Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag führt heute seine außenpolitische Debatte weiter und wird sich dabei vor allem den Fragen der westeuropäischen Einigung zuwenden. Zur westeuropäischen Zusammenarbeit und Integration wird der Herr Außenminister ausführlicher Stellung nehmen. Ich möchte an diesem Tage einige grundsätzliche Fragen aufwerfen und nach Möglichkeit beantworten.
Die schmerzliche Erinnerung an den 17. Juni 1953 verdient aus verschiedenen Gründen wachgehalten zu werden. Sie verdient auch von dem sonst Umstrittenen ausgenommen zu werden. Über die Jahre hinweg haben wir gerade an diesem Tage den Willen unseres Volkes zur Einheit und zur Freiheit bekundet. Es besteht keine Veranlassung, dies heute nicht oder weniger nachdrücklich zu tun. Worüber immer wir sonst streiten mögen, die friedliche Zielsetzung, wie sie in der Präambel zum Grundgesetz niedergelegt wurde, kann nicht zur Diskussion stehen, noch kann sie zur Disposition gestellt werden.
Siebzehn Jahre sind vergangen. Die Menschen in Ostberlin - und nicht nur dort - hatten sich mit ihrem Verlangen nach freien Wahlen so ungestüm zu Wort gemeldet, daß das Regime allein dem nicht gewachsen war. Alle Versuche der Uminterpretierung haben nichts daran ändern können: Der Wunsch nach freien Wahlen war damals mit dem Wunsch nach Einheit gleichzusetzen. Bei uns allen, in den Parteien, die in diesem Hause vertreten sind, dominierte die Hoffnung, daß es den Siegermächten doch noch gelingen werde, den Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands freizugeben, und daß freie Wahlen der Schlüssel sein würden, mit dem wir, die
Deutschen hüben und drüben, das Tor zum gemeinsamen Haus aufschließen könnten. Aber die elektrisierende Wirkung, die von dem Aufbegehren unserer Landsleute ausging, mischte sich schon damals, wenn wir uns recht erinnern, mit einem Gefühl der Ohnmacht. Das war hier im deutschen Westen nicht anders als in Westberlin. An unserer Seite als Zuschauer standen die Drei Mächte mit ihren besonderen Rechten und Pflichten für Deutschland als Ganzes und für Berlin. Das heißt unbeschadet aller Bekundungen der Sympathie oder der Empörung rangierte die Erhaltung des Friedens schon damals höher als der Wunsch der Deutschen nach nationaler Einheit.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Der Erinnerung an den 17. Juni 1953 haben sich andere, ähnliche Erfahrungen hinzugesellt, nicht zuletzt die Erfahrung des 13. August 1961, als man begann, mitten durch Berlin die Mauer zu bauen. Spätestens damals ist vielen klargeworden, daß ein Wendepunkt erreicht war, nicht in dem Sinne, daß deswegen Überzeugungen falsch geworden wären, weil sie an die Grenze harter Machtpolitik stießen, gewiß aber so, daß das ursprüngliche Konzept - Wiedervereinigung durch freie Wahlen, freigegeben durch eine Übereinkunft der Siegermächte des zweiten Weltkrieges - in den harten Gegebenheiten keinen rechten Anhaltspunkt mehr fand.
Rückschauend, so meine ich, erkennen wir eine Linie, die sich immer mehr verfestigt hat und die gleichwohl, auf das politische Kräftespiel bezogen, von beiden Seiten respektiert wurde, die Linie, die mitten durch unser Land geht, die mitten durch Berlin führt, die unseren Kontinent geteilt hat. Es ist eine Linie, die in den siebzehn Jahren, von denen ich spreche, auch dort, wo sie nicht betoniert wurde, immer tiefer in den Boden markiert worden ist und die politisch zementiert wurde durch die Garantien zweier Paktsysteme und das dahinterstehende Potential zweier Supermächte. Man hat erkennen müssen, drüben und hüben, daß es unmöglich ist, aus dem jeweils anderen Gebiet oder Schutzbereich etwas herauszubrechen, daß es höchstens möglich ist, durch allgemeine Veränderungen im Ost-WestVerhältnis und durch die schrittweise Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung auch der Einheit der Nation näherzukommen.
Im Laufe der zurückliegenden Jahre haben wir - nicht erst diese Regierung - begonnen, aus dieser Erkenntnis Schlußfolgerungen zu ziehen. Es ist nicht verwunderlich, daß wir dabei nicht immer zu den gleichen Ergebnissen gekommen sind. Ich denke aber, daß wir alle von dem auszugehen haben, was ist. Politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist; politische Kleingeisterei besteht im Bemänteln dessen, was ist. Aber die Bereitschaft zur Anerkennung der Realitäten dieser Welt darf und wird natürlich nicht bedeuten, daß wir von uns verlangen ließen oder daß wir selbst bereit wären, Unrecht nicht länger Unrecht zu nennen. Diese Bundesregierung denkt nicht daran, Unrecht anzuerkennen. Dies gilt für die Vertreibung ebenso wie für die Spaltung.
Heute vor drei Jahren hat der Kanzler der Großen Koalition hier zur Deutschland- und Ostpolitik gesprochen. Er hat damals festgestellt: „Die Einigung unseres Volkes kann, so wie die Dinge liegen, gegenwärtig nicht durch Gespräche zwischen Vertretern der Bundesrepublik und den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands herbeigeführt werden." Er hat weiter gesagt, daß gleichwohl Vereinbarungen mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands möglich seien. Die innere Entgiftung könne, zusätzlich zu Gesprächen mit der Sowjetunion einer europäischen Friedensordnung dienen. Dann fuhr Dr. Kiesinger fort: „Eine rein defensive Politik würde uns von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen. Sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns."
Dies ist auch nicht die erste Bundesregierung, die Verständnis dafür hat, daß das polnische Volk in gesicherten Grenzen leben will. Allerdings gebe ich zu, daß wir in dieser schwierigen Frage über eher vage Formulierungen früherer Jahre hinausgegangen sind. Ich will, meine Damen und Herren, keine künstliche Kontinuität behaupten. Aber ich möchte doch gemeinsame Ausgangspunkte deutlich machen. Diese Bundesregierung erinnert heute noch einmal an die Grundsätze, die sie in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 und in dem Bericht zur Lage der Nation vom 14. Januar 1970 dargelegt hat. Hierauf basieren auch die 20 Punkte, die ich der DDR-Regierung in Kassel als Verhandlungsgrundlage vorgeschlagen habe. Sie liegen auf dem Tisch.
Wenn wir wollen, daß die Grenzen in Europa im Laufe eines historischen Prozesses ihre die Menschen und die Völker trennende Funktion einbüßen, müssen wir zunächst einmal die bestehenden Grenzen zur Kenntnis nehmen, tatsächlich und politisch. Wenn wir bessere Beziehungen zwischen den beiden staatlichen Ordnungen in Deutschland wollen, müssen wir wissen, mit wem wir darüber zu verhandeln haben. Und wenn wir einen Erfolg solcher Verhandlungen anstreben, müssen wir ausgehen von dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung und der Gleichberechtigung im Sinne der rechtlichen Gleichwertigkeit, nicht der politischen Gleichartigkeit. Einige nennen dies „Anerkennungskurs". Ich nenne es eine Politik der Vernunft; denn nur so können wir zu besseren Beziehungen im geteilten Deutschland kommen, nur so können wir zusätzlich einen Beitrag leisten, um die Lage in und um Berlin zu verbessern.
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Gelegentlich ist die Meinung verbreitet worden, dieser Regierung liege nichts an der innenpolitischen Zusammenarbeit in den außenpolitischen Lebensfragen der Nation. Diese Meinung ist irrig. Die Bereitschaft auch zur Konsultation, nicht nur zur Information, aller Seiten in diesem Hause ist vorhanden, allerdings nicht die Bereitschaft, das blockieren zu lassen, was man selber politisch für notwendig hält.
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1 Es geht uns, meine Damen und Herren, um den ernsten Versuch, im Einvernehmen mit den westlichen Nachbarn und Verbündeten die Lage in Mitteleuropa zu entspannen, auf möglichst vielen Gebieten Zusammenarbeit an die Stelle der Konfrontation zu setzen und den Frieden damit sicherer zu machen. Für diese Politik, deren Ansätze wir nicht erfunden, aber die wir nach unserer Überzeugung gestaltet haben, trägt die Regierung die Verantwortung, die ihr nach der Verfasssung niemand abnehmen kann. Sie hat die für notwendig gehaltenen Verhandlungen vorzubereiten, sie zu führen und sie, wenn möglich, abzuschließen. So ist das nicht nur bei uns. Die Ergebnisse hat die Regierung dem Parlament vorzulegen. Sie wird, wie es das Grundgesetz vorschreibt, vorbereitete Verträge und Abmachungen diesem Hohen Hause in dessen Verantwortung übergeben. Um dies gleich hinzuzufügen: sie wird nur solche Verträge und Abmachungen unterbeiten, die verfassungskonform sind und nach unserer festen Überzeugung den deutschen Interessen dienen.
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Mit anderen Worten: Die Regierung hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zum verantwortlichen Handeln. Sie hat sie unabhängig von der Größe der Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften. Aber sie hat dieses Recht und diese Pflicht natürlich nur im Rahmen der Verfassung und der völkerrechtlichen Verträge, die von früheren Regierungen abgeschlossen wurden. Hieran sollte es keinen Zweifel geben.
Bei unseren Verbündeten gibt es solche Zweifel nicht. Sie haben uns ausdrücklich ermutigt, auf dem begonnenen Wege voranzugehen. Die letzte Tagung des NATO-Ministerrats hat deutlich gemacht, daß und wie stark unsere Bemühungen eingebettet sind in die allgemeine Politik des atlantischen Bündnisses.
Jede objektive Betrachtung wird auch zu dem Ergebnis führen - davon wird im Laufe des heutigen Tages ja noch im einzelnen die Rede sein -, daß diese Regierung in wenig mehr als einem halben Jahr wesentlich dazu beitragen konnte, die westeuropäische Zusammenarbeit und Einigung voranzubringen. Wir haben unseren nicht geringen Beitrag dazu geleistet, daß die Stagnation der EWG überwunden wurde. Wir haben mit dafür gesorgt, daß die Verhandlungen über die Erweiterung der EWG in diesem Monat beginnen. Wir nehmen aktiv teil an den Bemühungen, die umfassende Wirtschafts- und Währungsunion in diesem Jahrzehnt Wirklichkeit werden zu lassen. Unser Ziel bleibt die politische Union. Auf dem Weg dorthin sind die seit Jahren festgefahrenen Bemühungen um eine engere politische Zusammenarbeit wieder in Gang gekommen. Das ist nicht alles, aber es ist das, was jetzt möglich ist.
Um auch dies gleich hinzuzufügen: Kein wie immer gearteter Vertrag, durch den wir die Unverletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen bestätigen, wird uns und andere daran hindern, auf dem Weg der westeuropäischen Integration voranzuschreiten. Indem wir dies gemeinsam miteinander tun, arbeiten wir ja gemeinsam mit anderen zugleich an der Organisierung des Friedens.
Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist diesen Jahren nicht leichter geworden. Seit dem ersten Abkommen 1964, in dem vom grenzüberschreitenden Verkehr zwischen uns und der DDR gesprochen wurde, seit dem Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR, seit dieser zweite Staat auf deutschem Boden Partner internationaler Verträge geworden ist, wurde der Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit tiefer und weiter. Wir wurden vor die Frage gestellt, was zu geschehen habe, um die Wirklichkeit nicht zu verpassen und den Grundsätzen doch nicht untreu zu werden.
Schon die vorige Bundesregierung hat deshalb erklärt, daß sie keinerlei Gebietsansprüche erhebe. Nicht erst diese Regierung geht aus von der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, selbstverständlich auch der unseren. Zusammen mit den drei Westmächten haben auch frühere Bundesregierungen die Grenzen - auch die innerdeutschen - zu respektieren gehabt. So war es schon im Juni 1953, so war es wieder, als im August 1961 die Mauer errichtet wurde.
Ich sage heute zum wiederholten Male: die politischen und rechtlichen Begrenzungen, die sich unserer Politik setzen - ich meine, für jede Bundesregierung -, ergeben sich aus der Verfassung und den Verträgen, die zwischen uns und den drei Westmächten gelten nämlich:
1. Das Ziel der staatlichen Einheit in einer europäischen Friedensordnung auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts bleibt unverändert.
2. Die obersten Rechte der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin bleiben unberührt.
Das heißt 3., eine völkerrechtliche Anerkennung der Teilung Deutschlands ist nicht möglich.
Niemand darf ,die großen Gefahren verkennen - ich denke dabei nicht nur an die Krisen im Nahen Osten -, die den Frieden auch in Europa immer noch bedrohen. Die Weltlage bleibt gekennzeichnet durch eine Ambivalenz der Tendenzen von Spannung und Entspannung, des Wunsches zum Frieden und der Bereitschaft zum Konflikt. Der Druck auf Westberlin dauert, wenn auch in veränderter Form, an, die Schüsse an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze bleiben für uns unerträglich. Die Bundesrepublik Deutschland kann sich in einer solchen Situation nur behaupten, wenn sie erstens die Europäische Gemeinschaft und das atlantische Bündnis stärkt, zweitens ihre nationalen Interessen so vertritt, daß ein Ausgleich mit all ihren Nachbarn möglich wird, und deshalb drittens entschlossen an einer Politik der Entspannung und der Festigung des Friedens festhält.
Gestern, bei einer Zusammenkunft mit dem Präsidium des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, ist mir von Mitgliedern dieses Hohen Hauses gesagt worden, sie fühlten sich dadurch beschwert, daß
diese Regierung ihre Außenpolitik durchweg als Friedenspolitik qualifiziere, als ob sie dies von früheren Regierungen unterscheide. Da sowieso genügend übrigbleibt, worüber wir zu streiten haben, möchte ich sagen: dies war und ist keine polemische Abgrenzung. Diese Regierung zieht selbstverständlich nicht in Zweifel, daß auch ihre Vorgängerinnen bestrebt gewesen sind, dem Frieden zu dienen. Worum es heute geht, ist jedoch, in einer veränderten Weltlage - die allein und nicht ersetzbar durch uns, die Bundesrepublik Deutschland, mögliche Aktion: im Bündnis - im Bündnis! -, in der europäischen Gemeinschaft, in den Ost-WestBeziehungen. Diese Aktion, illusionslos und beharrlich vorangetragen, stärkt die Bundesrepublik Deutschland. Sie liegt auch im gemeinsamen Interesse des Westens.
Unsere Politik der Friedenssicherung ruht auf zwei Pfeilern - und muß auf ihnen ruhen -: auf der Verteidigungskraft des atlantischen Bündnisses und auf eine Außenpolitik, die zur Entspannung beiträgt. Beides gehört zusammen. Es gibt keinen Widerspruch zwischen unserer Westpolitik und unserer Ostpolitik. Gewaltverzichtsverträge, wenn es zu ihnen kommt, können friedensvertragliche Regelungen weder ersetzen noch ihnen vorgreifen. Sie können allerdings, wie die Erfahrung zeigt, nur dann einen Fortschritt in den Beziehungen bringen, wenn sie auf die konkreten Bedingungen abgestellt sind, mit denen wir es in Europa zu tun haben. Daraus ergibt sich die Haltung der Bundesregierung, daß zusammen mit dem Verzicht auf Gewalt -- in beiden Richtungen - die territoriale Integrität der Vertragspartner und die Unverletzlichkeit der Grenzen zu achten sind, ebenfalls in beiden Richtungen. Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen muß zur Grundlage unserer Beziehungen nach allen Seiten werden.
Ich wiederhole, Gewaltverzichtsverträge dürfen die Lösung unserer nationalen Frage natürlich nicht verbauen. Sie dürfen die Westmächte nicht aus ihren Rechten und Pflichten entlassen. Die sowjetische Regierung kennt auch diesen Teil unserer Geschäftsgrundlage. Daß sie zur Sache andere Vorstellungen hat als wir, wissen wir seit vielen Jahren. Daran würde sich übrigens auch nichts ändern, wenn wir keinen Vertrag zustande brächten.
Auch die bestehenden Verpflichtungen der Westmächte nach dem Deutschland-Vertrag haben an dieser Realität bisher nichts ändern können. Die Bundesregierung nimmt dennoch die Tatsache des Bestehens dieser Rechtspflichten sehr ernst, ebenso wie die Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und für Berlin. Wenn wir zu Gewaltverzichtsverträgen kommen, werden sie ausdrücklich die Feststellung enthalten, daß bestehende Verträge und Vereinbarungen der Vertragspartner unberührt bleiben. Dies schließt den Deutschland-Vertrag voll ein, und dies gilt auch und nicht zuletzt für Westberlin.
Hierzu will ich noch einmal sagen: die Sicherheit dieser Stadt und ihrer Zufahrtswege liegt in der Verantwortung der Drei Mächte. Für die Lebensfähigkeit der Stadt tragen wir ein hohes Maß an
Mitverantwortung. Wir denken nicht daran, hiervon etwas abzugeben. Wir sind bestrebt, auch unsere östlichen Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß die gewachsenen Bindungen zwischen Westberlin und der Bundesrepublik Deutschland ein Teil jener Realitäten sind, von denen es auszugehen gilt.
Die Politik des Gewaltverzichts ist, wie schon das Wort es sagt, nicht der Verzicht auf Ziele, die uns die Verfassung und unsere Überzeugung setzen, sondern der Verzicht darauf, sie mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Es ist eine Politik, die in Ost und West die Sicherheit geben soll, daß weiter bestehende Differenzen, auch fundamentale Meinungsverschiedenheiten nicht zusätzlich gefährlich verschärft werden durch territoriale Fragen, die niemand lösen kann, heute nicht, nicht in der nächsten Legislaturperiode und nicht in der übernächsten.
Die Linien, am Ende des zweiten Weltkrieges gezogen, haben sich in 25 Jahren zu dem verfestigt, was sie heute sind: Grenzen, die - wie die Erinnerung zeigt - längst unverletzlich und unantastbar geworden sind. Gewaltverzicht stellt alle Beteiligten, auch die Machthaber auf der anderen Seite der Linie, vor die Frage, ob die ungelösten Probleme der Hinterlassenschaft Hitlers und des zweiten Weltkrieges die Atmosphäre in Europa auch heute noch, 25 Jahre danach, unerträglich belasten und es den Staaten unmöglich machen sollen, friedlich nebeneinander zu leben, ihre Streitigkeiten und Kontroversen ohne Gewalt auszutragen und vor allem zusammenzuarbeiten, sei es auf dem Gebiet der Wirtschaft, sei es auf dem Gebiet der Kultur, sei es auf anderen Gebieten.
Das Ja oder Nein zum Gewaltverzicht verlangt von uns nicht die Entscheidung, den Zielen abzuschwören; es verlangt von uns die Entscheidung, ja oder nein zu sagen zu dem Versuch, eine friedliche Zukunft zu bauen zwischen den Staaten in Europa, dort, wo sie heute sind, eine Zukunft, in der die Sicherheit durch Abschreckung ergänzt wird um die Sicherheit durch Verständigung. Wir können gegen jene Linie, von der ich sprach, nicht mit Gewalt anrennen, und niemand will das. Und wenn wir mit Worten gegen sie anrennen, so ändert sie sich doch nicht; sie verhärtet sich seit Jahren.
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Der Zusammenhang unserer Gespräche mit Moskau, mit Warschau, mit Ostberlin - wahrscheinlich auch mit Prag - ist nicht zufällig, sondern absichtlich; er ist nicht künstlich, sondern natürlich. Wir streben im Rahmen des Möglichen konkrete Entspannung in Mitteleuropa an mit allen, gegen keinen. Dies erfordert zweiseitige Gespräche mit den jeweils unmittelbar Verantwortlichen, also mit den Regierungen in Moskau, Warschau, Prag und Ostberlin.
Die Bundesregierung hat von Anfang an betont, daß sie nicht garantieren kann, ihre Bemühungen würden Erfolg haben. Aber sie bleibt dabei, daß sie sich und andere diesem Test des guten Willens unterziehen wird. Und dabei, in der Tat, sind wir. Das geht übrigens nicht so schnell, wie manche
glaubten oder jetzt fürchten, aber es ist immerhin ein Prozeß in Gang gekommen, den ich als ermutigend empfinde.
Wer überzeugt ist, auf einem Wege zu sein, der den Interessen des eigenen Volkes dient und sich von den Wünschen anderer Völker nach Frieden unterstützt weiß, der muß diesen Weg gehen, ohne Hast, aber auch ohne Zaudern. Er muß bereit sein, für diese Überzeugung jede Konsequenz zu tragen, und dazu ist diese Regierung entschlossen.
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Mit dem kühlen Blick für die Grenzen unserer Möglichkeiten und mit dem festen Willen, das Begonnene im Einvernehmen mit unseren Verbündeten zu vollenden, werden wir, so meine ich, heute auch am besten dem gerecht, was einem „Tag der deutschen Einheit" Inhalt geben kann.
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Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache und mache auf folgendes aufmerksam. Der Altestenrat hat sich mit dem Ablauf der Debatte beschäftigt und ist der Meinung, daß zunächst ein Durchgang aller Fraktionen vorgesehen werden sollte und daß daran anschließend der Herr Außenminister das Wort bekommen sollte.
Nun liegen von der vorigen Sitzung am 27. Mai noch insgesamt acht Wortmeldungen vor, und ich darf im Auftrage des Ältestenrats bitten, daß die Betreffenden, die sich damals meldeten, das berücksichtigen. Oder sind diese Wortmeldungen ganz gestrichen?
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- Die CDU/CSU streicht ihre Wortmeldungen. Von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, hören wir noch, was Sie tun.
Das Wort hat nun in der Aussprache Herr Dr. Marx. Für ihn sind seitens seiner Fraktion, der CDU/CSU, 45 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Tag ist kein Tag wie jeder andere. Er erinnert uns daran, daß am 17. Juni 1953 Widerstand und Empörung gegen die Gewaltpolitik einer fremden Macht und ihrer deutschen Handlanger sich spontan und elementar Ausdruck verschafften. Dieser Tag fordert von uns, daß das Opfer, das damals Arbeiter, Jugendliche und Deutsche aller Stände brachten, nicht nur als geschichtliche und daher vergangene Tatsache gesehen wird, sondern als eine Verpflichtung, den Wunsch und den Willen nach Freiheit der Deutschen in Mitteldeutschland lebendig zu halten.
„Das Geschehen um den 17. Juni - das kann heute und hier nicht stark genug unterstrichen werden -- hat den unerschütterlichen Willen der breiten, tragenden Schichten unseres Volkes zum Ausdruck gebracht, sich nicht auf die Dauer mit der willkürlichen Spaltung unseres Landes und unseres Volkes abzufinden."
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So haben Sie, Herr Bundeskanzler, - und die Fraktion der CDU/CSU gibt dazu Beifall -- sich als Abgeordneter dieses Hauses am 1. Juli 1953 bekannt. Und Sie haben hinzugefügt: „Sie sind gewiß nicht für die Einheit unter bolschewistischem Vorzeichen, aber mit ganzer Leidenschaft und mit letzter Hingabe für die Einheit unter freiheitlichem Vorzeichen." Dies, Herr Bundeskanzler, aus Ihrem Munde am 1. Juli 1953.
Jetzt, meine Damen und Herren, etwa um diese Stunde am Vormittag, vor 17 Jahren, lief der Aufrut zum Streik und dann zum Generalstreik durch ganz Ostberlin. Er sprang über auf tausend Orte in der Sowjetzone. Zehntausende von Arbeitern marschierten eben um diese Zeit von den Außenbezirken in strömendem Regen in die noch weithin zertrümmerte Innenstadt.
Wir sollten heute nicht vergessen, daß sie damals blumengeschückte schwarzrotgoldene Fahnen mit sich trugen. Und wir sollten nicht vergessen, daß sich damals im alten Lustgarten dem jetzigen Marx-Engels-Platz - weit über 50 000 Deutsche trafen, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen verlangten und dann nach Freiheit riefen. Weil ihnen beides genommen war!
Zwei Stunden später, etwa um die Mittagszeit, griffen die Panzer zweier eilig zusammengezogener sowjetischer Divisionen ein. Der Ausnahmezustand wurde verkündet; die brutale Gewalt der Sowjets entschied gegen die deutsche Freiheit. Die SED- Prominenz flüchtete - zum Teil in verschlossenen Panzerspähwagen --- in die sichere Obhut ihrer sowjetischen Auftraggeber.
Man muß auch daran erinnern, daß damals junge Arbeiter vom Brandenburger Tor die rote Fahne herunterrissen,
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daß von ihnen die Berliner Fahne mit. dem Bären unter Maschinengewehrfeuer, vom Dache des Hotels „Adlon" gegen das Brandenburger Tor gerichtet, aufgezogen wurde; aber in diesem Maschinengewehrfeuer blieb sie auf Halbmast hängen. Heute, Herr Bundeskanzler, gibt Ihre Regierung dem Justizminister den Auftrag, drei junge Männer, die in Kassel die Spalterfahne abgeschnitten haben, zu verfolgen. Am 1. Juli 1953 aber haben Sie, Herr Bundeskanzler, von diesel Steile Hier das Herunterholen der roten Fahne in Berlin mit folgenden Worten kommentiert -- ich zitiere-:
Die Arbeiter haben vorn Brandenburger Tor nicht die rote Fahne, sie haben d i e rote Fahne als d a s Symbol der Unterdrückung heruntergeholt.
Wir stimmten und stimmen dieser Wertung der Vorgänge zu.
Wir sehen, daß nach immer nur kurzen Perioden taktischen Tauwetters die sowjetische Politik sich immer neu im Innern und nach außen verhärtet und
Dr. Marx ({2})
daß der feste Griff, den sie um Ostmitteleuropa legt, sich niemals wirklich und auf Dauer gelockert hat. Gegenüber jenem ungerechten und geschichtswidrigen Wort, wonach es die Politik der bisherigen Bundesregierung gewesen sei, die die Spaltung Europas immer weiter vertieft habe, sage ich: es führt nach dem Willen Moskaus ein gerader Weg von diesem 17. Juni 1953, von den Schüssen bei der ersten internationalen Messe in Posen im Juni 1956 zum Frühling im polnischen Oktober, zur Zerstampfung des ungarischen Aufstandes und zur Liquidation des „Sozialismus mit menschlichem Angesicht" in der CSSR.
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Die Sowjetunion setzt ihre imperiale Macht rücksichtslos dort ein, wo Menschen ein Stück mehr Freiheit und ein Stück mehr Recht verlangen.
Wir haben, meine Damen und Herren, in den Monaten seit der Regierungserklärung eine große Anzahl von Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik in diesem Hause geführt. Unsere Argumente sind deutlich, jedermann kennt sie. Die Ergebnisse bei den Wahlen am 14. Juni zeigten, daß unsere tiefen Sorgen gegenüber dem Kurs Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, von der Bevölkerung verstanden und von der Mehrheit geteilt werden.
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Man hat, Herr Bundeskanzler, diese Wahl eine Testwahl genannt. Man schaue sich das Ergebnis nach siebeneinhalb Monaten Ihrer Koalition an, und man prüfe das Ergebnis, aus dem keinerlei fingerfertige Propaganda einen Erfolg für Regierung und Ostpolitik hinaufstilisieren kann!
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Man prüfe, Herr Bundeskanzler, die Richtigkeit Ihrer Behauptung, daß ,die Zustimmung zu Ihrer Politik in der Bevölkerung breiter sei als in diesem Deutschen Bundestag!
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Ich glaube, von dieser spezifischen Form psychologischer Verfremdung politischer Tatsachen ist nichts mehr übrig.
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Herr Bundeskanzler, nach dem, was Sie gestern in Ihrer Fraktion ausführten: rechnen Sie bitte einmal die Ergebnisse der drei Landtagswahlen hoch! Rechnen Sie sie einmal auf das ganze Bundesgebiet!
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Wir fügen hinzu, Herr Bundeskanzler, daß wir sehr hoffen, daß Sie Wahlentscheidungen ernst nehmen und nicht auf Ihrer dem Wählerwillen entgegenstehenden Stellungnahme beharren, die Sie noch in der Wahlnacht abgaben und nach der Sie das Ergebnis in den drei Landtagswahlen „nicht beirren" werde und Sie diese Politik fortsetzen wollten. Es sollte Ihnen eigentlich, Herr Bundeskanzler, in den Ohren klingen, was Sie selbst in Ihrer vorhin auch hier zitierten Regierungserklärung vom 28. Oktober vorgetragen haben. Sie sagten: „Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte." Und was soll im Lichte dieser Ihrer jüngsten Anmerkungen wohl jener andere Satz in der Regierungserklärung bedeuten, der lautet:
Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger.
Wir fragen: Zeigen diese Wahlergebnisse kein demokratisches Engagement? Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben doch einmal unsere Frage, was sich denn bei Ihnen geändert habe, mit der damals wenig angebrachten, heute aber wohl nachdenkenswerten Bemerkung beantwortet, mittlerweile seien Wahlen gewesen. Ja, Herr Bundeskanzler, mittlerweile, am Sonntag, waren Wahlen.
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Meine Damen und Herren, ich sagte, wir haben hier viele Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik gehabt. Wir legen nachdrücklichen Wert auf eine Diskussion der großen europäischen Fragen am heutigen Tage, und so verzichte ich darauf, noch einmal auf die vielen Argumente und Probleme, die mit der Ostpolitik dieser Regierung verbunden sind, erneut im Detail einzugehen. Aber einige Anmerkungen sind wohl vonnöten, um manches klarzustellen und zurechtzurücken, um manche Behauptung und Unterstellung zurückzuweisen.
Da ist z. B. die etwas stupide und stereotype Behauptung, die CDU/CSU appelliere an nationalistische Instinkte.
({10}) Dieser Vorwurf ist Gift, Herr Bundeskanzler!
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Dieser Vorwurf ist, so scheint uns, ein gezielter Versuch, den politischen Gegner, nämlich uns, im Inland und - meine Damen und Herren, man merkt es schon - im Ausland zu verketzern.
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Eine solche Behauptung schafft Moskau und Ostberlin die dort sehr willkommene Möglichkeit, der seit Jahren laufenden absurden Agitation gegen das, was man dort die nationalistischen Kräfte in der Bundesrepublik nennt, durch Urteile, die Demokraten über Demokraten gefällt haben, demokratischen Nährstoff zuzuführen.
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Herr Bundeskanzler, Sie sollten Ihren Versuch, uns des Schulterschlusses mit der radikalen, nationalistischen und faschistischen Ecke zu zeihen, wenn Sie - und manches in Ihrem Ton schien mir eben darauf hinzudeuten - Wert auf die Rückkehr zu einer sachgerechten Auseinandersetzung legen, zurücknehmen.
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Denn, Herr Bundeskanzler, wir wissen, daß im Wahlkampf mitunter härtere Worte fallen. Wir werden auf die Frage Bielefeld ohnehin noch zurückkommen.
Aber wir haben Anzeigen von Ihrer Partei gelesen, für die, wie ich annehme, Sie als ParteivorsitDr. Marx ({15})
zender und der verehrte Kollege Wischnewski, der sich offenbar als Nachrichtendienstfunktionär seiner Partei besonders bewährt hat,
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verantwortlich waren.
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Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, daß solche Anzeigen - ich werde jetzt zwei Sätze zitieren - auch das Maß dessen, was in einem Wahlkampf als verständlich angesehen werden mag, bei weitem überschreiten.
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Dort steht, daß die Regierung für Verhandlungen mit der Sowjetunion, mit Polen und für Gespräche mit der DDR sei; sie brauche dazu die „Rückendeckung". Und dann heißt es weiter - Herr Ollesch, das werden Sie nicht decken können -: „Denn die CDU/CSU-Opposition ist abgesprungen. Sie geht auf Gegenkurs, um Rechtswähler einzufangen."
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Meine Damen und Herren, daß Sie trotz der Belehrungen - auch Sie, Herr Apel; denn Sie haben ja eine „Rückendeckung" verlangt -, die Sie daraufhin am vergangenen Sonntag bekommen haben, immer noch klatschen, macht deutlich, daß Sie offenbar nicht in der Lage sind, die Konsequenzen aus ) den entsprechenden politischen Vorgängen zu ziehen.
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- Und wenn „Niedersachsen" dazwischengerufen wird, dann sollten Sie sich doch die Ergebnisse so ansehen, wie sie wirklich sind,
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z. B. den Zuwachs, den die Christlich-Demokratische Union - und darauf sind wir stolz ({22})
in Niedersachsen erhalten hat.
Wer sagt, wir seien auf Gegenkurs gegangen - Herr Kollege Kiep, es rentiert sich manches hier nicht, beantwortet zu werden -, der versucht die unbestreitbare Tatsache zu verhüllen, daß seit einer Reihe von Erklärungen des Herrn Kollegen Wehner, die ich noch zitieren werde, die Sozialdemokratische Partei die in der Regierung der Großen Koalition gemeinsam vereinbarten und getragenen Grundlagen verlassen hat und nicht die CDU.
({23})
Die CDU/CSU hat, seit sie als neue, moderne und alle Volksschichten umfassende politische Kraft angetreten ist, ihr bedingungsloses Nein zu allen Feinden der Demokratie gesagt,
({24})
zu Kommunisten und Faschisten, in gleicher Weise.
({25})
Irregeleitete versuchen wir - und dies ist eine politische Pflicht - zu überzeugen. Wir bekämpfen den Kommunismus, obwohl dies auch Rechtsradikale tun. Wir bekämpfen Rechtsradikale, obwohl dies auch Kommunisten tun. Wir bekämpfen Kommunnisten und Faschisten, weil wir für die Freiheit sind.
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Meine Damen und Herren von der Koalition, auch Sie sind doch gegen Kommunisten und Faschisten, weil auch Sie für die Freiheit sind. Dies streitet niemand ab. Aber warum reklamieren Sie dann für sich einen Maßstab, den Sie bei uns anzulegen sich weigern?
({27})
Wer für die Einheit seines Volkes steht, wer für die Freiheit aller Deutschen eintritt, wer für die Selbstbestimmung seiner Mitbürger haftet, wer sich dagegen verwahrt, Unterdrückung auf deutschem Boden respektieren zu sollen, der ist ein deutscher Patriot und kein Nationalist.
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Wer sich dagegen wehrt, daß die durch sowjetischen Willen geschaffene Teilung unseres Landes festgeschrieben wird, wer nicht bereit ist, unter dem wohlklingenden Etikett eines Gewaltverzichtvertrages endgültig die deutsche Spaltung zuzulassen, der ist kein Nationalist, sondern ein deutscher Demokrat.
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Herr Bundeskanzler, ich habe mit Freude gehört, daß Sie dem, was ich jetzt im nächsten Satz sage, eigentlich völlig zustimmen; denn: wer Unrecht Unrecht nennt und nicht vor jenen zurückweicht, die 17 Millionen Deutschen ihre Freiheitsrechte vorenthalten, der ist und da sind wir hoffentlich alle einig - kein Nationalist. Er steht für das Menschenrecht, auch in Deutschland.
Wer, wie wir, die CDU/CSU, seit Bestehen der Bundesrepublik es getan haben, Vertrauen in der Welt für die deutsche Demokratie, wer Freunde und Verbündete geschaffen hat, wer wirkliche Friedenspolitik betreibt, indem er das Lager der Freiheit und die Kräfte für die Freiheit gestärkt hat, wer alle seine Kräfte auf das schwierige Werk konzentriert, Europa aus nationalstaatlicher Zersplitterung zu einer handlungsfähigen politischen Einheit hinzuführen, den kann und darf niemand - schon gar nicht solche, die zunächst geglaubt haben, unseren europäischen Kurs als Verrat an der Nation bezeichnen zu müssen - einen Nationalisten schimpfen.
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Unsere Vorstellungen von einer verantwortbaren Friedens- und Ostpolitik hat man - wie oft! - herabgesetzt und dabei die Motive unseres Handelns verdreht und verbogen.
Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren der Koalition, Sie wissen genau, daß wir für Gespräche, Kontakte, Verhandlungen und Vereinbarungen mit den politischen Führern des europäischen Ostens und für Verständigung und Friedenssicherung mit den dortigen Völkern sind. Sie wissen auch, daß wir diese Kontakte trotz aller Schwierig3222
Dr. Marx ({31})
keiten und Belastungen angeknüpft, ausgebaut und erweitert haben. Ich gehöre selbst zu denen, die sich in den letzten Jahren immer wieder in Ost- und Südosteuropa darum bemüht haben, Verständnis für die Lage unseres Volkes zu wecken, und immer ein offenes Ohr für die Argumente der anderen Seite gehabt haben. Viele Kollegen aus meiner Fraktion haben dort Gespräche geführt, Gedanken und Meinungen ausgetauscht. Aber wir haben dabei nie geglaubt, daß durch bloße Gespräche mit Kommunisten und schon gar nicht durch einseitiges Eingehen auf ihre Forderungen der Frieden befestigt und kurzfristig Lösungen zur Überwindung der schlimmen Spaltung gefunden werden könnten.
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Was unsere Politik von der Ihrigen, Herr Bundeskanzler, unterscheidet, sind vor allem zwei Dinge: erstens haben wir uns gehütet, voreilige Hoffnungen zu wecken, und wir haben zweitens nie geglaubt, daß sich Vorauszahlungen oder Vorausleistungen dem Osten gegenüber lohnen könnten.
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Wir haben das Parallelogramm der Kräfte nie nach Hoffnungen, sondern nach den harten Tatsachen gezeichnet. Wir wehren uns dagegen - insoweit bin ich dankbar, Herr Bundeskanzler, daß Sie soeben in Ihrer Darlegung eine Klarstellung angebracht haben; trotzdem gehe ich darauf ein, weil es bis zum heutigen Morgen immer so schien -, wir wehren uns dagegen, daß die Politik dieser Regierung pole- t misch als eine Friedenspolitik bezeichnet wird und man in der Art, in der man das vorträgt, den Eindruck erweckt, als sei unsere Politik weniger von dem Wunsch nach Frieden getragen.
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Bitte, Herr Bundeskanzler, nehmen Sie ein für allemal zur Kenntnis: wir, die Union, nehmen den Frieden genauso ernst wie Sie. Aber mir scheint, daß wir über den Inhalt dessen, was der Begriff „Friede" aussagt, nicht in allem einig sind.
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Fragen Sie doch, Herr Bundeskanzler, gerade heute, da der 17. Juni uns gemahnt, die Menschen in Mitteldeuschland! Die werden Ihnen sagen, daß Frieden mehr ist als das Schweigen der Waffen.
({36})
Wir wollen die Freiheit unseres Landes bewahren und seine rechtsstaatliche Ordnung ausbauen. Wir wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um im anderen Teil unseres gequälten Landes mehr Menschlichkeit zu erreichen. Wir werden nie an einer Politik mitwirken, die uns schuldig macht, praktisch - praktisch! - die Selbstbestimmung drüben zu verbauen. Wir sind deshalb nicht bereit - ich sage: wir können es nicht -, eine sogenannte Grenze quer durch Deutschland vertraglich zu respektieren, die in Wahrheit - und, Herr Bundeskanzler, ich nehme wieder einen Satz von Ihnen auf, cien Sie soeben sagten - Mauer, Minenfelder und Maschinengewehrtürme heißt. Keine deutsche Regierung hat ein Recht, mit der Sowjetunion in einer
Weise zu verhandeln - ich spreche gewisse Methoden an, die man in Verhandlungen gepflogen hat -, die direkt oder idirekt als eine Bestätigung der völkerrechtswidrigen Breschnew-Doktrin bei den betroffenen Völkern jenseits der Demarkationslinie verstanden werden kann.
({37})
Meine Damen und Herren, wenn wir mit den Verantwortlichen in Moskau sprechen, dann in ihrer Eigenschaft als sowjetische Regierung, nicht aber, um sie sozusagen als Treuhänder der Polen und Tschechen, der Ungarn und Slowaken, der Bulgaren und Rumänen zu bestätigen.
({38})
In der kommunistischen Welt, in dem von der Sowjetunion organisierten, im Pferch der ideologischen, ökonomischen und militärischen Zwänge festgehaltenen Osteuropa, wird eine andere Sprache geprochen. Dort herrschen im vollen Sinn des Wortes andere Gesetze. Dort bestimmt eine brutale Macht das Geschick jener Völker, die schweigen und gehorchen müssen.
Wer, meine Damen und Herren, in Osteuropa Gespräche führt, darf nie das den Völkern dort aufgezwungene Gesetz der sowjetischen Ordnung aus den Augen verlieren. Wer ausgezogen ist, mitzuhelfen, diese heutige Wirklichkeit Osteuropas in eine Friedensordnung zu überführen, der muß diese Wirklichkeit zunächst erkennen. Es ist falsch so zu tun, als handle es sich bei kommunistischen Politikern um Leute, deren Wertvorstellungen, deren ethische und politische Normen, deren Begriffsinhalte den unseren nahe verwandt seien. Es ist irrig, zu glauben, daß dort in adäquaten Denkkategorien argumentiert werde. Meine Damen und Herren, Logik und Ratio, wie wir sie kennen, und leninistische Dialektik sind zwei in der Anlage und im Denkzweck tief verschiedene Methoden.
({39})
Guter Wille - Herr Bundeskanzler, das ist hier oft gesagt worden: niemand streitet Ihnen guten Willen ab - einer Seite allein genügt nicht. Im Kraftfeld der West-Ost-Politik treffen sich viele Absichten und Vorstellungen. Politik, meine Damen und Herren, die diesen Namen verdient, wird erst dann möglich sein, wenn beide Seiten aufeinander zugehen, vom beiderseitigen Willen zum Ausgleich, zum Geben und Nehmen, erfüllt.
({40})
Entspannung, Herr Bundeskanzler, wollen wir alle.
({41})
- Herr Schäfer, Entspannung wollen wir alle.
({42})
Das heißt doch, wenn dieses Wort einen politischen Sinn hat, daß wir uns mühen, Spannungen zu mindern,
({43})
die Ursachen der Spannungen, meine Damen und
Herren - da liegt offenbar der Konflikt zwischen
Dr. Marx ({44})
Ihnen und uns dem Aufspüren der Ursachen der Spannungen -,
({45})
Stück um Stück zu beseitigen. Entspannung heißt, einen Beitrag zum Frieden leisten. Dazu waren wir und dazu sind wir bereit.
Aber können Sie uns sagen, ob sich die sowjetische Seite dort, wo es um deutsche Probleme geht, dort auch, wo z. B. von gleichzeitiger und vergleichbarer Abrüstung denken Sie an die Konferenz in Rom: vergleichbare Truppenreduzierungen im Abschnitt Europa Mitte gesprochen wird, bisher auch nur um ein Quant bereit gezeigt hat, ihren Beitrag zu leisten? Entspannung, meine Damen und Herren, ist nur möglich, wenn beide Seiten sie wollen.
({46})
Wenn nur die eine Seite entspannt, die andere nicht, entstehen neue Spannungen.
({47})
Wer glaubt, durch einseitige Aktionen entspannen zu können, der gefährdet in Wahrheit den Frieden. Wo nur die eine Seite, also die unsere, gibt, die andere nur nimmt und ihre Forderungen steigert, dort wird nur ein Zyniker von Entspannung oder gar von Normalisierung reden können.
({48})
Schließlich, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf folgendes hinweisen. Das Bild des Menschen in seiner Würde und in seinen unveräußerlichen Rechten, auch das Bild von Inhalt und Ziel der Geschichte sind drüben und hier tatsächlich grundverschieden. Wer also Gespräche führt, wer sie mit dem Ziel führt, Verträge, die über Schicksal entscheiden, zu formulieren und zu unterzeichnen, muß zuvor prüfen, mit wem er es zu tun hat. Er muß erkennen, wer sein Gegenüber ist. Er muß die Triebkräfte kennen, die diesen leiten, und er muß wissen, was jener will. Herr Bundeskanzler, ich fürchte, daß Ihre Analyse von Denken, Absicht, Organisation und Methode kommunistischer Gesprächspartner nicht der Realität entspricht, von der Sie so gerne reden.
({49})
Deshalb fragen wir: Sie wollen den Frieden sicherer machen - gut ; aber mit welchen Mitteln? Deshalb fragen wir: Sie wollen etwas bewegen. - Wohin wollen Sie bewegen?
({50})
Sie wollen Spannungen abbauen. Gut, aber mit welchen Methoden, so fragen wir.
Ich füge noch eines hinzu. Sie und Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, haben sich unserer Auffassung nach ohne Not unter Zugzwang gesetzt. Sie haben zu spektakulär agiert.
({51})
Sie haben Hoffnungen erweckt, daß es bald zu guten, einvernehmlichen Übereinkünften mit kommunistischen Staaten kommen könne. Ich frage erneut: Wo, Herr Bundeskanzler, ist die Sowjetunion
heute bereit, auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen? Sagen Sie es uns! Wo ist Ostberlin bereit - ich erinnere an die letzte Debatte -, auch nur „einen Millimeter" einzulenken? Müssen Sie nicht heute zugeben, Herr Bundeskanzler, daß auch Sie die schmerzliche Erfahrung machen mußten, daß sich Vorausleistungen gegenüber totalitären Regimen nicht lohnen?
({52})
Sie haben bei der Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag, bei der Vorbereitung der Begegnungen von Erfurt und Kassel, bei der Einleitung der Gespräche in Moskau und Warschau eine positive Entwicklung mit dem Hinweis vorausgesagt, daß damit der Friede sicherer gemacht werde. Sagen Sie uns nun: Was haben Sie bei der Sowjetunion mit dieser unserer Auffassung nach übereilten Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertag eigentlich bewegt? Was bedeutet die Übernahme eines Begriffes aus der Wetterkunde „Verbesserung des Klimas" in diesen politischen Bereich? Jetzt, nach dem Kasseler Treffen, rufen Sie, Herr Bundeskanzler, aus, man dürfe keine Illusionen haben. Wen meinen Sie? Wen rufen Sie zur Geduld?
({53}) Uns, die CDU/CSU?!
Verehrter Kollege Mischnick, Sie haben nach dem Kasseler Treffen ja auch - ich habe das mit Interesse gelesen - wiederholt in Ihren Einlassungen im Rundfunk gesagt: Keine Illusionen! Ich habe mich damals immer gefragt: Wen mag er nur meinen? Uns sicher nicht.
({54})
Herr Bundeskanzler, wir fürchten auch - ich sage das sehr offen -, daß Ihr Emissär in Moskau den Eindruck hinterlassen hat ,man müsse nur unnachgiebig bleiben, dann werde sich die westliche Nervosität auszahlen; anders gesagt, die Bundesregierung werde dann Schritt um Schritt jenen Forderungen entgegenkommen, die wir kennen,
({55})
und dadurch tatsächlich „Wandel durch Annäherung" schaffen.
({56})
Meine Damen und Herren, wir haben in unserer Großen Anfrage die Sorge geäußert, Sie, Herr Bundeskanzler, wollten eine Wende in der Politik herbeiführen. Wir fühlen uns in dieser Sorge durch das, was in den letzten Tagen in den Zeitungen zu lesen war, bestätigt. Wir haben Ihnen von dieser Stelle aus sehr oft angeboten, für die Ost- und Deutschlandpolitik eine breite Mehrheit in diesem Haus und in der Bevölkerung unseres Landes zu schaffen. Wir haben uns angeboten, nicht nur als gelegentliche Gesprächspartner, denen man partielle und ausgewählte Informationen übermittelt, sondern als Mitwirkende und Mitverantwortende, weil wir sehr wohl wissen, daß Vereinbarungen mit den Staaten Osteuropas, Lösungen der bestehenden großen Fragen nur dann dauerhaft sein können, wenn sie von
Dr. Marx ({57})
einer großen Mehrheit unseres Volkes und dessen Repräsentanten in diesem Hause gemeinsam getragen werden.
({58})
Aber -- wir beklagen das, man hat diese Angebote - ich muß es so sagen, auch heute, an einem Tag, wo man vielleicht sagen sollte: verwende diesen Satz nicht, aber wir sind verpflichtet, die Wahrheit zu sagen -, Herr Bundeskanzler, Sie haben unsere Angebote mit einer Mischung von Selbstüberschätzung und Arroganz behandelt.
({59})
Sie haben uns von der Verantwortung willentlich ausgeschlossen.
({60})
Ihre Weigerung, Herr Kollege Wehner, da Sie gerade lachen,
({61})
mit uns zusammen die Resolution vom September 1968 zu wiederholen, diese Weigerung war ein Signal. Sie zeigte die Veränderung in Ihrer Politik. Man diskreditierte unseren Wunsch zur Gemeinsamkeit und dieses Motiv ist eben in einem Nebensatz des Bundeskanzlers wieder aufgetaucht; aber, Herr Bundeskanzler, dies ist falsch --, man bezeichnete unseren Wunsch nach Gemeinsamkeit als einen Versuch, der Bundesregierung Fesseln überzuwerfen. Man sprach davon, daß man über die Opposition hinweg, die man ja gar nicht brauche,
({62})
der Regierung den Weg freikämpfen wolle. Dies alles, Herr Kollege Wehner, sind Sätze aus Ihrem Munde. Sie, Herr Wehner, waren es, der die Emissäre der Bundesregierung mit der - entschuldigen Sie -- leichtfertigen Formulierung in die Verhandlungen schickte, ein Scheitern der Verhandlungen werde es nicht geben.
({63})
Wie soll, meine Damen und Herren, wenn man sich so festlegt, noch ein geduldiges Ringen am Verhandlungstisch, ein prüfendes Abwägen möglich sein, wie soll ein vielleicht. notwendiger Rückweg betreten werden können?
Sollten Sie, Herr Bundeskanzler, sich heute nicht fragen, heute, da die in Moskau ausgehandelten Texte offenbar nicht überall, selbst nicht in den Reihen ihrer eigenen Koalition, auf Zustimmung stoßen, ob Ihr Unterhändler in Moskau zuviel versprochen hat?
({64})
Wenn es nun zu negativen sowjetischen Reaktionen kommen sollte, müßten Sie, Herr Bundeskanzler, sich dann nicht sagen, daß dies deshalb geschieht, weil Sie die Lage falsch eingeschätzt haben,
({65})
sicher nicht deshalb, weil wir, die Union, unsere Positionen verändert hätten?
Ich erinnere daran, daß am 25. Februar dieses Jahres der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Herr Dr. Barzel, auf die ungenutzten Möglichkeiten zur Kooperation mit der Opposition hingewiesen und festgestellt hat: wenn Sie, Herr Bundeskanzler, eines Tages zu der Erkenntnis kommen sollten, daß Sie „eine Chance für die deutsche Politik nicht genügend haben wahrnehmen können, dann würde diese verpaßte Chance im Geschichtsbuch der deutschen Politik mit Ihrem Namen überschrieben sein".
Kooperation in Lebensfragen unseres Volkes verlangt Information. Herr Kollege Barzel hat auch am 25. Februar - angeboten, weil, wie er sagte, Deutschlandpolitik nicht kurzfristige „klimatische Erfolge", sondern langfristig wirkende und haltbare Lösungen im Interesse der Menschen, der Völker und einer besseren europäischen Ordnung brauche, „ernsthaft, offen und geduldig miteinander" zu sprechen. Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler, in allem Ernst, diesen Hinweis nicht wieder in den Wind zu schlagen.
({66})
Heute aber würden wir unsere Pflicht vernachlässigen, wenn wir nicht von der Regierung Auskunft auch über jene Punkte verlangten, die Schicksalsfragen dieser Nation betreffen und die nach Darstellung einiger „Vertragstexte" sind, über die die Herren Bahr und Gromyko übereingekommen sind, die nach der Interpretation des Außenministers lediglich „Protokollnotizen" sind.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier nicht antworten wollen, sollten Sie es zumindest im Auswärtigen Ausschuß tun; wir haben heute ja dort noch eine Sitzung. Aber wir bestehen darauf - denn dieses Parlament geht jetzt in die Ferien -, auf die jetzt gestellten Fragen noch vor den Ferien eine klare und eindeutige Antwort zu erhalten.
({67})
Die Presse, meine Damen und Herren, hat diese Punkte zitiert. Sie sind in der Öffentlichkeit. Sie werden dort diskutiert und kommentiert. Dies hier aber ist das frei gewählte deutsche Parlament. Seine Mitglieder sind ihrem Gewissen verpflichtet. Dieses Gewissen zwingt uns, zu fordern, daß das Parlament voll über das informiert werde, was, Herr Bundeskanzler, Ihr Unterhändler aus Moskau mitgebracht hat. Denn wir wollen keineswegs schlechtergestellt werden als jene Mitglieder kommunistischer Zentralkomitees, die, wie wir verläßlich wissen, seit vielen Wochen ausführlich über die Moskauer Papiere und die in Moskau vorgetragenen Absichten und Interpretationen des Staatssekretärs Bahr debattieren.
({68})
Wir fragen daher:
Erstens. Entsprechen die in der Presse wiedergegebenen vier Punkte den Moskauer Vereinbarungen?
Zweitens. Sind diese Formulierungen mit dem von der sowjetischen Regierung autorisierten Außenministers Gromyko so fixiert, daß sie kaum oder gar nicht mehr geändert werden können?
Dr. Marx ({69})
Drittens - und auch das ist wichtig -: Handelt es sich hier um den ganzen Text, oder gibt es noch weitere Übereinkünfte, etwa über eine Aufnahme dessen, was man heute „die zwei Staaten auf deutschem Boden" nennt, in die Vereinten Nationen? Wo sind die Vereinbarungen über die Rolle Westberlins? Wie soll das Selbstbestimmungsrecht zweifelsfrei verankert werden? Oder gibt es da etwa gar keine Vereinbarungen, sondern vielleicht nur ein einseitiges deutsches Papier und demgegenüber eine sowjetische Weigerung in der Sache? Welche Vereinbarung - so fragen wir - ist mit der Sowjetunion über das Münchener Abkommen getroffen worden? Doch nicht etwa die gleiche, welche die Sowjetunion mit der CSSR am 6. Mai in Ziffer 6 ihres Vertrages abgeschlossen hat, nach welcher das Münchener Abkommen von Anfang an mit allen Rechtsfolgen ungültig sei?
({70})
Wir fragen viertens: Wie wollen Sie den sowjetischen Gewaltvorbehalt nach den Art. 53 und 107 der UN-Charta wirklich und tatsächlich ausschalten? Glauben Sie wirklich, daß die Betonung - Sie haben es hier wiederholt und haben gesagt, Herr Bundeskanzler, dieser Artikel gilt gegenüber allen; einverstanden des Art. 2 der UN-Satzung in dem Vertragstext ausreicht? Denn ich füge hinzu: Es ist einfach nicht wahr, daß auch die Westmächte uns zu diesen Punkten nicht mehr und nichts anderes erklärt hätten; sie haben vielmehr eindeutig erklärt, daß es kein einseitiges Interventionsrecht gegen die Bundesrepublik Deutschland gebe.
({71})
Wo ist, Herr Bundeskanzler, die eindeutige, zweifelsfreie Erklärung zu dieser Sache von seiten der Sowjetunion?
({72})
Herr Außenminister, Sie haben in einer der ersten Ausschußsitzungen, in der wir über diese Frage im Zusammenhang mit der Bahr-Mission diskutiert haben, gesagt, es sei Ihr Ziel, ein Abkommen über Gewaltverzicht ohne Gewaltvorbehalt abzuschließen. Wir fragen: Gilt das noch? Oder hat sich der Staatssekretär im Bundeskanzleramt auch in dieser Sache auf Formeln eingelassen, die von unseren Überzeugungen abweichen? Ich erinnere in diesem Zusamenhang an die Versicherungen, die der Bundeskanzler in der Beantwortung unserer Großen Anfrage zum Atomwaffensperrvertrag am 12. November in diesem Hause abgab. Er sagte - ich zitiere -:
.. die sich aus den Art. 53 und 107 ergebende Problematik, von der diese Regierung meint ..., daß darüber abschließend im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht und nicht im Zusammenhang mit dieser Materie gesprochen werden sollte."
Herr Bundeskanzler, Sie sagten „abschließend": Ich frage: was ist abgeschlossen?
Ich erinnere auch an die an diesem Tage durch den Herrn Außenminister uns gegebene Erklärung. Er sagte wörtlich:
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß der Komplex der Art. 53 und 107 in zukünftige Verhandlungen mit der Sowjetunion hineingeschoben wird, die nicht mit dem NV-Vertrag in Verbindung stehen.
Das letzte Zitat. Herr Bundeskanzler, Sie haben am 14. Januar im Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland -
({73})
- Herr Präsident, ich brauche noch drei Minuten.
Präsident von Hassel: Einverstanden, wenn es bei den drei Minuten bleibt.
Aber, Herr Bundeskanzler, da muß ich die Gelegenheit doch noch ergreifen und Sie fragen: Wo ist denn nun eigentlich der vorgelegte zweite Teil des Berichts zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland?
({0})
Am 25. Februar sind Sie von unserer Fraktion wiederholt gemahnt worden, ihn endlich auf den Tisch zu legen. Heute, am 17. Juni, war nach meiner Überzeugung der Tag, so lange Versäumtes gut nachzuholen.
({1})
Sie hatten damals gesagt - ich zitiere - „Also kann das Ziel der deutschen Politik in diesem Zusammenhang ... was die Sowjetunion angeht, nur sein, uns gegenüber einen ähnlichen Stand zu erreichen, wie wir ihn durch die Interpretationen und Zusicherungen seitens der Westmächte erreicht haben. Sie haben nämlich diese Artikel der Charta der Vereinten Nationen für obsolet erklärt". Wir fragen: Erhalten Sie das noch aufrecht? Wenn ja, in welcher Weise? In welcher für beide Seiten verbindlichen Form? Wenn nein, warum nicht? Was, Herr Bundeskanzler, hat sich geändert?
Erklärt nun - das ist unsere nächste Frage - auch die Sowjetunion, daß unsere Forderungen nach friedlicher Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts keine Gewaltpolitik seien, gegen die sie mit Gewalt intervenieren können, so wie sie dies bisher immer behauptet hat?
({2})
Und überhaupt, Herr Bundeskanzler - ich komme noch einmal darauf zurück, weil uns dies bedrückt, weil uns dies tiefe Sorge macht -, was verstehen wir zusammen nun eigentlich unter Gewaltverzichtsvertrag? Können wir uns hier nicht auf eine klare Erklärung, Interpretation, Ausdeutung, die für uns alle verbindlich ist, einigen? Bleibt das Etikett „Gewaltverzicht", obwohl es nun doch die Spatzen von allen Dächern pfeifen, daß es sich offenbar um einen sogenannten Gewaltverzicht mit aufrechterhaltenem Gewaltvorbehalt handelt, um die weitestgehende Übernahme jener Formel der sowjetischen Deutschlandpolitik uns gegenüber, die Sie, Herr Kiesinger, als Bundeskanzler immer abgelehnt haben?
Dr. Marx ({3})
Fünftens. Ist unsere Befürchtung etwa richtig, daß Sie im Grunde der Sowjetunion ein Angebot machen, den Status quo des geteilten Europa zu akzeptieren, um dafür eine gewisse Sicherung der Wege nach Westberlin zu bekommen, dabei aber die Bundespräsenz in Westberlin zum Handelsobjekt machen? Wir, die CDU/CSU, erklären, daß zu den gewachsenen Beziehungen Berlins zur Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich und ohne Einschränkung die bisherige Präsenz der Bundesorgane gehört.
({4})
Wer Westberlin sichern will, darf d a rüber nicht handeln.
Sechstens. Sagen Sie uns bitte eindeutig, was die Sowjetunion darunter versteht, wenn wir „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich" bezeichnen sollen. Versteht Sie darunter nur den Ausschluß von Gewalt? Hat sie dies so gesagt? Und ist sie bereit, dies auch so in den Vertrag zu schreiben? Sagen sie uns auch, ob die Formel, daß die gegenwärtigen Grenzen uneingeschränkt zu achten seien, von der Sowjetunion etwa als ein Instrument der Intervention in unserer europäischen Integrationspolitik mißbraucht werden kann.
({5})
Siebtens. Von welcher Grenzvorstellung - das wüßten wir gern; denn, Herr Bundeskanzler, Sie vergleichen oft den Ausgleich mit Polen mit dem Ausgleich mit Frankreich - geht Ihre Regierung aus? Von derjenigen, die die sowjetische oder die polnische Seite will, also einer verhärteten, nationalstaatlich verkrusteten, ins 19. Jahrhundert verweisenden, reaktionären Auffassung vom Charakter einer Grenze oder von jenem Verständnis, das uns in Westeuropa während der beiden letzten Jahrzehnte geleitet hat?
Meine Damen und Herren, ich schließe. Die Union will Freiheit und Sicherheit wahren. Die Union will den Frieden erhalten und festigen. Sie will das gesicherte Bündnis stärken und das politisch geeinte freie Europa mitbauen. Die Union sucht Verständigung mit allen Staaten und Völkern, die dazu partnerschaftlich bereit sind. Sie will eine Politik, in der die Begriffe und deren Inhalte stimmen. Sie ist für Verträge, die klar sind, von beiden Seiten frei und verantwortlich ausgehandelt und tragfähig für friedliche Zukunft. Die Union wird einer Politik der Halbheiten, der verwaschenen Formeln und der Öffnung für neue Pressionen entschieden widerstehen.
({6})
Um dies darzulegen, meine Damen und Herren, und um noch einmal klar und deutlich zu machen, wie die Position der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union ist, haben wir diese Stunde genutzt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Erklärung für meine Begriffe - ich sage das jetzt für mich - neue Töne und in manchen Inhalten eine veränderte Position angedeutet. Darauf wird sicher der Vorsitzende unserer Faktion eingehen. Was ich deutlich machen wollte, war jene kontroverse Situation, die wir, wenn wir ehrlich zueinander sind, nicht zukleistern, sondern offen diskutieren müssen mit dem Willen, darüber hinaus dann, wenn es möglich ist und Sie bereit sind, gemeinsame Ufer zu erreichen.
({7})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Wienand. Es sind für ihn 30 Minuten angemeldet. Bitte schön, Herr Abgeordneter Wienand.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Marx schloß mit den Worten, die Stunde heute sei genutzt worden. Ich frage mich, ob sie wirklich der Regierungserklärung des Bundeskanzlers und dem heutigen Tage angemessen genutzt worden ist. Denn mir schien, hätte man nicht zuviel herbeigeholt, sondern mehr auf das hin argumentiert - auch wenn man eine kontroverse Auffassung hat -, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat, wäre die Stunde besser genutzt worden.
({0})
Ich möchte deshalb nicht in die Art verfallen wie mein Vorredner, der vieles zusammenziehend in einem Bild darzustellen versuchte, das dem Tag und der Politik, die betrieben werden muß, nicht gerecht wird.
({1})
An einem solchen Tag wie dem heutigen erscheint es mir angebracht, an einen Gedanken anzuknüpfen, den der damalige Bundeskanzler Dr. Kiesinger heute vor drei Jahren während eines Staatsaktes in diesem Plenarsaal ausführte. Herr Kollege Dr. Kiesinger, Sie wehrten sich damals als Bundeskanzler gegen eine rein defensive Politik der Bundesrepublik mit dem Argument, eine solche Politik würde uns keinen Schritt weiterbringen;
({2})
sie könne uns auch nicht bewahren, was sie bewahren wolle. Sie führten dann wörtlich aus: „Denn die Zeit wirkt nicht für uns." Herr Kiesinger fuhr dann fort und ich darf das zitieren -:
Darum hat sich diese Regierung
- also die der damaligen Großen Koalition -zu einer neuen, beweglicheren Politik gegenüber dem Osten entschlossen: sowohl gegenüber unseren östlichen Nachbarn wie im innerdeutschen Verhältnis gegenüber den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands. Beides sind Aspekte einer politischen Konzeption, welche auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht darauf verzichten kann, eine seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden kann.
({3})
Wer das utopisch findet, der sollte bedenken, was es bedeuten würde, auf einen solchen Entwurf zu verzichten.
Ich will aus demselben Grunde wie Sie, Herr Dr. Kiesinger damals vor drei Jahren, keinen geschichtlichen Rückblick auf die Ereignisse seit jenem Tag geben, an den wir uns alle heute erinnern. Ich gestatte mir nur, um Anknüpfungspunkte an die Erfordernisse unserer Zeit und der aus dieser Sicht zu betreibenden Politik zu finden, auf eine Passage aus einer Rede zu verweisen, die unser Kollege Herbert Wehner am 1. Juli 1953 vor diesem Hohen Hause hielt. Es hieß dort:
Wir meinen, heute kann man weniger denn je mit Entschließungen, mit Bekundungen und mit symbolischen Gesten etwas erreichen ... Es kommt nicht nur auf uns, sondern es kommt geschichtlich auf konkrete Schritte an.
Diese Betrachtung von Herbert Wehner hat heute nach wie vor ihre Gültigkeit. Wir sind jetzt in Deutschland, in Europa, ja in aller Welt in ein Stadium eingetreten, in dem eine Politik der konkreten Schritte mehr denn je als Notwendigkeit erkannt wurde und in der gestenreicher Verbalismus früherer Jahre als politisch unfruchtbar erkannt worden ist und erkannt wird.
Die Bemühungen der Bundesregierung, Schritte zu unternehmen, wie sie etwa Bundeskanzler Kiesinger vor drei Jahren als richtig erkannte, können nicht als isolierte Maßnahmen betrachtet werden. Sie sind ein Teil weltweiter Anstrengungen zur Überwindung eines Spannungsverhältnisses. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten doch endlich einmal erkennen und nicht an der Tatsache vorbeiargumentieren, daß das ein weltweites Bedürfnis ist und daß sich hier die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien in einem Konsensus mit unseren westlichen Alliierten und mit der überwiegenden Weltmeinung befinden.
Denken Sie daran, daß der amerikanische Präsident Nixon in diesem Frühjahr unsere gemeinsame Situation als eine Phase des Übergangs gekennzeichnet hat. Wir bewegen uns, so führte er bei Gelegenheit aus, in einem weltpolitischen Ausmaß von der Ara der Konfrontation zur Ära der Kooperation. Diese Entwicklung war bei manchem unserer Verbündeten schon in den sechziger Jahren zu spüren und in ihren Grundlagen angelegt. Sie, die Verbündeten, mußten noch vor einigen Jahren mit Ungeduld vermerken, daß die Vorstellungen der damaligen Mehrheit in diesem Hause mit ihren eigenen oft nicht in Einklang gebracht werden konnten.
Heute kann die Bundesregierung mit Befriedigung feststellen - ich beziehe mich hier auf den letzten der sechs Punkte, welche die Bundesregierung auf ihrer Sitzung am 6. Juni 1970 erarbeitet hat -, daß ihre Politik von den drei Westmächten, den Mitgliedstaaten der WEU und des atlantischen Bündnisses voll gebilligt und unterstützt wird. Man sollte hier auch nicht etwas anderes hineininterpretieren; denn, Herr Kollege Dr. Marx, wenn man das ungeachtet der eindeutigen Stellungnahme unserer
Verbündeten, unserer Partner, unserer Alliierten tut, dann benimmt man sich nicht als Patriot, sondern man betreibt andere Geschäfte!
({4})
Übrigens finde ich in diesen sechs Punkten eine Grundeinstellung, wie sie sich auch Präsident Nixon in seiner „neuen Friedensstrategie" der amerikanischen Außenpolitik für die siebziger Jahre am 18. Februar dieses Jahres zu eigen gemacht hat. Nixon führte dort aus - ich darf zitieren -:
Wir werden keinerlei Prinzipien für bloße Versprechungen, keine lebenswichtigen Interessen nur für eine bessere Atmosphäre eintauschen. Wir werden immer bereit sein, über die Schaffung eines dauerhaften Friedens ernsthaft und zielbewußt zu sprechen.
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kiep?
Nein, ich möchte dies genauso wie alle anderen Redner im Zusamenhang zu Ende bringen.
({0})
Die Unterstützung der Politik der gegenwärtigen Bundesregierung durch die Verbündeten ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für den weiteren Fortgang der Bemühungen dieser Regierung. Ich darf deshalb noch einmal auf die entscheidenden Sätze des Punktes 8 aus dem Schlußkommuniqué der Ministerkonferenz des Nordatlantischen Rates von Ende Mai dieses Jahres in Rom verweisen, denn dort steht wörtlich:
Mit Unterstützung und Verständnis ihrer Verbündeten hat die Bundesrepublik Deutschland Gespräche mit der Sowjetunion, Polen und der DDR aufgenommen, um die Lage in Mitteleuropa zu verbessern. Die Bündnispartner erachten dies als ermutigend. Sie geben der Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche zu Ergebnissen führen und nicht durch unannehmbare Forderungen beeinträchtigt werden.
({1})
- Zu Ergebnissen führen! Herr Kollege Heck, Sie sind ein erwachsener Mann
({2})
und wissen doch auch, daß man am Beginn nicht schon die Ergebnisse aufzeigen kann, sondern daß man sich hier, wie es auch von seiten Ihrer Fraktion einmal gesagt wurde, millimeterweise vorarbeiten muß.
({3})
Wir erleben es ja sogar in diesem Hause, wie sehr
von verschiedenen Standpunkten aus aneinander
vorbeigeredet wird und wieviel Zeit wir brauchen,
um dies auszuräumen, damit ein Konsensus zustande kommt.
({4})
Die Bundesregierung befindet sich in schwierigen Sondierungsgesprächen mit der Sowjetunion, mit Polen und mit der DDR; ich betone: in schwierigen Sondierungsgesprächen. Weitere Sondierungsgespräche werden folgen. Ein Übergang in das Stadium von Verhandlungen kündigt sich hier und da bereits an.
Hier darf ich etwas zu den Fragen einschieben, die der Oppositionsredner vorhin wieder an die Bundesregierung vorgebracht hat. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemals von der Bundesregierung oder von der Koalition her gesagt worden ist, wir stünden am Abschluß von Verhandlungen mit Moskau, mit Warschau oder mit irgendeinem anderen Staat.
({5})
Ich kann mich immer nur daran erinnern -- und ich bitte um Nachhilfe, wenn ich das falsch sehe -, daß von exploratorischen Gesprächen, daß von vorbereitenden Gesprächen, die zu den Verhandlungen und zum endgültigen Aushandeln von Vertragstexten führen sollen, die Rede war.
({6})
Ich kann mich daran erinnern, daß das im Auswärtigen Ausschuß in extenso dargelegt worden ist; ich kann mich daran erinnern, daß darüber in vertraulichen Gesprächen viel gesagt worden ist, und ich kann mich auch daran erinnern, daß darüber hier im Hause nie Uneinigkeit bestanden hat. Warum versuchen Sie dann jetzt immer wieder, meine Damen und Herren von der Opposition,
({7})
so zu tun, als sei schon wer weiß was vorweggenommen, als hätten diese Verhandlungen schon stattgefunden, als seien Sie getäuscht worden und als sei irgendwo schon etwas anerkannt, ausverkauft oder durch Unterschrift besiegelt worden? Sie wissen doch ganz genau, daß dies nicht der Fall ist!
({8})
Präsident von Hassel: Herr Kollege Wienand, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Präsident von Hassel: Also keine Zwischenfragen.
({0})
In dieser Situation erleben wir, wie die zur Verhandlung anstehenden Probleme seit Wochen in beinahe epischer Breite in diesem Parlament zur Diskussion stehen. Wir mußten auch erleben, daß Teile von bisherigen Gesprächsergebnissen durch eine verantwortungslose Indiskretion und in unzureichender Weise an die Öffentlichkeit gelangten. Soweit ich sehen kann, ist die Art der Behandlung der Bemühungen der deutschen Bundesregierung in der Deutschland- und Ostpolitik in diesem Parlament ein einmaliger Vorgang im Vergleich zur Behandlung ähnlich wichtiger Beratungsgegenstände in anderen demokratisch regierten Staaten und im Vergleich dazu, wie es in der Vergangenheit hier in diesem Parlament gehandhabt worden ist.
({0})
Ich frage mich mit Ernst und voll Sorge, ob eine solche Behandlung noch mit den erklärten Zielen einer Politik in Einklang gebracht werden kann, I die vorher auch im Grundsätzlichen vom Sprecher der Opposition beschworen wurde. Ich frage mich aber auch, ob durch diese Art und Weise nicht der Verdacht aufkommen muß, daß diejenigen, die möglichst alles sofort ans öffentliche Licht zerren wollen, im Grunde bereit sind, auf der Stelle zu treten und nicht jene notwendige Bewegung in die deutsche Politik zu bringen, von der Herr Dr. Kiesinger in dem eingangs zitierten Absatz seiner Rede vor drei Jahren gesprochen hat.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich nehme doch an, daß Sie immer noch die Absicht haben, bei sich bietender Gelegenheit die Regierungsverantwortung in diesem Lande erneut zu übernehmen.
({1})
Haben Sie wirklich einmal gründlich darüber nachgedacht, ob Sie nicht in den letzten Wochen und Monaten durch Ihre Äußerungen vor diesem Hause sowie auf Veranstaltungen und in Artikeln und Interviews draußen im Lande etwas zerschlagen haben, was Sie selbst noch einmal benutzen müssen? Ist Ihnen, so möchte ich fragen, klar geworden, daß Sie durch allzu forsches Auftreten jene ersten zarten Pflanzen zertreten könnten, die Sie doch nach Aussage Ihrer Politiker pflegen wollen?
({2})
- Ich stelle diese Frage. Erregen Sie sich doch nicht, Herr Kollege Rösing! Sie haben ja am wenigsten zu den Dingen gesagt.
Ich habe Verständnis dafür, daß Sie dieser Regierung und im besonderen meiner Partei Schwierigkeiten bereiten wollen. Haben Sie in Ihre Berechnungen aber auch einbezogen, daß möglicherweise über diesem Schwierigkeiten-Bereiten das notwendige Augenmaß verlorengeht und unheilvolle Allianzen zustande kommen, Allianzen, die teils durch Verbalismus heraufbeschworen, teils dann
) nicht mehr zurückgedrängt oder ungeschehen gemacht werden können, wenn es so dargestellt wird, wie es vorhin der Redner der Opposition getan hat?
Mir liegt nicht daran, in dieser Stunde das noch einmal Revue passieren zu lassen, was in den letzten Wochen und Monaten an „Verzicht" und „Ausverkauf" und ähnlichen Vokabeln in die öffentliche Diskussion hineingebracht worden ist. Mir liegt nicht daran, Restbestände einer politischen Auseinandersetzung der fünfziger Jahre hier erneut zu beleben. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal nachdrücklich die sechs Punkte der Bundesregierung in Erinnerung rufen, von denen ich einen vorhin zitiert habe, und ich möchte auf eine Reihe von Gesichtspunkten - man kann bei der zur Verfügung stehenden Zeit nicht alle anführen - hinweisen dürfen, die für jede Politik und vor allem für die Politik, die diese Bundesregierung betreibt, von hoher Relevanz sind.
Hier war immer wieder die Rede von der Frage: Was heißt denn Gewaltverzichtsverträge, was erreicht man zusätzlich damit? Lassen Sie mich aus meiner Sicht etwas dazu sagen. Den Frieden erhalten heißt, Gewaltanwendung und Gewaltdrohung aus den Beziehungen zwischen den Völkern zu verbannen. Immer mehr, so meine ich, müssen strittige Fragen aus dem Zusammenleben, aus dem Nebeneinander der Völker herausgenommen und auf den Weg des Rechts verwiesen werden.
({3})
Friede und Nichtgebrauch von Gewalt hängen aufs engste zusammen. Wer den Frieden bricht, ist auch Rechtsbrecher; denn das Verbot von Gewaltanwendung und Gewaltdrohung ist Gegenstand einer Rechtsnorm, nicht nur in der Charta der Vereinten Nationen, sondern auch in unserem Grundgesetz. Die bloße Existenz dieser Norm erfüllt bereits eine Funktion für den Frieden.
({4})
Aber ihre Geltungskraft zu mehren und zu verfestigen ist Sache einer jeden aktiven Friedenspolitik. Da bedarf es keiner Abgrenzung, auch wenn sie der Bundeskanzler vorgenommen hat; denn ich halte eine deutsche Politik, ob nach außen oder innen, nur gezielt als Friedenspolitik für eine vernünftige Politik. Wir sollten das außerhalb der Diskussion halten.
({5})
Das Verbot der Gewaltanwendung und der Gewaltdrohung ist jedenfalls einer der Grundsätze der Vereinten Nationen, auf die die Weltorganisation und ihre Mitglieder die Verwirklichung ihrer Ziele gründen.
In diesem Zusammenhang spielt der Art. 2 der Satzung der Vereinten Nationen eine entscheidende Rolle. Für die Erhaltung des Friedens kommt es darauf an, daß die Gewaltverbotsnorm allseitig Geltung hat und bekommt. Die Mitglieder der Vereinten Nationen sind auf die Charta und deren Grundsätze schon durch ihren Beitritt verpflichtet, aber auch die Nichtmitglieder haben sich auf die Charta, jedenfalls auf die Beachtung ihrer Grundsätze, festgelegt. Von einer quasi universellen Geltung des Gewaltverbots zu sprechen ist daher keine Übertreibung und ziemt sich gerade für Deutsche in dieser Stunde, wenn wir uns zu diesem Thema äußern.
Wir wissen aber auch, daß Normen nicht ohne weiteres eingehalten werden, nur weil sie da sind. Um sie durchzusetzen, ihre Ausnahmen einzugrenzen, kommt es darauf an, die Zahl der Übertretungen zu verringern, die Völkergemeinschaft vor nachhaltigen Verletzungen der Verhaltensnormen zu schützen. Dazu bedarf es weiterer Vorklärungen nach einer beharrlichen, oft von Mißerfolgen begleiteten Anstrengung. Ich sehe gerade die vorhin erwähnten Gespräche des Staatssekretärs Bahr als einen wertvollen, nicht zu unterschätzenden Beitrag auf diesem Wege an.
Im Art. 26 des Grundgesetzes wird sehr deutlich festgelegt, daß darüber hinaus Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, Angriffskriege vorzubereiten oder das Zusammenleben der Völker zu stören, verfassungswidrig sind und unter den Strafanspruch des Staates gestellt werden. Wir haben dies ausdrücklich nicht nur in unserem Grundgesetz, sondern auch zum Ausdruck gebracht, als wir dem Nordatlantikpakt beigetreten sind; ich verweise auf Art. 1 dieses Vertrages.
Für den Erfolg der auf Friedenserhaltung und Entspannung gerichteten Politik ist es wesentlich, daß keine Gewalt angewendet wird, aber auch, daß nicht mit Gewalt gedroht wird. Gewalt vernichtet den Frieden, Drohung mit Gewalt, gleichviel von welcher Seite sie vorgenommen wird, zerstört jede Entspannung, die Mitvoraussetzung zur Erhaltung des Friedens ist. Trennend zwischen Ost und West, zwischen den Völkern stehen bedauerlicherweise immer noch Doktrinen, die einen bestimmten Gebrauch von Gewalt und der Androhung von Gewalt als gerechtfertigt hinzustellen trachten.
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- Von mir aus auch Ideologie. ({7})
Wenn wir aber von dieser grundsätzlichen Einstellung, wie ich sie hier dargetan habe, an diese Dinge herangingen und wenn wir zur Verwirklichung der deutschen Vorschläge mit Moskau, mit Polen, mit der DDR Gewaltverzichtserklärungen austauschten, würde dies zwischen diesen Partnern zu einer Individualisierung der Gewaltsverbotsnorm führen - und wer wollte sich dem entgegenstellen, wenn das erreichbar wäre?
Speziell gesagt - das muß eingeräumt werden -, fügt der Gewaltverzicht der allgemeinen Gewaltverzichtsnorm nichts hinzu. Immerhin stellt die Anwendung, die Verpflichtung aus der Norm, einen neuen Rechtsgrund, den der vertraglichen Verpflichtung, zusätzlich dar. Er schafft dadurch mehr, als vorhanden war. Er knüpft eine zusätzliche Bindung, wenngleich in derselben Sache, aber doch unter Ein3230
räumung eines speziellen Berufungsrechts an den Kontrahenten.
Politisch gesehen geht die Bedeutung über die Schaffung eines neuen Rechtsgrundes der Verpflichtung weit hinaus. Der Gewaltverzicht ist ein Mittel zur Entschärfung einer bestimmten Spannungslage, zur Bestätigung des politischen Willens, in einem bestimmten Streitfall oder gegenüber bestimmten Partnern eine Politik ohne Gewalt zu betreiben. Ich empfinde, daß ein großer Dissens in der Auseinandersetzung hier bei uns, aber auch von uns nach draußen hin mit darauf zurückzuführen ist, daß innen bona fide -- das unterstelle ich -, von außen nicht immer bona fide uns etwas unterstellt wird, was wir bewußt ausgeräumt haben, was wir aber durch solche Verhandlungen und durch ständiges Bemühen auch gegenüber der Weltöffentlichkeit außerhalb der Diskussion stellen müssen, wie wir das nach langen leidvollen Erfahrungen endlich bei uns außerhalb der Diskussion gestellt haben.
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So gesehen nimmt Gewaltverzicht geradezu den Charakter eines Streitmoratoriums, eines Aufschubs der Lösungen an. Andererseits besteht die Lösungsbedürftigkeit des Konfliktstoffs grundsätzlich weiter. Die programmatische Forderung, den Streit friedlich zu lösen, impliziert --- auch das ist hier schon herausgestellt worden die Feststellung, daß ein unerledigter Konfliktstoff vorliegt, ohne dessen Lösung eine Befriedung nicht eintreten wird, bei dessen Fortbestand auch die Friedlosigkeit fortdauert. Politik bedeutet doch, überzeugend klarzumachen, daß es auf den Fortbestand des Friedens ankommt und daß man deshalb an die Fragen herankommen muß, auch wenn am Anfang die Mißverständnisse so groß erscheinen, daß der eine oder andere Gespräche schlechthin für sinnlos halten mag. Ungeachtet dessen muß der Versuch unternommen, muß gerade auf dieser Ebene weitergearbeitet werden.
Darüber hinaus muß man dann natürlich bereit sein, über alle anderen anstehenden Fragen zu reden, wenn man will, daß der Partner, mit dem man spricht und mit dem man um der Voraussetzungen willen im Gespräch bleiben muß, auch die Themata mitbehandelt, die unsere Herzensanliegen sind, und die auf den Gesprächstisch bringen und sich darüber unterhalten bedeutet nicht etwas preisgeben, bedeutet nicht etwas billig verkaufen, sondern bedeutet das ständige Ringen, die mühevolle Millimeterarbeit, um diese Konfliktstoffe einzuengen und immer wieder gegenüber der Weltöffentlichkeit unmißverständlich zu betonen, daß wir es sind, die nicht von Moral und von Gesinnung reden, sondern die von der Verantwortungsethik getragen an diese Probleme herangehen, und daß, wenn es schon Schwarze Peter in diesem Spiel gibt, sie sichtbar bei den anderen stecken und nicht uns zugesteckt werden können.
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gierung betreibt, unterstützt wird, wenn intern und
auch in öffentlicher Fragestellung und in der Klarstellung der eigenen Standpunkte kein Dolus gegenWenn so gesehen die Politik, die die Bundesreeinander und erst recht nicht gegenüber einer Regierung ins Gespräch gebracht wird, wenn wir dies tun mit dem nötigen Anstand und dem Patriotismus, von dem Sie, Herr Dr. Marx, vorhin gesprochen haben, dann stärken wir die Bundesregierung, zu der wir Vertrauen haben, für diese schwierigen Verhandlungen, und dann kommt es zu Verhandlungen, über die wir als Parlament im Abschluß zu befinden haben. Da würde ich nicht diese oder jene Wahl, diese oder jene Äußerung als ein Plebiszit auf dem Wege zu diesem Ziel hin betrachten
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- man muß doch die Zuspitzung und die Situation sehen, in der dann Antworten erfolgten -, sondern da würde ich in ständigem Bemühen um des Patriotischen willen und in der Erinnerung an den Tag, den wir heute als Arbeitstag begehen, mit dem Blick auf diese Arbeit hin zu Gemeinsamkeiten aufrufen, die nicht darin zu liegen haben, daß wir hier und nach außen hin Einigkeit in allem demonstrieren, sondern die darin liegen, daß keiner in diesem Hause und erst recht nicht die Bundesregierung bereit ist, Freiheit und Frieden aufs Spiel zu setzen.
Aber es wird so oft von Freiheit, von Frieden und von Wiedervereinigung gesprochen, und das als eine Formel, die gängig geworden ist. Können wir es nicht einmal etwas anders formulieren, ohne damit etwas preiszugeben: wir haben aus Gründen, die allen bekannt sind, Frieden, der weiter gesichert werden muß, und wir haben eine Freiheit für uns hier, die weiter ausgebaut werden muß. Wir können beides aber nur erreichen, wenn wir - in der Reihenfolge - Frieden erhalten, mit den adäquaten Mitteln für die Freiheit eintreten und darüber hinaus dann das überwinden, was heute trennend zwischen uns steht, und damit den Auftrag erfüllen, der uns mit diesem Tag gegeben ist.
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Präsident von Hassel: Das Wort hat für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Borm. Für ihn sind 30 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, daß der Bundestag mit gutem Beispiel vorangeht und diesen Tag der deutschen Trauer als Arbeitstag begeht. Es ist in der Tat kein Grund zum Feiern, und ich glaube, wir werden uns der Aufgabe unterziehen müssen, auch für unser gesamtes Volk einen anderen Stil dieses tragischen Tages zu finden. Aber es ist ein Tag des Gedenkens, ein Tag des Gedenkens an die Opfer der Gewalt, wo immer Diktatur und Gewalt angewendet wird, überall auf der Welt, und nicht nur ein Tag des Gedenkens an jene 21 Todesopfer des 17. Juni 1953, die unserem Herzen naturgemäß am nächsten liegen.
Es ist aber auch ein Tag des Nachdenkens über unsere Pflicht, über die Pflicht, die einem Vertreter des deutschen Volkes jetzt, 17 Jahre nachher, obBorm
liegt. Ich habe den 17. Juni 1953 unter anderen Umständen erlebt als jeder von Ihnen.
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Ich habe die Opfer dieses Tages vier Wochen später hinter den Mauern erlebt, welche mich seinerzeit umschlossen haben. Ich habe den unmittelbaren Eindruck, und aus dieser Erinnerung heraus, meine Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir doch einige Bemerkungen.
Wir sollten diesen Tag der deutschen Trauer und der deutschen Schmach als das sehen, was er ist. Wir sollten ihn nicht glorifizieren. Das würde seine Bedeutung herabmindern. Es war kein organisiertes Aufbegehren. Es war ein spontaner Aufstand,
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weil das Maß voll war. Was war geschehen? Die Verantwortlichen drüben, die die Macht in Händen haben, haben die Lage verkannt. Sie glaubten, daß sie mit den Menschen umspringen könnten, wie es die jeweilige ökonomische oder politische Ratio eines Diktatursystems ihnen gerade gut erscheinen ließ. Sie versuchten, die Arbeitsnormen heraufzusetzen. Sie versuchten, die arbeitenden Menschen zu erhöhter Leistung und damit zu relativ geringerem Lohn anzuspornen. Das wäre an sich, wenn so etwas bei uns möglich wäre, natürlich ein Anlaß, dagegen auf der Straße zu protestieren. Diese Protestmärsche haben auch stattgefunden. Sie haben auch dort stattgefunden, worum das deutsche Schicksal am intensivsten gerungen wurde und gerungen wird: in Berlin; denn dort ist der Brennpunkt des deutschen Geschehens. Aber diese an sich erklärliche Auseinandersetzung über Arbeitsbedingungen stieß auf eine geistige Bereitschaft - das ist das Aktivum dieses Tages - zum offenen Protest. Das deutsche Volk in der DDR war nicht länger gewillt, die Faust in der Tasche zu ballen. Die Bevölkerung hatte die Diskrepanz zwischen der Propaganda, dem Versprechen einer nebelhaften glücklichen Zukunft und der rauhen, der realen Wirklichkeit erkannt. Das Volk sah täglich die sichtliche ökonomische Überlegenheit unseres Wirtschaftssystems, und es gab, was das Wichtigste ist, ein lebendiges Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden deutschen Staaten, das zum Ausdruck kommen ließ, daß alles, was bei uns geschieht und geschah, deren Schicksal war, wie ebenfalls bei uns dieses Zusammengehörigkeitsgefühl festzustellen war. Es war eine Auflehnung des Freiheitswillens gegen den manipulierten totalen Zwang.
Das, meine Damen und Herren, waren die Gründe, und das waren die Erscheinungsformen. Ich selbst kann Ihnen die unmittelbare Wirkung an jenem Tage nennen: eine Ratlosigkeit beim Aufsichtspersonal, eine Ratlosigkeit bei den unteren Rängen der dortigen Hierarchie. Und was war das Ende: Das gewohnte Mittel der Gewalt, wie wir sie in Polen, in Ungarn, in der DDR und in der Tschechoslowakei erlebt haben. Das, meine Damen und Herren, ist das Resümee eines Systems, das vorgibt, dem Menschen dienen zu wollen, dessen Mittel aber der Unterdrückung des Menschen dienen.
Die Niederschlagung dieses spontanen Aufstandes hatte Rückwirkungen in der Bevölkerung, und diese wirken nach in der Resignation. Man hatte aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl heraus natürlich erwartet, daß wir uns und der gesamte Westen, sich des Schicksals der Menschen in der DDR annehmen würden. Man hatte natürlich nicht bedacht, daß das Krieg bedeutet hätte. Das führte zunächst zur Enttäuschung und dann nach einigem Nachdenken zur Ernüchterung bei der Einschätzung der wirklichen Situation. Wer sich in den Klauen eines totalen Regimes befindet, lebt unter anderen Bedingungen als Menschen, deren Lebensstil Demokratie und Freiheit sind,
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und er muß sich mit dieser seiner Situation auseinandersetzen.
Heute, meine Damen und Herren, dürfen wir feststellen - wir müssen dies sogar feststellen, wenn wir uns keinen Trugschlüssen hingeben wollen -, daß es eine Wiederholung des 17. Juni 1953 in der damaligen Form nicht geben wird. Die Methoden sind verfeinert; sie sind raffinierter und nicht un-bewährt. Bei der Anwendung der Methoden arbeitet man zwar ohne sichtbar eingesetzte Gewalt. Sie basieren aber nach wir vor nicht darauf, daß man sich des freien Willens der Unterdrückten versichern will, sondern nur darauf, daß die Gewalt verdeckt ist, obwohl sie immer vorhanden bleibt. Meine Damen und Herren, dessen sind sich die Menschen drüben bewußt.
Ferner ist nicht abzuleugnen - auch das müssen wir in Rechnung setzen --, daß unzweifelhaft ein ökonomischer Erfolg gegenüber der Zeit von 1953 eingetreten ist. Das hat zur Folge, daß die Menschen, welche diesen Erfolg unter wesentlich schwereren Bedingungen als wir und trotz aller ihnen auferlegten Hemmnisse errungen haben, einen gewissen berechtigten Stolz auf diese ihre Leistung zur Schau tragen. Wir sollten sehr wohl bedenken, daß so manche unserer Äußerungen dort drüben als überheblich angesehen wird und von unserer Seite aus keinen guten Beitrag zu dem Werk des - zunächst - gegenseitigen Verständnisses der beiden Teile Deutschlands darstellt.
Meine Damen und Herren, schließlich ist noch der Faktor der Gewöhnung zu nennen. Er ist nicht gering zu veranschlagen. 25 Jahre gehen an einem Volk nicht ohne Spuren vorüber. Die nachwachsende Jugend hat keine Vergleichsmöglichkeiten. Sie tritt unter anderen Voraussetzungen in das politische Leben ein, als wir sie hier erlebt haben. Ich glaube, dieses Beispiel wird auch uns selbst oft genug vor Augen geführt. Über die Erfahrungen, die wir in zwei Weltkriegen, in einem Weltkrieg oder in der Zeit nach dem Weltkrieg gesammelt haben, verfügt unsere Jugend nicht. Dasselbe ist drüben festzustellen. Diesen Faktor müssen wir ständig im Auge haben, wenn wir uns des richtigen Mittels bedienen wollen, um glaubwürdige Einwirkungsmöglichkeiten ohne List und Hinterlist auf den anderen Teil Deutschlands zu finden. Man kann eben nicht 25 Jahre in einer inneren Emigration
leben. Man kann nicht lebenslang ohne Hoffnungsschimmer im Gegensatz zu einem nicht erwünschten System, dessen Wirkung man täglich ablehnt, leben. Man muß sich irgendwie arrangieren, besonders dann, wenn man weiß, daß wirkliche Hilfe, wenn sie in der Art gegeben werden sollte, wie man drüben vielleicht hoffte, kriegerische Verwicklungen nicht ausschließen könnte. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Menschen ihren Frieden mit dem System gemacht haben. Aber das Denken ist nicht mehr nur ein Schwarzweißdenken; es ist differenziert und nuanciert. Wir würden uns täuschen, wenn wir glaubten, daß alles das, was 1953 Selbstverständlichkeit war, heute noch vorausgesetzt werden könnte. Ebenso ist in der Stadt, aus der ich komme, in Berlin, heute ein anderes Denken festzustellen als zur Zeit der äußeren Bedrückung, zur Zeit der Blockade. Die Gefahr ist die gleiche geblieben. Die Mittel, deren sich die andere Seite bedient, haben sich geändert und infolgedessen auch die Bewußtseinlage.
Ein Letztes. Unsere Propaganda, die wir nach drüben leiten, ist nicht immer zweckentsprechend. Sie ist nicht immer überzeugend. Sie ist auch deswegen nicht überzeugend, weil sie die berechtigte Kritik, die an den Zuständen bei uns geübt werden kann und muß, unterdrückt und sich scheut, bestehende Fehler zuzugeben. Wir haben unbestritten den besseren Lebensstandard. Wir haben einen freiheitlichen Lebensstil. Wer aber glaubt, die Überlegenheit unseres Systems allein auf die ökonomische Überlegenheit des Lebensstandards gründen zu können, verkennt die Vielfalt des Lebens und die geistigen Elemente, die diesem Leben zugeordnet sind.
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Meine Damen und Herren, was ist nun objektiv geblieben, und was ist die Ausgangsposition, die wir stets im Auge behalten müssen, wenn wir die notwendige Auseinandersetzung mit dem System drüben und dabei meine ich mit „drüben" nicht nur die DDR -, mit dem totalen kommunistischen System suchen, weil wir sie suchen müssen? Es ist geblieben die eingeschränkte Freiheit, es ist geblieben für die DDR die menschliche Belastung durch die zerrissenen Bande der Familie und der Freundschaft, es ist geblieben die Unvereinbarkeit der Systeme, die Unvereinbarkeit politisch, ökonomisch und gesellschaftlich. Es ist bei uns geblieben - und das ist der erfreuliche Ansatz, der hoffentlich einmal jene schädlichen und unnützen Polemiken um der Polemik willen beendet - die gemeinsame Zielsetzung, über eine Milderung der Spaltung zu deren Überwindung zu gelangen.
Der Grund, der die Regierung und die Regierungsparteien veranlaßt, die mühselige gefährliche Arbeit zu verrichten, nach 20 Jahren den Versuch eines anderen Weges zu machen, nachdem der - sicherlich individuell redlich gemeinte - frühere Weg nicht zum Erfolg geführt hat, ist zunächst ein menschlicher, individueller, denn dieses menschliche Leid zu beenden ist die Aufgabe eines jeden, der sich über die Ökonomie hinaus den menschlichen Dingen zuwendet. Er ist aber auch ein nationaler, und wir scheuen uns nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Nur Heloten nehmen eine Spaltung ihres Landes widerspruchslos in Kauf.
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Der Weg ist aber auch - und das unterscheidet unsere jetzige Position von der Position des deutschen Bismarckschen Reiches und auch des Reiches von Weimar - international begründet. Erstmalig in der Geschichte sind unsere nationalen Interessen gleichlaufend mit den internationalen Interessen des Friedens, der Verständigung, der Aussöhnung, weil die Welt unteilbar geworden ist und weil unsere Position imperialistische -
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- Unteilbar geworden ist, Herr Kollege Dr. Kiesinger! Sie ist sicherlich noch geteilt, und trotzdem ist sie unteilbar, oder sie geht zugrunde.
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- Gut, aber ich glaube, Herr Kollege Marx, daß Sie ohne Erkenntnis der wirklichen grundlegenden Zusammenhänge sicherlich nicht immer den richtigen Kompaß haben; wenn man sich nur von Tagesereignissen bestimmen läßt, wohl nicht.
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- Ich freue mich, Sie so verstehen zu dürfen. Diese Qual tragen wir gemeinsam.
Deutschland hat eine besondere Verantwortung. Es liegt geographisch inmitten desjenigen Erdteiles, der noch immer eine entscheidende Rolle in den Geschicken der Welt spielt. Gerade die Bundesrepublik, aber auch die DDR, trägt wegen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine weitere zusätzliche Verantwortung. Sie haben, beide zusammen und jeder für sich, die Schlüsselstellung für Europa, so wie Berlin die Schlüsselstellung für Deutschland hat. Deswegen gibt es sicherlich keinen Zweifel im ganzen Haus: Wer Berlin aufgibt oder aufgeben will, versündigt sich an Deutschland, und wer Deutschland und seine Zukunft aufgeben will, versündigt sich an Europa.
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Das, meine Damen und Herren, ist das, was uns verbindet.
Nun zu den Methoden! Ich habe sehr aufmerksam heute die Einlassungen unseres Kollegen Marx gehört. Sie waren nicht ermutigend. Das kann ein persönlicher Eindruck sein. Ich vergleiche mit diesen Ausführungen ein Papier mit neun Thesen, das gestern bei der Präsidiumssitzung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland von unserem Kollegen Dr. Gradl überreicht worden ist. Ich habe diese Thesen
mehrmals gelesen. Ich würde Ihnen, meine Kollegen von der CDU/CSU, empfehlen, sich diese Thesen einmal anzusehen. In ihnen ist so vieles an Gemeinsamkeiten enthalten sicherlich auch noch an Zweifelsfragen -, daß auf einer solchen Basis sehr wohl jene notwendige - da folge ich Ihnen sehr -- und erstrebenswerte größtmögliche Breite in der Vertretung unserer deutschen Interessen gegenüber den östlichen totalitären Systemen zu finden ist.
Jene Feststellung, die Sie zitiert haben - auch der Herr Bundeskanzler hat sie zitiert, Herr Kollege Wienand hat sie zitiert - aus der Rede des früheren Bundeskanzlers Dr. Kiesinger, jene Feststellung, daß die Zeit nicht für uns arbeitet - und wenn sie nicht für uns arbeitet, muß sie natürlich gegen uns arbeiten -, wird auch von uns geteilt. Sie ist ein Motiv gewesen, endlich daraus die nach unserer Meinung richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir werden Gelegenheit haben, Herr Kollege Marx - wir kennen uns ja nicht erst seit heute -, Ihre Rede sehr aufmerksam zu lesen. Aber mein erster Eindruck ist nicht so ermutigend wie der Eindruck, den mir die Lektüre des Papiers von Herrn Di. Gradl gegeben hat.
Wir sind nach 20 Jahren - wenn ich nun sagte: Mißerfolg, würden Sie das als eine Wertung ansehen -, wir sind nach 20 Jahren Mühen, welche ohne Erfolg geblieben sind, sehr realistisch geworden. Wir haben den Mut gehabt, auf vier Ebenen gleichzeitig anzupacken, und wir hörten heute aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers, daß eine fünfte Ebene - die der Gespräche mit der Tschechoslowakei - in Aussicht genommen ist. Wir gehen also das Problem in der Gesamtheit an. Es ist mühselig. Wir suchen noch nicht - so weit sind wir noch nicht - nach der Möglichkeit eines Do ut des, sondern wir suchen zunächst einmal, insonderheit in unserer Unterhaltung mit den Machthabern in der DDR, alle jene Punkte, in denen im deutschen, im internationalen Interesse wenigstens noch ein Funke von Gemeinsamkeit festzustellen sein sollte, wenn auch nur in Dingen wie Verkehr, Kultur oder sonst etwas.
Wir haben uns daran erinnert, daß es einmal eine Zeit gab, in welcher die Sowjetunion ständig erklärte, Deutsche müßten sich an einen Tisch setzen, und sie müßten und sollten miteinander reden, weil das die einzige Möglichkeit sei, zur Lösung der deutschen Probleme zu kommen. Wir werden die Sowjetunion daran erinnern, auch wenn ihre Interessenlage heute eine andere ist. Sie möge uns dazu helfen durch Einwirkung auf die DDR, daß diese ihren erkennbaren Widerstand - ihre Gründe brauchen hier nicht untersucht zu werden - endlich aufgibt und auf das offene, ehrliche Gespräch eingeht, das wir ihr angeboten haben. Wenn die Sowjetunion das tut, so dient sie zunächst ihren eigenen Interessen, wenigstens so, wie sie sie in ihrer Propaganda darstellt. Sie dient aber auch dem Frieden und damit Europa.
Nun, meine Damen und Herren, wir wären versucht, heute über viele Einzelheiten zu reden. Es ist nicht die erste, es wird nicht die letzte Unterhaltung, die letzte Debatte sein, die wir über die deutschen Schicksalsfragen miteinander zu führen haben. Aber wir sollten zum Schluß feststellen, welche Lehren wir Freie Demokraten aus dem 17. Juni 1953 ziehen und - ich möchte noch etwas einschieben - welche Lehren wir glauben ziehen zu müssen aus dem wenig ermutigenden Stil des Wahlkampfes, den hier fortzusetzen wir uns scheuen sollten, weil das der sicherste Weg wäre, nicht zueinander-, sondern auseinanderzukommen.
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Herr Kollege Marx hat einige Beispiele angeführt, die ihn verletzt haben, die ihm Schwierigkeiten bereiten. Gestatten Sie mir, nur eines zu sagen. Wir glauben nicht, daß es dem Verständnis der Fraktionen untereinander dienlich ist, wenn vor 14 Tagen in Niedersachsen in einer Tagung der Landespolitiker der CDU meine Partei, die Freien Demokraten, als „Krebsgeschwür der deutschen Demokratie" bezeichnet worden ist.
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Meine Damen und Herren, solche Töne sollte man unterlassen. Ich glaube, ich brauche nichts weiter hinzuzusetzen; das wird wohl die Billigung keines der Kollegen, die in diesem Saale sind, finden. Wir werden uns bemühen, solche Töne herauszuhalten.
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- Auf das mit dem Krieg habe ich Ihnen geantwortet. Lesen Sie es bitte nach. Ich glaube, meine Antwort ist klar. Lesen Sie die FDK!
Unsere Lehren aus dem 17. Juni! Wir können es uns, da die Zeit gegen uns arbeitet, nicht mehr leisten, abseits zu stehen. Wir müssen uns in den weltweiten Kampf um Ausgleich und Frieden einreihen, und haben uns darin eingereiht. Dazu gibt es nur eine Alternative: die gegenseitige Vernichtung. Der Schwerpunkt unserer Bemühungen ist, auch wenn wir jetzt auf vier, später auf fünf Ebenen verhandeln, unsere eigene, unsere deutsche Nation. Wir haben glücklicherweise festzustellen - ich sagte es bereits -, daß wir uns im Gleichlauf befinden mit den europäischen Interessen, die auf Frieden gerichtet sind, ebenfalls weil es eine andere Alternative nicht gibt.
Der heutige 17. Juni sollte uns und wird uns Freien Demokraten ein Anlaß sein, diese unsere nationale, unsere menschliche und unsere europäische Pflicht noch zielbewußter zu verfolgen als bisher.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gestatten Sie mir, daß ich, bevor ich zu dem Thema der heutigen Aussprache komme, ein Wort zu dem uns allen beglückenden Ereignis sage, daß
der seit Tagen von Entführern festgehaltene Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Ehrenfried von Holleben wieder bei seiner Familie ist.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte der brasilianischen Regierung für die Zusammenarbeit in diesem Fall danken.
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Sie hat Gesichtspunkte der Innenpolitik gegenüber der Sorge um das Leben eines Diplomaten zurückgestellt. Sie hat das Völkerrecht vor das nationale Recht gestellt. Ich glaube, dafür sollten wir der brasilianischen Regierung danken.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich zur Großen Anfrage der Opposition zur Europapolitik der Bundesregierung Stellung nehme, möchte ich, wie das der Bundeskanzler heute morgen auch getan hat, noch einmal auf die Osteuropapolitik eingehen, einmal weil heute der 17. Juni ist, aber auch weil ich die Stellungnahmen der Opposition zu unseren Entspannungsbemühungen, die in den letzten Wochen bekanntgeworden sind, nicht unbeantwortet lassen möchte.
In der innenpolitischen Diskussion außenpolitischer Fragen ist eine Zuspitzung entstanden, die vom Wahlkampf her begreiflich, aber in ihren Auswirkungen und in ihrem Ausmaß im Interesse der Sache unnötig, bedauerlich und auch schädlich ist. Ich
) hoffe, daß es gelingt, meine Damen und Herren, zu einer sachlichen Behandlung der Probleme im Parlament und in der Öffentlichkeit zurückzufinden. Die Bundesregierung wird hierzu ihren Beitrag leisten.
Nun hat heute morgen Herr Kollege Marx von sich aus gesagt, daß auch die Opposition den Wunsch nach Gemeinsamkeiten immer zum Ausdruck gebracht habe, daß aber keine Antwort erfolgt sei, daß vor allein die Art der Zusammenarbeit mit der Opposition unbefriedigend geblieben sei. Herr Kollege Marx, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich hier behaupte, daß die Information der Abgeordneten der Opposition, die dafür verantwortlich in ihren Fraktionen arbeiten, sehr dicht ist. Sie werden mir nicht widersprechen, daß die Diskussion in dem dafür zuständigen Ausschuß unter Beteiligung der Opposition außerordentlich umfangreich ist.
({3})
Sie werden mir auch nicht widersprechen, wenn ich behaupte, daß aus dieser Diskussion die Bundesregierung für ihre eigene außenpolitischen Definition Nutzen zieht. Das soll ja wohl der Sinn solcher Zusammenarbeit sein.
Was nicht sein kann, das wäre etwa, daß wir unsere Außenpolitik, die in unserer Regierungserklärung definiert ist, aus Rücksichtnahme auf eine Opposition, die anderer Meinung in der Zielsetzung sein könnte, aufgeben. Das beabsichtigen wir nicht. Wir wollen nicht zurück, sondern wir wollen die Außenpolitik vorwärtsentwickeln, so wie wir das in der Regierungserklärung versprochen haben.
({4})
Auch das werden Sie mir nicht bestreiten, Herr Kollege Marx: daß es einer Regierung schwerfällt, ein noch stärkeres Maß an Zusammenarbeit mit der Opposition zu entwickeln, wenn sie feststellen muß, daß ein großer Teil der Information aus diesem so heiklen Bereich Gegenstand polemischer Wahlkampfäußerungen geworden ist.
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Natürlich gilt das für alle Seiten. Ich habe mich jetzt auf dieses Thema beschränkt und gesagt: Wir sind aber nach wie vor bereit. Ich habe diese Zusammenarbeit immer gesucht, nicht nur im Plenum, sondern auch in den Ausschüssen und in anderen Kreisen. Das bleibt auch so. Ich bin sogar der Meinung: wir müssen unsere Methoden noch etwas verfeinern; das werden wir möglicherweise heute nachmittag noch besprechen.
({6})
- Ich wende mich doch immer an die Kollegen des Hauses.
Ich möchte noch eine allgemeine Bemerkung zu dem machen, was Herr Marx heute morgen hier zu den Wahlen ausführte. Er ist ja, wie ich sagen muß, rhetorisch außergewöhnlich gekonnt vom 17. Juni nahezu ohne Übergang auf die Landtagswahlen zu sprechen gekommen.
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Er hat sich beklagt, daß der Bundeskanzler aus den Landtagswahlen den Schluß gezogen hat, die Regierungspolitik fortzusetzen. Ich habe im Zusammenhang mit den Landtagswahlen vorher und auch nachher gesagt, daß Landtagswahlen keine Testwahlen für die Bundespolitik sind.
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- Warten Sie doch ab! Ich habe aber immer hinzugefügt, daß das Ergebnis von Landtagswahlen ganz ohne Zweifel einen Einfluß auf das Verhalten der Parteien in der Bundespolitik haben wird. Ich kann Ihnen sagen, daß der Einfluß, den das Ergebnis der letzten Landtagswahlen hat, der ist, daß wir das Regierungsprogramm, das wir der deutschen Öffentlichkeit unterbreitet und das zu erfüllen wir zugesagt haben, mit verstärkter Energie erfüllen werden.
({9})
Herr Marx hat in seinen Darlegungen heute morgen eine ganze Anzahl von Unterstellungen gebracht. Dies geschah in Weiterführung einer Praxis, die auch die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik ungewöhnlich erschwert, nämlich der Praxis, der Regierung Ziele und Methoden zu unterstellen, die die Regierung hier zum wiederBorm
holten Male bestritten und korrigiert hat. Aber Sie kommen immer wieder mit denselben Unterstellungen!
({10})
Das eben erschwert die Zusammenarbeit.
Man muß sich auch einmal darüber einigen können, daß das, was man gemeinsam will, in der Tat gemeinsam geschehen kann. Man kann nicht immer aus Gründen parteipolitischer Vorteile die Gemeinsamkeiten, deren Bestehen sich erwiesen hat, wieder in Frage stellen. Das will ich damit sagen. Ich komme gleich mit einigen Beispielen.
({11})
Herr Marx hat gesagt - ich wiederhole das jetzt dem Sinn nach, weil ich das Protokoll noch nicht vorliegen habe -, es sei die CDU, die nicht zulassen werde, daß Verträge abgeschlossen würden, die die endgültige Spaltung Deutschlands zuließen. Damit insinuiert er doch, daß die Regierung das zulassen wollte oder zulassen würde. Das wird die Regierung genauso wenig zulassen wie Sie, meine Damen und Herren!
({12})
Herr Marx hat eben festgestellt, er wolle für die CDU zum Ausdruck bringen, daß ein Frieden, den wir mit der Friedenspolitik erreichen wollen, mehr sei als Schweigen der Waffen. Damit will er doch den Eindruck erwecken, als sei die Regierung anderer Meinung.
({13})
- Herr Marx, hier ist eine der Gemeinsamkeiten. Wir sollten auch einmal anerkennen und feststellen, daß wir hier völlig einer Meinung sind.
({14})
Herr Marx hat ausgeführt, er habe den Verdacht, daß die Bundesregierung, wenn sie mit der UdSSR verhandele, dem Gedanken Vorschub leisten könnte, sie täte das, weil sie sozusagen die UdSSR als Treuhänder anderer osteuropäischer Staaten betrachte.
({15})
- Er hat gesagt, die Methode der Verhandlungen - so war es - läßt diesen Verdacht aufkommen.
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Nach den Gepflogenheiten dieses Hauses, Herr Abgeordneter Dr. Marx, sind Zwischenfragen bei Regierungserklärungen nicht zugelassen.
({0})
Ich will hier nur feststellen - es wird Sie vielleicht beruhigen, Herr Dr. Marx, wenn ich das feststelle -: Die Bundesregierung verhandelt mit der Sowjetunion über Fragen, die die Sowjetunion und die Bundesrepublik angehen.
({0})
- Einen Augenblick! Ich verstehe, Herr Kiep, was Sie sagen.
Aber hier ist -
({1})
Meine Damen und Herren! Ich bitte um Verständnis, wenn ich Ihnen folgendes sage. Es ist eine Regierungserklärung zur Europapolitik angemeldet.
({0})
Der Herr Bundesaußenminister hat gesagt, daß er dieser Erklärung ein paar einleitende Sätze vorausschicken will. Ich gehe davon aus, daß die Geschäftsordnung ({1})
- Herr Dr. Barzel, ich gehe davon aus, daß ich nach der Geschäftsordnung richtig verfahre, wenn ich Zwischenfragen nicht zulasse. Wir haben uns im Präsidium über die Frage unterhalten, ob man die Richtlinien für Zwischenfragen gegebenenfalls ändert. Solange aber die Richtlinien so sind, werde ich danach verfahren.
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Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen. Ich glaube, wir sollten uns doch in diesem Kreise über den Stil der Debatten einig werden können. Eine Regierungserklärung, die abgegeben wird, nachdem die Fraktionen zu dem Problem gesprochen haben, würde ja nun in diesem Kreise wirklich steril wirken, wenn sie nicht die Gedanken aufgriffe, die von den Fraktionen zum Ausdruck gebracht worden sind.
({0})
Soll ich denn hier etwa völlig sterile Weisheiten bringen und nicht zu dem etwas sagen, was an interessantem Stoff schon vorgetragen worden ist? Sie können sich bei mir immer darauf verlassen, daß ich das in einer Form tue, die dann trotzdem noch die Bezeichnung „Regierungserklärung" verdient. Darauf können Sie sich verlassen.
({1})
- Ja, Herr Kollege, ich habe nicht abgelehnt, eine Frage zu beantworten, sondern auch ich habe mich nur der Geschäftsordnung gebeugt. Hier liegt ein Konflikt vor, den wir vielleicht später einmal in irgendeiner Form geschäftsordnungsmäßig diskutieren müssen. Ich habe Verständnis für die Schwierigkeit und werde sie jetzt dadurch zu überwinden versuchen, daß ich meine Erwägungen zu dem, was Herr Marx gesagt hat, sehr kurz halten werden. Es wäre noch eine Anzahl von Bemerkungen dazu zu machen; ich will mir das aufsparen, denn vielleicht wird nachher die Debatte Gelegenheit geben, das noch zu tun.
Ich darf abschließend sagen, daß ich an diesem Tage, an dem ich doch das Gefühl habe, daß auf beiden Seiten Bereitschaft zur Zusammenarbeit besteht, ganz generell darum bitte, daß man auch an das, was der andere will, nicht mit übertriebenem Mißtrauen herangeht, sondern wirklich auch das, was er erklärt, zu akzeptieren sich bereitfindet. Damit will ich das einmal bewenden lassen.
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Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber im klaren, daß aus Gründen, die ich hier nicht näher zu erläutern brauche, der Abschluß von Vereinbarungen politischen Inhalts mit dem Osten schwieriger ist als der Abschluß von Verträgen mit unseren westlichen Partnern.
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Aber das entbidet uns nicht von der Verpflichtung, auf dem schmalen Grat der Möglichkeit nach einer Verständigungsbasis zu suchen und diese auch verbindlich zu definieren.
Wie steht es nun um diese Bemühung? Wir sind zur Zeit im Begriff, eine Definition im Hinblick auf einen möglichen Gewaltverzichtsvertrag mit der Sowjetunion vorzunehmen. Der Gedanke eines Gewaltsverzichts ist nicht neu. Schon frühere Bundesregierungen haben diesen Gedanken aufgegriffen. Was man damals angestrebt hat, war ein - lassen Sie mich das einmal so ausdrücken - abstrakter Gewaltverzicht.
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Die bereits in der UNO-Charta ausgeprochenen Grundsätze der Nichtanwendung und der Nichtandrohung von Gewalt sollten in einem Vertrag wiederholt werden. Ein solcher Gewaltverzicht wäre sicherlich nicht ohne Wert gewesen. Niemand hat das je bestritten. Es haben ja viele Kollegen hier daran mitgearbeitet. Aber die politische Substanz, nämlich das Verhältnis der Länder zueinander zu verändern, hätte ihm gefehlt.
Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, einen qualifizierten Gewaltverzicht zu erreichen. Er geht aus von der Lage, wie sie ist. Er schreibt sie aber nicht fest. Er ist mit anderen Worten die verbindliche Definition eines Modus vivendi. Das bedeutet, beide Seiten gehen davon aus, daß der Gerwaltverzicht einen Friedensvertrag weder vorwegnimmt noch ersetzt. Die Frage, ob wir einen solcherart definierten Modus vivendi mit der Sowjetunion vereinbaren sollen, hat wesentlich damit zu tun, ob wir unsere Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern, allen voran zur Sowjetunion, konstruktiv gestalten wollen, ob wir etwas nachholen wollen, was seit 1955, seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nicht gelungen ist, ob wir eine neue Basis legen wollen für ein in die Zukunft weisendes Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik. Das ist die Frage. Wir halten dieses Ziel und seine Verwirklichung für eine realistische Politik, und diese Einschätzung findet ihre Rechtfertigung in der internationalen Lage, aber auch in Verlauf und Ergebnis unserer bisherigen Sondierungsgespräche in Moskau.
Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich sage, daß die sowjetische Seite zu Beginn der Gespräche mit kategorischer Härte immer wieder das Wort von der Anerkennung ins Spiel gebracht hat. Wir haben demgegenüber klarmachen müssen, aus welchen Gründen wir uns auf diesen Boden nicht stellen können. Die Tatsache, daß die sowjetische Regierung im Laufe der mehr als dreißigstündigen Aussprache Verständnis für die Grenzen unserer Möglichkeiten aufgebracht hat, beweist ihr Interesse an dem Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrages mit uns.
Durch de Veröffentlichung eines angeblichen Vertragstextentwurfs in der Presse ist nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit Unruhe geschaffen, sondern es sind auch unsere Bemühungen um eine Verständigungsbasis mit der Sowjetunion erschwert worden. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.
({5})
- Ich komme dazu. Eine Macht wie die Sowjetunion verhandelt verständlicherweise lieber mit Partnern, die die in solchen schwierigen Verhandlungen notwendige Diskretion zu wahren wissen.
({6})
- Herr Kollege Barzel, wir haben uns schon Mühe gegeben, herauszufinden, wo hier eine undichte Stelle gewesen sein kann. Ich darf sagen, es ist schwer, das genau herauszufinden. Eines kann ich sagen: die Kollegen der Opposition, die von uns informiert worden sind, können es nicht gewesen sein nach der Natur der Dinge. Das will ich einmal ganz offen sagen.
({7}) Aber es ist sehr schwer, das herauszufinden.
Ich will nur sagen, diejenigen aber, die ihre Informationen in Form von Vertragsartikeln veröffentlicht haben, was sie nicht sind, die sollten nicht übersehen, daß sie eine große Verantwortung tragen. Denn es unterliegt ja keinem Zweifel, daß solche Veröffentlichungen, die erstens nicht vollständig sind, zweitens nicht die begleitenden Umstände kennen oder erwähnen können oder wollen, zu einem unvollständigen, falschen, ja, zu einem verzerrten Bild führen müssen, vor allem dann, wenn sie auch
noch in die aufgeheizte Atmosphäre eines Wahlkampfes hineingebracht werden.
({8})
Ich wünsche mir eigentlich - ich will das einmal ganz offen sagen -, daß in einem solchen Fall die Verantwortlichen ein Gespräch führen über das, was sie tun wollen, tun müssen oder tun zu müssen glauben. Das ist ein Problem, über das wir in einer Phase, in der wir genau wie in den frühen fünfziger Jahren schwierige Verträge zu verhandeln, zu Ende zu führen haben, eine gemeinsame Auffassung entwickeln müssen und bei dem wir uns als Parlamentarier, die in der Veranwortung für das ganze Volk stehen, gegenseitig unterstützen müssen.
Im Verlauf der Diskussion im Parlament und in der Öffentlichkeit sind eine Reihe von Einwänden gegenüber dieser Politik vorgebracht worden. Die Bundesregierung hat sie sorgfältig geprüft, auch die Leitsätze, die Herr Bahr in Moskau besprochen hat. Die Bundesregierung ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion auf der Grundlage der Moskauer Sondierungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen.
Herr Marx hat heute morgen eine ganze Anzahl von Fragen zu den Vertragstexten, so wie er sie aus Veröffentlichungen sieht, gestellt. Ich darf ihm sagen, daß diese Fragen, die er heute gestellt hat, in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses behandet werden können, wie wir das auch mit anderen Komplexen getan haben. Die Kollegen werden Verständnis dafür haben, daß ich mich hier noch nicht einmal zu der Richtigkeit der Veröffentlichungen äußern kann, die in irgendwelchen Zeitungen erschienen sind. Ich kann mich nicht dazu äußern, ich will das auch nicht tun.
({9})
- Ich habe mich vor der Presse in genau dem gleichen Sinn geäußert wie jetzt, ganz präzis, Herr Dr. Barzel.
({10})
- Es handelt sich hier nicht um Geheimnistuerei, es handelt sich einfach um eine Verhaltensweise in dem normalen diplomatischen Verkehr bei der Vorbereitung von Verträgen, wie sie in der ganzen tATelt üblich ist.
({11})
Ich will Herrn Marx nur diese Ankündigung machen, weil er die Fragen gestellt hat und weil nicht der Eindruck entstehen soll, wir wollten diese Fragen nicht beantworten.
({12})
- Das kann ich sehr gern sagen, die Regierung hat das immer gesagt: Dies ist kein Vertragsentwurf.
({13})
- Habe ich das jemals gesagt?
({14})
- Meine verehrten Kollegen, es handelt sich - ich will das noch einmal sagen - bei dem, was Herr Bahr in Moskau besprochen hat, um das Ergebnis dreißigstündiger Gespräche über eine Fülle von Fragen, in denen man sich bemüht hat, zu einzelnen Fragen - nicht nur zu dem, was dort in der Zeitung gestanden hat - gemeinsame Auffassungen zu entwickeln, die man zur Grundlage von Vereinbarungen machen könnte. Einige dieser gemeinsamen Auffassungen, allerdings nicht unbedingt in der veröffentlichten Textform, würden Gegenstand und Grundlage eines Gewaltverzichtsvertrages sein können, der aber nur abgeschlossen werden kann, wenn darumherum noch eine ganze Menge anderes entsteht. Genau das ist die augenblickliche Situation, und nichts anderes ist jemals gesagt worden.
({15})
- Aber es ist gar kein Vertragsentwurf, es sind einige Punkte diskutiert worden.
({16})
- Herr Kollege, wenn in einer langen Arbeit in einzelnen Punkten, und zwar in wichtigen Punkten - ({17})
- Es ist kein Vertragsentwurf und kann es ja nicht sein, weil die Entwicklung eines Vertrages sich nur auf einige Punkte der erarbeiteten Formulierung beziehen wird.
({18})
Aber ich will das jetzt nicht vertiefen,
({19})
sondern ich will das in den Ausschuß hineinbringen, was ich soeben angekündigt habe.
({20})
- Herr Kollege Rasner, ich weiß ja, daß Sie den Nebel aufrechterhalten wollen; wenn Sie ihn nicht aufrechterhalten, wer denn sonst? Aber wir wollen schon mit Ihnen diskutieren. Allerdings muß dazu bei Ihnen die Bereitschaft vorhanden sein.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Wer aus dem einen oder anderen Grunde den politischen Auftrag der Stunde versäumt, der muß natürlich auch den Mut haben, die Folgen einer solchen Politik zu verantworten. Die wahrscheinliche Folge,
jetzt nicht zu handeln, wäre, daß die Entwicklung über uns hinweggeht und daß wir in die Isolierung gegenüber West und Ost geraten. Das kann niemand von uns wollen. Wenn ich sage: jetzt handeln, dann meine ich: handeln nach sorgfältiger und solider Überlegung. Das versteht sich von selbst; das dürfen Sie im übrigen bei einer Regierung voraussetzen, die ja nicht etwa ohne die üblichen Sorgfaltspflichten, die Regierungen haben, in diesem Punkte ihr Handeln vorbereitet.
({21})
Wir betreiben keine Alleingänge. Unser Vorgehen ist sorgfältig mit unseren Partnern und unseren Verbündeten abgestimmt. Bei der NATO-Konferenz in Rom im Mai haben unsere Freunde und Partner in der Allianz im Abschlußkommuniqué erklärt, daß sie mit unserer Ostpolitik übereinstimmen. Dort heißt es -- ich will es wörtlich zitieren, damit nicht wieder gesagt wird, das stimme aber nicht -:
Mit Unterstützung und Verständnis ihrer Verbündeten hat die Bundesrepublik Deutschland Gespräche mit der Sowjetunion, Polen und der DDR aufgenommen, um die Lage in Mitteleuropa zu verbessern. Die Bündnispartner erachten dies als ermutigend. Sie geben der Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche zu Ergebnissen führen und nicht durch unannehmbare Forderungen beeinträchtigt werden.
({22})
3) - Unannehmbare Forderungen von allen Seiten. Die Bemühungen um die Lösung offener Probleme und um einen Modus vivendi in Deutschland, der den besonderen Verhältnissen der deutschen Lage Rechnung tragen würde, stellen einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit und zur Zusammenarbeit in Europa dar.
Soweit das Zitat.
({23})
Herr Kollege Marx - wenn ich das hier einschalten darf - hat soeben erklärt, das Verhalten der Sowjetunion zu den Problemen der ausgewogenen beiderseitigen Truppenreduzierungen im Anschluß an die Sitzung der NATO in Rom habe bewiesen, daß die Sowjetunion diese Politik, so wie sie von der NATO definiert worden sei, nicht mitzumachen bereit sei.
({24})
- Kein Entgegenkommen in diesem Punkt gezeigt habe.
({25})
-- So ist es, gut. -- Ich will das so beantworten. Sie
haben gefragt, und Sie haben durch diese Frage,
Herr Kollege Marx, eben den Eindruck erwecken wollen, als sei das nicht so. Meine Antwort lautet folgendermaßen: Sie werden doch nicht erwarten, daß die Sowjetunion nach der Veröffentlichung der NATO sich den schwierigsten Punkt, der im Kommuniqué enthalten ist, herausgreift, um dort Entgegenkommen zu deklarieren, bevor sie den Gesamtkomplex behandelt, der auch in ihrem Interesse gewisse positive Ansatzpunkte zeigt.
({26})
Ich meine jetzt die Konferenz über europäische Sicherheit.
({27})
Aber die Tatsache, daß die Sowjetunion auch bereit ist, über Fragen der Truppenreduktion und damit auch der Rüstungsreduktion zu verhandeln, ist doch dadurch bewiesen, daß sie im Bereich der nuklearen Rüstung mit den Vereinigten Staaten seit Wochen und Monaten Gespräche führt und Verhandlungen eingeleitet hat, die von den Vereinigten Staaten als befriedigend bezeichnet werden, von denen die Vereinigten Staaten sagen, daß Fortschritte allmählich sichtbar werden.
({28})
Ich meine die SALT-Gespräche.
({29})
- Aber das ist der gleiche Komplex, Herr Kollege. -- Man muß die Geduld aufbringen, in diesen schwierigen Fragen einmal die Eröffnung von Verhandlungen abzuwarten, und man muß sie mit Härte und Festigkeit und mit Zähigkeit immer wieder vertreten und fordern.
({30})
Lassen Sie mich zu diesem Komplex, der hier nur angereichert wurde durch die Verwertung der von Herrn Marx vorgetragenen Gesichtspunkte, abschließend folgendes sagen: Es hat bisher keine deutsche Regierung für ihre Ostpolitik eine so klare und einhellige Unterstützung im Westen gefunden. Daß dies so ist, erklärt sich aus der seit Bestehen der Bundesrepublik kontinuierlich verfolgten Europa- und Bündnispolitik, die von dieser Regierung energisch fortgesetzt wird; das ist ja die Kontinuität unserer Politik. Dieser Zusammenhang zwischen Osteuropapolitik und Bündnis- und Europapolitik wird von denen nicht gesehen, die meinen, unsere Ostpolitik gehe zu Lasten unserer Westpolitik. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({31})
Diese Bundesregierung hat in der europäischen Einigung von Anfang an eine vordringliche Aufgabe gesehen und nie Zweifel daran gelassen, daß der Fortschritt auf diesem Wege zugleich eine Voraussetzung für eine aktive Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn ist. Sie hat in ihrer EuropaBundesminister Scheel
politik Erfolge erzielt, die man sich noch vor einem Jahr nicht hätte träumen lassen. Dabei will ich hier einschalten - der intellektuellen Redlichkeit halber ---, daß diese Erfolge nicht nur auf die Aktivität der Bundesregierung zurückzuführen sind, sondern auch darauf, daß bei unseren Partnern Veränderungen vor sich gegangen sind. Wer in diesem Hohen Hause hatte damals zu hoffen gewagt, daß wir uns heute mitten in konkreten Beratungen über den Aufbau einer Wirtschafts- und Währungsunion befinden würden und daß am 30. Juni dieses Jahres, d. h. in zwei Wochen, die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland eröffnet würden. Das ist aber noch nicht alles. Wir haben auch auf dem so wichtigen Gebiet der politischen Zusammenarbeit einen neuen Beginn gesetzt und substantielle Fortschritte gemacht.
Welche sind nun unsere Ziele und welche sind unsere Methoden? Das Ziel ist die Politische Union Europas.
({32})
Die wirtschaftliche Einigung allein - diese Auffassung ist von allen Bundesregierungen bisher kontinuierlich vertreten worden - ist für eine dauerhafte Einigung Europas nicht ausreichend. Sie bedarf der Ergänzung im politischen Bereich, und zwar aus einem doppelten Grund. Einmal ist das Ziel, das wir mit der europäischen Integration anstreben, nicht etwa ein wirtschaftlicher Intressenverband, sondern die politische Einheit Europas. Zum anderen ist es kaum vorstellbar, daß die wirtschaftliche Integration, wenn sie, wie wir hoffen, an Intensität zunimmt, ohne zukunftsweisende und langfristig angelegte politische Entscheidungen der Regierungen auskommt. Aus diesen Gründen duldet der Beginn der politischen Zusammenarbeit keinen Aufschub. Wir dürfen jedoch die Augen auch nicht vor der Wirklichkeit verschließen. Aus den enttäuschenden Erfahrungen der Vergangenheit haben wir lernen müssen, daß wir die Probleme Europas der siebziger Jahre nüchtern und realistisch anfassen müssen, wenn wir die von uns allen gleichermaßen angestrebten Fortschritte im europäischen Einigungswerk erreichen wollen.
In den zurückliegenden Jahren haben wir eine Reihe von Plänen und Projekten erlebt, die an den europäischen Realitäten gescheitert sind. Ich nenne vor allem die Projekte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, der Europäischen Politischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, d. h. des sogenannten Fouchet-Plans. Heute läßt sich wohl objektiv feststellen, daß diese Pläne zu ihrer Zeit sehr ehrgeizig waren. So wünschenswert ihre Verwirklichung auch war: Europa war damals, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, dafür einfach noch nicht reif. Die erforderliche Einstimmigkeit für die Verwirklichung all dieser Pläne war nicht zu haben. Ein Insistieren auf idealen Lösungen war und ist zum Scheitern veurteilt. Jeder dieser Fehlschläge aber war zugleich ein Rückschlag für Europa und kostete einen hohen Preis an verlorener Dynamik, Zuversicht und vor allem Zeit.
Es hat sich also gezeigt, daß man den Erfolg des europäischen Einigungswerks gefährdet, wenn man das Unerreichbare zum Projekt macht. Dessen muß man sich gerade jetzt bewußt sein, in einer Zeit, in der sich die Europapolitik endlich wieder anschickt, sich von den Rückschlägen der letzten fünfziger und der ersten sechziger Jahre zu erholen. Diese Tatsache berücksichtigend, sind wir gemeinsam mit unseren Partnern den Weg des Pragmatismus und des Realismus gegangen, den Weg des Ausgleichs, der zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen, mit dem festen Willen, das Ziel eines geeinten Europas mit Geduld, aber unbeirrbar weiterzuverfolgen, in jedem Augenblick das jeweils Mögliche anzupacken und es energisch vorwärtszutreiben.
Bei den Arbeiten, die gegenwärtig unter den Sechs im Gange sind, handelt es sich darum, zunächst einen wirkungsvollen Mechanismus für qualifizierte Konsultationen zu erarbeiten, die über die gegenseitige Berücksichtigung, Abstimmung und Annäherung der Standpunkte bis zur Formulierung gemeinsamer Auffassungen und schließlich zum gemeinsamen Handeln führen. Diese politische Zusammenarbeit soll entwicklungsfähig sein im Sinne einer sich stufenweise verdichtenden Einigung. Bei dem Verfahren, das wir im Auge haben, wird bewußt darauf verzichtet, die weiteren Etappen heute schon im einzelnen festzulegen. Wir sehen die europäische Einigung als einen dynamischen Entwicklungsprozeß, der ein ständiger Gegenstand des politischen Gesprächs unter den Beteiligten sein muß. Das politische Europa wird damit, um den Außenminister eines benachbarten Landes einmal zu zitieren, zur „création continue, zum Gegenstand einer ständigen schöpferischen Aktion.
Meine Damen und Herren, ich will hier nicht vortragen, was in der Beantwortung der Großen Anfrage schon gesagt ist. Ich will nur noch ein paar Bemerkungen zur Westeuropapolitik machen und sie in folgende Thesen fassen.
Erstens. Was wir in Europa bis jetzt geschaffen haben, ist viel, ist sogar einzigartig. Nirgends sonst. in der Welt gibt es ein solches Ausmaß an Zusammenarbeit und Integration. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird die Gemeinschaftsstaaten noch enger zusammenwachsen lassen. Im gesamten Wirtschaftsbereich werden dann Entscheidungen Sache der Gemeinschaft sein, auch auf Gebieten, auf denen uns allen heute noch die nationale Zuständigkeit als selbstverständlich erscheint.
Zweitens. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion ist kein Ziel für sich. Darüber hinausgreifend müssen wir ein umfassendes Programm des inneren Aufbaus der Gemeinschaft entwickeln und verwirklichen, durch das Europa zu einer vorbildlichen Zone des Fortschritts wird.
Drittens. Europa darf aber nicht nur im Innern, es muß auch nach außen wachsen. Gerade in der heutigen unruhigen und friedlosen Zeit muß es mit einer Stimme sprechen, und dazu bedarf es der Mitwirkung Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen Staaten am Werk der europäischen Einigung.
({33})
Viertens. Die Entwicklung politischer Solidarität
ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiterführung des europäischen Einigungswerkes und dafür, daß Europa in der Welt den ihm zukommenden Platz einnehmen und seiner Verantwortung gerecht werden kann.
Fünftens. Unsere Europapolitik folgt dem Prinzip demokratischer Willensbildung und ist ohne parlamentarische Mitwirkung nicht denkbar. Die institutionelle Stellung des Europäischen Parlaments muß sorgfältig auf den jeweiligen Stand der entwickelten Zusammenarbeit abgestimmt werden. In diesen Rahmen gehören auch allgemeine, direkte Wahlen zum Europäischen Parlament, für welche sich die Bundesregierung wie bisher einsetzen wird.
Sechstens. Europa ist nicht zuletzt eine Herausforderung an die Jugend. Was wir jetzt erarbeiten, soll sie fortführen. Diese Jugend ist vielleicht nüchterner, sie ist jedenfalls kritischer, als wir es gewesen sind. Sie wird Europa nur akzeptieren und seine Einheit vollenden, wenn es mehr wird als ein technokratisches Unternehmen.
({34})
Sie fordert -- und wir mit ihr - eine breit angelegte Demokratisierung, die sich nicht in der Übertragung größerer Befugnisse auf das Europäische Parlament allein erschöpft. Wir müssen deshalb an einem Europa, das über unsere Generationen hinausweist, bauen, an einem Europa, in dem gerade auch die Jugend ihre Hoffnungen und Erwartungen verwirklichen und mit dem sie sich identifizieren
kann.
Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen. Die Europäische Gemeinschaft versteht sich als eine Ordnung in diesem Teil Europas und zugleich als Baustein einer neuen friedlichen und stabilen Ordnung Gesamteuropas. In diesem Sinne sind die nach Osten und Westen gerichteten Bemühungen der Bundesregierung Elemente einer einzigen, in sich geschlossenen deutschen Außenpolitik. Sie strebt ein befriedetes Europa an, in dem auch Deutschland seinen Platz finden wird.
({35})
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU hat gebeten, die für die Beantwortung der Erklärung des Herrn Bundesaußenministers von ihr angemeldete Redezeit von 60 Minuten auf zwei gleiche Beiträge zur Debatte aufteilen zu dürfen. Zunächst spricht der Herr Abgeordnete Dr. Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Debatte von verschiedenen Rednern auf meine eigene Politik in der Zeit der Großen Koalition und insbesondere auf die in der Tat präziseste Formulierung dieser Politik, dieser Deutschland- und Ostpolitik während der Zeit der Großen Koalition in meiner Rede vom 17. Juni 1967 angesprochen worden. Ich bin daher gezwungen, in einer kurzen Intervention darauf einzugehen. In diesen Zitaten wurden Sätze aus jener Rede herausgeholt, die den Irrtum erwecken könnten, als ob die gegenwärtige Politik in der Tat nur eine Fortsetzung dessen sei, was wir damals gemeinsam getragen haben. Lassen Sie mich deswegen, ohne daß ich mich im weiteren dabei aufhalten will, mich selbst zu zitieren, wenigstens zwei Kernsätze aus jener Rede des 17. Juni in die Erinnerung rufen, die deutlich machen, wo die Unterschiede liegen.
Der eine Satz heißt:
Entspannung darf nicht auf eine resignierende Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des Status quo hinauslaufen.
({0})
Wo immer in der Welt bei widerstreitenden Lebensinteressen der betroffenen Völker der Status quo als dauerhafte Befriedung mißverstanden würde, schafft man einen Krankheitsherd, der jeden Augenblick epidemisch werden kann.
({1})
Und weiter:
Ich wiederhole, daß wir uns auf Scheinverhandlungen nicht einlassen werden, die nur der bisher von der freien Welt verweigerten internationalen Anerkennung Ostberlins dienen sollen.
Herr Bundeskanzler, ich wäre der letzte, der gerade an diesem Tag, am 17. Juni, das zarte Pflänzchen, das allenfalls noch vorhanden sein könnte, einer größeren Übereinstimmung in Sachen der Außenpolitik zertreten würde. Aber es geht einfach nicht an - und die Rede des Herrn Außenministers soeben hat es mir wieder ganz deutlich gezeigt -, daß wir aneinander vorbeireden. Aber, Herr Außenminister, wir reden nicht an Ihnen, sondern Sie reden an uns vorbei.
({2})
Ein Satz des Herrn Kollegen Borm heute vormittag hat mich geradezu erschreckt. Da hieß es, die Lage sei nun einmal so, daß man sich „irgendwie arrangieren" müsse. Herr Bundeskanzler, ich hoffe, daß Sie nicht bereit sind, diesen Satz als die Parole Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik zu akzeptieren.
({3})
Irgendwie arrangieren, meine Damen und Herren, mußten und müssen sich leider unsere Landsleute drüben. Wie sollten sie denn sonst leben können? Wir aber sind freie Menschen, freie Deutsche, und als solche verantwortlich für das Schicksal drüben. Wir müssen uns nicht „irgendwie arrangieren", sondern wir haben das Recht und die Pflicht, nach einer gerechten und dauernden Lösung des Friedens in Europa zu suchen,
({4})
die auch die Lösung der deutschen Frage einschließt.
Das war auch der Grundtenor meiner damaligen Rede zum 17. Juni, und ich wünschte, wir stünden noch auf derselben gemeinsamen Grundlage wie damals;
({5})
denn, Herr Bundeskanzler, nicht wir, sondern Sie sind ja von der gemeinsamen Grundlage abgesprungen.
({6})
Ich will nicht weitschweifig sein. Unsere Bevölkerung versteht ja vielfach die juristischen Auseinandersetzungen nicht, die wir leider zu führen gezwungen sind; aber juristische Auseinandersetzungen, Herr Bundeskanzler, sind kein Formelkram. Vor allem werden sie nicht als Formelkram von jener Macht behandelt und behandelt werden, die damit souverän umzugehen versteht, wenn es gilt, juristische Formulierungen in ihrem Sinne in politische Praxis umzusetzen.
({7})
Lassen Sie mich einen Aspekt aufnehmen, in dem ich Ihnen im Prinzip zustimme. Sie haben gesagt, was auch mich als Bundeskanzler umgetrieben hat: Was ist der von uns für den europäischen Frieden zu leistende Beitrag, und zwar unser eigener und, wie Sie sagten, unersetzbarer Beitrag. Jawohl, darum geht es, das ist die Kernfrage der Deutschland- und Ostpolitik, und das ist auch die Kernfrage, zwischen uns.
Welches ist dieser unser eigener, dieser unersetzliche, durch keine andere Nation, durch kein anderes Land zu ersetzende Beitrag, den wir leisten können? Hier fängt es an, zwischen uns wolkig zu werden. Wann immer wir versuchen, Sie zu einer präzisen Aussage zu bringen, weichen Sie in das Abstrakte aus. Wir sagen Ihnen: Wir wollen auch - und wir haben ja damit begonnen, es zu wollen - einen Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. Sie nennen aber ganz offenbar einen Vertrag mit der Sowjetunion einen Gewaltverzichtsvertrag, dessen eigentliche Substanz, dessen eigentlicher Inhalt etwas ganz anderes ist, nämlich, wie wir fürchten müssen, die Annahme aller wesentlichen Bedingungen der Sowjetunion, die wir seit Jahren kennen.
({8})
Sie sagten und das klingt schön : Gewaltverzichtsverträge dürften die Lösung unserer nationalen Frage nicht verbauen. Und Sie fügten hinzu, die Sowjetunion habe andere Vorstellungen als wir. Gut, das wissen wir gemeinsam. Dann aber kommt der gefährliche Satz: Die Sowjetunion kennt auch diesen Teil unserer Geschäftsgrundlage. Herr Bundeskanzler, für jeden Juristen ist klar, was „Geschäftsgrundlage" heißt. Geschäftsgrundlage ist nicht ein einseitiger Vorbehalt eines der beiden Partner eines Vertrages, sondern ist der zwar im Vertragstext nicht enthaltene, aber als Fundament genommene Teil der Verhandlungen, von dem beide Partner übereinstimmend ausgehen.
({9})
Wir haben bei allen Ihren Formulierungen die schwere Sorge, daß Sie genau das tun, was Ihr Außenminister in sehr deutlichen Worten abgelehnt hat: daß Sie bereit sein könnten, Vertragstexte, Entwürfe für Vertragstexte zu akzeptieren, in denen beide Parteien jeweils von ihrer einseitigen Voraussetzung ausgehen. Das aber wäre in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geradezu selbstmörderisch.
Und warum diese verschleiernde Sprache? Soll sie dazu dienen, den übermächtigen Partner, mit dem wir es zu tun haben, bereit zu machen, sich auf . irgendeinen Vertragstext einzulassen? Sie sprechen von den „Realitäten" und übernehmen unbesehen die Forderung der Sowjetunion, daß man diese Realitäten anerkennen soll. Der Herr Außenminister hat soeben gesagt, die Sowjetunion habe darauf bestanden, daß man das Wort „Anerkennung" akzeptiere. Sie selber sagen, daß man die reale Lage „anerkennen" müsse. Nein, Herr Bundeskanzler: Wir haben die reale Lage zwar zu erkennen, sie aber nicht rechtlich und politisch anzuerkennen, sondern, von der realen Lage ausgehend, diese im Interesse des deutschen Volkes zu verbessern.
({10})
Sie mögen mir einwenden: Wie wollen Sie das tun, wie wollen Sie das zustande bringen? Heute früh war hier in einem Beitrag die Rede davon, daß man eben Millimeter um Millimeter vorwärtskommen müsse. Meine Damen und Herren, wir haben viel mehr die Sorge, daß die Sowjetunion es ist, die nicht nur Millimeter um Millimeter, sondern Meter um Meter in solchen Verhandlungen vorwärtskommen würde.
({11})
Ich habe mit großem Interesse das Weißbuch des Herrn Verteidigungsministers gelesen. Darin stehen sehr beherzigenswerte Sätze über die wirkliche Lage Europas. Der Herr Verteidigungsminister hat Belaubt, sich an mir reiben zu müssen, weil ich im Saarland angeblich unverantwortliches Zeug geredet hätte.
({12})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole klipp und klar das, was ich dort gesagt habe: Mein Ziel als Bundeskanzler ist es gewesen, zu wirklichen Verhandlungen mit dem Osten zu kommen, sowohl mit der Sowjetunion als auch mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, als auch mit Polen. Verhandeln aber heißt, sich entgegenkommen, verhandeln heißt, daß nicht der eine Teil vom anderen, wie dies bisher ganz offensichtlich geschieht, verlangt, daß er sich den Bedingungen beugt. Deswegen habe ich gesagt - und ich sage es wieder hart und klar -: Ich wollte verhandeln, aber ich wollte nicht zum Befehlsempfang erscheinen,
({13})
Sie sprachen davon, Herr Bundeskanzler, daß man die Realitäten erkennen und anerkennen müsse, die Bemäntelung der Realitäten dagegen sei kleinlich. Wir fragen uns: Wer bemäntelt die Realitäten? Ich habe bei anderer Gelegenheit in diesem Hause gesagt - und im übrigen stelle ich fest, daß auch der Herr Verteidigungsminister ähnlicher Auffassung ist --, daß die wirkliche Realität in Europa die ist, daß die Sowjetunion erstens festhalten will, was sie
hat, daß sie das, was sie hat, durch unsere Unterschrift und die Zustimmung vieler anderer besiegeln will, daß sie darüber hinaus ihren Einfluß auf Westeuropa bis zur Küste des Atlantik ausdehnen will und dies zu erreichen versucht durch die Schwächung oder gar die Zerstörung des atlantischen Bündnisses, durch die Verdrängung der amerikanischen Truppen vom europäischen Kontinent und durch die Verhinderung der westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Einigung. Ich glaube nicht, daß irgend jemand in diesem Haus, der einen klaren Blick für die Realitäten in Europa hat, diese Zielsetzungen der Sowjetunion leugnen kann.
({14})
Deswegen wiederhole ich, daß es dieselben Zielsetzungen sind, die die Sowjetunion auch bei den Verhandlungen mit Ihrer Regierung in Moskau verfolgt, Herr Bundeskanzler.
Deswegen kann man uns nicht entgegenhalten: Ihr dürft die Stunde nicht verpassen! Was ist das für eine Stunde, die wir verpassen könnten? Sie reden davon, daß sich die westliche Welt anschicke, ihre Beziehungen mit dem Osten zu ordnen, zu normalisieren, oder daß sie diese Beziehungen normalisiert habe. Herr Bundeskanzler, diese westliche Welt ist in einer anderen Situation als wir. Ich wiederhole, was mein Freund von Guttenberg von dieser Stelle aus gesagt hat: Die westliche Welt hat die großen Probleme nicht, die zwischen uns und der Sowjetunion stehen: die deutsche Teilung. Von einer Normalisierung unserer Beziehungen, von
einem Beginn der Normalisierung unserer Beziehungen mit der Sowjetunion kann doch wahrlich erst die Rede sein, wenn es ein Zeichen dafür gibt, daß sie bereit ist, mit uns gemeinsam einen Weg zu bahnen, der eine gerechte Lösung der deutschen Frage herbeiführt.
({15})
Dafür haben wir bis jetzt leider nicht das geringste Anzeichen. Ich fürchte, Sie selber werden nicht mit allzugroßen Hoffnungen in diese Verhandlungen gehen können.
Es ist nun einmal eine Binsenwahrheit, die ich kürzlich mit einem Bismarck-Wort zitiert habe, daß man in der Politik seine Uhren nicht vorstellen könne, um die Zeit herbeizuzaubern, in der Handeln möglich ist. 20 Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben in diesen 20 Jahren immer wieder hören müssen, wir seien nicht weitergekommen. Meine Damen und Herren, es geht gar nicht so sehr darum, daß wir in diesem Augenblick weiterkommen, es geht vielmehr darum, daß wir nicht durch eine falsche Politik weiter zurückfallen.
({16})
In meiner Rede zum 17. Juni habe ich gesagt, eine rein defensive Politik genüge nicht. Ich stehe heute noch zu diesem Satz wie zu jedem Satz in jener Rede.
({17})
Ich war damals glücklich, mich in der Koalition
einig zu wissen, daß dies die Grundlage unserer
gemeinsamen Politik sei. Aber ich verstehe unter
einem nichtdefensiven Verhalten eben auch kein resignierendes Verhalten, keinen Willen zum„ Sichirgendwie-Arrangieren”, wie es heute Herr Kollege Borm ausgedrückt hat.
({18})
Im übrigen, wenn wir geschichtliche Überlegungen anstellen: ich bezweifle ganz einfach, Herr Bundeskanzler, daß man feststellen kann, es sei alles immer schlimmer, immer härter geworden. Meine Grundüberzeugung ist es seit langem, daß dort, wo der sowjetrussische Soldat in Europa haltgemacht hat - und bedenken wir, das ist nicht nur in Osteuropa und nicht nur in Mitteleuropa, sondern in Westeuropa; denn die Wartburg liegt in Westeuropa , von Anfang an nach dem Willen der sowjetrussischen Machthaber auch die neuen Grenzen ihres Imperiums liegen sollten. Das ist eine These, die man natürlich aus allen möglichen Konferenzverhandlungen bestreiten könnte. Aber einem tiefer dringenden Blick in die geschichtliche Wirklichkeit, in die Realitäten, die Krieg und Nachkrieg geschaffen haben, kann sich dieser sowjetrussische imperale Wille, der von Anfang an vorhanden war, nicht entziehen.
Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Schon andere Regierungen mußten Grenzen respektieren, schon andere Regierungen haben erklärt, daß sie keine Gebietsansprüche erhöben. Bitte reden wir doch klar und deutlich miteinander! Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit uns wie früher der Meinung sind, daß der Ausdruck „Grenzen respektieren" eine fundamental andere Bedeutung hat als der Ausdruck „Grenzen anerkennen"?
({19})
Wenn Sie sagen wollen, „Grenzen respektieren" oder „Respektierung der territorialen Integrität", das sei der Gewaltverzicht, das bedeutet nur, daß wir bei der Verfolgung unserer nationalen Ziele auf Gewalt verzichten, - Sie brauchen nur dieses erlösende Wort zu sprechen, Herr Bundeskanzler, und Sie haben dafür die Zustimmung der Opposition in diesem Hause.
({20})
Warum sprechen Sie dieses erlösende Wort nicht? Deswegen, weil Sie glauben, daß man dann in Moskau mimosenhaft zurückzucken wird und nicht mehr bereit sein wird, einen Text zu vereinbaren? Diesen schillernden Text habe ich nicht veröffentlicht, Herr Bundeskanzler, und auch seine Veröffentlichung nicht veranlaßt, --- um es Ihnen bei dieser Gelegenheit deutlich zu sagen. Aber er ist uns inzwischen durch den Sprecher der Bundesregierung als im großen und ganzen richtig bestätigt worden. Das sei kein Entwurf, sagt der Herr Außenminister. Was ist es denn? 40 Stunden lang hat Herr Egon Bahr mit einem der höchsten Verantwortungsträger der Sowjetunion verhandelt. Glauben Sie denn wirklich, daß die Sowjetunion das als ein bloß provisorisches Stückchen Papier ansehen wird? Sie wissen selbst, daß es anders ist. Sie wissen, daß die Sowjetunion auf diesem Text insistiert, wenn es überhaupt zu einer Abmachung kommen soll. Oder ist es nicht so? Wenn es nicht so ist, wenn Sie glauben,
daß die Sowjetunion bereit ist, sich zu einer Änderung dieses Textes in unserem Sinne bereit zu finden, dann allerdings wäre auch das wieder ein erlösendes Wort.
Der Außenminister hat hier die Zustimmung der Verbündeten im Schlußkommuniqué von Rom vorgelesen. Sie können diese Zustimmung Wort für Wort von uns haben, Herr Bundeskanzler. Denn selbstverständlich sind wir für Gespräche mit dem Osten zur Herbeiführung einer Besserung der Lage in Europa. Die Frage ist: Zu welchen konkreten Maßnahmen, zu welcher konkreten Politik haben diese Verbündeten ihre Zustimmung erteilt?
({21})
Was wissen sie im einzelnen von den Verhandlungen, die Herr Egon Bahr in Moskau geführt hat? Haben Sie ihnen das gesagt? Was haben Sie dazu gesagt? Wir haben ia auch Ohren in den Hauptstädten der Welt, und manches spricht sich herum, ohne das man Schnüffelei betreiben muß.
({22})
Es hätte dem Herrn Bundesaußenminister wohl angestanden, wenn er auch Ziffer 4 des Schlußkommuniqués der NATO-Ministerkonferenz vorgelesen hätte; denn sie ist untrennbar verbunden mit jener Ziffer 8, in der die allgemeine Zustimmung zu solchen, auf den Frieden und auf Entspannung zielenden Gesprächen ausgedrückt wird. Dort steht nämlich der lapidare Satz:
Die Minister bekräftigten, daß der Friede, um dauerhaft zu sein, ... auf der Respektierung des Rechts der europäischen Völker beruhen muß, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ohne daß sie von außen mit Intervention, Zwang oder Nötigung bedroht werden.
({23})
Herr Bundeskanzler, Sie wollen die Realitäten - das war Ihr Wort -- nicht nur erkennen, sondern anerkennen; Sie wollen zugleich das Unrecht nicht anerkennen. Erklären Sie mir den Widerspruch in diesen beiden Aussagen!
Die Sowjetunion fordert von uns ohne jeden Zweifel die Anerkennung, jetzt und in Zukunft, der in Europa bestehenden Lage und der bestehenden Grenzen, auch der zwischen uns und der DDR sowie der Oder-Neiße-Linie. Die Sowjetunion vertritt die Breschnew-Doktrin - wie oft müssen wir es sagen? -, eine Doktrin, die die Bevölkerungen des kommunistischen Imperiums dort in ewiger Gefangenschaft hält, die ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines eigenen sowjetischimperialen Völkerrechts einengt.
Wie wollen Sie sich mit dieser Theorie, mit diesem Handlungsprinzip der Sowjetunion auseinandersetzen, das sie ja in der Tschechoslowakei so eindrucksvoll praktiziert hat? Wie wollen Sie Ihr allgemeines Credo zum Selbstbestimmungsrecht gegenüber dieser glasklaren Haltung eines Partners aufrechterhalten, dessen Ziele wir kennen und über dessen Ziele auch Sie sich keine Illusionen machen können und dürfen?
Nun zur angeblichen Schwächung der Verhandlungsposition. Sie haben gesagt, die Regierung sei verpflichtet, das von ihr als notwendig Erkannte ohne Rücksicht auf die schwache Mehrheit hier im Parlament durchzuführen. Vielleicht haben Sie in Gedanken hinzugesetzt: auch ohne Rücksicht auf das Votum, das die Bevölkerung von drei Ländern der Bundesrepublik am vergangenen Sonntag gefällt hat.
({24})
Herr Bundeskanzler, wenn in einer so säkularen Frage wie der Lösung des deutschen Problems und der Anbahnung einer europäischen Friedensordnung von irgendeiner Regierung Erfolge erzielt werden sollen - Sie sind sich doch im klaren darüber, daß das auch in Moskau so gedacht wird , dann kann das nur geschehen, wenn sie diese ihre Politik auf eine breite Zustimmung des deutschen Volkes stützen kann. Herr Wehner hat kürzlich - einige andere Ihrer Parteifreunde haben es auch getan -geglaubt sagen zu können, es gebe zwar in diesem Hause nur eine schwache Mehrheit für Ihre Politik, inzwischen habe sich aber im deutschen Volk eine viel breitere Zustimmung zu dieser Politik gefunden. Herr Bundeskanzler, der vergangene Sonntag hat eindeutig das Gegenteil erwiesen!
({25})
Ich will jetzt nicht sagen, was angesichts der Anschuldigungen notwendig wäre, die auch Sie, Herr Bundeskanzler, gegen uns erhoben haben.
({26})
Was uns politische nationale,
({27})
nicht nationalistische Sorge ist, wird uns diffamierend als „Nationalismus" vorgeworfen.
({28})
Meine Damen und Herren, ich spreche für jeden einzelnen meiner Parteifreunde hier in diesem Hause
({29})
und in unserem ganzen Lande, wenn ich sage: Die CDU/CSU hat sich in diesen vergangenen Jahren und Jahrzehnten, seit der Gründung der Bundesrepublik, von niemandem, aber auch von gar niemandem darin übertreffen lassen, die Verantwortung für den Frieden und die Freiheit in Europa voll und ganz wahrzunehmen. Wir wissen, es gibt für dieses deutsche Volk keine Zukunft, es sei denn, eine europäische. Das war der Inhalt der ersten Rede, die ich Ende 1949 von diesem Platze aus gehalten habe, und ich habe daran kein Wort zu ändern.
Nun zu dem, was von draußen in der Welt -ich meine jetzt nicht das NATO-Schlußkommuniqué, das wir völlig billigen - Ihnen an Zustimmung
entgegenklingen mag: herr Bundeskanzler, Sie selber wissen, daß eine lästige und schwere Frage, die irgendein Volk in die Gemeinschaft der freien Völker einbringt, natürlich oft von den anderen -- und da schlagen wir bitte auch an unsere eingene Brust - beiseite geschoben wird und oft ein skandalon ist, etwas, was man gerne loswerden möchte.
Eine große englische Zeitung hat dieser Tage geschrieben, nun werde Bundeskanzler Brandt daran gehindert, die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges zu besiegeln. So werden Sie draußen vielfach verstanden und ich hoffe: mißverstanden -, Herr Bundeskanzler. Sie gewinnen die Zustimmung manches Leitartiklers, manches Kommentators draußen. Das war in den vergangenen Jahren nicht anders. Lassen Sie mich an eine interessante Begebenheit erinnern. Nach dem Wahlsieg der CDU 1953 hatten wir eine große Debatte in der Beratenden Versammlung des Europarats. Da brach es noch einmal auf: das Mißtrauen, der Verdacht, der Argwohn, die Feindschaft. Alles richtete sich gegen Konrad Adenauer, den Bundeskanzler.
({30})
Er wurde damals als der Vertreter alter, restaura-liver nationalistischer Kräfte angeklagt und angeprangert. Ich hatte die Ehre, darauf zu antworten. -- Das muß man auch einmal vorübergehend aushalten: mißverstanden zu werden.
Uns kommt es auf zwei Dinge an, erstens, daß wir
B) eine Politik treiben, die wirklich im Interesse unseres Volkes liegt, und zweitens darauf, daß wir zeigen, wo die möglichen Lösungen liegen. Entgegen Ihrem Pessimismus sind wir der Meinung, daß die große Lösung in Europa liegt und daß nicht - wie der Herr Außenminister heute wieder gesagt hat und wie auch Sie meinten - im nächsten Jahrzehnt die wirtschaftliche Einigung komme und dann irgendwann einmal in ferner Zukunft die politische. Der Zeiger steht auf fünf Minuten vor zwölf, Herr Bundeskanzler.
({31}) Fünf Minuten vor zwölf, meine Herren!
({32})
Ich hoffe nicht, Sie in wenigen Jahren an diesen Satz erinnern zu müssen.
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Nicht erst spätere Generationen haben die Aufgabe, ein politisches Europa - nicht nur zweimalige Konsultationen der Außenminister im Jahr - zu schaffen. Jetzt müssen wir anfangen, Institutionen einzurichten!
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Sie sagen, das sei nicht möglich. Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, das ist sehr wohl möglich! Man braucht nur bescheiden anzufangen. Man kann sehr wohl
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einen gemeinsamen Rat von hochrangigen Experten der europäischen Staaten zusammenbringen, der in Permanenz tagt und berät und der die Verhandlungen der Außenminister gründlich vorbereitet. Das allein schon wäre ein hoffnungsvoller Schritt.
Wie anders wollen Sie denn die Mahnung des amerikanischen Präsidenten verstehen, der uns erst vor kurzem sagte: Dieser Gemeinsame Markt schafft für Amerika schwere Probleme, und je größer er wird, desto schwerer. Wir sind bereit, sagte er, diesen Preis zu zahlen, aber dann doch mit der Erwartung, daß es den Europäern gelingt, eine politische Union zu begründen. Der amerikanische Präsident hat sicher nicht gehofft, daß uns das in etwa zwanzig Jahren gelinge; er hat sicher wie wir gemeint, daß wir jetzt und hier damit beginnen.
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Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, was es mit den Landtagswahlen auf sich hat.
({0})
Herr Kollege Kiesinger, wollen Sie bestreiten, daß die Parteien, die diese Regierung tragen, mehr Stimmen bekommen haben als Ihre Partei?
({1})
Da können Sie sagen, was Sie wollen, ich habe nichts abzustreichen von dem Satz, daß das, worum diese Regierung sich zumal in der Außenpolitik bemüht, Zustimmung über den Kreis derjenigen hinaus findet, die diese Parteien wählen. Viele Ihrer Wähler werden Ihnen auf dem Weg, vor dem hier heute von Ihnen die Rede ist, in den kommenden Jahren nicht folgen.
({2})
Ich hatte schon bei Herrn Marx den Eindruck, daß wir heute nicht weit kommen würden.
({3})
Denn, meine Damen und Herren, was hat es für einen Sinn, wenn die Opposition sich nach dem Motto jenes Berliners verhält, der sagt: „nicht mal ingnorieren!" Die Opposition nimmt einfach nicht zur Kenntnis, was der Bundeskanzler, was der Bundesaußenminister hier heute vormittag vorgetragen haben.
({4})
Außerdem, verehrter Herr Kiesinger, wie soll man sich mit jemand verständigen, der in bezug auf
den innenpolitischen Partner, den Nachfolger, die demokratische Regierung dieses Landes, suggerieren will, er könne sich zum Befehlsempfänger anderer machen wollen? Ich muß das mit Empörung zurückweisen.
({5})
Damit wir uns hier klar verstehen: es gibt keine Gemeinsamkeit mit denjenigen, die offen oder versteckt Volksverrat und Landesverrat rufen lassen, wo Leute sich um den Frieden und um eine gute Zukunft für Deutschland bemühen.
({6})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ich glaube, Herr Bundeskanzler, daß das, was Sie hier eben geboten haben, eine Entgleisung gegenüber Ihrem Herrn Vorgänger war.
({0})
Wir weisen dies zurück.
({1})
Wir weisen dies zurück, meine Damen und Herren.
({2})
Wir weisen dies zurück, meine Damen und Herren.
Ich kann allerdings verstehen, daß dem Herrn Bundeskanzler der erste Hinweis - und das war ja der seine - auf Landtagswahlen nicht so ganz gut bekommen ist. Herr Bundeskanzler, woher Sie die Kühnheit nehmen, die Stimmen der FDP gleich bei sich dazuzurechnen, das wird die FDP mit Ihnen abmachen.
({3})
Ich möchte Sie doch einladen, Herr Bundeskanzler, das zu tun, was in solchen Fällen wohl alle große Parteien machen, nämlich eine Hochrechnung auf das ganze Bundesgebiet anzustellen. Nach einer Hochrechnung dieser drei Landtagswahlen ergibt sich - ich wollte darüber gar nicht sprechen, aber es ist nun notwendig, Ihnen zu erwidern - eine absolute Majorität der Sitze in diesem Hause für die CDU, CSU.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte dann gern zu dem Vorwurf Stellung nehmen - und das war ja der einzige Versuch zu einem sachlichen Beitrag seitens des Herrn Bundeskanzlers -, wir nähmen nicht zur Kenntnis, was die Regierung durch den
Kanzler und den Bundesaußenminister hier heute sagt. Dazu wollen wir uns dann gleich einlassen, Herr Bundeskanzler. Zunächst erlauben Sie mir, auf zwei Punkte, die Herr Kollege Scheel hier angeführt hat, einzugehen.
Herr Kollege Scheel, wenn Sie das, was, wie Herr Kollege Kiesinger hier eben vorgetragen hat, in vielen mühsamen Stunden der Außenminister der Weltmacht Sowjetunion mit dem persönlichen Bevollmächtigten und Staatssekretär des Bundeskanzlers ausgemacht hat, hier nun wechselweise als vertragsreif, als Notizen oder, wie es heute hieß, nicht einmal als Entwurf bezeichnen, dann wollen wir dies hier festhalten; denn ich glaube, das ist kein seriöser Umgang mit einer Weltmacht, von der Frieden und Schicksal des ganzen deutschen Volkes mit ah-hängen, meine Damen und Herren.
({5})
Und wie können Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich zugleich erklären lassen - und Ihre Herren im Presseamt tun mir langsam wirklich leid, was die so alles erklären müssen und dürfen -, dieser Entwurf sei verfassungskonform, wenn der Außenminister sagt, es gebe nicht einmal einen Entwurf?
Das zweite. Herr Außenminister, Sie haben den Kollegen Marx an einer Stelle sicherlich - sagen wir einmal - falsch verstanden. Ich will es deshalb noch einmal wiederholen, weil es ein Argument ist, das wir in vielen Debatten dieser Regierung nahezubringen versucht haben. Herr Kollege Marx hat versucht, darzutun, daß es ein großer Unterschied ist, ob man die Dinge, die bilateral -- falls überhaupt - mit der DDR, mit Polen, mit der Tschechoslowakei, mit der Sowjetunion zu regeln sind, in diesen bilateralen Verträgen regelt oder ob man solche Punkte - und dies haben Sie ja nicht bestritten -- auch zum Gegenstand eines Vertrages mit der Macht macht, die nach der Breschnew-Doktrin die Hegemonie ausübt. Um es ganz konkret zu sagen: glauben Sie in der Tat, daß der Hinweis auf die Oder-Neiße-Linie in den Vertrag mit der Sowjetunion gehört, oder glauben Sie, daß dies eine Frage ist, die mit Polen zu beprechen ist?
({6})
Das war das, was Marx meinte, und das kann man eigentlich nicht mißverstehen.
Herr Bundeskanzler, ich möchte nun gern zur Kenntnis nehmen, daß sich nicht nur ihre erste, die vorbereitete Einlassung in Ton und Inhalt von ihrer zweiten unterschied,
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sondern unmißverständlich ist, daß der Bundeskanzler doch Pflöcke zurückgesetzt hat.
Ich will auf Ihren Vorsatz, den Sie hier erneut bekundet haben, zur Zusammenarbeit mit allen Kräften des Hauses - und Sie haben das Wort von Konsultationen wohl auch wieder gebraucht - ausdrücklich eingehen. Wir freuen uns, so etwas zu hören, und bleiben natürlich dazu bereit. Sie kön3246 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 17. Juni 1970
nen aber nicht erwarten, daß wir auf Grund eines solchen Wortes nun etwa eine veränderte Situation in den sachlichen Kontroversen hier annehmen können; denn dies ist ein Wort, das wir nun oft aus Ihrem Munde gehört haben und dem sieben Monate lang ganz andere Fakten entgegenstehen.
({8})
Wir wollen sehen, was diesmal aus dem Wort wird, und sind offen, das dann zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend zu handeln.
Herr Bundeskanzler, Sie haben ein paar Grundsätze aufgestellt, die zum Teil unsere Freunde gefunden haben. Ihre verehrte Parlamentarische Staatssekretärin hat heute, wie das Bulletin gerade mitteilt, in New York in einigen Punkten etwas anderes gesagt. Nun ja! Wir freuen uns, daß Sie wieder von der Wiedervereinigung sprechen, von der nicht mehr zu sprechen Sie in amerikanischen Zeitungen vorher erklärt haben. Das alles mag gut sein. Nur: Sie können vielleicht verbal aus jedem Entweder-Oder ein Sowohl-Als-auch machen. Aber wenn es um die Fakten und um die Vertragstexte geht, dan gibt es ein Entweder-Oder,
({9})
und wenn das gilt, was Sie hier heute gesagt haben und was in den sechs Punkten Ihrer Regierungserklärung steht, dann können Sie gleich das Nein zu dem in der Presse veröffentlichten Text des Abkommens mitliefern. Beides zugleich geht nämlich nicht. Das muß hier klar sein.
({10})
Der Bundeskanzler sagt vorher in seiner Erklärung, wir müßten die bestehenden Grenzen zur Kenntnis nehmen. Ich glaube, gegen diesen Satz hat niemand etwas. Nur: was ist die Wirklichkeit? Nach dem unbestrittenen Text, den die Presse veröffentlicht hat, dem Text über einen Vertrag mit der Sowjetunion - einen Generalvertrag, muß man wohl sagen -, sieht sie anders aus. Da ,steht natürlich ganz etwas anderes. Da steht nicht „zur Kenntnis nehmen", da steht auch nicht nur „aufschreiben, daß man es zur Kenntnis nimmt", sondern da steht, daß man sie achte und auch künftig achten werde. Das ist doch eine Verpflichtung,
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die weit über alles das hinausgeht, was den Deutschlandvertrag - ich komme darauf noch zu sprechen - und ähnliches betrifft.
Herr Bundeskanzler, auf einen Punkt Ihrer schriftlichen Erklärung muß ich noch einmal zurückkommen, weil Sie neulich schon einmal hier in einem freien, etwas explosiveren Debattenbeitrag dargetan haben, wo eigentlich der Urgrund eines Stückes Ihrer Politik liegt. Sie sagten nämlich, Sie hätten plötzlich in Berlin dagestanden und der Vorhang sei weggewesen. Damals konnte man ahnen, was Sie wirklich veranlaßt, in diesem Tempo und in dieser Art diese Ostpolitik zu machen. Sie haben das heute noch deutlicher gemacht, und das möchte ich,
Herr Bundeskanzler, doch zurückweisen, weil ich glaube. so sollte man mit Freunden und Alliierten nicht umgehen.
({12})
Sie haben im Zusammenhang mit dem 17. Juni
- dann haben Sie von ähnlichen Erfahrungen am 13. August 1961 gesprochen - gesagt: An unserer Seite standen als Zuschauer die Drei Mächte. Als Zuschauer!
({13})
- Herr Mattick, ganz vorsichtig in dieser Frage, weil es eine ganz wichtige Frage ist!
Zunächst war damals der 'Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt. Hat der damals die Alliierten zu etwas anderem ermuntert? Oder ist es nicht vielmehr so, wie mein Vorgänger Heinrich Krone, wie ich mich erinnere, in der Debatte nach dem Bau der Mauer, nach dieser Grenzziehung durch Berlin, gesagt hat: Ohne diese westlichen Freunde wären die Panzer durchs Brandenburger Tor hindurchgerollt?
({14})
Das sind nicht nur Zuschauer; das sind Menschen, die unsere und Berlins Freiheit sichern, und sie sollte man nicht als „Zuschauer" bezeichnen.
({15})
Ich möchte ein paar andere Ausführungen gleich anschließen. Sie gehörten eigentlich an den Schluß und sollten erst kommen, wenn ich unseren Antrag hier einbringe. Mit dem Blick darauf, daß dieses Haus in 48 Stunden seine Sommerpause beginnt und sich auf den September vertagt - bei einem normalen Ablauf, ohne den Eintritt von besonderen Ereignissen -, möchte ich doch einiges sagen, damit Sie
- ich denke daran an Ihre auf Zusammenarbeit gerichteten Sätze, Herr Bundeskanzler, und Ihre Töne, die vielleicht darauf gerichtet waren, doch eine breitere Mehrheit zu finden; wir haben sie natürlich positiv gehört - sich ungefähr auf das einrichten können, was nach unserer Auffassung zu den verschiedenen Punkten zu sagen ist, die sich während der Ferien, wo ja die Politik weitergeht, entwickeln könnten.
Ich habe hier einen Punkt in die Debatte einzuführen, Herr Bundeskanzler, der vielleicht zunächst spröde klingt; aber es ist um so brisanter in der Wirkung, was ich hier dazu zu sagen habe. Diese Außenpolitik, meine Damen und Herren, hat, wenn ich es richtig sehe, weder hier im Hause noch draußen in der Bevölkerung - so wie sie angelegt ist und geführt wird - eine Mehrheit. Mit der Außenpolitik „sichtbarer Geheimdiplomatie" - Herr Kollege Scheel, da haben wir uns mißverstanden - habe ich nicht die Indiskretionen gemeint, sondern die tägliche Mitteilung, daß man Geheimdiplomatie mache, ohne mitzuteilen, worüber man spricht. Das erweckt natürlich alle möglichen Geschichten. Ich meine das „mit der Stoppuhr in der Hand", während man gleichzeitig bei der westlichen politischen Vereinigung auf die Bremse tritt, wie das eben Herr Kollege Kiesinger ja dargetan hat. Diese
Außenpolitik ohne Gegenleistungen hat hier und im deutschen Volk keine Mehrheit.
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Deshalb möchte ich gerne, daß sich diese Regierung die Peinlichkeit und, ich füge hinzu, uns allen das Risiko erspart, das darin liegen könnte, unter der Überschrift „Gewaltverzichtsvertrag" mit der Sowjetunion etwas auszumachen, was dann hier nicht mehrheitsfähig wäre. Das wäre ein großes Risiko, das diese Regierung einginge.
Deshalb möchte ich heute sagen, damit es rechtzeitig gesagt ist - es wäre nicht fair, es später zu sagen, sowohl dieser Regierung gegenüber wie gegenüber den Gesprächspartnern in Ost und West -, daß wir der Meinung sind, daß der Art. 79 des Grundgesetzes hier in die Betrachtung einzubeziehen ist, der Artikel, der bekanntlich vorsieht, daß man zweier Drittel der Stimmen des Bundestages und des Bundesrates für solche völkerrechtlichen Verträge bedarf, die entweder eine Friedensregelung oder die Vorbereitung einer Friedensregelung zum Gegenstand haben.
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Wir gehen davon aus, daß eine Prüfung der in der Presse verlautbarten Texte bereits zwingt, Art. 79 zu prüfen und mit heranzuziehen; ich bin sehr vorsichtig in dieser Äußerung.
Aber das wird noch erhärtet für den Fall, daß in irgendwelchen Texten etwa wirklich das enthalten sein sollte, was Herr Kollege Apel gestern mit dankenswerter Offenheit in einem Aufsatz, den seine Fraktion veröffentlicht hat, so formuliert hat - er sagt -: „Die Kombattanten wissen vielmehr, daß mit diesen Verhandlungen Abmachungen anvisiert werden, die spätere Regelungen wenigstens teilweise vorformen." Diesen Satz werden unsere westlichen Partner, die Partner des Deutschlandvertrages, und die für Berlin Zuständigen sicher im Hinblick auf die Ziffer 4 der publizierten Texte mit besonderer Aufmerksamkeit studieren. Sie werden dabei sicher merken, daß dieser Hinweis, Herr Apel, beweist, daß diesen Rechten unserer Freunde immer weniger Substanz gelassen wird,
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obwohl diese Rechte weder zur Disposition der deut schen Politik noch zur Disposition des deutschen Gesetzgebers stehen. Das ist eine Frage, der Westmächte; die werden das schon beachten. Für uns bedeutet „spätere Regelungen vorformen" : Friedensregelungen vorbereiten, und das zwingt dann, Herr Apel, nach Ihrer Aussage, zur vollen Konsequenz des Art. 79.
Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich hierzu folgenden Satz sagen, damit man von vornherein weiß, woran man ist: eine Politik, welche inhaltliche Regelungen trifft und nur noch den formellen Vorbehalt späterer, nämlich friedensvertraglicher Bestätigung enthält,
({19})
bedarf einer Zweidrittelmehrheit.
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Wir sagen dies heute so rechtzeitig, damit jedermann weiß, in was er sich einläßt, wenn er in die Verhandlungen geht, und für den Fall, daß es hier zu einem Ratifikationsverfahren kommen sollte, auch weiß, daß wir hier oder im Auswärtigen Ausschuß die Offenlegung aller verfügbaren Dokumente, Texte, Notizen, Protokollaufzeichnungen verlangen werden, die etwa bei dem einen oder anderen Verhandlungspartner den Eindruck erweckt haben könnten, jetzt gehe es um materielle Regelungen, und der Vorbehalt betreffe nur noch spätere formelle Bestätigung.
Meine Damen und Herren, das ist ein spröder Punkt. Aber das ist ein Punkt, der wichtig genug ist, um ihn jetzt zu nennen. Denn wenn man hier anders verführe, bliebe die deutsche Frage in der Substanz nicht offen. Dann würde von den Rechten der Alliierten - das gilt für alle vier - nicht einmal mehr das übrigbleiben, was auf dem Papier steht, und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes würde übergangen. Das, meine Damen und Herren, mußte heute hier gesagt werden.
Ich freue mich, Herr Bundeskanzler, daß Sie und, falls ich es richtig in Erinnerung habe, Herr Wienand und auch die anderen Sprecher nicht noch einmal die polemische Frage nach der Alternative gestellt haben. Herr Kollege Kiesinger hat diese Frage sehr deutlich beantwortet. Nicht wir sind irgendwohin abgesprungen, sondern diese Regierung macht eine andere Politik. Sie macht eine andere Politik,
({21})
als sie der Außenminister der Großen Koalition mit seinem Namen bis zum Wahltag für richtig gehalten und mit formuliert hat.
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Wir legen deshalb diesen Antrag vor, um dessen Abstimmung wir nicht heute bitten. Wir bitten vielmehr um das normale Verfahren, also Überweisung an und Beratung dieses Antrags im Ausschuß, weil wir hoffen, daß sich ihm in diesen Fragen viele Kollegen dort anschließen werden.
Herr Bundeskanzler, ich brauche noch nicht einmal auf Ihre Anzeige zurückzukommen, in der Sie sich nun wirklich wider besseres Wissen selbst Lügen strafen. Wir verteidigen eine Position, die Sie bis zum Wahltag für richtig gehalten und den Wählern gegenüber bezogen haben. Wenn Sie das jetzt als Nationalismus, als Rückschritt und Rechtskurs bezeichnen, sprechen Sie nicht nur wider besseres Wissen, sondern gegen sich selbst, und das ist kein Beitrag, um Ihre Glaubwürdigkeit hier oder sonstwo zu erhöhen.
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Ich möchte gern zum Abschluß völlig klar formulieren, meine Damen und Herren, was mit unserer Zustimmung und was nicht mit unserer Zustimmung rechnen kann.
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- Doch, das bin ich dem Kanzler schuldig, der eine Frage an uns gerichtet hat.
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Meine Damen und Herren, mit unserer Zustimmung kann eine Politik rechnen, welche erstens das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nicht behindert, sondern den Weg zu seiner Verwirklichung geht; zweitens die politische Einigung des freien Europa in dieser Generation erstrebt; drittens das Bündnis pflegt und die unter Verbündeten selbstverständliche Rücksicht nimmt, - ich denke, es ist offenkundig, was hiermit gemeint ist.
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- Das kann ich mir nicht vorstellen, daß den Delegierten von Saarbrücken das nicht ganz klar ist, meine Damen und Herren.
({27})
Viertens ist notwendig, daß v o r allen Unterschriften, nicht vor der Ratifikation, Herr Bundeskanzler - ich beziehe mich auf die Debatte vom 4. Juni -, das freie Berlin gefestigt wird;
({28})
fünftens eine Politik, die Gewaltverzichtsverträge
zustande bringt und unmißverständlich auch angemaßte einseitige Gewaltvorbehalte beseitigt; sechstens ist notwendig, daß man mit Polen Lösungen, nicht aber Formeln findet, und zwar Lösungen, denen beide Völker zustimmen können;
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siebentens mit den Verantwortlichen in Ostberlin im Gespräch bleibt und konkrete Ergebnisse für die Menschen erreicht; achtens Grenzen für Menschen, Informationen und Meinungen durchlässiger macht; neuntens auf Gegenleistungen, Vertragstreue und unzweideutige Abmachungen besteht und zehntens die deutsche Frage in der Substanz offenhält, und zwar nicht nur als einen Bestandteil des Status quo, sondern als ein Bauelement für eine europäische Friedensordnung. Das, Herr Bundeskanzler, ist die Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben.
Wir bedauern, daß Sie heute bei Ihrer zweiten Intervention in dieser Art gesprochen haben, in einer Art, die leider in der Linie Ihrer Unwahrheiten von Bielefeld liegt.
({30})
Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie von dieser Stelle aus noch einmal auffordern, das zurückzunehmen, um das Klima hier im Hause zu verbessern.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will jetzt keine Rede halten, sondern nur wenige Sätze sagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich zu Unrecht verletzt gefühlt. Sie meinten, ich hätte Sie oder diese Regierung beschuldigt, zum Befehlsempfang nach Moskau gehen zu wollen.
({0})
- Herr Kollege Wehner, es mag sein, daß Sie sich wünschen, ich hätte es gesagt, aber ich habe es nun einmal nicht gesagt.
({1})
Ich habe im Saarland gesagt, meine Erfahrungen bei unseren Verhandlungen mit der Sowjetunion, bei dem umfangreichen Austausch von Memoranden und Noten, den wir hatten, seien die gewesen, daß die Sowjetunion als Bedingung für Verhandlungen die absolute Unterwerfung unter ihre Forderungen verlangte. Sie wissen, daß das so war und daß Herr Gromyko sogar unser friedliches Bemühen um das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und um die Überwindung der Grenzen als einen Verstoß gegen den Gewaltverzicht bezeichnet hat. Ich habe gesagt, bei der Prüfung dieser Situation sei ich zu folgendem Ergebnis gekommen: ich sei zwar bereit zu verhandeln, aber nicht bereit, zum Befehlsempfang nach Moskau zu gehen.
({2})
Mir ist die Sache, um die es hier geht, viel zu ernst, als daß ich es irgend jemandem erlauben möchte, uns dessen zu bezichtigen, was leider gelegentlich im anderen Lager geschieht: daß wir nämlich den politischen Gegner zu diffamieren versuchen.
Das einzige, was ich hinzusetzen kann, ist dies: Herr Bundeskanzler, ich spreche Ihnen die Redlichkeit des politischen Wollens nicht ab, aber ich warne Sie: begeben Sie sich nicht in eine Situation, in der Sie sich unversehens wie ein Befehlsempfänger behandelt fühlen müßten.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind dank der Intervention des Herrn Kollegen Kiesinger und dank der Worte von Herrn Dr. Barzel unversehens doch wieder in eine Debatte hineingeraten, die nach meiner Auffassung nach dem gestrigen Gespräch im Kreise des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland" eigentlich zu Ende sein sollte.
({0})
Herr Dr. Kiesinger und Herr Kollege Barzel, bitte erklären Sie mir, was das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag mit den Mehrheiten in diesem Bundestag zu tun hat.
({1})
Bitte erklären Sie mir, womit Sie die Aussage begründen, daß es in diesem Lande eine Mehrheit für Ihre Ostpolitik gab. Wissen Sie nicht auch, daß im Herbst 1973 in unserem Lande Bilanz gemacht wird und darüber entschieden wird, ob diese Koalition eine gute, eine weniger gute oder eine schlechte Politik gemacht hat?
({2})
Wir lassen uns wenigstens von dieser Art von Argumentation, die Ihnen im Bundesrat - das ist ja wohl entscheidend für die Bundespolitik - keine stärkere Position als bisher gebracht hat, nicht beeinflussen.
({3})
Herr Kollege Kiesinger, es fällt schwer, nachdem Sie diesen Stil und diesen Ton in die Debatte gebracht haben, noch an die Gemeinsamheit zu glauben.
({4})
Sie haben das ja eben hier noch einmal zugespitzt und haben gesagt: Na, gut, Landesverräter seid ihr zwar nicht, aber ihr seid so dumm, daß ihr welche werden könntet. Das war zugespitzt ihre Argumentation.
({5})
Und da muß ich Sie fragen: Halten Sie das für anständig? Halten Sie das für würdig? Halten Sie es, Ihrem Ansehen in unserer Nation für angemessen, hier so zu sprechen?
({6})
Und dann sagen Sie noch, wir diffamierten Sie! Herr Kollege Barzel, warten wir doch hinsichtlich Bielefeld einmal ab. Wir haben ja einen Gerichtstermin. Warten war doch einmal ab; seien Sie nicht zu selbstsicher.
({7})
Einige Bemerkungen zur Sache selbst. Herr Kollege Barzel, wir haben doch immer wieder deutlich gemacht, um was es bei dem sogenannten Bahr-Papier geht: ein sehr wichtiges Dokument, das in vielstündiger Arbeit zustande gekommen ist, das Ergebnisse und Gesprächsgrundlagen darstellt und insofern in der Tat politisch bedeutsam ist. Aber die Bundesregierung hat doch immer wieder mit Nachdruck erklärt - nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis; selbst die Sowjetunion hat das deutlich gemacht -, daß auf dieser Grundlage Verhandlungen beginnen werden, so wichtig dieses Papier ist.
Herr Kollege Barzel, Sie sagen, Sie wollten die Grenzen zur Kenntnis nehmen, und werfen uns vor, daß wir in diesem Papier sagen, wir wollten die Grenzen achten und auch künftig achten. Wollen Sie denn die Grenzen künftig nicht achten, Herr Kollege Barzel? Das ist doch die Frage, die ich Ihnen stellen muß.
({8}) Es ist doch so, Herr Kollege Barzel, daß in diesem Papier von Herrn Bahr ausdrücklich festgehalten ist, daß bestehende Verträge davon nicht betroffen sind, daß also juristische Vorbehalte gegeben sind, wenn sie auch - das will ich für meine Person hinzufügen - politisch keine Relevanz haben können, wenn wir vor uns ehrlich sein wollen.
Der Kanzler hat sich in den vergangenen Monaten immer wieder bemüht - und wir sind ihm dafür sehr dankbar -, sich außerhalb der Emotionen und der Polemik zu halten. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen von der Opposition erwarten, wenn wir in ruhigere Fahrwasser hineinkommen wollen, daß Sie sich auch einen anderen Ton angewöhnen, daß Sie intellektuell redlicher argumentieren und daß Sie endlich Fakten und politische Aussagen zur Kenntnis nehmen, damit man nicht immer wieder das sagen muß, was schon zehnmal gesagt worden ist.
({9})
Herr Kollege Barzel, Sie sind ja von Haus aus Jurist. Insofern hat es mich eigentlich sehr gewundert, daß Sie die Bedeutung des Art. 79 des Grundgesetzes unzureichend zur Kenntnis genommen haben; denn dieser Artikel sagt, daß nur dann die Zweidrittelmehrheit sein muß, wenn das, was man an vertraglichen Regelungen anstrebt, die auf dem Wege zu einem Friedensvertrag liegen könnten, dem Grundgesetz widerspricht. Das ist der entscheidende Punkt. Wir haben doch durch unsere Stellungnahmen hier immer wieder deutlich gemacht, und das ist auch im Bahr-Papier deutlich, daß eben nach unserer Überzeugung das, was dort fixiert wird, nicht dem Auftrag des Grundgesetzes widerspricht. Das habe ich auch in dem freundlichst zitierten Artikel von mir, der heute oder morgen in „Publik" erscheint, sehr deutlich gemacht, daß eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR in unserer Politik laut Aussage der Regierungserklärung nicht in Frage kommt.
Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, heute über Europa zu reden, und wir sollten auch zeitlich deutlich machen, daß uns diese Europapolitik sehr am Herzen liegt.
Lassen Sie mich abschließen. Ich erkläre im Namen meiner Fraktion heute am 17. Juni: wir sind uns der Verantwortung für unser Volk bewußt. Wir fordern deswegen die Regierung auf, die sich stets dieser Verantwortung bewußt gezeigt hat, ihre Verhandlungen mit der Sowjetunion, mit Polen und mit anderen osteuropäischen Ländern fortzusetzen. Sie soll die Politik, die unsere Billigung findet, nicht durch diese Debatte beeinträchtigt sehen. Sie wird eines Tages vor diesen Bundestag treten, und dann werden wir zu entscheiden haben, ob etwas dabei herausgekommen ist oder nicht.
({10})
Es ist selbstverständlich, daß die von Herrn Barzel genannten zehn Punkte dabei beachtet werden können.
Lassen Sie uns also, meine Damen und Herren,
in Zukunft sachbezogener argumentieren, und lassen wir die Emotionen draußen, Herr Kiesinger, lassen Sie uns damit aufhören, so wie Sie hart an der Grenze der Beleidigung zu argumentieren, sonst kommen wir mit Sicherheit nicht zu der Gemeinsamkeit, die durchaus im Interesse dieses Landes ist.
({11})
Das Wort hat Herr Bundesminister Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, daß der Kollege Barzel jetzt draußen ist, weil ich mich zunächst zu seinen juristischen Ausführungen äußern wollte. Ich weiß zwar, daß Herr Kollege Barzel seine juristische Ausbildung nicht vollendet hat,
({0}) trotzdem schmerzt es mich immer
({1})
- ja, beruhigen Sie sich erst einmal ein bißchen -, mit welcher Billigkeit von ihm juristische Argumente gebracht werden, die auch nicht dadurch richtiger werden, daß er sie in der glatten Art vorbringt, die ihn uns allen so sympatisch macht.
({2})
Ich erinnere mich daran, daß der Kollege Barzel bei der Diskussion über den Nichtverbreitungsvertrag anfing, Sohm- „Institutionen" zu zitieren. Die hatte er wohl aus dem ersten Semester. Ich habe mich freundschaftlich mit ihm darüber unterunterhalten. Er zitierte dort etwas über „error in objecto" bei Kaufverträgen. Die Klammer, die er in dem Satz weggelassen hat, brachte als ein Beispiel, daß man einen Sklaven kauft, es sich aber in Wirklichkeit um eine Sklavin handelt. Das brachte er als Beispiel für den Fall, daß zwei Partner einen völkerrechtlichen Vertrag unterschiedlich interpretieren. Ich war damals der Meinung, es sei unter dem Niveau, darauf zu antworten, zumal wir das doch eigentlich noch ganz gut auseinanderhalten können.
({3})
Ich sage heute, daß die Berufung auf Art. 79 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht die Spur von Seriosität haben kann. Sie wissen doch, das ist eine Formvorschrift.
({4})
- Herr Lenz und Herr Benda, Sie wissen doch,
({5})
wie diese Vorschrift in das Grundgesetz hineingekommen ist. Sie kam hinein, als man einen Vertrag hatte, von dem man nicht wußte - oder von dem Sie jedenfalls sagten, man wisse nicht genau,
wie Karlsruhe entscheiden werde -: sind darin Verfassungsänderungen enthalten? Man hat gesagt: Für den Fall, daß welche enthalten sind, daß also der Vertrag die Verfassung durchbricht, soll das im Text klargestellt werden.
({6})
- Herr Rasner, im Augenblick nicht.
Art. 79 Abs. 1 ist also überhaupt nicht herauszuziehen für die Frage, wann eine Verfassungsänderung erforderlich ist. Ich warne davor, so manipulativ mit Verfassungsargumenten umzugehen. Im übrigen hat Herbert Wehner Ihnen schon einmal gesagt: Gute Reise nach Karlsruhe! Ich halte es nur für unverantwortlich, in dieser Weise eine Situation heraufzubeschwören - das gilt ja auf längere Zeit auch für Sie -, in der man dieses Land - das ist, glaube ich, eine der großen Gefahren Ihrer Politik, wobei ich weiß, daß es unter Ihnen sehr verschiedene Meinungen und Nuancen gibt; ich mache ein Schwarzweißmalen nicht mit;
({7})
Herr Rasner, es sind nicht alle so schlimm wie Sie, ganz bestimmt nicht -,
({8})
in der man diesen Staat praktisch handlungsunfähig macht, indem man erklärt: Für diese Dinge, die von Ihnen so lange hinausgeschoben worden sind, braucht man eine Zweidrittelmehrheit.
Ich bin der Meinung, da Sie sich auf Wahlen berufen - ich verstehe Ihre Freude; herzlichen Glückwunsch! -, sollten Sie auch die Mehrheit in diesem Hause respektieren. Auch eine knappe Mehrheit hat das zu tun, was sie für das Wohl unseres Landes für erforderlich hält.
Nun wäre ich über diese Juristerei schon unglücklich genug. Ich muß aber sagen, ich bedauere die rabulistische Art, mit der Herr Kollege Barzel auch politische Argumente hier hin- und her- und umgedreht hat.
({9}) Der Herr Bundeskanzler hat gesagt,
({10})
damals hätten die Alliierten dabeigestanden. Da haben wir alle dabeigestanden, auch die CDU. Unter CDU-Kanzlern ist der fortschreitende Prozeß der Teilung Deutschlands hingenommen und respektiert worden. Es blieb uns ja gar nichts anderes übrig. Was macht Herr Barzel daraus? - Er spielt sich auf als die Schutzmacht der Alliierten
({11})
und tut so, als wisse der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin nicht, was wir den Alliierten in Berlin zu verdanken haben. Das ist Rabulistik.
({12})
Damit kann man keine Politik machen. Und wenn wir in diesem Hause dazu kommen, daß wir nicht zur Gemeinsamkeit hinfinden, wird die Überschrift über diesem Kapitel Rainer Barzel heißen.
({13})
Damit komme ich zu der Reaktion, mit der Kollege Barzel heute morgen auf den Versuch des Bundeskanzlers geantwortet hat, die Fronten zu Lokkern. Daß das alles schwierige Probleme sind, daß man verschiedener Meinung sein kann, wissen wir. Was macht Herr Barzel? Er geht hier herauf und sagt dazu, sehr von oben herab: Das wäre zu loben. Dann kommt aber sofort: Na bitte, er zieht ja schon zurück; jetzt muß er auf unsere Position einschwenken. - Stellen Sie sich das als Gemeinsamkeit vor, jeden Versuch, in ein Gespräch zu kommen und gemeinsame Positionen zu behalten, so zu beantworten?! - Sie haben gleich großsprecherisch gesagt: er steckt die Pflöcke zurück. - Wir haben nichts zurückzustecken,
({14})
weil wir ja doch im Ernst nicht zulassen können, daß Sie noch einmal 20 Jahre in der Deutschland-Politik nichts tun.
({15})
Ich ziehe aus den Wahlen eine ganz andere Folgerung. Wir haben uns viel zu lange damit aufgehalten - so fürchte ich, wie der Kollege Barzel, ich rede nur zu ihm, argumentiert hat --, den Versuch zu machen, breitere Mehrheiten zu finden. Sie wollen nicht. Sie hören nicht unsere Argumente. Wenn der Kanzler den Versuch macht, wird er erst gelobt. Dann kommt der Tritt und es wird gesagt: Na ja, jetzt muß er zurück; da ist ja auch nichts hinter. - Da muß sich Ihre Fraktion entscheiden. Wenn Sie das so machen wollen, ist klar, daß es keine Gemeinsamkeit gibt.
({16})
Wir werden dann die Verantwortung, die uns der Wähler und die uns das Amt auferlegt, allein zu tragen haben. Ich bin der Meinung, daß wir das auch mit sehr gutem politischen Gewissen tun können, weil mir, Herr Dr. Kiesinger, nämlich einer der großen Unterschiede in der Art, wie an die ostpolitischen Fragen herangegangen wird, der zu sein scheint, daß die CDU/CSU sich, obgleich man konservativen Parteien eigentlich eine größere Wirklichkeitsbezogenheit nachsagt, rein in Deklamationen und Formeln bewegen. Ich nenne die wunderbarste Formel - Herr Barzel findet sie so schön, daß er sie gleich dreimal gesagt hat -: Die deutsche Frage „muß in der Substanz offen bleiben". Sie glauben doch nicht, Sie könnten, wenn Sie in der Ostpolitik nichts tun, sondern nur Resolutionen auf Parteitagen verabschieden, die Probleme so lösen, daß die Frage „in der Substanz offen bleibt". Sie ist in den letzten 20 Jahren nicht offen geblieben. Die Jugend dieser beiden Teile Deutschlands kennt sich kaum noch. Sie glauben doch nicht, daß Sie den historischen Prozeß, auf den Sie sich sonst immer berufen, hier ignorieren können. Das Problem ist doch dies -
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- Das sage ich Ihnen gleich; das ist sehr einfach, Herr Wörner. Wenn gute Resolutionen beschlossen würden, dann würden wir sie auch gemeinsam beschließen. Aber was Sie machen, ist doch praktisch dies: Sie haben eine Fahne, darauf steht „Menschenrechte", darauf stehen Ihre Wünsche, darauf steht „Selbstbestimmungsrecht". Damit marschieren Sie an der Grenzlinie auf und ab und haben dabei ein gutes Gefühl.
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Wir sind in den Grundsätzen nicht verschiedener Meinung, Herr Benda. Wir sind vielmehr der Meinung, es reicht nicht aus, das eigene Gewissen zu beruhigen, indem man stereotyp Grundsätze wiederholt, ohne seit Jahrzehnten Mittel zu finden, diese Grundsätze zur Anwendung zu bringen.
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Wir sind der Meinung, daß man dann in die Arena heruntersteigen und das „schmutzige" und schwierige Geschäft machen muß, den Leuten wirklich zu mehr Rechten zu verhelfen.
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Daß das immer und immer wieder zitiert wurde, hat keinen Menschen drüben genützt, und das wird auch in Zukunft nicht nützen.
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Ich greife das Wort von der Alternative auf. Ich habe nichts gegen die Grundsätze, die Sie proklamieren, wenn Sie dabei nur sagen würden, wie Sie denn im Gegensatz zu allem, was wir hinter uns haben, praktisch vorwärtskommen wollen.
Ich will wie Sie, Herr Dr. Kiesinger, kein Prophet sein. Ich sage nur eines, es ist meine persönliche Beurteilung: Wenn die Chance, die sich im Augenblick im Rahmen und gewissermaßen auch unter der Decke der amerikanisch-sowjetischen Gespräche abzeichnet, verpaßt wird und wir wieder in die Positionen zurückfallen, die wir als unsere eigenen Prinzipien deklarieren und betonen, ohne irgend etwas in der Welt zu ändern, dann werden wir, Herr Dr. Kiesinger, genau zu dem kommen, was Sie vermeiden wollten, nämlich zu einer defensiven Politik. Ich kann Ihnen voraussagen, daß wir dann nach fünf oder sechs Jahren in der deutschen Politik stehen und sagen werden: Hätten wir damals zugegriffen und das gemacht, was als Regelung möglich war. Das sage ich Ihnen als meine Meinung. Jedenfalls können mich die 20 Jahre, die wir hinter uns haben, nicht überzeugen, daß nichts zu tun und immer nur die hehren Prinzipien zu zitieren irgend etwas besser macht.
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- Ich würde gern ihre Frage beantworten, aber ich verstehe sie nicht.
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Auch dort ist doch das Problem: Wir sind uns einig, es soll Gewaltverzichtsverträge geben, wir wollen zu einer Regelung in Mitteleuropa kommen. Wir wissen, es gilt nach Osten, genauso wie es für Adenauer nach Westen gegolten hat, daß kein deutscher Bundeskanzler nachträglich den zweiten Weltkrieg gewinnen kann. Davon haben wir auszugehen.
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Man kann dann auch nicht sagen: Das meinen wir im Prinzip, und, wenn man dann mit einem harten Gegner zu verhandeln hat - und ich kann nur sagen, es ist in Moskau gut verhandelt worden -, sagen: Ja, aber hier weichen wir von unseren Prinzipien ab. Entweder meint man das ernst - dann muß man sich klar sein, daß die eigenen Prinzipien nicht voll durchzusetzen sind -, oder man sollte ganz glatt sagen: Wir tun lieber gar nichts, weil wir der Meinung sind, uns mit denen einzulassen führt nur dazu, daß die uns zurückdrücken. Diese Klarheit müssen wir auch einmal von Ihnen haben. Sonst haben wir hier viele Stunden lang und mit viel Kraft versucht, Gemeinsamkeiten zu finden, während ich jetzt nach der Intervention von Kollegen Barzel den Eindruck habe, daß Sie gar nicht daran denken, sie zu suchen und uns zu begleiten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rutschke.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Barzel hat vorhin seine Ausführungen damit geschlossen, daß er bestrebt sei, Erleichterungen des Klimas in diesem Bundeshaus zwischen der Opposition und den Koalitionsparteien zu erreichen. Auch ich kann nur, wie es eben schon geschehen ist, die Feststellung treffen, daß er genau das Gegenteil dessen getan hat. Die Polemik, die seit einiger Zeit in verstärktem Maße in dieses Haus eingezogen ist, führt uns doch nicht weiter. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir damit dem Ansehen dieses Bundestages in der Öffentlichkeit keinen Gefallen tun,
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sondern daß wir dem Parlament durch diese unsachliche Polemik schaden.
Die Regierung gibt Antworten auf Fragen, die von der Opposition gestellt werden. Es hört aber von der Opposition offensichtlich niemand zu; denn man kommt drei Minuten später mit denselben Fragen, mit denselben Behauptungen, mit denselben Unterstellungen. Dann ist es natürlich sehr schwierig für die Regierung und die Koalitionsparteien, wieder von vorn anzufangen und sich gegen diese Gebetsmühlen zu wehren.
Herr Barzel leider ist er nicht hier - gefällt
sich dann in rabulistischen Darstellungen, indem er sagt, die CDU/CSU sei einverstanden, die Grenzen zu achten, aber das sei etwas völlig anderes, als wenn der Bundeskanzler sage, daß er die Grenzen achten werde und sie künftig als unverletzlich ansehe. Meinen Sie denn, wenn Sie sagen, daß Sie die Grenzen achten wollen, daß das nur eine Momentaufnahme ist, und wollen Sie gleichzeitig damit sagen, daß Sie in Zukunft nicht bereit sind, diese Aussage weiterhin aufrechtzuerhalten? - Ja, Herr Kiesinger, das ist doch aber die logische Folge daraus. Das ist doch die eine reine Rabulistik, was hier getrieben wird, was Herr Barzel hier tut.
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- Aber verzeihen Sie, die Grenzen achten heißt,
daß ich die Grenzen als bestehend sehe. Oder nicht?
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Und wenn ich sage, daß ich diese Grenzen auch künftig unverletzlich halte, dann bezieht sich das doch auf Gewalt.
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Denn verletzen kann man doch nur durch Gewalt. Also!
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- Dann müssen Sie zuhören, Herr Kiesinger! Nur so ist es aufzufassen: Sie wollen eben in einer Form Unterschiede konstruieren, die letzten Endes in der Sache überhaupt nicht weiterführen.
Ich hatte mir an sich vorgenommen, hier zur Europapolitik zu sprechen. Ich glaube, daß das zweckmäßiger sein wird; denn ich habe das Gefühl, daß das andere sinnlos ist. Man überzeugt niemanden, weil niemand überzeugt werden will. Das ist wirklich schlimm.
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Anlaß für die heutige Debatte sind Vorlagen, die zeigen, daß wir auf dem Weg nach Europa ein entscheidendes Stück vorwärtsgekommen sind. Wir Freien Demokraten sind über diesen Fortschritt besonders befriedigt; denn hier zeigen sich Früchte einer Politik, die wir seit langem betrieben und maßgeblich mitgestaltet haben. Es ist seit jeher unsere Überzeugung, daß die politische Zukunft unseres Landes mitbestimmt wird von dem Fortgang der europäischen Einigungsbewegung.
Diese europäische Bindung bedeutet für uns die feste Verankerung unseres Landes mit dem freiheitlichen und rechtsstaatlichen System des Westens. Nur mit dieser Verankerung sehen wir uns in der Lage, unsere Blicke auch auf jenen anderen Teil Europas zu richten, der nach dem Krieg in einer für
das deutsche Volk besonders schmerzlichen und tragischen Weise von uns getrennt worden ist. Wenn wir uns heute der Hoffnung hingeben, daß es uns gelingen kann, neue Brücken nach Osten zu schlagen, die unser Verhältnis zu Sowjetrußland und den anderen Staaten des östlichen Europas verbessern, wenn wir vielleicht auch einen Hoffnungsschimmer sehen, daß es uns gelingen kann, das Verhältnis zum anderen Teil Deutschlands zu normalisieren - in einem schweren und sicher sehr langwierigen Prozeß, an dessen Beginn wir eben erst stehen -, so war Voraussetzung für dieses Bemühen die Zuversicht, daß gleichzeitig das Ineinanderwachsen im freien Teil Europas und besonders innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fortschreiten werde. Diese Symmetrie in der Entwicklung unserer Beziehungen nach beiden Seiten ist für die FDP ein kardinaler Punkt ihres politischen Konzepts.
Wie war die Lage im Herbst 1969, als wir mit der SPD die Koalition eingingen und diese Regierung bildeten? Die europäische Einigungsbewegung war festgefahren. Der europäische Gedanke schien erstickt in bürokratischem Tauziehen um technische Details, um Marktordnungen, von denen der Normalbürger dieses Landes wenig oder nichts versteht, von einem kleinlichen Feilschen um Zugeständnisse und Vorteile. Der große politische Schwung schien nach der Krise durch den zeitweiligen Auszug Frankreichs aus dem Ministerrat verloren. Es war offen, ob der europäische Gedanke noch eine Zukunft hätte, ob wir jemals aus der Zerstrittenheit herausfinden würden.
Es ist dieser Bundesregierung und ihrer Initiative zu danken, wenn wir heute wieder hoffnungsfroher auf das kommende Europa blicken können.
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Schon fünf Wochen nach dem Regierungswechsel haben Bundeskanzler und Außenminister entscheidend zu einem neuen Durchbruch für den europäischen Gedanken auf der Haager Gipfelkonferenz beigetragen. Es ist ihnen gelungen, Frankreich aus seiner schwankenden Haltung mitzureißen. Daß es nicht bei einem Lippenbekenntnis geblieben ist, haben die Verhandlungen im EWG-Ministerrat während des letzten Winters gezeigt. Es ging darum, die Gemeinschaft zu vervollständigen und zu vertiefen, um den Weg für die Erweiterung freizumachen. Es galt, ein Bündel von Interessen in einen ausgewogenen Kompromiß aufzulösen. Die schwersten Brocken, die dabei aus dem Weg geräumt werden mußten, waren die Beschlußfassungen über die Agrarmarktordnungen für Tabak und Wein, auf die Italien auf Grund eines Ratsbeschlusses vom Mai 1960 einen Anspruch erhob.
Gleichzeitig mußte die endgültige Finanzierungsregelung für den Agrarmarkt im ganzen gefunden werden, auf der Frankreich bestand, bevor über die Erweiterung der Gemeinschaft verhandelt werden konnte. Auch Frankreich konnte sich auf eine Grundsatzregelung in Art. 2 der bekannten Finanzverordnung Nr. 25 berufen, die im Jahre 1962 vom Ministerrat verabschiedet worden war.
Die deutschen Interessen lassen sich einfacher umschreiben und darstellen: Deutschland mußte sicherstellen, daß seine finanziellen Belastungen in Grenzen gehalten und die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Denn dies letztere ist nach unserer Meinung von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinschaft, für ihre politische Selbständigkeit, für ihre Handlungsfähigkeit und für das Eigengewicht, das ihr zunehmend wird zukommen müssen.
Es ging auch diesmal nicht ohne Marathonverhandlungen ab. Unseren Unterhändlern - und ich möchte hier neben dem Bundesaußenminister den Bundeslandwirtschaftsminister, aber auch den Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen nennen - sind wir besonderen Dank schuldig. Sie haben Unermüdlichkeit und Verhandlungsgeschick bewiesen, womit sie entscheidend zu einem ausgewogenen und auch für die Bundesrepublik befriedigenden Ergebnis beigetragen haben.
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Ich glaube, es ist kein Zufall, daß mit den Genannten drei Freie Demokraten in vorderster Linie diese Schlacht für Europa geschlagen haben.
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Besonders hervorheben möchte ich die folgenden Punkte: Erstens. Mit der Übertragung der eigenen Einnahmen wird die Grundlage für eine neue europäische Finanzverfassung geschaffen. Ab 1. Januar 1971 werden die Matrikularbeiträge an die Gemeinschaft mit unbeschränkter Nachschußpflicht abgelöst durch ein ausgewogenes Finanzierungssystem, in dem zugleich die Lasten begrenzt werden. Dieser Gesichtspunkt scheint mir für den deutschen Steuerzahler von besonderem Interesse zu sein. In den früheren Diskussionen war dieser Gedanke nicht oder allenfalls nur in Andeutungen zu finden.
Zweitens. Verbunden hiermit ist es gelungen, den Gedanken einer mehrjährigen Finanzplanung im europäischen Bereich durchzusetzen. Kernstück dieser Regelung ist eine dreijährige Finanzplanung. Dies bedeutet nicht nur mehr Vorausschaubarkeit und mehr Sicherheit für die Entwicklung in Europa. Es gibt auch den Partnerländern und vor allem uns selbst eine Grundlage für unsere eigenen Haushaltsund Finanzplanungen. Das Damoklesschwert der unvorhersehbar und ins Ungemessene wachsenden Nachschußpflichten an europäische Fonds ist beseitigt worden.
Drittens. Mit der Übertragung eigener Einnahmen und der Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments wird endlich auch im europäischen Bereich das originärste parlamentarische Recht, das Budgetrecht, mit einem ersten Schritt eingeführt.
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Ich brauche hier nicht zu unterstreichen, was das bedeutet, denn in der geschichtlichen Entwicklung des Parlamentarismus spielt das Haushaltsrecht eine überragende Rolle. Und ,ich bin sicher, daß das in Zukunft nicht anders sein wird.
In der Interimszeit, also vom 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1974, hat noch der Ministerrat das letzte Wort beim Europäischen Parlament Eine weitergehende Befugnis für das Europäische Parlament wäre wünschenswert. Sie ließ sich aber angesichts des Widerstandes der anderen Mitgliedstaaten noch nicht durchsetzen. Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auffordern, diesem Punkt ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen und bei günstiger Gelegenheit neue Vorstöße zu unternehmen, damit wir in diesem kardinalen Punkt baldmöglichst weitere Fortschritte verzeichnen können.
Viertens. Mit den Marktordnungen für Tabak und Wein ist der Agrarsektor in dieser europäischen Verhandlungsrunde weitgehend bereinigt worden. Besonders bedeutsam waren die Verordnungen auf dem Tabaksektor, denn hier verknüpfen sich Marktordnungsprobleme mit großen Steuerproblemen. Wir haben verhindern können, daß wir uns dem Diktat anderen Verbrauchergeschmacks unterwerfen müssen, und wir haben sichergestellt, daß unsere Handelsbeziehungen zu dritten Ländern nicht gestört werden.
Bei der Verabschiedung der Weinmarktordnung hat es äußerst schwieriger und zäher Verhandlungen von Minister Ertl bedurft, um sowohl die Interessen der deutschen Verbraucher als auch die Interessen der deutschen Weinanbauer zu wahren. Der deutsche Wein hat in der Welt 'seine Qualitätsgeltung, und er wird sie unter den neuen Marktordnungen behalten und sogar noch ausbauen können.
Diesen Teil der Einigungsfortschritte im Bereich der Agrarmarktordnungen, der von diesem Hausse nicht ratifiziert zu werden braucht, muß man kennen, wenn man ,das Gesamtwerk würdigen will, von dem hier ein entscheidender Teil auf dem Tisch liegt.
Meine Damen und Herren, so begrüßenswert diese Fortschritte für den Gemeinsamen Markt der Sechs sind, wesentlich bedeutsamer ist noch, daß damit der Schlüssel für das Tor gefunden ist, durch das weitere Länder Eingang in die Gemeinschaft finden können und sollen. Die Freien Demokraten begrüßen es in ganz besonderer Weise, daß in diesem Sommer endlich ein neuer Anlauf unternommen wird. Wir hoffen sehr, daß nun der Beitritt Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen Länder, Dänemark, Norwegen und Irland, gelingen möge. Wir möchten den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Außenminister insbesondere darum bitten, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, diesen Erfolg herbeizuführen. Wir wissen, daß die Verhandlungen schwierig sein werden. Wir wissen, daß viele technische, im einzelnen äußerst schwierige Probleme gelöst werden .müssen.
Wir wissen 'aber auch, daß es gilt, entscheidende berechtigte 'deutsche Interessen zu wahren, und daß wir uns auch hier wieder mit einer gewissen Geduld wappnen müssen. Die neu eröffnete Chance, die Gemeinschaft auf ein größeres Europa zu erweitern, darf nicht verspielt werden. Dieser Zwang darf uns aber andererseits nicht davon abhalten, unsere berechtigten Interessen nachdrücklich zu vertreten. Wir haben die Zuversicht, daß 'dies bei dem Verhandlungsgeschick, da's unsere Unterhändler bei den Verhandlungen im letzten halben Jahr bewiesen haben, gelingen wird.
Der Vorteil Europas für den europäischen Verbraucher darf nicht durch untragbare Belastungen für den europäischen Steuerzahler erkauft werden. Andererseits wissen wir aber auch, daß die europäische Einigung ihren Preis hat und einen Preis wert ist.
Um eines ganz klar zu sagen: die Erweiterung und Vollendung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist nur vordergründig eine vorwiegend wirtschaftliche Frage. Sie ist ihrem Kern nach eine politische Frage, und zwar eine politische Existenzfrage dieses Kontinents. Die Freien Demokraten begrüßen die Gesetzesvorlage und werden ihr zustimmen. Wir sehen darin eine Ermutigung und Ermunterung. Wir werden fortfahren, auf der Grundlage der fortschreitenden europäischen Einigung zur Entspannung in Europa - und ich meine hier ganz Europa - entscheidend beizutragen. So verstehen wir europäische Politik und deutsche Politik, denn deutsche Politik muß immer Europapolitik sein.
({10})
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat war für 14 Uhr einberufen. Er tritt zusammen, sobald das Plenum zu Ende ist. Wir haben noch neun Redner, mehrere mit verlängerter Redezeit; es wird sich also wohl noch eine Weile hinziehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wrangel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte es begrüßt, wenn wir diese Debatte dazu benutzen könnten, die europäischen Probleme jetzt hier zu vertiefen.
({0})
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, nach der Rede, die Herr Professor Ehmke hier gehalten hat, sind wir gezwungen, diesen Teil der Debatte fortzusetzen; denn dies war eine Rede nach dem Motto „Haltet den Dieb!", es war ein billiger Versuch, so zu tun, als sei die Gemeinsamkeit in diesem Hause von der CDU/CSU aufgekündigt worden.
({1})
Es war ein billiger Versuch, Herr Kollege Wehner, Herrn Barzel als Popanz aufzubauen, obwohl Sie es doch gewesen sind, der die Gemeinsamkeit in diesem Hause mit Ihren letzten Reden aufgekündigt hat.
({2})
Ich muß darüber hinaus feststellen, daß auch heute weder der Herr Bundeskanzler noch der Herr Bundesaußenminister auf die zehn Punkte eingegangen sind, die hier vom Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion nicht zum erstenmal genannt worden sind. Und, Herr Kollege Wehner, wenn Sie sagen, davon verstünde ich nichts, so kann ich nur wiederholen: Sie sind nach Ihren Reden bestimmt nicht mein Lehrmeister, und ich werde mir von Ihnen auch nicht diese Maßstäbe setzen lassen. Sie befinden nicht darüber, wovon ich etwas verstehe und wovon nicht.
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Meine Damen und Herren, nach dem Versuch von Herrn Ehmke, in einer Mischung von professoraler Arroganz und vordergründiger Polemik mit uns herumzurechten,
({4})
kann man nur feststellen: ich habe gerade heute wieder den Eindruck bekommen, als handle diese Regierung nach dein Motto „Maxi-Deklamationen und Mini-Aussagen" von sich zu geben.
({5})
Wir haben heute morgen erlebt, daß der Bundeskanzler wieder einmal von der Kontinuität und von der Gemeinsamkeit und der Notwendigkeit einer Gemeinsamkeit gesprochen hat. Ich glaube doch, daß es gut gewesen wäre, wenn der Bundeskanzler von sich aus gesagt hätte, was er denn nun genau unter dieser Gemeinsamkeit versteht. Er ist auch in seiner kurzen polemischen Intervention die notwendigen klaren Antworten schuldig geblieben. Ich frage mich außerdem gerade nach dieser Rede des Bundeskanzlers und - wenn man so will - auch gerade nach dem, was hier vom Kollegen Marx, von Herrn Dr. Kiesinger, von Herrn Dr. Barzel gesagt worden ist, warum diese Regierung und diese Koalition nicht bereit sind, wenn sie die Gemeinsamkeit wollen, mit uns z. B. eine gemeinsame Resolution zu verabschieden, eine Resolution auf der Grundlage der Politik der letzten zwanzig Jahre. Diese Weigerung muß doch einen Grund haben.
({6})
- Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie es als Pamphlet bezeichnen, dann denke ich z. B. an die Resolution vom 26. September 1968, die ja Ihre Zustimmung gefunden hat. Wenn das heute ein Pamphlet ist, dann fällt es auf Sie selber zurück.
Wir haben heute über den 17. Juni gesprochen, und es wäre vielleicht Anlaß, hier auch einmal zu erwähnen, daß wir als Opposition in diesem Hause eine Kontrollfunktion wahrzunehmen haben, um so mehr, als sich große Teile der Koalition offenbar nur noch als Hilfstruppe der Regierung betrachten.
({7})
lch würde dann sagen, daß auch eine solche kontroverse Diskussion durchaus ein demokratisches Kontrastprogramm zu jener monotonen Hetze ist, wie wir sie drüben erleben.
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Ich brauche Herrn Dr. Kiesinger nicht noch einmal zu interpretieren. Festzuhalten bleibt, daß Dr. Kiesinger die Streitfragen, von denen wir wissen, daß sie im Augenblick leider nicht gelöst werden können, einem Friedensvertrag vorbehalten lassen wollte und will. Sie wollen sich möglicherweise aber schon in eine Verhandlungsphase begeben, in der - jedenfalls nach dem, was wir vom Bahr-Papier wissen - nun eben doch so etwas wie ein Minifriedensvertrag paraphiert wird. Es ist doch die Pflicht der Bundesregierung, den Nachweis zu erbringen - ich will mich hier gar nicht weiter mit der juristischen Auslegung des Art. 79 beschäftigen -, daß das, was wir von den sogenannten Bahr-Papieren wissen, in der Substanz falsch ist. Wenn es richtig ist, befinden wir uns in einer Situation, in der dies alles - ich will mich vorsichtig ausdrücken - involviert sein könnte.
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Ich will jetzt nicht die Märchenstunden wiederholen, die. hier andere über die Politik der Vergangenheit immer wieder inszenieren, vielleicht um sich ein tagespolitisches Alibi zu verschaffen, sondern ich will nur eins sagen. Herr Professor Ehmke hat hier erklärt: Wenn wir die Gelegenheit heute nicht ergreifen, wird vielleicht morgen oder übermorgen oder in fünf Jahren wieder die Rede von verpaßten Chancen sein. -- Meine Damen und Herren, wo sind denn die Chancen? Wo ist es denn gelungen, etwas für die Menschen zu erreichen? Wir bedauern es mit Ihnen, daß es nicht gelungen ist. Aber tun Sie doch nicht so, als würde es Ihnen trotzdem gelingen!
({10})
Das ist doch eine Irreführung der öffentlichen Meinung.
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Wir sind der Meinung, daß gerade in Fragen, die das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes betreffen, es eben auch in verbalen Einlassungen nicht so etwas wie eine Resignation geben darf. Wenn eines Tages die Resignation in diesem Lande triumphiert, sind doch die ersten Zeichen gesetzt, möglicherweise eben auch die Zeichen für eine Begrenzung und Beschränkung der Freiheit in der Bundesrepublik selbst.
Abschließend möchte ich vier Kriterien nennen, von denen ich glaube, daß man sie beachten sollte.
Erstens. Herr Außenminister, was nützt und was schadet diese Politik, in der Sie z. B. - das muß man hier noch einmal deutlich sagen - in diplomatischen Verhandlungen das Selbstbestimmungsrecht verschweigen und hier im Hause postulieren? Was soll diese Politik dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nützen? Durch diese Politik wer3256
den doch Erwartungen geweckt, deren Erfüllung zur Demontage des Selbstbestimmungsrechts führen würde. Erfüllen Sie diese Erwartungen aber nicht, dann leiten Sie sicherlich eine neue Phase des kalten Krieges ein. Eines von beiden ist aber nur möglich.
Zweites Kriterium: was nützt und was schadet eine solche Politik den Menschen? Doch gewiß nicht eine Politik, deren Verhandlungsmethode so angelegt ist, daß die andere Seite mögliche Opfer kennt und genau weiß, daß diese Bundesregierung eben vielleicht doch bereit ist, diese Barrieren anzuerkennen, die das Fundament für eine unmenschliche Politik sind.
Drittes Kriterium: was nützt und was schadet diese Politik dem Status von Berlin? Die Festschreibung von Grenzen, so wie sie in den Bahr-Papieren steht, bedeutet doch in jedem Fall, daß Berlin juristisch und politisch einen Status quo minus erhält.
({12})
Deshalb sagen wir ganz deutlich, man müsse zunächst einmal die Sondierungen der Alliierten abwarten.
Wir fragen viertens: was schadet und was nützt diese Politik der Bundesrepublik Deutschland selbst? Wenn wir uns in dieser Weise in die Defensive begeben, dann muß doch eine Situation eintreten, in der der Bundesrepublik Deutschland im Wettkampf der Systeme das notwendige Instrumentarium genommen wird, um diesen Wettkampf friedlich zu gewinnen.
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Und weiter: die Festschreibung der Grenzen - es wurde schon angedeutet -- bedeutet ja doch, Herr Kollege Mattick, daß möglicherweise bei der ideologisch-aggressiven Struktur der Sowjetunion es möglich sein könnte, daß man versuchen will, die europäische Politik einem sowjetischen Veto auszusetzen. Dies will und wird die CDU/CSU nicht mitmachen.
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Wir vertreten eine Politik des vernünftigen Ausgleichs, und wir sind auch hier bereit zu kooperieren. Wir wollen eine Politik der klaren Bekenntnisse. Wir wollen eine Politik, die der Bundesrepublik Deutschland mindestens Chancengleichheit erhält. Wir wollen eine Politik weiterentwickeln, die in Jahrzehnten zu den gemeinsamen Grundsätzen dieses Hohen Hauses gehört hat. Wir wollen eine Politik der Klarheit. Dies ist doch die Alternative der CDU/CSU. Die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, muß hier die Rückkehr antreten, wenn die Bundesrepublik als Ganzes eine glaubwürdige Politik betreiben will.
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Das Wort hat der Abgeordnete Behrendt. Es sind 40 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte allerdings den Eindruck, daß wir vereinbart hatten, heute überwiegend über die Europapolitik sprechen zu wollen.
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Ich hoffe nicht, sage ich sehr vorsichtig, daß man daraus Rückschlüsse ziehen muß in bezug auf Ihren Willen, die westeuropäische Integration voranzutreiben. Ich hoffe das nicht.
Lassen Sie mich daher zum Thema kommen. Als die Koalitionsfraktionen beantragt hatten, heute am 17. Juni eine Debatte über die Europapolitik zu führen, geschah das nicht ohne Grund. Wir wollten und wir wollen den für uns selbstverständlichen Zusammenhang zwischen der westeuropäischen Integration und den Bemühungen um engere Beziehen zu dem anderen Teil Deutschlands und zu den osteuropäischen Völkern gerade dadurch demonstrieren, daß wir die Europapolitik gerade an dem Tag zur Diskussion stellen, an dem die Einheit der deutschen Nation zum Ausdruck kommt.
Bei der Opposition hatten zur zunächst einige Schwierigkeiten zu überwinden. Später hat sie es dann als ganz glücklich empfunden, daß sie heute Gelegenheit fand, die Debatte über die Große Anfrage zur Außen-, Ost- und Deutschlandpolitik fortzusetzen. Bei der Behandlung der Großen Anfrage hat die Opposition Wert darauf gelegt, daß keine Trennung zwischen den einzelnen Komplexen dieser Anfrage vorgenommen, sondern daß sie alle gemeinsam diskutiert werden. Der bisherige Verlauf der Diskussion allerdings hat deutlich gemacht, daß die CDU/CSU keineswegs die Auffassung der Regierung oder auch der Koalition loben wollte, die Bemühungen um engere Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands und um die westeuropäische Integration in einem engen Zusammenhang zu sehen. Im Gegenteil: die CDU/CSU hat sich bemüht, einen Gegensatz zwischen der Deutschland-und Ostpolitik einerseits und der Europapolitik andererseits zu konstruieren. Wir halten die Konstruktion eines solchen Gegensatzes für falsch.
Eine aktive Politik mit dem Ziel der Verbesserung unseres Verhältnisses sowohl zum anderen Teil Deutschlands als auch zu den osteuropäischen Staaten ist nur möglich, wenn sie eingebettet ist in eine aktive Politik um die Festigung der Europäischen Gemeinschaft. Aber auch umgekehrt gilt: Fortschritte in der friedlichen Entwicklung Westeuropas erfordern eine Politik der Entspannung und des Ausgleichs gegenüber dem Osten.
Das Rezept der heutigen Opposition hat Jahre hindurch darin bestanden, daß es immer nur eine Betonung der Westpolitik gegeben hat, während jahrelang - vieleicht durch die politischen Umstände begünstig oder mitbestimmt - die Politik gegenüber dem Osten vernachlässigt worden ist. Erst in der Amtszeit des Außenministers Dr. Schröder gab es erste Anzeichen einer Änderung. In der Zeit der Großen Koalition ist dann durch das Wirken des damaligen Außenministers und heutigen
Bundeskanzlers Willy Brandt das Klima merklich verbessert worden.
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- Wir setzen - Herr Kiesinger, ich komme gleich noch zu Ihnen - heute die vom damaligen Außenminister begonnene Politik unter seiner Kanzlerschaft konsequent fort.
Dabei ist es nicht so, als hätte die Bundesregierung Mühe, unsere Partnerstaaten von der Richtigkeit dieser Politik zu überzeugen, oder wie dies von Unionspolitikern aus Zweckmäßigkeitsgründen ohne Nennung von Beweisen immer wieder ausgestreut wird -- als gäbe es gegen unsere Ostpolitik Bedenken. Im Gegenteil: lange vor der Bundesrepublik Deutschland haben unsere westeuropäischen Partnerländer von sich aus eine Verbesserung der politischen Beziehungen zu den Ostblockländern angestrebt. Ich muß wohl nicht besonders daran erinnern, daß es der von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, immer sehr kochgeschätzte frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle war, der als erster und am intensivsten um eine solche Verbesserung der Beziehungen bemüht gewesen ist. Mangelnde politische Aktivität auf diesem Felde hätte uns nicht Beifall, sondern Isolierung eingetragen.
Unsere Politik hat zum Ziel, eines Tages alle historisch und kulturell zusammengehörenden europäischen Völker in einer neuen, die nationalen Gegensätze überwindenden Struktur zusammenzuführen. Die Verantwortung für die gemeinsame
3) Zukunft unseres Kontinents muß von allen europäischen Völkern getragen werden, und wir begrüßen es, daß dieser Begriff einer gemeinsamen Verantwortung in der jüngsten Vergangenheit auch von osteuropäischen Staatsmännern verwendet worden ist. Dieses Ziel kann aber nur auf dem gesicherten Grund der fortgesetzten und intensivierten europäischen Integration angestrebt werden. Es ist deshalb auch selbstverständlich, ja fast schon banal, wenn die Bundesregierung in der Antwort auf Frage 7 der CDU/CSU-Fraktion feststellt, der Zusammenhang zwischen Ost- und Westpolitik sei für sie kein Verhandlungsgegenstand und würde auch in Zukunft nicht aufgegeben oder eingeschränkt werden.
Der Bundeskanzler hat am 2. Juni 1970 in seiner Ansprache auf der Kundgebung des Deutschen Groß- und Außenhandels auch noch auf einen anderen Zusammenhang hingewiesen. Wenn wir uns die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zunutze machen wollen, muß es zu einer Kooperation zwischen den wirtschaftlichen Gemeinschaften in Ost und West kommen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit bedingt aber nicht notwendigerweise politische Institutionen. Sie kann jedoch nur zustande kommen, wenn eine entsprechende Atmosphäre herrscht. Wer die Westintegration will, darf die ostpolitische Variante nicht aus den Augen verlieren.
Mit der Vollendung der Zollunion und der Regelung der Agrarfragen ist vertragsgemäß das Ende der Übergangszeit erreicht. Jetzt steht als zentrale
Aufgabe die Erweiterung der Gemeinschaft und ihr innerer Ausbau vor uns. Dieses Ziel kann aber nicht, wie die Opposition vorträgt, durch eine Politik der Maximalforderungen, des Alles oder Nichts erreicht werden. Es kann auch nicht erreicht werden, wenn man sich durch ein verbindliches Aktions- und Zeitprogramm selbst die Hände bindet. Das sollte eigentlich niemand besser wissen als die heutige Opposition, die bis vor kurzem - noch vor einem halben Jahr - Regierungspartei gewesen ist. Wie oft hat man doch über Plänen gebrütet und verbindliche Programme auszuarbeiten versucht. Wie oft ist man dabei gescheitert, und wie lief war die Enttäuschung! Diese Politik hat schließlich in eine lange Phase der Stagnation geführt.
Ich verstehe eigentlich nicht recht, wie sich gerade die CDU/CSU mit anklagender Geste gegen die Bundesregierung wenden kann, nachdem sie selbst als Regierungspartei die enttäuschende Stagnation nicht hat überwinden können.
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Es war ja schließlich diese Bundesregierung, die die Stagnation weitgehend durch ihre Aktivität überwinden konnte. Es war schließlich diese Bundesregierung, deren Politik die Gipfelkonferenz von Den Haag zu einem Erfolg hat werden lassen, wie wir ihn in den 60er Jahren unter der politischen Führung der Unionsparteien vergeblich herbeigewünscht haben. Ich erinnere - wie der Bundesaußenminister - an die Verhandlungen im Fouchet-Ausschuß. Ich erinnere an das gescheiterte Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Man sollte daraus gelernt haben. Wer sich übernimmt, der scheitert, und wer von einem anderen verlangt, er solle sich übernehmen, setzt sich dem Verdacht aus, erneut ein Scheitern heraufbeschwören zu wollen. Nur die reale Einschätzung des Möglichen bringt uns voran. Hieran zeigt sich, wie unbegründet die Unterstellungen sind, die im Zusammenhang mit den Äußerungen des Bundeskanzlers über die der kommenden Generation noch verbleibenden Aufgaben gemacht wurden. Herr Kollege Kiesinger sprach vorhin auch davon. Wir sind uns doch alle bewußt, daß der Weg bis zur Bildung eines europäischen Bundesstaates lang und schwierig ist. Warum wollen Sie die Öffentlichkeit das Gegenteil glauben machen, nachdem Sie, solange Sie Regierungspartei waren und Regierungsverantwortung trugen, in gleicher Weise einen langdauernden Prozeß unterstellt haben?
Es ist eine Binsenwahrheit, daß jeder Fortschritt auf dein Wege zum inneren Ausbau der Gemeinschaft von der Zustimmung aller Mitglieder abhängig ist. Und es ist kein Geheimnis - das wissen Sie doch -, daß wenigstens einige Mitglieder sich dagegen sperren, die politische Zusammenarbeit zu forcieren, solange Großbritannien nicht Mitglied der Gemeinschaft ist. Heute ist mit dem Beitritt Großbritanniens ernsthafter zu rechnen als noch vor einigen Jahren. Gleichzeitig ist die Gefahr geschwunden, daß es statt bei der politischen Einheit bei der politischen Kooperation bleibt. Dabei ist der Weg also vorgezeichnet. Die politische Kooperation wird soweit wie möglich vorgetrieben, und
mit den Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen Länder wird eine Voraussetzung für die spätere Verwirklichung der politischen Union geschaffen.
Etwas merkwürdig berührt uns die Frage der Opposition, ob die Bundesregierung unzweideutig erklären wolle, daß der Beitritt zur EWG die Bejahung des politischen Endzieles voraussetze; denn alle beitrittswilligen Länder bejahen dieses Endziel. Es ergibt sich aus dem Vertrag und wird von ihnen auch gar nicht anders verstanden. Alle anderen Länder aber, die an einer Verbindung zur EWG interessiert sind, entscheiden selbst in eigener Zuständigkeit, welche Form der Zusammenarbeit für sie gegeben ist. Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erkläre ich hier, daß für sie der Grundsatz gilt: Die EWG darf ihres politischen Charakters nicht entkleidet werden.
Lassen Sie mich nun zu einigen aktuellen Problemen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Stellung nehmen, die deren inneren Ausbau betreffen, und jene Voraussetzungen aufzeigen, die die sozialdemokratische Bundestagsfraktion für ein weiteres gutes Funktionieren des Gemeinsamen Marktes für unerläßlich hält. Ich sagte eingangs meiner Ausführungen, daß die Zollunion und der gemeinsame Agrarmarkt nur der erste Schritt auf dem Wege zum Gemeinsamen Markt seien. Nach dem Vertrag fehlt unter anderem aber auch noch die Regelung einer gemeinsamen Verkehrs-, Sozial- und Handelspolitik. Wir wissen heute, daß eine gemeinsame Energie- und Industriepolitik hinzukommen muß. Die Regionalpolitik wird zumindest nach gemeinschaftlichen Konzeptionen ausgerichtet sein müssen. In Zeiten internationaler Kooperation und Arbeitsteilung kann das bisher Erreichte also nur Ausgangsbasis für die vom EWG-Vertrag als nächstes Ziel zu sehende Wirtschaftsunion sein.
Das aber ist wesentlich mehr, und hierzu gehören zunächst die von mir soeben erwähnten gemeinsamen Politiken, vor allen Dingen aber eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik. Daher begrüßen wir es, daß auf Grund des Werner-Berichtes die Finanz- und Wirtschaftsminister der EWG in Venedig grundsätzlich oder doch in wichtigen Punkten die Gegensätze zwischen Ökonomisten und Monetaristen abgebaut haben. Wir bejahen die Einigung auf die parallele Entwicklung von Wirtschafts- und Währungsunion, doch unsererseits sei betont gesagt, daß für alle Maßnahmen monetärer Art wie Wechselkursänderungen und Währungsreserven vordringlich die Konjunktur-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik in Gleichklang zu bringen ist, falls nicht für einige Staaten bedeutende Risiken mit hohen finanziellen Belastungen entstehen sollen.
Lassen Sie mich einen Bereich besonders herausgreifen, jenen der Steuerharmonisierung. Er hat eine zentrale Bedeutung für die Herstellung binnenmarktähnlicher Verhältnisse, denn von der Steuerharmonisierung werden Einflüsse auf alle Bereiche der Wirtschafts- und Währungspolitik ausgehen. lier wie im übrigen auch in anderen Bereichen erwarten wir neue entscheidende Initiativen der Bundesregierung. Die Entscheidung zugunsten der
Mehrwertsteuer ist gefallen. Es liegt in der Logik der zukünftigen eigenen Einnnahmen der Gemeinschaft, daß wir auch ein einheitliches Mehrwertsteuersystem anstreben. Nur dann werden wir nämlich die einheitliche Bemessungsgrundlage besitzen, die wir im Zusammenhang mit dem zukünftigen Haushalt der Gemeinschaft benötigen.
Größte Vordringlichkeit kommt in den Augen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion der Erarbeitung einer gemeinsamen Sozialpolitik zu. Bundeskanzler Brandt hat in Saarbrücken die Forderung erhoben, daß die Gemeinschaft zum sozial fortschrittlichsten Raum der Welt werden sollte. Die Bundesregierung sollte diese Ankündigung nunmehr verwirklichen helfen. Der bisherige Sozialfonds reicht dazu nicht aus. Wir fordern deshalb, daß er in seiner Zielsetzung erweitert und in seiner finanziellen Ausstattung verstärkt wird.
Es bedarf des weiteren der Initiative der Bundesregierung, um die enge Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf sozialpolitischem Gebiet zu fördern und so zu einer Harmonisierung zu gelangen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Sozialversicherung, in dem ein dem deutschen Sozialbudget vergleichbares Instrument auf europäischer Ebene die Möglichkeiten und Folgen einer Harmonisierung darstellen könnte.
Für den weiteren Ausbau der Gemeinschaft hierüber hinaus nenne ich die Harmonisierung der technischen Normen und Rechts- und Verwaltungsvorschriften, nach denen sich die in den Mitgliedstaaten Arbeitenden zu richten haben, die Schaffung eines europäischen Handels- und Gesellschaftsrechts, ein europäisches Patentrecht, ein europäisches Geschmacksmuster- und Warenzeichenrecht.
Einiges nun zu unserer Haltung zur Stärkung der institutionellen Struktur! Nationale Parlamente und Regierungen dürfen nur dann Schritt für Schritt aus der Beherrschung wirtschaftlicher Vorgänge ausgeschaltet werden, wenn gleichzeitig neue, d. h. supranationale Strukturen an ihre Stelle treten. Hier ist der Punkt, an dem die Regierung ihren politischen Willen manifestieren kann, handlungsfähige europäische Organe zu schaffen. Kommission und Europäisches Parlament müssen voll und ganz an die Stelle der nationalen Regierungen und der nationalen Parlamente treten. Folgen Regelungen nach Art. 235, dann dürfte das Europäische Parlament nicht nur konsultiert werden. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, daß das Europäische Parlament dann als Ratifikationsorgan anzusehen ist, und zwar deshalb, weil die nationalen Parlamente nach Art. 235 nicht eingeschaltet werden. Für die Durchführungsvorschriften sollte der Rat dem Europäischen Parlament dann die vollen legislativen Befugnisse übertragen.
Die Bundesregierung spricht in ihrer Antwort auf die Große Anfrage von dem vertragsmäßigen Zusammenspiel der Organe und davon, daß die Möglichkeiten zur Verstärkung der Institutionen noch nicht voll ausgeschöpft sind. Wir bekräftigen die Auffasung der Bundesregierung und möchten sie ermutigen, praktische Vorschläge durchzusetzen. Es
seien hier unter anderem genannt: Mehrheitsentscheidungen des Rates als Regel. Die gegenteilige Absprache von Luxemburg, die ja im übrigen die eigentlichen Probleme offenließ, ist rechtlich irrelevant. Wir meinen: Keine Einigung mehr auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die überholte Strukturen eher konserviert und deshalb nicht im europäischen und nationalen Interesse ist. Wir wissen doch alle: Einstimmigkeit verstärkt den Einfluß einer noch so kleinen nationalen Lobby.
Hier habe ich allerdings eine Frage an die Opposition: Warum haben Sie die Forderung auf Mehrheitsentscheidungen nicht erhoben? Die Kommission sollte als Exekutivorgan ihre unzähligen Verwaltungsentscheidungen allein treffen können, natürlich kontrolliert vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Gerichtshof, aber ohne Mitwirkung nationaler Beamter im Verwaltungs- und Ständigen Ausschuß.
Voll ausgeschöpft werden können z. B. folgende Möglichkeiten:
Erstens. Zum passiven Gesandtschaftsrecht - zur Zeit gibt es 81 diplomatische Vertretungen bei der Europäischen Wirtchaftsgemeinschaft - könnte das aktive Gesandtschaftsrecht kommen: Die Gemeinschaft entsendet diplomatische Missionen z. B. in assoziierte Staaten - Türkei und afrikanische Staaten als Anfang.
Zweitens. Vor der Einsetzung einer neuen Kommission und der Wahl neuer Richter bzw. Generalanwälte nach Art. 158 und 167 können die Regierungen das Europäische Parlament um seinen Vorschlag bitten und dieses Recht allmählich ausbauen.
Drittens. Immer dann, wenn, wie schon erwähnt, über Art. 235 neues Recht geschaffen wird, sollte das Europäische Parlament Ratifikationsorgan werden, weil die nationalen Parlamente nicht eingeschaltet werden. Das heißt, bei Ablehnung durch das Europäische Parlament muß ein neuer Vorschlag gemacht werden. Wenn über Art. 235 überhaupt neue Verfahren eingeführt werden, dann könnten dem Europäischen Parlament für die Durchführungsverordnung volle Legislativbefugnisse gegeben werden.
Nun zum Problem einer gemeinsamen Verhandlungsbasis für den Beitritt neuer Mitglieder. Wir beglückwünschen zunächst die Bundesregierung dazu, daß es unter ihrem Einfluß am 20./21. April und jetzt endgültig am 8. und 9. Juni dieses Jahres zu der entscheidenden Übereinstimmung im Themenkatalog gekommen ist. Wir halten es für einen großen Fortschritt, daß die Verhandlungen nicht von Mitgliedsstaaten, sondern von der Gemeinschaft geführt werden. Wir möchten hier jedoch vermerken, daß für die Beitrittsverhandlungen die Verhandlungskompetenzen der Kommission vom Rat zu weit eingeschränkt worden sind. Zunächst sollte die Delegation der Mitgliedstaaten auf den Rat, bei den Verhandlungen über die Gemeinschaftspolitiken auf die Kommission übertragen werden. Wir meinen nämlich, ein Völkerrechtssubjekt wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sollte von der Exekutive nach außen vertreten werden. Der Rat kann nicht Legislative und Exekutive zugleich sein. Nach Art. 228 ist des Verfahren auch so geregelt: Verhandlungsbefugnisse liegen bei der Kommission, Abschlußgewalt liegt beim Rat.
Mit großer Befriedigung nimmt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion zur Kenntnis, daß sich die Bundesregierung für die Übertragung gesetzgeberischer Befugnisse an das Europäische Parlament ausspricht. Hierzu könnten baldigst die bereits erwähnten Rechte für das Europäische Parlament bei der Schaffung der Europäischen Handelsgesellschaft sowie bei der Schaffung neuen Rechts nach Art. 235 gewährt werden.
Ich muß hier noch einmal auf den großen Umfang der Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu sprechen kommen. Die Maschinerie des Rats ist viel zu langsam. Nationale Experten beschleunigen sie beileibe nicht. Deshalb kommen so gut wie gar keine Ergebnisse aus der schwerfälligen Gesetzesmaschinerie des Rates heraus. Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen: Die europäische Lastkraftwagenindustrie kann sich z. B. immer noch nicht auf einheitliche Abmessungen - Lastzuglänge 16 oder 18 m, Achsdruck 10 oder 13 t - einstellen, obwohl hierzu seit sieben Jahren Vorschläge ant dem Ratstisch liegen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn japanische oder amerikanische Konkurrenten auf unseren Märkten vordringen.
Es wäre deshalb nur zu begrüßen, wenn beim Rat insgesamt die Einsicht wachsen und die Bundesregierung mit Nachdruck dafür eintreten würde, daß solche notwendigen Harmonisierungen der unzähligen Rechts- und Verwaltungsvorschriften letztlich vom Europäischen Parlament beschlossen würden. Es tagt öffentlich und kennt nicht das Hemmnis der Einstimmigkeit.
Auch in institutionellen Fragen könnten dem Europäischen Parlament mehr Rechte gegeben werden. Zum Recht, der Kommission das Mißtrauen auszusprechen, kann schrittweise das Recht zur Einsetzung der Kommission und der Richter und der Generalanwälte am Gerichtshof kommen. Das wäre in Etappen vom unverbindlichen Vorschlagsrecht bis hin zur Wahl durch das Europäische Parlament zu erreichen.
Im ganzen möchte iich hierzu nochmals betonen, daß wir die Haltung der Bundesregierung begrüßen, dem Europäischen Parlament mehr und mehr Gesetzgebungsbefugnisse geben zu wollen. Sie deckt sich im übrigen auch mit der Auffassung des Europäischen Parlaments, und zwar entsprechend der Ziffer 8 der Entschließung des Berichts von Herrn Spénale im Dokument 42 vom 12. Mai 1970. Wir ersuchen die Bundesregierung mit allem Nachdruck, sich hierfür verstärkt einzusetzen; sonst kann die Vorstellung der Bundesregierung nicht realisiert werden, die da heißt: kein institutionelles Gleichgewicht wird erreicht werden, solange nicht Haushalts- und Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlaments ausgewogen sind.
An dieser Stelle nun ein Wort zu den heute hier eingebrachten Ratifizerungsgesetzen. Hier handelt es sich um bedeutsame Meilensteine 'in der Entwick3260
lung der europäischen Integration. Sosehr wir die ersten Schritte in bezug auf die Regelungen der eigenen Einnahmen und der Gewährung von Haushaltsrechten an das Europäische Parlament begrüßen, so halten wir insbesondere im letzteren Falle die Regelungen für unzureichend.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist der Überzeugung, daß das Recht des Europäischen Parlaments, in letzter Instanz den gesamten Entwurf des Haushaltsplans anzunehmen oder abzulehnen, einen Bestandteil des parlamentarischen Haushaltsrechts bilden sollte. Daher richten wir unser Augenmerk besonders auf die Ratsentschließung vom 22. April 1970, wonach die Kommission spätestens innerhalb von zwei Jahren bezüglich der Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments dem Rat Vorschläge zu unterbreiten hat, ,der - ich zitiere die Ratsentschließung -diese Vorschläge nach dem Verfahren des Art. 236 des Vertrages im Lichte der in den Parlamenten der Mitgliedstaaten bis dahin geführten Aussprachen,
- wie das heute hier geschieht der Entwicklung der europäischen Lage und der im Zusammenhang mit der Erweiterung der Gemeinschaft auftretenden institutionellen Probleme
prüfen wird. Wir möchten heute schon erklären, daß die jetzt unzureichenden Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments dann progressiv fortentwickelt werden müssen.
Obwohl wir nicht voll befriedigt von den vorgesehenen Regelungen der vorliegenden Ratifizierungsgesetze sind, erkläre ich namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion: Wir werden den Ratifizierungsgesetzen unsere Zustimmung geben, weil durch sie erstmals in Europa die Regelung von Eigeneinnahmen und ein erster Schritt zur Übertragung von Haushaltsrechten einem supranationalen Organ übertragen werden, nämlich dem Europäischen Parliament.
Abschließend eine kurze Wertung der bisherigen Westpolitik der Bundesregierung in bezug auf die EWG. In ihrer Frage 7 unterstellt die Opposition in ihren angeblichen Befürchtungen der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsparteien, sie meinten es nicht ernst mit der ,europäischen Integration. Wie ich schon einleitend erwähnte, dreht es sich keineswegs darum, entweder Ostpolitik oder Westpolitik zu machen, sondern darum die West-. politik kräftig vonanzutreiben und gleichzeitig dahin zu orientieren, daß sie als Instrument einer wohlverstandenen gesamteuropäischen Politik dienen kann. Bei unseren westlichen Partnern rennen wir mit solchen Befürchtungen offene Türen ein. Es ist bekannt, daß die Geistesart, die aus der Fragestellung zu erkennen ist, bei unseren westlichen Nachbarn schon seit langem als dogmatischer Ausfluß einer Haltung betrachtet wird, die längst überholt ist.
Nur eine gestärkte, erweiterte und mit mehr politischem Gehalt ausgestattete westliche Gemeinschaft wird in der Lage sein, eine langfristige, ruhige und entspannte Politik des Ausgleichs mit dem Osten zu führen. Dazu wird es auch nötig sein, daß insbesondere die Sowjetunion ihre bisherige Einstellung zur westlichen Integration überprüft. Es ist zu hoffen, daß sie eines Tages dazu kommt, diese Integration nicht nur anzuerkennen, sondern als einen der wesentlichen Ordnungsfaktoren in Europa zu begreifen. Die Gemeinschaft ihrerseits könnte zu derartigen Prozessen beitragen, wenn sie klarer als bisher zu erkennen gäbe, daß sie sich auf solche Fragestellungen vorbereitet. Von dieser Erkenntnis aus hat die neue Bundesregierung die europäische Integrationspolitik vorangetrieben und hat parallel zu den ostpolitischen Bemühungen Stück für Stück entscheidend an wichtigen Fortschritten in der europäischen Integration mitgewirkt. Ich nenne hier folgende.
Erstens. Die Konferenz von Den Haag fand etwa sechs Wochen nach Regierungsantritt statt. Sie bereinigte die Atmosphäre und überwand vornehmlich durch den Einsatz von Bundeskanzler Brandt die vorhandene Stagnation.
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Zweitens. Am 20./21. April dieses Jahres wurde das umfangreiche Paket der Agrarfinanzierung, der eigenen Mittel der Gemeinschaft, der Haushaltsrechte für das Europäische Parlament sowie der Weinmarktordnung unter Dach und Fach gebracht. Wenn hier auch eine Reihe von Schönheitsfehlern zu finden sind, so haben diese Beschlüsse doch den Weg für die Aufnahme von Verhandlungen mit Großbritannien und den anderen beitrittswilligen Ländern endgültig frei gemacht. Hier möchte ich dem Außenminister, dem Minister Ertl und den Staatssekretären der Bundesregierung für diesen durchbrechenden Erfolg, den sie dort für die europäische Integration erreicht haben, im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion in aller Form Dank und Anerkennung aussprechen.
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Drittens. Ende Mai ist eine regelmäßige Beratung der Außenminister in Viterbo beschlossen worden. Das war Herrn Kiesinger zu wenig. Sie wird sicherlich zunächst aus jährlich zwei Treffen der Außenminister oder auch Treffen der Staats- bzw. Regierungschefs bestehen, die durch Zusammenkünfte der politischen Direktoren so vorbereitet werden, daß die Formulierung gemeinsamer außenpolitischer Zielsetzungen und auch Aktionen daraus resultiert. Dabei ist es für uns selbstverständlich, daß auch die außenpolitischen Aspekte der Verteidigungspolitik, ja die Sicherheitspolitik des vereinten Europas, mit einbezogen werden. Sicherlich ist dies nur ein erster Schritt, aber in unseren Augen ein vielversprechender Schritt. Diesem Anfang können sodann weitere Schritte im Sinne eines Stufenplans zur politischen Union folgen.
Viertens. Ende Mai haben sich in Venedig die Finanz- und Wirtschaftsminister der EWG darauf festgelegt, innerhalb von neun Jahren die Währungsunion zu schaffen, was ohne gleichzeitige Errichtung der Wirtschaftsunion nicht möglich sein wird.
Fünftens. Schon am 30. Juni werden in Luxemburg die Verhandlungen mit den vier beitrittswilligen Ländern feierlich eröffnet. Nicht mehr die Mitgliedsländer werden diese Verhandlungen führen, sondern die Gemeinschaft als Völkerrechtssubjekt. Hierin ist ein beträchtlicher Fortschritt gegenüber 1961/62 zu sehen.
Sechstens. Fristgerecht und rechtzeitig für diese Verhandlungen haben die Regierungen eine neue Kommission bestellt und zahlenmäßig bereits die Erweiterung um Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen in Rechnung gestellt. Dies ist ein ermutigendes Zeichen für diese Regierungen nach jahrelangen Enttäuschungen und zum Teil sogar harter Demütigung.
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Mit der erheblichen Verjüngung der neuen Kommission wollen die Regierungen sicherlich die Voraussetzung dafür schaffen, daß die großen Probleme und die Zukunft der Gemeinschaft gemeistert werden können.
Siebtens. Frankreich hat am 5./6. Juni hier in Bonn erstmalig wieder an den WEU-Beratungen teilgenommen.
Für acht Monate Regierungszeit ist das eine stattliche Bilanz. Die aktive Ostpolitik hat diese Fortschritte nicht behindert; im Gegenteil, sie hat sie gefördert. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion fordert den Bundeskanzler und seine Regierung auf, die europäische Integration im Geiste der Beschlüsse von Den Haag fortzuführen, um allen Bürgern in der Bundesrepublik, vor allem aber unserer Jugend, wieder jenen Elan zu vermitteln, dessen wir für das große Werk der Einigung Europas so dringend bedürfen.
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Mit dem Dank und der Anerkennung für die erfolgreiche Integrationspolitik versichern wir dem Bundeskanzler und seiner gesamten Regierung, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diese Politik weiterhin unterstützen wird.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Strauß. Es sind 45 Minuten Redezeit beantragt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde gerne in einigen Bemerkungen an die Ausführungen meines Vorredners anknüpfen und ihm - abgesehen von der Feststellung, daß ein großer Teil seiner zehn Punkte routinemäßige Abläufe beschrieb - meine Zustimmung und, ich glaube, auch die Zustimmung der gesamten Fraktion der CDU/CSU dazu bekunden, daß die EWG ihres politischen Charakters nicht entkleidet werden darf.
({0})
Ich würde ihn ferner bitten, auch in unbegrenzter
Zukunft bei der zwischen den beiden großen Fraktionen des Hauses bestehenden Gemeinsamkeit zu
bleiben, daß keine wie auch immer geartete Konzeption einer echten oder vermeintlichen europäischen Friedensordnung der politischen Integration der freien Völker Westeuropas im Wege stehen darf.
({1})
Wir wollen nämlich in diesem Zusammenhang einmal wissen, wie man sich die großeuropäische Lösung vorstellt. Glaubt man, daß eine europäische Friedensordnung, mit der ja sehr verschiedene Begriffe verbunden werden, die nur mit Zustimmung der Sowjetunion erstellt werden kann, auch deren Zustimmung zur Schaffung einer politischen Union Westeuropas einschließt? Ist man bereit, hier zu sagen, wo die Prioritäten sind?
({2})
Oder werden wir eines Tages hören, daß leider die Realitäten erzwingen, daß man dieses Ziel zugunsten des höheren Zieles, das man dann als „Frieden" ausgibt, zurückstellen müßte? Das ist die entscheidende politische Frage, um die es hier bei dieser Europa-Debatte geht.
({3})
Aber erlauben Sie mir, hier mit wenigen Bemerkungen auf den etwas eigenartigen Beitrag des ersten Mitarbeiters des Herrn Bundeskanzlers, des Herrn Professors Ehmke, einzugehen. Manchmal habe ich ja Zweifel, wer hier Mitarbeiter von wem ist,
({4})
weil sich da einige Widersprüche ergeben. Ich glaube, Herr Kollege Professor Dr. Ehmke, daß der Abschluß der juristischen Ausbildung noch lange keine politische Qualifikation beinhaltet.
({5})
Ich würde z. B. die juristische Substanz von Ausführungen des Herrn Vizepräsidenten Schmitt-Vockenhausen, der meines Wissens den juristischen Doktor gemacht hat, nicht unter Hinweis darauf, daß er nicht auch das Assessor-Examen abgelegt habe, in ihrem Werte anzweifeln.
({6})
Ich habe keinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Professoren, aber ich habe schon erlebt, daß professorale Prognosen, mit großem Pathos verkündet, sich hernach als ein Luftballon erwiesen haben, der sehr schnell geplatzt ist.
({7})
Vielleicht darf ich mit Herrn Professor Ehmke noch ein weiteres Wort von hier aus wechseln. Er wirft weiterhin dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU vor, daß eines Tages über dem Kapitel „Zerbrechen der Gemeinsamkeit in lebenswichtigen Fragen" die Überschrift „Rainer Barzel" stehen werde. Das ist eine dialektische Umdrehung der Tatsachen.
({8})
Denn wir haben uns von den Positionen, die in der Großen Koalition formuliert, von Bundeskanzler Kiesinger und von dem heutigen Bundeskanzler mit erarbeitet worden sind, nicht entfernt. Wir sind auf dem gleichen Kurs geblieben.
Wer, unter hektischem Erfolgszwang stehend, Außenpolitik mit Fernsehprogramm verwechselnd, sich selbst unter Zeitdruck und Zugzwang gesetzt hat, ist die heutige Bundesregierung.
({9})
Ich habe meines Wissens mindestens einmal, wahrscheinlich mehrmals, von dieser Stelle aus erklärt, daß die Bundesregierung sich dem Punkte nähert, und bald den Punkt erreicht haben wird, wo sie entweder umkehren muß, weil sie es mit ihren früheren Versicherungen und Verpflichtungen nicht vereinbaren kann, noch weiterzugehen - dann sei die Spannung zwischen uns und Moskau größer, als sie ie gewesen sei , oder wo sie, um so zu tun, als ob es ein Erfolg sei, einen glatten Mißerfolg unterschreiben muß.
Niemand verlangt vom heutigen Bundeskanzler, daß er den zweiten Weltkrieg noch mal gewinnt; diese Rolle hat ihm noch niemand zugeschrieben.
({10})
Wir wollen nur nicht, daß wir, nachdem wir 25 Jahre
den Preis für den zweiten Weltkrieg gezahlt haben,
nun abermals einen zweiten Preis zu zahlen haben.
({11})
Wir hätten statt dessen erwartet, Herr Professor Ehmke, daß Sie uns einmal erläutert hätten, warum die Bundesregierung und die hinter ihr stehenden Fraktionen dieser Koalition heute nicht mehr bereit sind, die gemeinsame Resolution vom September 1968 als Basis und Grenze gemeinsamer deutscher Politik abermals unveränderlich zu verkünden. Was ist in Ihnen seit der Zeit vorgegangen?
Ich habe in der letzten Aussprache die Frage an Sie gerichtet, Herr Bundeskanzler: was ist denn die Ratio, was ist denn die Denkgrundlage Ihrer Politik? Ich weiß, daß Sie diese Antwort nicht in der Öffentlichkeit geben würden. Ich hoffe, daß Sie in der Lage sind, uns eine Antwort darauf in kleinerem Kreise zu geben. Es ist die Frage: glauben Sie, daß die Sowjetunion damit rechnet, auf die Dauer das Vorfeld ihres Imperiums nicht aufrechterhalten zu können, und daß man deshalb durch diese Ihre Politik es ihr erleichtern könne, ohne Sicherheitsrisiko, ohne Gesichtsverlust sozusagen den Ablauf der Weltgeschichte zu beschleunigen? Sind Sie der Meinung, die Amerikaner gehen so oder so; also müssen wir mit der anderen Seite abschließen? Sind Sie der Meinung, daß eine Serie von Aktionen und Demonstrationen des guten Willens zum Schluß eine Initialzündung des gleichen guten Willens auf der anderen Seite erzeugt? Sind Sie der Meinung, daß Verhandeln, auch wenn in der Substanz der Verhandlungen nichts enthalten ist außer gefährlichen Festschreibungen, schon eine dynamische, flexible Politik ist, während das Festhalten an Prinzipien und Rechten stur, statisch und stationär sei? Darauf wollen wir eine Antwort haben.
({12})
Herr Kollege Ehmke hat davon gesprochen, daß die CDU/CSU die Frage des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte nur herausstelle, ohne das schmutzige Geschäft zu betreiben, cien Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.
({13})
- So ist es festgehalten worden. Ich meine damit
nicht, Herr Professor Ehmke, daß Sie eine Tätigkeit, die den Menschen zu ihrem Recht verhelfen will, als schmutziges Geschäft bezeichnen wollen. Das meine ich ausdrücklich nicht.
({14})
- Es steht ja im Protokoll und im Raum. Aber so läppisch diskutiere ich nicht.
({15})
- Lassen Sie mich doch bitte weiterreden. Bloß, sehr geehrter Herr Ehmke, worin besteht denn diese Ihre Tätigkeit, den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen?
({16})
Ich habe einmal eine Fernsehäußerung von Ihnen zitiert, in der Sie sinngemäß sagten - ich gebrauche genau dasselbe Bild -: Wir wollten in Kassel drei Millimeter vorwärtskommen; wir haben nur einen Millimeter geschafft. Ich habe Sie damals gefragt: Worin besteht denn Ihr Millimeter? - Wenn ich so ironisch redete wie Sie hier heute, würde ich sagen, daß in Zukunft in der Terminologie der physikalischen Begriffe der Ehmke-Millimeter als Umschreibung für „nichts" Verwendung finden wird.
({17})
Ich darf auch von Ihnen, Herr Professor Ehmke, gerade weil Sie eine scharfe juristische Diktion haben, erwarten, daß Sie präziser, für uns verständlicher und griffiger formulieren.
({18})
- Da haben Sie ausnahmweise recht!
({19})
Wenn Sie sagen, wir hätten den Teilungsprozeß ja hingenommen und respektiert, dann ist das wieder dieses schauerliche Spiel mit mehr oder minder inhaltlosen Begriffen. Wir haben immer erklärt - das war ja unsere Gemeinsamkeit in Sachen Gewaltverzicht -, daß wir bestehende Zustände, die wir damit nicht für Rechtens erklären oder mit denen wir uns nicht abfinden wollen, trotzdem nicht durch Gewalt, weder jetzt, noch in Zukunft - das gilt unabänderlich für alle Zukunft -, verändern wollen.
Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Unrecht als solches bezeichnet, ob man alle politischen Mittel - im Sinne von nicht gewaltsamen Mitteln-, ob man alle diplomatischen, wirtschaftlichen und sonStrauß
sägen Möglichkeiten einsetzt, um in einem langfristigen Prozeß der historischen Umstrukturierung zu einer Änderung der Architektur und der Zustände zu kommen, oder ob man als Pseudorealpolitiker sagt: Weil es jetzt mit der Gewalt der Bajonette und der Panzer so ist, unterschreiben wir es und verpflichten uns, in Zukunft auch keine Ansprüche mehr auf Änderung zu stellen.
({20})
Hier ist ein ganz klarer Unterschied der Standpunkte. Teilen Sie unseren Standpunkt oder teilen Sie ihn nicht? Teilen Sie unseren Standpunkt, daß wir weiterhin als Unrecht bezeichnen, was Unrecht ist, daß wir weiterhin erklären werden: Wir werden mit allen politischen Möglichkeiten darum kämpfen, daß diese Zustände geändert werden? Oder sind Sie - ich möchte es sehr vorsichtig sagen - der leichtfertig fahrlässigen Meinung, daß man durch Hinnahme und Unterschreiben sowjetischer Anerkennungs -und Teilungsformeln von doppeldeutiger Auslegungsmöglichkeit etwa auf dem Schleichweg eine Änderung der Zustände erreichen könne?
Man unterschätzt die Sowjetunion und ihren Außenminister ganz gewaltig, wenn man glaubt, auf diesem Wege der Verwendung gleicher verbaler Begriffe bei verschiedener Deutung zum Schluß die eigene Deutung durchsetzen zu können. Diese Frage ist schon des öfteren gestellt worden; wir haben darauf keine Antwort bekommen.
Herr Professor Ehmke, auf die Bemerkung des Kollegen Barzel, daß der Bundeskanzler heute einiges an Pflöcken zurückgesteckt habe, sagen Sie, Sie hätten nichts zurückzustecken. - Einmal kommt das Ende einer für politische Zwecke mißbrauchten Philologie.
({21})
Einmal kann man nicht mehr vom „Sowohl-Alsauch" sprechen, während es in Wirklichkeit nur das „Entweder-Oder" gibt.
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Diesem Punkt nähern Sie sich. Ich werde Ihnen das heute noch mit ein paar Sätzen beweisen. Einmal muß so oder so Farbe bekannt werden.
Ich darf aus Ihrer heutigen Erklärung, Herr Bundeskanzler, einige Sätze herausgreifen; es sind andere als jene, die Herr Kollege Barzel zitiert hat. Auf Seite 3 des uns übergebenen Textes heißt es:
Es ist eine Linie, die in den siebzehn Jahren ... immer tiefer in den Boden markiert worden ist. Und die politisch zementiert wurde durch die Garantien zweier Paktsysteme und das dahinterstehende Potential zweier Supermächte. Man hat erkennen müssen - drüben und hüben -, daß es unmöglich ist, aus dem jeweils anderen Gebiet oder Schutzbereich etwas herauszubrechen.
Das ist eine unzulässige Darstellung der Wirklichkeit. Hier werden die zwei Bündnissysteme auf ein und dieselbe politische, moralische und rechtliche Ebene gehoben, und hier wird erklärt: Ihr könnt bei uns nichts herausbrechen, und zwar deshalb, weil
das Pakt- und Bündnissystem dies nicht zuläßt. - -Das ist schlechterdings unwahr, Herr Bundeskanzler. Wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland heute in einer freien und geheimen Wahl einer kommunistischen Partei mit ihren Vorstellungen die Mehrheit geben würde, dann würde die Bundesrepublik innerhalb kürzester Zeit aus der NATO ausscheiden, sie würde dem anderen Lager angehören. Der Unterschied ist nur, daß wir es können, aber aus freier Überzeugung nicht tun werden, und daß die drüben das Gegenteil tun wollen, aber nicht dürfen.
({23})
Wir haben uns, Herr Bundeskanzler, schon bei Ihrer Regierungserklärung, ferner bei Ihrem Bericht zur Lage der Nation, zweite Fassung mit vollem Recht und mit allem Nachdruck gegen diese unzulässige Gleichstellung staatlicher Ordnungen und bündnissystematischer Wertungen gewendet und tun das heute wieder.
Wenn heute die Dinge so sind, wie sie sind, dann doch nicht deshalb. weil hier die Amerikaner ihren Besitzstand festhalten und ihn mit denselben Mitteln verteidigen,
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notfalls mit dein Einmasch amerikanischer Panzer in Bonn wie dem der russischen in Prag, sondern weil die Amerikaner für uns eine Schutzmacht sind, die zur Erhaltung der Freiheit in diesem Teil Europas leider unentbehrlich ist. Ich bin immer ein Anhänger einer Politik gewesen, die gerne etwas mehr Entbehrlichkeit der Amerikaner herbeigeführt hätte, um mehr innere europäische Selbständigkeit und nicht so sehr Abhängigkeit von anderen zu haben, womit, was ich ausdrücklich betone, kein Ende des Bündnisses gemeint war, sondern eine bessere Verteilung der Lasten und eine gerechtere Organisation dieses Bündnisses.
Aber drüben liegen die Dinge ganz anders. Warum haben wir denn Spannung in Europa? Warum haben haben wir denn diese Frage, um die Sie ringen? Wir haben sie deshalb, weil eine Macht - man darf es beinahe kaum noch sagen - wider das Völkerrecht, wider die UN-Charta, wider alles Recht und die Prinzipien göttlicher und menschlicher Gesetze den Nationen das Selbstbestimmungsrecht und den einzelnen Menschen eine freie und lebenswürdige Menschenhaltung mit Gewalt verweigert.
({25})
Darum haben Sie eine Selbsthinrichtung vollzogen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie im folgenden Teil Ihrer Rede sagten: „Politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist." Leider haben Sie nicht ausgesprochen, was ist.
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Es geht dann weiter: „Politische Kleingeisterei besteht im Bemänteln dessen, was ist." Ich muß Ihnen den Vorwurf machen - siehe Regierungserklärung, Bericht zur Lage der Nation und diese Rede heute -,
daß Sie die Wirklichkeit bemänteln und nicht klar herausstellen.
({27})
Sie erklären weiter: „Auch für uns sind Schießbefehl, Mauer, Todesstreifen unerträglich". Ja, sind die so unerträglich, daß Sie zweimal in Ihrer Erklärung, einmal in Erfurt, einmal in Kassel, darauf überhaupt nicht eingegangen sind?
({28})
Oder glaubt man, daß man durch bewußtes Verschweigen die Verhandlungsposition auf der eigenen Seite verbessert und die Disposition zum Entgegenkommen auf der anderen Seite erleichtert? Das ist wieder dieselbe unzulässige Gleichstellung, wie sie heute morgen vom Kollegen Barzel erwähnt worden ist, daß wir in Verhandlungen mit kommunistischen Politikern und Staatsmännern dieselben Denk- und Wertkategorien unterstellen, wie sie auf unserer Seite als selbstverständlich gelten. Das ist eine falsche Denkkategorie. Ich spreche hier gar nicht in moralisierendem Sinne. Ich sage nur, daß es anders ist und daß es deshalb keinen Sinn hat, so zu tun, als ob es nicht anders wäre. Und was Sie heute hier bewiesen haben, ist, daß Sie auf politische Aktion verzichten und daß Sie politische Kleingeisterei geübt haben -- nach Ihren eigenen Wertmaßstäben, die Sie hier in dem Papier aufgestellt haben.
({29})
- Meine Denkkategorien würde ich Ihnen gern in einer Debatte, die wir mal führen werden, darstellen. Erstens habe ich nach Denkkategorien der heutigen Ostpolitik gefragt und habe darauf keine Antwort bekommen.
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Zweitens habe ich nur festgestellt, daß die Gleichsetzung der Denkkategorien unzulässig ist. Ich nehme immer noch an, daß wir uns in den Denkkategorien, die wir hier mit den Begriffen und mit dem Wortlaut verbinden, innerhalb dieses Hauses trotz allem noch einig sind, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß Sie mit den Begriffen, die in gewissen Verträgen verwendet werden, auch die Interpretation der anderen Seite sich zu eigen machen.
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Deshalb ja auch die schöne Blütenlese, die aus früheren Reden, Büchern, Aufsätzen von mir angestellt worden ist: „Franz Josef Strauß kontra Franz Josef Strauß". Ich habe hier immer erklärt - z. B. im Jahre 1958, als ganz andere Töne von Ihrer Seite kamen -, daß für mich in der Zielsetzung Freiheit/ Einheit die Freiheit der Menschen drüben vor der staatlichen Einheit kommt. Ich habe damit die selbstverständliche Bemerkung verbunden, daß die Einheit als absolutes Prinzip für uns unannehmbar ist, weil das auch einschließen würde, daß wir eine kommunistische Gesellschaftsordnung als Preis für ein gemeinsames Verwaltungsdach hinzunehmen bereit
wären. Ich bestimmt nie und, ich glaube, auch niemand in diesem Hause hier.
({32})
Und drittens: daß das Problem der staatlichen Einheit sich doch nach allen Bekundungen von sowjetischer und anderer kommunistischer Seite erst dann stellt, wenn die Menschen drüben das Recht haben, über ihr politisches Leben, ihre gesellschaftliche Ordnung und ihre außenpolitische Zukunft selbst bestimmen zu dürfen. Vorher stellt sich die Frage in keiner für uns auch nur irgendwie tolerablen Weise. Ich möchte, Herr Bundeskanzler und andere, die diese Fehler zu machen scheinen, nur davor warnen, sowjetische Erklärungen nicht ernst zu nehmen. Was Herr Abrassimow sagt und was man von Herrn Zarapkin hören kann, das soll man so ernst nehmen, wie es gemeint ist. Das sind keine „easy riders", das sind ganz schwergewichtige - ich verbinde damit kein Sympathiebekenntnis -, aber ganz schwergewichtige, konsequente, energische, in ihrer Zielsetzung und Methode unerbittlich intransigente Partner, denen wir hier gegenüberstehen. Denen gegenüber nützt es nichts, nach verbalen Berührungspunkten zu suchen und zu schauen, oh man aus verbalen Berührungspunkten dann auch eine Gemeinsamkeit der Methoden, eine Gemeinsamkeit der Ansichten etwa ableiten könnte. Das ist die Methode, von der ich sage, daß die Grenze des philologischen Mißbrauchs der Politik kommen muß und kommen wird, weil man auf die Dauer nicht auf zwei Hochzeiten zur selben Zeit tanzen kann.
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Herr Kollege Strauß, entschuldigen Sie eine Unterbrechung wegen einer Ansage: die Sitzung des Rechtsausschusses fällt heute aus; der Auswärtige Ausschuß tagt nach Ende der Debatte. - Entschuldigen Sie, bitte.
Herr Professor Ehmke, Sie haben noch gesagt: „Zwanzig Jahre ist nichts geschehen". Damit haben Sie erstens schon einmal drei Jahre der Tätigkeit Ihres eigenen Außenministers disqualifiziert
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und im übrigen außerdem drei Jahre der Tätigkeit Ihres heutigen Fraktionsvorsitzenden als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Oder soll ich unterstellen, daß Diktator Kiesinger Herrn Brandt und Herrn Wehner vergewaltigt hat, eine andere Politik zu treiben, als sie wollten, oder sie gehindert hat, die richtige Politik zu treiben?
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Ich habe so viel Respekt vor Herrn Brandt und Herrn Wehner, daß ich annehme, daß sie dann aus der Großen Koalition ausgeschieden wären und auch die Gründe für das Ende der Gemeinsamkeit danach offen auf den Tisch gelegt hätten.
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Strauß
Alter ist ja leider kein Vorzug, Herr Professor Ehmke, aber Jugend auch nicht unbedingt Sicherheit Iur ein wertsicheres Urteil.
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In der Zeit, als; Sie Ihre Berufsausbildung juristischer Art abschließen mußten, was Sie mit einem großartigen Erfolg getan haben - das sage ich alles andere als gehässig - haben sich hier im Parlamentarischen Rat damals einige Dinge zugetragen, z. B. hat !Adenauer damals als Präsident des Parlamentarischen Rates Herrn Nuschke empfangen. Das war der erste Versuch, mit prominenten Politikern von drüben ins Gespräch zu kommen, zu sondieren. Damals hat die Sozialdemokratie dieses Treffen Adenauer /Nuschke in schärfsten Worten verurteilt.
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Und als später unser leider verstorbener Bundestagspräsident Hermann Ehlers gegen schwere Bedenken, auch gegen Widerstand in unseren eigenen Reihen, das Volkskammerpräsidium empfangen hat - hier im Deutschen Bundestag -, da war es dem SPD-Vizepräsidenten Carlo Schmid nicht erlaubt, daran teilzunehmen.
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Man hat dieses Treffen Ehlers /Volkskammerpräsidium in schärfsten Worten verurteilt.
({6})
Darf ich empfehlen, Ihre archivarischen Kenntnisse auch bis zu diesen Ereignissen auszudehnen. Es ist doch nur eine Darstellung sehr einfacher und durchschaubarer Fakten, wenn man sagt, daß sich Adenauer zunächst uni nichts anderes bemüht hat, als die wie ein Objekt zwischen den Weltmächten hin- und hergeschobene Bundesrepublik Deutschland in den europäischen Gemeinschaften und im Atlantischen Bündnis so zu verankern, wie es geschehen ist. Damals stand die Sozialdemokratie, vor allen Dingen was das Atlantische Bündnis anbetrifft, auf der anderen Seite. Heute sagt der Bundeskanzler: Für uns sind die Bindung an Europa und die Mitarbeit in der NATO Verankerung unserer Politik. Man wäre fast geneigt zu sagen, daß Sie es dem damaligen Mißerfolg der SPD zu verdanken haben, daß Sie heute eine Verankerung Ihrer Politik besitzen.
({7})
Ich sage hier, weil vorhin nach meiner Denkkategorie gefragt worden ist, noch einmal, und ich wäre in der Lage, das zu beweisen: Die Sowjetunion war niemals bereit, einem nichtkommunistischen Deutschland, gleichgültig unter welchen Opfern und Auflagen, die staatliche Einheit zu ermöglichen.
({8})
Das war der Grund dafür, warum Adenauer zuerst die Bindung an den Westen gesucht hat, um dann sofort nach Moskau zu fahren. Lesen Sie nach, was damals Ihr Parteivorsitzender Ollenhauer zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn
und Moskau an heftigster Kritik von diesem Platz aus angemeldet hat!
({9})
-- Ich verunglimpfe keinen Toten, wenn ich sage, daß Herr Ollenhauer - ({10})
- Herr Wehner, Sie sollten sich wirklich besser unter Kontrolle halten.
({11})
- Ich habe mich hier völlig unter Kontrolle. Aber wenn man Reden von Politikern, Parteivorsitzenden, Abgeordneten und Staatsmännern, die leider verstorben sind, nicht mehr als Beweis für ihren damaligen Standort und ihre politische Richtung zitieren darf,
({12})
dann müssen Sie in Deutschland Schluß machen mit der Meinungsfreiheit und der Anwendung geschichtlicher Maßstäbe.
({13})
Die Wahrheit, Herr Professor Ehmke, liegt doch darin, daß die Regierung Adenauer damals die diplomatischen Beziehungen mit Moskau hergestellt hat, um zu der Hauptmacht auf der anderen Seite on speaking terms, wie vielleicht manche sagen würden, in Beziehungen zu kommen, um also überhaupt eine unmittelbare Möglichkeit der Ansprache und der gegenseitigen Aussprache zu haben. Es ist auch nicht wahr - ich muß das hier aus innerster Kenntnis der Dinge sagen, weil ich zum Teil als Zuhörer und Beobachter beteiligt war -, daß sich Adenauer dann um nichts mehr gekümmert habe. Er hat unzählige Male mit dem sowjetischen Botschafter gesprochen. Er hatte die Hoffnung, daß unser Botschafter in Moskau Kroll, der die besten persönlichen Beziehungen zu Chruschtschow unterhielt, etwas ändern könnte. Er hat sogar das in den eigenen Reihen heftig kritisierte Angebot gemacht, zehn Jahre lang nicht über Wiedervereinigung zu sprechen, wenn dafür Erleichterungen für die Menschen drüben gewährt würden. Das ist doch alles geschehen, hat aber an den Grundpositionen auf der anderen Seite nicht das geringste geändert.
({14})
Ich erinnere auch an die Friedensnote von Ludwig Erhard und das weitgehende Angebot des nachfolgenden Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger für Gespräche mit Moskau, mit Polen, mit Prag und vor allen Dingen auch mit Ostberlin. Warum hat man denn nicht reagiert? Es ist doch nicht so, daß Sie verhandeln und wir nicht verhandeln wollen, daß wir die Kalten Krieger und Sie die großen Friedensförderer sind. Nur waren wir nie bereit, über Positionen hinauszugehen, jenseits derer fahr3266
lässige Denkkategorien, leichtfertige Methoden und gefährliche Zielsetzungen stehen.
({15})
Herr Kollege Apel - er ist im Augenblick nicht da - hat heute gesagt, es gebe keinen Vertragsentwurf, Staatssekretär Bahr habe eine Reihe von Notizen mitgebracht. Das ist dieselbe Legende, die der Herr Bundesaußenminister neulich abends im Fernsehen denjenigen verkauft hat, die es nicht wissen können.
({16})
Es hieß, es seien nur Formulierungen, mit denen man Fragen, die sich in Europa lösen ließen, lösen und aus denen man Vertragstexte formulieren könne. Wenn die Bundesregierung hätte erklären können, daß der veröffentlichte Text entweder grobe Abweichungen aufweise oder eine Erfindung oder Fälschung sei, würde das, was ich sage, nicht gelten. Nachdem Sie aber - hier hat Conny Ahlers Ihnen sehr gute Dienste geleistet - die Flucht nach vorn ergriffen haben, Herr Bundeskanzler, und die Richtigkeit des Textes bestätigt haben, kann doch niemand sagen, das seien unverbindliche Protokollnotizen, sozusagen nur ad referendum für die jeweiligen Regierungen. Glauben Sie denn im Ernst, daß die Sowjetunion in angeblich kommenden Verhandlungen, materiell gesehen, noch etwas anderes als das, was hier steht, zuzulassen bereit ist? Herr Kollege Apel sagt, die Verhandlungen könnten dann beginnen. Wenn die Verhandlungen erst beginnen, müßte man doch zwei Positionen kennen. Das eine ist die sowjetische Position, und das andere ist die deutsche Position. Dann erwarte ich von keiner Bundesregierung, daß sie so dumm ist, vorher das Maximum an innerer Bereitschaft zum Entgegenkommen auf den Tisch zu legen. Leider hat die Bundesregierung das getan, als sie damals mit einer einfältigen Geste des guten Willens als Vorwegleistung die Zwei-Staaten-Theorie verkündete.
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist doch die Fragestellung. Was gibt es denn noch zu verhandeln? Die deutsche Position ist mit den vier Punkten umrissen, die in der „Bild-Zeitung" veröffentlicht worden sind.
({18})
- Ich würde das nicht zitieren, wenn die Bundesregierung nicht wahrheitsgemäß zugegeben hätte, daß das - abgesehen von ganz kleinen Dingen wie Artikeln; das stehe nicht darin - der Text sei, über den sich Herr Bahr mit Herrn Gromyko geeinigt habe. Sie können doch nicht davon ausgehen, daß Herr Gromyko mit diesem Papier nach Hause geht und dann der Kremlführung sagt: Das hier ist nur ein unverbindlicher Entwurf; die Deutschen werden noch mit ganz anderen Vorstellungen kommen, und wir müssen uns darauf einrichten, irgendwo zwischen diesem Entwurf und unseren Vorstellungen einen Mittelweg zu finden. - Nein, das, was hier niedergelegt ist, sind die sowjetischen Vorstellungen. Sie haben alles bekommen, was sie überhaupt nur gewünscht haben. Es ist sehr fraglich, ob es eine
diplomatische Leistung ist, das Wort „Anerkennung" zu vermeiden und statt von „Anerkennung" von „Achtung" und „Respektierung" zu sprechen. Wir wollen wissen, wie der russische Text lautet. Wie interpretieren die Russen denn diesen Text?
Sie, Herr Bundesaußenminister, haben mehrmals erklärt: Ich werde keinen Vertrag unterschreiben, in dem Begriffe stehen, die nicht bis zum letzten geklärt sind, und bei dem nicht die Interpretationen in Bonn und in Moskau haarscharf identisch sind. So haben wir Sie verstanden; so haben wir Sie ernst genommen. Sind Sie der Meinung, daß die hier in diesen Artikeln niedergelegten Begriffe -- sie sind heute von meinen Vorrednern zitiert worden -von Ihnen und in Moskau identisch interpretiert werden? Bei aller Schärfe meiner Kritik an Ihrer Politik - ich traue Ihnen nicht zu, daß Sie das annehmen.
({19})
Meine Frage steht im Raum. Worüber soll denn noch verhandelt werden? Was ist das Verhandlungsziel der Bundesregierung? Oder dienen die Verhandlungen nur dem protokollarischen Fernsehabschluß längst getroffener Abmachungen, weil im materiellen Bereich für Verhandlungen kein Spielraum mehr vorhanden ist?
({20})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie ernsthaft,
({21})
sich in Zukunft falscher Alternativen zu enthalten, denn Sie bauen bestimmte Alternativen auf, sogar im Vertragstext, zum Teil durchschimmernd, zum Teil formuliert. Wenn Sie sagen, diese Ihre Politik garantiere den Frieden, erwecken Sie damit den Eindruck, daß jede Kritik an Ihrer Politik eine Friedensgefährdung oder eine kriegstreibende Haltung oder Handlung sei.
({22})
Es heißt immer wieder: Wir verhandeln! Und daraus wird dann die Schlußfolgerung gezogen: Die anderen wollen nicht verhandeln. Herr Wehner, Sie kommen genug hinaus in die Öffentlichkeit und in Diskussionen; ich auch.
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Ich weiß ganz genau, welche Wirkungen Ihre falschen Alternativen im Volk hinterlassen und zu welchen Irreführungen, um nichts Schlimmeres zu sagen, sie führen.
({24})
Der CDU/CSU wird das Plakat „Kalte Krieger - nicht bereit zu Verhandlungen" angeheftet.
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Sie selber hängen sich dann die Friedensfahne um und sagen, daß Sie Verhandlungen führen und daß allein diese Ihre Politik den Frieden garantiere. Das ist eine maßlose Überschätzung, um nicht zu sagen: Überheblichkeit.
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Der Frieden wird durch einen solchen Vertrag zur Zeit nicht gefördert werden, Er wird zur Zeit auch nicht beeinträchtigt, das sage ich ausdrücklich. Aber dieser Vertrag löst Folgen aus; Verschiebung der sowjetischen Gewichte in Richtung Westen, so daß eine solche Politik, die man heute als Friedenspolitik deklariert, sich in einer späteren Wertung sehr leicht als der Anfang des Gegenteils erweisen kann.
Man soll unserer Generation - Sie haben es ja auch miterlebt doch nicht weiszumachen versuchen, daß die Verwendung des Wortes „Frieden" in der Präambel oder in einem Artikel schon identisch ist mit einer materiellen Förderung des Friedens und seiner Aussicht in der Zukunft. Haben wir nicht damals am 30. September 1938, als Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier sich trafen, erlebt, daß dieser Vertrag nicht nur in den faschistischen Ländern, sondern auch in den westlichen Demokratien England und Frankreich als das große Werk des Friedens gepriesen worden ist: „Frieden in unserer Zeit" ; 20 Jahre Frieden zwischen Deutschland und England. Wer damals in Deutschland ein Wort gegen diesen Vertrag sagte, war in Lebensgefahr. Wer heute noch sagt, daß der Vertrag damals gültig war, gilt nachträglich als Kriegsverbrecher. So haben sich die Fronten verschoben.
({27})
Sie wissen doch ganz genau, Herr Kollege Wehner, daß der Hitler-Stalin-Pakt mit einer Präambel beginnt.
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Ich meine jetzt nicht einen Vergleich zwischen den deutschen Partnern von damals und heute.
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-- Ich habe soeben von München gesprochen.
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- Ja, ich habe von München gesprochen; das waren Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier.
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Jetzt spreche ich vom Hitler-Stalin-Pakt. Dort heißt es in der Präambel, daß „die Regierung des Deutschen Reiches und die Regierung der Sowjetunion in ihrer Verantwortung für den Frieden ...", und dann kommt der Text. Ich sage damit nur, daß für mich das Plakat „Frieden" hinter einer Politik, die den strategischen Zielen der Sowjetunion Vorschub leistet, nichts anderes ist als eine Addition von Buchstaben und der Mißbrauch eines den Menschen heiligen und ehrenwerten Begriffes.
({32})
Wir fordern - ich darf das im Namen der Fraktion der CDU/CSU sagen - die Bundesregierung auf - und wir werden noch weitere parlamentarische Mittel verwenden, um die Antwort darauf so zu bekommen, daß kein Raum mehr für Deutungen, tür Wunschdenken oder für mehrfache Auslegungsmöglichkeiten ist --, uns klipp und klar zu sagen,
was mit den in dem Vertragsentwurf verwendeten Formulierungen für Deutungen und Interpretationen verbunden sind, uns klipp und klar zu sagen: die Bundesregierung versteht das darunter, und Moskau versteht das gleiche darunter, oder Moskau versteht das darunter und die Bundesregierung das gleiche.
({33})
Etwas anderes können Sie doch gar nicht, nachdem Sie, Herr Scheel, sich dazu verpflichtet haben, keine Formulierungen zu unterschreiben, die zwischen den verschiedenen Vertragspartnern verschieden ausgelegt werden können.
Wie leicht und windanfällig dieses Gebäude der Behauptungen ist, geht schon daraus hervor, daß Sie einen Brief nach Moskau schreiben müssen, weil im Vertrag schwerwiegende Mängel und Versäumnisse festzustellen sind - siehe z.B. Westberlin und anderes -, um darin darzutun, daß Ihre Auffassung so und so sei. Dann wird dieser Brief drüben ohne Widerspruch angenommen, nicht zurückgeschickt, auch nicht zurückgewiesen. Das ist doch de facto die Widerlegung Ihrer Behauptung.
({34})
Wenn es zwischen Bonn und Moskau ein und dieselbe Auslegung gibt, bedarf es keines Briefes mehr, oder wenn man einen Brief schreibt, müßte der andere Partner dann zurückschreiben: Ich habe dieselbe Ansicht und bestätige, daß ich Ihre Auffassung hinsichtlich der Deutung in diesem und jenem Punkte teile. Das ist doch so ein Feigenblatt.
Hier ist noch erklärt worden, Adenauer habe im Jahre 1955 bereits begonnen, einen Vertrag zu schließen, und er habe dann in einem Briefwechsel etwas klargestellt. Der Brief ist dann von drüben nicht beantwortet worden. Ich muß dazu sagen: im Jahre 1955 ist in Moskau etwas Materielles vereinbart worden, nämlich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, dazu die Entlassung der noch in russischer Haft befindlichen Kriegsgefangenen und noch weitere Punkte. Was wird denn in Ihrem Vertrag materiell geregelt? Doch überhaupt gar nichts, nicht einmal die Aufhebung der Gewaltverzichtsvorbehalte. All das ist doch nicht geeignet, eine Gemeinsamkeit herzustellen, wenn wir auf dem alten Kurs bleiben, weil historische Prozesse nicht etwa durch kurzfristiges Umdenken geändert werden können. Wer umgedacht hat, wer auf Gegenkurs gegangen ist, sind Sie, Herr Bundeskanzler. Alles was Sie früher gesagt haben, ist durch Ihre Stellungnahmen und Ihre Deutungen der letzten Monate doch klar widerlegt worden. Das weiß man doch auch in Moskau. Und was wird man dort sagen?
({35})
Man wird dort sagen: Man braucht nur lange genug Forderungen zu erheben, sie intransigent zu vertreten: die werden Schritt für Schritt weiter zurückgehen, bis sie da sind, wo wir sie haben wollen.
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Auf der Bahn Sie zum Einhalten zu bewegen ist unsere politische Pflicht und ist unser politisches Recht.
({37})
Meine Damen und Herren! Ehe ich das Wort weitergebe, möchte ich Ihnen mitteilen, daß die Herren Fraktionsgeschäftsführer vereinbart haben, daß wir heute bis 16 Uhr tagen und den Rest, der heute nicht mehr erledigt werden kann, morgen etwa von 14 bis 18.30 Uhr hier verhandeln werden, also nach dem Haushalt. Der Herr Präsident hat den Empfang, der für morgen auf 17 Uhr angesetzt war, auf 18.30 Uhr vertagt.
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Kollege Strauß, ich muß sagen, daß ich das, was Sie zuletzt gesagt haben, nicht verstehe. Einmal fordern Sie von der Bundesregierung, daß sie vor diesem Hause, bevor sie überhaupt Vertragsverhandlungen begonnen hat, in allen Einzelheiten den Inhalt möglicher Verträge darstellt, und zwar in einer perfektionistischen Form, die man wahrscheinlich überhaupt nicht zustande hingt. Aber in gleichem Atemzug sagen Sie, daß Verträge mit der Sowjetunion, wie wir ja alle wüßten, ohnehin keinerlei praktische Bedeutung haben.
({0})
Das ist ja wohl nicht miteinander vereinbar. Herr Kollege Strauß, seien Sie doch so ehrlich und geben Sie hier zu,
({1})
daß Sie keine vertraglichen Regelungen mit der Sowjetunion wollen!
({2})
- Aber Sie müssen doch konsequent sein. Sie sind doch sonst immer so scharfsinnig, Herr Kollege Strauß. Den Scharfsinn müssen Sie aber durchhalten in allen Etappen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir kommen weiter, wenn Sie den Redner aussprechen lassen. - Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte!
Herr Außenminister, sind Sie bereit, zuzugeben, daß unter den von der CDU geführten Regierungen mehr als ein Vertrag mit der Sowjetunion geschlossen wurde, und sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Union und ihre führenden Leute in den letzten Jahren konstant, ohne Unterbrechung und immer neu gefordert haben, Vereinbarungen mit der Sowjetunion zu schließen, die den Namen ,,Gewaltverzicht" auch in Wahrheit verdienen?
({0})
Deswegen, Herr Kollege von Guttenberg, ist es doch so widersprüchlich, daß Herr Kollege Strauß hier den Wert solcher Verträge mit der Sowjetunion in Frage stellt. Das ist ja der Widerspruch.
({0})
Aber ich will, meine Damen und Herren, -
({1})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Meine Damen und Herren, ich möchte mich ja mit dem auseinandersetzen, was Herr Kollege Strauß hier gesagt hat. Ich will das in der Ruhe tun, in der das getan werden muß.
({0})
Aber es kann mir wohl vom Herrn Kollegen Strauß sicherlich nicht verübelt werden, wenn ich das, was er hier sagt, in allen Teilen ernst nehme und überprüfe. Wir wollen ja zu der Sache kommen, Herr Kollege Strauß. Ich will das auch nicht so lang machen. Zwischenfragen
({1})
sind mir natürlich recht, aber sie dienen im Moment nicht der Sache.
Wollen Sie eine Zwichenfrage zulassen?
Ja, Herrn Barzel selbstverständlich!
Herr Kollege Scheel, ist Ihnen entgangen, .daß a) der Kollege Strauß auf den Inhalt der Verträge abgehoben hat und daß b) ich in einem meiner zehn Punkte, die Sie hier gern aufgenommen haben, wie Sie mir sagten, zum Ausdruck gebracht habe, man solle einen solchen Vertrag mit der Sowjetunion, der diese Überschrift verdiene und den Gewaltvorbehalt wegbringe, abschließen solle? Ist Ihnen dies beides entgangen?
Ich bin ja außerordentlich froh darüber, daß Sie in diesem Punkt mit uns einig sind, einen Vertrag abzuschlieBundesminister Scheel
ßen. Aber wenn wir das wallen, dann müssen wir uns doch leidenschaftslos über das Zustandekommen eines solchen Vertrags unterhalten können.
({0})
Was Herr tSrauß hier gebracht hat, ging über das Maß seiner ihm sonst zweifellos zugestandenen Leidenschaft weit hinaus. Das ist der Grund, warum ich sage: Wollen wir doch leidenschaftslos über diese Dinge diskutieren. Gleichwohl erscheint eis mir ohnehin richtiger, diese sehr subtilen Diskussionen im Kreise der Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses zu führen.
({1})
- Wir haben es ja auch immer getan, Herr Kollege. Aber wir können nicht den Fragen ausweichen, die Herr Kollege Strauß stellt.
Lassen Sie mich jetzt zu einigen seiner Fragen kommen, und zwar in der Reihenfolge, wie er sie selbst gebracht hat.
Erstens. Er hat hier die Frage gestellt, oh die Bundesregierung - ich will es vereinfachend ausdrükken - denn noch zu der Finalität der EWG-Verträge stehe, ob sie nicht durch ihre Osteuropapolitik die Integration in Westeuropa überhaupt blockiere. Herr Strauß, ich sage es zum wiederholten Male - und Sie können immer wieder fragen, ich kann es nicht hindern; aber ich muß immer wieder darauf die Antwort geben wie heute vormittag -: Das Ziel unserer Westeuropapolitik ist die politische Union Europas und sonst nichts.
({2})
- Ich komme auch auf den Zeitfaktor; es geht ja weiter. Wir haben begonnen, zum erstenmal konkret über die Möglichkeiten zu sprechen, die politische Union einzuleiten. Heute morgen hat Herr Dr. Kiesinger für die CDU/CSU-Fraktion hier erklärt, daß man das nur könne, wenn man jetzt und hier Institutionen fordere. Meine Damen und Herren--
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Strauß?
Ich muß erst einmal meinen Satz wenigstens zu Ende führen können.
({0})
Meine Damen und Herren, wer jetzt Institutionen in dem Zusammenwachsen der EWG fordert, vor allem wo auch Großbritannien und drei weitere Ländern als Mitglieder aufgenommen werden wollen, der beendet damit den Weg der politischen Union.
({1})
Das ist es eben: Die Realitäten unterscheiden sich von cien idealen Zielvorstellungen, in denen wir uns nicht unterscheiden. Aber in dem, was man jetzt und hier erreichen kann, unterscheiden wir
uns vielleicht. Da wollen wir nicht immer das Ziel verkünden, damit der Öffentlichkeit ein schönes Ziel vorgestellt werden kann, sondern wir wollen praktisch Schritt für Schritt weiterkommen.
({2})
So gern ich dieses Bekenntnis höre und glaube, erlauben Sie mir, mit der Feststellung, daß das nicht meine Frage war, die Frage zu wiederholen: Sind Sie, wenn es im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gemäß der seit einigen Jahren fest herausgearbeiteten Grundzüge der sowjetischen Europapolitik einen Zielkonflikt gibt - „Wenn ihr eine Friedensordnung mit der Unterschrift Moskaus haben wollt, dann Schluß mit der europäischen Integration!" -, bereit, hier zu erklären, daß Sie sich einer solchen Bedingung niemals beugen werden?
({0})
Scheel, Bundesminiser des Auswärtigen: Herr Strauß, Sie hätten gar nicht zu fragen brauchen; ich will die Frage jetzt in meinen Darlegungen behandeln. Aber ich will die Frageform, die Sie gewählt haben, auch nicht als Konditionalkonstruktion mit in meiner Antwort unterstellen, sondern erläutern, wie wir uns die Politik in Europa, auch die Politik des Zustandekommens einer europäischen Friedensordnung, vorstellen. In einer solchen Friedensordnung, Herr Kollege Strauß, wird die EWG ein Element sein müssen. Ohne die EWG als Element einer europäischen Friedensordnung
({1})
- lassen Sie mich weiterreden - gibt es keine europäische Friedensordnung. Sie werden fragen: Warum, und wie soll das zustande kommen?
({2})
- Nein, warten Sie doch ab.
({3})
Ich wiederhole: Das Geheimnis einer europäischen Friedensordnung ist doch, eine europäische Ordnung zustande zu bringen, in der Länder unterschiedlicher politischer Ordnungen und unterschiedlicher Gesellschaftssysteme gleichermaßen Mitglieder sind. Mit anderen Worten, wir wollen keinen Kompromiß zwischen einer liberalen Ordnung und einer kommunistischen Ordnung. Diesen Kompromiß gibt es nicht. Deswegen können Sie zu Zusammenarbeit in Europa nur kommen, wenn Sie zwischen Ländern und Organisationen oder Gemeinschaften unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ordnungen Zusammenarbeit organisieren. Nur so kann es eine europäische Friedensordnung gehen, die ganz Europa umfaßt, nicht, wie manche es sich vorstellen, indem man die eine oder die andere Seite in das
politische Ordnungssystem der einen oder der anderen hinüberzieht.
({4})
- Ich komme ja darauf. - Das heißt mit anderen Worten: die EWG in ihrem jeweiligen Integrationsstand, und zwar dem wirtschaftlichen und dem politischen Integrationsstand, wird ein Element einer solchen Friedensordnung sein. Aber wir, die wir an der Grenze zwischen den politischen Systemen in Europa liegen, haben die Verantwortung dafür, daß die Absicht aller europäischen Länder, zu mehr Zusammenarbeit zu kommen, von uns aktiv unterstützt, ja, in vorderster Front betrieben wird. Das ist der Grund, warum wir auf vertraglicher Basis die Beziehungen der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Ländern sichern wollen: um für mehr Frieden eine solide Basis zu bilden.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Baron Guttenberg?
Ja.
Herr Außenminister, da Sie sich so oft und gern auf die volle Übereinstimmung der Bundesregierung mit den NATO-Mächten berufen, frage ich Sie, wie Sie den Widerspruch aufklären können, daß Sie eben eine europäische Friedensordnung als eine Ordnung bezeichnet haben, in der es europäische Völker mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen geben könne, während im NATO-Kommuniqué ausdrücklich gesagt wird, daß die Basis für eine europäische Friedensordnung das Selbstbestimmungsrecht sein soll?
({0})
Herr Kollege Guttenberg, wenn Sie das Kommuniqué des NATO-Ministerrats durchlesen, werden Sie feststellen, daß es sich mit nichts anderem befaßt als mit dem Suchen nach einer Möglichkeit, ein Gespräch zwischen den Mitgliedern der NATO und den Mitgliedern des Warschauer Pakts mit dem Ziel zustande zu bringen, die Sicherheit in Europa zu verbessern und zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen. Nun unterstellen Sie doch nicht den NATO-Mitgliedern, daß sie das wollen, indem sie die Gesellschaftsordnung der Warschauer-Pakt-Staaten ändern wollen! Das kann man doch schlechthin nicht unterstellen, sondern das ist Voraussetzung.
({0})
- Herr Kollege, das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist, wir wissen es doch, ein in der UNO- Charta niedergelegtes Recht, von dem wir wissen, daß nicht alle Völker es gleichermaßen verwirklichen können, auch solche nicht, die Mitglieder der UNO sind.
Meine verehrten Kollegen, es ist, glaube ich, sinnlos, in dieser Form die praktische Zusammenarbeit in Europa zu diskutieren. Das ist das Bild, das Herr Kollege Ehmke gezeichnet hat, nämlich das Bild von dem Mann, der mit der Fahne und seinen schönen Parolen auf der Fahne herumläuft, ohne damit etwas bewirken zu können und ohne den Menschen zu helfen, um die es gehen soll.
({1})
Herr Kollege Strauß, ich möchte mich jetzt mit Ihnen über die Frage, die Sie in den Mittelpunkt gestellt haben, unterhalten, nämlich über das Gewaltverzichtsabkommen, das wir mit der Sowjetunion abschließen wollen. Es ist zweifellos so, daß die reine Wiederholung der Gewaltverzichtsbestimmungen der UNO-Charta - ich habe es heute morgen schon gesagt - ein abstraktes Gewaltverzichtsabkommen wäre, das nicht dem Ziel dienen könnte, darauf eine Änderung des Verhältnisses der Bundesrepublik zu den osteuropäischen Ländern aufzubauen. Sie haben gelesen - ich will einmal, ohne auf Einzelheiten einzugehen, unterstellen, daß das, was darüber geschrieben wurde, dem Inhalt entspricht -, daß Gewaltverzicht und Formulierungen über die Respektierung der Grenzen in Europa auseinandergezogen sind.
Aber es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß diese Formulierungen über die Respektierung der Grenzen in Europa ganz auf die Gewaltverzichtstheorie aufgebaut sind. Das heißt, es ist hier nicht von Anerkennung die Rede, es ist auch nicht von der Unverrückbarkeit von Grenzen die Rede, sondern hier geht es nur darum, Grenzen jetzt und auch in der Zukunft zu achten, und es geht darum, ihre Unverletzlichkeit zu bestätigen.
Aber, meine Damen und Herren, wer wollte denn hier etwas anderes sagen? Wer wollte denn sagen, daß die Unverletzlichkeit einer Grenze für ihn zwar jetzt gegeben ist, aber in der Zukunft nicht? Es handelt sich doch ausschließlich daraum, ob wir in der Lage sein werden, in Zukunft zwei Dinge zu tun: einmal, die europäische Integration dadurch weiterzutreiben, daß wir in Europa auch Grenzen aufheben können, ohne mit dem Abkommen, das wir abschließen wollen, in Konflikt zu kommen. Das ist gewährleistet.
Das Zweite ist die Frage der Grenze, der Demarkationslinie zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Hier geht es um die Respektierung und darum, daß unser politisches Ziel, die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands zu betreiben, mit dem Abkommen, das wir abzuschließen gedenken, nicht in Konflikt gerät. Das ist gewährleistet, und zwar nicht nur durch den Wortlaut allein, sondern wir machen es dadurch deutlich - Herr Strauß hat es hier eben erwähnt -, daß wir unsere Position in einer Erklärung an unseren Partner sichtbar machen, und wir erwarten, daß eine solche Erklärung unserer Position akzeptiert wird.
Nun werden Sie sagen: Warum steht denn das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands nicht in
einem Vertrag, und warum sollte es nicht in einem Vertrag stehen? -- Nun, die Sowjetunion hat früher immer die Wiedervereinigung Deutschlands als ihr Ziel bezeichnet. In der Zwischenzeit tut sie das nicht mehr, wie wir wissen. Ich glaube, wir sollten gar keine Diskussion darüber führen, ob ein politisches Ziel, das wir für uns in Anspruch nehmen, in einem Vertrag mit einem Partner Sowjetunion auch zu deren Ziel gemacht werden soll, so wie es in den Verträgen mit unseren westlichen Verbündeten geschehen ist. Das werden Sie nicht erreichen können, aber Sie werden erreichen, daß die Legitimität unseres politischen Zieles besteht und anerkannt wird. Und ich glaube, darauf kommt es an.
({2})
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel.
Herr Kollege Scheel, zu den Grenzfragen, zum Achten der Grenzen heute und morgen: Gibt es da in den Denkvorstellungen der Bundesregierung vielleicht irgendwo das Vorhaben oder die Absicht, darauf hinzuweisen, daß das noch formeller Bestätigung in friedensvertraglichen Regelungen bedürfe?
Ich komme gleich darauf. Die zweite Frage, auf die ich eingegangen wäre, ist die: Wie steht es mit der Oder-Neiße-Linie? Und in dem Zusammenhang kommt die Frage des Friedensvertrages.
Ich habe heute morgen schon gesagt - und es ist so bedauerlich, daß die Kollegen offenbar gar nicht hinhören, was gesagt wird -,
({0})
daß wir klarmachen wollen und klarmachen werden, daß Abmachungen über Grenzen natürlich einer friedensvertraglichen Regelung bedürfen. Und wir werden sicherstellen,
({1})
daß die geltenden völkerrechtlichen Verträge und Abmachungen auch in unserem Abkommen mit der Sowjetunion enthalten sein werden. Aber das haben wir zum x-ten Male hier vorgetragen, und zum x-ten Male wird es in Frage gestellt, und zum x-ten Male wird eine Frage gestellt, die eigentlich schon beantwortet worden ist.
Meine Damen und Herren, es ist bei dieser Gelegenheit ein weiterer Punkt klarzustellen: Berlin. Es wird hier auch wieder in der heutigen Diskussion ist es mehrfach geschehen - die Frage gestellt, ob durch Abmachungen mit der Sowjetunion die Position Berlins gefährdet werden würde.
({2})
Auch hier versichere ich Ihnen, es wird keine Abmachungen geben, in denen die Position Berlins nicht gesichert ist. Das heißt, die Verhandlungen unserer westlichen Verbündeten mit der Sowjetunion über Berlin haben eine große Bedeutung für diese Einheit der politischen Gespräche und Verhandlungen mit osteuropäischen Ländern. Das wiederhole ich aber auch zum x-ten Male. Ich meine, man sollte endlich einmal die Diskussion über diese Punkte abbrechen können und sollte in den Ausschüssen die sich daran anschließenden Erwägungen gemeinsam anstellen.
Herr Strauß hat nach den Motiven gefragt, die die Sowjetunion veranlassen könnten, heute etwas anderes mit uns zu vereinbaren, als sie früher zu tun bereit gewesen wäre. Natürlich gibt es Motive. Und natürlich gibt es Motive, über die man diskutieren kann. Sicherlich ist ein Motiv die veränderte Lage an der Ostgrenze der Sowjetunion. Sicherlich ist dies - was Sie auch angesprochen haben ein Motiv für die Sowjetunion, sich an ihren westlichen Grenzen von Unsicherheiten entlasten zu wollen. Das sind alles Motive, und sicherlich ist ein Motiv auch die Erkenntnis der sowjetischen Regierung, daß sie in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht, wie sie einmal durch Chruschtschow hat sagen lassen, in sieben Jahren von damals aus gesehen - die Vereinigten Staaten überholen wird, sondern daß sie zurückfallen wird, wenn es gelingt, ein Mehr an wirtschaftlicher Kooperation mit den westlichen Ländern zustande zu bringen. Das sind Motive, zu denen noch andere hinzutreten mögen.
({3})
Es ist aber erkennbar, daß in dieser Zeit die Sowjetunion die Bereitschaft zeigt, mit uns ein Abkommen abzuschließen, in dem wir unsere Positionen halten können, in dem wir unsere Positionen verteidigen können und in dem wir eben keine unzumutbaren Zugeständnisse herzugeben gezwungen sein werden. Solche Abkommen würden wir nicht schließen.
({4})
Herr Strauß hat nach den Leitsätzen des Herrn Bahr und ihrer Bedeutung gefragt. Er hat gesagt, er könne sich gar nicht vorstellen, daß diese Leitsätze ad referendum vereinbart worden seien. Aber das ist nun einmal der Sinn einer solchen exploratorischen Gesprächsrunde, wie wir sie gehabt haben.
({5})
- Herr Ahlers hat gar nichts anderes gesagt. Diese Leitsätze sind naturgemäß ad referendum der jeweiligen Regierung. Wenn das nicht so wäre, wäre es doch ziemlich töricht, wenn sich die Bundesregierung so intensiv mit diesen Leitsätzen befassen würde, von denen ja bisher auch nur einige in der Öffentlichkeit - in etwas abgeänderter Form, muß ich sagen - genannt worden sind.
Ich wiederhole also noch einmal: wenn die Bundesregierung Verhandlungen über Gewaltverzicht mit der Sowjetunion beginnt, dann tut sie das auf der Basis dieser sehr umfangreichen Gespräche, die ja mit dem Ziel geführt worden sind, nicht etwa
Verhandlungen unmöglich zu machen, sondern Verhandlungen soweit wie überhaupt möglich vorzubereiten. Das war das Ziel der Gespräche.
({6})
Diese Vorbereitung ist erfolgt. Jetzt ist es an uns, auf der Basis dieser Vorbereitung die Grundlagen zu erarbeiten, die es möglich machen, zu verhandeln. Es ist am Parlament, einen Text, der verhandelt wird, hier in einer Diskussion, nämlich in einer Diskussion über die Ratifizierung, erneut zu beraten.
({7})
Meine Damen und Herren, es scheint hier Mißverständnisse zu geben in bezug auf den Rechtsausschuß. Es wird mir soeben gesagt, der Rechtsausschuß trete um 16 Uhr zusammen. Ich bitte, sich dementsprechend einzurichten.
Das Wort hat Herr Minister Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf vielleicht auf einige der Fragen eingehen, die Sie aufgeworfen haben, Herr Kollege Strauß. Ich muß sagen, es sind einige Beispiele dabei - die gibt es sicher auch auf unserer Seite , wie wir aneinander vorbeireden. Das haben Sie in Ihrer Rede gezeigt. Der Bundeskanzler hat heute morgen gesagt: Diese Regierung zieht selbstverständlich nicht in Zweifel, daß auch ihre Vorgängerinnen bestrebt gewesen sind, dem Frieden zu dienen. Das hat er ausdrücklich gesagt, auch für die CDU-Kanzler. Sie meinten, wir sagten „Friedenspolitik" in einer Form, als wenn Sie den Krieg wollten. Wozu? Der Kanzler hat doch ausdrücklich das Gegenteil gesagt. Was soll dieses Hochschaukeln von Emotionen?
({0})
-- Nein, Herr Abgeordneter Wehner. Ich lasse mir
nur nicht von anderen Leuten ihren Stil aufzwingen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Herr Guttenberg, lassen Sie mich jetzt einmal im Zusamemnhang sprechen. Ich beschäftige mich im Augenblick wirklich gern ausschließlich mit Herrn Strauß.
Ich komme gleich auf das zweite Beispiel. Herr Strauß, Sie haben gesagt: Der Kanzler hat gesprochen von der Linie, die durch Europa geht und die politisch zementiert wurde durch die Garantien zweier Paktsysteme und das dahinterstehende Potential zweier Supermächte. Daraus haben Sie eine große Show gemacht, weil wir angeblich nicht wüßten, daß das ganz verschiedene Ordnungen seien.
Herr Strauß, daß das fest zementierte Linien sind, wissen wir nach Budapest und nach Prag.
Ich frage mich, warum Sie, Herr Strauß, eigentlich glauben, der Sozialdemokratie etwas über den Kommunismus sagen zu müssen.
({0})
Der Kommunismus in Westdeutschland ist doch nicht von Ihnen geschlagen worden, sondern von uns.
({1})
Und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus bei dem Versuch der Zwangsvereinigung zur SED ist doch nicht von Ihnen geführt worden, sondern von Sozialdemokraten. Wer ging denn in Ulbrichts Gefängnisse?
({2})
Und wer hat denn gekniffen drüben vor dein Redneraustausch? Die SED vor dem Redneraustausch mit uns. Sehen Sie sich doch heute die Propaganda an. Sie glauben doch nicht, daß die Leute drüben Angst vor Ihnen haben.
({3})
Sie sind ein wunderbarer Gegner, als nationalistische Buhmänner das Lager drüben innenpolitisch zusammenhalten.
({4})
--- Augenblick, Herr Strauß, ich habe keineswegs die gesamte CDU als nationalistisch bezeichnet. Aber wenn man dauernd vom Ausverkauf und von Befehlsempfang redet, Herr Kiesinger, dann nützt es nichts, wenn man hinterher sagt, das sei nicht nationalistisch; denn das ist nationalistisch.
({5})
-- Ach, Herr Strauß, nicht so billig, Sie können das doch besser.
Sie brauchen uns doch wirklich nicht zu erklären, daß das verschiedene Systeme sind; und wenn die Leute drüben vor etwas Angst haben, dann doch nicht vor Ihrer konservativen Geisteshaltung, sondern vor dem, was sie den Sozialdemokratismus nennen.
({6})
Nun einen wesentlichen Punkt, Herr Strauß. Ich wäre übrigens dankbar, wenn wir darauf doch noch eine Antwort bekommen könnten, es könnten ja Meinungsverschiedenheiten sein. Was Herr Kollege Scheel in so großer Klarheit gesagt hat, über diese Fragen kann man ({7})
-- In sehr großer Klarheit gesagt hat! Ja, so simple
Positionen wie Sie, Herr von Guttenberg, sie verDeutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Bundesminister Dr. Ehmke
treten, sind noch simpler zu formulieren, das ist richtig.
({8})
-- Herr Strauß, ich habe Sie auch so verstanden, daß Sie von der Natur kommunistischer Regimes und Regierungen gesagt haben: im Grunde kann man gar nicht mit denen verhandeln. Ich habe den gleichen Widerspruch gesehen.
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Und was den Inhalt angeht - nun warten Sie doch einmal ab -, muß ich meinen, die Leute im Ausland halten uns doch nicht für einen erwachsenen Staat, wenn sie sehen, daß, bevor die Verhandlungen beginnen, bevor überhaupt Texte da sind, hier alles weit und breit zerredet wird.
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Sehen Sie sich an, was die drei Alliierten mit ihren Verhandlungen in Berlin machen. Da wird weder im Parlament noch in der Presse irgend etwas gesagt. Ich gehe Ihnen eines zu, meine Herren von der Opposition, die Regierung selbst hat sich
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lassen Sie mich doch einmal etwas zugeben, ohne Zwischenrufe zu machen - in eine Situation manövriert, die in manchem wirklich schwierig ist, weil wir die erforderliche Diskretion nicht durchhalten konnten, das gebe ich sofort zu, auch dank mancher noch nicht ganz vollzogenen Geisteswandlungen hier in dieser Stadt.
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Darüber, Herr Köppler, werden wir uns noch sehr eingehend unterhalten. Ich nehme den Beamteneid, den man auf seine Dienstpflicht leistet, sehr ernst. Darüber wird noch zu sprechen sein.
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Darf ich jetzt vielleicht fortfahren, Herr Strauß, wenn Sie mir zuhören. - Auf der einen Seite hat man die Diskretion nicht wahren können, die erforderlich ist, um draußen diplomatisch wirklich ernst genommen zu werden, und auf der anderen Seite können wir uns, um nun nicht noch weiteren außenpolitischen Kredit zu verspielen, in dieser Phase, in der die eigentlichen Verhandlungen nicht begonnen haben, kaum entschließen, Texte vorher auf den Tisch zu legen.
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Ich gebe Ihnen zu, einer der Nachteile der Situation ist, daß eine Art Zwielicht entstanden ist. Es ist keine volle Diskretion, es ist keine volle Öffentlichkeit, das ist ein Zustand, in dem wir leben müssen, his wir mit den Texten durch sind. Darum sollte man da nicht so lange warten, wenn es geht.
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- Aber Herr Strauß, reden Sie doch nicht immer von Texten. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie, wenn Sie nicht die Verhandlungen von vornherein stören wollen - das ist etwas anderes -, dann nicht warten können, von dem Wahlkampf, den wir hinter uns haben, einmal abgesehen, und sagen: Gut, die verhandeln jetzt, geben wir der Regierung die Chance, das zu verhandeln. Sie muß ja das, was sie schließlich ausgehandelt hat,
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auf den Tisch legen und eine Mehrheit hier im Hause finden. Dann werden Monate zur Beratung Zeit sein. Wie soll das, was Sie jetzt machen -57 mal die Fragen stellen, die schon beantwortet sind, zum Teil im Ausschuß, zum Teil hier -, von uns anders verstanden werden als ein Versuch, jede Verhandlung zu verhindern im Widerspruch zu der Tatsache, daß Sie sagen: Auch wir sind für Verhandlungen.
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Noch ein letzter Punkt, Herr Strauß. Sie haben mich in meinem vielleicht etwas schiefen Bild von den Flaggen und den Parolen von den Menschenrechten sehr bestätigt. Ich darf Sie erst einmal darauf aufmerksam machen, daß die Menschenrechte ausdrücklich in den zwanzig Punkten, die der Bundeskanzler in Kassel auf den Tisch gelegt hat, enthalten sind. Aber ich sage noch einmal, Sie sind uns leider eine Antwort schuldig geblieben. Sie sagen: mit der Sowjetunion zu verhandeln, ist furchtbar schwierig, und hinsichtlich dessen, was da herauskommen soll, haben wir Bedenken.
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- Aber, Herr Strauß, dann müssen Sie sagen, wie nach Ihrer Meinung eine vertretbare Regelung aussehen kann, und dann hat es keinen Zweck, wiederum nur diese Deklamationen zu machen, sondern Sie müssen uns sagen, wie der Weg ist, auf dem man dazu kommt.
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Solange Sie das nicht sagen, Herr Strauß, solange Sie uns - ich sage es noch einmal - die Alternative in dieser Sache schuldig bleiben, so lange kann diese Regierung nur unbeirrt den Weg gehen, den sie geht.
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Das Wort hat dei Herr Abgeordnete Mischnick, 20 Minuten sind beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An sich waren sich alle drei Fraktionen einig, heute die Europapolitik in den Vordergrund zu stellen. Aus der Tatsache, daß die Opposition dazu sehr wenig gesagt hat, müssen wir schließen, daß die Europapolitik dieser Bundesregierung so gut ist, daß die Opposition keinerlei Grund sieht, sie ausführlich zu diskutieren.
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Wenn hier von Minister Ehmke mit Recht darauf hingewiesen worden ist, daß in den letzten Tagen bedauerlicherweise wieder einmal Indiskretionen begangen worden sind und daß man Loyalität erwarten muß, dann ist es für mich unverständlich, wenn ein Kollege der CDU/CSU dann zuruft, das sei Gehirnwäsche. Die Loyalität der Beamten in diesem Staat muß eine Selbstverständlichkeit sein und hat nichts mit Gehirnwäsche zu tun.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier ist heute vormittag von Herrn Kollegen Kiesinger - ich bedaure, daß er nicht hier ist ({2})
zweimal davon gesprochen worden ist, daß er zu Verhandlungen bereit sei, aber nicht zum Befehlsempfang. Dann ist es in der Form etwas abgeändert worden: Er hoffe, daß nicht eine Situation entsteht, aus der Befehlsempfang werden kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, als wir 1949 in einer Koalition mit Ihnen von der CDU/ CSU waren, haben wir uns mit Ihnen gegen die damalige Unterstellung gegen den damaligen Bundeskanzler gewandt. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie sich genauso von dem distanzieren, was hinter dieser Verdächtigung steht, man könnte Befehlsempfänger werden, so wie wir es damals auch erwartet haben.
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Mit dieser Vokabel, daraus könne Befehlsempfang werden, wird doch wieder versucht, eine Dolchstoßlegende hochzuzüchten, gegen die wir uns mit allen Mitteln wehren werden.
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Ich unterstelle nicht, daß das die Absicht von Herrn Kollegen Kiesinger war; aber es wird Zeit, daß auch Sie, meine verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, sehen, welche Gefahr Sie heraufbeschwören, wenn Sie in dieser Weise versuchen, die Bemühungen der Bundesregierung in ein falsches Licht zu stellen.
Herr Kollege Barzel hat davon gesprochen, daß die Art, wie über einen möglichen Vertrag mit der Sowjetunion diskutiert werde, für ihn den Eindruck erwecke, daß das kein seriöser Umgang mit einer Weltmacht sei. Lieber Herr Kollege Barzel, wenn ich all das, was in diesem Haus aus Ihren Reihen gesagt worden ist, als seriösen Umgang mit der Weltmacht Sowjetunion bezeichnen soll, dann weiß ich nicht, was Sie vorhin mit dieser Bemerkung gemeint haben.
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Wir sind immer der Meinung gewesen, das wir in Nüchternheit --- Herr Kollege Marx hat heute früh darauf hingewiesen und ich wiederhole, was ich immer gesagt haben - und illusionslos an die
Sache herangehen. Wenn Sie gefragt haben, wer damit gemeint sei, so sage ich: Natürlich gibt es in unserem Land Leute, die die Illusion haben, man brauche nur einmal zu sprechen, dann sei man schon zu einem Ergebnis gekommen. Aber ich meine genau die Illusionisten, die glauben, man hätte einen Tisch, auf den man mit der Faust schlagen könne, um irgend etwas durchzusetzen. Das haben wir nicht. Das müssen wir doch endlich einmal einsehen.
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Der Kollege Strauß hat darauf hingewiesen, wir hätten 1968 in einer gemeinsamen Resolution Daten gesetzt. Der Kollege Strauß hat aber wieder völlig vergessen, daß die Freien Demokraten einem entscheidenden Punkt dieser Resolution nicht zugestimmt haben. Wir sind in der Auffassung über das, was wir schon damals glaubten verantworten zu können, genau bestätigt worden.
Mit Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, es sei notwendig, bei all diesen Gesprächen und Verhandlungen auszuschließen, daß die Erklärung der Unverletzlichkeit der Grenzen als ein Verzicht ausgelegt werden könne, auch einmal die staatliche Einheit wiederherzustellen. Das ist unsere gemeinsame Überlegung, das ist unser gemeinsames Ziel.
Herr Kollege Strauß, Sie sprachen vorhin davon, daß ein brieflicher Vorbehalt keine Wirksamkeit habe. Zu dem, was Sie zu diesem Punkt hinzugesetzt haben, kann ich Ihnen nur das ins Gedächtnis zurückrufen, was in der 101. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. September 1955 der damalige
ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten:
Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine deutsche Rechtsverwahrung. Für eine solche ist eine einseitige Erklärung der Bundesregierung ausreichend. Diese Erklärung muß nur der anderen Seite zugegangen sein. Dies ist geschehen, und die deutschen Vorbehalte sind damit völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklärung muß nicht etwa, um völkerrechtlich wirksam zu sein, von der Gegenseite angenommen werden.
Ich betone: Wir sind nicht in diesem Stadium des Gespräches. Aber wenn Sie heute prophylaktisch sagen, so etwas sei nicht möglich, müssen Sie daraus die Konsequenz ziehen, daß Ihr damaliger Bundeskanzler Ihnen und diesem Parlament etwas Falsches gesagt hat; denn das ist die einzige Logik.
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- Von dem Verwechseln von Äpfeln und Birnen kann keine Rede sein. Sie wollen doch jetzt nicht sagen, daß bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Briefvorbehalt, der sich auf die Teile Ostpreußens bezog, materiell wenig gewesen sei. Das war materiell eine sehr gewichtige Sache, die
damals vereinbart worden ist. Darüber sind wir uns doch wohl einig.
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Eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Mischnick, sind Sie bereit, einzuräumen, daß damals bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion ein Briefwechsel zwischen Herrn Bulganin und Konrad Adenauer stattgefunden hat, in dem die Hauptfragen, nämlich die der Wiedervereinigung durch Selbstbestimmung, von beiden Seiten aufgenommen waren?
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Herr Kollege Guttenberg, jetzt verwechseln Sie etwas: Sie verwechseln den allgemeinen Briefwechsel mit den Vorbehalten, auf die ich mich bezogen habe und die der damalige Bundeskanzler hier ausdrücklich dargelegt hat. Bitte lesen Sie das noch einmal nach. Dann werden Sie feststellen, daß der Vergleich mit dem, was Herr Strauß gesagt hat, stimmt. Es ist damit nicht der allgemeine Briefwechsel gemeint gewesen. Das war eine zweite Sache.
Herr Kollege Strauß, Sie haben davon gesprochen, die Darlegungen zum Münchener Abkommen seien so gewesen, daß Sie daraus eine Veränderung des Standpunktes gegenüber dem bei früheren Erklärungen eingenommenen herausgehört hätten. Ich habe mir noch einmal die Erklärung angesehen, die die Bundesregierung der Großen Koalition am 13. Dezember 1966 abgegeben hat. Darin hieß es ausdrücklich:
Auch mit der Tschechoslowakei möchte sich das deutsche Volk verständigen. Die Bundesregierung verurteilt die Politik Hitlers, die auf die Zerstörung des tschechisch-slowakischen Staatsverbandes gerichtet war. Sie stimmt der Auffassung zu, daß das unter Androhung von Gewalt zustande gekommene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist.
({0})
ich nehme an, Sie stehen zu dem, was Sie damals in Ihrer gemeinsamen Regierungserklärung gesagt haben. Genau um diese Fragen geht es in den weiteren Gesprächen, die geführt werden.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ausgemacht ist, die Debatte um 16 Uhr zu beenden, möchte ich jetzt nur noch auf zwei Punkte eingehen. Die Koalition hat, wie hier mehrfach dargelegt worden ist, gemeinsam mit der Bundesregierung die sechs Punkte, das Ergebnis der Aussprache der Bundesregierung über einen möglichen Gewaltverzichtsvertrag mit der Sowjetunion nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern als Grundlage solcher Verhandlungen angesehen. Diese sechs Punkte sind Ihnen bekannt. Trotzdem fangen Sie immer wieder an, davon zu sprechen, daß hier Unklarheiten vorhanden seien. Mit Recht hat Herr Minister Ehmke darauf hingewiesen, daß sich der Eindruck verstärken müsse, daß es gar nicht darum gehe, diese oder jene Frage sachlich zu klären, sondern darum, immer wieder in Zweifel zu ziehen, ob es überhaupt sinnvoll ist, mit der Sowjetunion ein Abkommen abzuschließen.
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Wir bleiben bei der Auffassung, daß es sinnvoll ist.
Wenn Sie in Zweifel ziehen - das ist der zweite Punkt -, daß überhaupt verhandelt werden könne, dann scheinen Sie überhört zu haben, daß auch von sowjetischer Seite vor wenigen Tagen deutlich gemacht worden ist, daß die Sowjetunion bereit sei, mit uns über diesen Gewaltverzichtsvertrag zu verhandeln. Das macht deutlich, daß keine Rede davon sein kann, daß das, was hier an Aufzeichnungen vorliegt, etwa ein fertiger Vertragsentwurf wäre. Es ist vielmehr der Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen. Es wäre gut, wenn Sie sich endlich entschlössen, einmal konkret zu sagen, was Sie gegebenenfalls bei solchen Verhandlungen anders geregelt wissen wollen oder wo Sie glauben, daß zusätzliche Punkte eingebaut werden müssen. Unterrichtet worden sind Sie im zuständigen Ausschuß.
Wenn Sie aber diese Fragen beantworten sollen, entsteht doch immer wieder die gleiche Situation,
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daß ein Teil von Ihnen sagt: ja, wir sind zu Verhandlungen bereit, ein Teil sagt: es hat gar keinen Sinn, Abkommen zu treffen,
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und der andere Teil praktisch offenbleibt. Entscheiden Sie sich endlich einmal! Sind Sie bereit, Verträge mit der Sowjetunion abzuschließen, oder sind Sie dazu nicht bereit?
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Diese Frage müssen Sie beantworten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Barzel für fünf Minuten. Darauf muß ich hinweisen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schlußfrage des Kollegen Mischnick beantworte ich wie vorher in meiner Zwischenfrage an den Kollegen Scheel mit einem klaren Ja. Im übrigen haben die Einübungen des
Herrn Kanzleiministers in Polemik weder die Fakten noch unsere Position verändern können.
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Herr Abgeordneter, den Ausdruck „Kanzleiminister" rüge ich.
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Zu den Fakten halte ich folgendes fest.
Erstens. Die zehn Punkte, die ich für unsere Fraktion hier habe vortragen dürfen, gelten und sind die Antwort auf die Frage des Kanzlers.
Zweitens. Der Text unseres Antrags, der gleich an den Ausschuß überwiesen wird, enthält unsere Alternative und unsere Politik und kann nicht durch polemische Äußerungen verändert werden.
Drittens. Trotz der Rede des Herrn Ehmke bleiben wir bereit, wenn der Herr Bundeskanzler seinen Worten von heute morgen entsprechende Taten folgen läßt, im Gespräch mit ihm den Versuch zu machen,
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eine breite Mehrheit zu finden. Herr Ehmke hat das von Anfang an nicht gewollt, und dabei war er mit Ihnen immer einig, Herr Wehner.
({1})
Ich muß das im Eiltempo sagen, weil ich den Präsidenten wirklich nicht inkommodieren will.
Viertens. Herr Kollege Ehmke, auch Ihre Polemik ändert nichts am Text des Art. 79, am Text der Präambel des Grundgesetzes,
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am Text des Art. 116 des Grundgesetzes, am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und an der hierzu vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung.
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Fünftens. Es muß uns erlaubt sein, einen Satz zu zitieren, der sehr gut ist und den wir hier am Schluß doch noch einmal erwähnen wollen.
„Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein." Diesem Satz stimmt sicher das ganze Haus zu,
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und ich hoffe, Sie alle stimmen dann auch dem Satz zu, daß diejenigen, die das Selbstbestimmungsrecht verteidigen, gute Demokraten sind und von niemandem deshalb gescholten werden sollten.
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Meine Damen und Herren, es ist 16 Uhr. Wir schließen die Verhandlungen für heute.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Juni 1970, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.