Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Abgeordneter, die zitierten, mir vom „Spiegel" zugeschriebenen Äußerungen habe ich nicht getan.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von Guttenberg.
Herr Bundesminister, würden Sie bitte davon Kenntnis nehmen, daß der Herausgeber des „Spiegel", den ich um eine Berichtigung seiner Meldung gebeten habe, nachdem Sie mir schriftlich mitgeteilt hatten, daß Sie diese Äußerung nicht getan haben, mir unter dem 25. März geschrieben hat, daß er keine Richtigstellung veröffentlichen könne, weil - und nun zitiere ich Herrn Augstein wörtlich - „Herr Minister Ehmke die von Ihnen beanstandeten Äußerungen nachweislich getan hat"?
Ich kenne den Brief, da Sie ihn mir freundlicherweise ja schon vorher gezeigt hatten, Herr Abgeordneter. Aber ich kann nur sagen, daß Herr Augstein da offenbar nicht zuverlässig informiert worden ist.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten von Guttenberg.
Herr Minister, sind Sie ganz sicher, daß die Vermutungen des Herrn Augstein, der mir in diesem Zusammenhang auch geschrieben hat, es sei - wörtlich - „eine Unart mancher Politiker, saloppe Äußerungen nachträglich zu verdrängen," nicht zutreffen?
Verdrängungsschwierigkeiten habe ich nicht, wie Sie wissen, Herr Abgeordneter. Es ist Ihnen bekannt, daß ich den organisatorischen, technischen und personellen Zustand des Bundeskanzleramtes beim Regierungswechsel für wenig befriedigend gehalten habe. Auf daraus resultierende Funktionsmängel habe ich auch schon einmal in einem an dieses Haus gerichteten Papier hingewiesen.
Auf personellem Gebiet hat beispielsweise die bisherige Personalpolitik des Bundeskanzleramtes zu Verkrustungen geführt, da es an einem ausrei2556
chenden Personalkreislauf zwischen Kanzleramt und Ressorts fehlte. Es ist auch kein Geheimnis - und das habe ich in der Tat gesagt -, daß die Arbeitsbelastung im Bundeskanzleramt sehr unterschiedlich war, daß eine Gruppe von Beamten sehr viel tat und eine andere Gruppe weniger.
Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit betonen, daß sich meine Kritik an diesen Umständen nicht gegen die Leistungen und Fähigkeiten der Angehörigen des Kanzleramtes gerichtet hat.
Präsident von Hassel: Bine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jenninger.
Herr Bundesminister, aus welchen Gründen haben Sie es nicht für geboten gehalten, eine Ihnen öffentlich unterstellte Äußerung, die den Großteil der Beamten des Bundeskanzleramtes anbetraf, auch öffentlich zu dementieren?
Weil es mir ausreichend erschien, in der Personalversammlung des Kanzleramtes, dort auf diese Frage angesprochen, klarzustellen, daß ich die Äußerung nicht getan hatte. Eine weitere Klarstellung erschien mir nicht erforderlich.
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage.
Ich rufe Frage 49 des Abgeordneten Dr. Jenninger auf:
In wieviel Fällen hat der Chef des Bundeskanzleramtes bei Beamten des Bundeskanzleramtes die sofortige Entbindung von ihren Dienstgeschäften schriftlich angeordnet?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Ehmke.
Darf ich vielleicht beide Fragen zusammen beantworten?
Präsident von Hassel: Keine Bedenken. Dann ist Frage 50 des Abgeordneten Dr. Jenninger mit aufgerufen:
Ist diese schriftliche Anordnung in allen Fällen mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen gewesen?
Im Bundeskanzleramt wurden folgende Beamte durch eine schriftliche Anordnung von der Wahrnehmung ihrer bisherigen Funktionen entbunden: zwei Staatsekretäre, von denen einer in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde und der andere wegen Erreichens der Altersgrenze in den Ruhestand getreten ist; drei Ministerialdirektoren, von denen zwei in den einstweiligen Ruhestand und ein anderer in ein anderes Ressort versetzt wurden; vier Ministerialdirigenten, von denen einer unmittelbar dein früheren Bundeskanzler Dr. Kiesinger zur Verfügung gestellt wurde; zwei weitere wurden in andere Ressorts versetzt, und der vierte hat eine anderweitige Verwendung erhalten; ein Vortragender Legationsrat I. Klasse und ein Ministerialrat, von denen einer in ein anderes Ressort versetzt wurde und der andere einen neuen Aufgabenbereich im Kanzleramt erhalten hat; ein Regierungsdirektor, der in ein anderes Ressort abgeordnet wurde.
Neben den politischen Beamten unter denen, die ich aufgezählt habe, handelte es sich dabei um den Persönlichen Referenten des Bundeskanzlers, den Leiter des Kanzlerbüros, den Leiter der Gruppe für außenpolitische Angelegenheiten, den für Sicherheitsfragen und für den BND zuständigen Gruppenleiter, den stellvertretenden Leiter der Abteilung I, den Personalreferenten und den Verbindungsreferenten zum Parlament und zu den Parteien. Die betreffenden Beamten wurden lediglich von der Wahrnehmung ihrer bisherigen Aufgaben entbunden. Soweit sie nicht als politische Beamte in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurden, wurde ihre Amtsstellung durch die Änderung ihrer Funktion nicht angetastet. In den Fällen, in denen die beabsichtigte Versetzung oder Neuverwendung nicht sofort möglich war, wurden sie in der Zwischenzeit für besondere Aufträge zur Verfügung gestellt.
Die entsprechenden Anordnungen erfolgten als Maßnahmen der Geschäftsverteilung im Rahmen der Organisationsgewalt des Dienstherrn; sie waren deshalb auch nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jenninger.
Herr Minister, wenn ich richtig mitgerechnet habe, handelt es sich um insgesamt 18 Beamte.
Ich darf einmal nachrechnen. - Ich komme auf zwölf.
Sie kommen auf zwölf. Hätten Sie die Güte, diesem Haus einmal zu sagen, welche Zahl jetzt richtig ist? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie am 20. Februar vor diesem Hause erklärt, daß es sich um zwei Beamte handle; am 26. März haben Sie in einer Erklärung gesagt, es handle sich um elf Beamte, und vor der Pressekonferenz haben Sie von etwa zwanzig gesprochen. Können Sie uns sagen, welche Zahl nun richtig ist?
Das kann ich. Das ist ganz einfach. Wenn man sich einmal die Mühe macht, genau festzustellen, über welche Gruppen jeweils gesprochen wurde, sind die Zahlen miteinander zu vereinbaren. Die Zahl 20 bezieht sich - wenn ich damit anfangen darf - auf die Beamten, die in dem schon beginnenden Kreislauf zwischen Kanzleramt und Ressorts versetzt worden sind. Das ist die Gesamtzahl. Die Zahl, die am Anfang interessierte, war dagegen die Zahl der Beamten, die von ihren Funktionen entbunden wurden, ohne in ein anderes Ressort versetzt zu werden, so daß z. B. der Leiter der Gruppe für auswärtige Angelegenheiten, der an das Auswärtige Amt zurückgegangen ist, dabei nicht aufgezählt wurde. Die zwei Beamten, die ich damals hier genannt habe, waren der Sicherheitsreferent
und der Personalreferent. Herrn Neusel habe ich nachgetragen. Diese sind von ihren Funktionen entbunden worden, ohne in den Kreislauf einbezogen zu werden. Die anderen habe ich damals nicht erwähnt, weil die, wie etwa die Herren, die aus dem Auswärtigen Amt an das Kanzleramt versetzt waren und dann in das Auswärtige Amt zurückgegangen sind, für mich in die andere Gruppe gehörten. Es ist also jeweils nach verschiedenen Gruppen gefragt worden; die Zahlen haben aber schon ihre Berechtigung.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klepsch.
Herr Minister, wie viele Ministerialdirektoren und Ministerialdirigenten im Bundeskanzleramt sind von diesen Maßnahmen nicht betroffen?
Von den Ministerialdirektoren sind alle betroffen gewesen, die Abteilungsleiter. Von den Ministerialdirigenten kann ich Ihnen das jetzt auf Anhieb nicht sagen.
Kann man nicht vermuten, daß auch da alle betroffen waren?
Da müßte ich jetzt nachzählen, wie viele dageblieben sind. Es sind nicht alle betroffen. Das kann ich Ihnen aber im Augenblick wirklich nicht sagen.
Ist das Amt so groß?
Präsident von Hassel: Verzeihung, das soll hier kein Dialog sein, sondern hier ist eine Frage. gestellt.
Herr Abgeordneter, ich möchte hier nicht auf Anhieb Zahlen nennen, bei denen Sie dann noch einmal fragen. Ich müßte mir jetzt überlegen: wie viele B-6-Stellen sind da, und wie viele davon sind ausgetauscht worden? Ich bin gern bereit, die Frage zu beantworten, aber nicht auf Anhieb.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von Guttenberg.
Nachdem Sie soeben einen Unterschied gemacht haben zwischen denen, die versetzt worden seien, und jenen anderen, die - wie Sie sich ausgedrückt haben - in den Kreislauf einbezogen worden seien, frage ich Sie, ob diese Ihre Antwort an den Kollegen Jenninger nicht deshalb eine Art Ausflucht war, weil Herr Kollege Jenninger danach gefragt hat, ob nicht von Ihnen unterschiedliche Zahlen auf die Frage genannt worden seien, wie viele Beamte des Bundeskanzleramts versetzt worden sind; denn jene, die in den Kreislauf einbezogen worden sind, sind ja auch versetzt worden.
Herr Abgeordneter: ich glaube, Sie haben meine Antwort nochmals falsch verstanden. Ich bin einmal gefragt worden, wie viele Leute insgesamt vom Kanzleramt versetzt worden sind.
Dazu gehören auch die, die im Kreislauf sind.
Ja. Die eingeschlossen, sind es insgesamt zwanzig. Nur habe ich hinsichtlich der Frage der Entbindung von der Wahrnehmung bisheriger Funktionen unterschieden zwischen denen, die in den Kreislauf gingen, und denen, die nur von ihren Funktionen entbunden worden sind. Daraus ergibt sich die Differenz der Zahlen.
Präsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage. Herr Bundesminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf. Zunächst die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Matthöfer:
Welches Ergebnis hatte die vorn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, Professor Dr. Dahrendorf, in der Fragestunde der 18. Sitzung des 6. Deutschen Bundestages vom 5. Dezember 1969 angekündigte Überprüfung der Tätigkeit der griechischen Arbeitskommissionen in deutschen Arbeitsämtern?
Der Fragesteller hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahrendorf vom 8. Mai 1970 lautet:
Zuerst möchte ich klarstellen, daß ich in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 5. Dezember 1969 nicht eine Überprüfung der Tätigkeit der griechischen Arbeitskommission in deutschen Arbeitsämtern angekündigt habe. Ich habe lediglich erklärt, daß die Bundesregierung die Tätigkeit, die hier im Lande von den Arbeitskommissionen ausgeübt wird, nicht ohne Sorge verfolgt; ich habe zugesagt, daß wir, wenn uns Material bekannt wird, das ein weiteres Eingreifen nötig macht, eingreifen werden.
Dementsprechend haben sich die zuständigen Stellen auch in den vergangenen Monaten mit der Tätigkeit der griechischen Kommission und ihrer Außenstellen, denen Bespitzelung, unzulässige Beeinflussung und Denunziation nichtregierungsfreundlicher griechischer Staatsangehöriger vorgeworfen wurden, befaßt. Die eingeleiteten Nachforschungen haben jedoch den Nachweis einer unzulässigen Einwirkung auf griechische Arbeitnehmer und deren Familienangehörige in Deutschland nicht erbracht.
Wegen der Vorwürfe gegen die Außenstelle der griechischen Kommission in Hamburg in der Angelegenheit des griechischen Arbeitnehmers Joakinides Heracles, die der Anfrage des Herrn Kollegen Matthöfer zugrunde lag, wird z. Z. von der Staatsanwaltschaft in Hamburg noch ermittelt. Nach Mitteilung der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg vom 5. Mai 1970 ist dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen. Erst nach Abschluß dieses Verfahrens kann entschieden werden, ob und welche Maßnahmen gegebenenfalls zu treffen sind.
Im übrigen gilt die Zusage vom 5. Dezember weiter, nach der wir eingreifen werden, wenn uns Material bekannt wird, das ein weiteres Eingreifen nötig macht. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß innenpolitische Auseinandersetzungen ausländischer Staaten nicht mit illegalen Mitteln auf deutschem Boden ausgetragen werden dürfen und daß von allen Beteiligten die deutschen gesetzlichen Bestimmungen beachtet werden müssen.
Ich rufe die Fragen 52 und 53 des Abgeordneten Dr. Slotta auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung und was gedenkt sie zu tun, damit die Forderung des Europäischen Parlaments und der Wille der Bevölkerung nach allgemeinen, freien und unmittelbaren europäischen Wahlen zum Europäischen Parlament realisiert wird?
Ist die Bundesregierung bereit, für den Fall, daß die Direktwahl in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft in naher Zukunft nicht gleichzeitig zustande kommt, dem Deutschen Bundestag ein Gesetz vorzulegen, das die Wahl der deutschen Mit2558
Präsident von Hassel
glieder in das Europäische Parlament spätestens zusammen mit der nächsten Bundestagswahl vorsieht?
Die Fragen werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahrendorf vom 8. Mai 1970 lautet:
iDe Bundesregierung hat in der Frage der Einführung allgemeiner direkter Wahlen zum Europäischen Parlament stets eine positive Haltung eingenommen. Dies war bereits 1960 der Fall, als das Europäische Parlament entsprechende Vorschläge machte. Nachdem die Diskussion ab März 1969 erneut aufgenommen wurde, und als im Rat in der Frage, ob der Zeitpunkt zur Einführung solcher Wahlen bereits gekommen sei, keine Einigung erzielt werden konnte, hat die Bundesregierung einen Kompromiß vorgeschlagen, der als eine Übergangslösung gedacht ist. Der deutsche Vorschlag sieht für ein erstes Stadium vor, daß unter Verdoppelung der Mitgliederzahl des Europäischen Parlaments die Hälfte der Abgeordneten nach dem bisher geltenden Schlüssel von den nationalen Parlamenten entsandt, die andere Hälfte nach einem der Bevölkerungszahl entsprechenden Schlüssel unmittelbar gewählt wird. Auch zu diesem Verfahren konnte bisher noch kein Einvernehmen hergestellt werden.
Immerhin ist auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Haag ({0}) beschlossen worden, daß die Frage der direkten Wahl vom Ministerrat weiter zu prüfen sei. Als Fortschritt ist auch zu werten, daß der Ministerrat auf seiner Tagung vom 6. März beschlossen hat, Kontakte mit dem Europäischen Parlament in dieser Frage aufzunehmen. Auf seiten des Rats wird hierfür der amtierende Ratspräsident zuständig sein. Die ersten Kontakte sollen im nächsten Monat stattfinden.
Angesichts der geschilderten Sachlage hält es die Bundesregierung für zumindest verfrüht, sich in dieser Frage zu entscheiden. Sie wird jedoch weiterhin in bezug auf die Einführung von Direktwahlen zum Europäischen Parlament alles in ihren Kräften Stehende tun, damit die Forderung des EP realisiert wird.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf, und zwar zunächst die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Jungmann. - Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 37 der Abgeordneten Frau Meermann auf:
Ist dem Bundesminister der Justiz bekannt, daß in jüngster Zeit Vermieter von Wohnraum in zunehmendem Maße Mieterhöhungen fordern und für den Fall, daß der Forderung nicht entsprochen wird, mit Kündigungen drohen?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Jahn.
Kann ich diese Frage gleich mit der Frage 38 zusammen beantworten?
Präsident von Hassel: Keine Bedenken. Dann rufe ich noch die Frage 38 der Abgeordneten Frau Meermann auf:
Hält der Bundesminister der Justiz den Schutz der Mieter bei Wohnungskündigungen des Vermieters zum Zwecke der Mieterhöhung für ausreichend, namentlich bei hohem Alter, Krankheit und geringem Einkommen des Mieters oder bei Schwierigkeiten für den Mieter, entsprechenden Ersatzwohnraum zu finden?
Gegenüber Kündigungen des Vermieters - ganz gleich, aus welchen Gründen sie erfolgen - können sich die Mieter, die sozial schutzbedürftig sind, auf die sogenannte Sozialklausel berufen und der Kündigung widersprechen. Dieser Schutz kommt insbesondere hochbetagten, kranken, kinderreichen Mietern, vor allem bei geringem Einkommen, zugute.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Meermann.
Frau Meermann: ({0}) : Herr Minister, ich möchte, um Mißverständnisse zu vermeiden, zunächst darauf hinweisen, daß ich bei meiner ersten Frage natürlich an nicht angemessene und ungerechtfertigte Mieterhöhungen gedacht habe, und Sie fragen: Sind Sie mit mir der Ansicht, daß ein Widerspruch gegen die Kündigung auf Grund der Sozialklausel insbesondere bei hohem Alter, Krankheit oder Kinderreichtum gerechtfertigt ist und zur Fortsetzung des Mietverhältnisses führen kann?
Zunächst darf ich ein Versäumnis nachholen und sagen, daß selbstverständlich auch ungerechtfertigte Mieterhöhungen unter Umständen ein Fall sind, der unter die Sozialklausel fällt.
Ihre zusätzlich gestellte Frage beantworte ich mit Ja. Ich stimme Ihnen zu, möchte aber ausdrücklich betonen, daß es sich dabei nur um Beispiele handelt, daß dies also keineswegs die einzigen Härtegründe sind, die eine Fortsetzung des Mietverhältnisses rechtfertigen. Im übrigen k ö n n e n diese Härtegründe nicht nur zu einer Fortsetzung des Mietverhältnisses führen; wenn die entsprechenden Umstände gegeben sind, müssen sie dazu führen.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Meermann.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß gerade in bezug auf hochbetagte, kranke oder kinderreiche Mieter die Auffassung vertreten worden ist, mit einer Verlängerung des Mietverhältnisses wäre nicht geholfen, da sich die Härte für die Mieter mit fortschreitender Zeit eher nur verschlimmere?
Frau Kollegin, diese Auffassung ist von einigen Gerichten früher zur alten Fassung der Sozialklausel vertreten worden. Eine solche Auslegung der jetzt geltenden Fassung der Sozialklausel ist nach herrschender Meinung nicht mehr möglich, weil seit der Neufassung Mietverhältnisse auch auf unbestimmte Zeit verlängert werden können, wenn ungewiß ist, wann die Härtegründe voraussichtlich wegfallen.
Präsident von Hassel: Eine dritte Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Meermann.
Stimmen Sie mir darin zu, daß nach der Neufassung der Sozialklausel auch Schwierigkeiten der Ersatzraumbeschaffung als Härte angesehen werden können und daß diese Härte die Fortsetzung des Mietverhältnisses rechtfertigen muß?
Ja, ich stimme Ihnen darin zu. Bei Verabschiedung der Neufassung ist gerade dieser Fall in diesem Hohen Hause besonders hervorgehoben worden, und zwar nicht nur von meinem Kollegen Dr. Lauritzen, sondern auch von Sprechern der SPD wie auch der CDU/CSU. Im
Bundesrat wurde diese Ansicht ebenfalls bestätigt. Ich hoffe, daß sie sich in der Rechtsprechung durchsetzen wird. Ein Rechtsentscheid des Oberlandesgerichts Stuttgart scheint mir jedenfalls sehr deutlich in diese Richtung zu weisen.
Präsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Meermann.
Herr Minister, obwohl Sie in Ihrer Antwort auf meine erste Frage zum Teil schon darauf eingegangen sind, möchte ich aus gegebenem Anlaß doch noch einmal ausdrücklich fragen: Ist der Mieter auch gegenüber Kündigungen des Vermieters geschützt, die mit dem Ziel erfolgen, ungerechtfertigte Mieterhöhungen durchzusetzen?
Ja, es gibt bereits einige Urteile auch von Landgerichten, die Kündigungen für sittenwidrig und damit nichtig angesehen haben, weil sie nur als Vergeltung dafür ausgesprochen wurden, daß die Mieter es gewagt hatten, sich gegen ungerechtfertigte Forderungen, insbesondere unberechtigte Mietzinsforderungen, zur Wehr zu setzen.
Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ahrens.
Herr Minister, wären Sie bereit, prüfen zu lassen, ob nicht in den Fällen, in denen es allein um die Frage der Mieterhöhung geht, die Einführung einer Änderungskündigung möglich ist, bei der nur die Miethöhe im Streit steht, das Mietverhältnis als solches aber nicht streitbefangen ist?
Präsident von Hassel: Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Justiz angelangt. Ich darf Ihnen, Herr Minister, für die Beantwortung danken.
Präsident von Hassel: Wir sind Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Justiz angelangt. Ich darf Ihnen, Herr Minister, für die Beantwortung danken.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf.
Frage 3 des Abgeordneten Hussing. - Ist der Abgeordnete im Saal? Nicht der Fall. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Frage 4 des Abgeordneten Horstmeier - der Abgeordnete ist anwesend -:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Umschulungsmaßnahmen, die voraussichtlich länger als drei Jahre in Anspruch nehmen, von der Bundesanstalt für Arbeit auch nicht für den sonst vorgesehenen Zeitraum von drei Jahren gefördert werden?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister Arendt.
Gestatten Sie, Herr Präsident, daß ich die beiden Fragen des Kollegen Horstmeier gemeinsam beantworte?
Präsident von Hassel: Keine Bedenken. Dann rufe ich auch Frage 5 auf:
Hält die Bundesregierung es für vertretbar, daß die Umschulungsdauer ein entscheidendes Kriterium für die Förderungswürdigkeit schlechthin ist?
Der von Ihnen, Herr Kollege, angegebene Sachverhalt entspricht der Rechtslage nach dem Arbeitsförderungsgesetz und den einschlägigen Durchführungsvorschriften. Nach § 47 Abs. 3 Satz 2 des Arbeitsförderungsgesetzes soll die Teilnahme an einer Umschulungsmaßnahme in der Regel nur gefördert werden, wenn diese nicht länger als zwei Jahre dauert. Nur in Ausnahmefällen kann also die Bundesanstalt für Arbeit eine Umschulungsmaßnahme länger als zwei Jahre fördern. Hierzu hat der Verwaltungsrat der Bundesanstalt in einer Anordnung vom 18. Dezember 1969 bestimmt, daß in diesen Ausnahmefällen eine Förderungsdauer von drei Jahren nicht überschritten werden darf.
Nach dem Sinne dieser Regelung kommt bei einer Umschulungsmaßnahme, die länger als drei Jahre dauert, auch eine nur zeitweise Förderung nicht in Betracht. Der Gesetzgeber und ihm folgend die Bundesanstalt haben sich mit den genannten Vorschriften zu dem Grundsatz bekannt, daß eine Umschulungsförderung nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Bildungsmaßnahme den besonderen Erfordernissen beruflicher Erwachsenenbildung entspricht, Das bedeutet hinsichtlich der Dauer der Maßnahme, daß die Umschulung in angemessener, aber möglichst kurzer Zeit zu dem angestrebten Ziel führen muß.
Diese Forderung wird auch in den Empfehlungen des Gesprächskreises für Fragen der beruflichen Bildung erhoben. Die Bundesanstalt für Arbeit ist auf Grund des .Arbeitsförderungsgesetzes gehalten, diesen Gesichtspunkt bei der Durchführung der Umschulungsförderung zu beachten.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Horstmeier.
Herr Minister, teilt also die Bundesregierung die in der Verwaltungsanordnung vertretene Rechtsansicht, daß Umschulungswillige danach gezwungen würden, zur Vermeidung finanzieller Nachteile einen Beruf zu wählen, dessen Ausbildung innerhalb von drei Jahren abgeschlossen ist? Ist das Wille des Gesetzgebers, und ist das mit Art. 12 des Grundgesetzes zu vereinbaren?
Herr Kollege, eine nur zeitweise Förderung der beruflichen Umschulung wäre nach Auffassung der Bundesregierung aus sozialpolitischen Gründen nicht zu vertreten; denn die ganze Ausbildung muß wirtschaftlich gesichert sein. Eine zeitweise Förderung von mehr als dreijährigen Um2560
schulungsmaßnahmen würde zudem im Ergebnis zu einer faktischen Sanktionierung der längeren Maßnahmedauer führen und damit dem bereits zitierten Grundsatz einer erwachsenengerecht gestalteten Umschulungsmaßnahme widersprechen.
In diesem Zusammenhang ist auch auf § 47 Abs. 1 des Berufsbildungsgesetzes zu verweisen, wonach Maßnahmen der beruflichen Umschulung nach Inhalt, Ziel und Dauer den besonderen Erfordernissen der beruflichen Erwachsenenbildung entsprechen müssen.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Horstmeier.
Sieht also die Bundesregierung zur Zeit keine Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß diese Verwaltungsanordnung aufgehoben oder korrigiert wird, damit Umschulungswilligen wenigstens für den Zeitraum von drei Jahren eine Umschulungsbeihilfe gewährt wird, auch wenn eine längere Umschulungsdauer notwendig ist, als für die Förderungsdauer vorgesehen ist?
Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß aus den angeführten Gründen an der Dreijahresfrist im Prinzip festgehalten werden sollte. Falls sich im Verlauf der Durchführung des Förderungsprogramms die zwingende Notwendigkeit herausstellen sollte, in begründeten Ausnahmefällen von dieser Dreijahresfrist abzuweichen, würde die Bundesregierung die Bundesanstalt für Arbeit um eine entsprechende Änderung der Anordnung bitten.
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage.
Ich rufe Frage 6 des Abgeordneten Ruf auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, Frage 7 ebenfalls.
Ich rufe die Fragen 8 und 9 des Abgeordneten Härzschel auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 10 des Abgeordneten Krammig auf:
Hält die Bundesregierung den Höchstbetrag des Jahresarbeitsverdienstes von 36 000 DM in § 575 der Reichsversicherungsordnung heute noch für angemessen, und wann beabsichtigt sie gegebenenfalls eine Änderung vorzuschlagen?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.
Bei einem Jahresarbeitsverdienst von 36 000 DM ergibt sich bei völligem Verlust der Erwerbsfähigkeit eine monatliche Verletztenrente von 2000 DM. Diese Rente erhöht sich für jedes Kind um weitere 200 DM. Sie ist steuer- und abgabenfrei. Die Bundesregierung hält einen Jahresarbeitsverdienst, aus dem sich eine solche Leistung ergibt, im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung, einer sozialen Versicherung also, noch für angemessen. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß die Selbstverwaltung der Versicherungsträger nach der Reichsversicherungsordnung ermächtigt ist, durch Satzung einen höheren Betrag zu bestimmen, wenn ein Bedürfnis dafür besteht. Eine Reihe von Berufsgenossenschaften hat von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht. Die Bundesregierung wird jedoch die weitere Entwicklung beobachten und gegebenenfalls eine Anhebung des gesetzlichen Höchstbetrages vorschlagen.
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 11 der Abgeordneten Frau Dr. Wolf auf:
Teilt die Bundesregierung im Hinblick auf den Bedarf an ausländischen Arbeitern in unserer Wirtschaft und unter Bezugnahme auf die vorliegende Statistik über die Dauer des Aufenthaltes der Arbeiter die Auffassung, daß mit einem Daueraufenthalt zu rechnen ist?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.
Auch ein mehrjähriger Aufenthalt ausländischer Arbeitnehmer kann noch nicht als Indiz für einen Daueraufenthalt angesehen werden. Die Erfahrung zeigt, daß viele ausländische Arbeitnehmer auch nach vier und mehr Jahren Arbeitsaufenthalt in der Bundesrepublik endgültig wieder in die Heimat zurückkehren. Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, daß die Bundesrepublik Deutschland wegen der großen Bevölkerungsdichte kein Einwanderungsland sein kann. Auch den Regierungen der Anwerbeländer ist daran gelegen, den jungen und leistungsfähigen Bevölkerungsteil nicht auf Dauer zu verlieren. Der vorübergehende Zweck des Arbeitsaufenthalts wird durch die starke Rückkehrbewegung unter den ausländischen Arbeitnehmern bestätigt. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre entfielen auf drei Zuwanderer zwei Rückkehrer. Bei der zu erwartenden anhaltenden Ausländerbeschäftigung wird die Zahl derer, die sich auf Dauer im Bundesgebiet niederlassen, zwar zunehmen. Hierbei dürfte es sich aber, wie das vorliegende Zahlenmaterial erkennen läßt, nur um einen verhältnismäßig geringen Teil der insgesamt beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer handeln.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Wolf.
Herr Bundesminister, da ich meine Anfrage nicht in bezug auf den individuellen Arbeiter gestellt habe, sondern auf die Gesamtsituation ausländischer Arbeiter, möchte ich die Frage anschließen, ob angesichts der Tatsache, daß wir ständig mit ausländischen Arbeitern zu rechnen haben, nicht auch eine organisatorische Verankerung von Einrichtungen für solche Arbeiter, wie z. B. der orthodoxen Kirche, durch die Bundesregierung unterstützt werden sollte.
Frau Kollegin, ich sehe im Augenblick keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der von Ihnen gestellten Frage.
Präsident von Hassel: Ich muß dem Herrn Bundesminister recht geben. Die Grundfrage lautete etwas anders. Sie ergänzen sie?
Meine Grundfrage betraf einen Daueraufenthalt nicht des individuellen Arbeiters, sondern von Arbeitern aus Entwicklungsländern.
Präsident von Hassel: In der Frage 11, die Sie eingereicht haben, sprechen Sie davon, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß mit einem Daueraufenthalt zu rechnen ist. Es geht in dieser Frage nicht darum, welche Konsequenzen daraus unter Umständen abzuleiten wären. Das wäre aber die Zusatzfrage, die Sie stellen.
Darf ich sagen, Herr Präsident, ich habe mit „Daueraufenthalt" nicht den individuellen Daueraufenthalt, sondern den Daueraufenthalt von ausländischen Arbeitern in unserer Gesellschaft gemeint. Ich glaube, das Wort „Daueraufenthalt" habe ich nicht hinreichend interpretiert.
Präsident von Hassel: Ich habe auch den Eindruck, wir überlassen es dem Herrn Bundesminister, ob er die Zusatzfrage beantworten kann. Sonst müßten Sie das nächste Mal noch einmal auf den speziellen Zweck der Maßnahmen, die Sie für notwendig halten, abstellen.
Ich bitte darum, daß Sie in der nächsten Fragestunde noch einmal darauf zurückkommen.
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Offergeld auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Link auf. - Ist der Abgeordnete im Saal? - Das ist nicht der Fall. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 14 desselben Abgeordneten auf. Frage 14 wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zunächst die Frage 21 des Abgeordneten Welslau:
Wie hoch ist der Anteil der Krankenhausbelegung, verursacht durch Straßenverkehrsunfälle und durch Berufsunfälle?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung Frau Bundesminister Strobel.
Herr Kollege Welslau, in der Bundesrepublik wird keine Morbiditätsstatistik in Krankenhäusern und auch keine Statistik über die Unfallursachen der stationär behandelten Verletzten geführt. Es liegen mir daher leider keine amtlichen Zahlen darüber vor, wie hoch der Anteil der durch Verkehrs- und Arbeitsunfall verletzten Patienten an der Gesamtzahl der insgesamt 7,8 Millionen Patienten ist, die 1968 in Krankenhäusern für Akut-kranke stationär behandelt wurden.
Nach den mir zugänglichen Zahlen sind im Jahre 1968 mindestens 150 000 Schwerverletzte nach Straßenverkehrsunfällen in Krankenhäuser eingeliefert worden, nach Arbeitsunfällen zu Lasten der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1967 270 095 Personen. Als Arbeitsunfälle im Sinne dieser Angaben sind neben Unfällen an der Arbeitsstätte und Wegeunfällen auch Berufskrankheiten zu verstehen. Über Arbeitsunfälle im Jahre 1968 liegen mir Zahlen noch nicht vor.
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Lenzer auf:
Welche Überlegungen bestehen seitens der Bundesregierung über die Vorlage eines Krankenhausfinanzierungsgesetzes, welches die Krankenhäuser auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen vermag?
Wenn ist mit einer Regierungsvorlage zu rechnen?
Ist der Abgeordnete im Saal? - Zur Beantwortung, Frau Bundesminister Strobel.
Herr Kollege Lenzer, die Bundesregierung bereitet zur Zeit einen Gesetzentwurf zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser vor. In die mehrjährige Finanzplanung hat die Bundesregierung ab der zweiten Hälfte 1971 bis einschließlich 1973 - solange also die jetzige mehrjährige Finanzplanung läuft - finanzielle Mittel eingestellt, durch die in dieser Zeit mehr als 1 Milliarde DM für Krankenhausinvestitionen durch den Bund mobilisiert werden sollen. Über Einzelheiten der gesetzlichen Regelung wird mit den beteiligten Bundesministerien und mit den Ländern noch verhandelt.
In diesem Zusammenhang muß man aber auch sehen, daß eine Neuregelung der Pflegesatzverordnung vorgesehen ist, was dem Bund jetzt im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung möglich ist.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Lenzer.
Frau Bundesminister, ist schon eine Angabe darüber möglich, wie in dieser Vorlage die Benutzerkosten gegenüber den Investitionskosten behandelt werden?
Eine solche Angabe ist erst möglich, wenn es einen Entwurf der Bundesregierung gibt, der den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet wird. Bis jetzt gibt es dazu Auffassungen des zuständigen Ministeriums, der Länder, der Krankenkassen und der Krankenhausträger. Solange die Beratungen darüber nicht abgeschlossen sind, möchte ich mich hier nicht festlegen. Es soll aber versucht werden, eine klare Trennung zwischen den Investitionskosten und den Behandlungskosten, also den Benutzerkosten im Einzelfall, herbeizuführen.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Lenzer.
Könnten Sie mir vielleicht schon Angaben darüber machen, ob im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften gleichzeitig auch etwas über die innere Struktur des Krankenhauses ausgesagt wird, d. h., wird vielleicht die innere Struktur die Basis dafür liefern, ob überhaupt eine Beteiligung in Aussicht genommen werden kann?
Die Ermächtigung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung lautet: wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und Regelung der Pflegesätze. Die Länder haben bewußt diese Formulierung vorgeschlagen und ihr nur unter der Bedingung zugestimmt, daß es ein Zustimmungsgesetz wird. Die Frage, ob es möglich sein wird, unter der Überschrift „wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser" irgendwelche Bedingungen oder auch nur Richtlinien für die innere Struktur in das Gesetz zu bringen, scheint mir zumindest vorläufig nicht mit Ja zu beantworten zu sein. Ich weiß, daß es hier große Schwierigkeiten geben wird. Ich glaube, daß es vor allen Dingen wichtig ist, zusammen mit den Ländern Planungselemente in das Gesetz aufzunehmen, um ein bedarfsgerecht gegliedertes System leistungsfähiger Krankenhäuser zu' schaffen, so 'daß jeder Patient das für ihn notwendige Krankenhausbett in erreichbarer Nähe findet.
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Gleissner auf:
Sind der Bundesregierung Pläne der EWG-Kommission bekannt, wonach bei der Bierherstellung künftig außer Gerstenmalz auch Rohfrüchte wie Mais, Reis, Sorghum usw., außerdem Saccharose, Invertzucker oder Glukose und zusätzlich sogar Ascorbinsäure, eiweißspaltende Enzyme, Gerbstoffe und Schwefelsäure verwendet werden dürfen, und hat die Bundesregierung darüber bereits verhandelt oder irgendwelche Zugeständnisse in Aussicht gestellt?
Zur Beantwortung bitte, Frau Minister!
Herr Kollege Gleissner, die bisher von der Kommission zur Diskussion gestellten Entwürfe für eine Richtlinie über Bier sehen die von Ihnen in Ihrer Frage bezeichneten Regelungen leider vor. Die deutsche Delegation hat sich dieser Konzeption stets widersetzt und insbesondere die Beibehaltung des Reinheitsgebots immer gefordert.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Gleissner.
Frau Bundesminister, ist die Bundesregierung bereit, angesichts der drohenden Gefahr mehr oder weniger fragwürdiger EWG-Biere die Interessen der deutschen Verbraucher zu schützen, und zwar unter anderem auch durch eine lebensmittelrechtliche Verordnung des Inhalts, daß den deutschen Brauereien, soweit sie entsprechend dem bewährten und oft gerühmten bayerischen Reinheitsgesetz und auch gemäß dem Biersteuergesetz das Reinheitsangebot wahren, »d. h. nur Gerste, Hopfen, Malz, einwandfreies Wasser und Hefe verwenden, gestattet wird, auf dem Flaschenetikett bzw. auch in der Werbung auf diesen wesentlichen Vorzug hinzuweisen?
Herr Kollege Gleissner, ich habe mich dm Rahmen der gesamten Lebensmittelgesetzgebung immer für Wahrheit und Klarheit in der Kennzeichnung eingesetzt. Das gilt auch für Bier. Ich glaube aber nicht, daß die Harmonisierung des Bierrechts im Rahmen der EWG allein durch diese Kennzeichnung für uns befriedigend zu lösen wäre. Denn es geht darum, ob der deutsche Markt für solches Bier, das nicht nach dem Reinheitsgebot hergestellt ist, geöffnet werden soll. Die Deklaration allein, glaube ich, wäre nicht ausreichend. Wir würden einen das Reinheitsgebot nicht ausreichend schützenden Standpunkt in Brüssel vertreten, wenn wir uns allein auf das Deklarationsprinzip zurückzögen.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Gleissner.
Frau Bundesminister, ist der Bundesregierung bekannt, welche Länder im EWG-Bereich schon jetzt Zusätze verschiedener Art, insbesondere auch chemischer Art, beim Bier gestatten?
Es ist der Bundesregierung bekannt, daß sich alle anderen fünf Länder bisher unserer Forderung nach Beibehaltung des Reinheitsgebots für »die Einfuhr von Bier nach Deutschland widersetzen. Mir ist nicht bekannt, was im einzelnen in den anderen Ländern an Bierzusätzen und Biergrundrohstoffen verwendet wird. Ich glaube auch, daß es eine ziemlich lange Liste wäre, die ich vortragen müßte, um Ihre Frage zu beantworten.
Präsident von Hassel: Ihre Zusatzfragen zur Frage 24 haben Sie konsumiert. Ich rufe nunmehr Ihre Frage 25 auf:
Ist die Bundesregierung bereit, sich dafür einzusetzen und darauf zu bestehen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Qualität des Bieres erhalten bleibt und daß das Bier durch keinerlei Zusätze, insbesondere chemischer Art, manipuliert bzw. verfälscht werden darf und daß in der Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft nur Bier nach dem Reinheitsgebot hergestellt und verkauft wird?
Zur Beantwortung der Frage 25, Frau Bundesminister.
Nach meiner Auffassung handelt es sich bei dieser Richtlinie um eine auf Art. 100 des EWG-Vertrages gestützte Richtlinie, die mit Einstimmigkeit zu beschließen ist.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Gleissner.
Frau Bundesminister, sind Sie bereit, eine Liste vorbereiten zu lassen, aus der hervorgeht, welche Länder es sind, die dem Bier Zusätze beigeben, und welcher Art diese Zusätze sind?
Soweit wir das in Erfahrung bringen können, gern.
Präsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Josten auf:
Ist nach dem neuesten Stand für die Errichtung von Ausbildungsförderungsämtern sichergestellt, daß zum 1. Juli 1970 das erste Ausbildungsförderungsgesetz in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland praktisch durchgeführt werden kann?
Zur Beantwortung, Frau Bundesminister.
Herr Kollege Josten, ich habe bereits bei der Beantwortung einer früheren Anfrage, nämlich am 18. März, hervorgehoben, daß das Erste Ausbildungsförderungsgesetz von den Ländern durchgeführt wird. Diese haben darum auch die erforderlichen Vorbereitungsarbeiten zu leisten.
Soweit bei dieser Rechtslage der Bund zur Vorbereitung beitragen kann, ist dies geschehen. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit hat in Übereinstimmung mit den Ländern Formblätter für die Antragstellung, die Ermittlung des Einkommens und Vermögens des Ausbildenden, seines Ehegatten und seiner Eltern sowie für die Bearbeitung bestimmt und eine allgemeine Verwaltungsvorschrift erarbeitet. Unter der Verantwortung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit ist ein Programmablaufdiagramm für die Durchführung des Gesetzes mit dem modernen Verwaltungsmittel der elektronischen Datenverarbeitung erstellt worden.
Nach den Berichten der Länder über den Stand der Vorbereitungsarbeiten nimmt die Bundesregierung an, daß diese sich zum 1. Juli 1970 in den Stand gesetzt haben werden, das Gesetz praktisch durchzuführen. Dabei sind Unterschiede in dem Stand der Vorbereitungsarbeiten in den einzelnen Ländern nicht zu verkennen. Sie sind insbesondere die Folge unterschiedlicher landesrechtlicher Bestimmungen über Zuständigkeitszuweisungen an nachgeordnete Behörden sowie der unterschiedlich umfangreichen Erfahrungen mit der Durchführung landesrechtlicher Förderungsmaßnahmen.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Josten.
Frau Ministerin, nachdem Sie die Fragestunde vom 18. März 1970 erwähnt haben, in der Ihr Parlamentarischer Staatssekretär wörtlich erklärte: „Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit wird weiterhin mit den Ländern im Gespräch bleiben, damit die Ausbildungsförderungsämter bald geschaffen werden", darf ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, daß es bis heute an kurz und klar abgefaßten Merk- oder Informationsblättern fehlt, worin z. B. steht, wer für welche Ausbildung Zuschuß erhält?
Herr Kollege Josten, da uns das bekannt ist, haben wir in Absprache mit dem Bundespresseamt .eine Broschüre vorbereitet, die zur Zeit in einer Auflage von 250 000 Stück gedruckt wird. Diese enthält ein Merkblatt über die Leistungen nach dem ersten Ausbildungsförderungsgesetz.
Außerdem werden wir ein Faltblatt herausgeben, durch das Grundinformationen über das Erste Ausbildungsförderungsgesetz vermittelt werden. Ein Kupon gibt Interessierten die Möglichkeit, die Broschüre vom Presse- und Informationsamt oder vom Bundesministerium anzufordern.
Im Gespräch ist zur Zeit noch eine Anzeigenaktion. Die Anzeigen sollen, wenn ihr Erscheinen sichergestellt ist, auch mit einem Kupon versehen werden, um Interessierten die Broschüre zukommen zu lassen.
Außerdem sind von mir eine Artikelaktion in vielen kleinen Heimatzeitungen, mehrere Anzeigen in Jugendzeitungen und -zeitschriften und entsprechende Interview-Aktionen geplant.
Präsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Josten.
Frau Ministerin, darf ich auf Grund Ihrer erfreulichen Mitteilung über die zu erwartenden Informationsblätter fragen: Glauben Sie tatsächlich, daß in allen Stadt- und Landkreisen diese Ausbildungsförderungsämter dann auch zum 1. Juli voll einsatzfähig sind?
Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß die Durchführung bei den Ländern liegt. Es ist natürlich schwierig, bei einem neuen Gesetz, bei dem eine umfangreiche Ermittlung und Prüfung der Ausbildungs- und Einkommensverhältnisse bei mehreren hunderttausend Antragstellern erforderlich ist, alle Anlaufschwierigkeiten zu vermeiden. Wir haben jedenfalls ständig bei den Ländern darauf gedrungen, daß die Vorbereitungen rechtzeitig geschaffen werden.
Präsident von Hassel: Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Dr. Schneider ({0}) auf. Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt, Frau Bundesminister. Ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Die Fragen für die Fragestunde sind damit für heute erschöpft.
Ich unterbreche die Sitzung bis 10 Uhr.
({1})
Präsident von Hassel: Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren, bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich in Übereinstimmung mit dem Ältestenrat des Hauses einige Bemerkungen zum heute 25jährigen Bestehen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes machen.
Vor 25 Jahren, in der Zeit größter menschlicher Not und bedrückender Sorge um Millionen von deutschen Wehrmachtsvermißten und Zivilverschollenen des zweiten Weltkrieges, hat das Deutsche Rote Kreuz den Suchdienst als Aktion der Selbsthilfe zur Aufklärung dieser ungewissen Einzelschicksale ins Leben gerufen. Als der Suchdienst damals die Registrierung der Vermißten, der Verschollenen und der auseinandergerissenen Familien aufnahm, ahnte niemand von uns, daß es trotz intensiver Anstrengungen nicht gelingen werde, in 25 Jahren diese humanitäre Aufgabe vollenden zu können.
Es ist das einmalige Verdienst des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes, mit Tatkraft und durch unermüdliche Arbeit bei der Bewältigung dieses menschlichen Elends der Nachkriegszeit so wirksam geholfen zu haben. Trotz vieler Schwierigkeiten und Rückschläge war die Arbeit in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, mit der Internationalen Flüchtlingsorganisation und den nationalen Rot-Kreuz-Verbänden der Gewahrsamsstaaten beachtlich erfolgreich.
Für diesen Erfolg sollen einige Zahlen sprechen. Bis vor einem Monat konnten geklärt werden 560 000 Schicksale der 1 729 000 registrierten Wehrmachtvermißten, über 1 030 000 Schicksale von 1 200 000 registrierten Zivilverschollenen und 217 000 Schicksale von 223 000 gesuchten Kindern. Außerdem wurden von 1 320 000 registrierten Angehörigen 524 000 mit ihren Familien zusammengeführt.
Diese Leistungen können nicht hoch genug eingeschätzt werden, wenn wir uns daran erinnern, daß sich der weitaus größte Teil der gesuchten Deutschen bei Kriegsende in der Sowjetunion und in osteuropäischen Gebieten befand.
Noch gilt es, das Schicksal von 1 163 462 Wehrmachtvermißten, von 172 816 Zivilverschollenen und von 6642 Kindern - unter ihnen 1616 heutige Erwachsene - aufzuklären und diesen Personen auf der Suche nach ihrer Identität zu helfen sowie 587 948 Angehörige mit ihren Familien zusammenzuführen.
Wenn der DRK-Suchdienst heute 25 Jahre besteht, ist uns allen deutlich bewußt, daß dieses große Werk der Menschlichkeit nur durch den selbstlosen Einsatz und die aufopfernde Hingabe der Helfer vollbracht werden konnte und fortgeführt werden kann. Ihnen allen, den Initiatoren, den amtlichen Mitarbeitern und den freiwilligen Helfern, spreche ich den Dank und die Anerkennung des Deutschen Bundestages aus.
({2})
Damit verbinde ich die Bitte an alle Beteiligten, dieses Werk so lange fortzusetzen, soweit durch weitere Nachforschungen Aussicht darauf besteht, noch offene Wunden des Krieges zu schließen und menschliches Leid zu lindern.
Meine Damen und Herren, auf der Tribüne ist inzwischen anwesend der Führer der Opposition im englischen Unterhaus, Mr. Heath.
({3})
Ich heiße ihn namens des Deutschen Bundestages sehr herzlich willkommen.
Wir treten nunmehr in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 20 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen sind 25 Jahre vergangen, seit der totale Krieg des nazistischen Reiches in der totalen Niederlage endete. Nach fast 6 Kriegsjahren schwiegen in Europa endlich die Waffen. Der von Hitler begonnene Krieg forderte das Opfer von Millionen Menschen, von Kindern, Frauen und Männern, von Gefangenen und von Soldaten vieler Nationen. Wir gedenken ihrer aller in Ehrfurcht. Das Leid, das ihr Sterben mit sich brachte, und die Leiden, die der Krieg zur Folge hatte, mahnen uns, die Lehren der Vergangenheit nicht zu vergessen und in der Sicherung des Friedens das oberste Ziel unseres politischen Handelns zu sehen.
Die Verpflichtung zum Frieden wird uns in diesen Tagen besonders bewußt. Mit den anderen Völkern teilen wir die Sorge darüber, daß die kriegerische Auseinandersetzung in Südostasien und die Krise im Nahen Osten sich verschärft und ausgeweitet haben. Die Bundesregierung hofft, daß die Bemühungen um eine friedliche Lösung dieser leidvollen und gefahrvollen Konflikte bald erfolgreich sein mögen.
({0})
Wir Deutschen sind dankbar dafür, daß wir seit 1945 von der Geißel des Krieges verschont geblieben sind. Damals vollzog sich mit der bedingungslosen Kapitulation nicht nur der Zusammenbruch des Reiches;
({1})
die Existenz des Volkes selbst war in Frage gestellt. Das Land war militärisch besetzt. Eine unübersehbare Zahl unserer Landsleute war ohne Haus und ohne Heimat. Die Familien waren zerstreut, die Städte zerstört. Hoffnungslosigkeit drohte den Lebensmut zu ersticken. Vielen erschien es zweifelhaft, ob ein Wiederaufbau gelingen würde.
Die Hauptlast in jener schweren Zeit trugen die Frauen, die Mütter. Sie hatten schon die Ängste der Bombennächte zu überstehen gehabt; harte Arbeit und der Kampf mit dem Hunger waren ihnen auferlegt. Hinzu kam die Sorge um die Männer, die
Söhne, die Familie. Es ist angemessen, heute des Anteils der Frauen an dem Schicksal des ganzen Volkes besonders zu gedenken.
Die Kirchen und andere Institutionen haben unserem Volk ihr Wort zu diesem Tag gesagt. Wenn die Bundesregierung heute mit einer besonderen Erklärung vor den Deutschen Bundestag tritt, so ist es der Sinn dieser Stunde, zu erkennen, was war. Ein Volk muß bereit sein, nüchtern auf seine Geschichte zu blicken; denn nur wer sich daran erinnert, was gewesen ist, erkennt auch, was heute ist, und vermag zu überschauen, was morgen sein kann.
Dies gilt besonders für die jüngere Generation. Sie war nicht beteiligt an dem, was damals zu Ende ging. Die heute Zwanzigjährigen waren noch nicht geboren. Die Dreißigjährigen waren noch Kinder. Und selbst die Vierzigjährigen hatten keinen Anteil an dem, was 1933 über uns kam. Dennoch ist niemand frei von der Geschichte, die er geerbt hat.
Dies wird jedem deutlich, der - wie ich selbst vor wenigen Wochen - vor dem Mahnmal eines der ehemaligen Konzentrationslager steht. Auch dies gilt es zu sehen! Was in jenen Tagen vor 25 Jahren von unzähligen Deutschen neben der persönlichen als nationale Not empfunden wurde, war für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst. Auch für die Mehrheit des deutschen Volkes erwuchs die Chance zum Neubeginn, zur Schaffung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhältnisse.
Für jeden der damals Lebenden war das Jahr 1945 ein tiefer Einschnitt. Es war auch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte unseres Volkes. Die europäische Landkarte wurde entscheidend verändert. Weite Gebiete Deutschlands wurden anderen Staatetn zugeschlagen. Die markanteste der Besatzungslinien jener Zeit bestimmt noch heute die Grenzlinie, die Deutschland teilt.
Im aktuellen politischen Geschehen haben wir uns immer noch mit der politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, die durch die Niederlage des Hitler-Reiches entstanden ist. So ist es nicht nur für uns und nicht nur in diesem Teil der Welt. Der zweite Weltkrieg ging zuerst in Europa und erst dann in Asien zu Ende. Auch andere Länder wurden in seiner Folge geteilt. Blutige Konflikte schlossen sich an. Zum anderen haben die ersten Atombomben, die 1945 den Krieg gegen Japan beendeten, das nukleare Zeitalter eröffnet - mit seinen Dimensionen des Schreckens, aber auch jenen des Fortschritts.
1945 wurde die Organisation der Vereinten Nationen gegründet. Sie leitete, bei allen Unzulänglichkeiten eine Epoche internationaler Zusammenarbeit von bisher ungekannter Intensität ein. Die Bildung zahlreicher neuer Staaten nach der Beendigung des Zeitalters des Kolonialismus hat dazu entscheidend beigetragen. Diese internationale Zusammenarbeit muß ausgeweitet werden, damit die internationalen Spannungen abgebaut werden können.
Deshalb bemühen sich die Regierungen des Westens darum, in Europa die friedliche Kooperation mit den Staaten des Ostens zu verstärken. Dies geschieht in dem Bewußtsein, daß friedliche, aktive Koexistenz 'am bestengefördert wird, wenn die Völker zusammen ,an die Lösung von Problemen herangehen, die ihnen gemeinsam sind.
Die Bundesrepublik Deutschland nimmt an diesen Bemühungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten voll Anteil. Sie ist zu einem geachteten und vielfach auch begehrten Partner der Völkergemeinschaft geworden. Dies kann uns mit Genugtuung erfüllen.
Aber wir dürfen darüber doch nicht vergessen, daß die Narben, die der Krieg hinterlassen hat, noch nicht überall verheilt ;Sind, daß das Mißtrauen uns gegenüber noch nicht verschwunden ist, sondern bei manchem, auch geringfügigem Anlaß wieder
sichtbar wird. Auch dies ist eine der Realitäten, mit denen die deutsche Politik fertig werden muß. Wir können dies nur, wenn wir sie ständig auf den Frieden ausrichten.
In der Regierungserklärung vom 28. Oktober vergangenen Jahres hatte ich angekündigt, wir würden die Initiative unseres Bundespräsidenten aufgreifen und die Friedensforschung koordinieren. Inzwischen wurden die Voraussetzungen geschaffen, um zur Gründung einer „Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Friedens- und Konfliktforschung" einzuladen. Nichtstaatliche und staatliche Stellen wollen bei Wahrung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit hierbei eng zusammenarbeiten.
„Es gibt schwierige Vaterländer", hat Bundespräsident Heinemann bei seinem Amtsantritt gesagt, und er fügte hinzu, eines davon sei Deutschland. Selten war Deutschland ein schwierigeres Vaterland als im Jahre 1945. Damals war dieses Bewußtsein allgemeiner, als es heute ist. Seitdem ist der Begriff des Vaterlandes vielen jüngeren Menschen schon fremd geworden. Aber gleich, ob wir von Vaterland, von Heimat oder von der Nation sprechen: das Bewußtsein, daß es Deutschland gibt und daß die Deutschen sich als ein Volk verstehen, dieses Bewußtsein ;ist nicht erloschen.
Dieses deutsche Volk hat sich 1945 verbissen und fleißig an die Arbeit gemacht - in beiden Teilen Deutschlands. Die sichtbaren Trümmer des Krieges wurden geräumt. Die Städte und Dörfer wurden wiederaufgebaut. Neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Industrie und Handel wurden zu einer in der Welt bewunderten Blüte gebracht. In den Bereichen der Wissenschaften, der Kunst, der Kultur wurde die Isolierung überwunden und Wesentliches neu geschaffen.
All das wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitarbeit der Vertriebenen und Flüchtlinge. Mit Mut und Zähigkeit haben sie ihr hartes Schicksal bewältigt. Sie wurden Bürger unserer gemeinsamen neuen Heimat und ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Diese Eingliederung kann wohl als größte Leistung der deutschen Nachkriegsgeschichte angesehen werden. Damit ist zugleich - was immer hier und außerhalb 'unserer Grenzen 'behauptet werden mag - eine wesentliche Vorkehrung gegen die Gefährdung des Friedens, für die Wahrung von Freiheit und Recht geschaffen worden.
Der Wiederaufbau Deutschlands war das Ergebnis der Arbeit von Menschen aus allen Schichten unseres Volkes. Nur wer sich daran erinnert, wie es 1945 aussah, kann den Abstand ermessen, der zwischen heute und damals liegt. Er wird auch die Sorgen und Probleme, mit denen wir zu ringen haben, richtig einschätzen. Er wird Geduld üben, wo es auf der Hand liegt, daß Lösungen nicht von heute auf morgen zu erreichen sind. Er wird aber ungeduldig sein, wo es darum geht, Menschen zu helfen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar immer noch von den Folgen des Krieges bestimmt wird.
Dabei denken wir an die Schwerversehrten, an die Kriegerwitwen und ihre Kinder, an Flüchtlinge und Vertriebene, die noch nicht wirklich seßhaft werden konnten. Wir denken auch an Deutsche, die nach Deutschland kommen wollen, aber bisher keine Ausreisegenehmigung erhalten. Und wir erinnern uns auch daran, daß Schuld sehr unterschiedlich gemessen werden kann, so daß es noch immer Häftlinge gibt, die sich in fremdem Gewahrsam befinden.
Wenn vom Wiederaufbau die Rede ist, wollen wir die Arbeit nicht vergessen, die im anderen Teil Deutschlands geleistet worden ist. Unsere Landsleute in der DDR haben unter größeren Schwierigkeiten, als wir sie hatten, und unter gesellschaftspolitischen Bedingungen, die sie sich nicht ausgesucht haben, Erfolge erzielt, auf die sie stolz sind und die wir voll anerkennen müssen. Nicht zuletzt auf der Achtung vor dieser Leistung sollten sich gleichberechtigte Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland gründen lassen. Wir in der Bundesrepublik Deutschland konnten uns in den Jahren nach 1945 eine neue demokratische Ordnung geben. Sie bedarf gewiß noch ständiger Reformen, Verbesserungen und Ergänzungen. Insgesamt aber ist sie die freiheitlichste Verfassung, sowohl den Bestimmungen als auch der Praxis nach, die es in der deutschen Geschichte je gegeben hat. Die Kraft unserer neuen Demokratie hat es ermöglicht, daß - anders als nach dem ersten Weltkrieg - alle Parteien in diesem Hohen Hause fest auf dem Boden der Verfassung stehen. Die letzten Bundestagswahlen haben unsere Fähigkeit bestätigt, mit den Mitteln der Aufklärung und der Überzeugung Feinde der Demokratie zurückzuweisen.
Das Bewußtsein der gemeinsamen Erfahrung und der gemeinsamen Treue zum Grundgesetz sollte es uns auch ermöglichen, bei unseren politischen Auseinandersetzungen jene Grenze zu erkennen und zu beachten, jenseits derer sich Gefahren für die Demokratie selbst ergeben. Die Weimarer Republik ist ja auch daran zugrunde gegangen, daß politische Parteien diese Grenze nicht eingehalten haben. Das darf sich ebensowenig wiederholen wie ein Rückfall in nationalistische Verirrungen.
Der Frieden nach außen und der Frieden im Innern gehören zusammen. Beides ist nichts anderes als ein geregeltes Miteinander. Das innenpolitische System unserer Bundesrepublik kennt keine schweigende Mehrheit und keine ins Gewicht fallende antidemokratische Minderheit. Es wird getragen von ,der Zustimmung der Bevölkerung, die von
Wahl zu Wahl ihr Vertrauen in die demokratischen Parteien bekundet. Diese demokratische Ordnung garantiert unsere Freiheit.
Ich appelliere heute von dieser Stelle aus an die jüngere Generation, daran unbeirrt festzuhalten. Alle Jungen sind zwar frei von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Eltern, aber auch ohne die teils bedrückenden, teils verpflichtenden Erfahrungen, die wir daraus ableiten konnten. Es wäre gefährlich für die Demokratie in Deutschland, wenn eine größere Zahl jüngerer Menschen die schmerzlichen Erfahrungen der Geschichte in den Wind schlagen und ihr Heil im Radikalismus suchen würde. Ein solcher Radikalismus könnte auch die teils schon vollzogene, teils mögliche Aussöhnung mit unseren Nachbarn in Frage stellen.
Es entsprach ,der weltpolitischen Lage, wie sie nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstanden war, daß uns eine Verständigung zuerst mit den westlichen Völkern gelang. Diese Politik wurde von Bundeskanzler Adenauer, unter unserem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, wesentlich geformt. Dies war eine historische Leistung, die das Fundament unseres politischen Wirkens und die Garantie unserer Sicherheit bleibt.
Die Teilung der Welt in zwei große Machtblöcke hat aber zugleich Europa gespalten, unser Land und seine alte 'Hauptstadt in zwei Teile zerrissen und unsere Verständigung mit den Völkern im Osten verzögert. Diese Verständigung und Aussöhnung ist, wie wir wissen, besonders schwierig. Aber sie ist im Interesse des Friedens ebenso notwendig wie die mit dem Westen. In dieser Hinsicht müssen wir scheinbar da beginnen, wo wir 1945 oder 1949 gegenüber dem Westen standen. Wir schreiben jedoch nicht mehr das Jahr 1945, sondern das Jahr 1970. In den vergangenen 25 Jahren haben sich Tatsachen ergeben, die wir nicht einfach rückgängig machen können. Von ihnen müssen wir ausgehen, wenn wir weiterkommen wollen.
Es gibt bittere und schmerzhafte Realitäten wie die Grenzlinie, die Deutschland teilt, und die der Grenze an Oder und Neiße. Es gibt aber auch hoffnungsvolle Realitäten wie die der fortdauernden und lebendigen Wirklichkeit einer 'deutschen Nation und die der festen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin. Und nicht zuletzt gibt es die unverkennbare und zukunftsträchtige Realität Europa.
Die beiden Weltkriege unseres Jahrhunderts hatten ihren Ursprung in der Rivalität der europäischen Mächte. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vom Tage ihres Bestehens an zu einer engen europäischen Zusammenarbeit verpflichtet und bekannt. Sie ist der Erklärung des französischen Außenministers Schuman vom 9. Mai 1950, also morgen vor 20 Jahren, gefolgt. Sie wird diese Politik weiterführen und alles tun, damit der Zusammenschluß der europäischen Staaten immer tiefer und nach Möglichkeit auch breiter wird, zunächst durch die Integration im Westen, aber hoffentlich auch durch zunehmende Kooperation zwischen West und Ost,
Der begonnene europäische Zusammenschluß ist wohl das zukunftsträchtigste Ergebnis der tragischen Ereignisse des Jahres 1945. Er ist zugleich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die europäische Friedensordnung, die das Ziel der Politik aller europäischen Staaten sein muß, im Westen wie im Osten. Ich hoffe, man wird es überall richtig verstehen, wenn ich sage: Erst eine europäische Friedensordnung wird den Schlußstrich der Geschichte ziehen können unter das, was sich für uns Deutsche mit dem Jahr 1945 verbindet.
({2})
Präsident von Hassel: Ich danke dem Herrn Bundeskanzler.
Das Wort hat nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Freiherr von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 8. Mai ist für uns kein Feiertag. Manche möchten ihn schweigend begehen, und wir wollen sie achten. In diesem Hause aber haben wir Grund, uns offen und nüchtern den Fragen des Tages zu stellen: Was bedeutet für uns der 8. Mai 1945? Was haben wir aus dem neuen Anfang gemacht? Wie begegnen wir mit der heranwachsenden Generation den kommenden Aufgaben?
Unsere Erfahrungen mit dem 8. Mai entsprechen einander nicht. Jeder hat ihn auf eigene Weise erlebt. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Verbittert standen manche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere vor dem geschenkten neuen Anfang. Vielen von uns hat der 8. Mai wie kein zweites Datum das Bewußtsein geprägt. Andere haben überhaupt kein Interesse an diesem Tag.
Keiner möge seine persönlichen Erlebnisse zum Maßstab für alle machen. Jeder braucht Frieden und Versöhnung mit sich und seinen Nachbarn, gleichviel wie Schuld und Verdienst verteilt waren.
Es geht hier und heute auch nicht darum, im Wettbewerb Vergangenheit zu bewältigen. Bewältigen oder verfehlen läßt sich nur Gegenwart, nicht Vergangenheit. Aber wir können aus der Geschichte nicht aussteigen. Es gibt keinen Anfang am politischen Nullpunkt. Es gab ihn nicht einmal 1945. Wir können auch heute nicht noch einmal da anfangen, wo wir vor fünfundzwanzig Jahren standen, nach Osten sowenig wie nach Westen.
Zwiespältig waren die Ereignisse des Jahres 1945, und sie wirken in unserer Gegenwart fort. Der 8. Mai beendete das sinnlose Sterben und die Zerstörungen eines Krieges, der fast 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Zugleich aber begannen neue schwere Leiden für viele unschuldige Menschen.
Die Verirrungen und ruchlosen Verbrechen des Nationalsozialismus, mit denen wir selbst nicht fertig geworden waren, gingen zu Ende. Aber eine neue Zwangsherrschaft fand ihren Eingang auf deutschem Boden. Stalin drang mit seinem System in das Herz des europäischen Trümmerfeldes vor, das Hitler hinterlassen hatte. Das ganze Konzert europäischer Nationalstaaten war am Ende. An die Stelle der Allianzen des Krieges trat das labile Gleichgewicht einer bipolaren Weltsituation. Die Teilung Europas in gegensätzliche Gesellschaftssysteme und Ideologien nahm ihren Anfang.
In den Vereinten Nationen sollte die Welt eine Allianz der Friedliebenden werden. Auf eine Friedensordnung nach dem Muster von Versailles wurde verzichtet; ihre mangelnde Weisheit war noch zu frisch im Gedächtnis. Statt dessen sollten die klärungsbedürftigen Fragen offenbleiben. Der Frieden sollte sich, so meinten die Sieger, allmählich einstellen und der Macht der tatsächlichen Verhältnisse überlassen bleiben. Aber es ist nicht die Macht tatsächlicher Verhältnisse, welche Frieden schafft, sondern es ist die schmerzhafte Anstrengung und Kraft zu einem gerechten Ausgleich. Daß er damals nicht gefunden und daß alte Fehler nur um den Preis neuer Spannungen vermieden wurden, das eben kennzeichnet und belastet unsere heutige Lage.
Der Krieg hatte Haß und Feindschaft gesät. In seiner Folge aber brachte er auch alte Gegner einander näher. Zusammen mit allen Demokraten nahm Konrad Adenauer den Wiederaufbau des freien Teils Deutschlands im Zeichen der Überwinwindung historischer Gegensätze in Angriff. Konfessionelle Gräben und Klassengegnerschaft verloren ihr Gewicht. Als bleibende Verpflichtung für uns wurde die Union politischer Ausdruck dieses Gedankens, auch über den Erfolg der eigenen Partei hinaus. In der Wirtschaft unternahmen ,die Sozialpartner den Aufbau in einem konstruktiveren Klima, als wir es je zuvor hatten.
Über die Schatten der Vergangenheit hinweg boten uns freie Europäer ihre Hand zu einem neuen gemeinsamen Anfang, allen voran das französische Volk. Frühzeitig hatte schon Churchill nach einer Vereinigung Europas gerufen. Unvergessen sind bei uns Großmut und Weitblick amerikanischer Menschlichkeit, die wir mit CARE, den Quäkern und der Marshall-Hilfe verbinden. Wiedergutmachung an Juden sollte helfen, Überlebenden und Nachgeborenen wenigstens erträglich zu machen, was an begangenem Unrecht nicht auszulöschen war.
So wurde dieses Land aufgebaut auf der Basis von Menschenrecht und Gewaltverzicht. Altes Mißtrauen verschwand im Angesicht des Willens seiner Bürger und ihrer politischen Parteien. Freiheit der Person, Achtung vor dem Recht, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit führten zum Vertrauen in eine menschenwürdige Ordnung. Die Geschichte hat uns Deutschen bisher keinen besseren Start als diesen gewährt.
Aber das alles ist weder vollendet noch auf ewig garantiert. Wir müssen immer wieder von neuem um Bewährung und Verbesserung ringen.
Wir sind uns in diesem Hause über die Verantwortung der Politiker einig, Herr Bundeskanzler, Rückfälle in nationalistische Verirrungen zu vermei2568
den. Es gibt diesen Nationalismus hier nicht, und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, zu verhindern, daß er irgendwo wieder eindringt. Dazu ist eine Politik mit klaren verständlichen Zielen vonnöten, die hinter niemandes Rücken betrieben wird; denn nur dort, wo sie fehlt, kann Nationalismus gedeihen.
({0})
Niemand hat .ein lebenswichtigeres Interesse als wir Deutsche, die Spannungen in Europa abzubauen. Im Zentrum des Kontinents fällt uns die Aufgabe zu, den Weg zu einer europäischen Friedensordnung zu ebnen, die diesen Namen verdient, d. h. wir wollen mit eigenen schmerzhaften Opfern zu einem gerechten Ausgleich und Frieden beitragen, der die Menschenrechte achtet.
({1})
Mit Recht, Herr Bundeskanzler, haben Sie davon gesprochen, wie entscheidend die Mitarbeit der Vertriebenen und Flüchtlinge bei Wiederaufbau und Eingliederung in der neuen Heimat war. Aber mehr: sie, die die Heimat verloren haben, sie wollen an der Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern mitwirken, um die es uns zu tun ist. Sie werden es können, wenn sie spüren, daß wir alle mit ihnen solidarisch sind. Gemeinsam werden wir die Kraft zu Opfern und Lösungen finden, wenn uns zusammen mit den Nachbarn im Osten ein Schritt nach vorn 'gelingt.
Damals im Westen war es der Ausblick auf gemeinsame Zukunftsaufgaben, der die Aussöhnung über Vergangenes möglich machte. Es wird auch nach Osten nicht anders sein.
({2})
Nicht ein Europa der Mauern, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende nimmt, kann sich über Grenzen versöhnen und wird der Zukunft gewachsen sein.
({3})
An den Politikern in Bund und Ländern wird es vor allem liegen, ob sich schweigende Mehrheiten und nennenswerte antidemokratische Kräfte in unserem Lande bilden, von denen Sie sprachen; denn Ursachen gibt es genug, die alte und junge Menschen beunruhigen.
Die rasante Entwicklung greift in unser persönliches Leben ein. Der ganze Ablauf der Existenz droht uns Menschen undurchsichtig zu werden. Der Mensch will sich aus der befürchteten Ohnmacht ,gegenüber Technik, Verwaltung und Werbung befreien, er will nicht bloß Nummer und Konsument sein, sondern als Mensch im ganzen genommen und beansprucht werden. Aktive Kräfte der jungen Generation ziehen daraus deutliche Schlüsse. Sie wollen nicht technischen Fortschritt und privaten Wohlstand als Maßstab für Sinn und Ziel einer Gesellschaft anerkennen. Manche von ihnen mißtrauen wertfreier Toleranz in einer pluralistischen Demokratie, denn sie meinen, wir würden dadurch gleichgültig gegen Humanität und Wahrheit, kurz: sie suchen - wie andere Generationen vor ihnen auch - nach neuen Formen und Inhalten für das Zusammenleben der Menschen.
Es ist gut, daß keiner von uns zur Antwort auf ( solche Fragen Autorität einfach kraft Amtes in Anspruch nehmen kann. Autorität gewinnt nur, wer sich durch Leistung, sachliche Kompetenz und Glaubwürdigkeit immer von neuem ausweist. Autorität bewährt sich aber vor allem nicht im Nachlaufen und Begriffe-Verwirren. Sie bewährt sich darin, Recht zu nennen, was Recht ist, und dafür auch einzustehen. Nur auf 'dieser 'Grundlage gewinnen wir die freilich sehr notwendige Offenheit, die wir für die Fragen der Zeit brauchen.
Zusammen mit der heranwachsenden Generation suchen wir nach den Maßstäben für unser Gemeinwesen. Lassen Sie mich vier dafür herausgreifen.
Maßstab ist die Verständlichkeit der großen Leitbilder für unser Zusammenleben: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ihrer idealen Forderung steht unser begrenztes Menschenvermögen gegenüber. Diese Spannung können wir nicht ,aufheben; im Gegenteil, wir müssen sie in der Politik besser sichtbar machen. Denn wir brauchen ja beides: die Forderung der idealen Leitbilder mit ihrer ganz realen Kraft, uns vor der Resignation und dem platten Pragmatismus eigener Machtverwaltung zu bewahren, aber ebenso die Erkenntnis, daß keiner von uns über die Wahrheit auf dem Weg zum idealen Leitbild allein verfügt. Wir werden uns deshalb gegen die Gewaltherrschaft unduldsamer Weltbeglücker und Ideologen wehren.
Maßstab ist zweitens, wie wir den Wohlstand nutzen. Wohlstand ist nicht vom Teufel, sondern Voraussetzung für die Entfaltung des Lebens. Aber er ist nicht des Lebens Erfüllung. Maßstab ist unsere Sorge für die Menschen, die bei uns im Schatten leben. Wir müssen gerade auch in diesem Hause zeigen, daß wir imstande sind, vor allen denen zu helfen, die sich durch keine Vertreter lautstark zu Wort zu melden wissen.
({4})
Maßstab ist drittens, ob wir unserer Mitverantwortung für die Entwicklungspolitik in einer revolutionären Weltlage entsprechen. Zwei Drittel der Menschheit warten noch immer auf die Freiheit von Not, die die Gründer der Vereinten Nationen 1945 für alle angekündigt hatten. Wir sind zu einem wirksamen Beitrag für eine gerechte soziale Ordnung in der zusammenwachsenden Welt befähigt und verpflichtet.
Und Maßstab ist, ob die Bundesrepublik Deutschland die motorische Kraft zur politischen Einigung eines freien Europa wird. Es geht nicht nur um wirtschaftliche Existenz und technologische Zusammenarbeit - so wichtig sie sind -, sondern es geht schlechthin um die Frage, ob Europa noch eine nennenswerte 'Geschichte haben wird.
({5})
Hier entscheidet sich, wie wir vor unseren Kindern bestehen werden.
Der 8. Mai lehrt uns, den Frieden zu suchen mit dem Respekt vor dem unverbrüchlichen Wert der Freiheit. Wir kennen die Unfreiheit und werden
uns ihrer erwehren. Wir haben erfahren, daß die Freiheit von uns so viel fordert, wie sie uns dann auch gewährt. Es gibt keine persönliche Freiheit ohne persönliche Verantwortung. Kraft und Ausstrahlung unseres Gemeinwesens bestimmen sich nach dem Inhalt, den wir unserer Freiheit zu geben vermögen. Wir wollen sie nutzen zur Versöhnung mit allen Gegnern des letzten Krieges. Mit ihr wollen wir allen Deutschen dazu verhelfen, ihre Lebensbedingungen und ihre Beziehungen zueinander selbst frei zu gestalten.
({6})
Sie ist ,es, die uns mit Zuversicht erfüllt, daß der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich war.
({7})
Präsident von Hassel: Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Dr. Hauff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute wurde zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik am 8. Mai eine Erklärung des Bundeskanzlers abgegeben. Damit wurde die Bedeutung des 8. Mai 1945 deutlicher. Bei all den Leiden, die der zweite Weltkrieg, aber auch das Ende dieses Krieges mit sich brachten: dieser Tag war eine Chance zur demokratischen und rechtsstaatlichen Neuorientierung in Deutschland.
Die Erklärung des Bundeskanzlers war nüchtern, ehrlich und wohltuend frei von jenen pathetischen Gefühlswallungen, die es in der Vergangenheit oft schwermachten, die Situation in und um Deutschland realistisch einzuschätzen.
({0})
Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler persönlich, aber auch im Namen meiner Fraktion dafür Dank sagen.
Wenn ich heute als jüngster Abgeordneter der SPD zu Ihnen spreche, so bin ich mir wohl bewußt, daß ich wie die Hälfte der Bevölkerung in der Bundesrepublik nicht zu jener Generation gehöre, die unmittelbar am Krieg beteiligt war. Als ich geboren wurde, brachte der deutsche Militarismus bereits Unheil und Schrecken über Europa. In Ost und West, in Nord und Süd waren andere Länder durch deutsche Truppen besetzt. Mein Vater war Soldat. So sah meine Stunde Null aus. Fünf Jahre später brach die nationalsozialistische Herrschaft zusammen: Europa lag in Trümmern; doch viele Menschen atmeten auf. Aber die Hoffnungen wurden nur teilweise erfüllt. Das Kriegsende brachte keine gesicherte und friedliche Welt; die Stunde Null, das wirkliche Neubeginnen, fand nicht statt.
Wenn wir heute auf die vergangenen 25 Jahre zurückblicken, dann mag der eine oder andere voller selbstgerechter Zufriedenheit das Erreichte bestaunen. So erfolgreich der Wiederaufbau und die Aussöhnung mit dem Westen auch sein mögen, viele der gestellten Aufgaben blieben im vergangenen
Vierteljahrhundert unerfüllt oder wurden gar verdrängt. Die große Aufgabe - so hat es der Herr Bundespräsident vorgestern formuliert -, die uns am Ende des zweiten Weltkrieges gestellt war, blieb zur Hälfte ungetan. Das gilt im Innern und nach außen.
In keinem anderen Bereich ist der Widerspruch zwischen dem Auftrag unserer Verfassung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit so groß wie bei der Ausbildung und Fortbildung. Eine umfassende und grundlegende Reform unseres Bildungswesens wird dem antidemokratischen Radikalismus Einhalt gebieten. Das müssen endlich auch all jene zur Kenntnis nehmen, die uns in der Vergangenheit weismachen wollten, unsere Sicherheit sei allein von einer starken Rüstung abhängig.
({1})
Der Ruf nach Ruhe und Ordnung ist nur glaubwürdig und wird nur gehört, wenn er mit der sichtbaren Entschlossenheit gepaart ist, bestehende Mißstände zu überwinden und überfällige Reformen in die Tat umzusetzen.
({2})
Dazu brauchen wir die Mitarbeit aller. Diese Aufforderung zur Zusammenarbeit darf aber nicht zur Verschleierung politischer Gegensätze führen. Kontroversen müssen offen und fair ausgetragen werden.
Wer kann ernsthaft mit der Behandlung von Kriegsdienstverweigerern zufrieden sein? In unserer Verfassung ist das Recht auf Verweigerung des Dienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen verankert. Es ist ein Grundrecht wie jedes andere. Die Grundrechte zu schützen, ist die vornehmste Aufgabe des Staates. Dazu gehört auch, daß die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen nicht als eine Art moralisches Versagen angesehen wird. Als Politiker sollten wir mehr Mut dabei zeigen, uns auch dann schützend vor diskriminierte Minderheiten zu stellen, wenn wir deren Meinung nicht teilen.
({3})
Auch das ist gemeint, wenn wir sagen: Wir wollen mehr Demokratie wagen. Demokratisches Engagement verlangt mehr als das gönnerhafte Tolerieren von Minderheiten.
({4})
Die aktive Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber will gelernt sein.
({5})
In den vergangenen Jahren haben wir alle schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen, wie hilflos und träge unser Rechtsstaat reagiert, wenn es darum geht, unvorhergesehenes Unrecht zu überwinden. Ich meine damit die Contergan-geschädigten Kinder. Hier wurde - nicht zufällig - das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren zur Farce. Sieben Jahre wurden vertan, ohne daß diesen Kindern tatkräftig geholfen wurde. Jetzt endlich wurde
mit Unterstützung der Bundesregierung durch die Gründung einer Stiftung Abhilfe geschaffen.
({6})
Wir leben in einem geteilten Deutschland. Es gibt heute zwei Staaten in Deutschland: die Bundesrepublik und die DDR. Beide haben für den zweiten Weltkrieg bezahlt. Keiner von beiden kann aber die Verbundenheit mit der deutschen Nation vergessen machen. Beide müssen die Last und die Verpflichtung der gemeinsamen Geschichte tragen. Ihr Verhältnis zueinander ist deswegen enger, als manch einer ahnt oder gar wahrhaben will. Fritz Erler hat in diesem Hause wiederholt gemahnt: Niemand kann sich von der gemeinsamen Geschichte freisprechen oder freikaufen; es gibt keine Flucht vor der Verantwortung, die wir miteinander zu tragen haben.
Der Kalte Krieg hat es verhindert, daß. sich aus dieser Tatsache positive Ansätze für ein geregeltes Nebeneinander hätten entwickeln lassen. Die weltpolitische Lage hat sich freilich verändert. Die Welt wartet auf den deutschen Beitrag zur Sicherung des Friedens. Erfurt war ein Anfang.
({7})
- Für die vor uns liegende Wegstrecke brauchen wir viel Zeit, Herr Kollege Stoltenberg, und noch mehr Geduld.
({8})
Unsere Politik muß realistisch und moralisch sein.
({9})
Es genügt nicht, bestehende Meinungsverschiedenheiten festzuhalten; Wege müssen gefunden werden, die im beiderseitigen Interesse zu beschreiten sind und zu einem Miteinander der beiden Staaten deutscher Nation führen. Auch hier ist die uns gestellte Aufgabe noch längst nicht erfüllt.
Könnten nicht die gemeinsame Durchführung ausgesuchter Projekte in Entwicklungsländern und eine Zusammenarbeit im Bereich der Friedensforschung das Miteinander einleiten? Was in Oslo möglich ist, muß im geteilten Deutschland noch geschaffen werden. Friedenspolitik und Friedensforschung sind Zwillinge. Sie gehören zueinander und sind aufeinander angewiesen.
({10})
Das Gespräch mit der DDR hat begonnen. Obwohl Rost in den Angeln quietscht, ist die Tür jetzt einen kleinen Spalt geöffnet. Aber Mißtrauen und Verkrampfung sind noch zu überwinden. Der Weg dazu ist lang und voller Steine. Unser Verhältnis zu allen osteuropäischen Nachbarn wird sich nicht von heute auf morgen ändern lassen. Dazu braucht es Zeit. Das haben wir aus der Aussöhnung mit dem Westen gelernt. Aber es muß jetzt ein Anfang gemacht werden. Geduld und Beharrlichkeit sind dabei die besten Weggefährten.
Einige werden unterwegs die Nerven verlieren und umkehren. Ihnen sei bereits heute gesagt: die Flucht zurück in den kurzsichtigen Nationalismus bringt keine Lösungen, sondern nur neue, größere Schwierigkeiten. Das ist für mich die gesicherte Erkenntnis aus dem 8. Mai 1945.
({11})
Die Schriftstellerin Duras sagt in „Hiroshima - mon amour" : „Wenn wir uns nicht erinnern, wird sich alles wiederholen." Nur politische Hasardeure können davor die Augen verschließen. Das Gespräch mit den Staaten Osteuropas wird nur dann zum Erfolg führen, wenn wir diese Herausforderung unserer eigenen Geschichte annehmen und bereit sind, gute, für alle Beteiligten tragbare Lösungen vorzubereiten. Selbst wenn einige Leute von Anfang an behaupten, das sei eine nutzlose Vorleistung, bleibt dies eine unverrückbare Erkenntnis.
Meine Damen und Herren, wir Jüngeren können nur weiterarbeiten. Wir können nur von dem ausgehen, was uns die Väter hinterlassen haben. Das gilt im Guten und im Schlechten. Wir stehen auf den Schultern unserer Väter. Ob uns das gefällt oder nicht, es ist nicht zu ändern. Wir können, ja, wir müssen und wir werden auch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen; denn wir alle haben erlebt, wohin eine aggressive Machtpolitik treibt. Rechtsansprüche auf Wiederherstellung vergangener Verhältnisse werden für uns keine Fesseln bilden.
({12}) Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.
({13}) Illusionen dürfen wir nicht nachjagen,
({14})
erst recht dann nicht, wenn sie sich mit Kraftmeierei paaren.
({15})
Die Welt, in der wir leben und die wir mit zu gestalten haben, verlangt ein Höchstmaß an internationaler Zusammenarbeit, um den Frieden in dieser Welt sicherer zu machen. Es ist gut, daß der Deutsche Bundestag aus Anlaß des 25. Jahrestages der Beendigung des zweiten Weltkrieges zusammengetreten ist, um vor der Öffentlichkeit zu bekunden, daß dieses Land ein Land des Friedens geworden ist.
({16})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, ich spreche dem Kollegen Dr. Hauff die Glückwünsche zu seiner heutigen Jungfernrede aus.
({17})
Das Wort hat nunmehr für die FDP-Fraktion die Abgeordnete Frau Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Sich erinnern, das meint wohl in des Wortes genauer Bedeutung, daß wir das, was
wir erlebt, was wir erfahren und erlitten haben, aus der Vergänglichkeit des Augenblicks herausheben und zur inneren Erkenntnis werden lassen. So verstehe ich den Sinn dieser Stunde darin, daß wir uns fragen - nicht nur in diesem Hause -, was denn die Erkenntnisse aus der Not und aus der Chance des 8. Mai 1945 waren und sind.
Das persönliche Schicksal von Millionen und aber Millionen Menschen in unserem Volk und in vielen Völkern der Erde kann und darf nicht vergessen werden. Die Toten der Schlachtfelder, der Konzentrationslager, der Flucht und ihre Angehörigen, die Versehrten, die alleinstehenden Frauen, die Kinder, die noch als Erwachsene ihre Eltern und ihre Herkunft suchen, und die Menschen, die um ihre Heimat trauern, sie alle haben Anspruch darauf, daß wir die Rückbesinnung dieser Stunde nicht auf die geschichtliche und die politische Sicht begrenzen, daß wir vielmehr das Erbe jener dunklen Stunden unserer Geschichte auch und gerade im menschlichen Bereich als Verpflichtung aller erkennen.
Vieles ist geschehen, um die entstandene Not zu lindern, um den Neubeginn zu erleichtern, um wenigstens teilweise das Verlorene zu ersetzen. Rund 450 Milliarden DM sind in den Jahren 1948 bis 1970 für den Lastenausgleich, für die Kriegsopferversorgung, für die Wiedergutmachung, die Heimkehrerentschädigung, die Rückerstattung und für Reparationsschäden aufgebracht und verwendet worden. Dennoch bleibt an materieller Hilfe noch vieles zu tun, und es bleibt noch mehr zu tun - und das ist nicht vorrangig Sache dieses Hauses, sondern eine Frage der Mitmenschlichkeit weithin -, um Einsamkeit, um Hilflosigkeit, um Bitterkeit zu überwinden. Die menschlichen Folgen eines Krieges überdauern Jahrzehnte.
Um so unabweisbarer ist nach jenen bitteren Erfahrungen der Auftrag gestellt, alles uns Mögliche zu tun, um den Krieg zu bannen. Die Welt hatte gehofft, daß mit dem Niederringen am 8. Mai 1945 der Friede möglich sei. Diese Hoffnung hat getrogen. Und so mögen diejenigen im politischen Feld sich als bestätigt fühlen, die dia meinen, eine Weltinnenpolitik ohne Waffengewalt sei eine Utopie. Meine Herren und Damen, es gibt viele Utopien in dieser Welt, für die sich die Bemühungen nicht lohnen. Ich meine aber, für die Erhaltung und Sicherung des Friedens - auch wenn die Erfolge nur zögernd kommen - lohnt sich der rückhaltlose Einsatz.
({0})
Deutschland, geteilt und schicksalhaft in die Konfrontation zwischen Ost und West hineingestellt, trägt ungewollt eine besondere Verantwortung für den Frieden nicht nur in Europa. Die Bundesrepublik hat sich bemüht und bemüht sich in unserer Zeit verstärkt, ihren Teil der Verantwortung zu tragen. In der Charta der Vertriebenen 1950 wurde gerade von denjenigen, die unter den Folgen des Krieges besonders gelitten haben, mit der Gewaltverzichtserklärung ein Zeichen des Friedenswillens gesetzt. Wir haben auf Herstellung und Besitz von atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen offiziell verzichtet. Wir haben den Atomsperrvertrag unterzeichnet. Wir bemühen uns um Gewaltverzichtsabkommen mit unseren östlichen Nachbarn. Wir haben das Schweigen gegenüber der DDR durchbrochen.
Es gilt, den Raum, der durch die nachlassende Konfrontation der Großmächte frei zu werden beginnt, mit Formen friedlichen Zusammenlebens auszufüllen. Und es gilt zugleich, alle Bemühungen für eine beiderseitige kontrollierte Truppenminderung in Ost und West zu unterstützen.
Friede aber, meine Herren und Damen, ist nicht nur Waffenruhe, Friede ist mehr. Friedenssicherung erfordert, Spannungsursachen rechtzeitig zu erkennen und Konflikte mit friedlichen Mitteln zu überwinden. Es gehört zu den notwendigen Erkenntnissen aus unserer Geschichte, daß wir Deutsche in besonderem Maße dem Traum von der Einigkeit und Einmütigkeit nachhängen, anstatt die Wirklichkeit einer konfliktreichen Gegensätzlichkeit auf uns zu nehmen. Wir machen es uns schwer damit, ja zu sagen zum Konflikt, ja zu sagen zum Kompromiß, ja zu sagen zur Vorläufigkeit. Und nicht selten unterlassen wir es - um der Grundsätzlichkeit willen -, begrenzte, aber notwendige Lösungen zu suchen. Wo man aber die Einigkeit zu einem Ideal macht, die Gesprächsbereitschaft für Nachgiebigkeit hält und den Kompromiß für Schwäche, wo man die Andersdenkenden verketzert und das eigene Denksystem für alle verbindlich machen will, da ist man - mit oder ohne Waffen - dem Unfrieden näher als dem Frieden.
({1})
Das gilt für die Lebenserfahrenen, die ihr Stück Welterkenntnis für unwandelbar gültig halten, und das gilt für diejenigen in unserer jungen Generation, die ihre neuen Vorstellungen mit missionarischem Eifer den anderen aufzwingen wollen, statt - was übrigens wirksamer wäre - damit zu überzeugen.
Wenn wir den Sinn dieses Tages richtig und tiefer begreifen als im äußeren Geschehen vor 25 Jahren, dann müssen wir uns fragen, was geschehen ist und was noch geschehen muß, um die Spannungen aus uns selbst im Kleinen wie im Großen überwindbar zu machen. Das ist die Erziehung zum Konflikt an unseren Schulen und Bildungsstätten, das ist das Begreifen, daß Unterschiedlichkeit im Sein und im Denken nicht Last, sondern Reichtum ist, das ist die Freiheit von Ideologien, das ist das Anerkenntnis, daß sich politische Vorstellungen nicht in nur zwei Denkmodellen begrenzen lassen - wie Wahlrechtsstrategen meinen -, das ist die Toleranz, das ist das Verständnis, daß die immer schnelleren Bewegungen dieser Welt sich nicht im Technischen erschöpfen, sondern daß sie ein Mit- und Umdenken im Geistigen verlangen und den Wandel von Formen und Ordnungsvorstellungen. Und das ist schließlich die Notwendigkeit und die Bereitschaft, die Konfliktursachen zu erforschen und den Frieden zu planen.
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß wir die freiheitlichste Verfassung unserer Geschichte haben. Die Sorge ist aber, so meine ich, daß wir auch genug Menschen mit freiheitlicher - und das meint: verantwortlicher und unvoreinge2572
nommener Gesinnung haben, die dieses freiheitliche System verlangt, Menschen, die in der Ordnung dieser Welt der Vernunft mehr trauen als der Ideologie und der Emotion, die nüchtern und realistisch ihren Beitrag zum Guten in der Welt der Unvollkommenheit zu leisten bereit sind. Das heißt nicht Ziellosigkeit, und das heißt nicht Technokratie in der Politik. Im Gegenteil: das heißt Freisein für die großen Aufgaben unserer Zeit und sie mit Beharrlichkeit anstreben.
Unser Volk hat in den 25 Jahren demokratischer Nachkriegsgeschichte bewiesen, daß es nicht rechts- oder linksextremen Gruppen folgt. Sorgen wir alle miteinander dafür, daß nicht mit emotionalen Parolen Verwirrung gestiftet wird und Verirrungen möglich werden, die nur Unfreiheit und Diktatur zur Folge haben können.
({2})
Wir stehen heute an einer Wende unserer Nachkriegsgeschichte. Die Zeitphase des Wiederaufbaus nach den furchtbaren Zerstörungen des Krieges ist geistig und materiell vorbei. Eine neue Generation, die das Kriegsende nicht miterlebt hat, stellt neue Fragen und setzt neue Ziele. Ihre politische und moralische Sicht hat Weltmaßstab, und das ist gut so. Die deutsche Frage, die europäische Einigung, der Ost-West-Konflikt haben in der Verantwortung gegenüber der dritten Welt eine neue Dimension. Die Frage . des Friedens ist heute unlöslich mit der Frage verbunden, wie und in welchem Zeitmaß die sozialen Spannungen dieser Welt abgebaut werden können, wie die Partnerschaft zwischen Nord und Süd hergestellt und wirksam gemacht werden kann und wird.
Meine Herren und Damen, 25 Jahre nach dem Krieg sind die Probleme in der Welt nicht kleiner und nicht weniger geworden; im Gegenteil! Zu ihrer Lösung politisch und menschlich, wirtschaftlich und sozial beizutragen - das sollte diese Stunde erneut bewußt machen -, ist unsere Aufgabe; wie wir sie lösen, ist unser Schicksal.
({3})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes und damit der heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Dienstag, den 26. Mai 1970, 9 Uhr, ein und wünsche Ihnen allen in der kurzen Pfingstpause ein bißchen Ruhe, Entspannung und Erholung.
Die Sitzung ist geschlossen.