Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung beschlossenen Verordnungen zur Änderung des Deutschen Teil-Zollrifs
- Drucksachen VI/ 461, VI/ 476, VI/ 475, VI/ 512 Das Haus ist damit einverstanden? - Es ist so beschlossen.
1 Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr hat am 10. März 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Miltner, Dr. Jobst, Dr. Ritz, Lemmrich und Genossen betr. Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung - Drucksache VI/ 433 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/ 505 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministers der Finanzen hat am 9. März 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Fellermaier, Peters ({0}), Saxowski, Hirsch, Dr. Müller ({1}), Helms, Dr. Haack, Zebisch und Genossen betr. Bekämpfung betrügerischer Praktiken bei der Ein- und Ausfuhr von Agrarerzeugnissen im Bereich der EWG - Drucksache VI/ 439 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/ 516 verteilt.
Zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Stoltenberg idas Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU beantrage ich, unseren Antrag betr. Konjunkturpolitik der Bundesregierung auf die Tagesordnung zu setzen und die Dringlichkeit zu bejahen. Zur Begründung darf ich folgendes sagen.
Vor über drei Wochen, am 17. und 19. Februar, hat dieses Hohe Haus bei der Behandlung des Jahreswirtschaftsberichts und der ersten Lesung des Bundeshaushalts zum letztenmal die Fragen der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik erörtert. Seitdem hat es in der Öffentlichkeit außerhalb des Parlaments eine sich steigernde öffentliche und durchaus widerspruchsvolle Debatte über diese Themen gegeben, eine Debatte, geführt von Mitgliedern der Bundesregierung, mit teilweise entgegengesetzten Aussagen und Wertungen über die Erfordernisse einer Stabilitätspolitik. Dadurch ist eine zunehmende Unklarheit über die Absichten der Regierung
({0})
und eine °erkennbare Sorge in der Bevölkerung über die wirtschaftliche Entwicklung und die Preise entstanden.
({1})
Auch Mitglieder der Bundesregierung haben eine weitere politische Behandlung, die in diesem Hause erfolgen sollte, für notwendig gehalten. Ich verweise etwa auf die dramatische Rede des Bundesministers Professor Schiller am 26. Februar vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag. Er hat damals gesagt, daß durch Nachdenken allein der akute Brand noch nicht gelöscht werden könne.
({2})
Er hat gesagt, daß das Handeln nach der Maxime des kartesianischen Zweifels einen Feuerbrand weder in Rom noch in Bonn unter Kontrolle bringen könne, und er hat erklärt, daß wir mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz eine durchaus gesunde „Löschordnung" besäßen.
({3})
Wenn es aber nach Meinung des Bundeswirtschaftsministers um das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz geht, dann ist dieses Haus gefragt und dann muß es auch das Für und Wider der Maßnahmen der Regierung erörtern.
({4})
Andererseits gibt es trotz dieser Ankündigungen bis heute keine Vorlagen der. Regierung,
({5})
die eine Behandlung hier im Deutschen Bundestag auslösen würden.
({6})
Es gibt keine Begründungen und Initiativen für das, was wir in der Öffentlichkeit an unterschiedlichen Auffassungen gehört haben. Statt dessen hat die Regierung die Verantwortung ganz in den außerparlamentarischen Raum verlagert; sie hat sie der Deutschen Bundesbank aufgebürdet, die ja in ihren Entscheidungen nicht 'der Wertung und Bestätigung durch dieses Hohe Haus bedarf.
Deshalb wünschen wir, nachdem die Bundesregierung gestern an die Presse gegangen ist und ihre Erklärung nicht vor diesem Haus vertreten hat,
({7})
heute im Deutschen Bundestag eine Antwort der Bundesregierung über Stabilität, Preise und Wirtschaftszukunft auf jene drängenden Fragen zu hören, die nicht nur uns, sondern insgesamt ,die Bürger dieses Landes bewegen.
({8})
Das sind die Fragen - um nur einige zu nennen -: Welche neuen Einsichten hat die Bundesregierung über den voraussichtlichen Konjunkturverlauf des Jahres 1970, den Umfang der zu erwartenden Preissteigerungen und das Wirtschaftswachstum dieses Jahres gegenüber den doch offenbar veralteten, nicht mehr zutreffenden Angaben des Jahreswirtschaftsberichts gewonnen?
({9})
Welche Entscheidungen plant die Bundesregierung nun konkret auf Grund der Ankündigung des Bundeswirtschaftsministers, um ihre Verantwortung nach dem Stabilitätsgesetz wirkungsvoller als bisher wahrzunehmen und die Bundesbank zu unterstützen? Und wann ist nach den erstaunlichen Widersprüchen der letzten Wochen nun mit der Finanzierung ,der Konjunkturausgleichsrücklage aus Steuermitteln
({10})
und mit weiteren konkreten Vorschlägen der Bundesregierung zur Haushaltspolitik im Interesse der Stabilisierung zu rechnen?
({11})
Eine solche Debatte über diese Fragen ist nach unserer Überzeugung hier und heute notwendig - über den begrenzten Rahmen der Fragestunde und der Aktuellen Stunde hinaus. Deshalb glauben wir, daß eine solche Diskussion auch nicht der Beunruhigung dient, wie offenbar die Regierung meint, wenn ich ihre gestrigen Äußerungen richtig verstehe, sondern daß sie der Klärung dient.
({12})
Und Klarheit, Transparenz, Durchsichtigkeit der Absichten und Ziele
({13})
ist die Voraussetzung für Beruhigung, ({14})
die Voraussetzung für Sicherheit in den künftigen Entscheidungen der autonomen Wirtschaftspartner.
({15})
Deshalb bitten wir Sie, Herr Kollege Wehner, die Dringlichkeit zu bejahen und hier eine offene, zeitlich nicht begrenzte Debatte mit Für und Wider zu ermöglichen.
({16})
Meine Damen und Herren, es ist beantragt, den Antrag der Abgeordneten Dr. Müller-Hermann, Dr. Stoltenberg und der Fraktion der CDU/CSU - Drucksache VI/ 511 - auf die Tagesordnung zu setzen. - Das Wort dazu? - Bitte schön, Herr Kollege Lenders!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht nur im Namen von fünf Mitgliedern dieses Hauses - wie es die Geschäftsordnung verlangt -, sondern im Namen der beiden Koalitionsfraktionen der FDP und SPD widerspreche ich unter Bezugnahme auf § 26 der Geschäftsordnung
({0})
der Aufsetzung dieses Antrages der CDU/CSU auf die heutige Tagesordnung.
({1})
- Sie beruhigen sich noch!
({2})
Meine Damen und Herren, für diese Ablehnung sind folgende Gründe maßgebend, und dabei, Herr Kollege Stoltenberg, geht es ja gar nicht um Ihre ( Zitatensammlung, sondern es geht um den Antrag, um den Inhalt des Antrages, über den wir heute hier Ihrer Meinung nach debattieren sollen. Da muß ich sagen, denn das ist einer unserer Gründe: der vorliegende Antrag hat doch keinerlei Substanz!
({3})
Die Opposition fordert erneut - wie wir das ja schon bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht erlebt haben,
({4})
Herr Müller-Hermann - Maßnahmen in unbestimmter. Weise ohne die geringste Konkretisierung.
({5})
Wir sind der Meinung, ein solcher Antrag muß zunächst einmal als Eingeständnis der Opposition gewertet werden, daß sie selbst zu dem gemeinsamen Stabilitätsprogramm von Bundesregierung und Bundesbank keine Alternative besitzt.
({6})
Ich finde, es ist für die konjunkturpolitische Diskussion in der Bundesrepublik sicherlich nützlich, daß Sie mit Ihrem Antrag den Beweis, daß Sie kein eigenes Konzept haben, noch einmal antreten.
({7})
Aber gerade aus diesem Grunde lehnen wir es ab, die heutige Tagesordnung mit Ihrem Antrag zu belasten.
({8})
Ihr Versuch, meine Damen und Herren der Opposition - das ist ein weiterer Grund -, sich jetzt in die konjunkturpolitische Debatte einzuschalten, kommt ausgesprochen zu spät.
({9})
Die Koalitionsfraktionen sind der Auffassung, daß Bundesregierung und Bundesbank gemeinsam die Maßnahmen ergriffen haben, die die gegenwärtige überhitzte Konjunkturlage erfordert.
({10})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben mit diesem Antrag zur Konjunkturpolitik, den Sie jetzt vorlegen - und das trifft im übrigen auch für Ihre Fragen zu, die Sie zur Fragestunde gestellt haben -, nicht nur nichts zu bieten, Sie hinken auch ganz eindeutig hinter den sich gegenseitig erganzenden konjunkturpolitischen Maßnahmen von Bundesregierung und Bundesbank her.
Es gibt noch einen Grund, weshalb wir Ihren Antrag als gegenstandslos betrachten.
({11})
So wie er formuliert ist, unterstellen Sie doch in die sem Antrag der Bundesregierung, sie habe das Stabilitätsgesetz bisher nicht angewendet,
({12})
und diese Unterstellung, meine Damen und Herren, ist schlicht falsch. Sowohl die Aufwertung als auch der antizyklische Haushaltsvollzug - das wissen Sie sehr genau, meine Damen und Herren von der Opposition - basieren auf dem Stabilitätsgesetz.
({13})
Diese Maßnahmen der Bundesregierung wurden im Bereich der Geld- und Kreditpolitik durch die für diesen Bereich zuständige Institution ergänzt.
Für uns, meine Damen und Herren, für die Koalitionsfraktionen drängt sich daher auf Grund Ihres Antrags die Frage auf, welchen Sinn und welchen Zweck Sie damit verfolgen.
({14})
Ich meine, darauf kann es für jeden Einsichtigen nur folgende Antwort geben.
({15})
- Nein, Sie täuschen konjunkturpolitische Aktivität vor, um Ihre Konzeptionslosigkeit zu überdecken. Das ist der eigentliche Grund.
({16})
Nur, meine Damen und Herren - das ist das, was wir bedauern -, der Effekt solcher Manöver ist leider der, daß sie erneut Unruhe in die Wirtschaft hineintragen.
({17})
Unsere Meinung - meine Damen und Herren, hören Sie mal gut zu! -, die Meinung der Koalitionsfraktionen ist folgende. - Wenn Sie nachher mit uns diskutieren wollen, müssen Sie sich unsere Meinung ja einmal anhören. - Unsere Meinung ist: die Entscheidungen von Bundesregierung und Bundesbank sind gefallen,
({18})
und sie sind der konjunkturpolitischen Lage angemessen.
({19})
Meine Damen und Herren, daran müßten doch auch Sie interessiert sein: Die Wirtschaft muß jetzt die Möglichkeit haben, sich auf diese neuen Daten einzustellen.
Au diesen Gründern, meine Damen und Herren, können Sie von den Koalitionsfraktionen nicht verlangen und nicht erwarten, daß sie der Beratung Ihres Antrags zustimmen.
({20})
Meine Damen und Herren, über diesen Antrag muß mit Mehrheit abgestimmt werden. Es genügt nicht der Widerspruch von fünf Kollegen, da - und das möchte ich wörtlich zitieren - in einer Ergänzung zur Geschäftsordnung festgelegt worden ist:
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat vom 26. April 1955 kann, wenn Einmütigkeit über die Aufsetzung eines Punktes auf die Tagesordnung im Ältestenrat nicht erzielt wird, jedes Mitglied vor Aufruf des Punktes 1 der gedruckten Tagesordnung Aufsetzung auf die Tagesordnung beantragen. In diesem Falle findet § 26 Abs. 3
- das bezieht sich auf den Widerspruch von fünf Mitgliedern keine Anwendung, sondern über den Antrag
wird durch Mehrheitsbeschluß entschieden.
Ich bitte daher diejenigen, die dem Antrag zustimmen, um das Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. ({0})
Meine Herren und Damen, im Präsidium herrscht keine Einmütigkeit. Wir müssen auszählen.
Ich gebe das Ergebnis bekannt. Abgegeben wurden 402 Stimmen. Mit Ja haben sich 174, mit Nein 228 Abgeordnete entschieden; keine Enthaltung.
({1}) Damit ist der Antrag abgelehnt.
({2})
Vizepräsident Frau Funcke Ich bitte um Ruhe.
({3})
Meine Damen und Herren, ich bitte die Diskussion über das Ergebnis draußen zu führen, damit wir in Ruhe in der Behandlung der Tagesordnung fortfahren können.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
- Drucksachen VI/ 480, VI/ 501 Auf Drucksache VI/ 501 liegt eine Dringliche Mündliche Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft vor. Zum gleichen Fragenkomplex liegen drei Fragen vor, die normal eingereicht worden sind.
Ich rufe zunächst die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann auf:
Was versteht die Bundesregierung unter der Ankündigung, die Bundeswirtschaftsminister Schiller im Zusammenhang mit der Konjunkturlage anläßlich der Eröffnung der Frankfurter Frühjahrsmesse am 22. Februar 1970 mit den Worten traf „Die Situation ist da."?
Herr Bundesminister für Wirtschaft, bitte schön!
({4})
'Dr. Schiller, Bundesminister für Wirtschaft: Frau Präsidentin, darf ich eine Frage an Sie richten: Sollte ich nicht zuerst die Dringliche Mündliche Frage beantworten?
Herr Bundesminister, es entspricht der Übung, daß bei Vorliegen von Dringlichen Mündlichen Fragen die Fragen, die von den Abgeordneten in der normalen Zeit eingereicht worden sind und den gleichen Fragenkomplex betreffen, vorgezogen werden. Aus diesem Grunde folgt die Dringliche Mündliche Frage auf Drucksache VI/ 501 den Fragen 56, 57 und 58. Das entspricht der Übung dieses Hauses.
Frau Präsidentin, ich beantworte damit die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Hermann-Müller.
({0})
- Entschuldigung, Herr Dr. Müller-Hermann. Es war aber eine gut gemeinte Fehlleistung.
Herr Kollege Müller-Hermann, mir ging es bei meiner Frankfurter Rede darum, darzulegen, daß auf dem Gebiet der Preisentwicklung vor allem im Bereich der industriellen Erzeugerpreise, eine ernst zu nehmende Situation eingetreten ist, die es erforderlich macht, daß ein weiteres konjunkturpolitisches Dämpfungssignal gegeben wird, sei es durch die Bundesregierung, sei es durch die Deutsche Bundesbank.
Die Bundesregierung ihrerseits teilt diese meine Einschätzung der Lage. Die zusätzlichen Dämpfungsmaßnahmen durch die Bundesbank sind inzwischen ergriffen worden, und zwar nach Abstimmung zwischen Bundesregierung und Bundesbank im Zentralbankrat.
Meine Lagebeurteilung vom 22. Februar, auf die Sie sich in Ihrer Frage beziehen, wurde inzwischen durch die Bundesbank in ihrem neuesten Monatsbericht vom März bestätigt. Es heißt dort wörtlich:
Es ist verständlich, daß die Offentlichkeit auf derartige Preiserhöhungen,
- weiter wörtlich auch wenn sie ihre Ursache zum guten Teil in der Vergangenheit haben, empfindlich reagiert, zumal die Erzeugerpreise der Industrie bisher anders, als es normalerweise der Fall zu sein pflegt, nicht schwächer, sondern erheblich stärker als die Lebenshaltungskosten gestiegen sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Minister, würden Sie es mir sehr verargen, wenn ich mich bei Ihrem Stoßseufzer „Die Situation ist da" an die Rede erinnert fühlte, die Sie vor der Bremer Eiswette gehalten haben, wo Sie von dem „drohenden Liquiditätskollaps der Wirtschaft sprachen und ich das in einen Zusammenhang mit der Entscheidung der Bundesbank brachte?
Ich sehe durch die Entscheidung der Bundesbank nicht die Gefahr eines Liquiditätskollapses gegeben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten van Delden.
van Delden ({0}) : Herr Bundesminister, sind Sie sich bei der Beurteilung der Lage darüber im klaren, daß es global - cum grano salis - zwar so stimmen mag, daß aber sektoral solche Unterschiede bestehen, daß Sie unter Umständen mit den Maßnahmen - insbesondere bezogen auf die Liquidität -, die Herr Kollege Müller-Hermann angeführt hat, regional in Schwierigkeiten kommen können?
Herr Kollege, Sie selber haben ja mit Ihren Anträgen und mit Ihren Anfragen auf weitere stabilitätspolitische Maßnahmen hingewiesen. Jede stabilitätspolitische Maßnahme wird den einen oder anderen in diesem Lande ärgern und ihm Schmerzen bereiten.
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten van Delden.
van Delden ({0}) : Herr Bundesminister, darf ich auf Grund Ihrer Antwort noch einmal fragen: Es geht nicht um „den einen oder anderen"; ich habe bewußt „sektoral" gesagt, und regional wird das unter Umständen in große Schwierigkeiten einmünden.
Wenn wir mit dem unmittelbar durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gegebenen Instrumenten vorgegangen wären, hätten wir ebenfalls weder sektorale noch regionale Ausnahmen machen können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Frerichs.
Herr Bundeswirtschaftsminister, sind Sie sich dessen bewußt, daß diese einmalig hohe Diskonterhöhung, die eine Art Fallbeil darstellt - Sie wissen, wer ,das gesagt hat -, insbesondere die Mittel- und Kleinbetriebe in der Wirtschaft trifft und daß hier schon Spannungen vorhanden sind, die nicht mit einer globalen Diskontpolitik bereinigt werden können, sondern zusätzliche Maßnahmen der Bundesregierung herausfordern?
Sehr verehrter Herr Kollege, ich bin der Meinung, daß in einer Zeit der überschäumenden Konjunktur, in einer Zeit eines ungebändigten Booms, der durch die Versäumnisse des vorigen Jahres veranlaßt ist,
({0})
heute am meisten die Klein- und Mittelbetriebe in Bedrängnis geraten, weil sie beim Kampf um jede Arbeitskraft auf jeden Fall den kürzeren ziehen. Erst eine Dämpfung der Gesamtnachfrage schafft den kleinen und mittleren Betrieben wieder die Chance der Gesundung. Deshalb ist jede stabilitätspolitische Maßnahme heute, auch wenn sie unmittelbar für den einen oder anderen unbequem ist, zuallererst eine Hilfe für die Klein- und Mittelbetriebe.
({1})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dasch.
Herr Bundesminister, sind Sie sich nicht darüber klar, daß die Kreditverteuerung, die durch die Maßnahmen der Bundesbank verursacht wurde, besonders den kleinen Mittelstand, die Landwirtschaft und vor allen Dingen auch den Wohnungsbau, insbesondere den privaten Wohnungsbau, auch den Eigenheimbau, trifft?
Wir werden in diesem Jahr, was den Wohnungsbau betrifft, ein Ergebnis bekommen, das sich sehr wahrscheinlich noch positiv von den Ergebnissen in den Vorjahren abhebt.
({0})
Im übrigen besteht die Maßnahme der Bundesbank darin, in einer Zeit, in der viele Unternehmer ihre Gewinnmargen aus dem Jahre 1969 über Preiserhöhungen auch im Jahre 1970 zu verteidigen versuchen, gegen diese Verteidigung der Gewinnmargen, die überholt sind, anzugehen. Da gibt es verschiedene Mittel. Ein Mittel, den Unternehmern in diesem Fall ein Marktverhalten beizubringen, das der neuen Situation einer zu dämpfenden Konjunktur entspricht, ist die Diskonterhöhung. Es gibt andere Mittel; aber das ist ein Mittel.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vogt.
Herr Bundesminister, darf ich Ihre Bemerkung, die augenblicklichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten seien die Folge von Versäumnissen des letzten Jahres, dahingehend interpretieren, daß Sie die Zeitperiode zwischen der Aufwertung und Ende des Jahres meinen, in der es die Bundesregierung versäumt hat, zusätzliche konjunkturpolitische Maßnahmen zu ergreifen?
({0})
Ich darf die Rückfrage stellen -ich weiß nicht, ob es erlaubt ist -: meinen Sie expansive oder restriktive Maßnahmen?
({0})
Herr Minister, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen hier ein konjunkturpolitisches Programm darzustellen. Aber Sie stimmen sicherlich mit mir darin überein, daß die Bundesregierung seit der Aufwertung keine zusätzlichen konjunkturpolitischen Maßnahmen ergriffen hat.
({0})
Ich war nicht so kühn, Herr Kollege, von Ihnen hier ein Programm zu verlangen; so ehrgeizig bin ich gar nicht. Ich wollte nur eine klare, präzise Frage von Ihnen.
({0}) Ich erinnere Sie an die Aufwertung.
({1})
- Ja, ich erinnere Sie an die Aufwertung. Und ich erinnere daran, daß bis in den Dezember hinein der Aufwertungssatz als sehr hoch, ja oft als zu hoch empfunden wurde.
({2})
- Natürlich ist das eine Antwort.
({3})
Ich kann nun nicht alle Gedanken mit einem einzigen Wort ausdrücken. Ich muß hier wohl nach und nach meinen Gedankengang vortragen.
In dieser Zeit gab es eine Fülle von Stimmen, von Anträgen auf konjunkturpolitische Maßnahmen im anderen Sinne, nämlich im expansiven Sinne: Ausgleichszahlungen zu leisten - ich denke nicht an die Landwirtschaft, sondern an viele andere Branchen -, d. h. expansive Programme zu entwickeln. Die Bundesregierung hat ihre erste konjunkturpolitische Tat vollbracht, indem sie bei dem Beschluß zur Aufwertung derartige Ausgleichszahlungen, die die Konjunktur noch angeheizt hätten, abgelehnt hat. Das ist das erste.
Zum zweiten haben wir ab Mitte Dezember, als wir sahen, daß die Inlandsnachfrage sich in dem bekannten Sinne weiterentwickelte, Maßnahmen für das Jahr 1970 vorbereitet - sie sind Ihnen bekannt -, Maßnahmen fiskalpolitischer Natur: die Konjunktursperren, die Konjunkturausgleichsrücklage, ab 1. Januar die restriktive vorläufige Haushaltsführung usw. Das ist unser Stabilisierungsprogramm.
Als sich im Februar herausstellte, daß es ergänzt werden mußte, haben wir in Arbeitsteilung mit der Bundesbank ein weiteres Mittel gefunden, nämlich das Handeln der Bundesbank.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schulze-Vorberg.
Herr Bundesminister, da Sie die jüngsten Wirtschaftsmaßnahmen der Bundesregierung als mittelstandsfreundlich darzustellen versuchten, darf ich fragen: sind Sie in allem Ernst der Meinung, daß der höchste Diskontsatz, den es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher gibt - der durch Ihre Tätigkeit mit heraufbeschworen wurde -, eine mittelstandfreundliche Maßnahme ist?
Herr Kollege, ich muß mich gegen Ihren Relativsatz wenden. Der Zentralbankrat beschließt in völliger Unabhängigkeit, in völliger Autonomie. Kein Minister hat das heraufbeschworen.
({0})
- Ich halte jede Stabilitätspolitik in dieser Hochkonjunktur für mittelstandsfreundlich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Fuchs.
Herr Bundesminister, würden Sie mir darin zustimmen, daß in den strukturschwachen Gebieten, vor allem im Zonenrand- und Grenzgebiet, keine Überhitzung der Konjunktur festzustellen ist und daß dort der ungewöhnlich hohe Diskontsatz zu nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten gerade des mittelständischen Bereichs führt, da dort ja auch die Aufwertungsfrage von besonderer
Bedeutung ist? Was werden Sie tun, um hier zu helfen?
Sie sind sicherlich mit mir der Meinung, daß wir ein einheitliches Wirtschafts- und Währungsgebiet darstellen, daß also geldpolitische Maßnahmen für das gesamte Wirtschaftsgebiet zu gelten haben. Ausnahmen können da nicht gemacht werden, übrigens auch nicht beim Stabilitätsgesetz. Aber ich füge hinzu: Die Bundesregierung hat an die Bundesausbaugebiete, an alle Gebiete, die einer besonderen strukturpolitischen Förderung bedürfen, gedacht, indem sie in den entsprechenden Haushaltspositionen die Ansätze im Haushalt 1970 nicht nur nicht gekürzt oder gesperrt, sondern noch erhöht hat.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiechle.
Herr Bundesminister, muß Ihre Formulierung von vorhin, die besagte, daß es verschiedene Mittel gebe, um den Unternehmern Marktverhalten beizubringen, als eine Kampfansage an die deutschen Unternehmer verstanden werden?
({0})
Keineswegs eine Kampfansage! Die Diskonterhöhung und die übrigen Maßnahmen der Deutschen Bundesbank sind legitime marktkonforme Maßnahmen, und das, was vom Zentralbankrat beschlossen worden I ist - in eigener Meinungsbildung, autonom und unbeeinflußt , sollte allerdings so aufgefaßt werden, wie die Herren es gedacht haben, nämlich als ein Warnsignal an alle, die es angeht.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kiep. - Wir haben ja noch mehrere Fragen zu diesem Thema, so daß jeder drankommen kann.
({0})
- Nein, es hat jeder nur eine Zusatzfrage. - Bitte schön, Herr Leisler-Kiep!
({1})
Herr Bundesminister, zum Stichwort „Versäumnisse der Vergangenheit" möchte ich Sie fragen, ob wir damit rechnen müssen, daß Sie in der Ihnen vërbleibenden Amtszeit, also in den kommenden drei Jahren,
({0})
bei allen konjunkturpolitischen Problemen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten diese Schwierigkeiten nicht etwa auf Fehlprognose oder Nichtstun des Wirtschaftsministers zurückführen, sondern in den kommenden drei Jahren bei jeder solchen Gelegenheit .auf Versäumnisse der Vergangenheit hinweisen werden?
({1})
Dr. Schiller, Bundesminister für Wirtschaft: Ich glaube, Herr Kollege, „Fehlprognosen"
({2})
in diesem Zusammenhang zu erwähnen - das ist ein weites Feld. Ich erinnere Sie an folgendes, gerade weil hier immer wieder gesagt worden ist, es hätte mit der D-Mark-Aufwertung gleichzeitig ein restriktives Stabilisierungsprogramm eingesetzt werden müssen: es gab umgekehrte Prognosen. Ich erinnere an eine Antwort des damaligen Bundesfinanzministers, des Kollegen Dr. Strauß, vom September vorigen Jahres auf eine Anfrage des Herrn Abgeordneten Porzner, ob es stimme, daß mit einer Aufwertung der D-Mark unmittelbar die deutschen Arbeitsplätze in Gefahr geraten würden. Herr Kollege Strauß hat damals als Bundesfinanzminister - ohne Fühlungnahme mit dem damaligen Wirtschaftsminister - geantwortet: jawohl, die These der CDU/CSU stimme, mit einer Aufwertung, die über die 4% des Absicherungsgesetzes hinausginge, würden Arbeitsplätze in weitem Umfange in der deutschen Wirtschaft gefährdet.
({3})
- Ich kann es Ihnen gleich verlesen, wenn Sie es haben wollen. Sie bieten mir ja so viel Chancen, noch viele Zitate zu geben. Damit sehen Sie, was es mit Prognosen auf sich hat. - Wenn es wörtlich verlangt wird, darf ich es verlesen. Herr Kollege Strauß hat am 16. September geantwortet:
Die Bundesregierung
- so seine Meinung teilt die von der CDU und CSU in Presseanzeigen vertretene Auffassung, daß eine über die Sätze des Absicherungsgesetzes hinausgehende Aufwertung der D-Mark Arbeitsplätze gefährden würde.
Das war eine ganz andere Prognose.
({4})
- Na hören Sie mal! Seitdem ist der Boom ungebrochen weitergegangen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir haben noch drei Fragen aus diesem Bereich. Ich bitte damit einverstanden zu sein, daß wir jetzt weitergehen. Ihre Wortmeldung kann zur nächsten Frage ebensogut kommen. Zudem bin ich sehr im Zweifel, ob alle die Zusatzfragen, die soeben gestellt wurden, noch in engem Zusammenhang mit der aufgerufenen Frage standen.
({0})
Ich wäre dankbar, wenn wir uns ein wenig daran hielten.
Nunmehr rufe ich die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Dr. Luda auf:
Wie glaubt die Bundesregierung es verantworten zu können, daß sie sich in der Sitzung des Wirtschaftskabinetts vom 27. Februar 1970 und in der Sitzung des Gesamtkabinetts vom 5. März 1970 nicht hat einigen können, zusätzliche Maßnahmen zur Preisstabilisierung zu ergreifen, obwohl vor allem die Deutsche Bundesbank die verstärkte Anwendung des Stabilitätsgesetzes gefordert hatte?
Frau Präsidentin, es ist mir hoffentlich erlaubt, die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Dr. Luda gemeinsam zu beantworten.
Einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Luda auf:
Wie glaubt die Bundesregierung das Vertrauen des Verbrauchers, des Sparers und der Wirtschaft wiederherstellen zu können, das sie selbst zerstört hat, indem sie in der Konjunkturpolitik erst eine dreimonatige Pause eingelegt und danach sich als handlungsunfähig erwiesen hat, wodurch ihr die Kontrolle über die Preisentwicklung verlorengegangen ist?
Die Antwort auf Frage 57 lautet: Der Kabinettsausschuß für Wirtschaft der Bundesregierung kam in seiner Sitzung vom 27. Februar 1970 zu dem Ergebnis, daß es am zweckmäßigsten sei, über zusätzliche Maßnahmen zur Preisstabilisierung gemeinsam mit der Deutschen Bundesbank in der darauffolgenden Zentralbankratsitzung am 6. März zu beraten. Zu diesem Zweck wurde vorgesehen, daß Herr Kollege Möller und ich an der Zentralbankratsitzung am 6. März teilnehmen würden. Der Herr Bundesbankpräsident und ein Mitglied des Bundesbankdirektoriums, die an .der Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft teilnahmen, hielten das ebenfalls für das beste Verfahren.
Am 6. März wurden dann in Übereinstimmung mit den Überlegungen der Bundesregierung die bekannten kreditpolitischen Beschlüsse gefaßt, deren Wirksamkeit aber nur in Verbindung mit der D-MarkAufwertung gegeben ist; denn gerade diese D-MarkAufwertung hat der Kreditpolitik der Deutschen Bundesbank überhaupt erst wieder ihre neue Handlungsfähigkeit gegeben. Wir haben mit diesem Vorgang eine gemeinsame, zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Bundesbank abgesprochene Stabilisierungsaktion erreicht.
({0})
Bitte schön, eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Luda!
Herr Minister, wie können Sie diese Antwort mit der Äußerung des Mitglieds des Bundesbankpräsidiums, Dr. Irmler, nach ,der Diskonterhöhung vom 6. März in Übereinstimmung bringen, der nach der Zentralbankratssitzung gesagt hat: Besser wäre es allerdings gewesen, wenn vorher die Bundesregierung gehandelt hätte?
Herr Kollege Luda, wissen Sie, welche Maßnahme nach der Meinung von Herrn Dr. Irmler ökonomisch mög1878
licherweise besser gewesen wäre als eine Diskonterhöhung?
({0})
Ich bin nicht ganz
sicher, ob die Fragestunde „rückwärts" gemeint ist.
({0})
Vielleicht können Sie umgekehrt in Form einer Frage eine Antwort geben, Herr Dr. Luda.
({1})
Ich bitte um Verzeihung; ich dachte, wir wären schon in einem Dialog.
({0})
Bitte schön, Herr
Soweit ich weiß, meinte Herr Dr. Irmler eine Maßnahme auf Grund des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes.
({0})
- Auf Grund eines bestimmten Paragraphen. Es
würde mich heute an diesem Tage, wo ja nun Erkenntnisse zutage kommen sollen, außerordentlich
interessieren, ob Sie etwa § 26 anwenden würden.
({1})
Dies war eine rhetorische Frage. Sie brauchen sie nicht zu beantworten, Herr Kollege Dr. Luda. Bitte, eine Zusatzfrage!
({0})
Eine weitere Zusatzfrage. Herr Minister, sind Sie nicht nach ernstlicher Überprüfung dessen, was Sie bisher geantwortet haben, der Meinung, daß in Wahrheit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Professor Kloten, beizupflichten ist, der erklärt hat, Bonn müsse handeln: „denn es geht jetzt um die Glaubwürdigkeit der Regierung" ? Nach der Diskonterhöhung hat er gesagt: „Sie kommt zu spät und ist ein Resultat der Ohnmacht dieser Regierung."
Ich I kann Ihnen noch einmal darauf antworten, Herr Dr. Luda: die Maßnahme der Deutschen Bundesbank ist in Arbeitsteilung und in Abstimmung mit der Bundesregierung erfolgt.
({0})
- Nein.
({1})
- Ja, natürlich.
({2})
Meine Damen und Herren, Herr Dr. Luda hat das Recht zu fragen, und der Herr Bundesminister ist bereit, zu antworten. So ist hier die Geschäftslage. Bitte schön, Herr Dr. Luda!
Darf ich feststellen, daß auf meine beiden bisherigen Fragen der Minister keine Antwort zu geben gewußt hat?
({0})
Herr Luda, darf ich noch eine Zusatzantwort geben?
({0})
- Herr Luda, wenn Sie die große Güte hätten, mir zuzuhören!
({1})
Natürlich gibt es ökonomisch bessere und weniger gute Mittel. Das weiß auch der Zentralbankrat, und das wissen wir alle. Es gibt Mittel, die ökonomisch besser, aber politisch weniger gut sind.
({2})
- Jawohl!
({3})
- Herr Kollege Luda, das hat überhaupt nichts mit Landtagswahlen zu tun.
({4})
Meine Damen und Herren, ich bitte jetzt nachdrücklich darum,
({0})
daß die Zusatzfragen in engem Zusammenhang mit den Fragen stehen. Die Feststellungen von Mitgliedern des Zentralbankrates sind nicht in dieser Frage enthalten, Herr Dr. Luda, und stehen deswegen nicht zur Diskussion.
({1})
- Sie haben noch eine Frage.
Zu Frage 58! Herr Minister, sind Sie nicht nach ernstlicher Überprüfung Ihres bisherigen Standpunktes der Meinung, daß auch in einem weiteren Punkt dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Kloten, recht zu geben ist, der erklärt hat, das Versäumnis der sozialliberalen Koalition, der Aufwertung ein binnenwirtschaftliches Stabilitätsprogramm nachzuschieben, werde diesen Preisaufstieg auf mehr als 4 % im Jahre 1970 treiben?
Herr Kollege Luda, ich kenne diese Äußerung von Herrn Kloten nicht im Wortlaut, ich kenne sie nur aus der Presse. Ich kann Ihnen nur eines sagen: ein Sondergutachten des Sachverständigenrates zu diesem Punkt liegt nicht vor. Vielleicht bekommen wir eines. Aber eines kann ich Ihnen mit aller Deutlichkeit sagen: das Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist dem Hohen Hause am 20. November 1969 übermittelt worden. In diesem Jahresgutachten ist kein Wort von der Notwendigkeit eines binnenwirtschaftlichen Stabilisierungsprogramms zu finden, das parallel zu der inzwischen stattgehabten Aufwertung der D-Mark hätte in Kraft gesetzt werden müssen. Nur das darf ich Ihnen mitteilen.
Eine letzte Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Luda.
Herr Minister, sind Sie nicht bereit, zuzugeben, daß der Sachverständigenrat in diesem Jahresgutachten zu einer konzertierten Aktion aller Beteiligten einschließlich der Bundesregierung aufgefordert hatte, die dann aber in keiner Weise zustande gekommen ist?
Die konzertierte Aktion aller Beteiligten ist zustande gekommen, und sie arbeitet weiter, selbstverständlich!
({0})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dasch.
Herr Bundesminister, Sie 1 sprachen vorher von den ökonomisch guten, aber politisch weniger guten Mitteln. Haben Sie die nach Ihrer Meinung ökonomisch besseren Vorschläge in der Bundesregierung und bei den Koalitionsfraktionen nicht durchsetzen können?
Ich kann Ihnen nicht über die Vorschläge berichten, die im Bundeskabinett im einzelnen dargelegt worden sind. Ich kann Ihnen nur das gemeinsame Ergebnis der Beratungen in der Bundesregierung mitteilen. Das ist Ihnen bekannt.
({0})
Keine weitere Zusatzfrage.
({0})
- Die Fragen 57 und 58 sind zusammen behandelt worden.
({1})
Herr Dr. Luda hat die Fragen 57 und 58 gestellt; sie sind beantwortet.
({2})
Herr Dr. Luda hat vier Zusatzfragen gestellt. Ich bitte um Verständnis, Herr Dr. Luda. Wenn Sie später noch eine Frage zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft haben, wird sie aufgerufen. Im Augenblick geht es um den Sachzusammenhang mit der Konjunkturpolitik.
({3})
- Nein, hier wird nicht diskutiert.
({4})
- Ich habe sie gemeinsam mit der Frage 57 aufgerufen, und darauf ist geantwortet worden.
({5})
- Herr Dr. Luda, Sie haben zur Dringlichkeitsfrage die Gelegenheit, erneut zu fragen. Ich bin bereit, Ihnen in diesem Fall zwei Zusatzfragen zu konzedieren.
Ich rufe jetzt die Dringlichkeitsfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann auf:
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung angesichts ihrer Verpflichtungen aus dem Stabilitätsgesetz zur Bekämpfung der anhaltenden Preissteigerungen zu ergreifen, damit die Last der Konjunkturdämpfung nicht auf den Schultern der Deutschen Bundesbank liegen bleibt?
Bitte schön, Herr Minister!
Frau Präsidentin, ich darf auf die Dringlichkeitsfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann folgendermaßen antworten.
Die Bundesregierung ist in der Tat der Meinung, daß die Preisentwicklung gedämpft werden muß. Die Bremsen, die dem Preisanstieg Einhalt gebieten sollen, sind angezogen. Bei dem einmal gegebenen Bremsweg, den preisdämpfende Maßnahmen haben, wird es allerdings noch eine Zeit dauern, bis die notwendige Beruhigung eingetreten ist. Die Bundesregierung ist im übrigen davon überzeugt, daß der Preisauftrieb nie das gegenwärtige Tempo erreicht hätte, wenn die Mehrheit der alten Bundesregierung im vergangenen Jahr ihre Verpflichtungen aus § 4 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes erfüllt hätte.
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Die Last der Konjunkturdämpfung liegt diesmal, im Jahre 1970, im Gegensatz zu ähnlichen Situationen früherer Jahre, z. B. 1966, keineswegs allein auf den Schultern der Deutschen Bundesbank; vielmehr gehen Bundesregierung und Bundesbank - darauf bezog sich die Frage von Herrn Dr. Müller-Hermann - bei ihren Bemühungen um Preisstabilität konzertiert vor. Die markanten Punkte der gemeinsamen Stabilisierungsaktion sind einerseits die D-Mark-Aufwertung vom 24. Oktober 1969, die Konjunktursperren in Höhe von 2,7 Milliarden DM beim Bund und von über 1 Milliarde DM bei den Ländern, die obligatorischen Konjunkturausgleichsrücklagen bei Bund und Ländern mit zusammen 2,5 Milliarden DM, der zeitweilige Aufschub von Steuererleichterungen sowie andererseits die seit Beginn dieses Jahres wirksame restriktive vorläufige Haushaltsführung.
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Alle diese Maßnahmen der Regierung entsprechen dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Zu diesen Maßnahmen der Bundesregierung, die fast alle im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ihre Begründung finden, traten die kreditpolitischen Beschlüsse des Zentralbankrates vom 6. März hinzu. Dabei wurden - ich wiederhole das noch einmal - mit der D-Mark-Aufwertung durch die Bundesregierung überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß das Instrumentarium der Bundesbank heute wieder wirkungsvoll eingesetzt werden kann. Wir operieren in kompletter und wohlabgestimmter Arbeitsteilung zwischen Bundesregierung und Bundesbank. Die erwähnten Beschlüsse des Zentralbankrates selbst sind in enger Fühlung und in vollem Einvernehmen mit der Bundesregierung gefaßt worden. Sie stellen die schon in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht 1970 hier in diesem Hause erörterte Ergänzung und Verstärkung des Stabilisierungsprogramms der Bundesregierung dar.
Meine Damen und Herren! Mit diesen währungshaushalts- und kreditpolitischen Maßnahmen sind neue Daten für die weitere Entwicklung der deutschen Wirtschaft gesetzt worden. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß das von ihr und der
Bundesbank ergriffene Maßnahmenbündel der derzeitigen Lage und den überschaubaren Tendenzen der Konjunkturentwicklung gerecht wird. Die Bundesregierung will eine restriktive Übersteuerung der Konjunktur vermeiden. Deswegen faßt sie für diese Phase der Konjunktur keine weiteren Maßnahmen ins Auge. Der deutschen Wirtschaft soll damit die Möglichkeit gegeben werden, sich nunmehr in ihren Kalkulationen .und Dispositionen auf die neu gesetzten wirtschafts- und geldpolitischen Daten einzustellen.
Alle ergriffenen Stabilitätsmaßnahmen der Bundesregierung und der Bundesbank sind im übrigen reversibel. Bei Gefahr einer rezessiven Entwicklung können sie sofort rückgängig gemacht werden.
Die Weichen zum Übergang der Wirtschaftsentwicklung in ein spannungsloseres Wachstum sind also gestellt.
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Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Minister Schiller, darf ich aus Ihrer Antwort auf meine Dringlichkeitsanfrage ableiten, daß sich die Bundesregierung in vollem Umfang mit der Entscheidung der Bundesbank, den Diskontsatz in exorbitanter Weise anzuheben, identifiziert, nachdem Sie soeben noch auf die Frage des Kollegen Schulze-Vorberg über die Auswirkungen gesagt haben, das falle in die Verantwortlichkeit der Bundesbank,
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und, sehr verehrter Herr Minister Schiller, wie bringen Sie diese Stellungnahme in Einklang mit Ihren Aussagen vor wenigen Wochen, daß man sich national und international um eine Dämpfung des überhöhten Zinsniveaus bemühen müsse?
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Ich glaube, es waren zwei Fragen, Herr Kollege. Zur ersten Frage darf ich Ihnen sagen: Die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank habe ich hier erwähnt nicht im Zusammenhang mit den Auswirkungen - da haben Sie mich völlig falsch verstanden -, sondern allein in dem Zusammenhang, daß der Zentralbankrat selber aus eigener Befugnis - nach freundschaftlicher Aussprache mit zwei Bundesministern - zu entscheiden hat und entschieden hat. Das ist die Unabhängigkeit.
Hinsichtlich der Verantwortlichkeit meine ich: Die Verantwortung für die Auswirkungen einer solchen Maßnahme haben alle, die entschieden haben, Bundesregierung und Bundesbank, zusammen zu tragen.
Was die Zinsabrüstung betrifft, kann ich Ihnen folgendes sagen. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß ein solches Ziel, wenn die konjunkturpolitische Situation es erlaubt,
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verfolgt werden muß. Das habe ich schon das letzte Mal hier im Deutschen Bundestag, am 17. Februar, gesagt, in Übereinstimmung auch mit der Bundesbank. Und ich kann Ihnen sagen: Gerade durch die Entzerrung der Wechselkurse ist der internationale Zusammenhang der Zinspolitik, der Diskontpolitik viel enger geworden.
Wir haben dieses Thema nicht beiseitegepackt, sondern in der Arbeitsgruppe 3 der OECD werden diese Fragen einer gemeinsamen Zinsabrüstung im Laufe der weiteren internationalen Konjunkturentwicklung sorgfältig vorbereitet.
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Weitere Zusatzfragen? ({0}) Bitte schön, Herr Abgeordneter Dr. Czaja!
Herr Minister, welche dämpfenden Maßnahmen erwägt die Bundesregierung gegen den 20 Millionen Haulhaltungen belastenden konstanten und steilen Anstieg der Mieten, und zwar auch der Kostenmieten für 5 1/2 Millionen Sozialwohnungen, deren Begrenzung sie durch Verordnung steuern kann und steuern soll?
Wir erwägen keine weiteren dämpfenden Maßnahmen, r weder globaler Art noch spezieller Art - das habe ich dargestellt , nachdem in Arbeitsteilung zwischen Bundesregierung und Bundesbank die nötigen neuen Entscheidungen getroffen und die Daten gesetzt sind. Die deutsche Wirtschaft soll jetzt Ruhe haben und sich auf diese Daten einstellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel.
Wenn Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihrer Sache und auch der Geschlossenheit Ihres Kabinetts und der Übereinstimmung mit Ihrem Kanzler so sicher sind, wie Sie hier dartun, warum haben Sie dann heute morgen gegen die Abhaltung einer ausführlicheren Debatte gestimmt?
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Herr Bundesminister, diese Frage wird nicht zugelassen, weil sie nicht in Sachzusammenhang mit der Preissteigerung steht. Sie können sie vielleicht nachher einbringen, Herr Kollege Dr. Barzel. - Keine weitere Zusatzfrage.
Gnädige Frau, darf ich eine Antwort darauf sagen, nur zu Ihnen? Ich bedauere es sehr, daß ich die Antwort darauf nicht geben darf.
Nein, Herr Bundesminister, Sie dürfen auch idas nicht, wenn die Frage nicht zugelassen ist.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragen aus diesem Teilbereich des Wirtschaftsressorts.
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Herr Bundesminister, ich muß Sie bitten, noch für den späteren Teil zu bleiben, weil wir in der normalen Reihenfolge der Ressorts fortfahren.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Professor Dahrendorf hier.
Ich rufe die Frage 114 des Herrn Abgeordneten Kiechle auf:
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, daß die arabischen Terroristen bzw. deren Auftraggeber ihre Attentate auf friedliche Bürger und fremdes Sachvermögen in der Bundesrepublik Deutschland nicht eigenverantwortlich ausführen, sondern der größere Teil dieser Verantwortung auf die Führer jener Staaten zurückfällt, die derartige Organisationen dulden, unterstützen oder fördern?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin, darf ich darum bitten, die Fragen 114 und 115 zusammen beantworten zu dürfen?
Bitte schön! Ich rufe dann die Frage 115 des Herrn Abgeordneten Kiechle ebenfalls auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Sicherheit unserer Bürger wie auch die von Gästen der Bundesrepublik Deutschland zu vergrößern, indem sie die Führer jener Länder, die politische Konflikte mit Hilfe von Attentaten auf unserem Hoheitsgebiet austragen wollen, auf deren Verantwortung hinweist?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin, Herr Kollegin Höcherl hatte in Anknüpfung an den Anschlag auf den Flughafen München für die Fragestunde vom 20. Februar eine ähnliche Frage gestellt, die dann schriftlich beantwortet wurde, weil Herr Kollege Höcherl nicht anwesend sein konnte. In dieser Antwort hat die Bundesregierung erklärt:
Es kann nicht unterstellt werden, daß die arabischen Regierungen auf die Aktivität derartiger Splittergruppen Einfluß haben. Der Bundesregierung ist aus -der Berichterstattung unserer Auslandsvertretungen vielmehr bekannt, daß das Vorgehen der Gruppe sowohl in arabischen Regierungskreisen wie auch in Führungsgremien der größeren palästinensischen Organisationen auf Ablehnung gestoßen ist.
Soweit das Zitat vom 20. Februar.
Seit ,der Beantwortung dieser Frage haben sich die größeren Palästinenserorganisationen wie auch die Regierungen Jordaniens und des Libanons, der beiden hauptsächlichen Operationsgebiete der palästinensischen Gruppen, in ausdrücklichen Erklärungen von den Attentaten distanziert. Von anderen arabischen Regierungen wissen wir, daß sie sich des
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorf
großen Schadens, ,den die Attentate dem arabischen Ansehen in der ganzen Welt zufügen, durchaus bewußt sind.
Im übrigen habe ich in Beantwortung der Frage des Kollegen Höcherl auch darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung ihre Vertretungen in den arabischen Ländern angewiesen bzw. in den Ländern, in denen wir keine Vertretungen haben, die Vertretungen der Schutzmächte gebeten hat, .die jeweilige Regierung über .die Haltung der Bundesregierung, insbesondere über die Verurteilung ,der Anschläge, zu informieren.
Darüber hinaus hat es nach Auffassung ,der Bundesregierung wenig Sinn, dem Problem durch pauschale Urteile oder Maßnahmen ,beikommen zu wollen. Um zu verhindern, daß weiterhin internationale Konflikte auf deutschem Boden mit Gewalt ausgetragen werden, sind Maßnahmen im internationalen Flugverkehr wie in der inneren Sicherung vorgesehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kiechle.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, die Bundesregierung zu veranlassen, die entsprechenden Regierungen noch zusätzlich zu bitten, sich nicht nur davon zu distanzieren, sondern, soweit das in deren Möglichkeit liegt, auch Einfluß zu nehmen?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Das ist der Sinn .der Antwort, die ich gegeben habe: daß wir das in .der Vergangenheit getan haben und auch in Zukunft tun werden, ohne dabei - um das noch einmal zu betonen - grundsätzlich zu unterstellen, daß Terrorakte direkt oder indirekt von den betroffenen Regierungen beeinflußt werden.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Frage 116 des Herrn Abgeordneten Kern. - Herr Abgeordneter Kern ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, die Frage 117 ebenfalls.
Frage 118 des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg:
Kann die Bundesregierung entsprechend der Ankündigung des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Auswärtigen in der Plenarsitzung vom 30. Januar 1970 nunmehr diejenige Stelle der im Auswärtigen Amt angefertigten Übersetzung des Aufsatzes von Prof. Schostow in der Zeitschrift „Meshdunarodnaja Schisn" zitieren, die den Bundesminister des Auswärtigen in der Plenarsitzung vom 27. November 1969 zu der Schlußfolgerung veranlaßt hat, darin sei festgestellt, „daß die Weitergabe an Staaten, Staatengruppen und militärische Bündnisse ausgeschlossen sei; nicht ausgeschlossen - so stellt er fest - sei der Sonderfall der Föderation, eines Staatenbundes. Hier wird also die Identität mit der Auffassung der Vereinigten Staaten sichtbar."?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin, die Frage unterscheidet sich, soweit wir das erkennen können, nicht wesentlich von der, die in der Fragestunde vom 30. Januar erörtert worden ist. Ich nehme aber gerne die Gelegenheit wahr, noch einmal mit äußerster Klarheit zu antworten, wie hierzu die Stellung der Bundesregierung ist.
Erstens. Der Bezug auf den Artikel von Professor Schostow war ein Bezug auf jenen Teil, in dem erklärt wird, was der Art. I des NV-Vertrages bedeutet. In dieser Erklärung ist davon die Rede, daß die Weitergabe an Staaten und auch an Staatenbündnisse ausgeschlossen wird. Es wird aber eben gesagt, daß es sich um die Weitergabe handelt. Ich sage das in aller Direktheit.
Zweitens. In dem Artikel wird nicht ausdrücklich festgestellt, daß das Erben von nuklearem Potential in Föderationen grundsätzlich durch den NV-Vertrag offengehalten wird. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Interpretation, die auf der Tatsache beruht, daß in dem Artikel selbst wie in anderen Erklärungen nur von Weitergabe die Rede ist.
Drittens. Wenn Sie diese Interpretation betrachten, ergibt sich eine Diskussion - die ebenfalls teilweise schon in der Fragestunde stattgefunden hat - darüber, was man aus der Tatsache schließen kann, daß bestimmte Dinge nicht erwähnt werden. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Nichterwähnung des Sonderfalles der Föderation es erlaubt, von einer möglichen Übereinstimmung zwischen sowjetischen Interpretationen und der sechsten amerikanischen Interpretation zu sprechen.
Viertens. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß die Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage und ihre Einschätzung der sowjetischen Position nicht etwa in erster Linie durch den Artikel, auf den sich diese Frage wiederum bezieht, beeinflußt wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, indem ich ausdrücklich bestätige, daß meine heutige Frage im wesentlichen noch einmal wiederholt, was ich schon einmal gefragt habe - die Wiederholung erklärt sich daraus, daß ich keine Antwort bekam, jedenfalls nicht auf das, was ich gefragt hatte -, darf ich jetzt ganz konkret auf Ihre konkreten Ausführungen fragen: Bleibt die Bundesregierung bei der Feststellung des Bundesaußenministers, daß in bezug auf die europäische Option die Identität der Auffassungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion durch diesen Artikel von Professor Schostow sichtbar gemacht worden ist? Der Herr Bundesaußenminister hat damals auf Zusatzfragen ausdrücklich betont, daß er keinerlei Anlaß hatte, die sowjetische Regierung eigens deshalb zu fragen: eine Unterstellung, aus der man schließen muß, daß er überzeugt ist, daß seine Aussage richtig ist. Bleibt die Bundesregierung also bei der Auffassung, daß in bezug auf die europäische Option eine Identität zwischen den Auffassungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion besteht?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die AufParlamentarischer Staatssekretär Dr. Dahrendorf
fassung der Bundesregierung wird zunächst nicht - um das noch einmal zu betonen - durch den fraglichen Artikel bestimmt, sondern durch die Äußerungen des sowjetischen Außenministers. Was diese Äußerungen betrifft, so bleibt die Bundesregierung bei der Auffassung, daß es keine sowjetische Äußerung gibt, die der sechsten amerikanischen Interpretation widersprechen würde, und daß daher davon ausgegangen werden kann, daß die europäische Option auch bei Unterschrift und etwaiger Ratifizierung des NV-Vertrages offenbleibt.
Eine zweite Zusatzfrage, aber bitte keine Zusatzäußerungen, sondern eine Zusatzfrage, Herr Dr. Schulze-Vorberg.
Ich bedanke mich sehr, Frau Präsidentin.
Herr Staatssekretär, da ich jetzt ausdrücklich nicht nach Professor Schostow gefragt habe, sondern nach der Erklärung des Herrn Bundesaußenministers hier im Parlament von der Identität der Auffassungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in diesem Punkt, nämlich der europäischen Option, frage ich noch einmal: Bleibt die Bundesregierung bei der Auffassung des Bundesaußenministers, daß es diese Identität gibt?
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ich glaube, daß ich diese Frage eben beantwortet habe, Herr Kollege. Die Bundesregierung bleibt bei der Auffassung, daß die sowjetischen Äußerungen es nicht ausschließen, von einer solchen Identität zu sprechen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von und zu Guttenberg.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie die Äußerungen des Herrn Bundesaußenminister Scheel dahin ausgelegt, daß er bei seiner seinerzeitigen Behauptung hier im Bundestag, dieser Artikel des Professors Schostow ermögliche die europäische Option, diesen Artikel lediglich interpretiert habe. Dies vorausgeschickt möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß der Herr Außenminister seinerzeit nicht auf dem Wege der Interpretation zu seiner Meinung kam, sondern hier klar gesagt hat, aus diesem Artikel des Herrn Professor Schostow gehe hervor, daß der Sonderfall der Föderation, eines Staatenbundes, in der Überzeugung der Sowjetunion nicht ausgeschlossen sei.
Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege, ich habe meine Antwort, die im Namen der Bundesregierung erteilt wird, wohl überlegt. Es steht - um dies ganz klarzulegen; denn es gibt gar keinen Grund, um die Sache herumzureden - in der Tat im Protokoll der 14. Sitzung des 6. Deutschen Bundestages vom 27. November: Nicht. ausgeschlossen - so stellt er fest - sei der Sonderfall der Föderation, eines Staatenbundes. Durch meine Antwort habe ich deutlich gemacht, daß wir uns davon überzeugt haben, daß es sich hier nicht um eine Feststellung, sondern um eine Interpretation des Artikels handelt. Es gibt gar keinen Grund, eine solche Korrektur nicht auch öffentlich vorzunehmen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet. Ich bedanke mich bei .dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers ,des Innern. Ich rufe die Frage 18 des Herrn Abgeordneten Picard auf:
Welches Ausmaß haben nach Kenntnis der Bundesregierung die Schäden des Hochwassers, das besonders stark auch hessische Gebiete an Rhein, Main und Neckar betroffen hat?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Am 25. Februar 1970 hat der Bundesminister des Innern die Innenminister der hauptbetroffenen Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland gebeten, das Ausmaß der Hochwasserschäden im einzelnen mitzuteilen. Die sogleich nach der Katastrophe eingeleiteten Schadensermittlungen konnten 'in den Ländern bisher jedoch noch nicht abgeschlossen werden. Das gilt, wie mir das Innenministerium in Hessen noch am 9. März 1970 mitgeteilt hat, insbesondere auch für das Land Hessen. Zur Zeit habe ich daher noch keinen Überblick über die vom Hochwasser insgesamt verursachten Schäden.
Soweit mir bekanntgeworden ist, wird in den Ländern bereits eingehend geprüft, inwieweit Privatpersonen kommunale und staatliche Hilfe zur Beseitigung 'der ihnen entstandenen Schäden gewährt werden muß.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Picard.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, können Sie den Eindruck bestätigen, den der Bundesinnenminister bei seinem Besuch des Katastrophengebiets um Hanau hatte, dahin gehend nämlich, diese Hochwasserkatastrophe habe ein solches Ausmaß, daß eine überörtliche Hilfe unbedingt erfolgen müsse?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Ich kann diesen Eindruck bestätigen, Herr Kollege Picard. Nur ist es so: solange die effektiven Schäden noch nicht festgestellt sind und wir noch keinen genauen Überblick darüber haben, inwieweit Land und kommunale Behörden in der Lage sind, die Schadensregulierung vorzunehmen, kann natürlich von der Bundesregierung in dieser Sache noch keine endgültige Entscheidung getroffen werden.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 19 des Herrn Abgeordneten Picard auf:
Inwieweit sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit und Möglichkeit, zur Beseitigung der Hochwasserschäden durch finanzielle Leistungen des Bundes beizutragen?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Kollege, die ,Bundesregierung hat bereits in diesem Hohen Hause in der Fragestunde am 26. Februar 1970 erklärt, daß erstens für den Ausgleich von Katastrophenschäden die Länder und kommunalen Gebietskörperschaften zuständig sind und daß zweitens eine Hilfe durch den Bund subsidiär dann für geschädigte Privatpersonen in Betracht kommen kann, wenn dem betroffenen Land eine ausreichende Hilfeleistung nicht zumutbar oder im Einzelfall die Existenz der Betroffenen gefährdet ist. Ob und in welchem Umfang eine Hilfe des Bundes notwendig wird und möglich ist, kann gesagt werden, ,sobald mir ,die Mitteilungen ,der Länder über das Ausmaß der Hochwasserschäden im einzelnen vorliegen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Picard.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, sind Sie sich darüber im klaren, daß durch Pressemeldungen über entweder beabsichtigte oder zumindest erwogene Maßnahmen, z. B. auch im Steuerrecht, der Eindruck entstanden ist, als ob der
Bund doch tätig werden wolle, ohne die von Ihnen für notwendig erachteten abschließenden Zahlen zu haben?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Es mag solche Pressemeldungen geben, Herr Kollege Picard; sie sind mir im Augenblick allerdings nicht bekannt. Aber die Bundesregierung wird sich hier an das halten müssen, was sie mit den Ländern vereinbart hat und was insbesondere der Bundesinnenminister mit den Innenministern der betroffenen Länder besprochen hat. Ich bitte also insoweit um Verständnis, daß wir hier wirklich erst einmal abwarten müssen, was von den Ländern an Berichterstattung auf uns zukommt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dröscher:
Herr Staatssekretär, gibt es schon Vorschläge etwa über die prozentuale Aufteilung der Hilfen auf Bund, Land und Gemeinden?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Kollege Dröscher, es gibt sicher keine prozentuale Aufteilung, sondern hier ist es einfach primär Aufgabe der Kommunen und der Länder, diese Schäden zu regulieren. Wo die Mittel und die Hilfemöglichkeiten der Länder und Gemeinden nicht ausreichen, wird die Bundesregierung überlegen, in welchem Umfang sie effektiv helfen kann. Wir haben das z. B. auch bei der
Hochwasserkatastrophe in Hamburg damals auf diesem Wege geregelt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Hussing.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung zusichern, daß die Bundeswehr ihre Kosten bei dem Einsatz in den Hochwassergebieten nicht den Gemeinden, Ländern und anderen Gebietskörperschaften in Rechnung stellt?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Ich glaube schon, daß die Bundesregierung so etwas machen kann.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Dr. Schwörer und die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Dr. Enders werden schriftlich beantwortet, weil die Fragesteller nicht im Saal sind.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Gerlach ({0}) auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die durch den Einsatz des Technischen Hilfswerkes bei der Hochwasserkatastrophe entstehenden Kosten nicht auf die überschwemmungsgeschädigten Kreise und Gemeinden als die Anforderungsbehörden umzulegen, sondern über den Bundeshaushalt zu tragen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Kollege Gerlach, ich beantworte die Frage folgendermaßen.
Entsprechend der grundgesetzlichen Aufgaben- und Lastenverteilung - Art. 30 und 104 a des Grundgesetzes - haben die Länder und Gemeinden die Kosten von Katastropheneinsätzen zu tragen. Grundsätzlich sind daher die Kosten für den Einsatz des Technischen Hilfswerks zu erstatten. Nach § 63 Abs. 4 der Bundeshaushaltsordnung kann jedoch vom Bundesminister der Finanzen hierauf verzichtet werden, wenn ein „dringendes Bundesinteresse" besteht.
Das Bundesinnenministerium hat bereits eine Prüfung veranlaßt, ob und inwieweit diese Voraussetzungen für den Bereich des Technischen Hilfswerks gegeben sind. Ich nehme an, daß der Herr Bundesminister der Finanzen im Bedarfsfall von seinem Verzichtsrecht Gebrauch machen wird, wofür ich mich sehr einsetzen werde.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Müller ({0}) auf:
Sind Einheiten des Katastrophenschutzes, der nach dem Gesetz über die Erweiterung des Katastrophenschutzes auf den friedensmäßigen Katastrophenschutzverbänden aufbauend verstärkt und verbessert werden soll, zur Bekämpfung der Hochwasserkatastrophe eingesetzt worden und mit welchen Erfahrungen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Kollege Müller, das Gesetz über die Erweiterung des Katastrophenschutzes will ein einheitliches, im Friedenskatastrophenschutz wie im Zivilschutz gleichermaßen einsetzbares Instrument schaffen. Die Integration ist noch nicht abgeschlossen. Jedoch stehen nach ausdrücklichen Weisungen meines Hauses die in der Verantwortung des Bundes aufgestellten Einheiten des Katastrophenschutzes und das Technische Hilfswerk für den Katastrophenschutz auch im Frieden zur Verfügung.
Einheiten des Technischen Hilfswerks waren und sind auch jetzt in großem Umfang im Einsatz. Ferner ist vielfach auf die vom Bund gelieferte Ausrüstung sowie auf vom Bund ausgebildete Helfer zurückgegriffen worden.
Die Erfahrungen sind noch nicht vollständig ausgewertet. Ich erwarte jedoch, daß die weitere Integration und die Verstärkung des Katastrophenschutzes dazu beitragen werden, das Potential zu erhöhen, voll auszuschöpfen und noch wirksamer einzusetzen. Dem gelten auch im finanziellen Bereich meine besonderen Bemühungen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Müller.
Herr Staatssekretär, kann ich also davon ausgehen, daß im Grunde genommen außer dem Technischen Hilfswerk keine anderen Verbände des Katastrophenschutzes eingesetzt waren?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Kollege Müller, so ganz konkret kann ich das nicht ausschließen, weil mir noch kein endgültiger Bericht vorliegt. Es ist eindeutig klar, daß das Technische Hilfswerk den Einsatz fast ausschließlich geleistet hat. Aber ich bin sicher, daß in bestimmten Bereichen auch die Feuerwehr und wahrscheinlich auch das Rote Kreuz oder andere Organisationen mit eingesetzt waren.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller ({0}).
Herr Staatssekretär, darf ich damit rechnen, daß Sie mir einen Erfahrungsbericht zur Verfügung stellen werden, sobald Sie eine Ubersicht darüber haben, ob und mit welchem Erfolg Basisgruppen des Katastrophenschutzes eingesetzt waren oder nicht?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Dazu bin ich gern bereit.
Ich rufe nunmehr die Frage 26 deis Herrn Abgeordneten Schulte ({0}) auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Ausrüstung der Ortsverbände des Technischen Hilfswerks mit Regen- und Wärmeschutzkleidung unter Berücksichtigung der Erfahrungen bei den jüngsten Hochwassereinsätzen zu überprüfen und zu verbessern?
Herr Kollege Schulte ist im Saal. Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister .des Innern: Herr Kollege Schulte, die Erfahrungen der jüngsten Hochwasserkatastrophe haben gezeigt, daß die Dienstkleidung des Technischen Hilfswerks noch nicht voll ausreicht. Dies gilt insbesondere für Regen- und Kälteschutzkleidung. Die Bundesregierung bemüht sich seit längerem, Abhilfe zu schaffen; hierfür standen bisher Haushaltsmittel nur in eng begrenztem Umfang zur Verfügung. Durch organisatorische Maßnahmen sind gewisse Verbesserungen dadurch erreicht worden, daß je nach den örtlichen Gegebenheiten dem Technischen Hilfswerk Ausrüstungsgegenstände des Luftschutzhilfsdienstes, insbesondere Einsatzkleidung, auf Dauer oder zeitweise zur Verfügung gestellt werden. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin um Ergänzungen der Dienstkleidung für das Technische Hilfswerk bermühen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Griesinger.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, mit dem Hause des Herrn Verteidigungsministers Verbindung aufzunehmen, damit der Vorschlag, dem Technischen Hilfswerk mehr oder weniger die Kleidung zur Verfügung zu stellen, die für die Soldaten nicht mehr benötigt wird - das sind die Rohrstiefel und andere Bekleidungsgegenstände -, nicht realisiert werden möge, damit diese Männer bei Katastropheneinsätzen nicht eventuell mit Angehörigen der Bundeswehr verwechselt werden können, daß sie andererseits aber so eingekleidet werden, wie es notwendig ist, damit sie ihren Dienst voll und ganz erfüllen könen?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Kollegin, ich bin gern bereit, mit dem Verteidigungsministerium darüber zu verhandeln. Nur: Sie werden dem Bericht der Bundesregierung über ihre Zivilverteidigungsvorstellungen bereits entnommen haben, daß diese Bundesregierung - entgegen dem, was andere Bundesregierungen früher an Prioritäten gesetzt haben -gerade diese Notwendigkeiten als Punkt 1 der künftigen Maßnahmen für die Zivilverteidigung mit in ihr Programm aufgenommen hat und hier verstärkt auch den materiellen Einsatz für die Helfer zum Zuge bringen wird.
({0})
Frau Kollegin, es tut mir leid. Es ist immer nur eine Zusatzfrage zugelassen.
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß auch die Ausrüstung mit Fernsprech- und Funkgeräten noch sehr mangelhaft
Gerlach ({0})
bzw. oft gar nicht gegeben ist? Gibt es Möglichkeiten, diesem Mangel abzuhelfen?
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Es ist mir bekannt, daß hier in der Vergangenheit leider nicht das Erforderliche getan worden ist, um die Einheiten entsprechend auszurüsten. Das ist auch der Grund dafür gewesen, daß die neue Bundesregierung die Prioritäten bei der Zivilverteidigung völlig umgestellt hat.
({1})
Keine Zusatzfrage.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde. Die Fragen A 59, 70 bis 73, 89, 90, 92, 102, 107 und 108 und B 18 und 19 sind zurückgezogen worden. Die übrigen, nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortrt.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Antworten, die der Herr Bundeswirtschaftsminister auf unsere Dringliche Mündliche Frage gegeben hat, sind enttäuschend und unzureichend.
({0})
B) Sie sind den eigentlichen Problemen, die sich aus der Diskontsatzerhöhung ergeben, ebenso ausgewichen wie die gestrige Erklärung der Bundesregierung.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist angemessen, daß das Parlament über die Folgewirkungen der Diskonterhöhung eine Debatte führt. Leider ist uns dieses Anliegen mit der Begründung von Herrn Lenders verweigert worden. Das ist ein Zeichen der Schwäche dieser Koalition!
({2})
Die Opposition muß daher das Hilfsinstrument einer Aktuellen Stunde in Anspruch nehmen. Ich beantrage, daß die Aktuelle Stunde jetzt durchgeführt wird.
({3})
Ich verstehe diesen Antrag als das Verlangen der CDU/CSU-Fraktion. Dem entspricht das Haus auch ohne Abstimmung.
Damit ist die
Aktuelle Stunde
eröffnet. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann erbeten.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat dieser Tage erklärt, die konjunkturpolitische Diskussion müsse entdramatisiert werden.
({0})
Er hat recht; bloß, der richtige Adressat für diesen Vorwurf ist die Bundesregierung selbst.
({1})
Hektik und Dramatisierung sind die Eigenschaftsbeschreibung dieser Bundesregierung,
({2})
und Bundeswirtschaftsminister Professor Schiller übt sich in dieser Disziplin schon seit dem Sommersemester 1969.
({3})
Ich verzichte darauf, die ganze Unentschlossenheit und Widersprüchlichkeit der bisherigen Maßnahmen der Regierung in Erinnerung zu rufen. Aber noch bei der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht hat der Bundeswirtschaftsminister mit dem Stabilitätsgesetz gedroht, und der Herr Bundeskanzler
({4})
ist hier auf das Podium getreten und hat betont, daß die Drohung des Herrn Bundeswirtschaftsministers sehr ernst zu nehmen sei. Am 7. März 1970, wenige Tage darauf, hat dann der Herr Bundeskanzler in Duisburg erklärt, das Stabilitätsgesetz erscheine ihm als ein zu grobes Geschütz.
({5})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat vor kurzem in sehr dramatischen Worten vor der Öffentlichkeit von der ihm bevorstehenden Entscheidungsschlacht gesprochen. Ich nehme doch an, daß der große Feldherr in diese Schlacht auch mit seinen Geschützen eingreifen wollte.
({6})
Glanzvolle Namen wurden vom Herrn Wirtschaftsminister zitiert - etwas anderes sind wir ja von
ihm auch nicht gewöhnt -: Jena, Leipzig, Skagerrak.
({7})
Nun, Herr Wirtschaftsminister, Sie haben eine Schlacht verloren. Der Herr Bundeswirtschaftsminister wurde von seinen eigenen Truppen im Stich gelassen.
({8})
Für Sie, Herr Wirtschaftsminister, war das ein Leipzig, nur mit dem Unterschied, daß Napoleon seinerzeit in die Verbannung geschickt wurde.
({9})
Meine Damen und Herren, Sie mögen einwenden, er kam von Elba wieder zurück. Aber ich füge hinzu: nur für hundert Tage.
({10})
Und mir scheint es so, als ob der Countdown für den Herrn Bundeswirtschaftsminister auch schon zu laufen beginne.
({11})
Für die Geldwertstabilität jedenfalls war diese Entscheidungsschlacht ein Waterloo, Herr Minister Schiller, und zwar durch die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung verschuldet. Ob nun der Freund in Frankfurt wirklich retten kann? Großes Fragezeichen! Friedrich Schiller würde ihm raten: „Zurück, du rettest den Freund nicht mehr!"
({12})
Meine Damen und Herren, statt der Bundesregierung mußte die Bundesbank handeln. Wir wissen doch, die drastische, exorbitante Erhöhung des Diskontsatzes ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Getroffen wird der kleine Mann.
({13})
Ich denke nur an die Frage des Wohnungsbaus und die mittelständische Wirtschaft, die Gefahr läuft, durch die erhebliche Verteuerung der Schuldenzinsen in ,die Knie gezwungen zu werden.
({14})
Ob durch die Diskontsatzanhebung über verstärkten Lagerabbau eine Preisdämpfung bewirkt wird, bezweifle ich sehr. Viel eher ist zu befürchten, daß die hohen Zinsen als ein zusätzlicher Kostenfaktor in die Preise eingehen werden, zumal eine große Nachfrage dies immer noch ermöglicht.
Ganz gewiß wird die Diskonterhöhung mittel- und langfristig die Investitionsbereitschaft erheblich beeinträchtigen und damit das Warenangebot von morgen beschneiden. Da geht es also um die Substanz und um das Wachstum in der Zukunft. Nach unserer Auffassung setzt der Hebel der Bundesbank an der falschen Stelle an.
({15})
Die Opposition hat in den letzten Wochen der Bundesregierung wiederholt Empfehlungen zur Dämpfung von Konjunktur und Preisen gegeben. Noch gestern sind im Haushaltsausschuß vier konkrete Anträge der Opposition mit den Stimmen der Koalition niedergewalzt worden.
({16})
Die Opposition ist auch heute bereit, ihren Teil der Verantwortung zu tragen
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und die Maßnahmen der Bundesregierung zu unterstützen, die ihr sinnvoll und zweckmäßig erscheinen. Allerdings ist bisher von irgendeiner Konsultation der Bundesregierung an die Adresse der Opposition nichts zu hören gewesen.
({18})
Was wir aber mit Sicherheit nicht können, ist, der Bundesregierung das Handeln abzunehmen.
({19})
Denn allein die Bundesregierung verfügt über das Instrumentarium des Stabilitätsgesetzes und auch über die notwendigen Daten und Informationen, die richtiges Handeln erst möglich machen.
({20})
Was jetzt Not täte, wäre eine Phase der Besinnung und der Besonnenheit.
({21})
Wirtschaft und Öffentlichkeit brauchen Ruhe. Aber,
meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Hin
und Her, Ihr Zickzackkurs und die Entscheidung der Bundesbank haben doch die allgemeine Unruhe erst ausgelöst und dann weiter erhöht.
({22})
Voraussetzung für einen Abbau des um sich greifenden Unbehagens ist, daß die Bundesregierung ihr Handeln wirklich an den konjunkturpolitischen Notwendigkeiten orientiert. Auch dann erst können wir von den Sozialpartnern stabilitätsorientiertes Verhalten erwarten. Die Bundesregierung scheint sich aber in der Zeit mehr als ein Dienstleistungsunternehmen zu betrachten, das darauf aus ist, Landtagswahlen zu gewinnen.
({23})
Eines lassen Sie mich sehr klar aussprechen: je länger die Bundesregierung zögert, desto teurer werden für alle die Lasten.
({24})
Schon heute muß der vielzitierte kleine Mann
({25})
die Versäumnisse der Bundesregierung im wahrsten
Sinne des Wortes mit Zins und Zinseszins bezahlen.
({26})
Wir appellieren daher an die Bundesregierung, nun das in ihrer Kraft Stehende - und wozu sie nach dem Stabilitätsgesetz verpflichtet ist - zu tun,
({27})
um die Bundesbank in die Lage zu versetzen, den Diskont wieder auf ein erträgliches Maß herabzusetzen.
({28})
Ein letztes Wort an die Adresse des Herrn Bundeswirtschaftsministers. Das Debakel von Waterloo, Herr Minister, wurde auch durch allzu langes Zögern ausgelöst.
({29})
Das Wort hat der Abgeordnete Junghans.
1888 Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Junghans ({0}) : Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der wirtschaftspolitische Kurs der CDU/ CSU-Fraktion besteht darin, daß in ihren Reihen völlige Verwirrung herrscht.
({1})
Sie haben in den ganzen Monaten nicht einen einzigen positiven Beitrag zu der heutigen konjunkturpolitischen Situation geleistet.
({2})
Oder sind das Ihre Beiträge, wenn Herr Stoltenberg die Zurückstellung der steuerlichen Entlastung bis zum 1. Januar 1971 und zusätzliche Haushaltssperren fordert und wenn Sie dann in derselben Woche in den anderen Ausschüssen in mindestens vier Fällen genau das Gegenteil fordern?
({3})
Ich lese hier z. B., daß die CDU/CSU-Mitglieder im Verkehrshaushalt mit verbesserten steuerlichen Maßnahmen der deutschen Seewirtschaft den notwendigen Rückhalt geben wollen,
({4})
daß sie die Notwendigkeit der Aufstockung von Neubauzuschüssen betonen, daß sie in einem anderen Antrag im Wissenschaftsausschuß die Bundesregierung auffordern, zusätzliche Mittel für bauliche Notmaßnahmen, die Besoldung usw. bereitzustellen.
({5})
Sie haben in ,dieser Woche hier einen Antrag fiber die Senkung der Gewerbesteuer zur Abstimmung gebracht. Sie haben in dieser Woche zusätzliche Strukturmaßnahmen der Landwirtschaft gefordert.
({6}) Wie paßt .das zusammen?
({7})
Wenn Sie sich (in Sachen Konjunkturpolitik weiter
so widersprüchlich verhalten, dann kann man Sie als
Fraktion nur schlicht als unglaubwürdig bezeichnen.
({8})
Wir haben von Ihnen weder gehört, wie Sie die gegenwärtige Lage einschätzen,
({9})
noch wie Sie die zukünftige Entwicklung einschätzen.
({10})
Wenn Sie sich heute hier hinstellen und der Bundesregierung vorwerfen, sie wäre untätig gewesen und sie hätte versäumt, Herr Müller-Hermann, ein binnenwirtschaftliches Konjunkturprogramm zu verabschieden, dann möchte ich Sie doch daran erinnern, daß Sie noch am 30. Oktober in diesem Hohen Hause von einer überzogenen Aufwertungsquote und von einem Schaden für die deutsche Wirtschaft auf Dauer gesprochen haben.
({11})
Ihr einziger Beitrag besteht darin, Unsicherheit in unsere Bevölkerung hineintragen zu wollen.
({12})
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, versuchen doch aus Motiven, die ich hier nicht untersuchen will,
({13})
immer wieder, Arbeitnehmer und Unternehmer zu verunsichern,
({14})
um das Vertrauen in die Politik der Bundesregierung und der Bundesbank zu erschüttern.
({15})
Sie sind nicht in der Lage, bis heute noch nicht in der Lage, zu den klaren Entscheidungen der Bundesregierung
({16})
Alternativvorschläge hier in diesem Hause vorzulegen.
({17})
Meine Damen und Herren! Wir wissen, daß die Spätphase der Konjunktur, in der wir uns heute befinden, volle Aufmerksamkeit verlangt, daß eine wirtschaftspolitische Gratwanderung vor uns liegt. Aber eines möchte ich Ihnen sagen:
({18})
Es ist grotesk, dies mit der Situation von 1966 vergleichen zu wollen.
({19})
Denn erstens bestimmt nicht ein Bundeskanzler Erhard, sondern ein Bundeskanzler Brandt die Richtlinien der Politik.
({20})
Zweitens: In Anwendung des Stabilitätsgesetzes sind die Haushalte von Bund und Ländern antizyklisch angelegt.
({21})
Junghans
Drittens wird die Bundesbank, wir haben das aus
der Erklärung von Herrn Klasen gehört, das Notwendige tun, rechtzeitig das Steuer herumzuwerfen.
({22})
Wenn hier in diesem Hause immer wieder von Preisstabilität gesprochen wird, dann möchte ich Ihnen dazu folgendes sagen: Sie werden in dieser Bundesregierung und in unserer Fraktion niemand finden, der diese Forderung nicht nachdrücklich unterstützt.
({23})
Aber zeigen Sie mir jemand in diesem Hause und in der Bundesregierung, der das ungeschehen machen kann, was durch Ihre Versäumnisse als Preiswelle auf uns zurollt.
({24})
Wir wehren uns mit Entschiedenheit dagegen, daß Sie die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Sparer in diesem Punkte verunsichern wollen.
({25})
Die Bundesregierung und die Bundesbank haben durch ihr aufeinander abgestimmtes Verhalten das Notwendige getan, damit in Zukunft eine Beruhigung ,der Preise eintritt.
Wir sind der Meinung - und das ist aus den Äußerungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers und des Herrn Bundesbankpräsidenten Klasen deutlich geworden -,
({26})
daß es jetzt darauf ankommt, die Nerven zu behalten.
({27})
Wenn die Opposition sie nicht hat - wir haben sie!
({28})
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunnächst ein sehr klares, und wenn Sie wollen, hartes Wort zur Frage der Verantwortlichkeit für die derzeitige Preissituation. Herr Kollege Kiep hat vorhin in einer Zusatzfrage die Frage gestellt, wie lange denn die gegenwärtige Regierung sich bei der Beurteilung der Konjunkturlage, wie wir sie heute haben, noch auf die Versäumnisse der Vergangenheit berufen will. Meine Damen und Herren, sehen wir doch einmal in ein anderes Land. Ich glaube, wir alle betrachten den amerikanischen Präsidenten Nixon als einen sehr unverdächtigen Zeugen. Der hat vor wenigen Wochen erklärt:
({0})
Die hohe Preissteigerung in den USA ist einzig und allein
({1})
- vielleicht ist Ihnen dieses Beispiel unangenehm, Herr Barzel,
({2})
ich bringe es trotzdem - das Werk seiner Vorgänger, also der Johnson-Administration.
({3})
-- Ich glaube, Sie haben das gar nicht begriffen, was ich soeben gesagt habe.
({4})
- Nein, darum geht es nicht. Es geht um die Wahrheit und nicht um parteipolitische Fronten.
({5})
Das Beispiel zeigt, daß hier Dinge zugrunde liegen, die mit parteipolitischen Gegensätzen gar nichts zu tun haben.
({6})
Die Dinge liegen überall gleich.
({7})
- Aber die Richtlinien bestimmte Herr Kiesinger.
({8})
- Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich bei der begrenzten Redezeit etwas ungestörter reden ließen.
Wir sollten dieses Beispiel dafür nehmen, daß die Behauptungen, die jetzigen Preissteigerungen seien auf dieses oder jenes Fehlverhalten der neuen Regierung in Bonn zurückzuführen, einfach unwahr sind.
({9})
Was Sie in Ihrem Pamphlet hier zusammengestellt haben, ist doch der Gipfel der Legendenbildung.
({10})
Jeder Student der Volkswirtschaft - hier wird mir der Wirtschaftsminister in seiner anderen Eigenschaft zustimmen - lernt doch schon im ersten Semester, daß Preissteigerungen, Preiswellen nicht - wie Hochwasser - über Nacht kommen. Sie sind langfristige Auswirkungen.
({11})
Meine Damen und Herren, wenn Sie vor sich selbst ehrlich sind - Sie wissen das doch genau! Sie spekulieren nur auf die, von denen Sie annehmen, daß sie es nicht wissen.
({12})
In Ihrem Antrag und in Ihrer Dringlichen Anfrage findet sich der Vorwurf, die Bundesbank würde alleingelassen. Ich meine, die Dinge sind heute morgen in der Fragestunde schon einigermaßen klargeworden. Ich glaube, niemand kann behaupten, daß die Bundesbank heute alleingelassen wird. Die Bundesbank wurde im Jahre 1969 nicht nur alleingelassen, sondern durch das Nichtstun der damaligen Regierung nach der Richtlinienentscheidung des Bundeskanzlers, der sich - ich hätte beinahe gesagt: mit seinem Leben - mit seinem Amte gegen eine Aufwertung verpfändet hatte, in ihrer Aktivität behindert, denn zwischen Diskontpolitik und Aufwertung besteht ein Zusammenhang.
({13})
Es ist vorhin in einem Zwischenruf schon gesagt worden: Diese Bundesregierung wird im Zusammenhang mit unvermeidlichen Entscheidungen der Bundesbank nicht von einem Fallbeil sprechen. Das haben andere früher getan.
({14})
Wir sind überzeugt davon, daß die Gefahr einer Rezession durch rechtzeitiges entschlossenes Gegensteuern gebannt wird.
Ich meine, ich sollte jetzt noch zwei oder drei grundsätzliche Bemerkungen unterzubringen versuchen, denn es ist in fünf Minuten gar nicht möglich, auf alle Einzelheiten einzugehen. Ich glaube, wenn wir in der Beurteilung der konjunkturpolitischen Auseinandersetzung der letzten Wochen und Monate ehrlich vor uns selbst sind, müssen wir sagen, daß es sich hier mehr oder weniger um systemimmanente Erscheinungen handelt
({15})
und daß es unvermeidlich ist, in einer Demokratie seine Gedanken auch laut auszusprechen. Dieses Hin und Her, das Sie dargestellt haben, ist ein ganz normaler Prozeß.
({16})
- Herr Leicht, es wäre ohne weiteres möglich, eine solche Zusammenstellung, wie Sie sie gestern veröffentlicht haben, unter Auswechslung der Namen, Zeiten, Themen und Orte über alle anderen denkbaren Entscheidungsprozesse in einer Demokratie zu veröffentlichen. Ich glaube, wir sind uns doch darüber einig, daß wir alle miteinander noch immer mit Grauen die Spuren jener Zeiten sehen, in denen es unser tägliches Brot war, von „unabänderlichem Willen" und „unabänderlichen Entschlüssen" zu hören.
({17})
Meine Damen und Herren, die fünf Minuten sind um. Ich möchte im Moment nur noch eine Bemerkung machen und vielleicht später noch etwas anderes sagen. Wir begrüßen und unterstützen ganz besonders den Appell, den die Bundesregierung gestern in ihrer Erklärung und heute in der Antwort des Herrn Bundeswirtschaftsministers an die Tarifpartner gerichtet hat.
({18})
Wir meinen, daß dieses Wort nicht nur gehört, sondern auch befolgt werden sollte.
({19})
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Schiller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Müller-Hermann, Sie haben sich auch in den Wettbewerb um eine bilderreiche Sprache begeben. Sie haben gesagt, ich hätte mich schon im Sommersemester 1969 in bestimmten Eigenschaften und in einer bestimmten Disziplin geübt.
({0})
- Mit Disziplin meinten Sie Fachgebiet, so habe ich 'Sie verstanden.
({1})
- Lieber Herr Müller-Hermann, hätten Sie vom Sommersemester 1969 lieber geschwiegen! Die Abschlußprüfung für ,das Sommermeseter 1969 hat der Kandidat Schiller besser bestanden als einige Con-semester ,aus Ihren 'Reihen.
({2})
- Dais können Sie doch nun nicht ,abstreiten.
Nun wollte ich zur grundsätzlichen Problematik eines sagen. Bei den Entscheidungen über Regierungsmaßnahmen, über Dämpfungsmaßnahmen geht es darum - das war unsere Überlegung im Bundeskabinett und auch im Zentralbankrat während dieser Wochen -, wie wir die öffentliche und die private Wirtschaft, idle öffentliche Nachfrage und die private Nachfrage in möglichst gleichmäßiger Weise zu Stabilitätsbeiträgen veranlassen können;
({3})
das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Soweit ich sehe, zielt die CDU/CSU bisher im wesentlichen darauf hin, daß im Bereich der öffentlichen Haushalte weitere Kürzungen stattfinden sollen bzw. erhöhte Konjunkturausgleichsrücklagen und ähnliches gebildet werden sollen. Meine Damen und Herren, wir in der Bundesregierung haben festgestellt, daß Kürzungen in den öffentlichen Bereichen - manches wird der Haushaltsausschuß noch zusammenbringen
- in wichtigen Sektoren unserer GemeinschaftsaufBundesminister Dr. Schiller
gaben an die Grenze des Erträglichen stoßen. Es geht einfach nicht, daß in einer Zeit der Überkonjunktur .die Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse, die Erfüllung öffentlicher Gemeinschaftsaufgaben sozusagen zum alleinigen Instrument einer Dämpfung gemacht wird.
({4})
- Darf ich den Gedanken weiterführen. Wir sind der Meinung, daß ein ausgewogenes Verhältnis eintreten sollte. Jeder sollte seinen Stabililsierungsbeitrag leisten. Gehen wir weiter in Richtung öffentlicher Hände - denken Sie an die großen Ressorts Verkehr, Wohnungsbau, Gesundheit, Familie ({5})
- Verteidigung ohnehin, das Ressort, das mit dem größten Betrag an diesen Kürzungen oder Sperrungen beteiligt ist -, dann kämen wir zu einer Situation, wo das Gesamtprogramm unausgewogen wäre. Wir würden dann nach einer Devise handeln, die .im 18. Jahrhundert eine Rolle spielte und die lautete: öffentliche Armut, aber privater Reichtum. Das ist nicht die Devise dieser Bundesregierung.
({6})
So haben wir uns :das Problem sehr ernsthaft überlegt. Wir haben 'Maßnahmen der Dämpfung im öffentlichen Bereich 'durchgeführt wie keine andere Bundesregierung vorher in einer 'Hochkonjunktur.
({7})
- Im Jahr 1966 war nun wirklich nicht ein Kürzungsprogramm der damaligen Bundesregierung virulent oder effizient.
({8})
Es gab ein Kürzungsprogramm, und das war post-mortal, nach Sturz der Bundesregierung, wie Sie alle wissen.
({9})
Dies ist von unserer Seite im öffentlichen Bereich getan worden. Ich sage noch einmal, der Haushaltsausschuß wird noch sein übriges tun.
({10})
Aber nun ging es darum, das Mittel zu finden, wie die private Nachfrage oder die private Wirtschaft insgesamt ihrerseits veranlaßt werden kann, ihren Stabilitätsbeitrag zu leisten.
({11})
- Herr Haase. Nun legen Sie doch einmal die Karten auf den Tisch! Ich habe am 17. Februar vergebens darauf gewartet, von Ihrer Seite etwas zu hören.
({12})
- Herr Barzel, ich setze zwar viele Hoffnungen auf Sie; aber diese nicht!
({13})
Hier muß ich leider eine Ausnahme machen.
({14})
Wir haben hier sehr offen über die Möglichkeit, die Notwendigkeit und die Problematik einer Ergänzung des bestehenden Stabilisierungsprogramms dieser Bundesregierung gesprochen.
({15})
- Ach Gott, das war nun wirklich ein Kalauer.
({16})
- Na, hören Sie mal!
Herr Minister, Ihr Beitrag im Rahmen der Aktuellen Stunde geht zu Ende.
Ja, ich werde mich kurz fassen. Aber wenn ich auf Zwischenrufe antworten soll -
Ich habe Verständnis dafür, daß Sie auf Zwischenrufe antworten wollen.
Herr Präsident, ich begebe mich sofort in Ihre Zucht.
({0})
Wir haben hier sehr offen - ich wiederhole es - über die Ergänzung des Stabilisierungsprogramms gesprochen, und von Ihrer Seite aus ist dazu nicht Stellung genommen worden. Sie haben die Notwendigkeit einer solchen Ergänzung weder verneint noch bejaht, z. B. als der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister über die Eventualität der Anwendung des § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes sprachen.
({1})
- Nein, nein, ich wollte nur einmal Ihre Position umreißen. Ich will ja von Ihnen etwas hören.
({2})
- Herr Müller-Hermann, nachdem die Bundesregierung und das Wirtschaftskabinett der Bundesregierung nach eingehender Debatte beschlossen hatten,
({3})
daß der Finanz- und der Wirtschaftsminister mit der Deutschen Bundesbank im Zentralbankrat die Lage besprechen sollten, hat die Bundesbank in vollem Einvernehmen mit uns gehandelt.
({4})
- In Abstimmung!
Jetzt kommen Sie aber auf einmal mit neuen Anträgen. Soweit ich sehe, wollen Sie plötzlich das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz schärfer exekutiert wissen.
({5})
- Bitte, etwas konkreter! Wenn Sie sagen: im öffentlichen Bereich, möchte ich Ihnen darauf folgendes antworten. Wenn Sie hier nur kleine Ersatzlösungen im öffentlichen Bereich vorschlagen wollen, werden Sie das Faktum der Zentralbankratsbeschlüsse in keiner Weise korrigieren. Wenn Sie mit kleinen Palliativmitteln noch .ein paar Millionen mehr sperren oder die Konjunkturausgleichsrücklage etwas :erhöhen wollen, werden Sie das Faktum der Diskonterhöhung im Augenblick nicht korrigieren. Geben Sie sich hier keinen Illusionen hin, Herr MüllerHermann. Das wissen Sie auch ganz genau. Deswegen habe ich den Verdacht, daß Sie erst jetzt mit Ihren Anträgen kommen, weil Sie sie überhaupt nicht so recht ernst nehmen.
({6})
Herr Minister - Dr. Schiller, Bundesminister für Wirtschaft: Die andere Frage - und das ist einfach eine Frage des Bekenntnisses -'ist:
({0})
Vielleicht wollen ,Sie tatsächlich mit dem Stabilitäts-
und Wachstumsgesetz unmittelbar auf die private Nachfrage losgehen. In dem Fall müßten Sie sich heute und hier zu §'26 bekennen.
({1})
Hier und heute, das ist Ihre Stunde, jawohl.
({2})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. iStoltenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antworten der Bundesregierung und der Koalition zur Sache stehen in einem klaren Widerspruch zu dem, was der Bundeskanzler in der Regierungserklärung Idas Stabilitätsgesetz,
({0})
seine zentrale Bedeutung für die Konjunkturpolitik und die Bereitschaft der Regierung, es anzuwenden, gesagt hat.
({1})
Dem ist wader durch feuilletonistische Bemerkungen noch durch eine etwas grobschlächtige Polemik gegen die Opposition, Herr Kollege Junghans, zu begegnen. Sie haben sich entschlossen, diese Regierung auf einer so schwachen Basis zu bilden,
({2})
eine Regierung, die bei der ersten schweren Entscheidung versagt und nicht handelt.
({3})
Und Sie können sich nicht in solchen Situationen nur daran erinnern, wer hier die stärkste Fraktion des Hauses ist. Das Stabilitätsgesetz gibt der Regierung die Pflicht zum ersten Handeln und nicht uns.
({4})
Wie wenig die Dinge, die Sie hier sagen - Herr Kollege Wehner, Sie sind doch zuständig für Ihre Partei -, Ihre eigene Partei überzeugen, das können Sie ja im Sozialdemokratischen Pressedienst vom 9. März nachlesen, aus dem ich hier doch einige Sätze zitieren möchte, die völlig im Widerspruch zu dem stehen, was Sie hier dem deutschen Volk in dieser Debatte sagen wollen. Da wird nämlich über die jetzt angeblich allein genügende und hilfreiche Entscheidung der Bundesbank folgendes gesagt - ich zitiere -:
Eine unmittelbare Beruhigung des Preisauftriebs ist von dieser Entscheidung nicht zu erwarten, eher das Gegenteil.
({5})
Denn man wird versuchen, die erhöhten Kosten
im Preis abzuwälzen, um die Erträge zu halten.
({6})
Damit fällt auch das Argument und die billige Entschuldigung, die Maßnahmen des Stabilitätsgesetzes zur gezielten Beschränkung der Nachfrage in spezifischen Überhitzungsbereichen kämen in dieser Konjunkturphase zu spät, sie griffen erst in der zweiten Jahreshälfte.
Immerhin
- so meint der Sozialdemokratische Pressedienst - wären die Schuldigen getroffen worden.
({7})
Jetzt trifft es zuerst ihre Opfer, z. B. private kleine Bausparer.
({8})
Das heißt, die Wirtschaftspolitik kann durch diesen Beschluß nicht einfach suspendiert werden.
({9})
Das ist die Aussage des Sozialdemokratischen Pressedienstes, die ja wohl irgend jemand bei Ihnen zu verantworten hat. Ganz so weit wird die Desorganisation wohl nicht bei Ihnen gediehen sein, daß nicht zu klären ist, wer die Verantwortung für diese Feststellung, die wir völlig unterschreiben, trägt, ob das Herr Brandt ist, Herr Wehner, Herr Wischnewski oder wer sonst. Aber nach solchen Äußerungen des Widerspruchs ist es ja nicht erstaunlich, daß Sie die Sachdebatte hier scheuen
({10})
und uns auf die Fünf-Minuten-Beiträge abdrängen wollen.
({11})
Meine Damen und Herren! Es bleibt der Widerspruch zwischen den Erklärungen des Herrn Kollegen Schiller in der Öffentlichkeit, daß er den Weg der Steuervorauszahlungen gehen wolle, d. h. der Abschöpfung von Kaufkraft zur Stabilisierung der Preise durch Verminderung der Nachfrage, und der jetzigen Verteidigung des Beschlusses der Bundesbank ohne ein ergänzendes Programm der Bundesregierung,
({12})
die eben durch den Weg der Diskonterhöhung eine Verteuerung der Investitionen vornimmt und damit eine Tendenz zur Verringerung des Investitionsvolumens mit einer kurzfristig preissteigernden Wirkung. Diesen Widerspruch haben Sie nicht aufgeklärt.
Und was wollen wir nun? Herr Kollege Junghans, was wir wünschen, ist eine konzertierte Aktion von Bundesregierung und Bundesbank
({13}) insofern, als die Bundesregierung durch eine aktivere Wirtschaftspolitik,
({14})
insbesondere mit den Mitteln der Konjunkturausgleichsrücklage, der Haushaltsgestaltung und der Steuerpolitik, die Bundesbank entlastet und sie instand setzt, diesen Beschluß zu überprüfen,
({15})
d. h. die Belastungen in angemessen .kurzer Zeit zu senken. Wir haben doch das Wort von der konzertierten Aktion nicht erfunden, bei dem Sie so allergisch reagieren, Herr Kollege Wehner.
({16}) Es stammt aus dem Sprachschatz des Kollegen Schiller.
({17})
- Es stammt aus dem Sprachschatz des Kollegen Schiller. Hier wäre eine konzertierte Aktion von Bundesregierung und Bundesbank dringend erforderlich. Sie ist, glaube ich, notwendig,
({18})
und dazu tragen wir bei.
({19})
- Mit dem Antrag von gestern, die Konjunkturausgleichsrücklage zu sichern, die verbal verkündet, aber im Haushalt nicht vorgesehen ist,
({20})
und zwar zusätzlich zu den Haushaltssperren, mit dem Antrag also, den Sie im Haushaltsausschuß des Bundestages abgelehnt haben, der aber unterstützt wird von den Finanzreferenten sämtlicher Länder, auch der sozialdemokratisch regierten, und auch mit der Bereitschaft, meine Damen und Herren - und Sie haben ja damals im Dezember das Angebot des Kollegen Barzel angenommen,
({21})
eine unserer ersten Initiativen, Herr Kollege Junghans -,
({22})
die Fragen der Steuersenkung erst endgültig zum Zeitpunkt der zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushaltes zu entscheiden, weitere Zahlungen, die aus der Gesetzgebung dieses Jahres kommen, zu einem konjunkturpolitisch richtigeren Zeitpunkt zu placieren, auch im sozialen Bereich, sowie mit der Bereitschaft, den Umfang 'der Sperren zu überprüfen.
Herr Kollege Junghans, so einfach können Sie es sich ja nicht machen. Wer redet denn neben uns noch von Werfthilfen und Seeschiffahrt? Das sind wir doch nicht alleine; das ist Herr Weichmann, das ist der Herr Kollege Apel, das sind Abgeordnete aus allen Küstenländern. Und wenn wir solche Probleme im einzelnen ansprechen - z. B. auch das Problem der Sperren bei den Hochschulbauten -, dann können Sie das doch nicht als ein Argument gegen unsere angeblich konjunkturpolitische Argumentation verwenden!
({23})
Das gleiche tun Sie doch auch, Herr Kollege Wehner, als Harburger Abgeordneter. Sie haben doch in Ihren Wochenberichten in der „Harburger Post" auch schon einiges zum Thema Werften und Schiff1894
fahrt gesagt, das durchaus auf der Linie der CDU/ CSU liegt.
({24})
Machen Sie es sich doch nicht so einfach, wie Sie es hier tun.
Wir sind bereit, in der Gesamtbilanz der Bundesregierung zu einer Ausweitung der Haushaltssperren zu kommen, wenn die Bundesregierung uns endgültig sagt, wie es mit .dem Haushalt steht. Wenn wir natürlich aus- der Zeitung lesen, daß ein Nachtragshaushalt kommt und daß andere Änderungen vorgenommen werden, dann brauchen wir zunächst einmal die Eröffnungsbilanz dieser neuen Politik, die im Jahreswirtschaftsbericht und im Haushaltsentwurf nicht vorgelegt wurde.
({25})
Auf dieser Basis sind wir bereit, konstruktive Vorschläge zum Thema der Fiskalpolitik und der Steuerpolitik zu machen, wie wir es gestern im Haushaltsausschuß getan haben, als wir die Anträge einbrachten. So können wir diskutieren, aber mit einem Partner, der bereit ist, sachlich zu diskutieren, und der nicht die eigene Hilflosigkeit hinter einer massiven Polemik verbirgt.
({26})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte ursprünglich die Auffassung, daß man nach den gestrigen Auseinandersetzungen im Haushaltsausschuß dieses Thema heute hier nicht noch erörtern würde. Herr Stoltenberg zwingt mich dazu, ein paar Bemerkungen zu machen.
Punkt 1. Herr Stoltenberg, Sie haben gesagt, daß nach den Vorschlägen des Bundesrates gestern im Haushaltsausschuß von Ihrer Fraktion Anträge gestellt worden sind. Ich stelle erstens fest, daß es bisher in der Praxis dieses Hauses noch nicht üblich war, schon aus Ausschußvorschlägen des Bundesrates Konsequenzen zu ziehen. Man hat immer gewartet, bis der Bundesrat als Plenum dazu gesprochen hat, und diese Praxis sollte auch beibehalten werden.
({0})
Aber ich muß Ihnen sagen, Ihre Anträge waren auch ein bißchen mit der heißen Nadel genäht. Denn als Sie sagten, die Bundesregierung solle aufgefordert werden, im Einzelplan 60 einen Titel „Konjunkurausgleichsrücklage" auszubringen, hatten Sie ganz vergessen, daß dieser Titel schon ausgebracht war.
({1})
Daran ist schon zu sehen, daß das eine reine Propagandaangelegenheit war. Erst nachdem wir Sie darauf aufmerksam machten, sind Sie mit Ihrem zweiten Absatz gekommen und haben gesagt, da sollten 1,5 Milliarden DM plus die 2,7 Milliarden DM Sperren eingestellt werden.
({2})
- Herr Stoltenberg und Herr Leicht, Sie wissen
ganz genau, wie die Lage ist und wie die Praxis ist.
Dieser Haushalt - das habe ich schon während der Haushaltsdebatte gesagt - ist so restriktiv angelegt wie kein Haushalt dieser Regierung und einer anderen jemals zuvor.
({3})
Punkt 2. Sie wissen ganz genau, daß die gesperrten 2,7 Milliarden DM - und diese Sperre kann nur auf Antrag des Finanzministers mit Zustimmung des Wirtschaftsministers durch Beschluß des Bundeskabinetts aufgehoben werden - nicht in die Konjunkturausgleichsrücklage gestellt werden können, weil diese 2,7 Milliarden DM auch nach dem Vorschlag der Regierung auf dem Kapitalmarkt aufgenommen werden sollen. Wo wollen Sie jetzt bei dieser Kassenlage das Geld hernehmen? Das geht auch nicht.
Sie haben weiter gesagt: Wir setzen den Ergänzungshaushalt ab, wir beraten ihn gar nicht. Dabei hat die Bundesregierung ihn noch nicht einmal beraten. Ich frage: Was ist das für eine Methode? Sie kommen mir hier mitunter vor wie eine fröhliche Untersekunda.
({4})
Da wird glatt gesagt: Die Bundesregierung kann beschließen, was sie will, wir werden nicht beraten. Sie können zustimmen, Sie können ablehnen. Aber Sie können nicht zum Streik auffordern. Das werden wir jedenfalls nicht mitmachen.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann an das anknüpfen, was Herr Hermsdorf eben sagte, und auch noch einmal auf das zurückkommen, was Herr Kollege Stoltenberg sagte, weil sich ja beides irgendwie berührt. Ich glaube, so viel ist inzwischen klargeworden in dieser Debatte - und das scheint für die Öffentlichkeit ganz wesentlich zu sein -: Das einzige, was die CDU/CSU konkret vorzuschlagen hätte, sind die vier Punkte, die wir gestern im Haushaltsausschuß behandelt haben. Weitere Maßnahmen sind offenbar ihr auch nicht eingefallen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sollten uns darüber im klaren sein, daß Reden über weitere Maßnahmen gerade die von Ihnen behauptete Hektik, das von Ihnen behauptete Durcheinander erst einmal heraufbeschwören würden. Wir sind der Meinung, wie sie in der Erklärung der Bundesregierung gestern und in
den Äußerungen von Herrn Professor Schiller heute zum Ausdruck gekommen ist: Jetzt herrscht Klarheit, und diese Klarheit wollen wir nicht durch neue Unruhe beeinträchtigen.
({1})
Meine Damen und Herren, Herr Müller-Hermann hat, glaube ich, davon gesprochen, wir hätten die Anträge der CDU/CSU im Haushaltsausschuß gestern niedergewalzt oder niedergestimmt. „Nieder" war auf jeden Fall dabei, ob „gewalzt" oder „gestimmt", habe ich phonetisch nicht ganz mitbekommen.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist absolut falsch. Ich würde das Resümee dieser doch immerhin einstündigen Beratungen so zusammenfassen: Wir haben Sie argumentativ ausgepunktet.
({3})
Herr Kollege Hermsdorf hat schon darauf hingewiesen, daß Ihr Antrag hinsichtlich der Einstellung eines Titels überflüssig war. Ich kann das hier im einzelnen nicht darlegen. Es ist überzeugend nachgewiesen worden, daß Ihre Vorschläge über eine weitere Dotierung der Konjunkturausgleichsrücklage über die vorgesehenen zwei Tranchen hinaus zur Zeit, aus kassenmäßigen Gründen insbesondere, nicht möglich ist.
({4})
Wir sind uns einig - das habe ich am 19. Februar hier ausgeführt -, was an Ersparnissen, was per Saldo an Haushaltsverbesserungen eintritt, soll stillgelegt werden. Ich habe aber damals schon gesagt und wiederhole es: in welcher Form, das muß man im entscheidenden Augenblick überlegen,
({5})
weil wir ja alle wissen, Herr Leicht, daß die Mittel, die in die Konjunkturausgleichsrücklage gegeben werden, dann nur unter ganz bestimmten erschwerten Bedingungen wieder zurückfließen können.
Ein Wort noch zum Ergänzungshaushalt, nicht „Nachtragshaushalt", wie hier immer fälschlicherweise behauptet wird. Dieser Ergänzungshaushalt ist ja nun weiß Gott keine Erfindung dieser Regierung.
({6})
Den gibt es immer und überall. Wir wissen, daß gestern von der Bundesregierung erklärt worden ist - und darauf verlassen wir uns -, dieser Ergänzungshaushalt wird keine Ausweitung des Haushaltsvolumens bringen. Darauf kommt es entscheidend an.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach diesen kurzen haushaltstechnischen und haushaltspolitischen Bemerkungen darf ich noch etwas hinzufügen, wozu mir in der ersten Runde sozusagen
die Zeit gefehlt hat. Wir sollten bei der Beurteilung der Auseinandersetzungen der letzten Wochen und Monate doch auch einmal sehen, daß wir hier an die ganz normalen Grenzen einer staatlichen Konjunkturpolitik kommen, die für jede Regierung, wer immer sie stellt und in welchem Land, unter den von uns gemeinsam vertretenen gesellschafts- und staatspolitischen Voraussetzungen gegeben sind.
({7})
Wir müssen leider, ob es uns paßt oder nicht, davon ausgehen, daß eben sehr gern und überall von Stabilität geredet, diese gefordert und darüber geschrieben wird, daß man aber, wenn man dann auf den Grund der Dinge kommt - jetzt nicht hier im Parlament; wir sind ja insoweit keine Betroffenen, aber wenn wir mit den Gruppen aller Art sprechen, und ich habe ja vorhin schon kurz von den Tarifpartnern gesprochen -, doch überall auf allen Seiten auf die Meinung trifft: Konjunkturpolitik, Stabilität, ja, aber nach dem Rezept: Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht naß! Ich glaube, das ist eine Erscheinung, vor der wir alle stehen.
({8})
- Ihre Regierung hat das ebensowenig gekonnt, wie andere es heute und in Zukunft können werden. Es ist das erforderlich, was ich hier vor vier Wochen als intellektuelle Redlichkeit bezeichnet habe. Ganz abgesehen davon sind wir uns wohl alle einig, daß alle Maßnahmen immer nur marktkonform sein können. Darüber gibt es in diesem Hause ja Gott sei Dank keine Meinungsunterschiede mehr - nebenbei ein stolzer Beweis liberaler Bekehrung nach allen Seiten.
({9})
Meine Damen und Herren, wir stoßen hier letzten Endes auf die geistigen Grundlagen unseres Staats- und Gesellschaftssystems, auf die Einstellung des einzelnen und der Gruppen zum Staat, zur Gesellschaft und zur Gemeinschaft. Hier werden Sie mir vielleicht zustimmen, wogegen Sie mir das Letzte vielleicht nicht so honorieren werden, ich sage es aber trotzdem: Wenn wir in dieser Situation sind, dann sollten Sie bei der Kritik an den Schwierigkeiten, die aus dieser Situation entstehen, nicht ganz vergessen, daß es gerade Ihre Politik in 20 Jahren gewesen ist, mit Wahlgeschenken zu jeder Wahl und mit einem Appell an materielle Interessen - um nicht zu sagen: Instinkte -, womit Sie Wahl für Wahl geführt haben, die uns in diese Situation gebracht hat.
({10})
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Lauritzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit der allgemeinen Konjunkturdebatte ist heute wiederholt die Frage gestellt worden, wie sich die Maßnahmen der Bun1896
desregierung und der Bundesbank, insbesondere die Diskontsatzerhöhung auf die Bauwirtschaft, die Baupreisentwicklung und die Mieten auswirken. Lassen Sie mich dazu kurz Stellung nehmen. Ich meine allerdings eines: Man darf diese Dinge nicht immer wieder dramatisieren und durch neue Parolen - wie hoch die Mieten z. B. steigen werden -({0}) Unruhe in die Bevölkerung hineinbringen.
({1})
- Ich glaube, Sie alle, die Sie jetzt unruhig werden,
({2})
sollten sich einmal eine heutige Tageszeitung zur Hand nehmen, z. B. die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", in der auf der ersten Seite steht: Jetzt abwarten! Ich glaube, dieser Satz hat in diesem Zusammenhang seine Gültigkeit. Denn auch in diesem Bereich geht es der Bundesregierung ganz besonders darum, ihre Bemühungen auf eine Preisstabilität ohne Stagnation auszurichten.
Die Diskontsatzerhöhung soll doch im Baubereich auch dazu beitragen, den allgemeinen Preisauftriebstendenzen entgegenzuwirken. Um ein solches Ziel zu erreichen, um die eigenen Bemühungen der Bauwirtschaft zu fördern, durch Marktanpassungsprozesse, Rationalisierung und Industrialisierung der Betriebe zu einer Stabilität der Preise zu gelang gen, wäre es doch nicht richtig, wenn die Bundesregierung jetzt dazu überginge, etwa die Förderungsbeträge im öffentlich geförderten Wohnungsbau zu erhöhen oder die kreditpolitischen Maßnahmen der Bundesbank durch Zinssubventionen der öffentlichen Hand zu unterlaufen. Das wäre im Augenblick sicherlich eine falsche Maßnahme; denn solche Maßnahmen, die im Augenblick einen ausgesprochen prozyklischen Effekt haben müßten, können erst wieder in Betracht gezogen werden, wenn das Ziel der Bundesregierung erreicht ist: Stabilität und Vollbeschäftigung.
Diese Zurückhaltung bezüglich der Fördersätze und der Zinssubvention führt nun keineswegs, wie gelegentlich behauptet wird, zu einer kritischen Situation in der Bauwirtschaft und für den Wohnungsneubau des Jahres 1970. Denn wir sind am 1. Januar 1970 mit einem Bauüberhang von 700 000 Wohnungen in das neue Jahr hineingegangen. Davon sind 500 000 Wohnungen bereits im Bau und für 200 000 Wohnungen ist die Baugenehmigung gegeben. Das bedeutet, daß "wir auch im Jahre 1970 wieder ein Fertigstellungsergebnis von über 500 000 Wohnungen 'erwarten können.
Im übrigen werden Bauinvestitionen, insbesondere Investitionen für den Wohnungsneubau erfahrungsgemäß stets bis zu einem halben Jahr im voraus finanziert; in der Regel durch Pfandbriefhypotheken mit einem festen Zinssatz oder durch Bauspardarlehen, so daß auch mit einer Verteuerung der Kapitalkosten in diesem Zeitraum - ich spreche vom ersten Halbjahr 1970 - nicht zu rechnen ist.
Soweit die Finanzierung noch nicht abgeschlossen ist - das gilt erfahrungsgemäß im wesentlichen für die Bauvorhaben der zweiten Jahreshälfte -, wird wegen der Kalkulationsrisiken sicherlich ein gewisses Abstoppen der Bauinvestitionen zu verzeichnen sein. Ich rechne in diesem Zusammenhang mit einer gewissen Stabilisierung der Baupreise, so daß ich allen Bauwilligen, die ihre Baufinanzierung bisher noch nicht abgeschlossen haben, empfehle,
({3})
- ich stelle mich auch dann gern wieder der Diskussion! - ihre Bauwünsche solange zurückzustellen, bis wir zu einer Normalisierung des Baumarktes gekommen sind.
Die durch die Gesamtmaßnahmen mit Sicherheit zu erwartende Baulücke darf, jedoch insbesondere für die auf dem Wohnungsbausektor zuständigen Industriezweige nicht zu hart ausfallen. Ihre Arbeitsplätze dürfen nicht gefährdet werden. Deswegen wird die Bundesregierung durch das schon angekündigte langfristige Wohnungsbauprogramm, das sich dem jeweiligen Konjunkturablauf gegenüber unabhängig entwickeln soll, in diesem Bereich rechtzeitig und regulierend eingreifen.
Meine Damen und Herren, ich glaube auch nicht, daß die getroffenen Maßnahmen der Bundesregierung und der Bundesbank auf die Mieten allgemein durchschlagen müssen. Für den vorhandenen Wohnungsbestand ist doch folgendes festzustellen. Der soziale Mietwohnungsbau ist in der Regel durch Hypotheken der Pfandbriefinstitute finanziert worden, und diese Hypotheken wurden zu festen Zinssätzen gegeben, so daß sie von einer Verteuerung des Kapitalmarkts nicht erfaßt werden. Damit ergibt sich bei Mietwohnungen, die mit Pfandbriefhypotheken finanziert worden sind, aus Anlaß der Diskontsatzerhöhung keine Mieterhöhung. Dasselbe gilt für Eigenheime, die mit Bausparkassenhypotheken finanziert worden sind. Soweit eine Finanzierung durch Hypotheken der Sparkassen vorliegt, die vielfach eine Zeitgleitklausel vereinbart haben, richtet sich der Hypothekenzins doch nicht nach dem Diskontsatz der Bundesbank, sondern nach dem Spareckzins.
Herr Minister, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin sofort fertig. - Während sich der Diskontsatz um 4% erhöht hat, hat sich der Spareckzins nur um 1 % erhöht. Im übrigen ist bei den Hypotheken der Sparkassen weitgehend eine Annuität vereinbart, die den Sparkassen die Möglichkeit gibt, evtl. Zinserhöhungen über diesen Weg abzufangen. Die Sparkassen haben bisher weitgehend von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Wir werden uns nach wie vor auf diesem angedeuteten Weg um eine Stabilität der Mietpreise bemühen. Deswegen denken wir, meine Damen und Herren, keineswegs daran, etwa die MietobergrenBundesminister Dr. Lauritzen
zen im Wohngeldgesetz anzuheben, weil wir damit auch eine Sogwirkung auf die Mietpreisentwicklung ausübten.
Im übrigen darf ich sagen, daß wir eine gewisse Abflachung der Mietpreisentwicklung schon im Januar haben feststellen können.
({0})
- Sicherlich! Wenn Sie sich die Statistik vornehmen, werden Sie sehen, daß der Preisindex für Wohnungsmieten im Januar nur noch 0,0/o gegenüber dem Vormonat ausmacht. - Das wird auch das Ziel unserer Wohnungspolitik bleiben.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Gewandt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ruhe ist erste Bürgerpflicht, und Parlamentsdebatten sind unerwünscht. Warum, das kann man den Worten der Kollegen Hermsdorf und Kirst entnehmen. Die antizyklische Fiskalpolitik der Regierungskoalition besteht aus Leertiteln.
({0})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesbankpräsident hat gestern erklärt: Die Inflation fordert wahllos ihre Opfer, während die Wirtschaftspolitik die Chance hat zu zielen. Sie zielen nicht, weil Sie keine Wirtschaftspolitik haben.
({1})
Ende vergangenen Jahres hat Herr Schiller gesagt: Wir brauchen ein neues Chequers. Er ist vor vier Wochen in Paris gewesen und hat gesagt: Wir brauchen die internationale Abrüstung des hohen Zinses. Als im Januar die Bundesbank in ihrem Bericht sagte, seine Politik sei nicht antizyklisch, hat er mit dem Versprechen, eine solche Politik würde kommen, erreicht, daß sich die Bundesbank nicht entschieden hat. Er hat seinerzeit begrüßt, daß die Bundesbank von ihrer kreditpolitischen Linie nicht abgegangen ist. Er hat gesagt, das hohe Zinsniveau führe zu einem Liquiditätskollaps.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist heute die besorgniserregende Situation.
Jetzt, wo die Regierung keine probaten Mittel anwendet, wird gesagt, die Arbeitnehmer und die Unternehmer sollten sich bescheiden. Die Regierung weiß, daß in besonderer Weise die mittelständische Wirtschaft, deren Ertragslage sich auf Grund der Kostensteigerung bedenklich entwickelt hat, gar nicht in der Lage ist, zu diesen Sätzen noch Kredite aufzunehmen.
({3})
Die Ertragslage dm Einzelhandel - um ein. Beispiel
zu nennen - ist im vergangenen Jahr um 1,2 %
wegen der hohen Kosten auf unter 5 % des Umsatzes abgesunken. Die großen Betriebe können sich vielleicht vorübergehend noch ,außerhalb der Grenzen billigere Mittel beschaffen. Aber wie ernst die Situation ist, sehen Sie idaran, daß ein Magazin, das sich in der letzten Zeit durch Hofberichterstattung auszeichnete, sehr richtig sagte, diese Politik mache die Armen ärmer und die Reichen reicher.
({4}) Wohin führt 'denn diese Politik?
({5})
Sie führt dazu, daß wie in England erst gebremst und dann angekurbelt wird, also nach dem Prinzip des „go and stop" gehandelt wird.
({6})
Herr Barzel hat zu Recht gesagt, wir sollten hier etwas volkstümlicher sprechen. Deshalb möchte ich sagen: eine Wechselkur zwischen Rizinusöl und Kohletabletten bekommt keiner Volkswirtschaft!
({7})
Wie soll der Bürger Vertrauen haben, wenn ihm innerhalb von fünf Monaten erst gesagt wird: Steuersenkung, dann aber: Steuererhöhung, dann:. zinslose Zwangsabgabe? Wie soll disponiert werden? Wie soll man Vertrauen haben?
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben 'sich heute der Sachdebatte entzogen;
({8})
die Regierung hat sich einer Anwendung ides Stabilitätsgesetzes entzogen und es der Bundesbank überlassen, eine Roßkur durchzuführen. Ich frage: Wie sollen der Bürger und die Wirtschaft Vertrauen in eine Wirtschaftspolitik haben,
({9})
Herr Wehner, bei der sich der Wirtschaftsminister - unabhängig davon, wie der Bundeskanzler heißt, ob Kiesinger oder Brandt - mit seinen Ideen im Kabinett nicht durchsetzt und ständig durch Hektik und Fehlprognosen die Wirtschaft beunruhigt? Wieso ist es möglich, daß er in 'dieser Situation keine Konsequenz zieht?
Wir haben hier eine konstruktive Mitarbeit angeboten. Der erste war unser Fraktionsvorsitzender, der sagte: Wir werden keine ausgabewirksamen Beschlüsse treffen, solange nicht die mittelfristige Finanzpolitik vorliegt. Herr Stoltenberg hat, wie auch Herr Müller-Hermann, während der Debatte heute und bei der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht unseren konstruktiven Beitrag angeboten.
({10})
Die Bundesregierung entzieht sich aber ihrer aus dem Stabilitätsgesetz resultierenden Pflicht.
({11})
Das heißt, meine verehrten Damen und Herren: solange die Regierung sich der Verantwortung entzieht und die Bundesbank allein in 'der Verantwor1898
tung läßt, müssen wir jede Verantwortung für diese sehr ernste Entwicklung ablehnen.
({12})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Schachtschabel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß es ratsam und zweckmäßig ist, nach den Diskussionen, die wir eben gehört haben, auch wieder einmal zur Sache zu kommen
({0})
und zu einer ernsten Angelegenheit auch ernste Worte zusprechen.
({1})
Wir sollten uns doch an folgenden Punkt erinnern. Wir sind heute, unter konjunkturtheoretischen, konjunkturpolitischen Gesichtspunkten gesehen, in einer sehr viel anderen Situation als im Jahre 1966, und wir haben heute andere Instrumente, um damit die konjunkturelle Entwicklung zu beeinflussen.
({2})
Zu diesen Instrumenten ist allerdings etwas zu sagen, und ich glaube, daß es wichtig ist, dabei auch auf ein paar Vorgänge aufmerksam zu machen,
({3})
von denen wir meinen, daß sie immer wieder in Vergessenheit geraten. Bitte, überlegen Sie einmal, daß wir in der heutigen Situation, von der wir auszugehen haben, die Instrumente in einer dosierten, wohlüberlegten Form einsetzen können. Dabei ist zu berücksichtigen, daß wir das Stabilitätsgesetz haben, und dieses Stabilitätsgesetz, wie es gestern in .der Erklärung der Bundesregierung deutlich zum Ausdruck gekommen ist, im Zusammenhang mit einer Diskontsatzerhöhung einsetzen können.
({4})
Wir haben diese Maßnahme eingesetzt, und es ist völlig abwegig, zu sagen, die Bundesregierung habe überhaupt nichts getan,
({5})
und es werde - wie es vorhin gesagt worden ist - ein Zickzackkurs verfolgt. Die Unruhe und die Ungewißheit, von der Sie gesprochen haben, kommt doch nicht von der Bundesregierung,
({6}) sondern von denen, die daran interessiert sind, daß I diese Unruhe aufkommt!
({7})
Meine Damen und Herren, wenn wir einen Augenblick auf das Stabilitätsgesetz aufmerksam machen dürfen, so besteht doch wohl Einmütigkeit darüber, daß die entsprechend der gegebenen Lage notwendigen Maßnahmen aus diesem Stabilitätsgesetz angewandt werden.
({8})
Wir würden uns allerdings freuen, wenn dabei die Hauptlast nicht nur beim Bund läge, sondern die Länder damit im Gleichklang und im gleichen Anliegen eine solche Stabilitätspolitik betrieben. Wir hören immer wieder - und ich glaube, Sie wissen, was damit gemeint ist -, daß man offenbar nicht geneigt zu sein scheint, einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, die im Zusammenhang mit den Freien Demokraten auf einen ganz klaren und eindeutigen Nenner ausgerichtet ist, auch durch die Länder unterstützt zu wissen, in denen die CDU oder CSU die Regierung innehat.
({9})
Ich glaube, es ist im Augenblick gar keine Veranlassung gegeben, irgendwelche anderen Maßnahmen vorzusehen als diejenigen, die im Jahreswirtschaftsbericht im sogenannten Konjunkturprogramm der Bundesregierung vorgesehen sind, und dazu zusätzlich die Diskontpolitik einzuschalten.
({10})
Wenn wir diese Maßnahmen konsequent durchführen, dann bringen wir nicht nur eine notwendige Ruhe in die Wirtschaft hinein, von der übrigens auch einmal seitens der Opposition hier gesprochen worden ist - und ich glaube, daß diese Ruhe eben dann gegeben ist, wenn man bei den Maßnahmen bleibt, die man eingeleitet hat --, sondern wir haben auch die Möglichkeit, daß eine vielleicht zu erwartende, kommende Abflachung in der wirtschaftlichen Konjunktur aufgefangen werden kann.
Meine Damen und Herren, gehen wir an diesem Tatbestand nicht vorbei, der ,aus den Kreisen der Opposition doch sonst immer mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird. Ich glaube, wir haben noch einige Indikatoren, daß sich unsere wirtschaftliche Situation in der Tat beruhigt und in sich selbst stabilisiert. Denken Sie .an die Vorgänge an der Börse, wo doch durch die letzte Entwicklung auch ein nachhaltiges Vertrauen sichtbar geworden ist!
Da die Zeit abgelaufen ist, darf ich mit den Worten schließen: In dieser Situation scheint mir nichts notwendiger zu sein, als sich auf die Grundlagen der von der Bundesregierung eingeleiteten konDr. Schachtschabel
junkturpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Diskontpolitik einzustellen und sie für die nächste Zeit konquent durchzuführen; dann wird sie auch erfolgreich sein.
({11})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Freitag ist bekanntlich für viele ein fleischloser Tag. Das, was die Opposition heute bisher geboten hat, das war wirklich auch fleischlose Kost.
({0})
Es war mager, was hier an angeblichen Argumenten vorgetragen wurde.
({1})
- Ja, verehrter Herr Kollege von der CDU, das ist noch nicht einmal böser Wille von Ihnen. Das eine ist doch erneut wirklich deutlich geworden: Sie haben kein Rezept!
({2})
Sie stehen hier mit völlig leeren Händen, und deswegen nehmen Sie den Mund um so voller.
({3})
Damit wollen Sie nur vernebeln, daß Sie in dieser Situation selbst eine schwache Position einnehmen. Denken Sie daran, was durch Ihre Politik in den vergangenen Jahren auch auf diesem Sektor versäumt worden ist!
({4})
Sie spekulieren damit - ({5})
- Ach Gott, dieses Niveau entspricht auch der Schwäche, von der ich gerade gesprochen habe.
({6})
Sie spekulieren doch damit, nun der Öffentlichkeit weismachen zu wollen, daß diese Bundesregierung nichts getan habe.
({7})
Ich werde mich hüten, den Katalog der getroffenen Maßnahmen hier noch einmal vor Ihnen vorzutragen.
({8})
Sie würden das ja doch nicht akzeptieren. Es ist genügend darauf hingewiesen worden, auch heute wieder von dieser Stelle aus.
({9})
Nun gebe ich zu, daß die Abrundung der Maßnahmen der Bundesregierung durch die Diskonterhöhung ein schmerzvoller Akt ist, ganz ohne Zweifel. Aber, Herr Barzel, diese Diskonterhöhung ist auch ein Appell gewesen, ein Appell unter anderem auch an die Tarifvertragsparteien.
({10})
Und, Herr Barzel, Ihr Verhalten heute hier macht deutlich, daß zumindest die CDU/CSU-Fraktion diesen Appell nicht begriffen hat.
({11})
Denn andernfalls würden Sie hier andere Methoden anwenden. Aber Sie zielen bewußt auf eine Verunsicherung ab.
({12})
Nun zum Abschluß. Der Herr Stoltenberg hat noch den Mut gefunden, nach der Abstimmungsniederlage, die Sie heute erneut haben in Kauf nehmen müssen,
({13})
von der schwachen Basis dieser Koalition zu sprechen. Ich kann mich nur darüber wundern, daß man noch nicht einmal in der Lage ist, das in Erinnerung zu behalten, was sich zwei Stunden vorher hier zugetragen hat,
({14})
Ich habe mal nachgerechnet: fast 80 Kollegen der Opposition waren heute morgen nicht da. Ich habe mich gefragt - nachdem Sie doch uns überrumpeln wollten -: warum waren sie nicht da? Sie waren nicht da, weil diese 80 Kollegen diese Spiegelfechterei von Ihnen selbst nicht mehr ernst nehmen.
({15})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mick.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf einer sozialdemokratischen Betriebsrätekonferenz in Duisburg hat der Bundeskanzler laut Pressemitteilungen gesagt, daß die Bundesregierung keine Veranlassung habe, bei der gegenwärtigen Konjunktursituation schweres Geschütz in Stellung zu bringen. Nun, ich stelle fest: obwohl diese Regierung wie keine andere von- Anfang an Geschütze zur Hand hatte - nicht nur schwere -, um diese Lage zu meistern, hat sie vorläufig überhaupt noch nichts in Stellung gebracht. Die Ruhrkumpels hätten wahrscheinlich mit Beifall gekargt, wenn sie z. B. hätten zur Kenntnis nehmen müssen, daß jedes Prozent Diskonterhö1900
Mick hung acht Prozent Baukostensteigerung zur Folge hat.
({0})
Bei 1 1/2% macht das nach Adam Riese 12% Baukostensteigerung. Verehrter Herr Minister Lauritzen, der Mann, der Ihnen diese Rede aufgesetzt hat, den würde ich einmal ins Gebet nehmen; denn der hat sich mit den Tatbeständen weiß Gott nicht vertraut gemacht.
({1})
Die Tatbestände sind nämlich folgende. Im Lande Nordrhein-Westfalen z. B. sind 55 bis 60 % aller Wohnungen - ich betone: aller Wohnungen, auch der Sozialwohnungen - mit zinsvariablen Mitteln gebaut worden.
({2})
Das gilt insbesondere für die Mittel, die durch die Sparkassen gegeben worden sind, und das dürfte wohl ein höherer Finanzierungsanteil sein als Pfandkredite. Bei den von Ihnen hier so herausgestrichenen 700 000 Wohnungen im Bauüberhang werden Sie diese 12% ige Baukostensteigerung eklatant erleben.
({3})
Das bedeutet, daß der deutsche Mieter wiederum mit 10 bis 20 Pfennig Mieterhöhung pro Quadratmeter zur Kasse gebeten werden wird. Und da reden Sie davon, daß diese Maßnahme im Wohnungsbau 4 eine Preisabstiegstendenz erbringen soll.
Aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund hat zu diesen Fragen Stellung genommen; ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren, auch wenn es mein DGB-Kollege Wehner nicht so gern hat:
({4})
Der Deutsche Gewerkschaftsbund bedauert den Beschluß der Bundesbank, den Diskontsatz von 6 auf 7,5 % zu erhöhen. Eine mit der Diskonterhöhung beabsichtigte Drosselung der Investitionstätigkeit wäre vor zwölf Monaten zeitgemäß gewesen. In der jetzt eingetretenen Abschwächungsphase der Konjunktur kann diese Maßnahme zu einer unbeabsichtigten Unterkühlung führen. Die Zinserhöhung trägt nicht unmittelbar zu einer Preisberuhigung bei, sondern führt insbesondere in der Bauwirtschaft zu weiteren Kostenerhöhungen. Die Diskonterhöhung erschwert zugleich die internationale Abstimmung der Konjunkturpolitik und steht im Widerspruch zu der international angestrebten Politik der Zinssenkung.
Ich bin überzeugt, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund in seinen nächsten Mitteilungen mit dem Finger dahin weist, wo in Wahrheit die Gründe dieser Zustände und dieser Entwicklungen zu suchen sind. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wird und muß sich von der Umklammerung dieser Bundesregierung freimachen, wenn er auf Dauer glaubwürdig 'bleiben will.
(Beifall bei ({5})
Lassen Sie mich noch ein weiteres anführen, ehe ich zum Schluß komme. Wir haben bei dieser Situation im Wohnungsbau vergebens darauf gewartet, daß etwa 'der Herr Nevermann, der sich sonst so gern als der Schutzheilige der deutschen Mieter aufspielt,
({6}) etwas zu diesen Entwicklungen gesagt hätte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den Mietern wehren wir uns dagegen, daß der Herr Nevermann den Deutschen Mieterbund wie zum Teil die Gewerkschaften zu einer Rekrutenschule der Sozialdemokratie macht.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Porzner.
Herr Mick, zu Ihrer letzten Bemerkung brauche ich nichts zu sagen, sie qualifiziert sich selbst.
({0})
Das werden Sie mit (dem Mieterbund vielleicht austragen können.
Herr Mick, daß 1 % Diskonterhöhung zu 12 % Baukostensteigerung führen muß, ({1})
jene Art Prozentrechnung ist zu schwierig, als daß Sie sie begreifen könnten.
({2})
Sie wissen ganz genau, daß wir schon im Frühjahr des Jahres 1969, vor den Diskonterhöhungen, hohe Baupreissteigerungen hatten. Wie wollen Sie dann die erklären?
Es 'stimmt, wenn der DGB sagt, daß es besser gewesen wäre, vor zwölf Monaten konjunkturpolitisch zu handeln. Auch was Herr Stoltenberg vorhin gesagt hat - das hier nicht suspendiert werden kann -, stimmt. Durch Beschluß des Bundestages oder der Bundesregierung können die Folgen der Versäumnisse vergangener Zeiten nicht mehr sus pendiert werden. Die CDU/ CSU - Kiesinger und Strauß ({3})
haben dem Volk im Sommer vorgegaukelt, daß man mit konjunkturpolitischer Abstinenz Stabilität wahren könne.
({4})
Genau das Gegenteil ist eingetreten und mußte eintreten.
({5})
Die hohen Steigerungen der industriellen Erzeugerpreise, die 'im Herbst schon zu verzeichnen waren, schlagen bis zu den Verbrauchern durch. Das ist durch nichts aufzuhalten.
({6})
Es ist so, wie Präsident Münchmneyer neulich in einer kurzen Rede sagte: 'Gegen jene Preiswelle, die von der Industrie her auf den Verbraucher zurollt, wirkt in jener Spätphase der Konjunktur, die wir haben, kein Preisbrecher. - Und Gewaltkuren wollen wir nicht verordnen, weil es uns darum geht, die Konjunktur 'in eine Phase normalen Wachstums überzuleiten.
({7})
Das wird mit den vorgeschlagenen Mitteln, mit den
Beschlüssen der Bundesbank, der Bundesregierung,
({8}) die ich nicht 'aufzuzählen brauche,
({9}) erreicht 'werden.
'Herr Mick, nun noch einige Bemerkungen zu Ihren Äußerungen, obwohl ja der Bundesminister für Wohnungsbau, Herr Lauritzen, schon vorweg darauf eingegangen ist. Für mich ist die 'Deutsche Bundesbank eine sehr zuverlässige Informationsquelle.
({10})
Aus den Berichten der Bundesbank kann man entnehmen, daß die Hauptwirkung jener zinspolitischen Maßnahme, die kurzfristig zu einer Steigerung der Zins- und Kapitalkosten führt, darin liegt, daß steigende Finanzierungskosten die Nachfrage nach Investitionsgütern und nach Bauleistungen dämpfen. Dies wird in der ganzen Volkswirtschaft, auch in der Bauwirtschaft, zur Preisberuhigung beitragen.
({11})
Den Mietern ist mit einer solchen preisdämpfenden Maßnahme 'mittelfristig mehr gedient, als wenn man nichts 'in dieser Richtung unternommen hätte. Diese Zinspolitik der Bundesbank wirkt preisdämpfend und kommt somit allen auf lange Sicht zugute.
({12})
Am Montag dieser Woche hatte Herr Kollege Stoltenberg in seinen vier Vorschlägen unter anderem die Zurückstellung der steuerlichen Entlastung bis mindestens 1. Januar 1971 gefordert. Am Mittwoch, nur zwei Tage danach, haben Abgeordnete der CDU/CSU hier einen Gesetzentwurf eingebracht,
({13})
der einen Steuerausfall von 420 Millionen DM mit sich bringt.
({14})
- Ich komme auf den Termin zu sprechen. Entweder zählt das, was Herr Stoltenberg sagt, in Ihrer Fraktion nicht,
({15}) oder Sie nehmen Herrn Schulhoff und Genossen in Ihrer Fraktion nicht ernst.
({16})
Es war nicht möglich, am Mittwochabend darauf zu antworten, weil alles zu Protokoll gegeben wurde. Ich möchte Herrn Schulhoff hier zitieren. Es heißt in seiner Erklärung, die er zu Protokoll gegeben hat:
... wann soll man eigentlich einen solchen steuermindernden Antrag einbringen, wenn nicht zu einer Zeit, in der die Steuereinnahmen ... geradezu übersprudeln?
Das ist die Begründung für den Gesetzentwurf.
({17})
- Diejenigen, die diesen Antrag gestellt haben, wollen, daß sofort eine Regelung beschlossen wird. Aus dem Zitat können Sie das auch entnehmen.
({18})
Ich habe meine Zeit schon um eine Minute überschritten und muß deswegen zum Schluß kommen.
Sie müssen sich darüber klarwerden, ob Sie als Fraktion zu dem stehen, was Sie selbst hier immer laut verkünden, oder ob Sie einzelnen Gruppen aus irgendwelchen taktischen Gründen - nur weil es bei den Leuten ankommt - Anträge stellen und begründen lassen. Es allen recht zu machen, wird Ihnen auf die Dauer nicht gelingen.
({19})
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit abgelaufen.
Ich rufe nun den Punkt 7 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
- Drucksache VI/ 388 Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister zur Begründung der Regierungsvorlage.
({0})
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
- Herr Minister, ich würde Ihnen vorschlagen, noch einen Augenblick zu warten, bis sich die Gespräche im Saal etwas beruhigt haben.
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwas mehr als einem Jahr, am 12. Februar 1969, hat mein Amtsvorgänger Professor Dr. Ehmke, damals noch als Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, den seinerzeit von der Bundesregierung eingebrachten ersten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht anläßlich seiner ersten Beratung vor diesem Hohen Haus erläutert. Aus Zeitgründen konnte hier der Entwurf vom 5. Deutschen Bundestag nicht mehr verabschiedet werden.
Der von der Bundesregierung nunmehr erneut eingebrachte Entwurf hat zwar weitgehend die gleichen thematischen Schwerpunkte wie sein Vorläufer, jedoch sind in ihm teilweise neue Vorschläge entwickelt worden, mit denen die Bundesregierung Folgerungen aus der zurückliegenden parlamentarischen und sonstigen öffentlichen Diskussion über die zur Regelung anstehenden Probleme gezogen hat.
Die im Grundgesetz verwirklichte Konzeption, das Bundesverfassungsgericht als den höchsten Gerichtshof des Bundes gleichzeitig als Gericht und als ein gleichberechtigt neben den anderen Staatsorganen stehendes Verfassungsorgan auszugestalten, war ein seinerzeit verfassungsgeschichtlich und verfassungspolitisch bemerkenswerter Versuch. Ob ein solcher großangelegter Versuch glückt, hängt entscheidend von der praktischen Bewährung ab, vor allem auch davon, daß die Unverbrüchlichkeit des Rechts als eine tragende Grundlage unserer freiheitlichen demokratischen Gemeinschaft verstanden wird. Wir dürfen heute feststellen, daß die Entscheidung des Grundgesetzes, eine besondere verfassungsbewahrende Kraft in der Form eines Versystem einzufügen, sich nach fast zwanzigjähriger praktischer Bewährung grundsätzlich als richtig erfassungsgerichts in unser demokratisches Ordnungswiesen hat. Ich sage bewußt „grundsätzlich"; denn im Kräftefeld zwischen Politik und Recht gibt es, jedenfalls für Einzelprobleme, keine endgültigen Lösungen, weil die auf die Verfassungsorgane und damit auch auf das Bundesverfassungsgericht zukommenden Aufgaben immer als neu gestellt betrachtet werden müssen.
In der allgemeinen Zustimmung, die die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit heute findet, spiegelt sich vor allem der hohe Respekt wider, den sich das Bundesverfassungsgericht durch seine gleichermaßen auf Kontinuität der staatlichen und sozialen Lebensverhältnisse bedachte wie für neue Entwicklungstendenzen aufgeschlossene Rechtsprechung erworben hat. Aber auch die gegenseitige Respektierung der Verfassungsorgane untereinander und ihre unterschiedliche Aufgabenstellung hat zu diesem Ergebnis beigetragen. Dabei hat sich die Durchdringung von politischer Initiative und rechtlicher Bindung als überaus fruchtbar erwiesen. Ich bin sicher, in dieser Beurteilung mit dem Hohen Haus einig zu sein. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Verfassungsbeschwerde hat der Deutsche Bundestag vor nicht allzu langer Zeit noch ein deutliches Votum für die Verfassungsgerichtsbarkeit abgegeben.
Der Ihnen nunmehr vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ist das Ergebnis von Überlegungen, wie die Möglichkeiten einer optimalen Funktionsausübung für das Bundesverfassungsgericht verbessert werden können. Die früheren Novellen zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz verfolgten vor allem den Zweck, die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu erhalten, das durch die Fülle der Eingänge außerordentlich belastet war.
Diese existentielle Voraussetzung, so möchte ich es einmal nennen, ist mit der dritten Novelle aus dem Jahre 1963 geschaffen worden. Der Resteberg, der in den 50er Jahren noch den Eingängen von 10 Monaten entsprach, ist inzwischen, nicht zuletzt infolge eines angemessenen Vorprüfungsverfahrens bei Verfassungsbeschwerden, erheblich geschrumpft. Das bedeutet, daß die Beschwerdeführer im Durchschnitt nur noch halb so lange wie früher auf eine Entscheidung waren müssen. Diese Entwicklung ist um so mehr zu begrüßen, als die Zahl der Senatsentscheidungen über Verfassungsbeschwerden gegenüber früher nicht etwa zurückgegangen ist, sondern beachtlich zugenommen hat.
Die vertretbare Belastung des Gerichts, die sich trotz der Herabsetzung der Richterzahl von ursprünglich 12 über 10 auf jetzt 8 Richter je Senat eingestellt hat, ist allerdings teilweise auch auf die Organisationsform des Bundesverfassungsgerichts als Zwillingsgericht zurückzuführen, indem die Zuständigkeiten der beiden Senate in der Weise voneinander abgegrenzt sind, daß jeder Senat für seinen Bereich das Bundesverfassungsgericht ist. Frühere Bestrebungen, das Bundesverfassungsgericht aus einem Zwillingsgericht in ein Einheitsgericht umzuwandeln, hatten ihre Grundlage in einer Entschließung, die der Deutsche Bundestag in seiner 70. Sitzung am 3. Juni 1959 verabschiedet hatte und der der Bundesrat in seiner 207. Sitzung am 26. Juni 1959 beigetreten war. Jedoch schon bei den Beratungen der dritten Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz wurde klar, daß man die Umwandlung in ein Einheitsgericht nur mit einer Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten erkaufen könnte, wenn man das Gericht arbeitsmäßig nicht völlig überfordern wollte. Eine Einschränkung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch von keiner Seite je in Betracht gezogen worden.
Im Zusammenhang damit habe ich seinerzeit in der 82. Sitzung des 4. Deutschen Bundestages namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ausgeführt, daß man die Organisationsform des Bundesverfassungsgerichts nicht zum Gegenstand eines Experiments machen könne, daß man sich vielmehr Zeit lassen müsse, um die Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserem Land wachsen und die Verfassungsrechtsprechung sich festigen
zu lassen, bevor man das Ziel eines kleineren, nämlich eines Einheitsgerichts ernsthaft ansteuern und verwirklichen könne.
Diese Feststellungen gelten auch heute noch. Denn niemandem von uns ist daran gelegen, die Funktionsfähigkeit des Gerichts durch gerichtsverfassungsrechtliche Maßnahmen zu beeinträchtigen.
Die trotz der hohen Eingänge vertretbare Geschäftsbelastung des Bundesverfassungsgerichts erlaubt es, einige Grundsätze unserer Verfassungsgerichtsbarkeit weiterzuentwickeln. Dazu schlägt die Bundesregierung in dieser vierten Novelle vor allem die Zulassung des Sondervotums für einen überstimmten Richter, die Angleichung der Rechtsstellung der beiden Richtergruppen beim Bundesverfassungsgericht, also der sogenannten Lebenszeitrichter und der Zeitrichter, sowie die Begrenzung der Rückwirkung der verfassungsgerichtlichen Nichtigerklärung von verfassungswidrigen Normen vor.
Zunächst zum dissenting vote. In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hat sich der Herr Bundeskanzler ausdrücklich für das Recht des Verfassungsrichters ausgesprochen, seine abweichende Meinung in einem Sondervotum zu veröffentlichen, und damit einen der zentralen Vorschläge aufgegriffen, die bereits in dem letzten Entwurf eines Vierten Änderungsgesetzes zum Verfassungsgerichtsgesetz enthalten waren. Ich meine festgestellt zu haben, daß der Gedanke des Sondervotums, der bekanntlich auf dem Deutschen Juristentag im vorletzten Jahr jedenfalls für die Verfassungsgerichtsbarkeit fast einhellig, aber auch für die übrige Gerichtsbarkeit mit beachtlichen Argumenten bejaht worden war, mit seiner erstmaligen parlamentarischen Erörterung im vergangenen Jahr an Boden gewonnen hat.
Lassen Sie mich mit wenigen Sätzen erläutern, weshalb nach meiner Überzeugung die Zulassung des Sondervotums dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderer Weise entspricht. Die gerichtsverfassungsrechtliche Struktur des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Besetzung jedes Senats mit acht Richtern, trägt der Besonderheit Rechnung, daß die Fundamentalnormen der Verfassung die politische Grundordnung selbst betreffen, jedoch vielfach sehr elastisch gefaßt sind und durch die Rechtsprechung konkretisiert werden müssen. Bei dieser Eigenart des Verfassungsrechts ist die Rechtsfindung nicht mehr nur als schlichter logischer Erkenntnisvorgang erklärbar, der außerhalb jeder Meinungsverschiedenheit steht. Vielmehr werden hier häufig divergierende Meinungen der Richter nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig sein, wenn man Demokratie als die Verfassung einer offenen Lebens- und Gesellschaftsordnung versteht.
Deshalb kommt nicht nur der verfassungsgerichtlichen Entscheidung als dem eigentlichen Erkenntnisakt, sondern auch dem vorausgehenden richterlichen Meinungsbildungsprozeß Bedeutung zu. Wenn dieser Rechtsfindungsvorgang nicht in grundsätzlicher Anonymität stattfindet, so kann das nur das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts stärken, denn die Anonymität ist ein ungeeignetes Mittel, Autorität zu gewährleisten. Autorität erlangt ein Rechtsspruch letztlich durch seine Überzeugungskraft, die durch die Offenheit der Rechtsfindung nur gestärkt wird.
Natürlich stellt jede im echten Sinne wesentliche Neuerung einen Versuch dar, der auf das Gelingen hin angelegt ist. Ein solcher Versuch war - ich sagte es schon - auch die vor 20 Jahren getroffene Entscheidung für eine umfassend zuständige Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch bei der Einführung des Sondervotums sollte man das Vertrauen darauf nicht außer Betracht lassen, daß von dieser Möglichkeit der Rechte Gebrauch gemacht wird. Setzt man die Solidarität der richterlichen Mitglieder eines Spruchkörpers voraus - und das scheint mir eine unabdingbare Voraussetzung für jede Kollegialentscheidung zu sein -, so wird auch das Sondervotum zum Abbau überholter, in dem Prinzip der Anonymität begründeter Autoritätsstrukturen beitragen und zu einer Verstärkung der gerade im Verfassungsleben erwünschten Offenheit bei der Rechtsfindung beitragen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt in der Angleichung des Status der Bundesverfassungsrichter. Die bisherige Unterscheidung zwischen den Richtern auf Lebenszeit und den für eine Amtsdauer von acht Jahren gewählten Richtern auf Zeit wird der Funktion des Bundesverfassungsgerichts und der gemeinsamen Aufgabe seiner Mitglieder nicht voll gerecht. Die Bundesregierung hat deshalb eine Regelung vorgeschlagen, die einen einheitlichen Richterstatus begründet und gleichzeitig zu einer Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit führt.
Im Hinblick darauf, daß im demokratischen Staat Verfassungsorgane keine zeitlich unbefristete Legitimation zu erhalten pflegen, sollten die Verfassungsrichter nicht auf Lebenszeit, sondern einheitlich für eine begrenzte Amtsperiode von zwölf Jahren, längstens jedoch bis zur Altersgrenze von 68 Jahren, ihr Amt ausüben.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer Wiederwahl. Gegen die gleichzeitige Zulassung einer Wiederwahl und die Einführung ides Sondervotums sind aus den Reihen dieses Hauses, aber auch aus der Mitte des Bundesverfassunggerichts selbst, Bedenken angemeldet worden. Die Befürworter eines Ausschlusses der Wiederwahl wollen im Interesse des Ansehens des Gerichtes unbedingt vermeiden, daß auch nur ein entfernter Zusammenhang zwischen der Abgabe eines Sondervotums und der Entscheidung über eine Wiederwahl angenommen werden kann. Die Bundesregierung knüpft an eine auf zwölf Jahre befristete Amtsperiode ohne Zulassung der Wiederwahl vor allem die Erwartung einer kontinuierlichen Fortentwicklung der Verfassungsrechtsprechung.
Die Einführung einer einmaligen Amtszeit von zwölf Jahren für alle Verfassungsrichter bringt allerdings für die von den obersten Bundesgerichten in das Bundesverfassungsgericht gewählten Richter Nachteile gegenüber dem geltenden Recht mit sich. Sie amtieren nicht mehr als Verfassungsrichter auf
Lebenszeit, sondern treten nach zwölf Jahren wieder voll in ihre Rechte und Pflichten als Bundesrichter ein. Im Ergebnis erleiden sie dadurch zwar keine finanzielle Einbuße, doch mag es in der Tat für einen ehemaligen Verfassungsrichter keine zufriedenstellende Lösung sein, gewissermaßen zum Bundesrichter „zurückgestuft" zu werden. Sollten sich in Zukunft aus diesem Gesichtspunkt Schwierigkeiten ergeben, wird man im Einzelfall mit gutem Willen eine für die Beteiligten annehmbare Lösung finden können.
Unbegründet erscheint mir allerdings die in diesem Zusammenhang geäußerte Besorgnis, das Interesse qualifizierter Bundesrichter für das hohe, angesehene Amt eines Verfassungsrichters könne wegen 'der vorgeschlagenen Statusregelung abnehmen. Keinesfalls kann diesem Aspekt so starkes Gewicht beigelegt werden, daß man seinetwegen von der Konzeption eines einheitlichen Verfassungsrichterstatus abgeht und es für die von den obersten Gerichtshöfen in das Bundesverfassungsgericht gewählten Richter bei dem Lebenszeitprinzip beläßt.
Die erstrebte Angleichung der Rechtsverhältnisse der Bundesverfassungsrichter wäre jedoch unvollkommen, wenn nicht auch die erheblichen Unterschiede in der Versorgungsrechtslage der beiden Richtergruppen gemildert würden. Um ausgewogene Vorschläge zur Lösung dieses Problems unterbreiten zu können, bedarf es jedoch zuvor noch der endgültigen Abstimmung, insbesondere mit dem Bundesverfassungsgericht selbst. Ich erwarte, daß im Verlauf der parlamentarischen Beratungen dieses
1) Entwurfs eine Lösung gefunden werden kann.
Besonders bedeutsam für die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die vorgeschlagene, an strenge Voraussetzungen gebundene Möglichkeit, die Rückwirkung verfassungsgerichtlicher Nichtigerklärung von verfassungswidrigen Normen zu begrenzen. Die geltende Regelung, die die Nichtigerklärung eines Gesetzes auf den Zeitpunkt 'seiner Entstehung zurückbezieht, vermag nur bei einer sehr dogmatischen Einstellung zu befriedigen. Auch ein verfassungswidriges Gesetz wirkt auf eine Vielzahl von Lebensachverhalten ein, ohne daß sich diese Einwirkungen insgesamt ungeschehen machen lassen, wenn durch .die Verfassungsrechtsprechung oder die Staatspraxis verfassungsrechtliche Zweifelsfragen geklärt wurden, die bei der Verabschiedung des Gesetzes noch nicht gesehen worden sind.
Besonders schwerwiegend werden die Probleme, wenn zwischen der Verabschiedung eines Gesetzes und der Entscheidung 'des Bundesverfassungsgerichts ein zeitlicher Abstand von vielen Jahren liegt. Wie Sie wissen, kann die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes in einigen bestimmten verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten zeitlich unbeschränkt geltend gemacht werden. Die Auswirkungen eines verfassungsgerichtlichen Nichtigkeitserkenntnisses sind dann häufig unerträglich.
Die geltende Rechtslage mit ihrer unbegrenzten Rückwirkung kann zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen .des Gemeinwohls führen, nicht allein bei der Nichtigerklärung von Steuergesetzen, die in extremen Fällen der Grundlagen der staatlichen Finanzführung berühren kann, sondern auch in anderen Bereichen. Die unbegrenzte Rückwirkung kann eine so hohe Hemmungsschwelle für das Bundesverfassungsgericht darstellen, daß seine Funktion als Hüter der Verfassung unerträglich erschwert wird.
Das wesentliche Ziel des Regierungsentwurfs ist es deshalb, das Bundesverfassungsgericht von der Rücksichtnahme auf die weitreichenden Auswirkungen seiner Entscheidung für den in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zu entlasten, damit es in ausschließlicher Bindung an die Verfassung seiner wichtigen Verantwortung voll genügen kann. Der Vorschlag der Bundesregierung, den auch das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich befürwortet hat, hält für den Regelfall an der unbeschränkten Rückwirkung verfassungsgerichtlicher Nichtigkeitserkenntnisse fest. Er sieht jedoch die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts vor, aus schwerwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls einen späteren Zeitpunkt, spätestens den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Entscheidung, zu bestimmen, zu dem ein für nichtig erklärtes Gesetz als außer Kraft getreten gilt. Diese Befugnis soll dem Gericht zustehen, wenn schwerwiegende Beeinträchtigungen des Gemeinwohls als Folge der vergangenheitsbezogenen Auswirkungen eines Nichtigkeitsausspruchs zu besorgen sind. Die Bundesregierung hat sich damit gegen die nach ihrer Ansicht verfassungsrechtlich nicht zwingende Doktrin der unbeschränkbaren Rückwirkung, jedoch für eine Regelung entschieden, die den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird und dem Bundesverfassungsgericht die Erfüllung seiner schweren und verantwortungsvollen Aufgaben erleichtert.
Wenn ich die in dem Entwurf vorgeschlagenen Ausnahmen von der strengen Rückwirkung u. a. mit der Notwendigkeit begründet habe, das Bundesverfassungsgericht bei der Normenprüfung von der Rücksichtnahme auf die möglicherweise schädlichen Auswirkungen seines Spruchs auf die Vergangenheit zu entlasten, so mag man mir wie schon meinem Herrn Amtsvorgänger im vergangenen Jahr entgegnen, daß sich diese Rückwirkung als nützliche Schranke erweise; sie hindere das Bundesverfassungsgericht daran, in noch größerem Umfange als bisher Gesetze für nichtig zu erklären.
Nun trifft es allerdings zu, daß nach den Feststellungen meines Hauses bis zum 31. Dezember 1969 im Bundesgesetzblatt 262 gesetzeskräftige Entscheidungen des Gerichts veröffentlicht worden sind, die Normenprüfungen zum Gegenstand hatten. In 109 dieser Fälle, also fast 42% der hier veröffentlichten Entscheidungen, hat das Bundesverfassungsgericht die geprüften Normen ganz oder teilweise für nichtig erklärt. Daraus dürfen jedoch keine falschen Schlüsse gezogen werden; denn die zur Entscheidung kommenden Bestimmungen sind in verfassungsrechtlicher Hinsicht bereits gründlich vorgefiltert, sei es durch die vorlegenden Instanzgerichte, sei es durch den bei Verfassungsbeschwerden tätig werdenden Vorprüfungsausschuß. Abgesehen davon, daß mit dieser quantitativen Betrachtungsweise die Problemlage nicht zutreffend erfaßt
werden kann, glaube ich hier aber feststellen zu dürfen, daß die hohe Anerkennung, die der Qualität unserer Verfassungsrechtsprechung allseits gezollt wird, ,das 'Bundesverfassungsgericht über den Verdacht erhebt, es bei der ihm zugewiesenen Kontrolle der Gesetzgebungsakte an Behutsamkeit und Rücksichtnahme auf den Gesetzgeber fehlen zu lassen.
Diese Hinweise auf die drei tragenden Verbesserungen des Regierungsentwurfs sollen seine Absicht deutlich machen. Die Bundesregierung war stets darum bemüht, die Bedingungen für die Verfassungsgerichtsbarkeit in engstem Einvernehmen mit dem Gericht selbst zu stärken und zu verbessern. Ich bringe deshalb meine Genugtuung darüber zum Ausdruck, daß auch der vorliegende Entwurf auf diesem grundsätzlichen Einvernehmen beruht.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dichgans. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich werde mich bemühen, die Redezeit des Herrn Justizministers nicht zu überschreiten. - Die Novelle, zu der ich hier im Namen der Fraktion der CDU/CSU einige Bemerkungen zu machen habe, wirft eine Reihe bedeutungsvoller Rechtsfragen auf. Mit diesen Rechtsfragen wird sich der Rechtsausschuß zu befassen haben. Ich habe nicht die Absicht, die Diskussion ins Plenum vorzuverlegen, ganz abgesehen von der fortgeschrittenen Zeit.
Die Novelle enthält jedoch eine Reihe von sehr bedeutenden politischen Fragen, die keineswegs nur den Rechtsaussschuß angehen, sondern alle Mitglieder des Bundestages. Wenn sich das Hohe Haus mit einem Gesetz befaßt, das das Verhältnis des Bundestages zum Bundesverfassungsgericht, das Verhältnis zweier Verfassungsorgane zueinander, zum Gegenstand hat, dann muß es, glaube ich, dieses Verhältnis in seiner Gesamtheit betrachten, in der Gesamtheit der Problematik. Dazu wäre in dieser ersten Lesung einiges zu sagen.
Das Bundesverfassungsgericht hat als Bundesorgan eine bemerkenswerte Besonderheit: es existiert nämlich praktisch nicht. In den zwölf Jahren seines Bestehens ist es nur ein einziges Mal in Aktion getreten. Im übrigen agiert es nur in der Form von Senaten, zwei Senaten, und darüber hinaus in der Form von Vorprüfungsausschüssen; ich glaube, es bestehen jetzt sechs Vorprüfungsausschüsse nebeneinander. Nun, Sie werden sagen: Die Aufteilung in Senate ist bei vielen Gerichten etwas ganz Normales; warum nicht auch beim Bundesverfassungsgericht? Darauf kann ich nur antworten: Die übrigen Gerichte sind kein Verfassungsorgan.
Ich bitte Sie, einmal folgendes zu überlegen. Dürften wir als Bundestag beschließen, das Plenum abzuschaffen und die Entscheidungen den Ausschüssen zu übertragen? Das wäre nämlich exakt das gleiche. Oder wäre es zulässig, daß der Herr Bundespräsident seinen Vertreter, den ja die Verfassung ausdrücklich vorsieht, in sein Haus holt und sich mit ihm darüber einigt, daß er die Vorgänge mit den Buchstaben A bis K und sein Vertreter ständig die Vorgänge mit den Buchstaben L bis Z bearbeitet? Ich glaube nicht, daß das zulässig wäre. Ich glaube auch nicht, daß das beim Bundesverfassungsgericht zulässig ist. Das ist nicht nur eine Rechtsfrage, sondern eine Frage von eminent praktischer Bedeutung. Nur ein Beispiel heute: Sie kennen die Problematik der Bestrafung der Wehrdienstverweigerer, die einmal bestraft worden sind und dann erneut bestraft werden sollen. Ist das zulässig? Zu dieser Frage gibt es zwei grundverschiedene Entscheidungen. Bei dem einen Senat hat bereits der Vorprüfungsausschuß entschieden, daß die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet sei. Dieser Fall hat also dort nicht einmal den Senat erreicht. Der andere Senat hat dagegen die gleiche Verfassungsbeschwerde für begründet erklärt.
Die Frage, ob in einem solchen Fall bei völlig gleichem Tatbestand ein Mitbürger zweimal bestraft werden darf, hängt also nur davon ab, an welchen Senat diese Sache kommt. Halten Sie das für erträglich?
Die Problematik geht noch tiefer. Wir sehen deutlich, daß die Rechtsprechung dieser beiden Senate Unterschiede aufweist, auch soweit die Zuständigkeit klar ist. Der eine Senat ist eher konservativ gesonnen; er bemüht sich, die Entscheidungen der Parlamente so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Der andere Senat entwickelt dagegen ein beträchtliches Maß an Rechtskühnheit; er tendiert zuweilen dazu, den Gesetzgeber zu ersetzen - verhinderte Gesetzgeber, die sich vielleicht besser um ein Mandat im Bundestag hätten bemühen sollen.
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Aber das Schlimmste ist nicht die unterschiedliche Rechtsprechung, sondern die Psychologie, die sich für den Rechtsuchenden daraus ergibt. Es entsteht der Eindruck, daß es bei manchen Prozessen viel mehr darauf ankommt, die Sache im Vorverfahren so anzulegen, daß der Prozeß bei einem bestimmten Senat landet, als auf die Argumente, die man in der Sache vortragen will.
Wenn Sie in Ihren nächsten Ferien Bedarf an spannender Lektüre haben, empfehle ich Ihnen, sich aus unserer Bibliothek ein Buch zu entleihen, das die Vorgeschichte des Prozesses über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft behandelt: die Manöver und Gegenmanöver, mit denen man versucht hat, diesen Prozeß vor den einen oder anderen Senat zu bringen, crème de la crème der höchsten forensischen Equilibristik. Das ist nicht der einzige Fall. Es gibt den Fall „Süd-West-Staat". Ganz allgemein: Halten Sie es auf die Dauer für tragbar, daß der Rechtsuchende den Eindruck gewinnt, man könne die Entscheidung des Prozesses weitgehend dadurch vorformen, daß man ihn an einen bestimmten Senat bringt?
Die allgemeine Meinung geht dahin, daß wir auf die Dauer nur ein Einheitsgericht haben wollen.
Ich bin dem Herrn Justizminister sehr dankbar, daß er den Beschluß dieses Hohen Hauses aus dem Jahre 1959 zitiert hat. Aber es wird uns mitgeteilt, daß das aus technischen Gründen nicht gehe, weil der Gerichtshof so stark überlastet sei. Ist das so? Sehen wir uns etwa den Supreme Court in Amerika an. Er nimmt bei einer Einwohnerzahl von 200 Millionen - das ist das Dreifache der unsrigen - Funktionen wahr, die über die des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen. Er besitzt Zuständigkeiten, die die unserer übrigen obersten Bundesgerichte einschließen. Trotzdem kommt er mit einem Einheitsgericht von neun Mitglieder aus.
Nun kann man natürlich sagen: Die Verhältnisse sind in den Vereinigten Staaten anders. Das ist selbstverständlich richtig. Aber in der hier allein interessierenden Frage, ob die ständig zu überwachende Gesetzgebung verfassungsmäßig ist, liegt die Aufgabe in den Vereinigten Staaten exakt, mikroskopisch genauso wie bei uns. Es gibt überhaupt gar keine Unterschiede.
Nun wird bei uns gesagt: Der Unterschied liege darin, daß es bei uns die Verfassungsbeschwerde gebe, die jedermann erheben könne. Das steht ja auch in der neuen Formulierung. Theoretisch kann jedermann die Verfassungsbeschwerde erheben. Aber ist das wirklich so? Kann wirklich jeder Bürger das Bundesverfassungsgericht in Bewegung setzen?
Meine Damen und Herren, wir sind hier unter nüchternen Juristen, sozusagen unter uns; mit wenigen Ausnahmen: die Kollegin Frau Stommel,
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die ich besonders hervorheben möchte, den Kollegen Moersch. Wir sollten ehrlich genug sein, zu fragen: Ist das wirklich so? Was heißt: ein Verfahren in Gang zu setzen? Das heißt eine Klage einreichen, Klagebeantwortung, Behandlung dieser Klage, Urteil und Entscheidung. Kann man das beim Bundesverfassungsgericht erreichen? Sie alle wissen, daß man das nicht kann. Es gibt einen Siebmechanismus, der das vorher ausschaltet. Diesen Siebmechanismus gibt es in allen Verfassungsgerichten der Welt. Es handelt sich nicht um die Frage, ob es einen solchen Siebmechanismus geben soll - es besteht Einigkeit,, daß er notwendig ist -, sondern lediglich darum, wie er gestaltet werden muß.
Dabei gibt es verschiedene Methoden. Die deutsche Methode ist die, sagen wir einmal, negative Methode. Drei Richter können beschließen, daß eine Klage offensichtlich unbegründet ist. Ich begrüße sehr, Herr Minister, daß man eine etwas neutralere Form in der Novelle finden will. Aber drei Richter können die Behandlung ausschließen.
Die Amerikaner haben, was die Fachleute vermutlich wissen, ein anderes System. Dort werden nur diejenigen Verfahren vor dem Plenum aufgenommen, bei denen sich mindestens vier Richter, also eine Minderheit von Richtern, dafür aussprechen.
Der Rechtsausschuß sollte sich eingehend damit beschäftigen, wie dieses Aufnahmeverfahren gestaltet werden sollte, zumal mir gesagt wurde, daß es auch im Bundesverfassungsgericht Richter gibt, die das amerikanische Verfahren für besser halten.
Ich möchte hier diesem amerikanischen Verfahren zwei Vorteile nachrühmen. Zunächst ist es einfacher, weil es keinerlei Begründungen erfordert und damit auch die Bitterkeit vermeidet; man bekommt eben einfach keinen Bescheid, daß die Beschwerde aufgenommen ist. Zweitens gibt es die Möglichkeit, die Fälle, in denen aus überwiegend politischen Gründen die rein juristische Betrachtung zurücktreten muß, angemessen zu behandeln.
Der Laie fragt mit Staunen: Gibt es solche Fälle denn überhaupt, in denen die Politik wichtiger ist als das Recht? Natürlich gibt es sie. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele zitieren.
Es gab das nordrhein-westfälische Erbhofgesetz, das vorsah, daß nur der männliche Erbe den Hof erben sollte. Es war ein Gesetz, daß sichtlich gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verstieß. Deswegen gab es nach einigen Jahren eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Aber die Richter dort sahen ein, daß eine Aufhebung dieser Bestimmung zur Aufhebung von Tausenden von Hofübernahmeverträgen hätte führen müssen. Diese Folge wollte man nicht tragen. Daraufhin hat man mit einer, ich kann nur sagen, juristisch sehr respektablen, aber doch kaum überzeugenden Begründung die Verfassungsmäßigkeit doch bejaht und nur gesagt, das Gesetz müßte geändert werden.
Eine ganz ähnliche Situation hatten wir beim Saarvertrag, wo es auch sehr ernsthafte Zweifel gab, ob er verfassungsmäßig sei. Aber das Bundesverfassungsgericht sah ein, daß man den Vertrag, nachdem er nach vielem Hin und Her und einer Volksabstimmung glücklich unter Dach und Fach gebracht war, nicht mit Argumenten aus der Kiste der juristischen Perfektion zu Fall bringen könnte. Man hat auch hier wieder ein Urteil geschrieben, das mehr politisch als juristisch war.
Meine Damen und Herren, ich respektiere dieses Verhalten des Gerichts. Ich halte es aber für ungünstig. Im amerikanischen Verfahren wäre es so gelaufen, daß der Gerichtshof gesagt hätte: Das ist kein Fall, den man aufnehmen sollte. Das scheint mir auch das Ehrlichere zu sein.
Meine Damen und Herren, wir müssen einmal darüber nachdenken, wie wir die Funktion des Gerichtes, die Verfassung, den Staat, aber auch jeden einzelnen von uns zu schützen, am besten verwirklichen. Geschieht das wirklich am besten dadurch, daß möglichst viele Prozesse in Karlsruhe geführt werden? Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Das Bundesverfassungsgericht arbeitet dann am wirksamsten, wenn es sich auf die wesentlichen Fälle konzentriert. Wir sollten energisch der Vorstellung entgegentreten, daß das Bundesverfassungsgericht eine Art von vierter Instanz sei. Daß die vierte Instanz richtiger urteilt als die dritte, ist ein reiner Aberglaube. Daß es nicht der Fall ist, läßt sich beweisen, Wenn das Bundesverfassungsgericht
selbst in zwei Senaten verschiedener Meinung ist, wenn es beim Bundesverfassungsgericht immer wieder Entscheidungen mit dem Mehrheitsverhältnis 5 : 3 gibt, dann zeigt sich eben, daß es das absolute Recht nicht gibt - eine Feststellung, die Kollege Arndt bei der letzten Debatte in der vorigen Legislaturperiode so leidenschaftlich bekämpft hat.
Eine weiteres Problem bezüglich der Überlastung ist die Frage der Tatsachen und Prognosen. Ist es zweckmäßig, daß sich das Bundesverfassungsgericht über die Aufgaben der Rechtskontrolle hinaus auch ständig mit Tatbestandsfragen beschäftigt? Dazu zwei Beispiele. Es gibt Ländergesetze, die vorschreiben, daß sich jeder Lehrer von Zeit zu Zeit einer Röntgenuntersuchung zu unterziehen hat. Man will dadurch die Kinder vor der Tuberkulose schützen. Es hat eine Verfassungsbeschwerde gegeben, die gesagt hat: Das ist unzumutbar für den Lehrer. Das Bundesverfassungsgericht hat sich eingehend mit dieser Sache befaßt.
Ist die Frage, ob die Röntgenstrahlen für den einzelnen Lehrer so schädlich sind, daß ihm das nicht zuzumuten ist und daß das wichtiger ist als das Schutzbedürfnis der Kinder, überhaupt eine Rechtsfrage? Ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das ja Sachverständige hören muß, besser für diese Entscheidung qualifiziert als die Fachleute dieses Hauses? Das frage ich Sie.
Ein weiterer Fall dieser Art ist die Frage: Ist die Homosexualität eine Krankheit? Ist das eine Frage, die das Bundesverfassungsgericht entscheiden ) sollte?
Aber ,die Problematik geht noch tiefer. Es handelt sich nicht nur um die Tatsachen, sondern auch um die Prognosen. Sie kennen den klassischen Fall des bayerischen Apothekengesetzes, bei dem es darum ging, ob unter Umständen die Volksgesundheit durch die absolute Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt werden könnte. Es wurde damals die Frage gestellt, ob die absolute Niederlassungsfreiheit nicht zu einer Entblößung des flachen Landes von Apotheken führen könnte.
Nun, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil dem bayerischen Landtag, der das angegriffene Gesetz erlassen hat, ausdrücklich bescheinigt, daß er sich größte Mühe mit der Sache gegeben habe und daß an seinem guten Glauben und seinem guten Willen nicht zu zweifeln sei. Aber dann kommt der lapidare Satz: „Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht davon überzeugen können, daß hier eine Gefahr besteht."
Meine Damen und Herren, das gehört in den Bereich der echten Prophetie. Ich frage mich, wer dafür qualifizierter ist: die Politiker oder die Richter?
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- Das wäre in der Tat vielleicht ein Ausweg.
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Ich will hier nur Fragen stellen, keine Antworten geben.
Man sollte aber auch andere Auswege in Betracht ziehen. Der Rechtsausschuß sollte prüfen, ob man nicht Rechtsmodelle übernehmen sollte, die es in anderen Bereichen des Rechts seit langem gibt. Der Rechtsausschuß sollte die Frage behandeln, ob man nicht eine Regelung finden kann, die davon ausgeht, daß Idas Bundesverfassungsgericht bei Tatsachen und Prognosen an die Feststellung des Parlaments gebunden ist, es sei denn, es stellt fest, daß offensichtlich falsche Feststellungen mißbräuchlich getroffen worden sind. Das wäre eine Schutzklausel, die für die extremen Fälle ausreicht. Ich bitte, darüber einmal nachzudenken.
Das Wort „Mißbrauch" führt nun zum Thema des Ermessens. Ich will mich hier verhältnismäßig kurz fassen. Sie kennen den klassischen Fall dieses Bereichs: das ist der Fall der Parteienfinanzierung. Das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Parteienfinanzierung enthielt drei Thesen. Erste These: Parteienfinanzierung aus dem Haushalt ist zulässig. Zweite These: Das Gesetz braucht nicht so gestaltet zu werden, daß auch die kleinste Splitterpartei Geld bekommt. Dritte These: Die Grenze für das Recht auf Finanzierung muß aber erheblich unter der Sperrgrenze der Fünfprozentklausel liegen.
Daraufhin haben wir uns hier im Bundestag darüber unterhalten: was heißt hier „erheblich" im Sinne des Urteils? Nach langen Überlegungen haben wir gesagt: „erheblich" ist die Hälfte. Das ist, so meine ich, eine Aussage, die unserem Sprachgebrauch entspricht. Wenn meine Frau ein Kleid für die Hälfte des Preises kauft, kann sie mit Recht sagen, sie habe es „erheblich" billiger bekommen.
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Die Sache ging dann erneut nach Karlsruhe, und dort hörten wir zu unserer Überraschung, für „erheblich" reiche die Hälfte nicht aus, es müsse mindestens ein Zehntel sein, 0,5 statt 5 Prozent. Der Bundestag hat dann diese Weisung auch ausgeführt.
Nun, darüber kann man in der Tat streiten, wo die richtige Grenze liegt. Aber wenn man 0,5 Prozent fixiert, ist das eigentlich richtiger als 0,4 oder 0,6, ist das richtiger als 1 oder 0,1? Ist ,die Frage, was innerhalb eines bestimmten Bereiches richtig ist, überhaupt eine Rechtsfrage, deren Lösung sich aus abstrakten juristischen Überlegungen ableiten läßt? Ich bezweifle idas. Ich will hier heute keine Aussage machen, aber ich bitte den Rechtsausschuß, auch hier zu überlegen, ob man nicht die Praxis des Verwaltungsrechts übernehmen sollte, wo das Gericht unter gewissen Umständen nur dann eingreift, wenn es zuvor einen Ermessensmißbrauch festgestellt hat. Ich will durchaus die Schutzfunktion des Bundesverfassungsgerichts unterstreichen. Aber es reicht wohl für uns aus, wenn wir sagen: In Ermessensentscheidungen des Parlaments darf das Gericht nicht eingreifen, es sei denn, daß es einen Mißbrauch des Ermessens feststellt.
Das vierte Problem ist das Problem der Rechtsgewißheit. Das Beispiel ist das Ingenieurgesetz. Wir haben hier, wenn ich es recht in Erinnerung habe, das Ingenieurgesetz einstimmig verabschiedet. Der
Bundesrat hat ebenfalls zugestimmt, und eine Reihe von Ländern hatte bereits Ausführungsgesetze erlassen. Darauf kam das Ingenieurgesetz - nicht durch eine Normenkontrollklage, sondern durch einen Zufall, durch eine periphere Bestimmung - an das Bundesverfassungsgericht, und das Bundesverfassungsgericht erklärte es kurzerhand für nichtig. Es war der Meinung, daß es durch elf gleichlautende Gesetze der Länder ersetzt werden müsse. Das halte ich in der Sache für unvernünftig. Aber das ist nicht mein Thema, sondern mein Thema ist die Rechtsgewißheit.
Die Entscheidung ist, wenn ich es richtig erfahren habe, mit einer Mehrheit von 5 : 3 gefallen, das heißt mit der geringsten überhaupt zulässigen Mehrheit. Der einstimmige Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften wird von Richtern aufgehoben, die unter sich völlig zerstritten sind. Nun werden Sie sagen, das ist bei Gerichten etwas ganz Normales. Es gibt überall Bestimmungen über Mehrheitsbildung. Aber ich frage: welche Mehrheit? Auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht bereits verschiedene Mehrheiten vor. Wenn Sie einmal den § 105 ansehen, ,dann lesen Sie zu Ihrer Überraschung, daß die Mehrheit, die zur Entlassung eines offensichtlich arbeitsunfähigen Richters erforderlich ist, wesentlich über der Mehrheit liegt, die zur Aufhebung eines einstimmig beschlossenen Gesetzes notwendig ist. Ich will auch hier wieder keine Meinung äußern, sondern nur fragen: ist das sinnvoll?
Es gibt im übrigen auch Parallelen. Ich darf an ) die Bestimmungen des Grundgesetzes erinnern, nach denen eine hohe Mehrheit des Bundesrates nur durch eine entsprechend höhere Mehrheit des Bundestages überspielt werden kann. Es wäre also durchaus denkbar - wir haben schon Vorgänge dafür -, daß man auch die notwendige Mehrheit im Bundesverfassungsgericht, die Rechtsgewißheit, etwa an die Höhe unserer Mehrheit bindet.
Meine Damen und Herren, das waren die vier politischen Kernfragen, um die es mir ging. Die zahlreichen juristischen Fragen, die der Herr Minister eben hier angesprochen hat, will ich nur ganz kursorisch behandeln.
Da ist zunächst die Frage der Arbeitskraft der Richter. Die Richter klagen über ständige Überlastung. Herr Minister, ich bin der Meinung, wir sollten auch die Frage des Minderheitsvotums, für das ich im Grundsatz bin, mit der Umwandlung des Gerichts in ein Einheitsgericht verknüpfen. Solange die Richter so überlastet sind, wie sie heute sind, sollte man sie nicht noch mit der Arbeit zusätzlicher Voten belasten, wobei wir ja auch ein wenig an den deutschen Perfektionismus denken müssen. Wir bekommen, glaube ich, anfänglich eine Reihe von Minderheitsvoten. Ich habe gelesen, daß man Minderheitsvoten nicht nur zur Begründung einer abweichenden Meinung, sondern auch zur Begründung einer gleichen Meinung zulassen will, wenn sie auf anderen Erwägungen beruht.
Das zweite ist das Problem der Professoren-Richter. Kann man sich ernsthaft über Belastung beschweren, wenn man gleichzeitig noch Zeit für Lehrtätigkeit in Anspruch nimmt? Der Entwurf befaßt sich mit der Frage und will die Entscheidung jetzt dem Plenum des Gerichts überlassen. Herr Minister, ich halte das nicht für gut. In der kollegialen Atmosphäre des Gerichts ist es natürlich für den einzelnen Richter sehr schwer, zu sagen, der Bundesverfassungsrichter Dichgans dürfe in Zukunft unter keinen Umständen mehr Vorlesungen halten. Das belastet das Gericht mit inneren Spannungen. Wir sollten den Mut haben, diese Frage hier für uns selbst zu entscheiden - nach dem amerikanisch-italienischen Vorbild -, mit dem Ergebnis, daß die Richtertätigkeit beim Verfassungsgericht wirklich ein fulltime-job ist.
Nichtigkeit nur für die Zukunft! Auch damit werden wir uns eingehend beschäftigen müssen. Das ist in der Tat ein Problem. Aber, Herr Minister, Ihrer Deutung der Statistik kann ich nicht ganz zustimmen. Der Prozentsatz, den Sie mir gestern dankenswerterweise schon mitgeteilt hatten - daß 42 % der angefochtenen Normen ganz oder teilweise für nichtig erklärt worden sind -, hat mich doch wieder sehr erschreckt. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß die Parlamente, die betroffen sind, bei der Qualität der Rechtsausschüsse, bei der Qualität des Bundesjustizministeriums, Herr Minister, das ja ständig an diesen Dingen mitarbeitet, eine- so schlechte Arbeit leisten, daß im Interesse des Staates, im Interesse der Verfassung 40 % der Normen aufgehoben werden müssen. Herr Minister, mir graust vor der Vorstellung, daß die Möglichkeit, die Rückwirkung auszuschließen, diesen Prozentsatz in Kürze auf 60 bis 70 % bringen könnte. Herr Minister, wir müssen uns darüber klar sein, es gibt zahllose Fälle, in denen uns nur die Rückwirkungsklausel vor der Aufhebung geschützt hat. Ich denke z. B. an die Umsatzsteuer. Wir hätten das frühere Umsatzsteuersystem als Opfer der Verfassungsbeschwerde gesehen, wenn nicht die Zahl der Milliarden, die in Frage stand, die Richter geschreckt hätte. Ich erkenne an, daß hier ein Problem liegt. Vielleicht können wir auch dies am besten dadurch regeln, daß wir es mit der Frage des Einheitsgerichts verknüpfen.
Zur Frage der Rückwirkung noch ein einziges Spezialproblem: Das Berlin-Problem, das Sie ja kennen, die Frage der Wirkung der Gesetze in Berlin, die ja nicht ohne weiteres ex jure eintritt. Dieses Spezialproblem werden wir im Ausschuß eingehend beraten müssen.
Ein Wort zur Amtsperiode! Zwölf Jahre ohne Wiederwahl scheint mir im Prinzip richtig. Sie haben mit Recht die Frage angeschnitten, was nun aus dem Richter wird, der mit, sagen wir, 50 Jahren Bundesverfassungsrichter wird. Wir sind ja durchaus interessiert, auch jüngere Herren ins Bundesverfassungsgericht zu holen. Sie müßten dann mit 62 Jahren erneut in eine angemessene richterliche Tätigkeit eingefügt werden. Aber ich könnte mir denken, daß es auch für dieses Problem Lösungen gibt.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein weiteres technisches Problem anschließen, nämlich
das der Richterwahl überhaupt. Ich weiß, das ist ein ungemein heikles Problem. Aber ich frage mich, ob unsere Richterwahl heute noch optimal ist. Ich habe den Eindruck, daß ein nicht unibeträchtlicher Teil der Kollegen, die 'die Wahl vornehmen, die Kandidaten, die sie zu wählen haben, gar nicht aus 'eigener Anschauung kennen, sondern rein auf Unterrichtung vom Hörensagen angewiesen sind. Wie problematisch eine solche Information ist, Idas wissen Sie. Ich will jetzt bei der vorgeschrittenen Zeit hier keine speziellen Vorschläge machen. Ich würde nur vorschlagen, daß der Rechtsausschuß auch diese Frage mutig in seine Beratungen einbezieht.
Meine Damen und Herren, damit bin ich am Schluß. Das Bundesverfassungsgericht genießt, wie wir alle wissen, international höchstes Ansehen. Wir freuen uns darüber, daß es immer wieder von Delegationen aus der ganzen Welt besucht wird, interessanterweise sogar auch von Delegationen aus dem Ostblock. Die jugoslawische Verfassungsgerichtsbarkeit, so weit sie auch von der unsrigen de facto unterschieden ist, nimmt doch deutlich Anregungen unserer Praxis auf.
Wir alle sind daran interessiert, nicht nur das Prestige, sondern auch die Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts zu steigern. Wenn wir das wollen, schließt jenes Ansehen die Fragestellung, ob Organisation und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts heute, im Jahre 1970, noch als optimal angesehen werden können, nicht aus. Ich bin im Gegenteil der Meinung: diese Frage schwächt die Stellung des Bundesverfassungsgerichts nicht, sondern sie stärkt sie.
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Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen sagen, daß der Herr Kollege Dichgans die angemeldete Redezeit um 17 Minuten unterschritten hat. Ich danke ihm.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Arndt. Hier liegt eine entsprechende Redezeitanmeldung vor.
Herr Präsident! Meine sehr 'verehrten Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Fraktion .darf ich den Gesetzentwurf, der heute hier zur ersten Lesung ansteht, sehr begrüßen. Wir Sozialdemokraten freuen uns, daß die neue Bundesregierung als einen der ersten Gesetzentwürfe, die das Haus auf dem normalen verfassungsmäßigen Wege erreicht haben, dieser Gesetzentwurf zur Novellierung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ist. In dieser Tatsache drückt sich - und das begrüßen wir außerordentlich, darüber freuen wir uns - der Respekt dieser Bundesregierung vor dem Parlament aus. Es war ja eines der besonderen Anliegen des 5. Deutschen Bundestages, 'der gegen Ende seiner Legislaturperiode das ibereits einmal eingebrachte Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht nicht mehr zu Ende beraten konnte, daßdieses Gesetz soschnell wie möglich unter 'Berücksichtigung der Beratung im 5. Bundestag hier erneut vorgelegt werde. Wir begrüßen darüber hinaus, daß die Beratung im 5. Bundestag so deutlich ihren Niederschlag in dem Gesetzentwurf gefunden hat. Auch dies ist ein sehr schönes Zeichen des Respekts der Regierung vor diesem Parlament.
Auch den Inhalt dieses Gesetzentwurfs kann ich auf weite Strecken hin begrüßen. Einige kritische Anmerkungen sind dennoch sicherlich zu machen; Sie werden sie gleich von mir hören. Ich möchte jedoch das vorausstellen, was wir an diesem Gesetz gut und was wir besonders gut finden.
An die Spitze dessen, was hier zu nennen ist, gehört die Regelung über die Einführung des Sondervotums, des dissenting vote, und zwar des Sondervotums nicht nur bezogen auf das andere, das abweichende Ergebnis, sondern auch bezogen auf die abweichende Begründung eines mit dem von der Mehrheit des Gerichts getroffenen Entscheidung übereinstimmenden Ergebnisses. Der 47. Deutsche Juristentag hat dieses Sondervotum einmal ein Stück großer Justizreform mit kleinen Mitteln genannt. Ich finde es daher etwas zu bescheiden, wenn die Begründung der Bundesregierung für diesen Gesetzentwurf sagt, daß im wesentlichen nur kleinere Änderungen an dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vorgenommen würden und daß die Grundprinzipien erhalten blieben.
Mit der Schaffung der Möglichkeit des Sondervotums betreten wir in fast revolutionärer Weise für die deutsche Gerichtsbarkeit neuen Boden; neuen Boden, der zugleich aber fruchtbarer Boden ist. Ich habe schon vor einem Jahr hier darauf hingewiesen, daß wir Sozialdemokraten das Sondervotum hier zugleich als einen ersten Durchbruch dieser Institution im deutschen Gerichtswesen ansehen. Wir halten die Verfassungsgerichtsbarkeit zwar für besonders geeignet, diesen Durchbruch vorzunehmen, aber wir sollten doch ernsthaft prüfen, inwieweit auch anderen Kollegialgerichten die Möglichkeit von Sondervoten eingeräumt werden sollte.
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- Sicherlich, nur das steht hier heute zur Debatte. Dennoch möchte ich hier nicht unerwähnt lassen, daß wir uns generell sehr ernsthaft mit der Möglichkeit von Sondervoten auseinandersetzen müssen. Wir sehen in diesem Gesetz einen guten Anfang. Wir möchten aber sagen, daß dies für uns eben nur ein Anfang ist.
Die Vorzüge dieses Sondervotums liegen insbesondere darin, daß die Voraussehbarkeit der Entwicklung der Rechtsprechung erhöht wird. Sondervoten zeigen neue Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung an. Sie zeigen den verstärkten Einfluß der wissenschaftlichen Diskussion auf das Gericht an. In dieser verstärkten Erkennbarkeit und Voraussehbarkeit der Rechtsprechung liegt zugleich ein starkes Element der Rechtssicherheit und damit ein Element der Stärkung des Rechtsstaates schlechthin.
Darüber hinaus dient das Sondervotum aber auch der Läuterung des Rechtsempfindens in unserem Lande. Es zeigt den Menschen nämlich, daß das
Dr. Arndt ({1})
Recht relativ ist. Es zeigt die Zeitgebundenheit des Rechts. Es zeigt zugleich, daß das Recht nicht wie ein Meteor vom Himmel fällt, sondern daß um das Recht und seine Erkenntnis gerungen werden muß. Das Recht geht aus einer Art geistigen Ringkampfes hervor. Ich habe vor einem Jahr - ich möchte das heute wiederholen, weil es so plastisch ist - das Beispiel vom athenischen Gericht genannt, bei dem die Richter, einer nach dem anderen, Stein für Stein ihr Votum abgaben und bei dem sich dann aus diesem Mosaik des Ringens um das Recht schließlich die Sentenz, das Urteil, herausbildete.
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- Herr Kollege Vogel, darin kann ich Sie nicht unterstützen. Sie wissen, daß nicht nur Solon, sondern auch andere große Juristen jener Zeit, deren Schriften wir ja heute noch kennen, ihre Ideen niedergelegt haben.
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- Nein, dabei haben sie sicher keine Bücher geschrieben.
Wir sehen also, daß dieser Vorgang, wie im Gericht um das Recht gerungen wird, plastischer und deutlicher wird. Damit wird zugleich dem Volk, den Rechtsunterworfenen, deutlicher gezeigt, daß Urteile nicht einfach willkürlich gefällt werden, sondern daß die Männer, die dazu berufen sind, die Richter des höchsten Gerichts, in einer harten geistigen Auseinandersetzung zu 'einem Ergebnis kommen, das sie dann im Namen des Volkes als Urteil verkünden.
Das Sondervotum führt weiterhin auch innerhalb des Gerichtes zu einer Steigerung des Verantwortungsgefühls des Richters. Die freie, mitschaffende Richterpersönlichkeit wird nicht mehr von Staats wegen an das Beratungsgeheimnis gebunden und gezwungen, sich hinter dem Votum der Mehrheit zu verstecken. Sie kann vielmehr ihren eigenen Beitrag in diesem Ringen um das Recht deutlich machen und sich somit als Richterpersönlichkeit freier entfalten.
Mit Grausen denke ich an die Erfahrung zurück, die ich einmal in dieser Stadt machen mußte, als ich miterlebte, wie der Richter eines Schöffengerichts von seinen beiden Schöffen überstimmt worden war mit dem Ergebnis, daß 'das Urteil rechtlich sicherlich nicht haltbar war, und wie dieser arme Mann nun gegen seine ganze Rechtsüberzeugung bei der öffentlichen Urteilsverkündung das Gegenteil nicht nur dessen verkünden mußte, nur was seine Überzeugung war, sondern sogar dessen, was nach seiner Meinung überhaupt rechtlich zulässig war.
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- Sicherlich wußte er sich zu helfen. Aber bedenken Sie doch, Herr Kollege Vogel, (an welche Grenzen der Loyalität der Richter dann gerät. Natürlich gibt es die Methode, (das Urteil dann so zu formulieren, daß man sicher ist, daß die nächste Instanz es aufhebt. Aber damit führen Sie doch eine Verkrümmung des richterlichen Rückgrats herbei. Die Befreiung der Richterpersönlichkeit gerade von diesem Zwang ist einer der großen Vorteile des Sondervotums.
Daß (das Sondervotum für die Rechtsfortbildung von großer Bedeutung ist, liegt auf der Hand; das braucht hier nicht näher begründet zu werden. Man denke insbesondere daran, daß geschichtsmächtig gewordene Entwicklungen im internationalen Rechtswesen aus Sondervoten einzelner Richter entstanden sind. Ich will hier nur ein einzelnes Beispiel, das jedermann einleuchtet, nennen, nämlich die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court zum Rassenproblem : Zunächst gab es nur einen Richter, der sein Votum gegen das Wort „gleich, aber getrennt" im Verhältnis der beiden Rassen erhob; die Entwicklung schritt fort, und in den Jahren unserer Generation gelangt der Supreme Court schließlich zur völligen Aufhebung der Rassentrennung. Am Anfang dieser Entwicklung stand also ein Sondervotum, und ihr Ergebnis ist von einer ungeheuren Geschichtsmächtigkeit, wie jedermann erkennen kann, der das innere Ringen um diese Frage in der größten Macht der Welt in 'diesem Jahrhundert beobachtet.
Zu den weiteren Dingen, die wir Sozialdemokraten in 'diesem Gesetz begrüßen, gehört die Regelung der Wahl ,der Richter, der Dauer des Richteramtes. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung sich dazu entschlossen hat, zwölf Jahre Amtszeit ohne Wiederwahl vorzusehen. Sicherlich könnte auch eine Wahl auf Lebenszeit, wie wir sie an den übrigen Gerichten unseres Landes haben, eine große Sicherheit für 'die Unabhängigkeit des Richters bieten. Aber das Bundesverfassungsgericht hat eben doch eine Sonderstellung, indem es zugleich höchstes Gericht und eines der fünf obersten Verfassungsorgane ist. Hier sollte - da kann ich nur unterstreichen, was der Herr Bundesjustizminister vorhin hier gesagt hat -, das Prinzip der demokratischen Legitimation auf Zeit seinen Tribut fordern.
Ein besonderer Vorteil dieser Regelung der Dauer des Richteramtes ist es, daß endlich mit der Unterschiedlichkeit des Status der Richter dieses Gerichts aufgeräumt wird. Es ist ein Segen für das Gericht, daß wir in Zukunft nur noch Richter eines Status haben werden, indem alle Richter für die gleiche Zeit an dieses Gericht gewählt werden.
Ich persönlich habe nicht die Sorge, daß jemand, der in jungen Jahren an das Gericht gewählt wird, bei seinem Ausscheiden nach zwölf Jahren, wenn er noch rüstig und arbeitsfähig ist, in diesem Lande nicht eine Stellung in der Wissenschaft, in der Politik oder auch in anderen Bereichen finden könnte und würde, die seiner Stellung als Richter an dem höchsten deutschen Gericht entspräche. Deswegen meine ich, der Gesetzgeber braucht hierauf nicht Rücksicht zu nehmen.
Andererseits sollte man (die Möglichkeit, neue Richter in dieses höchste Verfassungsorgan auf dem Gebiete der Rechtsprechung hineinzubringen, nicht dadurch blockieren, daß man Richter auf zu lange Zeit dorthin wählt. Nach einem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt sollten jeweils durch die Wahl
Dr. Arndt ({5})
neuer Richter wieder neue Ideen, neue Impulse in das Gericht einfließen. Auch deswegen ist eine Amtsdauer von zwölf Jahren eine sinnvolle Regelung.
Schließlich komme ich zu dem großen Problem, das sich aus der Frage ergibt - das Gesetz, das die Bundesregierung vorgelegt hat, geht es mutig an -, ob die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, durch die Normen, durch die Gesetze für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt werden sollen, vom Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder von einem Zeitpunkt an für nichtig erklärt werden sollen, der vom Gericht näher zu bestimmen ist. Der Herr Bundesjustizminister hat in seiner Rede vorhin einen etwas harten Ausdruck gebraucht. Er hat gesagt, daß nur ein dogmatisch stark Fixierter erhebliche Bedenken dagegen haben könnte. Das ist ein hartes Wort. Aber wir sollten auch nicht unterschätzen, daß unsere Verfassung von einer Reihe sehr scharf formulierter und sehr strenger Grundsätze beherrscht ist. Das ist gut so, und es ist bedeutsam für ihren Bestand.
Einer dieser Grundsätze besteht darin, daß wir im Grundgesetz nur limitierte Kompetenzen kennen, daß wir, wie es die amerikanische Staatslehre ausdrückt, eine Verfassung der limited powers haben, daß also, fußend auf dem Prinzip der Volkssouveränität in Art, 20, jedes Verfassungsorgan nur so viel Kompetenzen besitzt, wie das Volk ihm durch die Verfassung ausdrücklich übertragen hat. Ein verfasungswidriges Gesetz bedeutet doch weiter nichts, als daß ein oder mehrere Verfassungsorgane, nämlich diejenigen, die an der Gesetzgebung beteiligt sind - es ist ja nicht nur ein Verfassungsorgan, sondern es sind der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und der Bundespräsident -, insoweit, als die betreffende Norm verfassungswidrig ist, ultra vires, out of power, außerhalb der ihnen eingeräumten limitierten Kompetenzen gehandelt haben. Wenn das aber so ist, kann nach dem Grundprinzip unserer Verfassung hier doch ein guter Glaube des Bürgers oder ein Anspruch des Staates auf Befolgung dieser Norm nicht gefordert werden. Rechtlich hat also das Gesetz, das das Verfassungsgericht für nichtig erkannt hat, nie bestanden.
Dennoch, meine Damen und Herren, schon im Römischen Recht war jener Satz, daß summum ius summa iniuria ist
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- ist, würde ich sagen, Herr Kollege Lenz -, ein sehr ernst zu nehmender Satz, nämlich die Erkenntnis, daß das Recht qualitativ auch in Unrecht umschlagen kann, wenn es zu stark strapaziert wird. Deswegen ist es sicherlich ein sehr erwägenswerter Gedanke, die Verfassungsordnung vor einem solchen Schaden im Sinne des Wortes summa iniuria zu schützen.
Hier war heute schon von jener Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Umsatzsteuer die Rede. Niemand in diesem Land zweifelt daran, daß das Bundesverfassungsgericht, hätte es nicht bedacht, daß die Rückzahlung von Milliarden, die durch den Fiskus bei einer Erklärung des Gesetzes für verfassungswidrig hätte erfolgen müssen, zu einer Art Staatsbankrott hätte führen können, das Umsatzsteuergesetz - ich glaube, unter den Juristen in diesem Lande besteht daran kein Zweifel - als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar aufgehoben hätte. Aber das .Verfassungsgericht war offensichtlich der Meinung, daß Unrecht geschähe, wenn es so entschiede.
Wir sollten daher unter uns ernsthaft über die Frage diskutieren, wie wir unter Aufrechterhaltung des Verfassungsprinzips der limitierten Kompetenzen dennoch zu einer praktischen Regelung kommen können, durch das ein Unrecht vermieden wird, das durch seine zu strikte Anwendung eintreten könnte.
Ich für meinen Teil - wir müssen das im Rechtsausschuß und sonst in diesem Hause eingehend diskutieren - könnte mir vorstellen, daß dieser Forderung etwa eine Formulierung Genüge tun könnte, die darauf hinausläuft, daß die Nichtigkeit des betreffenden Gesetzes für einen Zeitraum, den das Gericht festlegt, nicht geltend gemacht werden kann. Dann hätten wir ganz klar den Verfassungsgrundsatz erfüllt, daß das Gesetz von Anfang an nichtig ist; dieser Verfassungsgrundsatz, daß jenes Gesetz rechtlich nie existiert hat, wäre dann also durch das Urteil nicht tangiert. Zugleich aber wäre erreicht, daß sich wegen der praktischen Wirkungen für eine bestimmte Dauer, die das Gericht bestimmen darf - eine Entscheidung, die aber auch nicht etwa in das freie Ermessen des Gerichts gestellt werden kann, sondern unter ähnlichen Kautelen gestellt werden muß, wie es schon der Entwurf der Bundesregierung für seine Lösung vorsieht -, eben niemand auf die Nichtigkeit soll berufen können.
Wir haben ja vergleichbare Rechtsformen auch heute schon im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, und wir haben sie auch in anderen Teilen unserer Rechtsordnung. Ich meine, daß wir hierbei am Ende unserer Debatte im Rechtsausschuß in dem Gesetzgebungsverfahren zu einem Kompromiß werden kommen können, der sowohl die praktischen Auswirkungen als auch die verfassungstheoretischen Grundlagen genügend berücksichtigt.
Als letztes dessen schließlich, was ich hier namens meiner Fraktion ausdrücklich begrüßen möchte, ist nun die Regelung zu nennen, die die Schaffung einer Geschäftsordnung für das Bundesverfassungsgericht vorsieht, einer Geschäftsordnung, hinsichtlich derer ich von dieser Stelle aus dem Gericht noch raten möchte, daß es sie benutzt als ein Instrument dazu, stärker die Öffentlichkeit dieses Landes im Sinne der Demokratie einzuschalten in das Rechtsgespräch vor dem Gericht.
({7})
Denn eines scheint mir in der Vergangenheit von dem Gericht etwas zuwenig getan worden zu sein: Es hat zu selten öffentlich verhandelt. Es hat damit zu selten der gesamten Öffentlichkeit dieses Landes die Möglichkeit gegeben, an diesem Prozeß der Rechtsfindung teilzunehmen.
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Dr. Arndt ({9})
- Nun, das Parlament hat mindestens die potentielle Öffentlichkeit, wenn sie auch selbt von den - ({10})
- Ich sehe durchaus, auf welchen Fall Sie anspielen, Herr Kollege Vogel; aber ich möchte es mir versagen, an dieser Stelle auf dieses Problem einzugehen, da Sie meine Meinung dazu sehr gut kennen.
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Meine Damen und Herren! Ich kann dieses Podium jedoch nicht verlassen, ohne noch wenige Worte zu dem zu sagen, was der Herr Kollege Dichgans vor mir an dieser Stelle ausgeführt hat. Ich kann mich zwar weitgehend darauf beziehen, was ich vor fast genau 13 Monaten, am 12. Februar 1969, zur Gesamtproblematik des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik gesagt habe, aber einiges muß dennoch hier heute ergänzt werden.
Ich meine, Herr Kollege Dichgans hat zwar sicherlich seine Gedanken, die uns, die wir uns mit der Materie befassen, auch nicht in allen Dingen ganz neu waren, über die Dinge hier in einer sehr behutsamen Weise vorgetragen. Dennoch bin ich der Meinung, daß man dem Gericht keinen Gefallen tut, wenn man - doch zumindest incidenter - so erhebliche Bedenken gegen seine bisherige Tätigkeit in dieser Weise vorträgt; denn immerhin - das muß einmal von dieser Stelle aus ausgesprochen I werden - hat sich das Bundesverfassungsgericht in bewundernswerter Weise in den relativ wenigen Jahren seines Bestehens einen Namen gemacht, einen Namen nicht nur in der deutschen Rechtswelt, sondern tatsächlich auch international. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika hatte dazu über 200 Jahre Zeit. Das Bundesverfassungsgericht besteht etwa ein Zehntel, nein, noch nicht einmal ganz ein Zehntel dieser Zeit, und da ist es nur um so höher anzurechnen, daß sich dieses Gericht dennoch bereits diesen Platz in der internationalen Rangordnung der Spruchkörper hat erwerben können.
({12})
- Ja, er hat zum Schluß einige Bemerkungen in dieser Richtung gemacht. Ich habe deswegen auf die Behutsamkeit hingewiesen. Aber, Herr Kollege Lenz, Sie sollten doch erkennen, daß in der Sache, in dem, was der Herr Kollege Dichgans hier vorgetragen hat, doch sehr viel von sehr vornehm vorgetragener Kritik nicht nur an der Gesetzgebung, die dem Gericht vorgegeben ist und auf der es steht, sondern auch an der Rechtsprechung des Gerichts selber geübt worden ist. Da meine ich, daß in wesentlichen Teilen dem Gericht, um nicht zu sagen: Unrecht getan worden ist, so doch zumindest kein Gefallen getan worden ist. Ich will das ganz kurz - ({13})
- Ich würde nicht sagen, daß das Gericht das Parlament kritisiert, sondern ich würde sagen, daß das Gericht eben Recht findet und auch das Parlament, das nach Art. 1 Abs. 3 unseres Grundgesetzes auch
- und das ist etwas Neues in der deutschen Rechtsgeschichte Recht und Gesetz unterworfen ist, auf
seine limited powers hinweist. Das ist keine Kritik in diesem Sinne.
({14})
- Nein, ich glaube, Herr Kollege Moersch, wir müssen hier unterscheiden - und das ist auch der Kern dessen, was Herr Kollege Dichgans gesagt hat -, ob das Verfassungsgericht sagt - und nur das tut es -: das Parlament ist über die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen hinausgegangen, oder ob es inhaltlich an der Entscheidung des Parlaments dort, wo sie sich im politischen Bereich, in dem vom Recht gegebenen Rahmen abspielt, seinerseits Kritik anmeldet. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen einem Gericht und dem Parlament.
Herr Kollege Arndt, würden Sie zunächst nach dem Zwischenruf eine Zwischenfrage des Kollegen Moersch und dann eine des Kollegen Dichgans gestatten?
Herr Kollege Dr. Arndt, halten Sie es denn nicht für völlig berechtigt, daß - wenn auch in der Form, wie Herr Kollege Dr. Dichgans das hier getan hat - bei uns einmal die Frage erörtert wird, was ein Gericht soll und was ein Parlament soll? Und glauben Sie nicht, daß das im Grunde eine Frage unseres Verfassungsverständnisses sein kann und keineswegs als eine unziemliche Kritik, sondern als eine notwendige Diskussion betrachtet werden muß?
Da kann ich Ihnen voll zustimmen, zumal ich ohnedies Kritik generell als ein Lebenselement der Demokratie ansehe; denn ohne Kritik keine Diskussion. Sicher deswegen haben Sie eben auch formuliert: unsinnige Kritik. Aber im übrigen stimme ich Ihnen - ({0})
- Sie haben eben mit Recht in Ihrer Frage die Kritik von der unsinnigen Kritik geschieden. Sie haben wörtlich so formuliert; Sie werden das später im Protokoll nachlesen. - Ich stimme Ihnen voll zu.
Würden Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Dichgans zulassen?
Bitte, gern.
Herr Kollege Arndt, sind wir uns dann darüber einig, daß das Parlament
wenigstens das Recht hat, auch das Gericht auf seine limited powers hinzuweisen?
({0})
Hinzuweisen sicher. Dieses Parlament ist ein solches, das nicht nur von seinem Namen her dafür geschaffen ist, sich in freier Rede mit den Problemen auseinanderzusetzen, und Kritik ist ein Teil des Rechtsgesprächs. Selbstverständlich muß auch der Bundestag sagen können: Wir bedauern diese Entscheidung des Verfassungsgerichts, wir teilen vielleicht nicht einmal seine Meinung. Aber maßgebend im Staatsleben ist dann das, was das Gericht gesagt hat; es hat das letzte Wort.
({0})
- Gut, dann freue ich mich über diese allgemeine Einigkeit.
Zurück zu dem, was ich hier sagen wollte.
Erstes Problem: Aufspaltung der Senate. Zunächst einmal ist zu sagen, daß die beiden Vergleiche, nämlich Bundestag und seine Ausschüsse sowie Bundespräsident und sein Stellvertreter, schiefe Vergleiche sind. Denn wenn irgendein Ausschuß dieses Hauses einen Beschluß faßt, dann ist das nur der Beschluß dieses Ausschusses. Beim Bundesverfassungsgericht ist es aber so - und darüber gibt es eine große Diskussion, die Sie in der Literatur nachlesen können, auch in der Literatur, die Sie vorhin genannt haben, nämlich den drei Bänden „Kampf um den Wehrbeitrag" ; ich habe sie dort auf meinem Platz zur Vorbereitung dieser Debatte liegen -: beide Senate sind im Sinne des Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht.
({1})
- Nun gut, das ist Ihr gutes Recht. - Das ist hier der entscheidende Unterschied. Wir können sicherlich nicht diese sehr intensive und mit sehr klugen Argumenten geführte Diskussion - vorwiegend aus dem 1. Deutschen Bundestag wiederholen. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß mich das Nachlesen dieser Argumente - teilweise habe ich damals auch dort oben auf der Tribüne passiv an den Debatten teilgenommen -, der Gründe, die damals dafür sprachen, zu sagen: Jeder Senat ist das Bundesverfassungsgericht, überzeugt hat. - Herr Kollege Moersch.
Herr Kollege Dr. Arndt, erinnern Sie sich daran, daß es in einem Falle jedenfalls zwei Bundesverfassungsgerichte gegeben hat, weil es zwei Senate gab, nämlich in den beiden Urteilen zur Baden-Frage?
Sicherlich hat es so etwas gegeben; aber das Gesetz sieht dafür jetzt vor - wir haben ja in der Gesetzgebung daraus gelernt -, daß hier notfalls das Plenum des Bundesverfassungsgerichts anzurufen ist. Generell kann man aber doch sagen - da wird mir niemand widersprechen können -, daß die Einheitlichkeit der Rechtsprechung beider Senate doch in einer auffallenden Weise stark ist, viel stärker als bei allen anderen Gerichten, bei denen dieses Problem auch noch auftauchen könnte.
Herr Abgeordneter Arndt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?
Es wäre dann aber noch die Anmerkung, Herr Dr. Arndt, daß das, was man an Argumenten im 1. Bundestag für die Teilung des Bundesverfassungsgerichts in zwei Senate vorgebracht hat, doch einen Hintergrund persönlicher Art hat, der nicht zur Debatte stand.
Das Fragezeichen, Herr Kollege, war aus diesen Ausführungen auch bei angestrengtem Zuhören nicht zu hören.
Ich wollte fragen, ob er sich daran erinnert, daß es außer den geschriebenen Argumenten noch sehr persönliche Argumente gibt, die mit den Namen Dr. Arndt Senior und Dr. h. c. Kiesinger verbunden sind.
Jetzt war es (deutlich.
Ich wollte mir keine Kritik an dem Herrn Präsidenten erlauben, aber ich wollte zugeben, daß ich das Fragezeichen gehört habe.
Sie spielen sicherlich auf das böse Wort vom „roten und schwarzen Senat" an; aber nicht nur die Tatsache, daß die Debatte hierüber versfummt ist,
({0})
sondern auch die tatsächliche Beobachtung der Rechtsprechung ,der beiden Senate zeigt tdoch, daß dies Gott sei Dank Vergangenheit ist. Ichfinde das sehr gut, und das mindert das Problem sehr .erheblich. Es kommt hinzu, daß wir einfach faktisch gegenwärtig keine Möglichkeit haben, anders als mit zwei Senaten zu judizieren, schlicht deswegen, weil wir wegen der Arbeitslast des Gerichts mindestens 16 Richter brauchen. Ein einziger Spruchkörper von 16 Richtern ist aber nicht arbeitsfähig. Ein solches Gericht kann nicht arbeiten ,infolgedessen müssen wir es in zwei ,Senate aufgliedern. Der Herr Bundesjustizminister hat vorhin ja darauf hingewiesen, daß niemand in diesem Saal und wohl auch sonst niemand die Funktionstüchtigkeit des Bundesverfassungsgerichts beeinträchtigten möchte. Und wenn man das nicht will, dann gibt es rein faktisch gegenwärtig keine andere Möglichkeit als die, die das Gesetz zur Zeit vorsieht. Ob wir in irgendeiner späteren Zeit einmal dazu kommen können, wenn sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung durch Jahrzehnte noch stärker verfestigt hat, mit einem Senat auszukommen, das vermag heute noch
Dr. Arndt ({1})
niemand zu übersehen. Gegenwärtig könnte jedenfalls die Funktion, die das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen hat, nicht ausgeübt werden, wenn wir nicht diese Gestaltung hätten.
Herr Kollege Lenz, 'wollen Sie Ihre Zwischenfrage noch stellen und beantwortet haben? - Der Redner ist bereit, sie zuzulassen.
Meine Frage ist die, Herr Kollege Dr. Arndt: Könnten Sie nicht bei aller Würdigung der faktischen und sonstigen Schwierigkeiten, die dem Übergang zum „Ein-Senat-System" entgegenstehen, dem Kollegen Dichgans darin zustimmen, daß der frühestmögliche Übergang zu diesem System im Interesse des Gerichts und der Rechtsfortentwicklung in Deutschland liegen würde?
Wenn Sie die Frage so 'abstrakt stellen, könnte ich Ihnen beinahe zustimmen; aber es ist eben zu abstrakt, um richtig zusein. Es ist gegenwärtig schlechterdings, ohne einen Abbau der Kompetenzen oder ohne das Bundesverfassungsgericht funktionsunfähig 'zu machen, nicht möglich, ein anderes System einzuführen. Ich meine, wir haben in diesem Bereich dringendere und wichtigere Probleme als gerade diese Frage.
Schließlich hat sich der Kollege Dichgans mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich das Bundesverfassungsgericht - sei es aus politischen Gründen, sei es aus Gründen seiner Arbeitsbelastung - bei der Annahme von Verfahren nicht des Systems des Supreme Court bedienen sollte. Ich glaube, nach der Gestaltung unseres Grundgesetzes, das sich insoweit von der amerikanischen Verfassung ganz erheblich unterscheidet, wäre eine solche Regelung bei allen jenen Streitigkeiten auf keinen Fall möglich, die in Art. 93 des Grundgesetzes niedergelegt sind - ich möchte sie einmal untechnisch als die Staatsstreitigkeiten bezeichnen -, also vom Organstreit über die Normenkontrolle bis 'zu all dem, was 'sonst noch in Art. 93 des 'Grundgesetzes in zahlreichen Nummern aufgeführt ist. Bei 'der 'Anlage unseres Grundgesetzes könnte man ein solches System wohl nicht einführen. Dann würde aber die Einführung des Instituts der Annahme des Verfahrens durch idas Bundesverfassungsgericht nichts anderes bedeuten als eine Beeinträchtigung des Rechts der Bürger. Das träfe gerade den kleinen Mann,
({0})
- Herr Kollege Lenz, ich werde das jetzt gleich begründen - dem in der deutschen Verfassungsgeschichte erstmalig (die Möglichkeit gegeben ist, seine Grundrechte vor dem höchsten Gericht geltend zu machen. Das wollen wir ,Sozialdemokraten nicht, selbst wenn man es könnte. Deswegen könnten wir uns mit .der Einführung eines solchen Instituts nicht einverstanden erklären.
Im übrigen, Herr Kollege Dichgans, gibt es so etwas Ähnliches bereits heute bei dem Vorprüfungsausschuß, der - leider Gottes - immer noch Begründungen für seine Entscheidungen gibt. Dies ist der klassische Fall, in der die Begründung völlig fehl am Platze ist.
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Es ist eben nicht so, daß das Gericht, wie durch die Begründung glauben gemacht wird, die Verfassungsbeschwerde geprüft hat, sondern es nimmt sie. gar nicht zur Entscheidung an. Deswegen sollte man auch nicht mit der Begründung den Anschein erwecken, ,als ob sich 'das Gericht in der Sache mit ihr befaßt hätte. Wir haben doch bereits in der geltenden Rechtsordnung ein Institut, das sehr verwandt ist mit dem, was !Sie zur Einführung empfohlen haben. 'Darüber hinaus wollen wir Sozialdemokraten auf keinen Fall gehen.
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- Herr Kollege Lenz, ich empfehle, daß wir die Frage, die ja sehr weit in Einzelheiten geht, der Beratung im Rechtsausschuß vorbehalten.
({3})
- Das glaube ich schon. Die Tradition des Rechtsausschusses spricht dafür, und ich wäre der letzte, der sie in diesem Punkte durchbrechen 'wollte.
Der letzte Punkt, in dem ich mich mit Herrn Kollegen Dichgans auseinandersetzen möchte, ist jenes Gebiet, das er überschrieben hat: Tatsachen und Prognosen. Er hat die Lehrer, die Tuberkulose und die Homosexuellen als Beispiele angeführt.
Die vornehmste und wichtigste Aufgabe eines jeden Gerichtes ist die Ermittlung der Wahrheit. Ohne tatsächliche Voraussetzungen kann aber kein Gericht 'die Wahrheit ermitteln. Darüber hinaus haben wir auch große Bedenken dagegen, das Bundesverfassungsgericht etwa in eine Art Revisionsgericht zu verwandeln, das die „Revisionen" des Instanzgerichts Deutscher Bundestag entgegenzunehmen hätte und das an die Tatbestandswirkung der tatsächlichen Feststellungen des Deutschen Bundestages gebunden wäre. Nach der Konstruktion, dem Wesen und Verfahren ist kein Staatsorgan so geeignet, die Wahrheit zu ermitteln - soweit das überhaupt im 'Bereich der menschlichen Möglichkeiten liegt -, wie ein Gericht. Es wäre sträflich, wollten wir Idas Bundesverfassungsgericht darauf fixieren, hier sehenden Auges Unwahrheit - Fiktion - für Wahrheit zu nehmen und darauf seine verfassungsgerichtlichen Erkenntnisse zu stützen. Darauf liefe es aber hinaus, wenn jene Tatbestandswirkung, von der Sie, Herr Kollege Dichgans, gesprochen haben, im Gesetz fixiert würde.
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel nennen. Der Deutsche Bundestag hat - der Lebenswirklichkeit zuwider, wenn man so will: der Wahrheit zuwider - in einem Gesetz festgelegt, daß die Aufnahme von Stellenanzeigen in Zeitungen Arbeitsvermittlung im Sinne des Arbeitsvermittlungsgesetzes sei. Das ist also objektiv eine UnDr. Arndt ({4})
wahrheit; das ist nicht so. Der Gesetzgeber hat hier dazu gegriffen, eine Fiktion zu schaffen. Warum hat er das getan? Er hat es getan im Sinne eines Zwecks, den der Bundestag erreichen wollte; er wollte nämlich das Arbeitsvermittlungsmonopol, ein sicherlich bedeutsames Rechtsgut, dagegen schützen, daß es - und jetzt kommt das Problematische - mit Hilfe der Inanspruchnahme eines Grundrechts unterlaufen würde.
Mit Recht mußte das Bundesverfassungsgericht natürlich die Tatfrage prüfen, ob die Aufgabe von Stellenanzeigen Arbeitsvermittlung ist. Die Würdigung der Rechtsfrage, die sich daran anschloß, hatte das Ergebnis, daß die gesetzgebenden Organe, weil 'es sich hier um die Ausübung eines Grundrechts handelt, in das Grundrecht der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit eingegriffen haben und daß deswegen jene Vorschrift, die auf der tatsächlichen Fiktion beruhte, verfassungswidrig sei. Das kann man doch dem Gericht nicht abstreiten. Es muß seinem Urteil die Wahrheit zugrunde legen.
Im gleichen Zusammenhang haben Sie das Bayerische Apothekengesetz erwähnt. Auch da, so meine ich, kann man sich den Folgerungen, die Sie hier aus dem tatsächlichen Vortrag gezogen haben, nicht anschließen. Es ist ja nicht so, daß jene Prognose, die das Bundesverfassungsgericht über die Abwesenheit der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit getroffen hat, nun für alle Zeiten gültig wäre. Das hat das Gericht in seinem Urteil ja selbst zum Ausdruck gebracht. Selbstverständlich ergibt sich, daß dann, wenn das, was das Gericht im Augenblick als tatsächlich festgestellt hat, nicht mehr mit den Tatsachen im Lande übereinstimmt, Rechtens ein Gesetz ergehen kann, welches nunmehr etwa Apothekenkonzessionen einführt. Das schließt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenbereich keineswegs aus; das steht, wie ich sagen möchte, sogar zwischen den Zeilen dieses Urteils. Aber selbst wenn es nicht so wäre, könnte der Gesetzgeber selbstverständlich, wenn eben diese tatsächlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt der Verkündung des Urteils nicht mehr gegeben sind, auf Grund der neuen Tatsachen neue gesetzgeberische Entschiedungen treffen.
Ich will mich hierauf beschränken, meine Damen und Herren. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages wird sich mit diesem Gesetz noch sehr intensiv zu befassen haben. Er wird in langen Diskussionen zu sehen haben, wie wir nicht nur die Verfassung dieses höchsten deutschen Gerichts und des uns gleichberechtigten Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht richtig gestalten, sondern auch das von der Verfassung nicht schon vorgegebene, vielmehr noch auszugestaltende Verhältnis zwischen dem Parlament unid dem Bundesverfassungsgericht im einzelnen regeln.
Ich möchte 'dieses Podium nicht verlassen, ohne zugleich den Appell nicht nur an die Mitglieder dieses Hauses, sondern darüber hinaus an die deutsche Rechtswissenschaft zu richten, uns im Parlament bei dieser .schwierigen Arbeit zu helfen, und zwar durch Diskussion dieser Fragen, damit wir im Verlaufe dieser Legislaturperiode ein Gesetz verabschieden, das die freiheitliche Funktion wirklich sichert, die das Verfassungsgericht für das deutsche Rechtsleben und damit für die Zukunft unseres Volkes überhaupt hat.
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Das Wort hat Frau Dr. Diemer-Nicolaus.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich habe schon wiederholt erlebt, daß wie auch heute wichtige Gesetze unseres Rechtslebens, beinahe unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unserer eigenen Kollegen und Kolleginnen behandelt wurden. Aber die Ausführungen sowohl des Herrn Bundesjustizministers als auch meiner beiden Vorredner haben doch mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß es sich bei dieser Vorlage heute um ein für unseren demokratischen Rechtsstaat außerordentlich wichtiges Gesetz handelt.
Ich habe schon früher wiederholt darauf hingewiesen, welche Achtung das Bundesverfassungsgericht verdient. Ich möchte am Anfang meiner Ausführungen noch einmal mit aller Deutlichkeit hervorheben, Herr Kollege Dichgans, daß das Bundesverfassungsgericht nach meiner Auffassung seine Aufgaben in doppelter Hinsicht ausgezeichnet erfüllt hat. Einmal ist es dies, daß durch das Institut der Verfassungsbeschwerde jeder Bürger das Recht hat, durch dieses Gericht entscheiden zu lassen, ob seine Grundrechte entsprechend gewahrt werden. Die Fülle der Entscheidungen, die in dieser Hinsicht ergangen sind - und dies, obwohl zunächst einmal der ganze Instanzenweg der anderen Gerichtsbarkeit durchlaufen werden muß -, zeigt doch, wie außerordentlich wichtig diese Funktion ist und wie sie den Bürger und seine Grundrechte schützt.
Als zweiten Gesichtspunkt möchte ich anführen, daß die - ich will mich einmal so ausdrücken - Kontrolifunktion des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Parlament eine äußerst heilsame ist. In Ihren Ausführungen kam durch die Abgrenzung der Funktionen und Rechte des Parlaments auf der einen Seite und der Funktionen und Rechte des Bundesverfassungsgerichts auf der anderen Seite zum Ausdruck - so schien es mir wenigstens -, als möchten Sie nach Möglichkeit eine Verschiebung herbeiführen, so daß diese Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr in dem Umfang bestünde, wie es zur Zeit der Fall ist.
Meine parlamentarische Erfahrung hat mich aber folgendes gelehrt: Herr Kollege Dichgans, ich kann mich an Fälle hier in diesem Hohen Hause erinnern, bei denen der Rechtsausschuß des Bundestages bei der Verabschiedung von Gesetzen erhebliche Bedenken in bezug auf die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze hatte. Die Fachausschüsse glaubten, sich aus politischen Gründen über diese Bedenken des Rechtsausschusses hinwegsetzen zu können und fanden dann auch die Mehrheit im Hohen Hause. Ich habe es wiederholt erlebt, daß der Rechtsausschuß
durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch nachträglich Recht bekommen hat.
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Ich glaube, es ist ein gefährlicher Weg, den Sie mit Ihren an sich sehr gedankenreichen Ausführungen andeuteten. Sie sagten nämlich, man solle sich überlegen, ob das Bundesverfassungsgericht nicht an Tatsachen und Prognosen der Parlamente gebunden werden sollte. Ich habe außerordentliche Bedenken, diesen Gedankengängen zu folgen; aber Sie haben es ja nur als Frage aufgeworfen. Ich betrachte es als sehr verdienstvoll, daß Sie im Zusammenhang mit diesem Gesetz auch einmal diese grundsätzlichen Fragen mit angeschnitten haben. Ich bin überzeugt davon, daß sie im Rechtsausschuß entsprechend beraten werden.
Dabei taucht natürlich auch immer wieder die Frage auf, ob es einen Senat oder zwei Senate geben solle. Der Herr Bundesjustizminister und auch Herr Kollege Arndt haben meines Erachtens mit Recht darauf hingewiesen, daß man nur dann von diesen Zwillingssenaten zu einem Senat kommen könne, wenn man die Möglichkeiten, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, einschränkte. Ich sehe im Augenblick nichts, was ich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorenthalten und ihm an Zuständigkeiten, die es zur Zeit hat, wegnehmen möchte.
Ich bin vielmehr der Meinung, daß gegenüber der ursprünglichen Konzeption dadurch, daß ein besonderes Annahmeverfahren stattfinden muß, ein sehr starkes Sieb eingebaut wurde. In dieser Hinsicht ist mir - das darf ich ehrlich sagen - nicht immer ganz wohl zumute. Herr Bundesjustizminister, bei dieser Gesetzesvorlage habe ich etwas Bedenken, daß nicht mehr von „offensichtlich begründet" gesprochen werden soll, sondern eine Formulierung gewählt werden soll, die die Verweigerung der Annahme praktisch erleichtern soll. Der Ausschuß sollte sich sehr überlegen, ob das richtig ist. Ich bin der Meinung, daß wir zur Zeit, wie Herr Kollege Arndt ausgeführt hat, bei den zwei Senaten bleiben sollten.
Noch eines: Herr Kollege Dichgans, als Sie vorhin Ihre Ausführungen über die zwei Senate gemacht haben, fiel schon einmal der Ausspruch „schwarzer und roter Senat". Aber Sie wissen doch ganz genau, wie diejenigen, die glaubten, die Dinge mit viel Akribie steuern zu können - worauf Sie hingewiesen haben -, mit ihrer Vermutung elend hereingefallen sind. Das hängt damit zusammen, daß die Richter in dieser Funktion ihre Unabhängigkeit haben, ihrem Eid, den sie geleistet haben, entsprechend handeln und sich eben nicht in „schwarz und rot" oder heute gegebenenfalls in andere Funktionen einteilen lassen.
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Die Wirklichkeit spricht doch für die Qualifikation und das Ethos, das sie ihrer Aufgabe zugrunde legen.
Ich begrüße es außerordentlich, daß diese Vorlage 1 den verschiedenen Status der Richter beendet. Ob es Richter sind, die von Bundesgerichtshöfen kommen, oder andere gewählte Richter, sie haben eine Aufgabe zu erfüllen; in ihren Aufgaben haben sie keine Zweiteilung, und daher ist es richtig, daß man auch den Status gleichgestaltet. Ich halte es gerade beim Bundesverfassungsgericht für richtig, daß man eine Dauer von zwölf Jahren genommen hat, aber die Wiederwahl jetzt beseitigt.
Die notwendigen Zusammenhänge mit dem Sondervotum wurden schon aufgezeigt. Bezüglich dieses Sondervotums erinnere ich mich, daß beim Juristentag die Diskussion hierüber - und da ging es nicht nur um das Sondervotum beim Verfassungsgericht, sondern auch bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit, bei der Gerichtsbarkeit überhaupt - die Veranstaltung war, die am allerstärksten besucht war und wo am allerlebendigsten und in einer sehr eindrucksvollen Weise diskutiert wurde.
Ich persönlich begrüße es, daß dieses Sondervotum für das Bundesverfassungsgericht jetzt zugelassen wird. Ich darf sagen, für mich - sowohl als Politikerin als auch in meinem privaten Beruf als Rechtsanwältin - ist es schon jetzt außerordentlich aufschlußreich, bei den Entscheidungen des einen Senates feststellen zu können, wie und mit welcher Mehrheit die Entscheidung gefallen ist. Es ist gut, daß man diese verschiedenen Auffassungen, die selbstverständlich da sind und in einer pluralistischen Gesellschaft auch da sein müssen, nebeneinanderstellt. Das prägnanteste Beispiel war seinerzeit das „Spiegel"-Urteil, das zeigt, wie außerordentlich schwierig es oft ist, Entscheidungen zu fällen, und welche Gründe für die eine und für die andere Auffassung sprechen.
Für mich als Parlamentarierin ist es bei der Anfechtung von Gesetzen von großem Interesse, in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht doch unsere verfassungsrechtliche Prüfung hier im Hause teilt bzw. wo Bedenken vorhanden sind.
Dagegen ist für mich noch eine sehr große Problematik mit der Frage verbunden, Herr Bundesjustizminister, inwieweit ein Gesetz - ich will mich einmal sehr vereinfacht ausdrücken -, obwohl es verfassungswidrig ist, nach unserem Grundgesetz also nicht rechtens ist, für bestimmte Zeiten doch rechtens sein soll. Das ist natürlich sehr vereinfacht und auch sehr hart ausgedrückt. Aber das ist doch ,die Problematik, ,die darin steckt.
Sie hatten gesagt, man müsse schon sehr dogmatisch eingestellt sein, um zu dem Grundsatz zu stehen, der bisher immer gegolten hatte, daß, wenn ein Gesetz verfassungswidrig sei, es einfach nie rechtens gewesen sein könne. Sie wisen, daß wir Freien Demokraten in der letzten Legislaturperiode bei der damaligen Gesetzesvorlage sehr erhebliche Einwendungen gegen die beabsichtigte Änderung erhoben hatten. Ich gebe Ihnen ohne weiteres zu, daß in der jetzigen Gesetzesvorlage versucht wird, einen vermittelnden Weg einzuschlagen. Aber die Grundproblematik bleibt bestehen. Ich bin der Meinung,
daß man diese Grundproblematik bei den Beratungen im Rechtsausschuß nicht verwischen darf.
Ich habe natürlich gehört - und ich weiß es auch schon aus früheren Beratungen im Rechtsausschuß -, daß das Bundesverfassungsgericht einer derartigen Lösung durchaus sympathisch gegenübersteht, vor allem im Hinblick auf die Wirkungen - das ist durchaus richtig -, die ein Gesetz, auch wenn es verfassungswidrig ist, zunächst einmal ausübt, wenn es - vielleicht jahrelang - zunächst in Kraft ist. Es würde dem Gericht manche Entscheidungen vielleicht erleichtern. Aber das muß man gegenüber den verfassungsrechtlichen Grundsätzen sehr abwägen. Es gilt nicht nur zu prüfen, ob es verfassungsrechtlich überhaupt möglich ist. Ich habe mit Interesse den Formulierungsvorschlag gehört, der vom Kollegen Arndt gebracht worden ist, der glaubte, im Hinblick auf praktische Notwendigkeiten die Problematik weiter entschärfen zu können. Es muß aber im Rechtsausschuß auch sehr eingehend überprüft werden, wie weit es auch verfassungspolitisch richtig ist.
In der Vorlage ist darauf abgestellt, es könne sich dabei nur um Ausnahmen handeln aus schwerwiegenden Gründen des Gemeinwohls. Sicherlich, das ist eine Einschränkung. Der Grundsatz, daß ein verfassungswidriges Gesetz von Anfang an nicht Rechtens sein könne, bleibt erhalten. Aber es geht doch nicht nur um schwerwiegende Gründe des Gemeinwohls. Es geht natürlich auch um den Bürger und seine Rechte. Aber das kommt leider in der Begründung bisher nicht zum Ausdruck.
Man muß sich auch einmal die Folgen überlegen. In der Begründung wird darauf hingewiesen, es handele sich hauptsächlich um Fragen, die mit dem öffentlichen Abgabesystem zusammenhängen, aber es wurde gesagt: „nicht nur". Gerade bei diesen wichtigsten Fällen ist es natürlich auch für unser Wirtschaftsleben von außerordentlicher Bedeutung, zu wissen, ob mit einer Nichtigkeit von Anfang an zu rechnen ist oder erst von einem bestimmten Zeitpunkt an und von welchem dann.
Damit ist ein Problem angeschnitten, auf das in einem anderen Zusammenhang Herr Kollege Dichgans hingewiesen hat, nämlich das Problem der Rechtsgewißheit. Die Rechtsgewißheit ist ein ganz wesentliches Erfordernis gerade auch im wirtschaftlichen Leben. Deswegen muß die jetzt beabsichtigte Änderung auch eingehend nicht nur unter verfassungspolitischen, rechtsstaatlichen und rechtspolitischen Gesichtspunkten, sondern auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Auswirkungen geprüft werden.
Es wird sich zeigen, daß die Beratungen im Rechtsausschuß wahrscheinlich gar nicht so schnell vorangehen, wie wir es gern hätten, nachdem nun diese Fülle der Probleme angeschnitten ist. Auf alle Fälle begrüßen wir es, daß die Vorlage des Gesetzes so rechtzeitig erfolgt ist. Ich habe eben gesagt, daß die Beratungen im Rechtsausschuß Zeit in Anspruch nehmen werden. Auf der anderen Seite möchte ich doch darauf hinweisen, daß die Beratungen aber nicht zu lange dauern dürfen, weil im nächsten Jahr verschiedene Bundesverfassungsrichter ausscheiden und vor der Neuwahl die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssen, damit die neuberufenen Richter den Status bekommen, den wir wünschen.
({2})
Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen sagen, daß Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus Ihre angesagte Redezeit um 15 Minuten unterschritten hat. Herzlichen Dank!
Herr Kollege Moersch, Sie haben sich noch zu Wort gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir als einem Nichtjuristen noch eine Bemerkung. Aber zuvor möchte ich sagen, daß mir vorhin angesichts der Besetzung des Hauses während der Rede von Dr. Dichgans eingefallen ist, daß Herr Dr. Dichgans einmal den Wunsch geäußert hat, vor einem gänzlich leeren Saal zu sprechen. Dieser Wunsch ist ihm heute beinahe erfüllt worden,
({0}) was ich natürlich bedaure.
Herr Kollege Dichgans, Sie haben Ihre Rede verkürzt, wie ich hörte, weil die Situation es nicht möglich machte, noch einmal den Hintergrund dessen aufzuzeigen, was Sie eigentlich an dem Verhältnis von Verfassungsgericht und Parlament kritisieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Ich möchte mir nur die Bemerkung erlauben: Das wäre ein großes Thema, das man der Öffentlichkeit in einer anderen Form vorstellen müßte. Nach Kenntnis der Verfassungsgeschichte, soweit ich sie besitze, habe ich den Eindruck gewonnen, daß in den letzten 20 Jahren gerade die Mehrheit des Hauses und nicht zuletzt Ihre Parteifreunde, Herr Dr. Dichgans, aber auch sehr viele Sozialdemokraten, Herr Dr. Arndt, im Grunde genommen ein bißchen Angst vor politischen Entscheidungen hatten und das Verfassungsgericht deswegen in den Stand setzten, solche Entscheidungen leichter aufheben zu können, als das in anderen Ländern der Fall ist; das heißt, daß sich bei uns die richterliche Unabhängigkeit im Widerspiegel zur Regierungsgewalt entwickelt hat, daß man das Parlament als eine der Gewalten dabei in der Geschichte sehr oft nicht gekannt - oder später auch übersehen - hat, daß man - was ich persönlich immer bedauert habe - wenig Vertrauen in die Möglichkeit setzte, bei den nächsten Wahlen andere Mehrheiten zu schaffen, um Parlamentsentscheidungen aufzuheben; daß man im Grunde dieser Möglichkeit, Mehrheiten zu verändern, nicht getraut und deswegen dem Verfassungsgericht ein sehr hohes Maß an Wirksamkeit gegeben hat, jedenfalls ein höheres, als es in irgendwelchen vergleichbaren Ländern gewesen ist.
({1})
- Herr Dr. Arndt, ich will die Motivforschung hier
nicht vertiefen. Aber wer in diesem Hause in den
ersten Jahren Beobachter war und auch darüber zu schreiben hatte, der gewann sehr wohl den Eindruck, daß es - vielleicht gar nicht bewußt - so gewesen ist, daß jedenfalls das Vertrauen in den parlamentarisch-demokratischen Mechanismus, wenn ich einmal so sagen darf, das Vertrauen in die Veränderung durch Wahlen, gerade nach der zweiten Wahl in diesem Staate, nämlich nach 1953, nicht größer, sondern kleiner geworden war, daß eine Art Fatalismus bei den Minderheiten Platz gegriffen hatte und daß man deshalb das Verfassungsgericht geradezu stärken wollte, was bei der damaligen Interessenlage richtig war.
Ich wollte diese Bemerkung lediglich deshalb anschließen, damit wir uns heute und künftig vielleicht freier bewegen, weil wir ja die Erfahrung, daß Veränderungen möglich sind, soeben gemacht haben. Wenn das zu der Konsequenz führt, die Kollege Dichgans mit Argumenten, die ich nicht im einzelnen untersuchen will und auch gar nicht prüfen kann, andeutete, zu der Konsequenz also, daß wir mehr Vertrauen in Korrekturen durch Wahlen haben, statt unser Vertrauen in die Demokratie allein auf die Möglichkeit der Korrektur durch richterliche Entscheidung zu setzen, wäre das sicherlich eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie, und ich wünsche, daß das ganze Haus und sehr viele Bürger in diesem Lande dieser Einsicht folgen. Denn es ist doch eine Tatsache, daß wir diese Konstruktion damals im Parlamentarischen Rat nicht deswegen geschaffen haben, weil es vom Parlament aus so gewünscht worden wäre, sondern weil sie dem tiefen Mißtrauen unseres Volkes - auf Grund geschichtlicher Erfahrungen - in politische Mechanismen entsprach und man glaubte, die richterliche Gewalt sei gewissermaßen die einzige, die Vertrauen verdiene.
({2})
- Herr Kollege Hirsch, es kann sein, daß Sie anderer Meinung sind. Ich habe es jedenfalls so empfunden als jemand, der keine andere Erfahrung hatte als eben die in diesem Lande. Ich hatte damals auch das Empfinden, daß man damit dem Gericht zu viel zugemutet hat.
Ich will Sie alle nur ermutigen, zu sagen: Nun gut, die Frage der Grundrechtprüfung bei Einzelpersonen ist eine sehr gute Sache; aber müßte man nicht wirklich im Parlament die Kämpfe schärfer austragen mit dem Ziel, Wahlen in erster Linie unter den Gesichtspunkt einer Veränderung im Parlament zu stellen und nicht mehr unter das Ziel zu stellen - und das ist das, was ich der CDU für die fünfziger Jahre vorzuwerfen habe -, im Grunde einen Regierungschef zu wählen, statt eine andere Mehrheit im Parlament zu schaffen, um ganz bestimmte Gesetze zu ändern, die uns nicht passen.
Das war doch gerade in den fünfziger Jahren der Fall gewesen. Das Verfassungsgericht sollte gewissermaßen korrigieren, was in einer Wahl durch Argumente zunächst nicht zu erzielen gewesen war. Insofern sollte man durchaus einmal eine generelle Überprüfung der Gewichte in unserer Verfassung ins Auge fassen, wie gesagt, nach der Erfahrung, die die einen positiv und die anderen negativ am 28. September 1969 gemacht haben.
Meine Damen und Herren, damit stehen wir am Ende der ersten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. Nach dem Beschluß des Ältestenrates soll der Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß - federführend - überwiesen werden. Ich schlage vor, daß wir auch den Finanzausschuß mitberatend beteiligen.
({0})
Darüber hinaus schlage ich vor, daß wir dem Haushaltsausschuß und dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen die Möglichkeit geben, sich zu der Vorlage gutachtlich zu äußern. Diese Möglichkeit hat zwar ohnehin jeder Ausschuß; wir sollten es hier aber ausdrücklich erwähnen.
Es erhebt sich kein Widerspruch. - Es ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist die heutige Tagesordnung ergänzt worden um die
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung beschlossenen Verordnungen zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
- Drucksachen VI/ 461, VI/ 476, VI/ 475, VI/ 512 -.
Der Schriftliche Bericht des Herrn Abgeordneten Kater liegt vor. Ich nehme an, daß der Herr Berichterstatter keine mündliche Ergänzung seines Berichtes wünscht.
Der Antrag des Ausschusses lautet: Der Deutsche Bundestag wolle beschließen, den Verordnungen, die hier aufgeführt sind, zuzustimmen. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle einmütige Beschlußfassung fest.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. März 1970, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.