt, daß wir das deutsche Problem nicht frontal angehen können, sondern nur dadurch, daß wir das Klima in der Umwelt verändern, insonderheit das Klima zu unseren und mit unseren östlichen Nachbarn verändern.
Wir hoffen, daß wir, indem wir die Grenzen zu unseren östlichen Nachbarn durchlässig machen - und zwar nicht nur physisch, sondern auch geistig -, näher an unser Ziel herankommen, den Ausgleich auch mit der DDR unter besseren Bedingungen herbeiführen zu können. Für uns ist natürlich das Schicksal unserer Nation vorrangig. Aber auch dies wirkt auf uns zurück, daß für unsere Nachbarn dieses für uns vorrangige Problem vielschichtig ist und sehr viele Facetten aufweist. Aber die Freiheit, in der wir handeln und für die wir handeln, hat doch nichts zu fürchten, und sie sollte sich deswegen nicht das Gesetz des Nichtberührens aufzwingen lassen.
Da fragen wir uns, was es bedeutet, wenn für den ökonomischen Bereich die daran interessierten Kreise nichts dagegen einzuwenden haben, daß die ökonomische Tür geöffnet wird, sie aber sofort Bedenken tragen, wenn auch politische Kontakte unvermeidlich scheinen und gesucht werden; möglicherweise, weil sie glauben, daß dadurch der Bestand ihres - ich sage: unseres - Systems gefährdet werden könnte. Als ob wir etwas zu fürchten hätten! Wollen wir denn etwa so reinlich Ökonomie
und Politik scheiden, wie es drüben geschieht? Das ist doch drüben schon im Ansatz falsch. Jeder Politiker sollte sich zu schade sein, derartige Ansichten, die geradezu schizophren sind, zu unterstützen und zu glauben, man könne Ökonomie und Politik in den Kontakten mit anderen Staaten voneinander scheiden.
Wir sollten aber auch an die Rückwirkungen denken, die unser Tun und unser Handeln gegenüber den Oststaaten auf die dritte Welt hat.
In der DDR, meine Damen und Herren, zeigt sich, daß Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Da heißt es denn in dem Vertrag zwischen der DDR und der UdSSR:
Die hohen vertragschließenden Seiten vereinen ihre Anstrengungen zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der ganzen Welt in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Satzung der Organisation der Vereinten Nationen....
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie denken immer, es sei schädlich und die Welt falle ein, wenn die DDR in die Vereinten Nationen aufgenommen würde. Überlegen Sie sich doch bitte einmal, daß man auch anders argumentieren kann: Diese Vereinten Nationen verpflichten ihre Mitglieder zur Respektierung der gegenseitigen Gleichberechtigung, zur Nichtdiskriminierung und zur Menschlichkeit.
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- Sie lachen? Halten Sie das für lächerlich? - Das war ein bißchen daneben. - Halten Sie es dann nicht auch für erwägenswert, daß man sich fragen kann, ob nicht gerade die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen einen Druck in dieser Richtung auf die DDR verstärken könnte, daß dieser Druck stärker wäre, als wenn die DDR draußen stünde und bloß einseitig handeln könnte? Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir die heute wieder von Ihnen postulierte Ablehnung dieser Möglichkeit auch einmal überlegen.
Unserer Nation jedenfalls, meine Damen und Herren, dient friedlicher Wettstreit, nicht Feindschaft. Abschließung aber ist unvermeidlich der Beginn der Feindschaft.
Allerdings muß zugegeben werden, daß die von uns erstrebten Gespräche wohl der härteste Brokken sind, der uns vorgesetzt werden kann. Das bisherige Ergebnis dieser Gespräche - wir müssen es zugeben - ist nichts als die Feststellung der Zähflüssigkeit dieser Gespräche. Aber immerhin, es ist gesprochen worden, es wird gesprochen, und es wird gesprochen werden.
Im Gegensatz zu Ihnen sind wir aber der Meinung, daß gerade die Schwierigkeit mit der DDR die weitere Entwicklung hinsichtlich der anderen Ostblockstaaten nicht blockieren darf. Wenn das Werk, das wir mit den Ostblockstaaten angestrebt haben, sich immer weiter günstig entwickelt, so wird sich und kann sich auch Herr Ulbricht nicht der Rückwirkung dieser Tatsachen entziehen.
Es wird Sie nicht verwundern, meine Damen und Herren, daß ich als Berliner nun einiges zu Berlin sage. Das Problem Berlin ist nun einmal für uns alle nicht von unserem Willen her, sondern den Gegebenheiten entsprechend Brennpunkt und Prüfstein für das, was von uns, gegen uns und um uns geschieht. Ja, es ist geradezu vorweggenommenes deutsches, vorweggenommenes europäisches Schicksal.
Wir sollten uns einmal ganz nüchtern fragen: Was ist eigentlich Berlin? Für uns Deutsche, meine Damen und Herren, ist die Antwort eindeutig: WestBerlin ist ein Teil der Bundesrepublik nach dem Willen aller Bürger - ich will keinen Unterschied machen -, die unter der Geltung des Grundgesetzes leben.
Für die drei Alliierten aber bedeutet Berlin schon wieder etwas anderes. International ist West-Berlin, so wie es am 8. Mai 1945 war, ein besetztes Gebiet, und die Oberhoheit liegt nicht beim Senat, sie liegt nicht beim Abgeordnetenhaus, sondern bei den alliierten Besatzungsmächten. Das 'ist gut so, das ist derzeit nicht zu ändern, aber es es nun einmal Tatsache. Die internationalen Verpflichtungen bestehen in der Haager Landkriegsordnung. Diese ist zugegebenermaßen, weil es erforderlich war, erfreulicherweise zu unseren Gunsten modifiziert, fortlaufend ergänzt und verbessert worden. Das führte dazu, daß Berlin auch in der Praxis unabhängig von seinem völkerrechtlichen Status unlösbar mit der Bundesrepublik in Recht, Wirtschaft und Finanzen verbunden ist. So soll es, so wird es nach dem Willen der Berliner bleiben; denn diese haben nicht umsonst die Blockade überstanden und 25 Jahre alle Schwierigkeiten im Interesse unser Nation auf sich genommen.
Politisch ist zwischen den Besatzungsmächten in West und Ost jedoch umstritten, was die Position Berlins ist und wie sie praktiziert werden soll. Die Weststaaten sagen ja zur politischen Vertretung Berlins durch den Bund. Daß der Osten es nicht tut, wissen sie. Das ist eine der schwierigen Fragen, um die es geht. Sie würde jedoch, wenn sie nicht befriedigend gelöst werden kann, ein großes, vielleicht unüberwindbares Hemmnis bei der Verwirklichung unserer Pläne darstellen. Ein ungeklärtes Verhältnis bietet immer Gelegenheit zu emotionellen Entladungen, zu Selbfsttäuschung und damit zu Fehlverhalten.
Meine Damen und Herren, Berlin dient man nicht mit lauten Deklamationen. Berlin dient man, wie es geschieht, am besten durch stille, zähe Arbeit am Ausgleich. Wer zum Osten Verständigung sucht, hilft Berlin. Wer Konflikte duldet oder gar schürt, gefährdet diese Stadt.
Denken wir an Chruschtschow. Als man ihm einmal sagte, er könne und sollte doch ohne Gefahr diese Stadt vereinnahmen - die Amerikaner würden dagegen schon nicht allzusehr opponieren, wenigstens nicht mit Gewalt - sagte er, er denke gar nicht daran. Immer wenn ihm die Amerikaner irgendwo auf der Welt unbequem würden, dann trete er ihnen in Berlin auf den Fuß, dann würden
sie schon etwas friedlicher werden. Es ist nicht sehr schön, in einer Stadt zu leben, die damit zum Objekt der Weltgeschichte wird, in der Spannungen abreagiert werden, für die diese Stadt am wenigsten kann, auch die Bundesrepublik nicht.
lm Ostsektor liegen die Dinge völkerrechtlich anders. Durch Verträge zwischen der damaligen sowjetischen Besatzungsmacht und der DDR ist Ost-Berlin in den Status entlassen worden, in dem sich die DDR befindet. Was das in den kommunistischen totalen Staaten bedeutet, mag dahingestellt sein, aber immerhin ist dieser Stadtteil Ost-Berlin nicht mehr unter der Oberhoheit der damaligen Besatzungsmacht, wenn auch noch Rudimente, Relikte aus an-anderen Gründen bestehen. Praktisch ist die Vereinnahmung vollzogen, und an dieser Praxis wird wohl kaum etwas zu ändern sein.
Ich wiederhole es: Wir Westberliner dürfen und wollen nicht Blitzableiter für Spannungen sein, wir sind nicht der Prügelknabe der Welt. Wir rechnen nicht auf, und wir rechnen nicht vor, aber wir weisen darauf hin, daß der besonders zu Wahlzeiten intensivierte Versuch der Opposition, sich allein als zuverlässiger Helfer dieser Stadt zu präsentieren, durch die Vergangenheit und durch die Gegenwart widerlegt ist. Er entspricht auch heute nicht den Tatsachen; eine gegenteilige Behauptung bedeutet Demagogie.
Meine Damen und Herren, Sie könnten überzeugender argumentieren, wenn die Mauer durch Berlin im Jahre 1971 gezogen wäre. Sie ist aber 1961 gezogen worden. Das bedeutet, daß Ihr Vorwurf, daß wir nichts täten, um das Verhalten im anderen Teil Deutschlands zu beeinflussen, ins Leere stößt. Auch Sie haben es nicht gekonnt; unter Ihrer Ägide ist die Mauer gebaut worden. Ich sage das, ohne es Ihnen anlasten zu wollen. Auch Sie haben den Mauerbau eben nicht verhindern können. Daran sollten Sie sich erinnern.
({5})
Herr Abgeordneter Borm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stücklen?
Bitte!
Herr Kollege Borm, sind Sie der Meinung, daß wir auch nur im geringsten eine Schuld an dem Mauerbau in Berlin tragen?
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zuhörten. Ich habe eben gesagt: ohne daß ich Ihnen irgendeine Schuld daran beimessen will.
Ich wollte es nur noch einmal betont wissen.
Warum? Muß man Ihnen alles zweimal sagen, damit Sie es verstehen, Herr Stücklen? Einmal dürfte doch genügen!
Für uns ist der Moskauer Vertrag Realpolitik und Hoffnung. Nun spricht man von einem Junktim. Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber ein politischer Zusammenhang besteht, und dieser ist unabhängig von unserem oder Ihrem Willen einfach folgender. Wer sich an das Werk macht, auch im Osten die Spannungen zu beseitigen, kann es einfach nicht dulden, daß ein Brandherd und dazu noch ein so gefärhlicher Herd wie Berlin bestehenbleibt. Dieses Werk wäre nicht nur unvollständig, sondern unbrauchbar, wenn Berlin als Brandherd bestehenbliebe. Das sind die einfachen Tatsachen, unabhängig von jeder Polemik.
Wir denken an das Beispiel Saarland. Dort war eine endgültige Lösung möglich. In Berlin gibt es eine endgültige Lösung nicht, eben deshalb, weil dieses Problem nicht isoliert zu betrachten ist, sondern eingebettet ist in die Geschehnisse um uns herum. Aber es muß ein erträglicher Modus vivendi gefunden werden, bis eine europäische Gesamtregelung, auf welchem Wege auch immer, dieses Problem endgültig aus der Welt schafft. Vielleicht können in dieser Beziehung die Botschaftergespräche ein guter Anfang sein. Wer wollte glauben, daß diese Botschaftergespräche in der Tat in ihrem politischen Wert, aber auch in ihrer Praxis nur Gespräche unter den damaligen Siegermächten sind? Die deutsche Nation in ihrer Gesamtheit, hier wie dort, sitzt auf den Stühlen dabei, wenn über das Schicksal Berlins beraten wird.
Die Ziele, mit denen die Lebensfähigkeit Berlins garantiert werden soll, sind bekannt; ich brauche sie nicht zu wiederholen. Ich freue mich, daß der Herr Bundeskanzler auf Präsident Nixon verwiesen hat. Präsident Nixon sagte 1969, als er in Berlin war: „Der Zustand in dieser Stadt ist unbefriedigend. Er ist eine Aufforderung zum Handeln." - Das tun wir, nichts weiter.
Nun fragt es sich, wie eine europäische Friedensordnung gefunden werden kann. Muß das unbedingt ein Friedensvertrag klassischer Art sein? Muß das sein?
({0})
Ich glaube, wir können uns überlegen, ob man nicht auf andere Art und Weise die in Potsdam nicht geregelten Fragen aus ,der Welt schaffen kann. Dabei ergibt sich für mich wieder ein nicht ganz erklärbarer Widerspruch.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sagen immer, dieses, jenes müsse aufgeschoben werden, weil das in Potsdam so verbrieft sei, und was man verbrieft habe, könne man nach Hause tragen, und zwar bis zu einem Friedensvertrag. Gut, wenn ich Ihnen da folgen will, so erlauben Sie mir doch bitte einmal die Frage: Was haben Sie denn getan, solange Sie die Möglichkeit dazu hatten, um einen solchen Friedensvertrag in Verhandlungen überhaupt einmal anlaufen zu lassen? Ich entsinne mich, daß der damalige Herr Bundeskanzler, wenn von der anderen Seite derartige Verhandlungen und sogar paraphierte Entwürfe vorgetragen wurden - beurteilen Sie es, wie Sie wollen -, zu den Alliierten gegangen ist und auf die von ihm so gesehene Gefahr einer solchen Situation hingewiesen hat. Diesen Widerspruch müssen Sie einmal klären, nicht heute; aber die Frage ist gestellt, und sie wird wiederholt werden.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherrn von Guttenberg?
Bitte!
Herr Kollege Borm, da Sie die Aufklärung für einen von Ihnen vermuteten Widerspruch wünschen, möchte ich Ihnen mit Erlaubnis des Präsidenten antworten. Der von Ihnen vermutete Widerspruch - -({0})
Herr Abgeordneter von Guttenberg, das geht nur in Form einer Frage.
Gut, dann will ich meine Antwort in eine Frage kleiden. Sind Sie mit mir der Meinung, Herr Kollege Borm, daß dieser Widerspruch deshalb nicht besteht, weil nicht Friedensvertrag gleich Friedensvertrag ist und jene Friedensvertragsentwürfe, die von der anderen Seite damals vorgelegt wurden, nicht die Errichtung eines freien und demokratischen ganzen Deutschland zum Gegenstand hatten?
({0})
Herr Kollege von Guttenberg, ich folge Ihnen nicht. Aber auch wenn ich Ihnen folgen wollte, ist die Frage noch nicht beantwortet: Wenn die damaligen Vorschläge auch nicht geeignet waren, warum haben Sie dann nicht wenigstens verhandelt, um diese Vorschläge zu modifizieren und zu erkunden, welche Möglichkeiten gegeben sind?
Wir, meine Damen und Herren, wollen anerkennen, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind. Wir bestehen aber, weil es Tatsache ist, darauf, daß trotzdem nur eine einzige deutsche Nation vorhanden ist. Das löst Konsequenzen aus. Wir müssen klarmachen, daß wir keine Annexionsabsichten hatten. Sehr vieles, was damals vorgetragen wurde, wäre nur möglich gewesen, wenn man die DDR annektiert hätte. Wir müssen ehrliche Absichten unter Beweis stellen und gemeinsam dem Frieden dienen.
Die DDR dagegen will nicht nur zwei sich völlig fremde Staaten installiert wissen, sondern sie will gewissermaßen sogar Erbfeindschaft. Da erhebt sich die Frage: Warum? Aus Angst? Aus Angst wovor? Ist es nur etwas für den Hausgebrauch? Es würde zu weit führen, darauf heute einzugehen.
Aber im negativen Verhalten, meine Damen und Herren, zeigt sich, daß es noch eine deutsche Nation gibt. Ulbricht ist ein genaues Beispiel für schlechte deutsche Tradition. In seiner heutigen Sturheit vollzieht diesmal er getreulich das Verhalten nach, das
gewisse Politiker bei uns in den 50er und 60er Jahren an den Tag gelegt haben.
Herr Abgeordneter Borm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Petersen?
Bitte sehr!
Herr Kollege Borm, darf ich fragen, ob bei Ihrem Konzept und Ihrer Auffassung über die beiden deutschen Staaten einer Nation noch Raum ist für eine Politik, die darauf angelegt sein sollte, auf lange Sicht das Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen zu verwirklichen?
Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, habe ich das als eine Bedingung unserer Politik und Absicht dargestellt. Vielleicht haben Sie gerade inzwischen etwas anderes getan. Es tut mir leid, gerade Ihnen das sagen zu müssen.
({0})
- Ja, das höre ich gern. Ich habe ja auch Ihrem Wunsch entsprochen.
({1})
Positives Verhalten setzt, wenn es beiderseitig sein soll, guten Willen voraus. Das zwingt zu der Erkenntnis, daß die Förderung gemeinsamen Nutzens die Feindschaft verhindert und nicht Feindschaft fördert. Das ist seinerseits wieder Voraussetzung für den Abbau unnatürlicher Schranken.
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, meine Damen und Herren, was heute anklang: daß wir die Wirtschaft der DDR großzügig gefördert hätten, aber daß die Gegenleistung ausgeblieben sei. Gewiß, das ist wahr. Aber ebenso wahr ist es, daß die Chancen zum Ausgleich größer werden, je geringer die Abstände im Lebensstandard sind.
({2})
- Das weiß ich auch. Ich rede ja nur davon, was volkswirtschaftlich und politisch unbestreitbar ist.
({3})
- Nein.
({4})
- Entschuldigen Sie bitte, wir kommen in Zeitdruck.
Die Studie ist nach unserer Meinung dankenswert, allerdings ist Datenvermittlung noch keine Politik. Immer jedoch führt rationales Wissen weg von der Möglichkeit emotionaler Erregung und der Demagogie; sie wird praktiziert, nicht von Ihnen, aber sie wird praktiziert.
Nicht folgen kann ich Ihnen, Herr Kollege Gradl, allerdings darin, daß in diese Studie, die von Wissenschaftlern erstellt ist, etwa heimliche, böse Absichten hineingeschmuggelt worden seien, um dem Volk Sand in die Augen zu streuen.
Wir werden eventuell einmal zu Abmachungen mit der DDR kommen. Da unterstreichen wir, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat. Diese Abkommen müssen international, völkerrechtlich verbindlich sein, d. h., sie müssen mindestens vom Parlament ratifiziert werden. Denn ein Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR ist nicht etwa ein Vertrag zwischen Bayern und Hessen, aber ebensowenig ein Vertrag wie etwa einer zwischen der Bundesrepublik und Brasilien.
Deutschlands ungeklärtes Verhältnis und die aus den verschiedensten Gründen praktizierte Abneigung gewisser Kreise der Bundesrepublik gegen die Annahme der kommunistischen Herausforderung bis zum sturen, aber immer noch wirksamen Antikommunismus vom Prinzip her verhindert die Konsolidierung Europas. Darin werden Sie wahrscheinlich mit mir einig gehen. Da fragt es sich: Wem dient dieser Unfriede? Wem dient diese Unsicherheit? Wer fischt im Trüben?
International erkennbar ist - ob wir es wollen oder nicht - das langsame, aber unaufhaltsame Hineinwachsen auch der deutschen Frage in die internationale und nationale Gesellschaftspolitik. Wer nun glaubt, durch bloßes Festhalten an ihm heute Nützlichem, Althergebrachtem den politischen und ökonomischen Status quo bewahren zu können, ohne die Zeichen der Zeit zu verstehen, indem er sich notwendigen Einsichten und Reformen verschließt, der verliert am Ende alles. Der Verlauf der Revolutionen im Zarenreich und in Deutschland - 1917 und 1918 - ist dafür ein weltgeschichtlicher, unwiderlegbarer Beweis.
Die Voraussetzungen jeden Versuchs sind - ich sagte es - Glaubhaftigkeit, Ehrlichkeit, Redlichkeit und nicht zuletzt demokratische Öffentlichkeit. Nichts, was in der deutschen Frage geschieht, darf dem Licht der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit entzogen werden. Das ist die Waffe unserer Demokratie.
Meine Damen und Herren, ein Wort zum tragischen Thema der Vertriebenen. Das ist auch ein gesamtdeutsches Schicksal. Von vornherein begegneten die Menschen, die in der DDR Aufnahme fanden, einer manchmal brutal anmutenden Offenheit. Illusionslosigkeit über das, was ist, konnte nicht aufkommen; man mag darüber urteilen, wie man will. Die Behandlung dieser Frage dort ist unterschiedlich zu der in der Bundesrepublik.
Wir danken für die Hilfe, die wir alle nach Maßgabe unserer Möglichkeiten den Vertriebenen gegeben haben. Ich möchte nicht anstehen, all denen zu danken, die als Sprecher der Vertriebenen ihrer Äußerstes getan haben, um Sachlichkeit an Stelle von Emotionen zum Leitbild ihres Handelns zu machen. In der Tat, hemmungslose Demagogie wäre das Schlimmste. Wir würden dann nur wieder jene randalierenden Haufen erleben, die wir einmal in Würzburg haben sehen müssen.
Eine Frage an den Herrn Bundeskanzler. Herr Bundeskanzler, sind es wirklich nur Reste radikaler Organisationen, die wir heute erleben? Ich glaube da einen gewissen Zweifel anmelden zu dürfen. Allerdings bedeutet es schon einen demokratischen Fortschritt, daß heute niemand mehr umhinkann, sich von diesen Machenschaften und Vorkommnissen zu distanzieren.
Aber wir fragen uns, was es bedeutet, wenn hinter dem Wandschirm die Gründung von Konkurrenzunternehmen, da die einen disqualifiziert sind, mit ungefähr gleichen irrealen und gefährlichen Parolen vollzogen wird; Konkurrenzunternehmen, weiter sind sie nichts. Wenn sich demokratische Parteien in einen Kontakt mit diesen Konkurrenzunternehmen hineinbegeben, werden sie sich die Frage gefallen lassen müssen: zu welchem Zweck? Sie werden der Rechenschaftslegung nicht entgehen.
({5})
- Haben Sie etwas mit denen zu tun? Haben wir etwas mit denen zu tun? 'Gar nichts!
({6})
- Nun, ich meine beispielsweise diejenigen, die in Bayern als Ersatzorganisation gegründet wurden. Sie kennen die einschlägigen Zeitungsartikel. Die meine ich. Ich bin nicht lückenlos darüber orientiert. Ich weise nur darauf hin und empfehle das Ihrer Aufmerksamkeit, damit nicht ein falscher Verdacht aufkommen kann.
({7})
- Ich glaube, die Zeit drängt jetzt viel zu sehr.
Meine Damen und Herren, ein Wort zu den Gralshütern der deutschen Nation. Wir freuen uns über die Reisen der Opposition in die östlichen Länder. Die Erkenntnisse, die von dort mitkommen, unterscheiden sich manchmal wohltuend von dem, was Sie vorher glaubten.
Aber eines frage ich mich: Was bedeutet es, wenn gewisse Kreise hier, die nicht uns nahestehen, in die USA fahren und dort gierig Stimmen bei Kreisen suchen, die das, was hier geschieht, ablehnen, während sie doch genausogut wie wir wissen, daß alle unsere Verbündeten unsere Politik mittragen und gutheißen? Ich frage mich: Was soll das bedeuten? Und ich frage mich weiter: Nützt das der deutschen Politik, oder nützt es nur gewissen Kreisen? Auch diese Frage werden Sie einmal noch zu beantworten haben.
({8})
Für uns ist heute ein Blick in die Vergangenheit nur dann bedeutungsvoll, wenn wir daraus Lehren für die Gegenwart ziehen. Der Bismarcksche Staat war ein Fürstenstaat. Das Ende der Fürsten hätte beinahe das Ende des deutschen Staates bedeutet.
({9})
- Ich habe auch gesagt: „beinahe". Aber ich werde diese kritischen Stellen gern immer zweimal sagen, damit Sie nicht zu fragen brauchen, Herr Kollege.
({10})
- Also doch.
Herr Abgeordneter Borm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Aber bitte, ja. Ich freue mich, Herr Dr. Lenz.
Ich bitte ausdrücklich um Entschuldigung. Aber haben Sie nicht den Eindruck, Herr Borm, daß 1918/19 es gerade die demokratischen Kräfte dieses Volkes waren, die das Reich zusammengehalten haben?
Aber genau das habe ich doch wieder gesagt! Ich habe doch gesagt: „es hätte beinahe bedeutet". Nas verstehe ich nun wirklich nicht.
Gut. - Eine Zusatzfrage: Wer waren denn dann die Kräfte, die die Einheit des Reichs damals so gefährdet haben, daß man von „beinahe" sprechen kann?
Wer diese Kräfte waren? Das waren damals in der Tat die Kommunisten. (D
({0})
Es waren aber auch genau jene Kräfte, Herr Lenz, die abgetreten sind und die derartige Zustände überhaupt erst ermöglicht haben.
({1}) Die waren es nämlich auch.
({2})
- Ein Blick in die Vergangenheit amüsiert manchmal.
Unser heutiger Staat jedenfalls basiert auf der Gemeinschaft aller Bürger, und er wird ebensowenig zugrunde gehen wie diese Bürger.
Allerdings darf die DDR ihrerseits nicht länger das überfällige Friedenswerk zwischen Bundesrepublik und europäischem Osten durch Kurzsichtigkeit und Uneinsichtigkeit zu blockieren versuchen. Hierin, meine Damen und Herren von der Opposition, stimmen wir alle mit Ihnen überein. Denn wenn wir hier versagen, würde die Geschichte über beide Teile der deutschen Nation hinweggehen, und wir könnten niemals wieder Subjekt werden, wie wir es langsam werden, sondern müßten nur noch Objekt auf der politischen Bühne bleiben.
Existenzsicherung ist unser Ziel, und da, meine Damen und Herren, ein Wort zu etwas Militärischem. Atombomben helfen uns gar nicht, genauso-wenig, wie sie den Polen und den Tschechen helfen.
Das eine wollte ich denjenigen Politikern bei uns sagen, die das anscheinend noch immer nicht ganz verstanden haben, etwa weil sie jenes erschütternde, weil wahre Buch von Carl Friedrich von Weizsäcker nicht gelesen haben. Dort finden Sie die Motive unseres Handelns, die Sorge um die Existenz unserer Nation. Das ist das Kernstück unserer Tätigkeit.
Weniges nun noch zum Staatswesen Bundesrepublik, denn hier können wir aktiv agieren. Sie wurde von Politikern Weimarer Prägung mit Hitlererfahrung begründet. Diese Politiker scheiden seit dem Beginn der sechziger Jahre mehr und mehr aus. Ich bin noch da. Neue Kräfte rücken nach, und für diese wird die notwendige Anpassung an die veränderte Umwelt leichter. Unsere Ostpolitik ist ein Teil dieser Erkenntnis, die Gesellschaftspolitik ein weiterer. Ich begrüße es, daß gerade die große CDU dieser Frage einen Parteitag gewidmet hat. Über das Ergebnis braucht man nicht zu reden, aber daß er überhaupt stattgefunden hat, ist ein Fortschritt in unserer innenpolitischen Entwicklung.
Die gesellschaftspolitischen Dimensionen auch der deutschen Frage werden immer mehr und mehr begriffen. Das mag einigen nicht passen, aber wir haben die Chance, daß unsere Modelle und Erfahrungen bei der Bewältigung der Probleme einer modernen Industriegesellschaft teilweise austauschbar sind. Die Probleme der Industrie sind bei uns und beim totalitären Osten gleich.
Nun ein Wort zu den Reformen. Es heißt: Reformen kosten Geld. Natürlich, aber es gibt auch Reformen, die kein Geld kosten, sondern die Geld einbringen.
({3})
wobei gerade ihre Unterlassung unbezahlbar werden kann, jedenfalls Geld kostet. Wenden wir uns z. B. einmal der Frage des Eigentums zu. Ich darf Ihnen mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zwei Absätze aus Art. 14 des Grundgesetzes vorlesen:
Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen
({4})
- Entschuldigen Sie, Sie wußten es; es ist aber gut, wenn wir uns in unserem politischen Handeln immer daran erinnern. Bisher ist nämlich sehr vieles hinter dem Schleier der Ideologisierung und Mystifizierung verborgen geblieben. Eines ist aber sichtbar geworden, nämlich daß wir uns damit befassen müssen, daß bei der ökonomisch notwendigen Vermögenskonzentration auch der Zuwachs der Gewinne einseitig ist. Das ist eine Frage, der wir uns zuwenden müssen, was uns kein Geld kostet.
Noch etwas viel Schlimmeres sind die skandalösen Gewinne bei Bodenspekulationen und die unvertretbaren spekulativen Gewinne bei Stadtsanierungen und Raumplanungen. Paßt das zum Grundgesetz? Ich glaube, nein. Auch die Unterbringung von steuerpflichtigen Erlösen im Ausland ist problematisch und
problematisiert diesen Eigentumsbegriff. Das kostet kein Geld, das bringt Geld, wenn wir dagegen auftreten.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Da Sie aber oft unterbrochen worden sind, verlängere ich sie um fünf Minuten.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
- Sie haben freundlicherweise dafür gesorgt. Ich
bin Ihnen dankbar, daß Sie mich unterbrochen haben.
Meine Damen und Herren, über die Jugend wäre sehr viel zu sagen. Wir müssen ein andermal darüber reden. Im wesentlichen sind Ihnen die Dinge ja bekannt; wir haben schon öfter darüber gesprochen.
Alles war wir tun, hat Konsequenzen bei uns und für uns. Unsere Bürger verstehen sich als Deutsche, aber auch Walter Ulbricht betont das immer wieder für seinen Staat, und er will diesen Staat sogar zum politischen Leitbild unserer Nation erheben. Aber dieses Deutschsein bei uns, meine Damen und Herren - davor dürfen wir die Augen nicht verschließen -, bedeutet für die Bürger der Bundesrepublik in steigendem Maße in erster Linie ihre Identifizierung mit unserem Staat Bundesrepublik, und das Verhältnis der beiden Staaten zueinander wird mehr und mehr eine Frage der politischen Praxis. Unabdingbare Voraussetzung für den Fortbestand der Nation allerdings ist diese Einheit nicht. Die deutsche Geschichte hat das in der Vergangenheit genug bewiesen. In dem heutigen dynamischen historischkulturellen Prozeß unserer Geschichte besteht die Einheit unseres Volkes - man kann es zu leugnen versuchen oder nicht - mindestens in einer Schicksalsgemeinschaft, und die reale Wirklichkeit politischen Handelns und daher die Notwendigkeit dazu liegt darin, diese Verstehensgemeinschaft auszuweiten, zwei Gesellschaften, verschiedene Grundeinstellung in Wechselwirkung zueinander zu gestalten. Der Herr Bundeskanzler findet unsere Zustimmung, wenn er dies etwa so ausdrückte: Nation des Friedens, Nation der Kultur, Nation des sozialen Fortschritts.
Um dies sicherzustellen, gilt es, die Friedensfähigkeit unserer Nation, gerade weil sie aus zwei deutschen Staaten besteht, zu erhöhen. Das ist mühevoll und verantwortungsschwer. Aber wir sind überzeugt, daß die Reste nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls, daß die gemeinsame Sprache - auch wenn das gleiche Wort manchmal verschiedene Begriffe ausdeutet - und die lange gemeinsame Geschichte ausreichen, unseren gemeinsamen Beitrag zur Lösung der gesamteuropäischen Frage leisten zu können. Uns Deutsche entbindet nichts von der gemeinsamen Verantwortung für Europa.
Wer nun den politischen Status von heute überwinden will, der muß leider unter den heutigen Gegebenheiten zunächst den territorialen Status quo akzeptieren. Die Bedeutung dieser schmerz5090
lichen Notwendigkeit für Europa liegt auf der Hand. Ein solcher Versuch aktiver Koexistenz könnte ein Beispiel sein zur Lösung der weltweiten Probleme, die sich ähneln.
Es gibt Dinge, die für ein Gelingen eines solchen Versuchs sprechen: die atomare Waffentechnik mit ihrem Patt, die wachsende Kommunikation über den Eisernen Vorhang hinweg, die Bewältigung der zweiten industriellen Revolution und endlich die Erkenntnis, daß es einen gefährlicheren Gegensatz als den gibt, den man heute als Gegensatz Ost-West bezeichnet, Das ist der Gegensatz zwischen Nord und Süd, zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern, zwischen arm und reich. Hier liegt die Zukunftsaufgabe unserer Nation. Meine Damen und Herren, was immer die deutsche Nation gesündigt hat - sie macht es reichlich gut, wenn sie für die Jugend, wenn sie für den Frieden der Welt kämpft. Denn eins ist festzustellen: die deutsche Nation besteht!
({1})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Helmut Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich versuchen darf - und ich will damit niemandem zu nahetreten -, zu bewerten, was die Opposition im Laufe des heutigen Tages in dieser Debatte gesagt hat, so möchte ich sagen: dies war in gewisser Weise eine Wohltat, wenn man es nämlich vergleicht mit manchen Reden, die draußen im Lande gehalten werden, und mit mancher Schreibe, die draußen im Lande gedruckt wird. Auf der anderen Seite ist es fraglich, ob es wirklich eine Wohltat war. Denn es nutzt uns allen, der Opposition und auch uns, der Koalition, nicht, wenn wir in diesem Hause sachlich miteinander umzugehen versuchen und wenn die nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt schlimmen Vorwürfe nur anderswo ausgesprochen, hier aber nicht wiederholt werden.
({0})
Niemand muß Sorge haben, daß ich in die heutige Debatte Schärfe bringen will.
({1})
- Bei Ihnen ist man nie sicher, Richard Stücklen, bei mir vielleicht manchmal auch nicht; aber heute will ich es gewiß nicht. Ich möchte allerdings, daß ein oder zwei Vorwürfe, die - jetzt darf ich Sie anschauen, Herr Stücklen - in gewissen Himmelsrichtungen unseres Vaterlandes häufiger und schärfer, zum Teil schriller erhoben werden als an anderer Stelle und die ja aus dem Munde von Oppositionsangehörigen kommen, hier nicht ausgeklammert werden.
Es ist hier nicht vorgetragen worden, was ich im Lande hören und lesen muß, nämlich daß wir dabei seien, den Ausverkauf der Sicherheit unserer Nation zu betreiben oder daß wir dabei seien, den Zusammenhalt des Westens, auf den wir uns doch
angewiesen wissen, zu zerstören, So ist es heute hier nicht ausgesprochen worden. Ich bin dankbar dafür, daß die Sprecher der Opposition sich einigermaßen in Sorgfalt ihre Wortwahl überlegt haben.
Aber wir müssen nun doch unsererseits diese Gelegenheit einmal benutzen, uns mit dieser Art von Argumentation im Lande draußen, Herr Marx, auseinanderzusetzen. Ich will meine Bemerkungen nicht als jemand machen, der für ein bestimmtes Ressort verantwortlich ist, sondern ich nehme für mich in Anspruch, hier reden zu dürfen - wie es auch das Grundgesetz erlaubt - als jemand, der im Laufe der Jahre in diesem Hause mannigfache Funktionen nacheinander ausgeübt hat und sich in all diesen Funktionen - ({2})
- Sie wissen ja, daß Sie mir immer Chancen geben, wenn Sie Zwischenrufe machen.
({3})
Herr Lenz, Sie sollten das Grundgesetz genug kennen, um zu wissen, daß unabhängig vom Ressort jeder Bundesminister für die Sache der Regierung sprechen kann.
({4})
Ich habe mich also aus mancherlei Blickrichtung um diese Frage der Verknüpfung der Sicherheit unseres Volkes, unserer Nation und der Versöhnung mit unseren Nachbarn immer wieder gekümmert. Ich muß hier heute z. B. auch sprechen, weil ich einmal im Klartext meine Position gegenüber Verdächtigungen aus Ost-Berlin vortragen muß und weil ich das zum anderen gegenüber unlauteren Anfeindungen hier in Bonn nötig habe. Aus Ost-Berlin wird gesagt, ich sei der „Vollstrecker des Willens der Rüstungsindustrie", und dann wird noch süffisant hinzugefügt: des Kollegen Strauß. Hier in Bonn sagen einige aus einer ganz anderen Himmelsrichtung, auf dem Seektor der Verteidigungspolitik würden am laufenden Band Vorleistungen zugunsten der Sowjetunion erbracht. Aus beiden Himmelsrichtungen höre ich gleicherweise, daß ich für meine Person im Widerspruch stünde zu unserer Polen-, zu unserer Rußland-, zu unserer Außenpolitik schlechthin.
({5})
- Mag sein, das sagen Sie aber auch, Herr Marx sagt es, Herr Klepsch sagt es. Herr Klepsch sagt dann gleichzeitig auch, ich würde Deutschlands Sicherheit verkaufen, und deshalb muß ich darüber mal reden dürfen.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: ich bin davon überzeugt, daß es weder innerhalb dieser Regierung noch bei nüchternen Beobachtern in der Opposition, weder im Osten noch im Westen - nirgendwo, bei nüchterner Beurteilung - einen Zweifel daran gibt, daß unsere Außenpolitik einschließlich dessen, was man öffentlich Ostpolitik zu nennen sich angewöhnt hat, und unsere Sicherheitspolitik ineinander konzipiert sind und in einem festen Verhältnis zueinander stehen. Unsere Politik insgesamt
ist realistisch und nüchtern. Sie deutelt deshalb auch nicht an den Erfordernissen der Sicherheit. Sie ist ein in sich zusammenhängendes Kontinuum, ein geschlossenes Konzept, das keinen bedroht, das unsere Freiheit nicht in Frage stellt und das den Frieden befestigen wird, wenn dieses Konzept zum Erfolge führt.
Vorhin hat der Kollege Wienand darauf hingewiesen, daß es seit drei Jahren, nämlich seit dem Harmel-Bericht - er steht ja inzwischen nicht im Museum des Bündnisses, sondern er ist Bestandteil von dessen operativer Politik -, die gemeinsame Politik der im Nordatlantischen Bündnis vereinigten Staaten ist, Sicherheit und Entspannung als die zwei tragenden, als zwei gleichberechtigte, gleicherweise tragende Pfeiler der gemeinsamen Politik der Allianz anzusehen. Dies ist niemals vorher so deutlich geworden wie im Jahre 1970, insbesondere im Dezember 1970 auf der letzten Sitzung des NATO-Rates.
Diese Verbindung von Sicherheits- und Entspannungspolitik, die das Bündnis vorgenommen hat, ist im übrigen ja eine notwendige Voraussetzung für uns. Wenn das Bündnis das so nicht wollte, könnten wir unsere Politik nicht machen, weil wir unsere Politik ohne das Bündnis und ohne sein Einverständnis nicht machen können. Diese Verbindung von Sicherheits- und Entspannungspolitik ist die notwendige Voraussetzung dafür, daß wir uns bemühen können, den bestehenden Friedenszustand zu festigen und damit zugleich unsere Freiheit zu sichern und dabei doch die Chancen zur friedlichen Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts unserer Nation nicht zu verschütten. Wir wissen, daß Entspannungspolitik ohne Sicherheit Leichtsinn wäre, aber wir wissen auch, daß Sicherheitspolitik ohne Entspannungswille nichts anderes bliebe als die Fortsetzung des Kalten Krieges.
({6})
Entspannungspolitik ist nichts anderes als eine - lassen Sie mich ein Wortspiel wagen - Ergänzung der Sicherheitspolitik des Gleichgewichts mit anderen Mitteln, um Clausewitz zu variieren, oder wenn Sie das Wortspiel genauer hören wollen: unter Einmischung anderer Mittel. Das Maß unserer Sicherheit, das Maß der gemeinsamen Sicherheit des Westens soll nicht verringert, sondern durch zusätzliche, durch neue außenpolitische Impulse erhöht werden.
Offensichtlich ist es für manchen schmerzlich, von manchen Denkschemata Abschied zu nehmen. Offensichtlich ist es besonders schmerzlich, wenn nach so vielen Jahren nun eine etwas veränderte politische Ausgangsplattform benutzt wird, ein veränderter politischer Akzent gesetzt wird, was die Zielsetzung angeht. Dies kann nicht über Nacht große Erfolge mit sich bringen.
Da gab es ein Zwischenspiel zwischen meinem Kollegen Wienand und Ihnen, Herr Stücklen. Aber ich glaube, Sie haben sich gegenseitig ein bißchen schlecht verstanden. Ich kann, denke ich, von mir aus zur Aufhellung dieser Kontroverse beitragen; alle anderen Kontroversen kann man nicht beseitigen, aber hier schien es mir um ein sprachliches Mißverständnis zu gehen. Herr Wienand hat ganz gewiß gemeint, daß das Gleichgewicht der beiden militärischen Paktsysteme in Europa, das Gegengewicht, das wir bieten gegenüber dem weiß Gott eindrucksvollen militärischen Gewicht des Ostens, um im Gesamtsystem ein Gleichgewicht zu haben, die entscheidende Bedingung für die Bewahrung des Friedens in Europa gewesen ist in den letzten 20 Jahren. Es war übrigens wohl nicht Herr Stücklen, es war wohl Herr Kiep, bei dem die Kontroverse sich entzündete.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stücklen?
Aber gern!
Herr Kollege Schmidt, das hat Wienand auch erklärt.
Ich darf Sie fragen: Sind Sie der Meinung, daß, wenn der Warschauer Pakt nicht bestanden hätte, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet gewesen wäre? Anders formuliert: Meinen Sie, daß das NATO-Bündnis aggressiv gegenüber dem Osten gewesen wäre, wenn der Warschauer Pakt nicht bestanden hätte?
Nein, der Meinung bin ich nicht, und der Meinung ist auch Herr Kollege Wienand nicht. Herr Kollege Wienand hat viele Male versucht, Ihnen darzulegen, wie wichtig es ist, sich auch immer in die Standpunkte der gegenüberstehenden Partner, Gegner, Feinde - wie Sie es immer nennen wollen - zu versetzen. Das hat er versucht zu tun, und da hat es ein sprachliches Mißverständnis gegeben, kaum eines in der Sache.
Ich möchte aber die Eckpunkte unserer Politik nennen, Herr Stücklen, damit nicht wieder hinterher in gewissen Zeitungen unterschwellig irgendwelche falschen Interpretationen vorkommen.
({0})
- Ja, ich meine den Bayern-Kurier. Blatt von Welt, nicht?
Erstens. Das Bündnis ist für unsere Sicherheit und für die Sicherheit der Partner unerläßlich. Es versetzt die Partner des Bündnisses, aber auch uns, in die Lage, gemeinsam Fortschritte in Richtung auf Besserung des Ost-West-Verhältnisses zu versuchen. Die Tatsache des Bündnisses, die Tatsache seiner Wirksamkeit und die Tatsache unseres für das Gleichgewicht, das das Bündnis halten muß, unerläßlichen Betrags zu diesem Bündnis stellen in jedermanns Rechnung bekannte Größen dar, was die europäische Politik angeht.
Die Außen- und Sicherheitspolitik dieser Regierung nützt im Rahmen dieser tatsächlichen Daten den Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland voll aus. Das ist allerdings wahr, und
da besteht ein Unterschied zu den vorangegangenen Bundesregierungen unter den Herren Dr. Kiesinger und Professor Erhard, die unseren Handlungsspielraum teils nicht ausgenutzt, teils nicht ganz erkannt haben. Wir nutzen ihn allerdings bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten aus. Das wollen wir hier ganz deutlich sagen.
({1})
- Der Beweis für den Erfolg ist noch nicht erbracht. Da gebe ich Ihnen recht, Herr von Wrangel. Aber nach 20 Jahren einer von CDU-Kanzlern gerührten Sicherheits- und Außenpolitik werden Sie doch nicht erwarten, daß die ganze Welt in 15 Monaten umgedreht werden könnte!
({2})
Ich wundere mich ein wenig - ich gucke jetzt lieber Sie an, Herr Dr. Barzel -, wie Sie eine Reihe von gerechtfertigten Forderungen, die sich im wesentlichen an Ost-Berlin richten, hier vorführen. Es ist gut, daß Sie es tun. Das gehört nicht nur zu den legitimen Aufgaben der Opposition, sondern auch zu den von der Regierung zu wünschenden Aufgaben der Opposition. Ich wundere mich aber ein bißchen darüber, daß ein unterschwelliger Akzent darin zu sein schien, als ob es sich dabei gleichzeitig uni Vorwürfe an unsere Regierung handele. Das habe ich mit meiner zugegebenerweise etwas scharfen Antwort an Herrn von Wrangel gemeint.
({3})
- Gut. Aber als Herr Borm sagte, die Mauer sei doch nicht zu Zeiten des Bundeskanzlers Brandt gebaut worden, es seien andere Umstände gewesen, hat er damit nicht irgend jemandem in Bonn die Verantwortung für den Mauerbau zuschieben wollen. Das hat auch niemand im Ernst so verstanden. Er wollte doch nur sagen: Die Politik, die 20 oder - sagen wir es genauer - 17 Jahre lang gemacht worden ist, hat keinen Erfolg in Sachen Berlin gebracht. Die letzten drei Jahre waren schon eine deutlich zu vermerkende Übergangsphase.
({4})
- Ich will unseren Anteil an dieser Übergangsphase nicht unterschätzen, Herr Barzel. Immerhin war Bundeskanzler Kiesinger der erste, der Briefe aus Ost-Berlin nicht mit der Kohlenzange anfaßte oder sie unangefaßt zurückgehen ließ, sondern sie wurden unter dem Einfluß von Herbert Wehner geöffnet und sogar beantwortet. Das war ja schon eine ganze Menge.
({5})
Also ich will unseren Anteil dabei nicht unterschätzen.
({6})
- Nein. Ich meine in allem Ernst, wir haben uns ein
bißchen von der Tatsache freigeschwommen, daß wir
damals auf einen sehr mächtigen, zahlenmäßig sehr bedeutenden Koalitionspartner Rücksicht nehmen mußten. Jetzt sind wir ein bißchen freier, und wir nutzen - auch als Sozialdemokratische Partei - unseren Handlungsspielraum aus. Das wird auch so bleiben, solange wir an dieser Regierung beteiligt sind und sie sogar in der Gestalt des Bundeskanzlers führen.
({7})
Ich möchte den zweiten Eckpunkt nennen. Das Gleichgewicht in Europa, zu dem die Allianz notwendig ist, wird auch durch Verträge keineswegs verzichtbar oder gar überflüssig. Das Gleichgewicht wird nicht überflüssig durch einen Vertrag wie den über die Nonproliferation nuklearer strategischer Waffen. Es wird nicht überflüssig, wenn bei den SALT-Gesprächen zwischen Amerikanern und Sowjets etwas herauskommen sollte. Es wird nicht überflüssig durch den deutsch-sowjetischen und den deutsch-polnischen Vertrag oder den Vertrag mit der DDR, den wir anstreben, der aber im Augenblick noch in einiger Ferne zu sein scheint.
({8})
Zu diesem Gleichgewicht gehört - das ist der dritte Eckpunkt -, daß auf das politische und militärische Engagement der Vereinigten Staaten in Europa auch in diesem Jahrzehnt nicht verzichtet werden kann.
({9})
Die substantiell ungeschmälerte Präsenz der Vereinigten Staaten dient allen, die an einem stabilen und friedlichen Europa interessiert sind. Westeuropa kann die amerikanischen Truppen weder militärisch noch politisch noch psychologisch ersetzen.
({10})
Vierter Eckpunkt. Hier ist von Bundeskanzler Adenauer gesprochen worden. Jeder weiß, daß wir Sozialdemokraten zu seinen Lebzeiten, zu seinen Amtszeiten in schrecklichen Auseinandersetzungen mit ihm gewesen sind. Mir liegt hier nicht daran, alte Auseinandersetzungen wieder auszugraben, sondern mir liegt hier daran, einen Punkt doch positiv hervorzuheben, um dann allerdings einen anderen anzuschließen. Es war vielleicht Adenauers Glück, daß er zu der Zeit an der Spitze dieses Staates stand, als sich in unserem Volke, in unserer Nation, aber auch in der französischen Nation die Möglichkeiten für das Zustandebringen der Versöhnung nach was weiß ich wie vielen Generationen sogenannter Erbfeindschaft so glücklich entfalteten. Aber niemand wird leugnen wollen - ich jedenfalls würde es nicht leugnen wollen -, daß Adenauer in seiner Person daran einen ganz hervorragenden Anteil gehabt hat. Die deutsch-französische Aussöhnung wird sicherlich besonders mit seinem Namen verbunden bleiben, wie sie übrigens auch - obwohl wir unzählige Einwände gegen die Politik de Gaulles zu erheben hatten - mit dem Namen von Charles de Gaulle verbunden bleiben
wird. Es ist eine Lebensnotwendigkeit für den Frieden in Mitteleuropa, daß dieses unser Volk, unsere Nation, die wie keine andere Nation der Welt mit 12 Nachbarnationen in Frieden leben muß - es gab und gibt keine Nation in den letzten 300 oder 400 Jahren, die sich geographisch in einer solchen Lage wie wir Deutschen befindet -, die Aussöhnung auch mit dem Osten anstrebt. So wie es Adenauer und andere zustande gebracht haben, uns mit der französischen Nachbarnation auszusöhnen, und wie das mit seinem Namen verbunden bleiben wird, so hoffe ich sehr, daß mit den Namen Scheel und Brandt eines Tages verbunden sein wird, daß es uns auch gelang, die Aussöhnung zu den Nachbarn im Osten langsam, aber sicher in Gang zu setzen.
({11})
L)as ist der fünfte Eckpunkt, den ich meine: Wir wollen die Freundschaft, die wir nach zwei Weltkriegen mit den Völkern des Westens erreicht haben, nicht gefährden. Wir brauchen sie geradezu, um wenigstens die Normalisierung, später die Aussöhnung mit den Völkern des Ostens auch zu erreichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherr von und zu Guttenberg?
Bitte sehr, Herr von Guttenberg.
Herr Kollege Schmidt, da Sie gerade den Vergleich der unter Adenauer vollzogenen Versöhnung mit Frankreich einerseits und dar von der jetzigen Bundesregierung angestrebten Versöhnung mit dem Osten andererseits ziehen und da Sie selbst sagen, daß man wohl einräumen müsse, daß zu Zeiten Adenauers die Möglichkeit und die Stimmung im deutschen wie im französischen Volk für diese Versöhnung bestand, frage ich Sie, ob nicht eben hier der entscheidende Unterschied liegt, weil nämlich die Verantwortlichen im Osten - wie die Berliner dieser Tage wieder schmerzlich erleben - leider nicht an einer Versöhnung im Sinne der Freiheitsrechte aller Deutschen interessiert sind.
({0})
Ich darf in mehreren Punkten antworten, Herr von Guttenberg.
({0})
- Ja, aber Ihre Frage hat mehrere Facetten; es war eine sehr angereicherte Frage.
Was zunächst die Möglichkeiten in der Gefühlslage der Völker angeht, so bin ich überzeugt, daß allerdings auch in Osteuropa - nicht zuletzt, weil wir uns vernünftig benehmen die Gefühlslage
heranreift, in der sich auch die Völker Osteuropas mit der deutschen Nation versöhnen wollen.
({1})
Herr von Guttemberg und ich sind uns in diesem Punkt völlig einig.
({2})
Zweitens. Ähnlich ist es in bezug auf die Situation, mit der Adenauer es zu tun hatte, und in bezug auf die Situation, mit der wir es heute zu tun haben, nämlich dergestalt, daß man diese in der seelischen Entwicklung der Nationen angelegte Chance politisch nur gestützt auf Freunde - d. h. gestützt auf die Freunde im Westen - ergreifen kann.
Drittens. Was Ihre Beurteilung der bisherigen Haltung der Ostberliner Regierung angeht, so habe ich daran nichts zu deuteln, ich habe nichts hinzuzufügen und nichts abzustreiten. Das muß nicht heißen, daß das immer so bleibt. Es würde sicherlich so bleiben, wenn wir gar nichts täten.
({3})
Lassen Sie mich bitte den sechsten Eckpunkt anschließen, der nach meiner Meinung hier gesetzt werden muß. Ich habe mit Genugtuung gesehen, daß die Christlich-Demokratische Union auf ihrem Parteitag in den letzten beiden Tagen sich für den europäischen Bundesstaat ausgesprochen hat. Wir gehen davon aus, daß unsere Anstrengungen für die politische Einheit Westeuropas, möglicherweise eines Tages auch auf das Sicherheitsfeld ausgreifend, nicht den Weg nach Europa insgesamt verbauen, ihn nicht behindern. Wir haben allerdings erfahren müssen, daß zäher Pragmatismus, was den Bau der westeuropäischen Integration anlangt, dem Fortschritt bei der politischen Einigung Westeuropas besser zugute kommt als die verbale Jagd nach architektonischer Perfektion. Mit Sonntagsreden ist hier nicht viel geholfen.
({4})
Auch mit Parteitagsbeschlüssen der Sozialdemokraten, der Freien Demokraten oder der CDU ist da
nicht viel geholfen, sondern nur mit täglicher Arbeit.
Ich darf einmal für mein Ressort etwas sagen. Ich nehme allerdings in Anspruch - ich bitte, das, was ich sage, kritisch zu durchleuchten -, daß z. B. auf dem Felde der gemeinsamen Sicherheit und der Verteidigung die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich seit sieben Jahren nicht so eng, so gut und so fruchtbar gewesen ist wie im Jahre 1970. Wenn Sie nach Paris fahren, werden Sie das hören, - wenn Sie sich erkundigen. Man muß sich manchmal bei den richtigen Adressen erkundigen. Nicht immer sind ältere Staatsmänner, die ihr Amt vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgegeben haben, die richtigen Adressen.
({5})
Dies allerdings war nicht in bezug auf Paris gesagt,
sondern in bezug auf eine andere Himmelsrichtung.
({6})
Lassen Sie mich über die deutsche Position in diesem Spiel abschließend folgendes sagen. Unsere Politik der Verständigung mit der Sowjetunion und anderen im Osten wird ja nicht dadurch zu einer Schaukelpolitik, daß dies ab und zu von der CDU behauptet wird. Wir gehen vielmehr davon aus, daß Theodor Heuss ein richtige Einsicht formuliert hat, die für ihn damals, für seine Zeit, für alle Parteien galt, für die heutige Zeit in gleicher Weise gilt und vielleicht noch lange gelten mag, daß nämlich - so hat er gesagt - die „Bundesrepublik Deutschland keine Macht ist, die sich mit Alternativangeboten an die Spitze der Riege turnen könnte".
Konkret stellt sich die Verbindung von Entspannung und Sicherheit, die das Bündnis gemeinsam verfolgt und jedes halbe Jahr in allen seinen Tagungen wieder ausdrücklich betont und in concreto ausbaut, dar z. B. in den bilateral zwischen den Amerikanern und den Russen geführten SALT-Gesprächen, wobei jeweils die Verbündeten der Amerikaner - auch wir - sehr sorgfältig konsultiert, nicht nur informiert werden, stellt sich dar in den Verhandlungen der Vier Mächte über das sensitive und mit Sicherheitsrisiken beladene Problem Berlin, stellt sich dar in den Verhandlungen, die die Bundesrepublik Deutschland führt mit östlichen Ländern - der Sowjetunion und Polen -, stellt sich dar in dem Abtasten, das viele westliche Bündnispartner mit vielen östlichen Staaten eingeleitet haben über die Frage gegenseitiger gleichgewichtiger Verringerung nicht nur der Rüstungslasten, sondern auch der Zahlen von Panzern, Soldaten und Flugzeugen, stellt sich dar in den Sondierungen beider Seiten über die Möglichkeiten, die eine Konferenz über die Sicherheit Europas zustande bringen lassen können, und über die Möglichkeiten, die auf einer solchen Konferenz ausgeschöpft werden könnten, stellt sich dar andererseits in der im Dezember letzten Jahres in Brüssel gemeinsam von den europäischen NATO-Partnern - den europäischen NATO-Partnern - beschlossenen Intensivierung der Verteidigung durch ein militärisches Verstärkungsprogramm der NATO - das ist ein ganz besonders wichtiger Punkt, daß nämlich die europäischen Partner hier unter sich etwas zustande gebracht haben -, stellt sich dar in den Sondierungen zwischen der Sowjetunion und den Amerikanern, was die den Weltfrieden bedrohenden Probleme im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeer angeht. An jedem dieser Punkte, die ich soeben als Beispiele aufgezählt habe, zeigt sich, daß sich die Beteiligten einerseits ausreichend sicher fühlen, um auf Verhandlungen, auf Gespräche einzugehen, daß sie sich andererseits diese Entwicklung, die Fortsetzung, das Erzielen von Ergebnissen dieser Verhandlungen ohne fortgesetzte Sicherheitsanstrengungen nicht denken können.
All das, was ich soeben beispielsweise nannte, macht deutlich, daß die deutsche Außenpolitik und Sicherheitspolitik ein Teil des Ganzen ist. Auch keine Regierung in diesem Bündnis - weder die in
Paris noch die in Rom, weder die in London noch die in Brüssel, weder die in Den Haag noch die in Kopenhagen oder die in Oslo oder die in Ottawa oder Washington - betrachtet das anders, als ich es soeben gesagt habe.
Es ist beinnahme keine Gefahr mehr - weil sich die im Bündnis vereinigten Regierungen so gut und so eng und so häufig konsultieren - für diese enge Kooperation, wenn bisweilen deutsche Politiker ins Ausland reisen und der Regierung des ausländischen Partners gegenüber behaupten, man müsse auf diese deutsche Bundesregierung aufpassen, denn sie verhalte sich nicht bündniskonform. Es ist beinahe keine Gefahr mehr, Herr Kiep.
({7})
Das ist eine Bemerkung, die sich diejenigen anziehen mögen, denen dieser Schuh paßt.
Ich habe ein paar Ausführungen zu dem zu machen, was Herr Dr. Barzel gesagt hat. Herr Barzel, Sie haben heute morgen gesagt - ich kann Ihren Wortlaut nicht genau reproduzieren, ich sage es dem Sinne nach -, die Worte des Bundeskanzlers zur Europapolitik würden immer schwächer oder immer dünner; eines von beidem haben Sie gesagt.
({8})
Dazu müssen Sie sich, so finde ich, vorhalten lassen, daß Europa eben nicht mit Worten, sondern durch Handeln von Woche zu Woche, von Monat zu Monat gebaut wird. Ich denke, daß Sie im Ernst die Verdienste des Bundeskanzlers und des Außenministers und auch die Verdienste, die der französische Präsident Pompidou - nach einer sehr schwierigen Epoche im Zusammenleben dieser beiden Staaten - im Laufe der letzten 12 Monate sich erworben hat, indem man in Westeuropa wieder stärker aufeinander zugeht, im Grunde nicht leugnen wollen. Ich finde, Sie müssen letztlich zugeben, daß, wenn es auch langsam geht, das tatsächliche Ausmaß des Sich-einander-Annäherns, des Aufeinander-Zugehens in Westeuropa in diesen letzten 15 Monaten größer war als in den davorliegenden 36 Monaten in den vergangenen Jahren.
({9})
Hier ist es doch genau wie mit Ost-Berlin oder Moskau oder Warschau. Es genügt doch nicht, daß der eine guten Willen hat. Auch der andere muß guten Willen haben, und dann muß sogar noch Übereinstimmung in der Sache erzielt werden. In der Übereinstimmung der Sache ist mit Paris allerdings seit Dezember 1969 sehr viel mehr erreicht worden als in den Jahren -({10})
- Richtig! Ich habe ja auch darauf hingewiesen, daß Pompidou ein anderer Partner ist, als de Gaulle es war; ich habe es nicht verschwiegen.
({11})
- Vor allem ein neuer Kanzler, Herr Stücklen! ({12})
Ich weiß mich gut zu erinnern, wie ein früherer Kanzler immer von der Vorstellung fasziniert war, mit Grand Charles reden zu dürfen.
Herr Barzel hat eine Liste angeblicher Vorleistungen aufgemacht, die die Bundesregierung an östliche Adressen erbracht habe. Dabei war ein Punkt, der mein Ressort betrifft. Sie haben gemeint, daß eine 'beabsichtigte Veränderung der Formel des Soldateneids eine ostpolitische Vorleistung sei. Ich darf Ihnen versichern und bitte, mir zu glauben, daß das miteinander überhaupt nichts zu tun hat, sondern daß lange Diskussionen in beiden Kirchen, vor allen Dingen in der Bundeswehr selber, geraume Zeit vor meinem Amtsantritt zu dem Wunsch geführt haben, in Zukunft, sowohl was die Formel des Gelöbnisses als auch was die Formel des Eides angeht, Mißverständnisse auszuschließen, die hier und da bei Wehrpflichtigen, was mir verständlich ist, auftreten.
({13})
- Ich habe ja keinen Streit mit Herrn Genscher. Herr Barzel wollte gern einen Streit zwischen Herrn Genscher und mir entfachen. In Wirklichkeit wollte er sich an der Regierung reiben. So ist doch die Sache. Weder Genscher noch Schmidt ist so dumm, darauf hereinzufallen. Ich muß das klarstellen.
({14})
Es ist eine von viel früher herrührende, eigentlich auf hohem Niveau geführte Debatte, vor allen Dingen im Raum der Evangelischen Kirche und im Raum der Bundeswehr.
Genscher, Schmidt und die Bundesregierung - das letztere ist hier viel wichtiger als die beiden Personen - haben sich im Sicherheitsweißbuch 1970 zu diesem Punkt festgelegt. Da heißt es, nachdem zuvor von der Ersetzung des Gelöbnisses für Wehrpflichtige durch eine förmliche Belehrung über Rechte und Pflichten die Rede ist:
Hingegen kann der Eid, den Berufs- und Zeitsodaten zu leisten haben, nur im Zusammenhang mit der Eidesleistung im übrigen öffentlichen Dienst gesehen werden. Eine Ersetzung des Eides nur für den Soldaten kommt nicht in Betracht. Eine deutlichere Fassung der in der gegenwärtigen Formel des Soldateneides verwendeten Begriffe erscheint notwendig.
Das haben Sie damals auch nicht beanstandet; das ist die Position der Regierung.
Inzwischen haben Referenten in verschiedenen Häusern überlegt, wie man diese Position verwirklichen kann. Das Licht des Kabinetts hat die Sache noch nicht erblickt; das wird aber wohl noch geschehen. Es gibt zwischen Herrn Genscher und mir keinen Streit den wird es auch nicht deshalb geben, weil Herr Barzel ihn gern möchte -, sondern es gibt ein ernstes Problem: Kann man einem 19-oder 20jährigen klarmachen, daß, wenn er schwört, die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen zu wollen, damit nicht gemeint ist, daß er die Freiheit eines Teils unseres Volkes gegenüber Bedrückern, die ihn nicht mit äußeren Gewaltmitteln angreifen, verteidigen soll? Das ist für viele junge Menschen ein ernstes Problem. Dieses ernste Problem möchten wir ganz gern lösen, sofern es lösbar gemacht werden kann. Herr Barzel, das hat mit Ostpolitik - ich bitte Sie, mir das zu glauben - wirklich nichts zu tun.
({15})
- Ja, sicherlich, aber doch erst dann, wenn man eine eigene Meinung hat; ich habe noch gar keine. Im Augenblick sind es die Referenten, die an der Lösung basteln. Im übrigen würde ich manches Problem, das die Sicherheitspolitik und die Bundeswehr angeht, gern mit der Opposition besprechen. Nur müssen Sie mir dann einen anderen Gesprächspartner als denjenigen schicken, der in der Öffentlichkeit dauernd die Bundeswehr durch den Kakao zieht!
({16})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lenz?
Herr Kollege Schmidt, ich will nicht auf die Sache zurückkommen, sondern nur auf Ihre Aussage, diese Frage habe mit der Ostpolitik nichts zu tun.
({0})
Teilen Sie nicht meine Auffassung, daß das Kernproblem der Ostpolitik die eine Nation und die angeblich bestehenden z w e i Staaten sind? Damit hat doch auch die Eidesformel etwas zu tun, nicht wahr?
Ich will hier nicht streiten. Ich halte das für ein ernst zu nehmendes Problem, das hier beschlossen liegt. Ich halte es darüber hinaus für ein sprachliches Problem. Angesichts der Geteiltheit des Volkes in zwei Staaten ist es für manchen jungen Menschen schwer zu verstehen, wie es gemeint oder nicht gemeint ist, daß die Freiheit des deutschen Volkes zu verteiligen sei. Es ist erstens ein sittliches und zweitens ein sprachliches Problem, das seit 1955 debattiert wird und mit der gegenwärtigen Ostpolitik - das wird Herr Barzel inzwischen gern akzeptieren - genausowenig zu tun hat wie das, was ich außerdem noch gelesen habe.
({0})
- Damit hing es auch schon zusammen, als es zu den Zeiten von Bundesverteidigungsminister Schröder und früher strittig war. Es hat nichts mit dem gegenwärtigen ostpolitischen Ansatz dieser Bundesregierung zu tun, genausowenig wie die Tatsache, daß z. B. die Besatzungen unserer Schiffe, die Marineangehörigen, von sich aus den Wunsch hatten, in Zukunft den Flaggengruß ostzonaler Han5096
delsschiffe erwidern zu dürfen, was sie bisher nicht durften. In diesem Zusammenhang ist mir ja abermals angedichtet worden, ich erbrächte eine neue Vorleistung beim Ausverkauf deutscher Sicherheit.
({1})
Der Wunsch kam von der Marine, von den Seeoffizieren. Ich habe gebremst und gesagt: Ich bin bereit, darüber nachzudenken und dann zu entscheiden; aber dann müßte ich auch wissen, wie es eigentlich bei internationalen Ski- oder Reitturnieren mit den Flaggen ist, wenn Soldaten der Bundeswehr am Aufbau der Hindernisse beteiligt sind. Ich habe eher noch gebremst, aber mir wurde dann angehängt, Vorleistungen zugunsten des Ostens erbracht zu haben.
Herr Barzel hat gesagt, daß die Bundesregierung in ihrer ersten Regierungserklärung vom Oktober 1969 die DDR als zweiten deutschen Staat angesprochen habe, sei auch eine Vorleistung gewesen, sei das Verlassen gemeinsamer Grundlagen gewesen. Aber ich bitte Sie, es war doch schon zu Zeiten der Großen Koalition so, Herr Barzel, daß wir uns darüber mokiert haben, wenn ein damaliger Bundeskanzler statt von der DDR vom „Phänomen" sprach. Das ist nichts Neues.
({2})
Im übrigen seid Ihr euch nicht ganz einig. Herr Gradl, der heute in einer sehr sachlichen Weise argumentiert hat, hat den ganzen Abend von der DDR geredet. Das ist auch ganz selbstverständlich. Sie ist ja kein Phänomen einer spirituellen Welt, sie ist praktisch da. Ich würde diese Semantik nicht übertreiben.
Herr Abgeordneter von Guttenberg möchte eine Frage stellen.
Bitte sehr!
Herr Kollege Schmidt, ich würde Ihnen recht geben, daß man darüber sprechen kann, oh DDR in Anführungszeichen oder nicht Semantik ist. Aber sind Sie der Meinung, daß die Zuerkennung des Staatscharakters an diese - ich sage: sogenannte - DDR auch nur Semantik ist?
Herr Kollege von Guttenberg, ich möchte diese Frage nicht allzusehr vertiefen. Ich gestehe Ihnen zu, daß wir beide verschiedener Meinung sind.
({0})
Herr Kollege Barzel hat dann in seinen Ausführungen erklärt, mangelnde Vollständigkeit in Regierungserklärungen sei auch schon eine Vorleistung.
({1})
Dies eigentlich hat mich erst dazu gebracht, an Ihren
Vorleistungskatalog heranzugehen, Herr Barzel.
Wenn es richtig sein sollte, daß mangelnde Vollständigkeit grundsätzlich ein vorwerfbarer Fehler ist - es kann Situationen geben, in denen es ein vorwerfbarer Fehler ist; das kann man nicht ausschließen -, dann wäre ich dankbar, wenn im Verlauf der Debatte heute abend oder morgen ein Sprecher Ihrer Fraktion heraufgehen und hier für seine Fraktion erklären würde, daß die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erstens das vom Ministerrat des nordatlantischen Bündnisses im letzten Dezember in Brüssel verabschiedete Papier über die gemeinsame Verteidigung in den 70er Jahren und zweitens das dort verabschiedete Papier über die außenpolitische Situation in allen seinen Teilen voll billigt.
Sie haben in Ihrer Rede nur eine einzige Passage genannt. Sie haben sich auf d i e Berlin-Passage bezogen. Übringens sind es zwei Berlin-Passagen, aber das ist nicht so wichtig. Sie haben gesagt, diese Passage werde von der CDU/CSU unterstützt. Das ist gut.
({2})
- Gut, Herr Barzel, das ist in Ordnung. Aber nicht ganz gut war, daß Sie gemeint haben, diese Berlin-Passage sei eine Unterstreichung durch unsere Partner, als ob das die Bündnispartner hineingeschrieben hätten, etwa gegen unsere zögernde Tendenz oder so etwas.
({3})
- Dann sind wir uns einig. Sie akzeptieren, daß es die Meinung der Partner u n d die Meinung unserer Regierung ist.
Darüber hinaus: wir stehen nicht allein zu den beiden Berlin-Passagen, wir stehen zu dem ganzen Dokument einschließlich des Satzes, daß die Allianz als Ganzes es begrüßt, daß die Bundesrepublik diese beiden Verträge eingeleitet und unterschrieben hat,
({4})
einschließlich dessen, was dort über Berlin gesagt wird, einschließlich dessen, was dort gesagt wird über viele andere bedeutende Probleme, wie SALT, wie Sicherheitskonferenz.
({5})
- Ja, sicher, Herr Barzel. Wenn Sie bereit sind, das genau so zu tragen, wie die Bundesregierung es trägt und wie die beiden Regierungsfraktionen es tragen, wie ich annehme, dann ist die Sache viel einfacher, als Sie es sich in Parteitagsreden machen. Dann ist nämlich die gemeinsame Basis dieses Hauses in Wirklichkeit viel breiter, als Herr Strauß sein Publikum glauben machen möchte.
({6})
Ich kann nur sagen, wenn Sie diese NATO-Entschließung, die von Berlin bis zu allen Problemen, die die westlichen Partner gemeinsam angehen, einen gemeinsam erarbeiteten Schatz von Gedanken und Aussagen formuliert hat, akzeptieren können - wir haben sie akzeptiert; denn Herr Scheel und ich haben ja in Brüssel darüber abgestimmt und haben unsere
Hand dafür erhoben, als im Bündnis darüber entschieden wurde -, wenn Sie das unterschreiben j können, dann tun Sie es bitte und fragen Sie sich anschließend in aller Ruhe, wo denn nun die Differenzen über den „Ausverkauf der Nation" wirklich noch sind. Fragen Sie sich das!
({7})
Ich hatte an den die militärische Seite dieser Konferenz vorbereitenden Teilen gearbeitet, Vorkonferenzen in verschiedenen Orten der Welt, in Ottawa, in Rom, in Europa. Herr Scheel hat den diplomatischen Teil, den rein politischen Teil, wenn ich so sagen darf, für unser Land vorbereitet. Das Eindruckvollste für mich war, als nun die Verteidigungsminister, einige Finanzminister und die Außenminister zusammensaßen und als das, was Sie so brennend bewegt - und mit Recht brennend bewegt -, Berlin, unsere Ostverträge und die Gesamtheit unserer Ostpolitik, daß alles, was diese Punkte betrifft, in dem NATO-Rats-Kommuniqué, ehe es beschlossen und im einzelnen redigiert wurde, von einem Außenminister zugleich für die amerikanische Regierung, für die französische Regierung, für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und für die englische Regierung vorgetragen worden ist, nämlich durch Douglas Home. Ich muß Ihnen sagen, das war eindrucksvoll, daß hier die vier größten Länder des Westens von vornherein in all diesen Fragen eine 'gemeinsame Position Punkt für Punkt auf den Tisch dieses Kollegiums legten. Es wurde dann allerdings in der einen oder anderen Einzelheit, in Details noch redigiert - wie das immer ist, wenn andere auch noch Vorstellungen haben -, hier und da ein bißchen geändert. Das Ganze war eindrucksvoll. Vielleicht ist es ganz gut, wenn Sie sich das einmal von jemanden erzählen lassen, der dabei war, und nicht bloß glauben, daß jemand, der inzwischen die Siebzig überschritten hat und sich irgendwo auch noch einmal zur Politik meldet - bei allem Respekt für manche, die in den letzten Wochen in ausländischen Hauptstädten zu unserer Politik gesprochen haben - ({8})
- Ich will nicht in die Kontroverse zwischen Ihnen und Bundeskanzler Brandt eingreifen. Ich finde nur, daß das kein Argument gegen meinen Appell an Sie, Herr Barzel, ist.
({9})
Ich habe Ihre vier Punkte studiert, von denen Sie soeben sprachen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Schmidt, nachdem Sie soeben in einer, wie ich finde, nicht sehr freundlichen Weise den früheren amerikanischen Außenminister Acheson
offenkundig abgewertet haben, frage ich Sie, ob Sie auch Herrn Ball zu den Staatsmännern rechnen, die über siebzig Jahre alt sind und offenbar nicht mehr in 'der Lage, die Dinge in Europa zu bewerten.
({0})
Herr von Guttenberg, ich bin Ihnen zunächst dankbar; Sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich in ein oder zwei Worten vielleicht zu salopp ausgedrückt habe. Ich bedaure das. Ich habe einen großen Respekt vor Leuten wie Acheson oder McCloy - um einen zweiten zu nennen - oder auch George Ball. Ich bedaure, wenn ich mich salopp ausgedrückt haben sollte; das möchte ich nicht. Aber ich möchte deutlich machen, daß diese Herren zum Teil seit fünfzehn Jahren aus der tatsächlichen, operativen Politik und Diplomatie entfernt sind.
({0})
- Das stimmt für Dean Acheson ganz gewiß.
({1})
Ich will mich nicht streiten. Ich habe großen Respekt für ihn. Ich kenne ihn ganz gut und halte ihn für eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Nur, er spricht nicht für die amerikanische Regierung; das muß nun wirklich einmal verstanden werden.
({2})
Für die amerikanische Regierung sprach Herr Rogers, sprach Herr Laird, sprach Dave Kennedy und sprach Herr Nixon.
({3})
- Nein, sprach! Er ließ doch auf dieser NATO-RatsTagung, die zu dem Papier führte, 'das ich Ihnen so ans Herz lege, einen Brief vorlesen, der er dieser Konferenz geschrieben hatte. Er schwieg gar nicht. Die Welt ist ein bißchen anders, als Sie sich das malen; Sie müssen nur die Tatsachen einmal zur Kenntnis nehmen.
({4})
Herr Barzel hat in einem Zwischenruf soeben auf die vier Punkte hingewiesen, auf die er noch eine Antwort haben möchte. Ich will dem Bundeskanzler nicht vorgreifen. Ich will aber auch nicht den Eindruck machen, daß ich ausweiche. Mir machen diese vier Punkte den Eindruck wohltuender Sachlichkeit, ich sagte es am Anfang schon. Über sie kann man ernsthaft miteinander streiten, ohne sich zu zerstreiten. Ich habe auch dafür Verständnis, daß Sie, Herr Dr. Barzel, am Schluß nach diesen vier Kriterien sagten: Wenn ich sie nun anlege, dann entsprechen die Verträge und Ergebnisse, die uns bisher vorliegen, den Maßstäben, die ich soeben nannte, nicht. Jedenfalls finde ich, daß dies eine Ausdrucksweise und eine Sprache ist, die es ermöglicht, daß man miteinander im Gespräch ist und
bleibt. Mehr will ich im Augenblick dazu nicht sagen. Ich sagte das schon am Anfang, und ich meinte diese Ihre vier Punkte, als ich von dem wohltuenden Unterschied sprach.
Auf der anderen Seite sind nun allerdings auch wir nicht der Meinung, daß das alles schon fertige Ergebnisse sind. Wer bei der Rede, die der Bundeskanzler heute morgen gehalten hat, irgendwie zugehört hat, kann doch nicht der Meinung sein, daß er z. B. den Zustand Berlins für ein fertiges Ergebnis hält.
Dann hat Herr Barzel Bismarck zitiert. Wenn ich mich richtig erinnere, ist gesagt worden, Bismarck habe es als eines seiner Motive bezeichnet - und Herr Barzel habe das in den Gedenkreden vermißt -, daß es endlich aufhören müsse, daß Deutsche auf Deutsche schießen. Ich will unterstellen, Bismarck habe das so gesagt und habe es ehrlich so gemeint. Ich will gar nicht daran erinnern, daß er 1866 mit schuld daran war, daß Brüder auf Brüder schossen; lassen wir das einmal offen.
({5})
- Den Bayern tut das heute noch leid.
Aber, Richard Stücklen, nun im Ernst. Wenn Otto von Bismarck für die Lage unserer Nation heute Relevanz hat, dann mag es dazu verschiedene Aspekte geben. Ich rede nicht davon, wie alte Sozialdemokraten über den Mann, über seine Innenpolitik und seine Sozialpolitik denken müssen. Aber wenn seine Außenpolitik überhaupt Relevanz hat, dann wird man doch nicht übersehen, daß er jedenfalls auch gewußt hat, daß die deutsche Nation mit zwölf Nachbarnationen im Einklang leben muß und daß darunter sehr mächtige Nachbarn sind. Ich rede weiß Gott nicht der Idee das Wort, wir könnten wieder einen Rückversicherungsvertrag mit Rußland schließen. Aber dieser Vertrag Otto von Bismarcks seinerzeit zeigte, daß er gewußt hat, daß unsere Nachbarschaft, in die wir eingebettet sind, die wir nicht beherrschen können, .ein wichtiger Faktor ist und daß wir sie in Richtung Westen wie in Richtung Osten nach unseren Möglichkeiten in Ordnung halten müssen.
({6})
- Das ist ja nun wohl keine Kritik an mir. Das müssen Sie dann den Kollegen sagen, die Sie kritisieren, und ich bin ganz überzeugt, daß sich die Damen und Herren zu wehren wissen.
Lassen Sie mich noch einmal auf die NATO-Ratssitzung vor acht Wochen in Brüssel zurückkommen. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, daß hier ein ganz interessanter Ansatz der Westeuropäer untereinander nicht nur insofern zustande gebracht wurde, als sich die europäischen NATO-Partner auf eine erhebliche zusätzliche finanzielle Aufwendung untereinander verständigt haben, sondern auch insofern, als dieses europäische Verstärkungsprogramm ein entwicklungsfähiges politisches Element
zukünftiger europäisch-amerikanischer Beziehungen und vor allen Dingen ein sehr entwicklungsfähiges Element europäischer Zusammenarbeit auch ohne den großen Bruder auf der anderen Seite des Atlantik darstellt. Vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß die Franzosen zu einem ganz kleinen Teil angefangen haben, sich an solchen gemeinsamen Unternehmungen zu beteiligen; das war einer der Gründe, weswegen ich mir vorhin die Freiheit nahm, zu sagen, die Zusammenarbeit mit den Franzosen auf dem Gebiet der Sicherheit sei heute besser als lange, lange Jahre vorher. Vielleicht haben Sie übersehen, daß hier von europäischer Seite eine der entscheidenden psychologischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurde, daß die amerikanische Regierung in Brüssel schriftlich geben konnte, daß sie die Substanz ihrer Präsenz nicht verändern wird. Vielleicht haben Sie übersehen, daß diese Voraussetzung ganz wesentlich durch die politischen und diplomatischen Anstrengungen dieser deutschen Bundesregierung zustande gebracht worden ist. Wir haben dabei von der Opposition leider keine Hilfe gehabt. Einzelne Abgeordnete der Opposition reisten nach Amerika und kamen wieder und verkündeten lauthals, wir müßten noch mehr zahlen, als wir vereinbart hätten; das sei alles zu wenig. Manchmal hat man Hilfe von der Opposition, in diesem Falle hatten wir sie nicht.
Lassen Sie mich, auf den Schluß kommend, Herr Präsident, ein Argument aufgreifen, das man im Lande auch hört, ohne daß es von der CDU/CSU käme. Es kommt aus anderer Richtung. Ich meine das Argument, wir könnten, wenn wir erst mit der Sowjetunion einen Vertrag über Gewaltverzicht hätten, aus dem Bündnis ausscheiden, könnten die Bundeswehr aufgeben, oder dergleichen Naivitäten mehr. Es gibt hier im Hause wahrscheinlich niemanden, der dem Bundesminister der Verteidigung unterstellt, daß er solche Absichten, solche Motivationen in seiner Brust hegte. Ich sähe es aber ganz gerne, wenn man es auch dem Herrn von Weizsäcker - ich meine Carl Friedrich von Weizsäcker - nicht unterstellte, der in den letzten 14 Tagen zu Recht in vieler Leute Munde gewesen ist. Ich kann nur empfehlen, obwohl ich nicht in allen Punkten übereinstimme, dieses etwa 20 Seiten umfassende, in einer auch für uns Laien verständlichen Begriffssprache geschriebene Vorwort zu lesen, die Einleitung zu lesen, die Weizsäcker zu jenen umfangreichen Untersuchungen geschrieben hat. Die Untersuchungen sind in ihrer Qualität ungleichmäßig, zum Teil muß man dafür auch wirklich sehr viel studiert haben, um sie zu begreifen, aber das Vorwort des Professors Carl Friedrich von Weizsäcker hat wirklich Qualität, und Kollege Borm hat zu Recht darauf hingewiesen. Es wäre ein Mißverständnis, daraus zu lesen, Herr von Weizsäcker habe gemeint, da man nicht für alle Zukunft sicher sein könne, daß die beiderseitige Abschreckung, das Gleichgewicht der Abschreckung, den Frieden wahre, solle man das System des Gleichgewichts aufgeben. Er hat nur darauf hingewiesen - das bezieht sich bei ihm vor allen Dingen auf die beiden Supermächte -, daß man nicht für alle Zeiten sicher sein könne - und je weiter die Betrachtung
in die Zukunft reicht, um so geringer erscheint ihm die Sicherheit -, daß dieses Gleichgewicht in Frieden bewahrt wird und daß man zusätzlich etwas erfinden müsse. Was das Zusätzliche angeht, so heißt es da:
Die Öffentlichkeit muß begreifen, daß das eigene Überleben davon abhängen kann, ob der Strukturwandel der Welt, der zum politisch garantierten Weltfrieden führt, die erste Priorität der Politik ihres eigenen Landes ist.
Und etwas später auf derselben Seite:
Ohne Zweifel gehört zu solcher Politik der Versuch, die Konfliktherde, die im eigenen Land und in seiner Beziehung zum Nachbarn liegen, zu löschen. Dies wird heute versucht, und wenn unsere Analyse richtig ist, so ist dieser Versuch lebenswichtig.
Diese Sätze möchte ich voll unterschreiben. Ich möchte im übrigen den Aufsatz dem nachdenklichen Lesen aller unserer Kollegen empfehlen.
„Dieser Versuch ist lebenswichtig": Wenn die Verträge ratifiziert sein werden, so werden sie für die zukünftige nachbarliche Entwicklung in Europa für unser Volk im Verhältnis zu seinen Nachbarn um so mehr Bedeutung haben, je sicherer auf beiden Seiten von der Erhaltung des Gleichgewichts ausgegangen werden kann. Dies ist nicht nur deutsches Interesse, dies ist auch polnisches Interesse; das ist nicht nur englisches oder französisches oder dänisches oder norwegisches Interesse, das ist auch ungarisches oder rumänisches oder slowakisches oder tschechisches Interesse.
Ich möchte am Schluß etwas an die Adresse einiger Politiker in Washington sagen. Ich kann es begreifen, wenn einige amerikanische Senatoren aus vielen innenpolitischen Gründen meinen, daß die amerikanischen Truppen in Europa verringert werden sollten. Ich bin froh, daß die amerikanische Regierung, auf unsere Vorschläge eingehend, gesagt hat: aber nur, wenn auch auf der östlichen Seite, wenn beiderseitig gleichgewichtig verringert wird, sonst nicht! Ich kann die amerikanischen Senatoren verstehen. Nur, wenn sie sagen, daß der deutschsowjetische Vertrag, wenn er ratifiziert sein sollte, d. h. wenn eine befriedigende Berlin-Regelung erreicht ist, und wenn der Vertrag mit den Polen wirksam wird, es überflüssig mache, daß die Amerikaner ihre Rolle in Europa spielten, dann irren sich diese Herren. Wir alle wissen, daß diese Art von Argumentation nicht durch die Regierung Brandt/Scheel ausgelöst worden ist, sondern daß Mike Mansfield und andere ihre Propanganda seit Jahr und Tag betreiben. Ich wäre dankbar, wenn man das auseinanderhielte
({7})
und wüßte, daß es sich um inneramerikanisch motivierte Zielsetzungen handelt, für die wir Verständnis haben müssen. Es sind wichtige Personen in einem uns eng verbündeten Land, deren Auffassung wir aber aus unserem Sicherheitsinteresse und, wie wir glauben, aus dem richtig verstandenen Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten selber nicht
akzeptieren. Mit der deutschen Ostpolitik hat es nichts zu tun.
Deutsche Politik ist auf die Erhaltung des Friedens eingerichtet - und nicht nur dies, nicht nur einfach auf die Erhaltung des Friedens. Sie will nicht ein mehr oder minder mechanischer Beitrag im Sinne von „es wird schon so weitergehen wie bisher" sein. Die deutsche Politik will auf dynamische Weise der Erhaltung des Friedens dienen.
Ich sagte, ich möchte Gelegenheit haben, auch meine persönliche Position einmal klarzumachen. Ich für meine Person war für diese Politik seit vielen Jahren. Ich bin ihretwegen zweimal in Moskau und in anderen osteuropäischen Hauptstädten gewesen, übrigens unter schauderhafter Begleitmusik aus der CSU, Herr Stücklen.
({8})
Wir waren in diesen Hauptstädten und haben sondiert, was bei einer neuen Regierung wohl möglich wäre, lange ehe Herr Dr. Barzel für die CDU nach Warschau reiste. Daß Sie nach Warschau reisten, Herr Dr. Barzel, daß Herr Dr. Schröder nach Moskau
({9})
- Ja, aber in anderer Funktion, Herr Marx! - Daß der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU nach Warschau reist, finde ich gut. Ich finde, es liegt im Sinne der deutschen Politik, es liegt im gemeinsamen Interesse, daß die Polen sehen, wie die Lage bei uns ist, und sicherlich haben sie auch gesehen, daß Herr Barzel das, was er sagt, auch so meint. Und ich finde es gut, daß Herr Dr. Schröder nach Moskau gereist ist und daß er aus der Sicht der Opposition das gesagt hat, was er hat sagen müssen, so daß auch für unseren sowjetischen Verhandlungs- und Vertragspartner die Lage plastischer werden konnte. Ein bißchen habe ich mich gewundert, daß dann jemand gesagt hat, er habe aus Warschau mehr mitgebracht als der Bundeskanzler.
({10})
- Herr Lenz ruft dazwischen: Das war nicht so
schwierig. Nun, die Vorarbeit hatten ja wir gemacht.
({11})
Aber ich freue mich darüber; denn beide Reisen von zwei hervorragenden Oppositionspolitikern tragen dazu bei, daß auch der Opposition selber klar wird, daß der Handlungsspielraum der deutschen Politik größer ist, als man früher gewußt und geglaubt hat, größer sogar, als man heute vor sich selber zuzugeben bereit ist. Es gibt Spielräume. Aber - auch das will ich zum Schluß sagen - wir müssen auch beide wissen, und diese Bundesregierung jedenfalls weiß, daß sie ihre Spielräume nur in konsequenter Befolgung der Notwendigkeiten des Gleichgewichts zu benutzen versuchen kann. Auf dieser Grundlage wird die Bundesrepublik Deutschland dazu beitragen, in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik den Notwendigkeiten zu folgen, ohne dabei die Möglichkei5100
ten unterzubewerten und ohne dabei die Chancen vorübergehen zu lassen.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Freiherr von Weizsäcker. Seine Fraktion hat für ihne eine Redezeit von 25 Minuten erbeten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns natürlich über den Zusammenhang von Deutschlandpolitik, von der Lage in Berlin, von der Ostpolitik, der Außenpolitik und der Sicherheitspolitik im ganzen im klaren, und trotzdem war es nicht unser Wunsch, diese Debatte über die Lage der Nation mit schlechthin der ganzen Palette von Außen- und Verteidigungspolitik zu verbinden, zu vermischen. Es ist ein wenig schwierig, eine gewisse Ordnung in unsere Debatte zu bringen. Wir haben jetzt zwei teilweise sicherheitspolitische Beiträge von seiten der Koalitionsparteien gehört, zwischendurch wieder einen deutschlandpolitischen.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf alle diese Argumente jetzt meinerseits einzugehen. Morgen wird Gelegenheit sein, vor allem auf verteidigungspolitische Fragen, das NATO-Kommuniqué und ähnliche Dinge einzugehen. Morgen wird auch z. B. noch mehr davon die Rede sein, daß ja niemand von uns, Herr Kollege Schmidt, Ihnen vorgeworfen hat, Sie seien der Meinung, daß nach der Unterzeichnung der Verträge eine Präsenz der amerikanischen Truppen hier nicht mehr erforderlich sei, obwohl herauskommen wird, daß trotzdem die Gedanken des Senators Mansfield und seiner Freunde durchaus keine inner-amerikanische Angelegenheit sind, sondern daß sich alles, was hier an Politik geschieht und geäußert wird, gerade auf die sogenannte inneramerikanische Entwicklung auswirkt. Es wird morgen auch noch deutlicher davon die Rede sein, was wirklich zu dem zu sagen ist, was Sie über die Ausnutzung von Spielraum früherer und heutiger Regierungen gesagt haben. Es geht ja nicht nur um die Frage, ob man Spielraum nutzt, sondern zunächst vor allem um die Frage, ob man den Spielraum richtig einschätzt, der einem zur Verfügung steht.
({0})
Ich denke, daß gerade bei der sehr differenzierten Beobachtung und Analyse der hiesigen Politik durch unsere Verbündeten die Frage, inwieweit der Spielraum durch die heutige Bundesregierung richtig eingeschätzt wird, eine ganz zentrale Rolle spielt.
Morgen wird auch von der Europapolitik und von dem Verhältnis von Ost- und Westversöhnung die Rede sein. Keiner in diesem Raum verschließt sich dem Wunsch und der Notwendigkeit, neben Westversöhnung Versöhnung mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern im Osten herbeizuführen. Aber wir wissen doch alle, wie die Westversöhnung zustande gekommen ist. Und gerade wenn wir uns das klarmachen, dann wissen wir, daß wir auf diese Halbkugel nicht einfach fugenlos eine zweite Halbkugel
der Ostversöhnung unter denselben Bedingungen draufstülpen können. Die Westmächte haben uns in ihrer damaligen machtpolitischen und sicherheitspolitischen Situation ein Bündnis angeboten, das unserer Interessenlage entsprach. Wir haben die ausgestreckte Hand ergriffen, und auf dieser Basis ist eine Versöhnung im vollen Sinne des Wortes entstanden. Natürlich wollen wir die Versöhnung mit dem Osten auch, aber die Sowjetunion wird uns doch keine Bündnisse anbieten, die nicht ihren eigenen machtpolitischen Interessen entsprechen.
({1})
Das Problem ist ja gerade, wie diese beiden machtpolitischen Interessen miteinander harmonieren.
Ich möchte ein paar Worte, Herr Schmidt, zu Ihren Bemerkungen über den Eid sagen. Wir alle wissen, daß das ein sehr ernster Punkt ist. Mir sind die von Ihnen genannten kirchlichen Auseinandersetzungen, zumal in der evangelischen Kirche, über den Eid sehr wohl bewußt, und ich nehme sie auch sehr ernst. Aber wir müssen ja zwischen den Erörterungen in der Kirche und Theologie einerseits und den verfassungspolitischen und politischen Erörterungen andererseits unterscheiden.
({2}): Sehr gut!)
Sie werden nicht leugnen, daß sich Herr Dr. Barzel mit den politischen und verfassungspolitischen Aspekten der Eidesformel beschäftigt hat. Ich nehme dankbar zur Kenntnis, Herr Schmidt, daß sie sich selber dazu bekennen, es könne nicht zweierlei Maß für die Eidesformel der Soldaten und für die übrigen Eidesformeln in unserem Lande geben. Ich denke, Sie werden sich darüber hinaus auch dafür einsetzen wollen und einzusetzen haben, daß wir in einem Zeitpunkt, in dem die Regierung, jedenfalls mit ihren Worten, von Recht und Freiheit des deutschen Volkes spricht, den Soldaten nicht zumuten können, einfach nur für Recht und Freiheit - ja, wessen, der ganzen Welt? - einzutreten.
({3})
Als letztes möchte ich von dem, was Sie gesagt haben, Herr Schmidt, noch Ihre erste Bemerkung aufgreifen. Sie haben davon gesprochen, es sei eine Wohltat, wie man hier miteinander über die Lage der Nation diskutiere. Aber dann haben Sie diese Bemerkung selber mit einem Fragezeichen versehen und gefragt, ob es wirklich eine Wohltat sei, wenn eine Diskrepanz zwischen den hier geäußerten und den draußen geäußerten Worten auffindbar sei. Nun, ich sehe in der Tat in solchen Diskrepanzen keinen Vorteil für unsere Politik. immerhin, sofern es solche Diskrepanzen gibt, lassen sie sich ja nachprüfen. Ich finde, die größere Gefahr von Diskrepanzen besteht dort, wo es um eine Diskrepanz zwischen Worten einerseits und Taten andererseits geht.
({4})
In diesem Zusammenhang bin ich nun bei meinem eigentlichen Thema, zu dem ich hier noch einen Beitrag leisten möchte, mit dem ich zu der sehr einfachen Frage zurückkehre, über die schon heute morgen gesprochen wurde: Welche Ziele hat sich
diese Bundesregierung bei ihrem letztjährigen Bericht zur Lage der Nation gesetzt? Was ist in den letzten zwölf Monaten aus diesen Zielen geworden? Welche Lehren sind für uns daraus zu ziehen?
Bundeskanzler Brandt hat vor diesem Hause am 14. Januar 1970 drei Leitlinien aufgestellt. Er hat davon gesprochen:
erstens, seine Regierung wolle die Forderung nach Selbstbestimmung kräftigen, gegründet auf das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen; Selbstbestimmung als Ausdruck des fortdauernden Willens zur Nation;
zweitens, die Regierung wolle ein geregeltes Nebeneinander mit dem anderen Teil Deutschlands herbeiführen;
drittens, sie wolle eigene deutsche Beiträge zur internationalen Lage, insbesondere also zur Entspannung in Europa, leisten.
Die Regierung hat in ihrer damaligen Erklärung selbst von dem Zusammenhang dieser drei Ziele gesprochen. Sie hat auf den langen Weg zur Selbstbestimmung und auf die Notwendigkeit hingewiesen, unterwegs deutsche Beiträge zur internationalen Lage zu erbringen. Das kann man doch wohl nur so verstehen: Die Forderung nach Selbstbestimmung soll dadurch unterstützungswürdiger und sympathischer gemacht werden, daß sich die Bundesrepublik bereitwillig und aktiv an der Lösung der Probleme beteiligt, die Europa als Ganzes betreffen.
Nun hat sich die Bundesregierung ohne Zweifel in den letzten zwölf Monaten um Beiträge dieser Art bemüht, und sie hat auch mancherlei Beifall in Ost und West gefunden. Die Probe aufs Exempel ist nur die Frage: Was sind denn die Motive solchen Beifalls, soweit es ihn gibt? Drückt er wirklich gewachsenes Verständnis unserer Nachbarn in Ost und West, in Nord und Süd für die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung aus oder nicht? Wir können zur Antwort auf diese Frage heute ja nur eine Zwischenbilanz ziehen, und gewiß hat das in dem Bestreben zu geschehen, die deutsche Situation nicht zu schädigen, wenn wir interpretieren, was die Bundesregierung getan hat und wie es wirkt. Aber eben dazu müssen wir auf die Gefahren hinweisen, die uns die letzten zwölf Monate gebracht haben, und ich meine, wir müssen in aller Nüchternheit feststellen: Der Löwenanteil des nachbarlichen Beifalls für die deutschen Entspannungsbeiträge beruht gerade darauf, daß man in Ost und West die Politik der Bundesregierung als ein Zeichen wachsender Bereitschaft der Deutschen nimmt, sich mit ihrer Lage abzufinden, die Teilung hinzunehmen und also den Anspruch auf Selbstbestimmung in den Hintergrund zu schieben.
({5})
Gewiß, im Erfurter Treffen erlebte die Welt ein Zeichen des fortdauernden Willens der Deutschen, zusammenzugehören. Aber die beiden unterzeichneten Verträge wurden anders verstanden, und wen soll das überraschen? In den Hauptstädten unserer Verbündeten steht im übrigen neben der Sorge über den Einfluß des Moskauer Vertrages auf das Gesamtkräfteverhältnis in Europa die erstaunte Erleichterung darüber, daß die deutsche Frage offenbar nur noch in einseitigen Erklärungen, dagegen nicht mehr in den Verträgen selbst offenbleiben soll,
({6})
Eine wenn auch nicht amtliche, so doch symptomatische Deutung gab der „Man-of-the-Year"-Artikel über den Bundeskanzler in „Time" durch die Feststellung, Willy Brandt sei der erste deutsche Staatsmann, der die Teilung Deutschlands eingestehe, und seine Verträge seien de facto Friedensverträge.
({7})
Die Bundesregierung hat diese Bemerkungen nicht dementiert. Im Gegenteil, sie hat sie durch das Presse- und Informationsamt verbreitet.
Erstaunen gab es selbst im Osten und dort gerade bei denen, die eine eigene leidvolle Erfahrung mit der Teilung des eigenen Landes haben. Es waren polnische Kommunisten in amtlicher Stellung, Herr Bundeskanzler, die mir vor mehreren Wochen in Warschau die Frage vorgelegt haben: „Warum hat eure Regierung in Art. 3 des Moskauer Vertrages keinen Unterschied zwischen der Oder-Neiße-Grenze und der Elbe-Werra-Grenze gemacht?
({8})
Wir Polen wünschen uns keinen wiedervereinigten großen deutschen Nationalstaat; aber wir wissen, daß es westlich unserer Grenze eine deutsche Frage gibt. die der Lösung bedarf, wenn wir eine haltbare europäische Friedensordnung miteinander schaffen wollen."
({9})Mit Worten hat die Bundesregierung die Forderung nach Selbstbestimmung mehrfach bekräftigt. Ich erinnere an die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, an den Bericht zur Lage der Nation vom 14. Januar 1970, an die Erklärung des Kabinetts vom 6. Juni und an den Brief zur deutschen Einheit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer?
Bitte sehr!
Dr: Schäfer ({0}) ({1}) : Herr von Weizsäcker, sind Sie bereit, das, was Sie eben hier referierend berichtet haben, in kleinem Kreis unter Nennung von Roß und Reiter darzulegen?
Selbstverständlich, Herr Schäfer.
({0})
Wir halten die Bundesregierung an diesen Worten fest, und wir fragen, wie sie diese Politik in die
Tat umzusetzen gedenkt im Angesicht dessen, daß weder der Moskauer noch der Warschauer Vertrag diese unsere gemeinsame Forderung vertragssubstantiell enthält.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Fellermaier?
Bitte schön!
Herr von Weizsäcker, warum haben Sie nicht Gelegenheit genommen, diese bedeutsame Feststellung in einer Diskussion im Auswärtigen Ausschuß, der nicht öffentlicht tagt, zu treffen?
Ich habe diese Feststellung schon mehrfach öffentlich getroffen. Wenn Sie das Bedürfnis dazu gehabt hätten, dann hätten Sie ja im Auswärtigen Ausschuß darauf zurückkommen können.
({0})
Wir alle bejahen deutsche Beiträge zur internationalen Lage, wenn sie im Einklang mit dem Grunderfordernis der Deutschlandpolitik geleistet und auch so verstanden werden. Aber es ist eine gefährlich kurzfristige Politik, die nachbarlichen Beifall auslöst, weil sie die Realität des fortdauernden Willens der Deutschen, zusammenzugehören, in den Verträgen nicht in der geeigneten Weise zum Ausdruck zu bringen weiß. Es ist eben wesentlich schwieriger, als es sich die Bundesregierung bisher gemacht hat, die beiden Ziele, nämlich Beiträge zur internationalen Entspannung und die Bekräftigung des Selbstbestimmungsrechts, so miteinander zu verbinden, daß sie sich gegenseitig befruchten.
Eine ähnliche Sorge tritt uns vielleicht noch deutlicher im Verhältnis der beiden anderen Ziele - Selbstbestimmung einerseits und Regelung des Nebeneinander andererseits - gegenüber. In der einen oder anderen technischen Frage mögen Fortschritte gemacht worden sein, trotz manchen Ärgers, den wir gerade auch auf technischem Gebiet in den letzten Tagen bei dem Thema Telefon erlebt haben. Im ganzen können wir aber hier nur in aller Nüchternheit feststellen: Stärker als je zuvor wehrt sich Ost-Berlin ideologisch gegen das Nebeneinander und zieht daraus politische Konsequenzen.
({1})
- Ich komme darauf zurück, Herr Schäfer, keine Sorge!
Die Gründe für diese Abwehrhaltung sind ja nicht schwer zu erkennen. Die SED ist auf Sicherung ihrer Existenz und Macht angewiesen. Der Anspruch auf freie Selbstbestimmung - das wissen wir - trifft sie ins Mark. Sie kann sich nach ihrem Verständnis nur auf solche Fragen des Nebeneinander einlassen,
von denen sie glaubt, daß sie ihr helfen, den Anspruch auf Selbstbestimmung zurückzuweisen.
({2})
Sie ist nach ihrem Selbstverständnis gezwungen, Begriff und Sache der innerdeutschen Beziehungen abzuwehren. Das haben wir doch alle überdeutlich erlebt. Die erste Ostberliner Reaktion auf die neue Bundesregierung war der Staatsvertragsentwurf im Dezember 1969; nicht um praktische Probleme zu lösen, sondern um eine völkerrechtliche Teilung formell anzustreben. Das folgende Erfurter Treffen - ich nannte es schon - war eine quasi-plebiszitäre Bekräftigung des Willens der Zusammengehörigkeit. Aber gerade darauf ließ die heftige Reaktion der SED nicht auf sich warten: Das war die Propagandarede von Stoph in Kassel. Dann folgte die sogenannte Denkpause. Man mauerte in Ost-Berlin, bis man die Chance sah, das eigene Konzept wieder ins Spiel zu bringen. Das waren die Berlin-Verhandlungen.
({3})
Zur Zeit gibt es nun bei uns viel Streit über die Frage, ob die Verhandlungen über eine Berlin-Regelung und über Deutschland zusammenhängen oder nicht. Die Koalitionsparteien werfen uns vor, wir wollten nur ein neues Hindernis gegen den Moskauer Vertrag aufbauen; es sei gewissermaßen ein taktisches Abwehrmanöver der Opposition, das in Wahrheit die DDR zum Schiedsrichter über das Schicksal unserer Beziehungen zur Sowjetunion machen würde. Ich kann diesen Vorwurf nur zurückweisen und fragen, ob die Bundesregierung denn wirklich übersieht, daß nicht wir, sondern Ost-Berlin selbst diesen Zusammenhang unablässig herstellt. Wir können dem gar nicht aus dem Wege gehen, auch wenn wir es wollten.
Ulbricht sagt, wenn ihr für den Moskauer Vertrag eine Berlin-Regelung braucht, dann braucht ihr uns, d. h. dann müßt ihr euch zu unseren deutschlandpolitischen Forderungen stellen. Was ist denn - um nur einziges Beispiel zu nennen - der vorgeschlagene Transitvertrag anderes als ein entscheidendes Stück Ostberliner Deutschlandpolitik in Richtung auf eine Dreiteilung Deutschlands?
({4})
Wenn Moskau seinem Verbündeten Ulbricht in Sachen Moskauer Vertrag wirklich eine Schiedsrichterrolle spielen lassen wollte, nun, dann besitzt sie Ulbricht doch sowieso schon in der Berlin-Frage. Es heißt doch wahrlich die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man behauptet, das erfolge erst durch den Ruf der Opposition nach zusätzlichen innerdeutschen Regelungen.
Es sind gerade die Berlin-Verhandlungen, die Ost-Berlin Veranlassung geben, in immer neuen Steigerungen das Konzept der Politik der Abgrenzung vorzutragen. Zwar hat auch die SED, wie wir wissen, die Einheit der Nation zum Verfassungsgebot erhoben. Das hindert sie aber keineswegs, ihre Deutschlandpolitik als Gesellschaftspolitik zu betreiben.
({5})
Angesichts der Unterschiede der Gesellschaftssysteme heißt diese Deutschlandpolitik also heute Abgrenzung. Der konstitutionelle Auftrag lautet, alle Deutschen in der sozialistischen Gesellschaft zu vereinen.
Für den Bereich der DDR - so Ulbricht - ist dieses Ziel schon erreicht. Die DDR ist der sozialistische deutsche Nationalstaat - der Bundeskanzler hat heute morgen auch schon auf dieses Zitat hingewiesen , der sich auf dem Wege zur Herausbildung einer sozialistischen deutschen Nation befindet. Ich glaube, nach dem Verständnis von Ulbricht besteht da kein Widerspruch, Herr Bundeskanzler. In der Bundesrepublik aber - so Ulbricht - herrscht der Klassenfeind; der Einheitsauftrag läßt sich zur Zeit folglich nur durch eine Politik der Abgrenzung wahren; intensive und besondere Beziehungen innerdeutscher Art, die auf die Initiative des imperialistischen Teils Deutschlands zurückgehen, können diesen Einheitsauftrag nur gefährden. Erst später, nach weiterer innerer Konsolidierung und bei der erhofften zunehmenden deutschlandpolitischen Erlahmung im Westen, erst dann soll die Herrschaftschance für eine vereinte sozialistische Nation positiv offensiv ins Spiel gebracht werden.
({6})
Bis dahin aber hält es die SED für nötig, ihre Politik zum eigenen Schutz auf dein Gegensatz zur Bundesrepublik aufzubauen.
Seit langem gibt es bei uns einen heftigen Streit, welches die richtige Bonner Antwort 'darauf sei, um nämlich die Zusammengehörigkeit der Deutschen zu fördern, zugleich aber der Regierung Ulbrichts das Gefühl der Unsicherheit oder des Bedrohtseins zu nehmen. Es ist ein Streit, der oft genug mit ideologischem Eifer und moralischen Vorwürfen gegen die früheren Bundesregierungen geführt wurde. Da hieß es dann, eine Politik der Nichtanerkennung sei die wesentliche Ursache der Spannung, weil sie es Ost-Berlin nicht erlauben, die Empfindung deutscher Zweitklassigkeit abzulegen. Entkrampfung, so hieß es, werde es nur geben, wenn wir uns öffnen, entgegengehen und kooperieren. Das sind bestechende Vorschläge, kein Zweifel, und wir sind uns darüber einig, das unser Selbstvertrauen einen solchen Weg nahelegt.
Wandel durch Annäherung heißt also die Parole. Aber was ist daraus geworden? - Eine in Wandlung befindliche Position der DDR im Bereich der internationalen Anerkennung und eine bekräftigte Unwandelbarkeit ihrer Beziehungen zu uns. Statt Annäherung treibt die Abgrenzung immer neue Blüten.
Ich fürchte, dies zeigt sich auch an den Folgen der Einstellung, die die Bundesregierung bisher zum Thema Anerkennung hat erkennen lassen. Sie, Herr Bundeskanzler, und Herr Staatssekretär Bahr haben mehrfach ausgesprochen, es könne keine völkerrechtliche Anerkennung Ost-Berlins durch uns geben, weil das eine Verfügung über Deutschland als Ganzes im Sinne der Teilung und ein Eingriff in die Rechte der Vier Mächte wäre. Gleichzeitig aber hat Ihre Regierung in Kassel und im Bahr-Papier eine
Absichtserklärung über den Beitritt beider deutscher Staaten in die UNO abgegeben.
Wie aber ist die Ostberliner Interessenlage? -Dort sucht man vor allem internationale Anerkennung. Man braucht sie für die Konsolidierung des eigenen Systems. Der alles entscheidende Schritt hierfür ist aber die UNO-Mitgliedschaft, dagegen keineswegs der Botschafteraustausch mit uns.
Natürlich sage ich damit nicht, daß wir deshalb diplomatische Beziehungen zu Ost-Berlin aufnehmen sollten. Wir würden ja damit nur ein taktisches Argument beseitigen, aber den Kern des Bedürfnisses nach Abgrenzung überhaupt nicht treffen. Ich sage nur, daß Absichtserklärungen wegen der UNO-Mitgliedschaft einer der Punkte sind, wo die SED unsere Zeichen guten Willens wortlos und ohne Dankeszeichen in die Tasche steckt, zugleich aber ihre Politik der Abgrenzung nur noch steigert.
Die letzten zwölf Monate haben uns - das ist meine Überzeugung - eine Deutschland-Politik gebracht, die eine unglückliche Mischung von zu weitgehender sachlicher Konzessionsbereitschaft mit zu weitgehender provokativer Beunruhigung darstellt.
({7})
Wir sollten uns die „Ehrentitel", die man Ihnen von der Regierungskoalition und uns immer wieder von drüben her verleiht, nicht gegenseitig um die Ohren schlagen.
({8})
Die deutsche Sozialdemokratie ist eine der tragenden Kräfte der deutschen Demokratie überhaupt. Aber die Sorge Ost-Berlins vor dem „Sozialdemokratismus" sollte wahrlich auch nicht - wie man es gelegentlich hört - zum Anlaß eines gewissen Stolzes dienen, daß man die Sozialdemokratie deswegen so fürchten müsse, weil sie und sie allein eine ernst zu nehmende Chance drüben habe. Sondern jede der Seiten dieses Hauses hat die Pflicht zum selbstkritischen Nachdenken dann, wenn ihre politische Lesart im Feld der gesamtdeutschen Politik provokatorisch wirkt und Abgrenzung statt Annäherung fördert.
Meine Damen und Herren! Es ist schwierig genug, die Einheit zu wahren und zugleich zur Entkrampfung zwischen den beiden Teilen Deutschlands beizutragen. Seit dem letztjährigen Bericht zur Lage der Nation sind wir diesem Ziel wahrlich nicht nähergekommen. Um so mehr ist es unsere gemeinsame Aufgabe, darüber nachzudenken, was zu geschehen hat.
Lassen Sie mich zum Abschluß, Herr Präsident, hierzu noch drei Punkte nennen:
Erstens. Die Bundesregierung steht mitten in Berlin-Verhandlungen, und wir sollten jede Anstrengung machen, diese Verhandlungen von hier aus gemeinsam zu fördern, ganz unabhängig davon, wie wir zu den unterzeichneten Verträgen stehen. Diese Verhandlungen sind eine große außenpolitische Operation. Dafür braucht man ein klares Konzept und eine feste Rückfallposition. Es sollte nicht möglich sein, den eigenen Standpunkt zu relativieren und den Eindruck zu erwecken, als ob einem der
Abschluß von Vereinbarungen wichtiger sei als die Verteidigung des eigenen Standpunktes.
({9})
Die Verhandlungspartner müssen vielmehr genau wissen - und dazu sollten wir gemeinsam beitragen -, daß auch der Abbruch der Verhandlungen in Frage kommt, wenn ihre Fortführung den harten Kern des eigenen Konzepts gefährdet.
({10})
Zweitens. In der Deutschlandpolitik müssen wir zu jeder Verhandlung, zur Regelung jeder technischen und menschlichen Frage mit Ost-Berlin bereit sein. Wir dürfen uns auch nicht scheuen, hierfür Interesse und Kooperation der Ostberliner Regierung zu gewinnen, sowenig sie von ihrer eigenen Bevölkerung legitimiert und geliebt sein mag. Freilich, der übergeordnete politisch-sachliche Begriff der innerdeutschen Beziehungen hat dies bisher nicht erleichtert. Alles, was wir tun können, muß in dem Bewußtsein geschehen, daß die Hebel des direkten Kontakts zwischen Bonn und Ost-Berlin zu kurz sind, um die Beziehungen der Deutschen in einem politisch umfassenden Sinn auf eine neue Basis zu stellen, um das Miteinander wirklich bilateral zu lösen. Dazu sind und bleiben wir auf größere Zusammenhänge angewiesen.
Drittens und letztens. Es geht für niemanden von uns um gesamtdeutsche Vertretungsmacht oder um nationale Ansprüche um der Ansprüche willen. Der jüngste Anschauungsunterricht bei den Ereignissen in Westafrika davon war heute schon mehrfach die Rede - hat uns gelehrt, daß keine Regierung in diesem Land darum herumkommt, für die Wallrung des Namens aller Deutschen einzutreten. Sie muß es schon zum Schutz des Lebens ihrer eigenen Bürger tun.
({11})
Wenn es einen Sinn haben soll, einen 20-PunkteKatalog für die Beziehungen der Deutschen untereinander aufzustellen und dabei von der Einheit der Nation auszugehen, dann muß von dieser Einheit auch in der Substanz der Punkte ausdrücklich die Rede sein. Diese Einheit aber muß sich zuerst und vor allem auf die Rechte und Pflichten der Deutschen beziehen. Wenn hüben und drüben Bürger einer Nation leben, dann haben für sie im Prinzip auch hüben und drüben dieselben Pflichten zu gelten. Auch wenn wir das nicht durchsetzen können und natürlich nicht mit Gewalt durchsetzen wollen, so haben wir es doch zu fordern und für unseren Bereich zuzusagen.
Unsere Aufgabe ist und bleibt, über den Zusammenhalt der Nation nicht nur wissenschaftliche Erhebungen anzustellen, so wertvoll sie auch sein können, und nicht nur die Entwicklung des Willens der Bürger zu beobachten, sondern in erster Linie durch konkrete politische Forderungen diesen Willen zu beeinflussen und lebendig zu halten, diesen Willen, der eine Identifizierung mit Deutschland als Ganzem ist und bleibt.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Dieter Haack. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 20 Minuten erbeten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Rede des Herrn Abgeordneten von Weizsäcker konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bundeskanzler heute vormittag in seinem politischen Bericht über die Lage unserer Nation ein klares, nüchternes und realistisches Bild gezeichnet hat. Das ist eben der Ausdruck der Deutschland- und Ostpolitik dieser Regierung, daß sie keine Widersprüche, keine Halbheiten und keine Unwahrhaftigkeit und keine Illusionen beinhaltet. Sie geht klar und nüchtern und unpathetisch von den im Jahre 1971 bestehenden Realitäten in Deutschland aus, von der Teilung in zwei Staaten, von dem Verlust der deutschen Ostgebiete, von dem Fortbestehen der Einheit der Nation. Dabei sind wir der Auffassung, daß die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands nicht der ausschließliche Weg sein muß. Schließlich geht sie von den engen und unauflöslichen Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik aus.
Ich glaube, daß sich dadurch diese Politik von der Politik früherer Bundesregierungen grundsätzlich abhebt, von der Politik der Regierungen Adenauer und Erhard, in denen gegenüber der DDR eine von Rechtspositionen festgelegte Politik der Ignorierung betrieben wurde. Diese dogmatische Politik war so stark ich darf Ihnen nur ein Beispiel nennen -, daß in dieser Regierung sogar im Dezember 1963 vor Abschluß des ersten Passierscheinabkommens Widerstände überwunden werden mußten. Aber ich glaube, diese Regierungspolitik ist auch ein Fortschritt gegenüber der Politik der Großen Koalition, die zwar in Ansätzen eine wesentliche Neuorientierung unserer Deutschlandpolitik gebracht hat, die aber wegen der unterschiedlichen Auffassungen des damaligen Koalitionspartners CDU/CSU nicht zu einem ganz konsequenten Handeln dieser Regierung führen konnte. Ich glaube außerdem, daß die Deutschlandpolitik dieser Regierung der einzige Weg ist, um in der Zukunft ein besseres Verhältnis zwischen den beiden getrennten Teilen Deutschlands zu erreichen, weil diese Politik einen Zustand in Deutschland anstrebt, der mit den Interessen unserer Nachbarvölker übereinstimmt, der auf der realen Lage in Mitteleuropa aufbaut, der die deutschen Probleme in den Gesamtzusammenhang der Ost-West-Probleme stellt und der die Staatspartei der DDR als notwendigen Gesprächspartner nicht isoliert, sondern im Gegenteil zur Kooperation bringen will.
Eine solche Politik muß zwangsläufig auf viele Widerstände stoßen: bei den konservativen und nationalistischen Kräften in der Bundesrepublik, die Rechtsansprüche und antikommunistische Phraseologie seit 25 Jahren als Politik ausgeben und dadurch mit zu einer fast totalen Spaltung beigetragen haben; bei den kalten Kriegern in Ost-Berlin, für die eine Besserung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Infektionsgefahr ist, die ihr Herrschaftssystem in Frage stellt.
Fortschritte in der deutschen Frage, soweit es auf die beiden deutschen Seiten ankommt, hängen deshalb in der nächsten Zeit davon ab, daß in der Bundesrepublik die begonnene Entspannungspolitik konsequent fortgesetzt werden kann und daß die Führung der SED in Ost-Berlin den Wunsch aller Völker Europas nach Verständigung, Ausgleich, Frieden und Zusammenarbeit ihrer Politik zugrunde legt und ihre Minderwertigkeitskomplexe in der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik ablegt.
Die Polemik der SED der letzten Wochen ist wieder besonders hektisch. Darüber wurde heute schon verschiedentlich gesprochen. Da es hier um eine Debatte über die Lage der Nation geht, sollten wir auch darüber nicht hinweggehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang drei Äußerungen zitieren. Die erste stammt von DDR-Ministerpräsident Stoph beim Festakt anläßlich des einundzwanzigjährigen Bestehens der DDR im Oktober 1970, wo er von der Fiktion der Einheit der Nation und einem unvermeidbaren Prozeß der Abgrenzung und nicht der Annäherung sprach.
Ferner möchte ich die Feststellung des Staatsratsvorsitzenden Ulbricht bei der Vorbereitung des 25. Jahrestages der SED im Dezember des vergangenen Jahres erwähnen, wo er vom „sozialistischen deutschen Nationalstaat DDR" sprach, in dem sich der Prozeß der Herausbildung einer sozialistischen deutschen Nation vollziehe, während die Bundesrepublik Deutschland ein imperialistischer Staat der NATO sei, der den verbliebenen Teil der burger-lichen deutschen Nation unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems verkörpere.
Ich möchte hier feststellen, daß diese letzte Außerung von Herrn Ulbricht immerhin einen Fortschritt gegenüber seiner internationalen Pressekonferenz im Januar 1970, nach dem letzten Bericht des Bundeskanzlers zur Lage der Nation, darstellt, auf der Herr Ulbricht selbst der Bundesrepublik nicht mehr den Charakter einer Nation zugestanden hat.
Schließlich möchte ich die Außerung von Herrn Winzer zum 100. Jahrestag der Reichsgründung zitieren, nach der es, wenn wir von „Nation" sprechen, eine pure Heuchelei und Rechtfertigung aggressiver Pläne sei.
Ich glaube, daß man bei einer solchen Diskussion, wenn man wirklich über die Lage der Nation spricht, den Führern der SED ihre Äußerungen bis zum Jahre 1966 entgegenhalten müßte, in denen sie von der Einheit der Nation ausgegangen sind. Ich möchte auf drei Dokumente hinweisen, ohne sie hier zu zitieren: auf das Nationale Dokument der SED aus dem Jahre 1962, auf den 6. Parteitag der SED von 1963 und auf den 20. Jahrestag der SED von 1966, auf dem Ulbricht ein grundlegendes Referat über den künftigen Weg Deutschlands gehalten hat. Hier wurde noch von der Einheit der Nation gesprochen.
Ich frage, ob solche Begriffe wie „Nation" manipulierbar, ob sie nur Funktion politischer Taktik sind. Ich meine, daß die gegenwärtige Diskussion über den Begriff der Nation ein durchsichtiges Manöver der SED aus innenpolitischen Gründen ist, das so weit geht, daß unsere deutsche Nation sogar noch rückwirkend, in die Vergangenheit hinein, gespalten werden soll, indem alles, was positiv in der deutschen Geschichte gewesen ist - ich nenne die Freiheitskämpfe und den Widerstand gegen Hitler - für die DDR reserviert wird.
Ich sage das wegen der innenpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik. Diese Bundesregierung geht mit Recht von der Einheit der Nation aus, denn 25 Jahre nach der Teilung Deutschlands besteht die Spaltung offenkundig nur im staatlichen Bereich. Die menschlichen Kontakte sind stark und ungebrochen. Die Übersteigerung des Nationalen im Nationalsozialismus zum Nationalismus, Rassismus und Imperialismus und die neue Linie der SED, die Nation zu leugnen, können uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht aus der nationalen Verantwortung entlassen oder resignieren lassen. Aus unserer leidvollen Geschichte heraus haben wir die Verpflichtung, dem nationalen Gedanken einen neuen Sinn zu geben; denn auch in diesem Bereich gibt es Realitäten. Überall in der Welt gibt es Nationen. Die nationalen Interessen sind nach wie vor Grundlage für das politische Handeln der Staaten, und wir Deutschen werden nach wie vor überall in der Welt, im Westen, im Osten und im neutralen Ausland, als eine Nation verstanden.
Aber ich glaube, daß wir Deutschen -auch darüber muß man sprechen bei einer Diskussion über den Bericht zur Lage der Nation - das Nationale heute nur noch verstehen können als Standortbestimmung in einem bestimmten, uns unmittelbar als Raum politischen Handelns und politischer Verantwortung zugewiesenen Lebensbereich. Dieser Verantwortung können wir uns nicht entziehen. Solange die Deutschen ein Gefühl und ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit haben, solange sie sich untereinander enger verbunden fühlen als mit Menschen anderer Sprache, solange sie gemeinsame Auffassungen, Erfahrungen und Erinnerungen haben, so lange können und müssen wir trotz staatlicher Trennung von einer Nation sprechen.
Aber für den Politiker geht es nicht darum, von etwas zu sprechen, sondern er muß handeln. Eine deutsche Nation in der Zukunft erhalten wir nicht durch Sonntagsreden, durch Deklamieren von Rechtsansprüchen oder durch Angst vor Auseinandersetzungen und Scheu vor Risiken, sondern nur durch ein vernünftiges Streben nach einem friedlichen Ausgleich der europäischen Staaten, durch konsequente Bemühungen um Erleichterungen in unserem getrennten Volk, durch beharrliche und realistische Versuche, zu einer Kooperation auch zwischen gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen zu kommen.
Die Sozialdemokratische Partei hat in der Phase des geplanten Redneraustauschs zwischen der SPD und SED die Grundlagen für die jetzige Politik gelegt. Ich glaube, es ist hier der Anlaß, auf einiges hinzuweisen, was dort im Jahre 1966 grundlegend für die notwendige, in der Zukunft uns noch bevorstehende Auseinandersetzung zwischen DDR und Bundesrepublik gesagt worden ist. So hat das Prä5106
sidium der SPD am 10. Juli 1966 in der damaligen Phase des Redneraustauschs festgestellt:
Es genügt nicht mehr, zu deklarieren, wie Deutschland nach den Vorstellungen der einen oder der anderen Seite geordnet werden könnte. Die Zeit der Deklamationen und der Rezepte ist abgelaufen. Es ist Zeit, darüber zu reden, wie den Menschen im gespaltenen Deutschland das Leben leichter gemacht werden kann, weil davon weitere Schritte abhängen, die dem ganzen deutschen Volk endlich Frieden innen und außen bringen werden.
Unser Fraktionsvorsitzender, Herbert Wehner, hat am 14. Juli 1966, an dem Tag, an dem das geplante Treffen in Chemnitz stattfinden sollte, über Rundfunk und Fernsehen u. a. gesagt:
Die SPD und die SED haben als politische Parteien in ihren Zielen und Methoden nichts gemeinsam. Aber für die Austragung ihrer gegensätzlichen Auffassungen haben sie etwas, auf das sie und mit ihnen alle anderen Parteien im gespaltenen Deutschland gemeinsam angewiesen sind. Sie werden nämlich von der Geschichte danach beurteilt werden, ob sie sich bemüht haben, den Lebensinteressen unseres deutschen Volkes zu dienen, oder ob sie sich sträflich gegen sie vergangen haben. Darüber, was in Deutschland nach dem Kriege getan worden ist und wer das oder jenes zu verantworten hat, wird noch viel gedacht und gestritten werden. Aber jede Partei wird von der Geschichte auch danach beurteilt werden, ob sie Menschenmögliches getan oder unterlassen hat, im gespaltenen Deutschland Formen des Miteinander-lebens zu finden, die vorteilhaft für die Menschen sind.
Wenn wir von Nation sprechen, geht es also nicht um eine unbedingte Identität von Nation und Staat, sondern um die geregelte Herstellung von Verhältnissen, die es eines Tages den Menschen in beiden Teilen Deutschlands ermöglichen, Art und Ausmaß ihrer Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit frei und selbst zu bestimmen.
Meine Damen und Herren, Voraussetzung jeder realistischen und verantwortungsvollen Deutschlandpolitik ist die Kenntnis der Situation in den getrennten Teilen Deutschlands. Wir begrüßen es daher, daß die Bundesregierung erstmalig umfassendes Material, wenn auch zunächst über einige Bereiche als Vergleich Bundesrepublik - DDR, vorgelegt hat. Wir haben Verständnis dafür, daß nicht in kurzer Zeit - und dazu gehört auch ein Jahr - alle Lebensbereiche in einem solchen Vergleich behandelt werden können. Wir bitten darum, daß die Bundesregierung für den nächstjährigen Bericht vor allem die Herrschaftsordnungen, die Rechtsordnungen und die Wirtschaftssysteme untersuchen läßt.
Die uns jetzt vorgelegten Materialien zeichnen sich durch Nüchternheit, Sachlichkeit und wissenschaftliche Genauigkeit aus. So konnte bisher auch nur bei denen Polemik entstehen, für die eine vorurteilsfreie Betrachtung der Verhältnisse in der DDR schon eine Aufweichung oder ein Verzicht ist. Wer wie ein Kommentator im „Münchner Merkur" die
Berliner Mauer als einzige Materialie bezeichnet,
trägt wohl kaum zur Überwindung dieser Mauer bei.
({0})
Und wer, wie der Oppositionsführer heute früh, sagt, daß die Verletzung der Grundrechte in der DDR in den Materialien als Werturteil bezeichnet wird, der beweist, daß er diese Materialien gar nicht gelesen hat. Denn in diesen Materialien wird ausdrücklich zwischen Werturteilen und Tatsachenaussagen getrennt. Die Wissenschaftlergruppe stellt ganz deutlich fest,
({1})
- ich freue mich, daß Sie jetzt wenigstens zuhören, Herr Dr. Barzel; das wollte ich nur erreichen - ({2})
- Sie können sehen, daß ich nicht lese. - Die Wissenschaftlergruppe stellt ausdrücklich fest, daß sie von einer wissenschaftstheoretischen Position ausgeht, die es ihr von selbst verbietet, die tiefgreifenden politischen Unterschiede zwischen den beiden Ordnungen in Deutschland zu verwischen. Das können Sie ausdrücklich in dem Vorwort nachlesen.
({3})
- Aber diese Materialien sind eine wissenschaftliche Darlegung. Ich spreche jetzt von dem wissenschaftlichen Inhalt dieses Materials, ich spreche von dem Material, und das Material geht von dieser Voraussetzung aus.
Der Bericht gibt uns meiner Ansicht nach heute schon wesentliche Erkenntnisse: einmal, daß sich die DDR zu einem leistungsfähigen Industriestaat entwickelt hat und weiterentwickeln wird. Ich glaube, daß es uns gut ansteht, bei einer Diskussion über den Bericht zur Lage der Nation auch die wirtschaftlichen Leistungen unserer Landsleute unter schweren Voraussetzungen und Bedingungen besonders zu würdigen. Ich glaube, daß der Stolz auf die eigene Leistung unmittelbare Auswirkungen auf das Bewußtsein der Menschen und ihr Verhältnis zu ihrem Staatswesen hat. Schon von daher kann es in der vor uns liegenden Zeit nicht um Überheblichkeit gegenüber der DDR, sondern nur um die faire und nicht diskriminierende Partnerschaft beider Teile Deutschlands gehen.
Weiter zeigt der Bericht, welche Bedeutung die DDR der Bildung und Ausbildung einräumt. Ohne die ideologischen Hintergründe der Erziehung in der DDR zu verwischen, bleibt festzustellen, daß wir hier in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet einen großen Nachholbedarf haben. Ich darf Sie nur einmal auf die Schaubilder „Gliederung des Bildungssystems" auf Seite 150/151 der Materialen verweisen. Ich glaube, daß die Untersuchungen über die Situation der Jugend die unterschiedlichen Verhältnisse besonders in diesem Bereich bei der politischen, bei der gesellschaftspolitischen Erziehung zeigen, daß hier aber dennoch auch ähnliche oder
Bleichgelagerte Verhaltensweisen durchsichtig werden.
Natürlich können solche Materialien keine Begründung für das Fortbestehen der Nation sein. Denn das ist keine Frage wissenschaftlichen Materials, sondern das ist eine Frage des politischen Willens und des politischen Handelns. Ich glaube aber, daß durch diesen Bericht nicht nur ein guter Beitrag für die Politik geleistet wird, sondern darüber hinaus neue Wege für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik und für die politische Bildung gewiesen werden. Wie wichtig es ist, über die DDR und ihre Verhältnisse sachlich zu informieren und die in den letzten 25 Jahren bei uns entstandenen Klischeevorstellungen zu beseitigen, zeigt allein die Tatsache, daß heute bei uns in der Bundesrepublik schon über die Hälfte der Bevölkerung keine Vorstellungen von einem einheitlichen Deutschland nach eigenem Erleben hat.
Die Vorlage und die angekündigte kontinuierliche Fortführung dieser Materialien zum Bericht zur Lage der Nation zeigen, glaube ich, in überzeugender Weise den Orientierungspunkt dieser neuen Deutschland- und Ostpolitik. Denn es geht, um das noch einmal zu betonen - und das zeigt auch diese Vorlage der Materialsammlung -, um den Abbau der Konfrontation von Bundesrepublik und DDR, um erste vertragliche Regelungen der beiden deutschen Teilstaaten, nicht aber um Bevormundung und Diskriminierung, wie Bundesminister Franke zu Recht in seinem Vorwort feststellt.
Die SED muß aufhören, von Diskriminierung und Bevormundung zu sprechen, wenn es um sachliche Lösungen geht. Die Kasseler 20 Punkte des Bundeskanzlers liegen auf dem Tisch. Der Herr Bundeskanzler hat heute früh darauf verwiesen. Sie sind von unserer Seite ein faires und glaubwürdiges Angebot.
Aber auch die Opposition in diesem Haus muß aufhören, von Verzicht, Aufgabe von Rechten, Einschwenken auf sowjetische Politik zu sprechen, wenn es um einen Weg nach vorn für die Deutschen geht. Am Ende der Regierungspolitik der jetzigen Opposition stand - ohne zu werten, aber als Tatsache -die totale Spaltung Deutschlands. Auf diesem Erbe sitzt die neue Regierung. Sie beschreitet neue Wege. Die CDU hat sich als Regierungspartei in ihrer Außenpolitik vom Osten abgegrenzt. Heute grenzt sich die DDR-SED von der Bundesrepublik ab. Insofern macht heute die DDR Adenauers Politik der Absperrung.
({4})
- Wenn das unerhört ist, darf ich Sie darauf hinweisen, daß genau dies Ihr Parteifreund, der Politologe Waldemar Besson in seinem Buch „Die Außenpolitik der Bundesrepublik" geschrieben hat; lesen Sie es bitte nach!
({5})
Ich habe sogar die Seitenzahl hier - das wird auch Herrn Barzel interessieren -: Seite 452.
({6})
Die Furcht der CDU vor einer offensiven Auseinandersetzung entspricht meiner Meinung nach der
Furcht der SED vor dem „Sozialdemokratismus", dem sie durch Leugnung der gemeinsamen Nation zusätzlich Ausdruck gibt. Aber ebenso wie die Positionen der CDU in der Deutschlandpolitik längst brüchig geworden sind, so sind auch die Positionen der SED bereits überlebt.
({7})
Die europäischen Völker wollen Frieden und Ausgleich. Dazu hat diese Bundesregierung ihren Beitrag angeboten und geleistet, auch im innerdeutschen Verhältnis. - Wenn Sie diesen Vergleich als geschmacklos bezeichnen, Herr Dr. Stoltenberg, ist das eine Geschmacksfrage. Ist es vielleicht geschmackvoller, wenn Herr Guttenberg unsere Politik als die Politik der Sowjetunion darstellt?
({8})
Diese Politik, die diese Bundesregierung treibt, ist keine Vorleistung, wie die CDU/CSU glauben macht.
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- Ich freue mich, daß ich Sie endlich in Erregung bringen kann,
({10})
weil Sie bei sachlichen Darlegungen über die Nation, die wesentlich sind, gar nicht aufpassen. - Das hat Herr von Guttenberg sinngemäß in seinem I Beitrag am 27. Mai hier und bei anderen Äußerungen gesagt: daß diese Außenpolitik dieser Bundesregierung auf die Linie der sowjetischen Außenpolitik eingeschwenkt sei.
({11})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Haack, darf ich Ihre Vorlesung mit der Frage unterbrechen, ob Sie sich nicht daran erinnern, daß ich am 27. Mai eindeutig gesagt habe, ich wäre bereit, das Konzept der Sowjetregierung für Deutschland zu akzeptieren, wenn ich glaubte, damit dem Frieden dienen zu können; da ich dies nicht glaubte, würde ich diesen Versuch der Bundesregierung ablehnen. Und stimmen Sie mir zu, daß ich damit nicht diffamiert, sondern lediglich sachlich gewertet habe?
({0})
({1})
Ich habe diesen Vergleich, Herr von Guttenberg, nur gebraucht, weil Herr Dr. Stoltenberg, als ich gewisse Parallelen - ohne zu werten, auch nicht moralisch zu werten - zwischen
CDU/CSU und SED zog, mir in einem Zwischenruf vorgeworfen hat, das sei ein geschmackloser Vergleich. Aus diesem Grund habe ich darauf hingewiesen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Sind Sie der Meinung, daß diese eben von mir dargestellte Episode vom 27. Mai vergangenen Jahres Ihnen den Vorwurf ermöglicht, mich als geschmacklos zu bezeichnen?
({0})
Das habe ich, glaube ich, nicht gemacht, Herr von Guttenberg. Aber mit Ihren sachlichen Äußerungen wird man sich auch morgen hier noch auseinandersetzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine abschließende Feststellung treffen. Am Ende der bisherigen Deutschlandpolitik der CDU/CSU im Jahre 1966 war die Bundesrepublik Deutschland in einer außenpolitischen Isolierung. Nach einem Jahr Ost- und Deutschlandpolitik der neuen Regierung wird die Politik der Bundesrepublik weltweit anerkannt. Es ist heute schon häufig darauf hingewiesen worden - man muß es aber immer wieder sagen, auch im Hinblick auf die Diskussion draußen im Lande, die Sie anheizen -, daß wir die Folgen des kasten Krieges nicht in einem Jahr schlagartig beseitigen können. Aber selbst dort, wo nach wie vor die stärkste Konfrontation besteht, im innerdeutschen Bereich, gibt es trotzdem Gespräche, wenn auch nur auf Teilgebieten. Jedenfalls lotet diese Politik - das ist für mich das Wesentliche und Charakteristische - alle Gesprächsmöglichkeiten aus, ohne vitale Interessen zu vernachlässigen. Ich glaube, daß auf diese Weise diese Politik allein der Lage unserer gespaltenen Nation gerecht wird.
({0})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Franke.
Frau Präsident! Meine sehr geschätzten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat 1969 ihre Arbeit mit der Bemühung begonnen, die in 25 Jahren Nachkriegsentwicklung entstandenen Realitäten in Deutschland beim Namen zu nennen. Das war die Ausgangsposition und daraus ergaben sich Aufträge und Aufgaben, die diese Bundesregierung in Angriff genommen hat.
Aus meinem schriftlichen Vorwort zu den Ihnen vorliegenden Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971 rufe ich nur einige Punkte in Erinnerung, um deutlich zu machen, unter welchen Aspekten diese ganze Arbeit bewältigt wurde.
Nach wie vor haben wir der Tatsache gerecht zu werden, daß in Deutschland zwei Staaten existieren und die Deutschen sich dennoch als Angehörige einer Nation verstehen, daß sie an dieser Einheit
festhalten wollen. Um des Friedens in Europa und in unserem Volke willen müssen die beiden Staaten in Deutschland ihr Verhältnis friedlich vertraglich regeln. Die Bundesregierung ist in diesem Sinne bereit, auch die Fragen der Vertretung beider deutscher Staaten in internationalen Organisationen mit der DDR gemeinsam .zu behandeln. Das setzt aber voraus, daß die DDR jener Gesamtregelung zustimmt, die in Kassel vorgeschlagen wurde und die den Menschen in Deutschland dient, die das Los der Menschen in Deutschland erleichtern soll. Zu einer solchen Politik gehört das Bemühen um Versachlichung, zu dieser Politik gehört das Bedürfnis nach umfassender nüchterner Information.
Lassen Sie mich etwas zu der Kritik sagen, die Herr Dr. Barzel im Zusammenhang mit den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation hier vorgebracht hat. Weder dieser Regierung - und das heißt auch: meinem Hause - noch der Sozialdemokratischen Partei noch der Freien Demokratischen Partei können Sie vorwerfen, sie sähen nicht die friedensstörende, die menschenbelastende Konfrontationspolitik der SED, die unerträglich harten menschenverachtenden Methoden, mit denen die SED die Teilung Deutschlands und Berlins zu demonstrieren versucht, oder sie wollten das nicht wahrhaben. Darüber brauchen wir nicht belehrt zu werden. Ich glaube, das ist jedem deutlich genug, der in der praktischen Politik und in der Verantwortung steht. Das kann doch wohl in dieser Weise nicht in Frage gezogen werden. Sie hätten meinem Vorwort zu den Materialien bei gutem Willen durchaus entnehmen können, daß es bei dem Auftrag an die Wissenschaftler in keinem Moment meine Absicht gewesen ist, hier etwas aussparen oder ausklammern zu lassen, um sich etwa die Gunst der Gegenseite zu erhalten oder diese zu gewinnen. Davon spüren wir nicht viel. Wir lassen uns aber dadurch nicht von dem einmal als richtig erkannten Kurs in unserer Politik gegenüber der DDR abbringen.
Worum es in dem Auftrag ging, war, in wichtigen Lebensbereichen der Menschen - zum Alltag, zum Beruf, zu ihrer Lage im erwerbstätigen Alter und im Jugendalter - Informationen zu sammeln, Informationen, die etwas Neues bringen, um ein möglichst dichtes Netz von Informationen zu knüpfen, wie sie so exakt und in dieser Breite noch keine Bundesregierung vorgelegt hat.
Wenn Herr Dr. Barzel - er ist nicht anwesend; aber ich denke, daß es ihm übermittelt werden wird, und er wird es sicherlich auch nachlesen - mein Vorwort zu den Materialien gelesen hätte, dann wüßte er, warum diese Materialien noch keinen Vergleich der politischen Systeme bringen. Er wüßte dann auch, daß ich einen solchen Vergleich als in Vorbereitung befindlich angekündigt habe. Ich verstehe daher nicht, warum er in dieser Weise auf dieses Thema eingegangen ist. Die Bundesregierung hat nicht behauptet, daß die vergleichende Darstellung schon allumfassend sei, sondern sie hat betont, daß es eine Fortschreibung des Auftrages war, den sie sich zu Beginn ihrer Regierungszeit gegeben hat. Wir meinen - und ich glaube, darin werden wir auch von der breitesten
Öffentlichkeit und von vielen Damen und Herren dieses Hauses durchaus Unterstützung finden -, daß dieser Versuch in einer Weise gelungen ist, die durchaus eine Fortschreibung ermöglicht und erlaubt.
Den Vorwurf, den Herr Dr. Barzel erhoben hat, Berlin werde in den Materialien quasi ausgespart, muß ich ganz entschieden zurückweisen. Ich verweise auf Seite 2, Kapitel I der Materialien, wo das Verhältnis Berlins zur Bundesrepublik und zu den Drei Mächten dargestellt ist, auch die Rechtsverpflichtung der Bundesrepublik, es den Drei Mächten zu erleichtern, ihrer Verantwortlichkeit in bezug auf Berlin zu genügen. Vergleichen Sie bitte auch auf Seite 5 Kapitel I Ziffer 17, wo die rechtlichen Quellen des NATO-Schutzes für Berlin vollständig genannt sind. Und wenn Sie so liebenswürdig wären, noch die erste Seite meines Vorwurfs zu lesen, so finden Sie dort in bezug auf die 20 Punkte von Kassel unter den Tatsachen, von denen bei einem Vertrag mit der DDR auszugehen ist, als einen Punkt, der als Tatsache bei den Vertragsverhandlungen, wenn es dazu kommt, Beachtung finden muß, genannt die gewachsenen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland.
Bei Herrn Dr. Gradl habe ich mich für seine weitgehend sachliche Würdigung der Materialien zu bedanken. Ich denke, auch das war heute insgesamt angenehm zu hören, daß bei dem Versuch zu kritisieren recht häufig darauf hingewiesen wurde, um welche Bereiche der Bericht zur Lage der Nation zu ergänzen sei. Es ist ja die Absicht der Bundesregierung, jährlich diesen Bericht zu erstatten, und es ist auch der Sinn solcher Diskussionen, die Vervollständigung durch gemeinsames Arbeiten zu erwirken. Von da her sind diese Anregungen durchaus begrüßenswert. Wir sind in der Tat bemüht, so umfassend, wie es nur geht, zu informieren.
Ich muß aber hier erklären, damit der großen wissenschaftlichen Leistung der Autoren Gerechtigkeit widerfährt und damit auch die Absicht der Bundesregierung richtig verstanden wird: Es war nicht die Absicht, der politischen Diskussion den Standort vorzugeben, von dem aus sie die Fakten und Feststellungen dieser von ihr mit großem Dank und mit Respekt gewürdigten Untersuchung gewertet wissen will, sondern die Absicht war, mit dem Beitrag der Wissenschaft das politische Urteil zu erleichtern und die politische Diskussion zu versachlichen dort, wo es um die Lage der Nation geht.
1968 und 1969 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger die beiden ersten Berichte hier vorgetragen, und schon zu jener Zeit ist uns allen klar geworden, wie notwendig eine Bestandsaufnahme der Wirklichkeiten in Deutschland ist. In dem ersten Bericht zur Lage der Nation, der nach langjährigem Drängen der Sozialdemokraten erstmals zur Zeit der Großen Koalition hier gegeben wurde, hatte der ehemalige Bundeskanzler festgestellt - ich zitiere wörtlich -:
Die machtpolitischen und ideologischen Gegensätze bestehen weiter. Aber die Fronten sind
mitten in unserem Lande erstarrt. Wer diesen
unerträglichen und gefährlichen Zustand ändern will und wir müssen ihn ändern -, kann es nur mit den Mitteln des Friedens tun.
Diese Erkenntnis beruhte auf der richtigen Einsicht, wie sie der Kollege Kiesinger hier von dieser Stelle aus schon am 17. Juni 1967 formuliert hatte. Auf die von ihm selbst gestellte Frage, ob wir denn warten dürfen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, antwortete er, eine solche rein defensive Politik würde von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen, sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärtsbringen, sie könne uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.
Das, meine Damen und Herren, war die zutreffende Kennzeichnung der Lage, wie sie sich in mehr als 20 Jahren nach dem Kriege entwickelt hatte. Es war die Situation, die die jetzige Bundesregierung als Erbe übernahm. Wenn hier gesagt wurde, daß es im Jahre 1970 nur Verbesserungen im Post- und Fermeldewesen und im innerdeutschen Handel gegeben hat, dann muß ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren, daß diese Regierung ihr Amt zu einem Zeitpunkt angetreten hatte, als die innerdeutschen Beziehungen auf einem Tiefstand angelangt waren, wo über gar, nichts mehr, nicht einmal über die kleinsten Dinge im Interesse der Menschen zwischen beiden Staaten in Deutschland verhandelt wurde.
({0})
Damit haben wir angefangen, und ich glaube, daß auch Sie eigentlich zugestehen müßten, daß in dieser kurzen Zeit nicht das ausgeräumt werden konnte, was sich in den 20 Jahren davor so verhängnisvoll entwickelt hat. Das gilt um so mehr, wenn an anderer Stelle von angeblich überstürztem Tempo in unserer Politik gesprochen worden ist. Irgendwo ist da ein Widerspruch in sich.
Ich sage hier eines: Diese Bundesregierung wird geduldig und beharrlich und eben auch mit Augenmaß die Politik weiterverfolgen, die sie eingeleitet hat im Interesse der Menschen und im Interesse unseres Volkes.
Der Bundeskanzler hat die Realitäten, mit denen wir es in Deutschland zu tun haben, bereits in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation, also genau vor einem Jahr, konkret beim Namen genannt. Von diesen Realitäten muß aber auch ausgegangen werden, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir die Erstarrung und Verkrampfung in Deutschland überwinden wollen. Ob uns die Realitäten gefallen oder nicht, das ist hier gar nicht die Frage. Uns gefallen die Realitäten nicht, und gerade darum bemühen wir uns, zur Verbesserung der Beziehungen der beiden Staaten zu kommen. Das setzt eine Änderung dieses Zustandes voraus, die wir nicht allein erzwingen können, sondern die wir nur durch eine entsprechende Politik erringen werden.
Dazu gehört aber selbstverständlich nicht nur die für jedermann sichtbare Realität, daß die deutsche Nation auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von heute in zwei Staaten mit gegensätzlicher und unvereinbarer Herrschafts- und Gesellschaftsordnung gegliedert ist, zu den Realitä5110
ten der Nation gehören auch und gerade die Menschen, die in ihr leben, mit ihren alltäglichen Lebensbedingungen in unserem geteilten Land. Weil wir das so sehen, hat diese Bundesregierung sofort nach ihrem Amtsantritt, also im November 1969, entschieden, den jährlichen Bericht mit möglichst umfassendem Material zur Darstellung der Lebensumstände und der gemeinsamen oder auch gegensätzlichen Probleme und Entwicklungen der beiden deutschen Staaten zu verbinden.
Ich gebe hier offen zu, daß eine solch anspruchsvolle Aufgabe damals nicht in den ersten zwei Monaten des Bestehens der neuen Regierung bewältigt werden konnte, sondern daß es einer längeren Vorbereitungszeit bedurfte. Wir haben uns deshalb vor einem Jahr damit beschieden, dem Bundestag nur einige Materialien über die Entwicklung der Deutschland-Frage, die Bindungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, über Wirtschaft und Verkehr im geteilten Deutschland, über innerdeutsche Beziehungen und über West-Berlin und das Zonenrandgebiet an die Hand zu geben. Gleichzeitig haben wir aber angekündigt, daß verschiedene Lebensbereiche in beiden deutschen Staaten für den nächsten Bericht zur Lage der Nation verglichen würden und darauf hingewiesen, daß bemerkenswerte Ansätze für einen Vergleich der Entwicklung 'von Bildung, Wissenschaft und Forschung in beiden deutschen Staaten in den Berichten der vorigen Bundesregierung vom 4. August 1969 bereits erarbeitet worden war.
Der Ankündigung dieser Bundesregierung, daß sie die Berichte vervollständigen werde, hat die Bundesregierung heute durch die Ihnen vorliegenden Materialien zum Bericht zur Lage der Nation entsprochen. Die darin enthaltenen Vergleiche, Statistiken und empirischen Untersuchungen sind fundierte Darstellungen aus wichtigen Lebensbereichen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu dem, was tatsächlich ist und, wie ich glaube, für alle Fraktionen und Parteien und für die Öffentlichkeit eine solide Grundlage weiterer Diskussion. Die Vergleiche sind in meinem Auftrag erarbeitet worden von einer Kommission, die die wissenschaftliche Verantwortung dafür trägt.
Mit dieser Vorlage des Materials, meine sehr geschätzten Damen und Herren, ist ein Experiment geglückt, nämlich Wissenschaft, Politik und Verwaltung für eine solch fundamentale Aufgabe zu gewin-men, und ich meine, daß das auch von uns allen entsprechend gewürdigt werden sollte. Hier ist auch gezeigt, in welcher Weise wir die Mitwirkung von Wissenschaftlern verstehen, die unabhängig aus ihren Erkenntnissen das Material erstellt haben, und damit ist auch ein Beispiel dafür gesetzt, wie wir hier Freiheit von Forschung und Lehre zu schützen und in Anspruch zu nehmen wissen, auch wenn es darum geht, diese wichtigen politischen Fragen hier zu behandeln und zu erörtern. Und ohne daß die Bundesregierung sich bis in alle Einzelheiten und Details mit den Ergebnissen identifizierte, hat sie die Arbeit begrüßt und beschlossen, sie dem heutigen mündlichen Bericht des Bundeskanzlers beizugeben, wie das geschehen ist.
Der Bundesregierung erscheinen diese Materialien geeignet, der Versachlichung - und daran liegt uns sehr - in der Argumentation zu dienen, und ich möchte hier eindringlich davor warnen, sie als billiges Instrument der Polemik für Diskussionen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland oder auch gegenüber der DDR zu mißbrauchen, weil sich in diesem Zahlenwerk die Lebensbedingungen der Menschen in unserem Land, in Deutschland, spiegeln. Hier geht es in erster Linie um eine Bestandsaufnahme, die Rückbesinnung fördern und zur Einsicht verhelfen soll, was ist und was machbar ist in der Bundesrepublik und in der DDR, möglicherweise auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Schließlich kann diese Bestandsaufnahme auch ein Beitrag sein, die schwierigen Fragestellungen der innerdeutschen Beziehungen auch in der Öffentlichkeitsarbeit auf eine solide Grundlage zu stellen.
Die hier zusammengetragenen Fakten können und sollten also nicht zur nutzlosen, selbstzufriedenen Auseinandersetzung verwendet werden, sondern als ein Beitrag zum besseren Verständnis unseres gemeinsamen Bemühens um die friedliche Regelung der deutschen Frage. Diese Bundesregierung geht aus vom kritischen und urteilsfähigen mündigen Bürger, der es nicht nötig hat, neben den Fakten und Vergleichen gleichzeitig auch noch fertige Meinungen und ideologische Verpackungen mitgeliefert zu bekommen. Das ist die ernsthafte Absicht dieser Bundesregierung gewesen: durch die sachliche, nüchterne Übermittlung von Fakten jedem die Urteilsfindung zu ermöglichen. Wir meinen, daß nur in dieser Weise Vorurteile abgebaut werden können und ein kritisches Urteilsvermögen gestärkt werden kann, besonders bei der jungen Generation. So leisten wir der ganzen Nation einen Dienst für die geistige Auseinandersetzung und das eigene Selbstverständnis in unserem Lande, der längst überfällig gewesen ist.
Wenn also das Reden von der Einheit der Nation keine Floskel werden soll, dann brauchen wir kaum etwas dringender als solche wissenschaftlich fundierten Vergleiche zwischen beiden Teilen Deutschlands, d. h. wir brauchen dann nicht nur sehr gründliche Arbeiten über die Entwicklungen in der DDR und nicht nur Entsprechendes über die Bundesrepublik, sondern wir brauchen Arbeiten, die die ganze Nation im Blick haben, wie es für die wichtigen Teilbereiche hier geschehen ist
Auch der politischen Bildungsarbeit und der Publizistik wird es möglich sein - und es ist in den letzten Tagen schon möglich gewesen -, daraus sehr viel Nutzen zu ziehen. Wir können das an dem Echo in der deutschen Öffentlichkeit heute schon registrieren. Das Interesse an dieser Arbeit ist sehr breit. Die große Auflage der vorbereiteten Materialien ist hier im Lande vergriffen. Auch ausländische Missionen haben sich darum bemüht und haben diese Materialien von uns, so schnell es nur ging, zugestellt bekommen, um auch dort dazu beizutragen, eine für uns sachliche Position zu entwickeln.
Wer es mit der Einheit der Nation ernst meint und erkannt hat, daß diese Einheit wirklich eine Chance ist, die verspielt oder die in ständigem Bemühen
erhalten werden kann, der sieht auch das Politikum, das in diesen Materialien steckt. Ein Politikum ist die aus diesen Materialien zu gewinnende Erkenntnis, welche Unterschiede der Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands sich schon in manchen Bereichen entwickelt haben. Werfen Sie einen Blick auf das, was die Materialien über die Erwerbstätigkeit der Frauen, über die Facharbeiterausbildung, über die Fachhochschulen und über die Lage der Jugend sagen.
Wir dürfen auch heute davon ausgehen, daß die Menschen in der DDR das System der politischen Unfreiheit nach wie vor ablehnen. Aber dieses System setzt die Grenzen, in denen die Menschen leben, in denen sie Chancen zu ergreifen, in denen sie ihre beruflichen Pläne zu verwirklichen suchen. Diese Sphäre, meine sehr geschätzten Damen und Herren, wird von den Materialien beleuchtet. Wenn es in der DDR in dieser Sphäre Regelungen gibt, die besser auf die Bedürfnisse der modernen Industriegesellschaft zugeschnitten sein sollten, so haben wir keinen Grund, die Augen davor zu verschließen. Das sollten wir uns genau überlegen, und wir sollten uns in unserer Politik weiter so bemühen.
Das ist gemeint, wenn diese Bundesregierung davon ausgeht, daß innerhalb der deutschen Nation zwei Staaten existieren. Es existieren eben nicht nur zwei Staaten auf deutschem Boden, sondern es existieren vor allem zwei Gesellschaften, und das ist uns allen bewußt. Wir müssen das nicht jeden Tag betonen. Wir gehen von dieser Tatsache aus, und wir meinen, daß das Tatsachen sind, die zur Kenntnis zu nehmen sind. Gingen wir nicht davon aus, so verlören wir die Fähigkeit zum Gespräch mit unseren Landsleuten. Auch hier helfen die Materialien.
Wer kritisiert, daß diese Materialien ganz unpolitisch seien, weil eine Herausarbeitung der politischen qualitativen Unterschiede zwischen der DDR DDR und der Bundesrepublik fehle, hat einfach nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Wir wissen gut genug, daß der Versuch eines Interessenausgleichs mit 'der DDR - und darum muß es gehen, wenn man zu vertraglichen Vereinbarungen kommen will; und wir gehen davon aus, daß das notwendig ist - in den nächsten Jahren erst einmal eine ganz harte Verschärfung der ideologischen Auseinandersetzung bringen kann. Wir können zur Zeit täglich beobachten, daß diese harte Auseinandersetzung Wirklichkeit ist. Ich sage auch in Anbetracht dieser Tatsache mit Nachdruck: Diese Regierung ist keine Regierung, die die ideologische Auseinandersetzung scheut. Sie ist eine Regierung, die sich bemüht, das Augenmaß zu behalten und nicht Dinge zu forcieren, die in schneller Frist nicht zu machen sind. Darum auch die Aussagen in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation zu jenen Möglichkeiten, die wir jetzt als realisierbar sehen, soweit es gelingt, dafür eine entsprechende Atmosphäre zu schaffen und mit den dazu erforderlichen Partnern auch klarzukommen.
Worum es uns ging und worum es uns geht, das war und ist, einen Anfang zu machen zur besseren Kenntnis und Erkenntnis der einfachsten Lebensbedingungen der Nation, weil wir wissen, daß diese
Nation steht und fällt mit dem Willen der Menschen,eine Nation zu sein. Dabei geht es nicht um große Worte, sondern um schlichte Wahrheiten, die so ausgesprochen werden sollten, wie sie sind, Wahrheiten allerdings, die für uns Verpflichtung sein müssen, weil nur mit ihnen das Mögliche in Deutschland erreichbar wird.
Gestatten Sie mir noch einige Anmerkungen zu Fragen, die in Verbindung mit dem Thema des heutigen Tages durchaus relevant sind. Die SED-Führung hat im Zusammenhang mit ihren Bemühungen um eine strenge Abgrenzung in 'den geistigen und politischen Positionen gegenüber den politischen Kräften und der Grundordnung in der Bundesrepublik ein an sich uraltes Schreckgespenst neu an ihre Wand gemalt: den Sozialdemokratismus. Damit macht sich eine Verhärtung im Ton bemerkbar, wie sie immer dann zu beobachten war, wenn von unserer Seite aus offensive und konstruktive Politik betrieben wurde.
Es war an anderer Stelle von dem Gefrierpunkt die Rede, auf dem unsere Beziehungen zur DDR angekommen seien. Lassen Sie mich dazu bemerken, daß die DDR mit ihren Versuchen, die gegenwärtigen Ausgangspositionen für die schwebenden Gespräche und Verhandlungen abzusichern, nicht grundsätzlich den Weg dazu verbauen will, endlich auch ihrerseits Konsequenzen aus der Forderung nach friedlicher Koexistenz und Normalisierung der Verhältnisse in Europa zu ziehen. Nur paßt eben der Verhandlungspartner, mit dem es die DDR hier zu tun hat, so schlecht in das Bild, das man seit Jahren von der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Regierung und den sie tragenden Kräften zu vermitteln suchte. Damit soll nicht gesagt werden, es hätte einmal Übereinstimmung von Propaganda und Wirklichkeit gegeben. Nur scheint es fast so, als würde eine Bundesregierung um so unbequemer, je mehr ihr internationales Ansehen steigt und je weniger die Regierungsmitglieder von Irrtümern der Vergangenheit belastet sind.
So hat es neue Diffamierungen gegeben, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einem Referat des DDR-Staatsratsvorsitzenden Ulbricht vom 17. Dezember 1970 gefunden haben. 25 Jahre Sozialistische Einheitspartei Deutschland bildeten den Anlaß, auf den Kampf zwischen den zwei Strömungen in der deutschen Arbeiterbewegung hinzuweisen, der in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD auf so folgenschwere Weise gelöst wurde.
Die SED hat ihre Ziele in diesen 25 Jahren - das können wir guten Gewissens behaupten - nicht mit den Mitteln der Demokratie angestrebt. Nach 1945 wurde dort nicht der Kampf um den Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Staatsmacht von unten um die Schaffung einer realen Demokratie geführt, wie es 1946 angekündigt und von Herrn Ulbricht jetzt wiederholt worden ist. Es ging von Anfang an um das Programm eines Sozialismus als erster Stufe der Entwicklung des Kommunismus, sprich: Leninismus und Stalinismus, wie das dann auf dem 6. Parteitag der SED im Januar 1963 proklamiert worden ist. Was in der gesamten Zeit im VorderBundesminister Franke
grund stand, war - um nochmals Walter Ulbricht mit dem erwähnten Referat zu zitieren - die „sozialistische Bewußtseinsbildung", das „Entwickeln einer sozialistischen Menschengemeinschaft", also, im Klartext gesprochen, der Versuch., ein bestimmtes Menschenbild zu entwickeln, ein hoffnungsloser Versuch, der bedeutet, daß Humanität und Demokratie nicht mehr Maximen des Handelns sind.
Für die Sozialdemokraten sind dagegen die Begriffe Sozialismus und Demokratie untrennbar; sie bedingen sich gegenseitig. Und weil die Sozialdemokraten die Einheit von Sozialismus und Demokratie verwirklichen wollen, weil sie Politik für den Menschen machen wollen, weil sie als echte Alternative eine soziale Ordnung entwickeln wollen, in der die Menschen wahrhaft menschenwürdig, also frei, leben können, sind sie den Angriffen der SED in besonderer Weise ausgesetzt. Zur gleichen Zeit werden die Sozialdemokraten von jenen Kräften auf der äußersten Rechten und ihren Blättern verdächtigt und verleumdet, die aus dem schrecklichen Verlauf der Geschichte der letzten 60 Jahre so offensichtlich nichts gelernt haben.
Der Grundsatz, die Politik dem Gedanken der Humanität unterzuordnen, sie auf ihn auszurichten, zieht sich als ein ununterbrochener Faden durch die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei. Für dieses Prinzip, für diesen Grundsatz haben Sozialdemokraten -- auch andere, aber vor allem Sozialdemokraten gelitten in der Zeit des Nationalsozialismus und danach. Gerade daran sollten an
dieser Stelle auch diejenigen erinnert werden, die hier bei uns das zu diffamieren suchen, was Sozialdemokraten in dieser Bundesregierung zusammen mit den liberaldemokratischen Partnern erreichen wollen.
Dieser Bundesregierung geht es um den Grundgedanken unserer Verfassung, um den Auftrag zur sozialen Gestaltung unserer Demokratie und um ein aktives Arbeiten an der Lösung der vielschichtigen Probleme, die durch die Spaltung Deutschlands aufgeworfen sind.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den hundertsten Jahrestag der Reichsgründung und das heutige Nachdenken über die Lage der Nation zum Anlaß nehmen, auf ein Begriffs- und Wertpaar hinzuweisen, auf Freiheit und Nation. Auch diese Begriffe sind untrennbar. Das, was wir unter Nation verstehen, setzt die Freiheit voraus, sich dazu zu - bekennen.
Die Deutschen hatten sich im vorigen Jahrhundert erträumt, die Einheit der Nation in einer freiheitlichen Ordnung zu verwirklichen. Doch in dem 1871 entstandenen Deutschen Reich dominierte das Element des Nationalstaatlichen, des Nationalismus über die demokratische Gleichberechtigung und Freiheit des einzelnen Menschen. Unter Ausnutzen nationaler Begeisterung entstand aus dem nationalen Gedanken der Nationalismus, und dieser Nationalismus wurde schließlich zu einem Instrument eines schrecklichen Regimes, um die Menschen zu disziplinieren, auszurichten, zu unterdrücken und in ein System zu zwingen, das mit Rassenwahn und einem verbrecherischen Krieg Deutschland in Schutt und Trümmer gebracht hat.
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Diejenigen Deutschen, bei denen der Drang nach persönlicher Freiheit nicht verschüttet war - zu ihnen gehörten gerade auch die Sozialdemokraten; das kann von niemandem bestritten werden -, suchten im Deutschen Reich das Erbe der Volksbewegung des frühen 19. Jahrhunderts für ein einiges und demokratisches Deutschland zu bewahren und zu verwirklichen. Doch auch in der Zeit von Weimar behielt das andere Element, der Nationalismus, gesteigert zu jener Art, wie es viele von uns miterlebt haben, die Oberhand, und die erste deutsche Demokratie scheiterte.
Nun ist in dem anderen deutschen Staat ein vom Klassenkampf her geprägter Nationenbegriff entstanden. Er könnte seine Wirkung in die DDR hinein entfalten. Doch ist dieser sogenannte sozialistische Nationenbegriff zunächst darauf gerichtet, das zu verdächtigen, was wir unter innerdeutschen Beziehungen verstehen, was wir gerade eingedenk der Existenz der deutschen Nation als Klammer zwischen den beiden Staaten in Deutschland darunter verstehen.
Ich möchte an dieser Stelle gerade auch gegenüber der DDR betonen, daß innerdeutsche Beziehungen ein Angebot sind. Auch für uns gibt es keine Verwischung in den Unterschieden der geistigen und der daraus resultierenden politischen Positionen. Aber gerade die besonderen Beziehungen und Verbindungen zwischen den Menschen hier und in der DDR sind es, was wir unter Existenz der deutschen Nation verstehen, die auch eine der anzuerkennenden Realitäten ist.
Streben wir eine besonders enge Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen auf der Basis unter= schiedlicher Gesellschaftsordnungen an! Dabei kann eben keine Seite der anderen ihre Vorstellungen aufzwingen, auch nicht im Sinne eines sozialistischen deutschen Nationalstaats, mit dem die DDR einen Alleinvertretungsanspruch im Blick auf eine neue, zukunftsträchtige Nation erhebt, als könne sich die DDR mit einem Federstrich aus der deutschen Geschichte und den Verhängnissen der Vergangenheit lösen.
Wir wollen nicht, wie es Herr Ulbricht unterstellt, die DDR mit einem Sozialdemokratismus unterwandern oder die DDR mit der Bundesrepublik im Wege der Unterordnung verklammern. Wir wollen unabhängig von dem Trennenden nach dem Gemeinsamen suchen und das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten friedlich und eben nicht vormundschaftlich im Wege bindender Verträge gestalten, sondern auf der Basis der Menschenrechte, der Gleichberechtigung, des friedlichen Zusammenlebens, des gegenseitigen Vorteils und der Nichtdiskriminierung als allgemeine Regeln des zwischenstaatlichen Rechts. Dabei gehen wir davon aus, daß jeder der beiden Staaten für sich unabhängig in Angelegenheiten seiner inneren Hoheitsgewalt ist
und keiner der beiden Staaten für den anderen handeln kann.
Insofern konkretisieren die 20 Punkte, die der Bundeskanzler in Kassel der anderen Seite über. geben hat, unmißverständlich das, was wir unter innerdeutschen Beziehungen verstehen. Im Interesse des Friedens in Europa, so meinen wir, müssen die beiden Staaten in Deutschland Beziehungen zueinander finden, durch die Spannungen wirklich abgebaut werden und den umliegenden Völkern die Sorge genommen wird, es könne sich an den Spannungen in Deutschland noch einmal ein Konflikt entzünden.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Zeit vor 20 Jahren zurückblenden! Absurd ist der in dem Referat des DDR-Staatsratsvorsitzenden vom 17. Dezember erhobene Vorwurf, hier sei auf Grund eines Staatsstreichs ein westdeutscher Separatstaat entstanden. Diesen Vorwurf erhebt Walter Ulbricht gleichzeitig mit der Feststellung, die wirksame Sicherung der Grenze, also einschließlich des Baus der Mauer, habe die endgültige staatliche Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik gebracht.
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Es ist verständlich, daß der politische Gegensatz zwischen West und Ost seine besondere Zuspitzung erfährt, wenn er innerhalb eines Volkes ausgetragen wird. Wir wollen uns aber nicht durch Schuldvorwürfe beeindrucken lassen und von der Notwendigkeit ablenken lassen, normale Beziehungen zwischen den zwei Staaten in Deutschland zu schaffen. Normal sind solche Beziehungen aber nur, wenn sie der Existenz der deutschen Nation, von der letztlich auch die DDR in ihrer Verfassung vom 9. April 1968 ausgeht, Rechnung tragen.
Das ist es, was wir wollen. Wer könnte dabei auch hier bei uns die Stirn haben, zu behaupten, wir suchten die Konturen verschwimmen zu lassen zwischen dem, was dort entstanden ist, und dem, was wir hier verwirklichen wollen. In dieser Bundesregierung, meine sehr geschätzten Damen und Herren, sitzen Männer, die in der Zeit vor 1945 und danach im Kampf um Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie so viel Bitteres und Schweres erlitten haben,
({3})
daß sie nicht in den Verdacht geraten können, diese errungenen Positionen, auch nur im entferntesten leichtfertig in Gefahr zu bringen. Wir wissen, um was es geht. Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen, und wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit für die Menschen.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becher. Für ihn sind 25 Minuten Redezeit beantragt worden.
Dr. Becher ({0}), ({1}) : Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Lage der Nation in die vorgegebene Spannung der Weltmächte eingebettet ist, dann hat der Herr Bundesverteidigungsminister, der leider nicht mehr hier ist, mit seiner These und Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte in der Tat das Kernproblem von heute angeschlagen.
Es geht um die Frage, wie das militärische Gleichgewicht und wie das politische Gleichgewicht zu halten ist. Das Problem ist nur, wie diese Fragen beantwortetet werden. Ich halte es für abwegig, die Antwort auf diese Kernfrage etwa mit dem Hinweis auf das Alter abzuqualifizieren. Ich glaube, das ist eine Angelegenheit der Logik und nicht der Jahre; sonst würden wir unseren Herrn Alterspräsidenten in diesem Hause außerordentlich abqualifizieren.
Ich meine auch, daß es abwegig ist, Persönlichkeiten im Ausland vorzuwerfen, daß sie sich an der Diskussion um diese Frage beteiligen. Da es ein weltweites Problem ist, ist die Frage, wie wir das Gleichgewicht erhalten, in allen Ländern diskutiert worden. Ich muß hier feststellen, daß es in England, in Frankreich und vor allem in den Vereinigten Staaten auch Persönlichkeiten gibt, die die Antwort der Bundesregierung auf diese Frage eben nicht teilen, sondern die der Meinung der Opposition in diesem unserem Lande sind.
Der Herr Bundesverteidigungsminister hat in seinen Ausführungen die gemeinsame Erklärung der NATO-Verteidigungsminister zitiert und mit Recht darauf verwiesen, wie sehr das Bemühen der Bundesrepublik um Entspannung gelobt wurde. Ich möchte aber wegen der Frage, wie das Gleichgewicht zu erhalten sei, auf Punkt 5 dieser Erklärung verweisen. Ich meine, Herr Kollege Haack, daß sich die Verteidigungsminister nicht der „antikommunistischen Phraselogie" schuldig machen, wenn sie, wie erwähnt, unter Punkt 5 feststellen - ich darf zitieren -:
Andererseits können die Bündnispartner bestimmte beunruhigende Merkmale in der internationalen Situation nicht ignorieren. Die bisher vorliegenden Anzeichen legen den Schluß nahe, daß die Sowjetunion in der Absicht, ihren politischen Einfluß auszudehnen und zu stärken, ihre Beziehungen zu anderen Staaten auf der Grundlage von Vorstellungen handhabt, von denen einige der Entspannung nicht dienlich sind. So steht insbesondere der sowjetische Begriff der Souveränität im klaren Gegensatz zu den Grundsätzen der Vereinten Nationen. Gleichzeitig ist festzustellen, daß die sowjetische mitlitärische Stärke in einem unerhörten Ausmaße zunimmt.
({2})
Wir gehen in der Analyse der Weltlage davon aus - darin sehen wir die Realität Nummer 1 -, daß wir es auf der anderen Seite nicht mit einem Partner zu tun haben, der von dem Entspannungswillen ausgeht, von dem wir erfüllt sind, sondern daß wir es auf der anderen Seite mit einem Partner zu tun haben, der nach wie vor von der These der
Dr. Becher ({3})
Weltrevolution ausgeht und seine Wehr- und Außenpolitik zu einer Funktion dieser weltrevolutionären Politik macht.
({4}) Das ist die Realität Nummer 1.
Nun ergibt sich noch die Kernfrage, ob wir angesichts des unerhörten Anwachsens der militärischen Stärke des Sowjetblocks, die hier in dem vom Bundesverteidigungsminister zitierten Bericht erwähnt wird, ob wir angesichts des Anwachsens dieser militärischen Stärke zu Lande und zu Luft, im Norden und im Süden und in der Stratosphäre das politische Gleichgewicht dadurch erhalten, daß wir die Politik machen, die mit dem Moskauer Vertrag und mit dem Vertrag von Warschau gezeichnet ist, oder ob wir der Meinung sind, daß das falsch ist. Ich bin der Überzeugung, daß die Sowjets recht haben, daß Breschnew recht hat, wenn er von seiner Seite den Moskauer Vertrag und den Warschauer Vertrag als einen Teil der Offensivstrategie der Sowjetunion auf der politischen Ebene ausdeutet und zitiert, und daß wir daher in die offenen Messer dieser Offensivstrategie hineinrennen, wenn wir, statt Rechtspositionen offenzuhalten, sie aufgeben und genau das auf der politischen Ebene zerstören, was der Bundesverteidigungsminister richtig als Grundprinzip seiner These herausgestellt hat, nämlich das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West. Es ist unsere Position, daß wir der Bundesregierung den Vorwurf machen, sie hätte durch ihre Politik der
Vorleistung ohne Gegenleistung dieses Gleichgewicht gestört.
({5})
Wenn wir die Weltlage nicht nur von uns aus analysieren, sondern einmal aus dem Gesichtspunkt der sowjetischen Europapolitik sehen, dann wissen wir, daß das viel beredete Paket, das mit der Forderung nach Annullierung des Münchener Abkommens beginnt, mit der Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, der sogenannten DDR, Berlins als einer eigenständigen politischen Einheit, doch offensiv gemeint ist und nicht etwa im Sinne dessen, was uns der Herr Minister für innerdeutsche Fragen vorgetragen hat, eines Ausgleichs, eines friedfertigen Wollens. Wenn wir wirklich die Realitäten sehen und nicht Illusionen nachhängen, dann müssen wir uns doch darauf einstellen.
({6})
Dann, glaube ich, ist ein großer Teil unserer sogenannten Ostpolitik in der Tat ein Kartenhaus auf tönernen Füßen, das - wovon ich fest überzeugt bin - sehr bald zusammenbrechen und ins Wanken kommen wird.
({7})
Ich sage das nicht nur von mir aus, ich teile damit auch Gesichtspunkte amerikanischer Senatoren, die es so darstellen, daß durch den Moskauer Vertrag eben nichts anderes erreicht wurde, als daß wir noch mehr in den Schatten Moskaus gezogen wurden.
Nun darf ich mir erlauben, von hier aus einmal die seelische Lage derer anzusprechen, auf deren Kosten diese falsche Ostpolitik gemacht wird. Ich bin dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar, daß er das angesprochen hat. Aber wenn wir schon von seiner Definition der Lage der Nation ausgehen - die ich absolut unterstreiche -, die er im vorigen Jahr gegeben hat und heute wiederholt hat, nämlich daß ein Volk mehr sei als Kultur, Staat und Gesellschaftsordnung, sondern das Bewußtsein dauernder Zusammengehörigkeit, so bitte ich den Herrn Bundeskanzler und auch den Herrn Außenminister und alle Mitglieder der Regierung, doch zur Kenntnis zu nehmen, daß vom Standpunkt derer, auf deren Kosten diese Ostpolitik gemacht wurde, dieses Prinzip, dieses Bewußtsein des Zusammengehörigkeitsgefühls keine Anwendung gefunden hat auf die geistige Solidarität mit den Deutschen aus den Gebieten jenseits der von der neuen Ostpolitik akzeptierten und de facto anerkannten Linie.
Das, was wir Schlesien, Ostpreußen, Westpreußen und Pommern nennen, und selbst das, was wir Thüringen und Sachsen nennen, das ist nicht nur von den Wetterkarten des Fernsehens verschwunden, es ist nicht nur aus der Diskussion um den Text der Verträge verschwunden, es ist auch - wovon ich überzeugt bin - aus der Pflicht des Verfassungsauftrags verschwunden und, Gott sei es geklagt, in gewissem Sinne auch aus dem Selbstverständnis unserer Nation. Es ist billig, hier über die Lage der Nation zu sprechen und diese Feststellung etwa schon als „Nationalismus" oder als „Revanchismus" anzusprechen. Es trifft auch nicht zu - das ist ein Argument, das hier häufig zitiert wurde -, ,daß wir mit der neuen Ostpolitik auf nichts verzichtet hätten, was wir nicht schon 1945 verloren haben. Ich würde da zunächst einmal sagen: die Alliierten haben selbst am Tiefpunkt unserer Situation uns nicht das abverlangt, was wir ohne Gegenleistung jetzt in dem vergangenen Jahre gegeben und verschenkt haben.
Zum weiteren würde ich sagen: Ein anderes ist es, durch Kriegsaktionen zu Gebietsverlusten gezwungen zu werden, und ein anderes ist es, diese Gebietsverluste oder gar de facto auch die Vertreibungen anzuerkennen und zu legalisieren. Polen - das muß man hier immer wieder sagen - hat eineinhalb Jahrhunderte lang Teile seiner Staatlichkeit verloren und fast alles verloren und dennoch Rechtsansprüche aufrechterhalten.
Wenn die Theorie vom Gleichgewicht stimmt, dann müssen wir sagen, daß in der Zeit des atomaren Gleichgewichtes das politische Gleichgewicht nur dadurch gehalten werden kann, daß wir Rechtsansprüche, die sooft abqualifiziert werden, als Elemente der Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts betrachten, sie nicht verschenken, sondern in Besitz halten. Sie gehören zum Krongut der Sicherung des politischen Gleichgewichts nicht nur der Bundesrepublik, sondern ebenso auch aller ihrer Verbündeten.
Weil heute vormittag sooft von der Unredlichkeit in der Aussage der Opposition gesprochen wurde, möchte ich hier einmal den Spieß umkehren und Sie
Dr. Becher ({8})
um Verständnis für folgenden Gesichtspunkt bitten. Die Folgenschwere des unerhörten Wandels, der mit der neuen Ostpolitik im Vorjahre eintrat, wird in vieler Hinsicht nur noch durch die Doppeldeutigkeit gewisser Argumente übertroffen, mit denen uns diese Politik schmackhaft gemacht wurde. Wenn man das, was führende Persönlichkeiten der Regierungsparteien vor dem Vollzug dieser Ostpolitik gesagt haben, mit dem vergleicht, was sie während des Vollzuges und jetzt sagen, dann ist in der Tat die Frage nach der Redlichkeit zu stellen. Man könnte hier ganze Bände von Erklärungen zum Selbstbestimmungsrecht, zum Heimatrecht, zur Wiedervereinigung von früher und von jetzt zitieren.
Ich will nur ein Argument herausgreifen, das Herr Borm heute früh zitierte, in dem er uns vorwarf: Warum klebt ihr so am Friedensvertrag? Da darf ich an ein Interview des Herrn Kollegen Wehner erinnern, an das sehr aufschlußreiche Interview aus dem Jahre 1966 mit dem Fernsehjournalisten Günter Gaus. In dem Interview hat er dieses Thema angesprochen. Er sagte damals, man solle den Anspruch auf friedensvertragliche Regelungen nicht dadurch blutleer machen, daß man die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie schon vor einem Friedensvertrag verlange.
({9})
Wollen Sie nun den betroffenen Schlesiern, Ostpreußen und den anderen Vertriebenen klarmachen, was nun zu glauben ist: was Herr Wehner damals sagte oder was er jetzt sagt? Im gleichen Interview hat er es als leichtfertig bezeichnet, sich selbst dem Gefühle hinzugeben, durch eine Vorwegnahme dem dem Friedensvertrag vorbehaltenen Entscheidung über die Grenzen etwas an der tatsächlichen Lage des gespaltenen Deutschlands ändern zu können.
({10})
Ich kann diese richtige Aussage nur bestätigen. Sie stimmt leider nicht mit dem überein, was uns soeben der jetzige Minister für innerdeutsche Fragen von heute gesagt hat.
Ich will hier nicht die berühmte Adresse der SPD an das Deutschland-Treffen der Schlesier aus dem Jahre 1963 zitieren.
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Aber es muß auch einmal hier im Plenum des Bundestages gesagt werden, daß das nachher soviel zitierte und umstrittene Wort „Verzicht ist Verrat" genau dieser Adresse der SPD entstammt.
({12})
Es muß auch gesagt werden, daß dort die Formulierung gefunden wurde, das Heimatrecht der Vertriebenen, das Recht auf die Heimat, könne man nicht für ein Linsengericht verhökern.
Und schon sind wir so weit gekommen, daß man fast in die Gefahr gerät, als ein Narr erklärt zu werden, wenn man im Bundestag noch vom Recht auf die Heimat spricht. Dann gilt man als zum 19. Jahrhundert gehörend. Dann kommt das Altersargument wieder: das ist eine Angelegenheit derer, die über 70, 80 Jahre alt sind. Ich hoffe nur, daß sich nicht einmal junge Menschen zu dieser „Angelegenheit" in einer sehr viel vitaleren Weise vortragen werden. Ich hoffe, daß das nicht sein wird.
Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit doch - ich sagte das schon eingangs - dem Herrn Bundeskanzler danken, daß er heute in seiner Erklärung wenigstens die seelischen Probleme der Heimatvertriebenen angesprochen hat. Ich möchte ihm auch danken, daß er auf die Charta der Vertriebenen verwiesen hat. Die Deutschen aus dem Osten haben nämlich nicht bis zum Jahre 1969 oder 1970 gewartet, um den Gedanken der Aussöhnung und des Friedens mit ihren Nachbarvölkern herauszustellen. Noch unter dein Eindruck ihrer Vernichtung und von Hunderten, Tausenden, Millionen von Toten haben sie die seelische Größe aufgebracht, damals Abstand von Rache und Vergeltung zu fordern.
({13})
Aber ich möchte es, Herr Bundeskanzler - er ist leider nicht hier; aber ich möchte es ihm doch sagen - als außerordentlich abwegig bezeichnen - ich sage das vor der ganzen deutschen Öffentlichkeit -, die Charta der Vertriebenen heute als Bestätigungsurkunde für die Politik der Bundesregierung mit dem Verzicht auf die Heimatgebiete der Vertriebenen zu zitieren. Die Charta der Vertriebenen hat Verzicht auf Rache und Vergeltung und ein Bekenntnis zur Freundschaft und zur Wiederversöhnung, nicht aber den Verzicht auf die Heimat ausgesprochen!
Ich hielte es auch für abwegig, wenn man etwa diejenigen, die die Charta der Vertriebenen nicht als Verzichtsurkunde auslegen, nun als Revanchisten oder Racheengel darstellte. Ich sage das aus voller Kenntnis auch der psychischen Probleme in dem Raum, in dem ich nun stehe. Der Prozeß des Willens zur Wiederversöhnung, die „Gefühlslage der Freundschaft", von der heute gesprochen wurde, zwischen Sudetendeutschen und Slowaken hat nie so stark eingesetzt wie nach der Invasion der Ostblockmächte in die Tschechoslowakei.
({14})
Die Tragödie dieses Landes, in dem beide Teile, Deutsche und Tschechen, Fehler machten, hat jetzt dazu geführt, daß ein echter Prozeß der Aussöhnung stattfindet. Die Tragödie unseres Versuchs zur Normalisierung mit dem Osten, etwa mit der Tschechoslowakei, ist ja gerade darin begründet, daß wir jetzt Normalisierung mit einer Regierung wollen, die den Geßler-Hut dieser Okkupation trägt. Wir aber wollen uns mit den unterdrückten Völkern dieses Raumes aussöhnen. Das ist das Problem.
({15})
Das ist die Solidarität, für die wir gern die Unterstützung auch des Bundeskanzlers gehabt hätten.
Ich kann mich sehr gut an den Appell an die Solidarität erinnern, den der Herr Bundeskanzler -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege, würden Sie es nicht für richtig halten, zunächst die Verträge zu analysieren und danach über sie zu reden? Was Sie hier politisch machen, ist unredlich.
({0})
Diejenigen, die zuvörderst mitbetroffen sind von der ganzen Ostpolitik, haben leider erst abends um 8 Uhr die Ehre, zum Reden zu kommen, und können nur 20 oder 25 Minuten sprechen. Ich würde bei dieser Gelegenheit darum bitten, daß man der großen Fraktion der Deutschen aus dem Osten, die hier mindestens so groß ist wie die der FDP, annähernd so viel Redezeit gibt wie den anderen Kollegen.
({0})
Es tut mir leid, daß ich mich nicht so auslassen kann. Ich würde es gern tun, wenn Sie mir noch eine weitere halbe Stunde Redezeit gaben.
Das Bekenntnis des Bundeskanzlers zur Solidaritat, das er auf dem Parteitag der SPD 1969 in Godesberg ausgesprochen hat, hätten wir gern verwirklicht gesehen. Er sagte damals: „Wir müssen uns aufeinander verlassen können; das gilt nicht zuletzt im Verhältnis zu den Landsleuten, die Heimatvertriebene und Flüchtlinge sind. Vertrauen", so sagte er, „ist eine Sache auf Gegenseitigkeit." Nun, ich möchte Sie bitten: Horchen Sie hinein in Ihren Wählerkreis! Was diejenigen, die da gemeint sind, heute zum großen Teil empfinden, ist die Rücksichtslosigkeit, die Brutalität, mit der diese Solidarität bei der Verwirklichung der Ostverträge übergangen wurde.
({1})
Ein kleiner Federstrich hat den Rechtsanspruch auf ihre Heimat hinweggewischt und das Verlangen, soviel wie möglich von Deutschland für Deutschland zu retten, fast in das Gegenteil umgekehrt.
Herbert Wehner hat die Folgen eines solchen Vorgehens sehr richtig vorausgesagt. Er erklärte in dem schon zitierten Gaus-Interview: „Den Menschen zuzumuten, sie sollten das, was mit ihnen geschehen ist, einfach hinnehmen und nicht nur hinnehmen, sondern sogar noch rechtfertigen helfen, das geht über ihr menschliches Vermögen hinaus."
Meine lieben Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren: genau das ist nun für den Sektor, für den ich zu sprechen die Pflicht habe, eingetreten. Man hat das Rechtsgefühl von Millionen von Menschen zutiefst verletzt und damit eine innere Revolte hervorgerufen, die Sie ja kennen, welche die Nation spaltet und, wie man mit Recht gesagt hat, ein zweites Mal teilt. Dafür können Sie nicht nur die Rechtsradikalen oder irgendwelche Radikalen verantwortlich machen, dafür tragen zunächst jene die Verantwortung, die diese Entwicklung auf Grund einer falschen Analyse bewußt in ihr Verfahren einkalkuliert haben und ihre Politik, obwohl sie von niemand dazu gezwungen werden, trotz der Gefahr des inneren Unfriedens fortführen wollen.
Ich möchte zurückkommen auf den heute zunächst von Herrn Apel angesprochenen Tatbestand der Verfassungsmäßigkeit. Das gehört auch zur Lage der Nation, inwiefern die breite Masse der Bürger noch der inneren Überzeugung ist, daß wir dem Grundgesetz entsprechend handeln. Man kann nicht leichtfertig mit guten Wünschen für den Weg nach Karlsruhe über den Tatbestand hinweggehen, daß ein beachtlicher Teil unseres Volkes die Ostverträge für verfassungswidrig hält. Das wissen Sie! Sie können, wenn Sie es wollen - in den Begleittexten zum Warschauer Vertrag ist das geschehen -, erklären, daß Sie nunmehr nur für die Bundesrepublik sprechen. Sie können, wenn ich im Anklang daran das Wort des Herrn Kollegen Wienand von den „saturierten Grenzen" nennen darf, auch diesen Begriff, den er bestimmt ehrlich meint, hier mit subsumieren. Dann verlassen Sie aber den Boden des Grundgesetzes, dann treten Sie den Rückzug aus dem Grundgesetz an.
Sie können dieses und vieles andere tun. Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß die Problematik um den Soldateneid eben von einem großen Teil unseres Volkes in diesem Zusammenhang gesehen wird. Sie können Grenzen für unantastbar erklären, die Demarkationslinie und die Oder-Neiße-Linie anerkennen, Sie müssen aber, wenn Sie das tun, meiner Überzeugung nach vorher das Grundgesetz ändern!
Sie müssen das tun, weil Sie sich ansonsten selbst, wie auch die Bürger dieses Staates, von der Loyalität entpflichten, die sie gegenüber der Verfassung einzunehmen haben.
Ich will hier nicht als Jurist reden, sondern von der seelischen Problematik, die davon ausgelöst wird. Kein Juristenstreit und keine Auslegungskunst wird Sie von der Last der Tatsache befreien, daß die Anerkennung des Ulbricht-Systems als zweiten Staat in Deutschland, wie es heute zweioder dreimal so schön zitiert wurde, und daß die Aufgabe der Rechtsansprüche auf ein Viertel der Heimatgebiete der deutschen Nation ganz gewiß der qualifizierten Entscheidung bedarf, die dem Gewicht der Verfassungsänderung zumindest gleichkommt oder entspricht.
Das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, das heute so oft zitiert wurde, ist eine bloße Lippenformel, wenn wir es nicht mindestens dort vollziehen, wo wir dazu in der Lage sind.
Ich möchte den Herrn Bundeskanzler fragen: Wer gibt Ihnen vor Gott und unserer Geschichte die Legitimation, über entscheidende Rechtsgüter unserer Nation so zu verfügen, wie Sie es getan haben, ohne eine Entscheidung einer qualifizierten Mehrheit unseres Volkes einzuholen?
Wer gibt uns und Ihnen vor Gott und der Geschichte das Recht, die angestammte Heimat der Schlesier oder der Ostpreußen - und das sind ja für viele Menschen noch Werte - als Preis Ihrer Politik zu opfern, ohne die Schlesier und die Ostpreußen selbst gefragt zu haben
({2})
Dr. Becher ({3})
oder mit ihnen zumindest anders gesprochen zu haben, als Sie es bisher taten? Es ist schade, daß unsere Verfassung das Mittel der Volksbefragung nicht kennt. Ich darf Sie daran erinnern, daß sich die Sozialdemokratische Partei im Jahre 1958 in einem anderen Zusammenhang sehr dafür eingesetzt hat. Es läge nahe, die Thesen zu zitieren, die damals die Abgeordneten Carlo Schmid und Heinemann dafür ins Treffen geführt haben.
({4})
Um so mehr aber ist es notwendig, die Abstimmung über die Ratifizierung nicht etwa mit der Abstimmung über ein bloßes Verwaltungsgesetz zu vergleichen. Man kann es sich so leicht machen wie Herr Borm, der da sagt, es gehe nicht um die Gemeinsamkeit in diesem Hause, weil es ihm darum gehe, die Gemeinsamkeit der Schuld abzuwehren. Nun, da könnten wir auch sagen, wir wehren uns mit unserer Stimme gegen die Teilnahme an der Schuld, die eben dann eintritt, wenn wir eine falsche Politik vollziehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Corterier?
Herr Kollege Dr. Becher, wenn hier so schwere Rechts- und Verfassungsbrüche, wie Sie es darstellen, ins Haus stehen, gibt es dann überhaupt eine andere Möglichkeit für Sie und Ihre Fraktion, als das Bundesverfassungsgericht anzurufen? Sind Sie bereit - sagen Sie uns das klar und deutlich -, den Weg nach Karlsruhe zu gehen?
Da rennen Sie bei mir offene Türen ein. Ich bin der Meinung, daß wir nicht nur bereit sein sollen, sondern daß wir verpflichtet sind, alles auszuloten, was auf diesem Gebiet möglich ist.
({0})
Wer, wie es hier eben so oft geschah, die Gemeinsamkeit des Bundestages in den Schicksalsfragen der Nation beschwört, kann diese Gemeinsamkeit nicht nur mit einer Stimme oder mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit erzwingen wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Geßner? Dr. Geßner ({0}) : Herr Kollege Becher, wenn es tatsächlich so ist, daß diese Verträge gegen die Verfassung verstoßen, sind Sie dann auch der Meinung Ihres Fraktionsvorsitzenden, daß die Frage, ob ja oder nein zu diesen Verträgen, noch offen ist? Ist es dann nicht so, daß Sie eigentlich jetzt schon erklären müßten, daß für Sie eine Zustimmung zu diesen Verträgen, gleich wie sich das alles entwickeln mag, von vornherein nicht in Frage kommt?
Ich darf Ihnen vorschlagen, diese Frage an den Adressaten selbst zu richten. Ich jedenfalls bin fest davon überzeugt,
daß die Verträge verfassungswidrig sind und daß alles getan werden muß, um sie vor Gericht in diesem Sinne untersuchen und werten zu lassen.
({0})
Ich bin also der Überzeugung, daß eine Entspannung für Deutschland - und das scheint mir das Entscheidende zu sein - nur dann verdient, fundiert und wahrhaftig genannt zu werden, wenn sie von einer breiten Mehrheit dieses Hauses getragen werden kann. Oder umgekehrt: Wenn Sie wollen, daß diese breite Mehrheit hier wirksam wird, dann müssen Sie Ihre Politik so modifizieren, daß wir ja dazu sagen können.
Hier helfen nicht Winkelzüge und Schleichwege um den Kern der Verfassung herum. Denn das ganze Begleitwerk, mit dem in den Erklärungen zu den Verträgen der Tatbestand der Verfassungsproblematik angesprochen wurde, wird von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Manipulation verstanden, mit der man sich um das Verfassungsproblem herummogeln oder herumdrücken wollte.
Die Zustimmung jedenfalls dieser breiten Mehrheit in diesem Hause ist, wie ich glaube - realitätsgläubig, wie wir ja nun sind - die Realität der Realitäten.
Wenn wir die Politik, die Sie vorhaben, hier unter der Konfrontation durchziehen, die etwa von Herrn Borm vorgesehen wurde, dann sehe ich schwarz um die Lage der Nation. So gefestigt ist diese Nation nicht, daß sie die dann ausgelöste Spannung ertragen könnte. Vielleicht ist das wiederum sogar ein Teil des Konzepts der sowjetischen Seite, daß sie durch die Infiltrierung der neuen Ostpolitik, die in Wahrheit ja von Moskau aus motorisiert wurde und wird und nicht von Bonn aus,
({1})
gerade diese Aufspaltung hervorrufen will, um die es hier geht.
Diese breite Mehrheit allein, Herr Bundeskanzler, kann die Nation aus dem Zwiespalt, in dem sie sich heute befindet - oder wollen Sie leugnen, Herr Wehner, daß Sie mit Ihrer Politik die Nation in einen Zwiespalt hineingetrieben haben? -, zu dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zurückzuführen, das Sie im Vorjahr und heute wieder als Wesenskern einer Nation und eines Volkes mit Recht genannt und zitiert haben!
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben ein Viertel nach acht. Für den nächsten Sprecher sind 25 Minuten beantragt. Weiterhin sind noch fünf Redner hier aufgeschrieben. Wir hatten an sich vorgesehen, um 21 Uhr zu schließen, und ich glaube, die Fraktionen haben sich darauf eingerichtet. Ich wäre dankbar, wenn zwischenzeitlich interfraktionell geklärt würde, ob wir bei dem Termin 21 Uhr bleiben und die dann noch ausstehenden Redner auf morgen fortschreiben oder ob wir die Zeit verlängern sollen. - Das Wort hat Herr Dr. Bußmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war sicherlich kein Kompliment für die CDU/CSU-Fraktion, daß der letzte Abschnitt der Rede des Kollegen Becher auch noch Beifall fand.
({0})
Heute wurde der Kollege Dieter Haack hier von verschiedenen Seiten angegriffen, weil er einige Zitate brachte, die in der Form bestritten wurden. Diese Zitate haben sich jedenfalls für die Person des Kollegen Becher hier bestätigt, der diese Politik, die hier von dieser Koalitionsregierung betrieben wird, verdächtigte, zumindest zu Teilen vom Osten her infiltriert zu sein. Ich glaube, das könnte auch dem Verständnis Ihrer Fraktion nicht unbedingt entsprechen, wenn Sie dem noch Beifall zollen.
({1})
Aber ich möchte eigentlich auf etwas anderes kommen, was ebenso falsch und ebenso schief war und ebenso sehr davon zeugte, daß man nicht den Willen hat, auf die Argumente des anderen zu hören. Heute haben sich zwei Kollegen dieses Hauses die Mühe gegeben, zu erklären, in welchem Maße diese Politik offensiver Entspannung nach Osten, die wir betreiben wollen, in das westliche Bündnis eingedrungen und mit unserem Willen verbunden ist, dieses westliche Bündnis zu stärken und nicht aufzugeben, weil wir wissen, daß die Erfolge dieser Politik von dieser Einbindung abhängen. Der Herr Kollege Becher pflegt das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er beschreibt die wachsende militärische Stärke der Sowjetunion - das kann nicht bestritten werden -, setzt aber dazu das Aufgeben von Positionen auf westlicher Seite in unmittelbare Beziehung und nennt die beiden Verträge, die häufig hier zur Debatte stehen.
Dieser Zusammenhang kann so sicher nicht hergestellt werden. Denn die wachsende Stärke der Sowjetunion oder deren militärisches Potential auch innerhalb des Paktes wird von uns so gesehen, daß wir in gleicher Weise in unseren Verteidigungsund Sicherheitsanstrengungen fortfahren müssen, ohne irgendeinen Abstrich. Wenn Sie die Zahlen wissen wollen, dann bitte ich Sie, Ihre Kollegen, die im Haushalt im einzelnen Bescheid wissen, zu befragen, in welcher Weise etwa die Zahlen und Planungen, die wir von einer Regierung übernommen haben, an der Sie ja auch beteiligt waren, bis heute das Ausmaß unserer Verteidigungsanstrengungen kennzeichnen. Sie sind nämlich um keinen Deut auch nur angetastet oder gestrichen worden. Im Gegenteil; dieser Verteidigungsminister bemüht sich, durch seine Politik und durch seine Reform organisatorischer und personeller Art die Verwendung dieser Mittel effektiver zu machen, und er bemüht sich, innerhalb dieses Bündnisses die Verteidigungsanstrengungen dieses Bündnisses so effektiv wie möglich zu machen, auch wenn wir zur Not da noch zusätzliche Opfer bringen müssen.
Herr Kollege, gestatten, Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Becher?
Bitte schön!
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, wenn ich Ihnen sage, daß ich die Tatsache der Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts keineswegs in Zweifel gezogen habe, sondern daß meine Frage lediglich darauf zielte, ob die Aufrechterhaltung des politischen Gleichgewichts durch die Ostverträge gestärkt oder geschwächt wird und daß ich dabei auf Breschnew verwies, der jedenfalls diese Verträge im Sinne einer Stärkung der offensiven Politik der Sowjetunion ausdeutet?
Es tut mir leid: Ich bin nicht in der Lage, hier zu trennen zwischen politischer und militärischer Sicherheit. Das sind zwei Seiten einer Medaille, und beides gehört sicherlich untrennbar zusammen.
({0})
- Herr Marx, das wissen Sie doch ebensogut wie ich. Genauso sehen das auch unsere Verbündeten, und genauso können Sie gewissermaßen die Kommentierung unserer Politik ablesen vom HarmelBericht bis zum Kommuniqué vom 7. Dezember. Hier stellt sich eben die Gretchenfrage, die der Verteidigungsminister gestellt hat. Wenn Sie diesen großen Wert auf die Eingliederung in das westliche Bündnis legen, wenn Sie diese Bemühungen um volle Kooperation und Zusammenarbeit mit unseren westlichen Nachbarn und die Solidarität mit ihnen so hoch schätzen, dann unterschreiben sie doch das, was sich etwa in den Kommuniqués von Mai und Dezember findet. Sie wissen, daß Sie dann zum wesentlichen Teil den Zusammenbruch Ihrer eigenen Positionen erleben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Marx?
Bitte schön!
Herr Kollege Bußmann, nur die Frage: Sind Sie dann auch einverstanden, daß wir Punkt um Punkt dieses Kommuniqués - ich glaube das wäre eine saubere Methode - in den zuständigen Ausschüssen einmal miteinander diskutieren?
Aber selbstverständlich!
({0})
Aber die Bemerkungen des Kollegen Becher müssen hier auch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Wenn man hier politische VorDr. Bußmann
leistungen sieht und das eventuell von der Sicherheitsbasis trennt, dann muß man das Anlegen dieser Maßstäbe ja auch möglich machen für die Politik anderer Staaten. Dann könnte es ja so aussehen - solche Diskussionen gibt es -, als seien etwa die derzeit oder seit längerem stattfindenden SALT-Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR eine ebensolche politische Vorleistung, weil wir natürlich wissen, daß der Rüstungswettlauf auf beiden Seiten während der Zeit der Verhandlungen kein Ende findet, obgleich die Verhandlungen zum eigentlichen Inhalt haben, daß der Rüstungswettlauf begrenzt wird. Hier sind sicherlich auch keine Vorleistungen, sondern hier ist es der vernünftige und ehrliche Wille der Vereinigten Staaten, zu einem Arrangement zu kommen, weil sie wissen: auf die Dauer gesehen können sie bei der militärisch-technischen Entwicklung, die uns bevorsteht, das Sicherheitsbedürfnis ihres eigenen Staates nur dann voll befriedigen, wenn sie es zum guten Teil tun auf Kosten der Lebenshaltung ihrer Bevölkerung und auf Kosten der Entwicklung in den verschiedenen Landesteilen ihres Staates sowie auf Kosten der Entwicklung der Modernisierung der Union. Natürlich bemühen sie sich dort zu Arrangements zu kommen, und hier ist ja auch ein wesentliches Motiv unserer Politik.
Wir wissen, wie notwendig es ist, gerade auf militärischen Gebiet zu Arrangements zu kommen, die zunächst unter dem Motto Rüstungskontrolle und später vielleicht unter dem Motto Rüstungsbeschränkung stehen mögen. Wir müssen dazu kommen, weil wir wissen - und da fragen Sie bitte wieder Ihre Kollegen, die die Zahlen kennen -, in welcher Progression, unter Umständen die Kosten für militärische Verteidigung steigen können - auf beiden Seiten -, wenn alle technischen Möglichkeiten ausgenutzt werden. Und wir wissen, daß wir, wenn ein hemmungsloser Rüstungswettlauf weitergeht oder gar bei feindlicher Haltung und bei einer Situation der Konfrontation noch gefördert wird, unsere innenpolitischen und sozialen Probleme weit zurückstellen müssen, weil wir eben nicht gleichzeitig alles befriedigen können. Außerdem muß gesehen werden, daß durch die moderne militärtechnische Entwicklung zunehmend Momente der Instabilität in dieses labile - es ist ja kein stabiles - politisch-militärische Gleichgewicht kommen, in dein wir uns befinden. Das möchten wir ausräumen, und das ist ein wesentliches Motiv unserer Politik. Aber -und das muß man hier noch einmal ganz deutlich sagen - wenn wir dazu kommen wollen, dann ist es notwendig, zunächst einmal Tabula rasa zu machen und von dem Bestehenden auszugehen, von demi was ist, und nicht von dem, was man sich wünscht oder was man draußen in irgendwelchen Versammlungen proklamiert.
Was ist - und das kann von niemandem geleugnet werden -, das ist z. B. die Tatsache, daß sich mitten in Mitteleuropa im Brennpunkt dieser militärisch-politischen Kräfte, die auf diesem Kontinent versammelt sind, ein Gebiet von 110 000 qkm befindet mit einer Organisation, die nach allen rechtlichen Begriffen Staat genannt werden kann, und daß derjenige, der in diesem Raum Mitteleuropa zu Arrangements etwa auf sicherheitspolitischem Gebiet kommen will, in Richtung auf Rüstungskontrolle und Abrüstung, diese Politik natürlich nicht um diese 110 000 qkm herum machen kann; dann gibt es eine solche Politik nämlich nicht.
Diese Politik kann man auch nicht gegen den Willen der Staaten machen, deren Beteiligung wir benötigen. Diese Staaten liegen nun einmal in Osteuropa. Wir brauchen ihre Verhandlungsbereitschaft; wir brauchen ihren guten Willen. Wir müssen deshalb einen Anfang machen, der darin besteht, von dem auszugehen, was wir Anerkennung der Realitäten oder Zurkenntnisnehmen einer Tatbestandsbeschreibung nennen.
Hier ist von der Sicherheitspolitik her mit der Grund dafür zu sehen - Sie haben ja auch mit der Sicherheitspolitik angefangen -, warum wir in der Frage der Anerkennung der Grenzen diesen Weg gehen, warum wir ihn langfristig für vernünftig halten. Von diesem Weg lassen wir uns politisch nicht abbringen. Es steht Ihnen frei, die rechtlichen Bedenken, die Sie geäußert haben, dort vorzubringen, wo die angemessene Instanz ist. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Findung einer Mehrheit in Ihrer Fraktion.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Amrehn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast möchte es als eine Zumutung erscheinen, zu später Stunde noch um die Aufmerksamkeit der Kollegen Abgeordneten zu bitten.
({0})
Aber bisher haben Regierung und Koalition über dreieinhalbmal mehr Redezeit gehabt als die Opposition. Daher sollten wir wenigstens die Minuten, die uns zur Verfügung stehen, nutzen können, um heute noch einige Argumente vorzutragen.
({1})
Kollege Haack sagte hier, er wolle, ohne zu werten, Waldemar Besson zitieren. Er zitierte dann doch, weil er werten und wirken wollte: die Politik der CDU sei gekennzeichnet durch Absperrung nach Osten. Um ein solches Zitat bei Besson zu begreifen, müßte man den ganzen Zusammenhang lesen. Aber ich möchte zunächst nur sagen: Nach meiner Kenntnis sind in der Zeit, als die CDU die Verantwortung hatte, Millionen von Flüchtlingen durch eine offene Grenze gekommen, und jeder konnte gehen, wohin er wollte. Soweit ich weiß, ist die Mauer nicht im Westen, sondern im Osten gebaut worden. Allein mit dieser Feststellung ist der Sinn dessen, was Herr Kollege Haack hier sagen wollte, widerlegt.
({2})
Mit gutem Grund widmet der mündliche Bericht zur Lage der Nation einen beträchtlichen Teil der Ausführungen der Lage und der Stellung Berlins in
der Schlüsselposition, die Berlin in den letzten 25 Jahren für unsere Existenz gehabt hat. Da ist uns - auch wenn es selbstverständlich ist - doch noch einmal bewußt geworden, wie sehr Berlin in der Zukunft wiederum eine entscheidende Rolle für unser eigenes Schicksal spielen wird, aber nicht nur für unser eigenes, sondern für das gesamte europäische Schicksal. Denn die Europäische Sicherheitskonferenz ist zwar nicht nur, aber doch auch entscheidend mit davon abhängig gemacht, ob es eine befriedigende Berlin-Regelung gibt. Von diesem Zusammenhang aus, den man Junktim oder historischen Zusammenhang oder Voraussetzung oder wie immer nennen mag, ist es ein völlig richtiger Ansatz und wenigstens noch ein Stück unseres gemeinsamen Handelns, wenn wir uns bemühen, in diesem Punkt - wie immer wir sonst zu den Verträgen stehen mögen - ein gemeinsames Verlangen zu suchen und durchzusetzen.
Dazu werden die Koalitionspartner die ganze CDU aus ihrer Seite haben, wenn es gelingt, in der Übereinstimmung, die hierzu gefunden worden ist, zum Erfolg zu kommen. Dazu werden sie mit der ganzen Fraktion deren Vorsitzenden auf ihrer Seite haben und - wie heute schon hervorgehoben worden ist - auch Herrn Dr. Schröder, der ja seinen Moskau-Besuch wesentlich unter diesem Gesichtspunkt gesehen hat. Nur werden Sie den Vorsitzenden unserer Fraktion nicht dafür in Anspruch nehmen können - wie heute angedeutet worden ist -, als würde er dadurch gewissermaßen für den Vertrag selbst zu haben sein. Ich hoffe, Sie haben seine Worte nachgelesen, die er gestern auf dem Parteitag der CDU gesprochen hat, daß eine unter Führung der CDU stehende Regierung den Moskauer Vertrag weder zu diesem Zeitpunkt noch so unterzeichnet hätte.
Die erste und wesentliche Übereinstimmung, die es in der Wahrnehmung der Interessen Berlins unter den Koalitionsparteien und in der Opposition gibt, ist in dem Satz der Erklärung zusammengefaßt, der lautet: Der rechtliche Status von Berlin darf nicht angetastet werden. Die entscheidende Grundlage unserer Existenz bleibt eben der originäre Charakter der Rechte, die die Westmächte in Berlin haben. Auf dieser gemeinsamen Plattform können wir ohne Rücksicht darauf stehen, wie wir die Vergangenheitsfrage entscheiden, nämlich ob es besser gewesen wäre, aus dem Land Berlin ein volles Bundesland zu machen oder nicht. Diese Frage spielt für die Forderung, daß der rechtliche Status Berlins erhalten werden muß, keine Rolle. Sie bleibt aber die Plattform für das, was weiter gewollt wird.
Die zweite Übereinstimmung besteht in der hier abgegebenen Erklärung, daß die Kriterien und Inhalte einer befriedigenden Berlin-Regelung zwischen den Alliierten und unserer Regierung abgestimmt worden sind und sich sicherlich auch in Übereinstimmung mit dem befinden, was die CDU mit unserer Regierung über die Berlin-Frage besprochen hat. Lassen Sie mich die Frage, wie eine befriedigende Berlin-Regelung auszusehen hätte, zunächst unter die ganz allgemeine Formulierung stellen: Befriedigend ist eine Berlin-Regelung dann, wenn
die Zugänge nach Berlin auf Dauer nicht mehr als Erpressungshebel gegen uns benutzt werden können.
({3})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige Besorgnisse aussprechen, denn auch hier steckt wie immer der Teufel im Detail.
Ich frage mich, ob das, was die Regierung uns heute wieder vorgetragen hat, wirklich richtig ist, daß man nämlich die elementaren Minimalforderungen einer befriedigenden Berlin-Regelung nicht öffentlich behandelt. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, daß diplomatische Verhandlungen ihren Spielraum brauchen, daß sie vertraulich geführt werden müssen, daß man auch selber Beweglichkeit braucht, um zu einem Erfolg und zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Wenn wir aber nur noch darüber zu verhandeln haben, ob wenigstens eine Berlin-Regelung über die Mindest- und Elementarbedürfnisse zustande kommt, hätte es, meine ich, seinen guten Sinn, das öffentlich zu erklären und es insbesondere dem Vertragspartner zu sagen, damit auch er kein unkalkulierbares Risiko eingeht. Vielleicht verschätzt er sich sonst in dem, was wir gemeinsam als Minimum verlangen, und denkt in seinen Verhandlungen gar nicht daran, dieses Minimum zu sehen. Ich würde es in unserer Lage als einen Verhandlungsvorteil ansehen, wenn diese Minima auch öffentlich bekanntgemacht würden.
Das Zweite, meine Damen und Herren. In der Erklärung heute heißt es - wie es schon kürzlich ein Sprecher der Bundesregierung sagte -, die Alliierten würden nur die Grundsatzvereinbarungen zu treffen haben. Ja, meine Damen und Herren, das war eben doch der große Mangel des Jessup-MalikAbkommens wie der Regelung vom 20. Juni 1949, die offenbar völlig vergessen worden ist, in der die Vier Mächte sich verpflichtet haben, die Zugänge nach Berlin, von Zone zu Zone und von Berlin in die Zonen zu normalisieren. Der Grundsatz ist schon damals verpflichtend unter den Regierungen vereinbart worden. Gescheitert ist aber die Durchführung, weil jeder unter „Normalisierung" ganz andere Vorstellungen gehabt hat. Deswegen möchte ich Bedenken dagegen anmelden, daß nicht ganz klar gesagt wird - wie es der französische Außenminister gesagt hat -: Eine Berlin-Regelung muß bei den Alliierten konkret und detailliert ausgehandelt werden.
Vereinbarungen über Kontrollen und Ausweise sind - anders, als es der Sprecher der Bundesregierung gesagt hat - nicht nur technische Vereinbarungen, sondern es sind hochpolitische Verhandlungen. Ich meine, wir dürften es uns nicht erlauben, uns selber auf diese Weise, indem wir unter dem Schein der Technik wirkliche politische Verhandlungen mit Pankow führen sollen, mit der weiteren Aushandlung der Kontrollen und Ausweise in die Hand Pankows zu begeben. Vom Standpunkt der Regierung müßte ich hinzufügen, die Regierung kann doch die Unterschrift und die Ratifizierung des Vertrages nicht selber davon abhängig machen, welche Ausweise Herr Ulbricht uns vorschreiben will oder vorschreiben kann.
Und das Dritte. Der Äußerung eines Sprechers der Bundesregierung habe ich entnommen, daß für den Verkehr der Westberliner in die Umgebung Berlins und nach Ost-Berlin noch besondere Ausführungsverhandlungen zwischen West-Berlin und Pankow stattfinden sollen. Meine Damen und Herren, wenn das wirklich der Fall ist, dann ist das doch bereits ein Verstoß gegen den Grundsatz, daß Berlin nach außen vom Bund vertreten wird.
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Und nun sage ich: Im Interzonenhandel wird Berlin bis zur Stunde - wie seit je - vom Bund vertreten. Deswegen bin ich der Ansicht, daß solche Verhandlungen, besonders dann, wenn sie teilweise gar noch politischen Charakter haben sollen, nicht dem nach einer Ratifizierung isolierten Berlin überlassen, überantwortet werden dürften, sondern daß auch dies in der Hand der Bundesregierung bleiben muß.
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Meine Damen und Herren, als 1952 die Telefonkabel gekappt wurden, nachdem man einen Vertrag gemacht hatte, wonach die Telefonverbindungen in Deutschland zu normalisieren seien, wäre es jetzt doch ein leichtes, die Drähte in Berlin einfach wieder anzuschließen. Warum mußte - ich entnehme das wieder der Zeitung - für die fünf Anschlüsse, die jetzt über Potsdam nach Ost-Berlin hergestellt worden sind, eine separate und spezielle Übereinkunft zwischen der Westberliner Post und Ost-Berlin geschlossen werden? Jeder sieht die politische Zielsetzung des Ostens dabei. Ich sage heute an dieser Stelle, das ist auch für Ausführungsverhandlungen der falsche Weg und ein schwerer Verstoß gegen den gemeinsamen Grundsatz: Das hat der Bund im ganzen für alle auszuhandeln.
Herr Kollege Amrehn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt?
Herr Kollege Amrehn, interpretiere ich Sie richtig, wenn ich sage, daß Sie dann auch dagegen gewesen sind und weiter dagegen sind, daß in den sechziger Jahren Passierscheinabkommen geschlossen worden sind, weil sie ja unter Verstoß gegen die Vertretung West-Berlins durch den Bund vom Westberliner Senat mit der Regierung der DDR abgeschlossen worden sind?
Herr Kollege Sieglerschmidt, daß das ein Schritt vom Weg ab war, steht in meinen Überzeugungen außer Frage. Aber das ist heute gar nicht das Problem. Wir wollen doch zu befriedigenden Berlin-Regelungen auf der Basis der Vertretung Berlins durch den Bund kommen. Sonst gibt es nämlich gar keine befriedigende Berlin-Regelung. Aus diesem Grunde weise ich heute darauf hin, daß das entschieden notwendig ist, weil wir sonst in der Folgewirkung eine Absplitterung, eine Isolierung, ein Auf-uns-selbst-Angewiesensein erleben werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mende?
Können Sie dem Kollegen, der Sie soeben fragte, bestätigen, daß die Passierscheinverhandlungen im engsten Einvernehmen mit der Bundesregierung geführt wurden und jegliche Entscheidung nur durch die Bundesregierung gefällt wurde, nicht durch den Berliner Senat?
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Herr Kollege Dr. Mende, das bestätige ich gern. Aber trotzdem bin ich mit der Bestätigung insofern für die Zukunft nicht ganz zufrieden, als die Beweglichkeit, die Flexibilität, der Handlungsspielraum der Bundesregierung für solche Verhandlungen in der Zukunft immer größer sein wird, wenn sie verhandelt, als wenn der Senat allein verhandeln muß, und dann die Bundesregierung, sind die beiden erst zu einem Ergebnis gekommen, die Bestätigung gar nicht mehr verweigern kann, obwohl der Bund, hätte er verhandelt, viel größere Möglichkeiten der Einflußnahme auf anderen Gebieten besäße, als sie früher auch immer wieder genutzt worden sind. Es sind ja gewisse Regelungen auf einem Gebiet getroffen und, wenn Sie so wollen, mit Möglichkeiten kompensiert worden, die wir auf anderen Gebieten hatten. Darauf kommt es mir entscheidend an.
Nun heißt es in dem mündlichen Bericht zur Lage der Nation weiter: Wir werden dem Grundsatz „Vereinbarungen der Alliierten" - ich füge hinzu: für unsere eigenen Verhandlungen - nicht vorgreifen. - Dieser Grundsatz ist höchst begrüßenswert. Aber ich möchte hier den Koalitionspartnern erklären, warum wir besorgt sind, warum wir skeptisch sind, warum wir immer Furcht haben, es könnte wieder etwas aus unserer Hand geraten: weil ich es für schlecht halte, in demselben Augenblick, in dem die Alliierten über die Zugänge nach Berlin wirklich sehr ernst und hart verhandeln, eigene deutsche Verhandlungen über einen Verkehrsvertrag zu beginnen. Das berührt sich doch in einem Maße, daß der Eindruck entstehen muß, als sollten von deutscher Seite die Verhandlungen der Alliierten, wenn nicht politisch, so doch praktisch vorweggenommen oder unterlaufen werden. Ich halte es politisch einfach nicht für vertretbar, im Augenblick alliierter Verhandlungen daneben gleichrangig mit ähnlichen oder verwandten Zielen Verhandlungen über einen Verkehrsvertrag führen zu wollen.
Lassen Sie mich feststellen: die Bundesregierung ist immer geneigt und betont es auch heute hier, den Wert ihrer Politik am Erfolg für die Menschen messen zu wollen. Ich möchte diesen Bewertungsmaßstab annnehmen. Aber wie sieht es denn nun wirklich aus? Wir wissen, daß es eine Reihe von Behinderungen auf den Autobahnen gibt. Es ist gestern der Regierende Bürgermeister von Berlin gewesen, der diese neuen Maßnahmen mit dem Hinweis erklärt hat, das sei ein Rückfall in den kalten Krieg. Davor hat uns die Unterschrift in Moskau nicht bewahrt; das stelle ich mit Betrübnis fest. Noch
niemals sind seit der Blockade so viel Stauungen auf der Autobahn gewesen wie in den Wochen seit der Unterschrift in Moskau.
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Mehr als zehn Jahre lang brauchte ich meine Koffer nicht mehr zu öffnen, Handtaschen und Aktentaschen nicht vorzuzeigen, Briefe nicht vorzulegen. Das alles habe ich erst wieder nach dem 12. August neu erlebt.
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Ich sage Ihnen, ein solcher Druck auf die Bundespräsenz hat früher niemals stattgefunden. Natürlich sind die Fraktionsvorsitzenden mit ihren Tagungen reihum immer nach Berlin gekommen, natürlich haben wir Fraktionssitzungen durchgeführt, und selbstverständlich sind auch andere Gremien von Parteien und Organe der Parlamente in Berlin gewesen, ohne daß deswegen jemals vorher eine Behinderung stattgefunden hätte. Zum erstenmal erleben wir das jetzt wiederholt nach der Unterschrift in Moskau.
So kann ich doch leider nur feststellen, daß ich mit dem Maßstab der menschlichen Verbesserungen, nehme ich das Resultat nach fünf oder sechs Monaten, leider schlechter dastehe als vorhere. Ich frage mich heute: Was hat eigentlich die Bundesregierung kraft ihrer diplomatischen Beziehungen zu Moskau und der Unterschrift, die sie geleistet hat, in Moskau unternommen, um gegen diese ganz klare Verletzung des Geistes des Vertrages - noch nicht des I Vertrages selbst, denn er ist ja nicht ratifiziert - Front zu machen? Das durfte nach der Unterschrift nicht schlechter werden, sondern die Regierung hätte heute hier dartun müssen, daß sich das bereits gebessert hat. Sie werden das Ergebnis der Politik nur daran messen können,
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- Geben Sie mir, gnädige Frau Präsidentin, bitte die Minuten der Zwischenfragen zu meiner Redezeit hinzu; dann komme ich hin.
Wir haben die fünf Minuten Verlängerung schon eingerechnet.
Darf ich dann meine letzten Sätze sagen?
Bitte schön!
Es gibt keinen Grund, meine Damen und Herren von der Koalition, die Dinge mit demselben Optimismus zu betreiben wie am 12. August oder wie vielleicht auch am Tage der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969.
Sehen Sie, damals haben Sie das heute schon wiederholt kritisierte Wort vom zweiten deutschen Staat benutzt. Es is bestritten worden, daß in dieser Erklärung überhaupt eine Konzession liege. Ich habe hier die Regierungserklärung der SPD, vom heutigen Bundeskanzler zu einer Zeit, als er noch nicht
Bundeskanzler war, für einen Parteitag der SPD formuliert. Diese Erklärung liegt gedruckt vor. In ihr finde ich folgenden Satz:
Die neue Bundesregierung wird jedem Versuch wehren, die Zweistaatentheorie in unser Denken aufzunehmen.
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Meine Damen und Herren, man kann seine Ansichten ändern, das steht außer Frage.
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- 1961 in der ersten Bundestagswahl des Kanzlerkandidaten Brandt, so formuliert. - Man kann seine Ansichten ändern und sagen, die Umstände hätten sich geändert. Aber wenn in doch ganz existenziellen Fragen unserer Nation so argumentiert wird, dann frage ich mich: Wie lange halten die Erklärungen, die heute gegeben werden, unter dem Standpunkt des Morgen?
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Darf ich darauf vertrauen - das ist die Sorge, die ich heute hier aussprechen möchte -, daß die Mindestbedingungen, wie wir sie unter uns für eine befriedigende Berlin-Regelung ausgesprochen haben, auch dann wirklich noch halten?
Wir wollen die Politik gewiß nicht, wie Sie gesagt haben, Herr Wienand - ich glaube, Sie waren es -, mit irrealen Forderungen belasten. Damit meinen Sie doch unsere Forderung nach besseren innerdeutschen Beziehungen. Wenn Sie sie aber selber nicht nachhaltig heute hier als Voraussetzung für eine befriedigende Berlin-Regelung ebenso wie für den Vertrag nennen, dann brauchen wir uns keine gemeinsame Mühe zu geben, etwa eine Berlin-Regelung zu finden. Aber Sie bleiben ja an Ihr eigenes Wort gebunden, das in den Absichtserklärungen lautet, daß der Vertrag mit der Tschechoslowakei, mit Polen und mit den anderen ein Gesamtwerk bilde. Wer gesagt hat, daß das ein Gesamtwerk sein soll, der hat auch gesagt, daß es als Voraussetzung der Ratifizierung des Moskauer Vertrages befriedigende Regelungen im innerdeutschen Bereich geben muß. Daran möchte ich Sie erinnern und Sie herzlich bitten, daran mit festzuhalten.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will Ihre Zeitdisposition nicht durcheinanderbringen.
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- Es ist der Abgeordnete gemeldet worden, Herr
Kollege Stücklen. Ich habe mich in die Reihe gestellt, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Ich habe
das Recht, hier als Abgeordneter zu sprechen, und ich will davon Gebrauch machen.
({1})
Wenn Sie „widernatürlich" gesagt hätten, müßte ich Ihnen als Bayer natürlich widersprechen.
Herrn Amrehn möchte ich doch ein paar Bernerkungen entgegenhalten. Es ist richtig Herr Amrehn, daß die Regierung, wenn Sie die beiden Fraktionen und die Minister zusammenrechnen, heute sehr viel mehr Redezeit gehabt hat als die Opposition.
({2})
- Ich frage mich, wie kurz Ihr Gedächtnis eigentlich sein muß, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, und ob Sie sich noch daran erinnern, wie das zu Ihrer Zeit war, als Sie in der Regierung waren.
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- Herr Ott, daß Sie bescheiden sind, ist bekannt. Das wollen wir für das Protokoll gerne festhalten. Sie müssen aber morgen damit anfangen!
Die Frage, die hier aufgeworfen worden ist, Herr Amrehn, ist doch die, ob das, was die verschiedenen Sprecher der Opposition heute vorgetragen haben - auch wenn Sie meinen, Sie seien zu kurz gekommen -, nicht schon in dieser Kürze der Zeit gezeigt hat, daß jedenfalls der Kurs der Opposition für das, was sie nun als vorrangig ansieht, weniger klar ist, als er vorher vielleicht für manche gewesen sein mag. Ich habe aus vielem nur das Nein gehört. Für mich entstand der Eindruck, daß dem einen die ganze Richtung nicht paßt, dem anderen geht es zu langsam, z. B. in der Berlin-Frage, dem Dritten geht das alles viel zu schnell. Sie müssen sich vielleicht doch einmal entscheiden, auf welches Argument Sie sich in Zukunft kaprizieren wollen.
({4})
Denn es ist sehr schwer, herauszufinden, was nun eigentlich der Punkt der Kritik sein soll. Es ist z. B. auch schwer, herauszufinden, weshalb Herr Amrehn diese Berlin-Regelung unterstützt - was ich begrüße -, gleichzeitig aber nicht zur Kenntnis nimmt, daß es heute überhaupt keine Gelegenheit gäbe, über diese Berlin-Regelung hier zu sprechen, wenn dieser deutsch-sowjetische Vertrag nicht unterzeichnet worden wäre.
({5})
- Das sage ich, das ist meine Meinung. Sie müssen bitte schön die Sache als Ganzes nehmen und dürfen sich nicht auf die Rosinen beschränken, die Ihnen heute am besten schmecken. Ich meine, das ist so
ähnlich, wie es einer Ihrer Parteifreunde kürzlich in einem Buch geschrieben hat, der sicher ein abgeklärtes Urteil besitzt. Der Autor dieses Buches mit dem Titel „Ein anderes Deutschland soll es sein" heißt Paul Binder, er hat Ihnen allen, die Sie 20 Jahre lang die Regierungsverantwortung getragen haben, ins Stammbuch geschrieben - ({6})
- Ich habe immer gehört, daß Sie den Bundeskanzler gestellt haben und daß er die Richtlinien der Politik ganz souverän bestimmt hat. Falls es nicht so sein sollte, können wir das hier aufklären.
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- Fragen Sie doch einmal Herrn Barzel, wer die Regierung Erhard gesprengt hat.
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Rechnen Sie doch nicht auf das kurze Gedächtnis der Menschheit, weil es Ihnen jetzt so gefällt.
Dieser Paul Binder hat geschrieben: „Wir müssen den Fehler, den die Außenpolitik des Kaiserreiches immer wieder begangen hat, nämlich gleichzeitig miteinander unvereinbare Ziele zu verfolgen, vermeiden." Das schreibt ein CDU-Politiker. Ich glaube, das sollten Sie lesen, weil es nützlich für Sie wäre.
Damit, Herr Amrehn, komme ich auf die Vervollständigung des Zitats von Herrn Besson, das Sie dem Kollegen Haack von der SPD angekreidet haben, indem Sie sagten, er habe nicht vollständig zitiert. Er hat Sie geschont, indem er nicht vollständig zitiert hat. Er hat gesagt, daß Herr Besson von der Absperrung nach Osten in der deutschen Politik unter Ihrer Führung geschrieben hat. Herr Besson ist Mitglied Ihrer Partei, wenn ich mich nicht sehr täusche.
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- Waldemar Besson. Wollen Sie das nicht wahrhaben? Dann müssen Sie den Fernsehrat des ZDF auswechseln.
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Herr Besson hat nicht nur von der Absperrung nach Osten geschrieben, sondern auch geschrieben, diese Politik habe darunter gelitten, daß sie Unvereinbares gleichzeitig gefordert habe, nämlich Westintegrationspolitik und Deutschlandpolitik. Das ist ein Kern des Buches von Besson. Ich meinte auch heute herauszuhören, daß der Dualismus in Ihren eigenen Reihen noch nicht überwunden ist, der mit den Namen Jakob Kaiser und Konrad Adenauer in den ersten fünfziger Jahren verbunden war, daß ganz andere Vorstellungen von deutscher Politik innerhalb der Union bestanden haben und daß Sie diesen Gegensatz bis zum heutigen Tage nicht ausgetragen haben, also nicht geklärt ist, was Sie nun eigentlich zuerst wollen. Es ist doch merkwürdig, daß Sie dieser Bundesregierung ständig unterstellen - offensichtlich weil Sie selbst sich nicht vorstellen können, daß man auf der Basis von Westpolitik zu einer vernünftigen Ost- und Deutschland, politik kommen soll -, sie würde die Westpolitik gewissermaßen herauslösen, weil man anders keine
Ostpolitik machen könne. Das war zweifellos die Basis Ihrer - wie ich meine - Fehlbeurteilung der deutschen politischen Möglichkeiten, weil Sie zwar gesagt haben: Das ist die Bundesrepublik Deutschland, das ist ein Staat, aber nach außen nicht wahrhaben wollten, daß man dann auch ganz zu diesem Staat Bundesrepublik Deutschland stehen muß und daß es dann kein Wenn und Aber gibt, sondern daß man dann die Konsequenz ziehen mußte, nachdem dieser Staat in das westliche Bündnis eingeführt war. Es gab unter solchen Umständen eben keine Möglichkeit mehr, etwa um das Selbstbestimmungsrecht so herumzureden, wie ich das heute wieder von einem Ihrer Sprecher gehört habe, und es war nicht mehr logisch, so zu tun, als ob sich Selbstbestimmungsrecht anders als in Staaten verwirklichen lassen könne, als ob Selbstbestimmungsrecht dann noch zwischen Staaten, sozusagen über Staaten hinweg zu verwirklichen sei. Da liegt meiner Ansicht nach der falsche Denkansatz, ebenso - wenn Sie wollen - beim Verschweigen von Tatbeständen, die Sie selbst in den fünfziger Jahren gegen den Widerstand vieler in diesem Hause mit geschaffen haben, die Sie aber heute endlich respektieren sollten, weil Sie sonst nie zu klaren Alternativen kommen können, ja, weil Sie sonst nicht einmal Ihre Kritik an dieser Bundesregierung wirklich fundieren können.
Wenn Sie in andere Methoden der Kritik ausweichen, nämlich in die emotionale Aufladung, dann möchte ich Ihnen auch hier noch einmal mit Paul Binder den Hinweis geben, daß die andere Schwierigkeit unserer Politik - die eine nennt er die Selbstüberschätzung der deutschen Möglichkeiten überhaupt - darauf beruht, daß wir diese politische Aufgabe nicht mit rationalen Methoden verfolgen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich glaube, nach Ihrem Parteitag ist es nützlich, an dieses Wort von Paul Binder zu erinnern, weil Sie nicht nur uns allen, sondern auch sich selbst keinen Gefallen tun, wenn Ihr Parteivorsitzender, wie etwa auf dem Landesparteitag der CDU in Baden-Baden, in die Gefühlsharfe greift und glaubt, durch Stimmungserzeugung über den Zwiespalt der Gefühle oder auch über den Zwiespalt der Erkenntnis hinwegtäuschen zu können, daß man eben, nachdem man diesen Verträgen im Westen beigetreten ist, nicht mehr beides haben kann. Man kann dann nicht die Politik Jakob Kaisers heute beschwören und die Politik Konrad Adenauers gleichzeitig loben, sondern man muß entscheiden, was man will. Diese Bundesregierung und diese Koalition haben sich entschieden, auf der Basis des Gegebenen Politik zu machen, weil wir glauben, daß wir damit am ehesten denjenigen dienen, um die es in erster Linie geht, nämlich den Menschen, und weil wir damit auch dem Frieden dienen.
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Meine Damen und Herren, für heute liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Wir setzen die Beratung morgen früh fort.
Ich berufe das Haus auf Freitag, den 29. Januar, 9 Uhr, ohne Fragestunde.
Die Sitzung ist geschlossen.