Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat mit Schreiben vom 13. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Leicht, Dr. Althammer, Höcherl und Genossen betr. Korrektur und Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung und Haushaltsentwurf 1973 - Drucksache VI/3745 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3813 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär heim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat mit Schreiben vom 18. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wurbs, Graaff, Mertes, Opitz, Geldner, Schmidt ({0}), Spitzmüller, Koenig, Junghans, Kater, Dr. Schachtschabel, Scheu, Wüster und der Fraktionen der FDP, SPD betr. Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen - Drucksache VI/3617 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3814 verteilt.
Der Bundesminister der Justiz hat mit Schreiben vom 21. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Erhard ({1}), Vogel und der Fraktion der CDU/CSU betr. Vereinheitlichung der Reditspflegerausbildung - Drucksache VI/3753 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3817 verteilt.
Die Mündlichen Anfragen für den Monat August werden mit den dazu erteilten schriftlichen Antworten als Drucksache VI/3816 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 19. September 1972 die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Verwaltungsvereinfachung - Drucksache VI/3738 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3821 verteilt.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat mit Schreiben vom 21. September 1972 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen folgende verkündete Vorlagen keine Bedenken erhoben habe:
Verordnung ({2}) Nr. 1098/72 des Rates vom 30. Mai 1972 zur Verlängerung der Frist für die Destillation von Tafelwein bis zum 31. Jull 1972
Verordnung ({3}) Nr. 1099/72 des Rates vom 30. Mai 1972 zur Festsetzung des Grundpreises und des Ankaufspreises für Apfel für den Monat Juni 1972
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat am
21. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Meinecke ({4}), Frau von Bothmer, Engholm, Flämig, Hansen, Dr. Hauff, Dr. Lohmar, Dr. Slotta, Dr. Sperling, Walkhoff, Dr. Wichert, Grüner, Jung, Graaff und der Fraktion der SPD, FDP betr. Forschungspolitik - Drucksache VI/3798 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3827 - verteilt,
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat am
22. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Meinecke ({5}), Grüner und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Bildungspolitik - Drucksache VI/3785 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3828 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 7. September 1972 die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Schutz der Privatsphäre - Drucksache VI/3711 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drudcsache VI/3826 verteilt.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
Drucksachen VI/3783, VI/3812
Zuerst kommen wir zu der Dringlichen Mündlichen Frage des Abgeordneten Rollmann:
Auf welche Rechtsvorschrift stützt die Bundesregierung ihre Entscheidung, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre ihr Amt auch nach Auflösung des Bundestages behalten sollen, und wie ist insbesondere diese Entscheidung mit § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre zu vereinbaren, wonach diese Mitglieder des Deutschen Bundestages sein müssen?
Das Wort zur Beantwortung hat Herr Bundesminister Jahn.
Die Auflösung des Deutschen Bundestages und die damit verbundene parlamentslose Zeit werfen eine Reihe von Fragen auf, die nicht geregelt sind. Auch das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre äußert sich nicht dazu, ob die Parlamentarischen Staatssekretäre in diesem Fall im Amt bleiben oder nicht.
Die Bundesregierung hat diese Frage eingehend geprüft. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre so lange im Amt bleiben wie die Minister. Diese Rechtsauffassung stützt sich auf § 6 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre.
Die Bestimmung, auf die Sie verweisen, Herr Kollege Rollmann, gibt für den vorliegenden Fall nichts her. Sie betrifft die Ernennung zum Parlamentarischen Staatssekretär, während es hier um die Entlassung geht, die in § 6 speziell geregelt ist.
Der in § 6 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre verwendete Begriff „Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag" erweckt - isoliert betrachtet - in der Tat zunächst den Eindruck, als ob damit jede Form des Mandatsverlusts gemeint sei. Indessen muß der Sinngehalt dieser Bestimmung, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Gesetzesauslegung besonders zu berücksichtigen ist, zu folgender Schlußfolgerung führen: Ausscheiden im Sinne dieser Vorschrift erfaßt nur den Mandatsverlust eines einzelnen Abgeordneten im Verlauf der Wahlperiode.
Nach § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre wird der Parlamentarische Staatssekretär dem zuständigen Minister zur Unterstützung beigegeben. Er ist damit Ministergehilfe. Zwischen ihm und seinem Minister besteht eine funktionale Akzessorietät, die besonders stark ist, wenn ihm der Minister Sachaufgaben überträgt. § 14 a der Geschäftsordnung der Bundesregierung sieht diese Möglichkeit vor. Von ihr ist in großem Umfang Gebrauch gemacht worden.
Hinzu kommt die personale Akzessorietät, die in § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre ihren Ausdruck gefunden hat. Dort ist bestimmt, daß das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs mit dem des zuständigen Ministers endet.
Das Gesetz bietet also das Bild einer engen Verknüpfung des Parlamentarischen Staatssekretärs mit seinem Minister in dessen Person und Arbeit. Da der Minister nach Art. 69 GG bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestages im Amt bleibt, ergibt sich aus der Akzessorietät der Stellung des Parlamentarischen Staatssekretärs, daß auch sein Amt nicht vorher endet. Dagegen läßt sich nicht etwa einwenden, eine Unterstützung des Ministers sei nach der Auflösung des Parlaments nicht mehr nötig. Auch nach der Auflösung des Parlaments bestehen die Aufgaben der Regierung weiter, die dem einzelnen Bundesminister übertragen worden sind. Außerdem ist der Kontakt zu den auch zwischen den Wahlperioden arbeitenden parlamentarischen Gremien - insbesondere dem Ständigen Ausschuß - sowie dem Bundesrat zu pflegen. Das Ausscheiden des Parlamentarischen Staatssekretärs würde für die einzelnen Häuser eine Störung in ihrer Funktionsfähigkeit bedeuten.
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Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, in welchem Umfang die Parlamentarischen Staatssekretäre in ihren Ressorts mit der Wahrnehmung von Sachaufgaben betraut sind.
Zusatzfrage des Abgeordneten Rollmann.
Herr Minister, darf ich fragen, auf welche Rechtsgutachten sich diese Auffassung der Bundesregierung bezieht.
Dieser Auffassung liegen verschiedene Rechtsgutachten zugrunde, die zum Teil in meinem Hause, zum Teil aber auch in der Wissenschaft erarbeitet worden sind.
Zweite Zusatzfrage.
Darf ich fragen, Herr Bundesjustizminister, ob der Bundesregierung das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 21. August 1972 bekannt war, wo es auf Seite 24 heißt:
Die Parlamentarischen Staatssekretäre scheiden wie alle anderen Abgeordneten mit dem Ende der Wahlperiode aus dem Bundestag aus. Sie verlieren damit die Voraussetzung für ihr Amt. Sie sind damit entlassen, ohne daß es noch eines Entlassungsvorschlags des Bundeskanzlers bedürfte.
Diese Auffassung, die in dem von Ihnen genannten Gutachten vertreten wird, das eine unter sehr vielen Äußerungen zu diesem Thema aus den letzten Wochen ist, ist der Bundesregierung bekannt.
Abgeordneter Ott.
Herr Bundesminister, da die Regierungsarbeit bereits gut funktioniert hat, ehe wir die Parlamentarischen Staatssekretäre hatten, und da meines Wissens Parlamentarische Staatssekretäre seinerzeit bei der Großen Koalition zu dem Zweck eingerichtet worden sind, die Verbindung mit dem Parlament aufrechtzuerhalten, frage ich Sie: Womit würden sich die Parlamentarischen Staatssekretäre dann beschäftigen, wenn statt 496 Abgeordneten in diesem Haus nur noch der Ständige Ausschuß tätig ist? Oder werden diese Parlamentarischen Staatssekretäre die Gehilfen der Bundesminister und der Bundesregierung für den Wahlkampf sein?
Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege Ott, daß Sie auf die Entstehungsgeschichte der Parlamentarischen Staatssekretäre zurückverweisen. Wir waren uns damals bei der Bildung der Großen Koalition in beiden großen Fraktionen darüber einig, daß hier verfassungs- und staatsrechtliches Neuland betreten wird, Neuland, das in einem unerläßlichen Mindestbereich fixiert und geregelt werden sollte, für das aber im Laufe der Zeit eine weitere Staatspraxis entwickelt werden müsse und das der Weiterentwicklung auch in der gesetzlichen Begründung bedürfe.
Im übrigen habe ich schon in meiner ersten Antwort deutlich zu machen versucht: Die Tätigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre beschränkt sich keineswegs auf die Verbindung zum Parlament oder seinen Gremien, sondern sie haben darüber hinaus auch andere Aufgaben zur Entlastung der Bundesminister wahrzunehmen. Das ist in der Geschäftsordnung der Bundesregierung ausdrücklich geregelt. Dementsprechend sind ihnen Sachaufgaben auch im Bereich der Exekutive übertragen worden. Das wissen Sie im übrigen ja auch selber. Darüber hinaus ist eine Aufgabe, die natürlich bleibt - dies war eine der Überlegungen, die seinerzeit mit zur Einrichtung dieser Institution geführt haben -, auch die Entlastung im repräsentativen Bereich nach außen.
Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Minister, nachdem der Kollege Rollmann ein Rechtsgutachten eingeführt
hat, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen die grundlegende Studie von Professor Laufer über die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre bekannt ist und ob Sie die Auffassung von Herrn Professor Laufer teilen, die in dieser Studie zum Ausdruck kommt, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre in ihrer Funktion so zu sehen sind, daß ihr Ausscheiden sich nur nach dem § 46 des Bundeswahlgesetzes richtet und anders nicht.
Vielen Dank für diesen Hinweis. Meines Wissens ist die Arbeit von Herrn Professor Laufer die einzige umfassende Arbeit dieser Art; in ihr wird zu diesem Thema die Auffassung vertreten, die Sie soeben zitiert haben, Herr Kollege Fellermaier.
Professor Mikat!
Herr Minister, sind Sie nicht doch der Auffassung, daß unbeschadet der Umschreibung des Tätigkeitsbereichs der Parlamentarischen Staatssekretäre, gleichgültig, wie hoch man ihren parlamentarischen Anteil und ihren nichtparlamentarischen Anteil bestimmen mag, grundlegend die klare Folgerung aus § 6 Satz 3 des Gesetzes über die Parlamentarischen Staatssekretäre bleibt, wonach das Ende der Tätigkeit eines Parlamentarischen Staatssekretärs auch mit der Auflösung des Deutschen Bundestages gegeben ist und sind Sie nicht ferner der Auffassung, daß sich aus dem Wortlaut des § 1 des Gesetzes klar ergibt, daß das Parlamentariersein konstitutiv für die Existenz von Parlamentarischen Staatssekretären ist
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und es selbstverständlich auch im Fall der Auflösung des Deutschen Bundestages ein zwingendes Recht ist, daß in dem Moment, wo sich der Deutsche Bundestag auflöst, auch das Amt der Parlamentarischen Staatssekretäre kraft Gesetzes zum Erlöschen kommt?
({1})
Herr Kollege Mikat, ich bin nicht dieser Auffassung, sonst hätte ich nicht das vertreten, was ich zunächst gesagt habe. Ich muß Ihnen aber offen gestehen, daß ich über diese sehr positivistische
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und nicht einmal an einem vollkommenen Gesetzeswortlaut festhakende Interpretation ein wenig enttäuscht bin.
Ich habe vorhin auf die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, die an sich gar nicht zu zitieren gewesen wäre, weil es allgemeiner Rechtspraxis entspricht, daß Gesetze eben nicht nur nach ihrem Wortlaut, sondern auch nach ihrem Sinngehalt ausgelegt werden müssen. Sie haben auf § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre Bezug genommen. Dort sind unstreitig und klar die Voraussetzungen für das Ins-Amt-Berufen des Parlamentarischen Staatssekretärs geregelt. Sie können ernst- haft nicht bestreiten, Herr Kollege Mikat, daß ebenso wie auch in anderen Bereichen der Fall der vorzeitigen Auflösung des Bundestages in diesem Gesetz überhaupt nicht geregelt ist. Sie wissen, daß ich seinerzeit mit dem Kollegen Benda an der Entstehung dieses Gesetzes gelegentlich ein wenig mitgewirkt habe. Ich stehe nicht an, zu sagen: das war einer der vielen Fälle, die damals als nicht regelungsbedürftig angesehen wurden, nicht etwa, weil wir diesen Fall nicht regeln wollten - ich bin nicht einmal sicher, ob wir ihn im einzelnen bedacht haben -, sondern weil wir von vornherein an die Regelung dieses Gebietes in der Absicht herangegangen sind, zunächst einmal ein Minimum zu regeln, um die weitere Entwicklung nicht zu behindern. Tatsächlich haben wir uns heute mit der Situation auseinanderzusetzen: Wie soll eigentlich die Staatspraxis in dieser Frage geregelt werden? Ich würde Ihre Auffassung teilen, wenn es im Gesetz zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage eine klare Aussage gäbe. Aber die gibt es nicht.
Noch eine Zusatzfrage.
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Gestatten Sie mir noch eine Zusatzfrage, Herr Minister. Wenn Sie schon meine Rechtsauffassung positivistisch nennen, ich mir aber andererseits nicht vorstellen kann, wie man diesen Fall - vielleicht hätten Sie es gerne - etwa naturrechtlich - anders lösen kann,
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so bleibt doch die Frage, ob nicht eine klare Rechtsgrundlage in § 6 insofern gegeben ist, als § 6 etwas über das Ausscheiden der Parlamentarischen Staatssekretäre sagt. Wenn Sie sagen, Herr Minister, das Gesetz kenne expressis verbis nicht den Fall der Auflösung des Deutschen Bundestages, so kennt es aber doch den Fall des Auslaufens der Legislaturperiode. Das ist in jedem Fall doch wohl der allgemeinere Begriff, unter dem wir in allen anderen Fällen und auch Sie ohne weiteres die Auflösung des Deutschen Bundestages subsumieren. Wenn schon eine Analogie, warum, Herr Minister, nicht hier? § 1 und § 6 bieten Ihnen eine einmalige - wiewohl für die Regierung nicht gerade erfreuliche, aber verfassungsrechtlich saubere - Gelegenheit dazu.
({1})
Meine Damen und Herren! Die Debatte ist, glaube ich, schon ein wenig ausgeufert. Wir sind von der Fragestunde in ein Kolleg geraten.
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Das ist nicht der Sinn der Fragestunde. Stellen Sie
also bitte Fragen, aber machen Sie keine Rechts11728
ausführungen, die über das hinausgehen, was notwendig ist, um die Frage zu erörtern.
Herr Kollege Mikat, dies ist eine Auffassung. Ich habe Ihnen dargelegt, weshalb die Bundesregierung zu dem Ergebnis kommt, daß § 6 des Gesetzes über die Parlamentarischen Staatssekretäre nicht das Ausscheiden schlechthin meint, sondern nach unserer Überzeugung lediglich das Ausscheiden im Einzelfalle. Das ist die Grundlage für die Interpretation des Gesetzes und für seine Anwendung in der Praxis.
Herr Kollege Haack!
Herr Minister, können Sie mir bestätigen, daß in der vorhin genannten Grundsatzstudie über die Parlamentarischen Staatssekretäre von Herrn Professor Laufer ausdrücklich - ebenso wie von der Bundesregierung die Auffassung vertreten wird, daß das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs, abgesehen von individuellen Ausscheidensgründen, wegen seiner engen Verbindung mit dem Amt des Ministers nur mit der Erledigung des Amtes des Ressortministers enden kann?
Diese Auffassung, Herr Kollege Haack, trifft zu. Das hat Herr Professor Laufer in seiner umfassenden Studie sehr ausführlich dargelegt.
Herr Abgeordneter Vogel!
Herr Minister, da ich Sie persönlich nicht befragen kann, wie störend das Ausscheiden eines Parlamentarischen Staatssekretärs von dem jeweiligen Minister empfunden wird, darf ich Sie fragen, ob Sie dann, wenn Sie eine so, wie ich meine, willkürliche Auslegung zugrunde legen, wie sie dem Beschluß des Bundeskabinetts zugrunde liegt, nicht darüber nachdenken müssen, daß es unter Umständen, wenn sich nämlich die Auffassung der Bundesregierung als falsch herausstellen sollte, Verpflichtungen gibt.
Herr Kollege Vogel, das ist zunächst einmal nicht eine Frage von „störend" oder „nicht störend", sondern es ist die Frage, zu welcher möglichen und zutreffenden Interpretation und Anwendung wir in diesem Bereich kommen.
Zum zweiten hat die Bundesregierung in dieser Frage das Für und Wider aller damit zusammenhängenden Tatbestände abgewogen. Sie ist zu diesem Ergebnis gekommen und kann sich damit entgegen Ihrer Auffassung, es handle sich um eine willkürliche Interpretation, auch, wie nun mitlerweile hier in der Fragestunde, so meine ich, mehrfach deutlich geworden ist, auf angesehene Vertreter der Rechtswissenschaft stützen.
({0})
Herr Abgeordneter Schäfer!
({0})
Herr Bundesminister, ist es richtig, daß in der letzten Legislaturperiode in der Ernennungsurkunde der Parlamentarischen Staatssekretäre ausdrücklich aufgeführt war, daß ihr Amt mit dem Amt des Ministers endet, und kann man, da das Gesetz in der Zwischenzeit ja nicht geändert wurde, insoweit von einer Staatspraxis sprechen, wenn sich die Bundesregierung jetzt im gleichen Sinne entschieden hat?
Herr Kollege Professor Schäfer, dies entspricht der Interpretation, die die Bundesregierung vorgenommen hat, daß es nämlich auch auf Grund der Staatspraxis eine enge Verbindung zwischen dem Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs und dem des Bundesministers, dem er zugeordnet ist, gibt.
Herr Abgeordneter Lemmrich.
Herr Bundesminister, nachdem Sie erklärt haben, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre für die Funktionsfähigkeit der Ministerien notwendig sind, möchte ich an Sie die Frage stellen, ob dies bedeutet, daß das Innenministerium und das Wissenschaftsministerium nicht mehr funktionsfähig sind, nachdem dort vor kurzem die Parlamentarischen Staatssekretäre ausgeschieden sind?
({0})
Dieses sind, wie Sie genau wissen, Herr Kollege Lemmrich, zwei völlig verschiedene Dinge, nämlich die Frage, ob der Inhaber eines Amtes und Auftrages diesen fortführen soll oder ob etwa, wie in den beiden von Ihnen genannten Fällen, aus anderen Gründen ein Ausscheiden notwendig geworden ist, das nun nicht dazu führen muß nach dem Willen und der Überzeugung der beiden betroffenen Herren Kollegen -, daß ein Nachfolger für eine kurze Zeit eingeführt wird.
({0})
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schneider.
Herr Justizminister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß hier der Artikel der Verfassung anzuwenden ist, daß die Bundesregierung aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern besteht und nur die Bundesregierung weiterhin im Amt bleibt?
Diese Bestimmung des Grundgesetzes ist mir bekannt, Herr Kollege Schneider.
({0})
Nur ist die Frage der Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre im Grundgesetz bisher nicht geregelt.
({1})
- Entschuldigen Sie, es findet also insofern keine Bestimmung des Grundgesetzes auf die Regelung dieses Sachverhaltes Anwendung.
({2})
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kempfler.
Herr Minister, wäre es nicht zweckmäßig, zur Klärung der doch sehr umstrittenen Frage eine völlig neutrale Stelle einzuschalten, nämlich den Herrn Präsidenten des Bundesrechnungshofes, der zugleich Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung ist?
({0})
Sicher wird es nützlich sein, mancherlei Rat einzuholen, Herr Kollege Kempfler. Die Entscheidung kann der Bundesregierung aber niemand abnehmen.
({0})
Zusatzfrage,. Herr Abgeordneter Stark.
Herr Minister, ist es richtig, daß die Eigenschaft „Abgeordneter" konstitutiv für die Ernennung zum Parlamentarischen Staatssekretär ist?
Das ist eine der vertretenen Auffassungen.
({0})
- Lassen Sie mich meinen Satz doch zu Ende führen, Herr Kollege Schneider. Für die Ernennung zum Parlamentarischen Staatssekretär ist es Voraussetzung; dieses ist unbestritten.
({1})
Ich lasse keine zweite Zusatzfrage mehr zu.
({0})
- Es liegt im Ermessen des Präsidenten. Hier ist soviel gefragt worden, daß ich glaube, daß das Problem geklärt ist.
({1})
Herr Abgeordneter Lenz!
Herr Bundesminister, wann endet nach der von Ihnen vertretenen Rechtsauffassung dann eigentlich das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs, wenn die Mitgliedschaft im Parlament für die Parlamentarischen Staatssekretäre nicht erforderlich ist? Ist es möglich, daß das Amt auch noch weitergeht, nachdem die Bundesregierung in Neuwahlen ihre Mehrheit verloren hat?
Herr Kollege Lenz, ich habe mehrfach versucht, hier deutlich zu machen, daß es spätestens mit dem Amte des Bundesministers, dem der Parlamentarische Staatssekretär zugeordnet ist, endet.
Die Frage ist beantwortet. Weitere Zusatzfragen? - Ich bitte, meine Herren, sich zu melden und nicht verschämt in der Ecke zu sitzen.
({0})
Herr Bundesminister, sind Sie nicht der Auffassung, daß sich schon aus der Funktion der Parlamentarischen Staatssekretäre, Verbindung zu diesem Hause zu halten, die Beendigung dieses Amtes aus der Auflösung dieses Hauses ergeben muß?
Auch hier kann ich mich auf das beziehen, was ich nun bereits mehrfach hier gesagt habe, Herr Kollege. Die Tätigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre beschränkt sich keineswegs darauf, Verbindung zu diesem Hause zu halten, sondern erstreckt sich auch auf andere Körperschaften, z. B. auch auf den Bundesrat, der bekanntlich seine Tätigkeit ausübt.
Darüber hinaus haben die meisten Parlamentarischen Staatssekretäre - ich bin jetzt im Moment
nicht ganz sicher, ob nicht alle - nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung zusätzliche Aufgaben im Bereiche der einzelnen Ministerien erhalten. Und wenn man es überhaupt umschreiben soll, kommt ein dritter Bereich hinzu: ihre Unterstützung bei den, wie Sie selber wissen, vielfältigen Anforderungen hinsichtlich der Repräsentation.
Dies sind nur drei Aufgabenbereiche, mit denen in etwa umrissen werden kann, in welche verschiedenartigen Richtungen die Tätigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre geht. Daran wird auch deutlich, in wie starkem Maße sie der Exekutive, dem Bundesminister, zugeordnet sind.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Offergeld zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 54 des Herrn Abgeordneten Ott auf:
Steht die Bundesregierung noch zu den Erklärungen ihres früheren Bundeswirtschaftsministers, der als Endziel 3 %, 2 % bzw. 1 % Preiserhöhung nannte?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Ott, es ist selbstverständliche Pflicht einer jeden Bundesregierung, auf ein stabiles Preisniveau hinzuwirken. Dies muß in der Weise geschehen, daß die Preisraten Schritt für Schritt zurückgeführt werden. Auf welche Rate der Preisanstieg begrenzt werden kann, wird nicht zuletzt auch von dem Erfolg der von den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gemeinsam zu ergreifenden Maßnahmen abhängen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Ihre Antwort unbefriedigend ist, und zwar deshalb, weil Ihre Ausrede, daß die Organisationen der Gemeinschaft einen entscheidenden Einfluß auf die innerdeutsche Preisbildung ausüben, dadurch widerlegt wird,
({0})
daß sowohl die Bundesbank als auch der Herr Bundesbankpräsident wiederholt erklärt haben, daß ein Teil der Inflation hausgemacht sei?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Nein, Herr Kollege, ich bin nicht bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen. Im übrigen sind die von Ihnen hier angesprochenen Fragen viel zu komplex, als daß ich das in drei Sätzen beantworten könnte. Wir haben hier in diesem Hause schon mehrfach über diese Fragen diskutiert.
({1})
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Fellermaier.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß in Ländern in Europa, die von konservativen und christ-demokratischen Parteien geführt werden, die Preissteigerungsraten weit über der Rate in der Bundesrepublik Deutschland liegen? Würden Sie daraus die Auffassung mitteilen, daß die Preissteigerungen nicht nur ein europäisches, sondern ein Weltphänomen sind, und daß deshalb der EWG-Ministerrat aufgerufen ist, hier etwas zu tun und auch bereit ist, etwas zu tun?
({0})
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Fellermaier, dies ist richtig. Die Bundesregierung hat mehrfach betont, daß die Bekämpfung der Preissteigerung ein internationales Problem ist.
Die letzte Zusatzsatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß angesichts früherer Erklärungen der Bundesregierung, des Bundeswirtschaftsministers und des Herrn Bundeskanzlers der Eindruck entstehen muß, daß die Bundesregierung mit Absicht Parlament und Offentlichkeit getäuscht hat, weil sie damals behauptet hat, sie könne 4 %, 3 %, 2 %, 1 % Preissteigerung herbeiführen, man sich jedoch jetzt darauf beruft, daß angeblich internationale Einrichtungen dafür die Verantwortung trügen?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Ott, ich bin der Ansicht, daß für einen objektiven Betrachter nicht der Eindruck entstehen kann, daß die Bundesregierung die Offentlichkeit zu täuschen versucht. Äußerungen über Möglichkeiten der Reduzierung des Preisanstiegs sind auf eine konkrete gegebene wirtschaftspolitische Situation abgestellt. Es gilt nicht zu jeder Zeit das gleiche. Darüber hinaus sind das Äußerungen, die weit zurückliegen; das wissen auch Sie.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stark.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß wir inzwischen unter den Industriestaaten, was die Preissteigerungsrate betrifft, von der neunzehnten auf die dritte Stelle vorgerückt sind?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Nein, das kann ich Ihnen nicht bestätigen.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann die Länder in der EWG nennen, -
Herr Abgeordneter, Sie haben nur eine Frage.
Ich rufe die Frage 55 des Herrn Abgeordneten Lemmrich auf:
In welchem Zeitablauf gedenkt die Bundesregierung der Deutschen Bundesbahn den Fehlbetrag abzunehmen, den der Bund der Deutschen Bundesbahn bisher nicht bezahlt hat und den die Deutsche Bundesbahn zur Zeit selbst finanzieren muß und der bis zum 31. Dezember 1971 2,2 Milliarden DM und Jahresende 1972 3 Milliarden DM beträgt?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Lemmrich, was Ihre erste Frage anbeParlamentarischer Staatssekretär Offergeld
trifft, möchte ich auf die Antwort verweisen, die mein Kollege Hermsdorf dem Abgeordneten Dr. Jobst in der letzten Fragestunde vor den Sommerferien auf eine inhaltlich gleiche Frage gegeben hat.
Herr Kollege Hermsdorf hat damals gesagt, daß der Deutschen Bundesbahn in diesem Jahr rund 6 Milliarden an vermögens- und erfolgswirksamen Leistungen gewährt werden, daß höhere Zuweisungen an die Bundesbahn wegen der angespannten Haushaltslage des Bundes zur Zeit nicht möglich sind, daß die Bundesregierung der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesbahn bei der Fortschreibung des mehrjährigen Finanzplans jedoch besondere Aufmerksamkeit widmen wird. Herr Kollege Hermsdorf hatte darauf hingewiesen, daß sichergestellt sei, daß die Kapitalrechnung der Bundesbahn ausgeglichen und damit die Liquidität des Unternehmens erhalten bleibt. Daran hat sich seither nichts geändert.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen nicht deutlich geworden, daß Sie meine Frage damit nicht beantwortet haben? Ich möchte nämlich wissen, wie Sie die 3 Milliarden DM, die die Bundesbahn vorfinanziert, in nächster Zeit abdecken wollen; denn das ist ein ganz brisantes Problem.
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Das betrifft wohl die zweite Frage.
Nein, das ist noch die erste Frage.
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Das ist doch beantwortet. Ihre erste Frage habe ich beantwortet.
Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich möchte wissen, in welchem Zeitablauf die 3 Milliarden DM bezahlt werden.
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Lemmrich, es ist vielleicht Ihre Meinung, daß Ihre Frage nicht beantwortet sei. Aber Ihr Beitrag ist keine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie keine Antwort geben, dann muß ich Ihnen dieselbe Frage eben noch einmal stellen.
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Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Fragen Sie doch noch einmal.
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Herr Staatssekretär, ich habe Sie gefragt: In welchem Zeitablauf und in welchen Beträgen Sie die 3 Milliarden DM, die die
Bundesbahn vorfinanziert, weil der Bund seinen Verpflichtungen gegenüber der Bahn nicht nachkommt, in Ihren mittelfristigen Finanzplanungen abzudecken gedenken?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Lemmrich, jetzt ist das eine Frage geworden.
Das kann ich Ihnen aber in Einzelheiten noch nicht sagen. Ich kann Ihnen dazu nur mitteilen, daß in der mittelfristigen Finanzplanung erhebliche Mehrbeträge für die Bundesbahn eingestellt sind.
Letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie gedenken Sie die 3 Milliarden DM abzudecken, nachdem die Finanzbedürfnisse, die die Deutsche Bundesbahn für den Haushalt 1973 angemeldet hat, im Einzelplan 12 und im Einzelplan 32 bereits 9 Milliarden ausmachen?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Lemmrich, ich kann Ihnen sagen, daß wir in der mittelfristigen Finanzplanung gegenüber dem jetzt geltenden Finanzplan die Zuweisungen um jährlich mehr als 2 Milliarden DM erhöhen werden. Im Rahmen dieser Zuweisung wird die Abdeckung möglich sein.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie vereinbart sich Ihre heutige Erklärung, daß der Bundesbahn im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung künftig höhere Zuweisungen zugeteilt werden sollen, mit den Zahlen in der mittelfristigen Finanzplanung, wonach die Zuweisungen an die Bundesbahn bis 1975 degressiv und nicht steigend sind?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen Herr Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, daß die Regierung neue Beschlüsse für den Rahmen des Bundeshaushalts 1973 und für den Finanzplan gefaßt hat. Im Rahmen dieser Beschlüsse ist von den Zahlen, die ich eben genannt habe, ausgegangen, d. h. von einer Erhöhung der Zuweisungen um jährlich mehr als 2 Milliarden DM.
Ich rufe die Frage 56 des Abgeordneten Lemmrich auf:
Wie hoch belaufen sich die Zinskosten im Jahr 1972, die die Deutsche Bundesbahn für die ihr nicht erstatteten Fehlbeträge bezahlen muß?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Auf Ihre zweite Frage, Herr Kollege Lemmrich, teile ich Ihnen mit, daß die Zinsbelastung aus der Finanzierung der Fehlbeträge der Bundesbahn im lau11732
Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld
fenden Wirtschaftsjahr hei etwa 230 Millionen DM liegen wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Deutsche Bundesbahn keinen Antrag hätte stellen müssen, die Personentarife zu erhöhen - was ungefähr 218 Millionen DM ausmacht -, wenn der Bund gegenüber der Bahn seinen finanziellen Verpflichtungen nachgekommen wäre?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Sie wissen, daß sich der Bund in einer angespannten Haushaltslage befindet und daß es darum nicht möglich ist, allen Wünschen nachzukommen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß noch keine Bundesregierung vorher die Bundesbahn hinsichtlich der Abdeckung ihrer Verluste in einem so unzureichenden Maße bedient hat, wie das Ihre Regierung tut?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Lemmrich, ich kann die Ihrer Frage zugrunde liegende Feststellung nicht akzeptieren.
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- Ich nehme diese Empfehlung dankend entgegen.
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Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Dr. Dübber auf:
Hält die Bundesregierung die fortdauernde Belegung betriebticher Hinterbliebenenrenten mit Erbschaftsteuer noch für zeitgemäß und sozial gerecht, oder warum hat sie dieses Problem nicht in ihrem Sozialbericht 1972 erwähnt?
Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege Dr. Dübber, wie mein Kollege Hermsdorf in der Antwort auf die Mündliche Anfrage des Kollegen Luda am 3. März dieses Jahres erklärt hat, hält die Bundesregierung den gegenwärtigen Rechtszustand, nach dem vertragliche Hinterbliebenenbezüge, also auch betriebliche Hinterbliebenenrenten erbschaftsteuerpflichtig sind, Versorgungsbezüge auf Grund eigenen Rechtsanspruchs der Erbschaftsteuer dagegen nicht unterliegen, für unbefriedigend.
Herr Präsident, der Herr Abgeordnete Dr. Dübber ist wohl nicht im Saal. Kann die Frage dann schriftlich beantwortet werden?
Ja, dann wird die Frage schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Neemann werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Ist die dpa-Meldung vom 28. August 1972 zutreffend, wonach der Bundesaußenminister sich bei „seinem polnischen Kollegen" für die Ausreise „polnischer Staatsangehöriger deutscher Abstammung" verwenden wolle, und worauf gründet sich gegebenenfalls der in dem Wortlaut der dpa-Meldung zum Ausdruck kommende Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit für eine große Zahl von Deutschen?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, diese dpa-Meldung beruht auf dem Interview, das der Herr Bundesminister des Auswärtigen am 27. August 1972 dem Hessischen Rundfunk im Rahmen der Sendereihe „Frankfurter Gespräch" gegeben hat. Der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung veröffentlichte Interviewtext liegt mir vor. Hiernach hautete die Frage - ich zitiere sie -:
Herr Minister, haben Sie die Hoffnung, daß es mit der Umsiedlung von polnischen Staatsangehörigen deutscher Abstammung in nächster Zeit wieder besser wird?
Der Bundesaußenminister hat sich in seiner Antwort zur Staatsangehörigkeit der Umsiedler überhaupt nicht geäußert, und er hat auch nicht die vom Fragesteller verwendete Formulierung gebraucht. In der Sache selbst hat die Bundesregierung stets, auch vor diesem Hause, die Auffassung vertreten, daß durch den Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages keiner Person Rechte verlorengehen, die ihr nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetzen zustehen. Dies gilt selbstverständlich auch hinsichtlich der Staatsangehörigkeit. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf meine Erklärung in der Bundestagssitzung vom 23. Juni 1972 - Stenographischer Bericht, Seite 11557 - hinweisen; damals habe ich erklärt, daß die Bundesregierung nicht beabsichtige, die Vorschriften des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Warschauer Vertrages zu ändern.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, warum hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, wenn dies so klar war, auf die ebenso klare Frage in dem Interview nicht sofort eine Klarstellung vorgenommen, in einer Angelegenheit, die Zehntausende, ja Hunderttausende von Menschen angeht und die sehr diffizil und umstritten ist? Warum ist er dann direkt auf die Frage eingegangen und hat geantwortet: Ich habe den Wunsch, daß es besser wird?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich glaube, daß der Bundesminister keinen Anlaß hatte, diese in Frageform gekleidete Ansicht des Interviewers in diesem Gremium sozusagen noch einmal zu interpretieren. Es handelte sich
Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
um ein Diskussionsgespräch. Ich glaube, daß die absolut klaren Feststellungen, die hier im Deutschen Bundestag getroffen worden sind - ich habe eben einiges daraus zitiert; ich könnte noch mehr daraus zitieren - und die auch Ihnen bekannt sind, den dokumentarischen Beleg für die Rechtsauffassung der Bundesregierung darstellen. Mir war bisher nicht bekannt, daß Diskussionen mit Journalisten die Bundesregierung verpflichten, die Journalisten stets dokumentarisch zu unterlaufen. Wenn das so wäre, wäre keine Diskussion im Rundfunk mehr möglich.
Zusatzfrage.
Es ist aber so, daß diese Fragen und Antworten im Pressespiegel des Bundespresse- und Informationsamtes, also in einem amtlichen Dokument veröffentlicht worden sind. Kann ich dovon ausgehen, daß die Bundesrepublik Deutschland gemäß dem Grundgesetz deutschen Staatsangehörigen nicht generell, von vornherein und ohne Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit den Schutz für ihre Grund- und Menschenrechte versagen oder entziehen wird? Gilt dies für Deutschland und im internationalen Bereich?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Rechtsauffassung der Bundesregierung, die diesem Hohen Hause verbindlich vorgetragen worden ist, in nichts geändert hat. Ich habe den hier abgegebenen Erklärungen auch im Zusammenhang mit unserer Verfassung nichts hinzuzufügen.
Ich möchte aber noch einen Hinweis geben, der vielleicht künftig solche Fragen etwas leichter klären läßt. Das Bundespresse- und Informationsamt identifiziert sich nicht mit dem Inhalt dessen, was als Rundfunk- und Nachrichtenspiegel veröffentlicht wird. Das geht schon daraus hervor, daß ja auch ausländische Zeitungen, und zwar aller Couleur, vom Presse- und Informationsamt Ihnen zur Kenntnis gebracht werden, ohne daß das deswegen Äußerungen der Bundesregierung würden, was eigentlich in der ganzen Welt selbstverständlich ist.
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Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie soeben gesagt, daß die Rechte der Deutschen - und darauf lege die Bundesregierung Wert - nicht verlorengehen. Meine Frage: Wie gedenkt die Bundesregierung, diese Rechte der Deutschen zu wahren?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter Hupka, genauso, wie sie es bisher versucht hat: mit zähen Gesprächen, wenn nämlich Rechtsauffassungen anderer dem entgegenstehen. Das ist die eigentlich politische Aufgabe, die nur dann gelöst werden kann, wenn man zu normalen und am Ende zu freundschaftlichen Beziehungen kommt und die Gegensätze abbaut. Ich glaube, daß diese Aufgabe von dieser Bundesregierung durch den deutschpolnischen Vertrag erfolgreich angepackt worden ist.
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Die Frage 8 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird in der Anlage abgedruckt.
Frage 9 des Abgeordneten Dr. Hupka:
Warum hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag und die deutsche Offentlichkeit nicht darüber informiert, daß in einer sogenannten vertraulichen Erläuterung zur „Information der Volksrepublik Polen" sowohl der zeitliche Ablauf der Aussiedlung beschränkt als auch der Personenkreis ganz eng begrenzt worden ist, offenbar unter Ausschluß der Deutschen „auf Grund ihrer unbestreitbaren deutschen Volkszugehörigkeit", wie es noch in der „Information" steht?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die Bundesregierung hat den Bundestag und die Öffentlichkeit nicht in dem von Ihnen, Herr Abgeordneter, dargelegten Sinne unterrichtet, weil eine solche Interpretation der vertraulichen Erläuterungen unzutreffend wäre.
Die vertraulichen Erläuterungen, die im Zusammenhang mit der veröffentlichten „Information der Regierung der Volksrepublik Polen" gelesen werden müssen, bedeuten keine Einschränkung der veröffentlichten „Information" und der in ihr genannten Kriterien. Dies ergibt sich bereits aus dem einleitenden Absatz der vertraulichen Erläuterungen, der generell auf Personen abstellt, die wegen ihres Zugehörigkeitsgefühls zu Deutschland aus Polen auszureisen wünschen.
Die vertraulichen Erläuterungen präzisieren im übrigen einzelne Punkte der veröffentlichten „Information". Dabei geht es insbesondere um die Klarstellung, daß für die Familienzusammenführung die gleichen Kriterien zugrunde gelegt werden sollen, die in den internationalen Rot-Kreuz-Vereinbarungen enthalten sind, d. h. nicht etwa nur die Zusammenführung von Eltern und Kindern.
Die polnische Regierung erläutert ferner unter Bezugnahme auf ihre auch in der veröffentlichten „Information" genannten bisherigen Berechnungen ihre zeitlichen Vorstellungen zum Ablauf der „Aktion". Gleichzeitig wird jedoch ausdrücklich klargestellt, daß keine zeitliche Begrenzung für die Ausreise von Personen vorgesehen ist, die die Ausreise wünschen und die die in der „Information" angegebenen Kriterien erfüllen.
Zusammenfassend darf ich daher noch einmal feststellen, Herr Abgeordneter, daß die vertraulichen Erläuterungen die „Information der Regierung der Volksrepublik Polen" in einzelnen Punkten ergänzen und präzisieren. Sie beinhalten jedoch keine Änderung oder Einengung der Aussagen, die in der veröffentlichten „Information" enthalten sind.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es sich, daß in diesen vertraulichen Erläuterungen, die wir ja erst einige Monate nach der „Information" durch Zufall erhalten haben, kein Wort über die Deutschen enthalten ist, die auf Grund unbestreitbar deutscher Volkszugehörigkeit den Antrag auf Aussiedlung stellen können?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich muß mit Entschiedenheit zurückweisen, daß Sie dies durch Zufall erfahren hätten. Ich habe im Protokoll des Auswärtigen Ausschusses nachgesehen und festgestellt, daß Sie sich zweimal eingetragen hatten, als diese vertraulichen Erläuterungen vorgetragen worden sind, und zwar war das am 3. und 10. Dezember des Jahres 1970.
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Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich muß Ihnen leider widersprechen. Diese Erläuterungen sind nie im ganzen Wortlaut vorgetragen worden.
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Doch, das ist inhaltlich geschehen.
Es steht Aussage gegen Aussage.
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Inwieweit ist diese Erläuterung dahin gehend zu interpretieren, daß hier tatsächlich von einer zeitlichen Begrenzung die Rede ist?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich muß hier feststellen, daß wir ja im Gespräch mit der polnischen Seite einige Fragen in unserem Sinne weiter klären wollen, und ich glaube nicht, daß es diesen bereits jetzt in Warschau laufenden Gesprächen besonders dienlich wäre und im Interesse der Betroffenen läge, wenn ich hier auf weitere Einzelheiten eingehen müßte.
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Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Erteilung der „Information" und damit die Ausreise von Zehntausenden von Deutschen aus Polen überhaupt erst dadurch möglich wurde, daß die Bundesregierung den deutsch-polnischen Vertrag abgeschlossen hat, den der Herr Fragesteller abgelehnt hat?
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Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, der Zusammenhang mit dem deutsch-polnischen Vertrag ist unverkennbar. Daß es sich nicht um eine vertragliche Vereinbarung über die Umsiedlung handelt, ist ebenfalls bekannt. Das hat politische Gründe, die wir nicht ändern konnten.
Herr Dr. Czaja!
Herr Staatssekretär, besteht in der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht für deutsche Staatsangehörige ein Unterschied zwischen denen, die unter das Rot-Kreuz-Abkommen fallen, und denen, die nicht darunter fallen?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es ist überhaupt keine Frage, daß das Grundgesetz uns in jeder Form bindet. Es ist lediglich die Frage, wie wir unsere Auffassungen im zwischenstaatlichen Verkehr politisch realisieren können, und diese Frage steht im Vordergrund. Die Standpunkte sind, wie Sie wissen, verschieden, und das hat ja 20 Jahre lang zu solchen Verhärtungen geführt.
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Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß zur Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen in erster Linie die vertragliche Regelung der menschenrechtlichen Beziehungen der Deutschen gehörte, bevor die Beziehungen diplomatisch normalisiert wurden?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, hier steht Meinung gegen Meinung. Ich kann mich nur an die Realitäten halten. Wenn wir derartige Regelungen für deutsche Staatsangehörige hätten treffen wollen, hätten wir einen Friedensvertrag abschließen müssen. Wenn ich Sie recht verstehe, wären Sie nicht bereit gewesen, in dieser Form einem Friedensvertrag zuzustimmen.
Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
In welcher Weise kann die Bundesregierung nach den Gesprächen mit dem polnischen Außenminister in Bonn dafür Sorge tragen, daß die Anträge von Aussiedlern nicht unter fadenscheinigen Vorwänden abgelehnt und daß die Ablehnungsgründe auch den Vertretern der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere dem Deutschen Roten Kreuz bekanntgegeben werden, damit entsprechend dem Text und Inhalt der „Information" dagegen Einspruch erhoben werden kann?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Neben den Gesprächen zwischen den Rot-Kreuz-Gesellschaften, die in diesen Tagen in Warschau geführt werden - sie beginnen heute -, sind anläßlich des Besuchs des polnischen Außenministers Regierungsgespräche über Fragen der Umsiedlung in Aussicht genommen
Parlamentarischer Staatssekretär Moersch
worden. Dabei sollen die Fragen erörtert werden, Herr Abgeordneter, die im Hinblick auf die Information der Regierung der Volksrepublik Polen bisher offengeblieben sind.
Zusatzfrage.
Dr. Hupka (CDU/CSU: Herr Staatssekretär, hat seit der Sommerpause und der letzten Frage in dieser Richtung die Bundesregierung irgendwelche Schritte unternommen, damit endlich die Schikanen gegenüber den Aussiedlern abgebaut werden und die Aussiedlung in ihrer ganzen Prozedur vorankommt?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung war in regelmäßigem Kontakt mit der polnischen Seite und hat - das wissen Sie aus den Ausschußberatungen - nachdrücklich auf diese Zusammenhänge hingewiesen, und sie hat bei der Vorbereitung des Besuchs des polnischen Außenministers - das beantwortet Ihre Frage umfassend - großen Wert darauf gelegt, daß diese Frage zu einem ausführlichen Erörterungsgegenstand wurde. Sie hat ja auch erreicht, daß darüber weiter verhandelt wird.
Zusatzfrage.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß ein besonderes Gravamen bei der Aussiedlung darin besteht, daß die Aussiedlungswilligen, deren Anträge abgelehnt werden, nie die wahren Gründe der Ablehnung erfahren und dadurch immer wieder gezwungen werden, gleichgültig, ob sie überhaupt angenommen werden oder nicht, neue Anträge zu stellen? Das ist auch eine Art neuer Unmenschlichkeit.
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es gibt eine ganze Reihe von schwierigen Fragen, die wir zur Zeit erörtern und erörtert haben, deren Erörterung aber vertraulich ist. Jedes einzelne Problem, das Sie hier eben genannt haben, ist von uns beachtet worden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Polen als Mitglied der UNO eigentlich verpflichtet wären, Minderheiten auswandern zu lassen?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Frage der UNO-Charta ist sicher eine umfassende Frage. Die UNO-Charta verpflichtet jedes Mitglied. Die strittige Frage aber ist, wer von wem als Minderheit angesehen wird.
({0}) Ich darf hinzufügen, meine Damen und Herren, daß die ursprünglichen Optionen, wie immer sie zustandegekommen sind, natürlich ebenfalls vorhanden sind.
Herr Dr. Czaja!
Herr Staatssekretär, wird im Sinne der eben von Ihnen bestätigten Schutzpflicht und der „Information" die Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland als Paßbehörde im Sinne des § 10 Abs. 2 des Paßgesetzes gegenüber deutschen Staatsangehörigen tätig werden? § 10 Abs. 2 besagt, daß die Paßbehörden im Ausland die vom Auswärtigen Amt ermächtigten Auslandsvertretungen sind.
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es wird hier wie überall nach völkerrechtlicher Praxis verfahren. Ich verweise auf das Kommuniqué über die deutsch-polnischen Gespräche und im übrigen auf die Praxis mit den Staaten, mit denen wir diplomatische Beziehungen haben.
Eine Zusatzfrage, Herr von Fircks.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen mit Polen zu erreichen versucht, daß Vertreter der bisherigen Handelsmission - der jetzigen Botschaft - die Möglichkeit haben, an Ort und Stelle die Ausreisewilligen zu beraten und ihnen Hilfestellung zu geben, wie das ja in vielen anderen Fällen möglich ist?
Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Praxis unserer Betätigung ist in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ausführlich dargelegt worden.
({0})
Geschäftsbereich des Bundesminister des Innern.
Die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Reddemann werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Frage 13 des Herrn Abgeordneten Kunz:
Sieht die Bundesregierung in der Reise einer Professoren-Kommission der Freien Universität Berlin aus öffentlichen Mitteln nach Brüssel eine Umgehung des vom Bundesminister des Innern gegen Ernest Mandel verhängten Einreiseverbots?
Herr Abgeordneter, Ziel der gegen den belgischen Staatsangehörigen Mandel verhängten Maßnahmen war es, ihn daran zu hindern, in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne seiner revolutionären Ziele tätig zu sein und dadurch die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu gefährden. Die Reise der
Professoren-Kommission der Freien Universität Berlin nach Brüssel konnte diese Zielsetzung nicht beeinträchtigen. Die Bundesregierung sieht daher in dieser Reise keine Umgehung ihrer Maßnahmen.
({0})
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, sind Sie nicht doch der Auffassung, daß durch diese Reise einer Professoren-Kommission der Freien Universität die Unterstützung für jemanden demonstriert werden sollte, der nicht die Anforderungen, die das Grundgesetz an uns alle stellt, erfüllt?
Herr Abgeordneter, es ist nicht meine Aufgabe, das Verhalten dieser Professoren-Kommission zu bewerten. Aber ich glaube, daß man bei der Durchführung eines Promotionsverfahrens nicht sagen kann, daß sich diejenigen, die einen Bewerber promovieren, in jedem Fall mit seinen politischen Auffassungen identifizieren. Ich möchte das den Mitgliedern dieser Kommission jedenfalls nicht unterstellen.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, würden Sie es für zulässig halten, daß alle Körperschaften des öffentlichen Rechts gegebenenfalls eine Meinung dokumentieren, die in krassem Gegensatz zu einer Meinung steht, die von Ihnen in der Frage des Bekenntnisses zur demokratischen Grundordnung eingenommen wird?
Herr Abgeordneter, erstens halte ich es für das legitime Recht jedes Bürgers dieses Staates und jeder Institution, eine andere Meinung als der Bundesinnenminister zu haben.
({0})
Daß es mir natürlich lieber wäre, sie wären alle meiner Meinung, ist auch verständlich.
({1})
Zweitens, Herr Abgeordneter, möchte ich erklären, daß ich kein Verständnis dafür hätte, wenn irgendeine öffentliche Institution dieses Staates daran mitwirkte, die Einreisesperre der Bundesregierung zu umgehen. Daß das hier nicht der Fall war, habe ich in meiner ersten Antwort dargelegt.
Frage 14 des Herrn Abgeordneten Kunz:
Was wird die Bundesregierung tun, um sicherzustellen, daß die Freie Universität Berlin, die vom Bund in großzügigster Weise gefördert wird, das gegen Ernest Mandel vom Bundesminister des Innern verhängte Einreiseverbot nicht erneut umgeht, beispielsweise zur Durchführung eines Habilitationsverfahrens zugunsten von Mandel?
Herr Abgeordneter, ich darf zur Beantwortung Ihrer Frage auf meine Antwort zu der vorhergehenden Frage verweisen.
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, würden Sie nicht doch der Auffassung sein, daß der Freien Universität Berlin mitgeteilt werden sollte, um wen es sich bei Ernest Mandel handelt, nämlich um den Cheftheoretiker der trotzkistisch-kommunistischen IV. Internationale?
Herr Abgeordneter, ich gehe davon aus, daß der Freien Universität alle Eigenschaften des Herrn Mandel bekannt sind, das um so mehr, als diese Angelegenheit schon häufig Gegenstand der Erörterungen im Deutschen Bundestag war. Sie wissen, daß die Freie Universität offenbar eine bestimmte Affinität zu Mandel hat, die sich daraus ergibt, daß wir den in der deutschen Hochschulgeschichte, glaube ich, seltenen Fall erlebt haben, daß jemand bei einer Universität gleichzeitig ein Promotionsverfahren und ein Verfahren zur Berufung als ordentlicher Professor hatte.
({0})
Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, wenn man Ihnen in dieser Beurteilung zustimmt, wie beurteilen Sie dann die Tatsache, daß der Kultusminister von Niedersachsen, von Oertzen, Ihr Einreiseverbot für Herrn Mandel als „Schweinerei" bezeichnet hat?
({0})
Ich lasse diese Frage nicht zu.
Herr Präsident, darf ich die Frage beantworten oder nicht?
Sie können.
Ich möchte gern hier wiederholen, was ich bei anderer Gelegenheit gesagt habe: Ich halte diese Auffassung des Kultusministers von Niedersachsen für abwegig und teile sie nicht.
({0})
Frage 15 des Herrn Abgeordneten Hansen:
Treffen die von der DKP gegenüber einigen Unternehmen öffentlich erhobenen schweren Vorwürfe über gesetzwidriges und gemeingefährliches wildes Ablagern von giftigen Abfallstoffen zu?
Die Länder haben in den von der DKP angegebenen Fällen
unsachgemäßer Ablagerung giftiger Härtesalzrückstände sorgfältige Untersuchungen eingeleitet. Schon nach ersten Überprüfungen teilten sie mit, daß eine Reihe von Angaben unzutreffend sind. Andere von der DKP genannte Ablagerungen sind den Behörden bereits bekannt.. Noch unbekannte Ablagerungen wurden dabei nicht festgestellt. Sollten bei den Untersuchungen an Ort und Stelle weitere Ablagerungen giftiger Abfälle entdeckt werden, ist Vorsorge getroffen, daß die für die unschädliche Beseitigung erforderlichen Maßnahmen unverzüglich eingeleitet werden können.
Zusatzfrage.
Herr Minister, darf ich Sie fragen, ob auch die Vorwürfe nicht zutreffen, daß seit 1970 in der Bundesrepublik Deutschland keine Einrichtungen zur Entgiftung solcher Härtesalze mehr bestehen?
Das ist unzutreffend, Herr Abgeordneter.
Frage 16 des Herrn Abgeordneten Hansen:
Hält die Bundesregierung es für angezeigt, zur schnelleren und wirkungsvolleren Strafverfolgung derart skrupelloser Gesetzesbrecher spezialisierte Umweltschutz-Staatsanwaltschaften einzurichten und über die Strafbestimmungen des Abfallbeseitigungsgesetzes hinaus besondere Strafvorschriften zum Schutz der Umwelt in den Abschnitt „Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen" des Strafgesetzbuches aufzunehmen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat schon bei der Beantwortung der Frage des Herrn Abgeordneten Wolfram am 10. November 1971 erklärt, daß sie der Einrichtung von Sonderdezernaten der Staatsanwaltschaften zur Verfolgung von Delikten gegen den Umweltschutz besondere Bedeutung beimißt. Die Organisation der Staatsanwaltschaften, insbesondere die Bildung von Sonderdezernaten für bestimmte Deliktsbereiche, ist allerdings Sache der Länder. Der Bundesminister der Justiz hat jedoch auf die Frage der Einrichtung von Sonderdezernaten der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Umweltschutzdelikten schon bei der Sonderkonferenz der Justizminister und -senatoren am 14. und 15. Juni 1971 in Hamburg hingewiesen und damit die Bedeutung dieser Angelegenheit unterstrichen.
Alle Länder haben inzwischen Maßnahmen zur verstärkten Strafverfolgung von Umweltschutzdelikten getroffen oder eingeleitet. In den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig-Holstein sind bei den Staatsanwaltschaften Sonderdezernate für Umweltschutzdelikte eingerichtet worden. In Rheinland-Pfalz hat die Landesjustizverwaltung die Leiter der Staatsanwaltschaften darum gebeten, der Verfolgung von Delikten gegen den Umweltschutz besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Frage der Einrichtung von Sonderdezernaten wird dort gegenwärtig geprüft.
Zu cien Zielen der Bundesregierung gehört auch die Schaffung von Strafvorschriften, mit denen umweltschädigende und umweltgefährdende Handlungen strafrechtlich angemessen geahndet werden können. Ob für besonders gravierende, insbesondere gemeingefährliche Handlungen auch Strafvorschriften im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches vorzusehen sind, wird im Bundesministerium der Justiz geprüft. Die Problematik bei der Formulierung solcher Strafvorschriften liegt darin, sie ohne Bezugnahme auf Regelungen in speziellen Gesetzen zum Schutz der Umwelt so zu präzisieren, daß sie den Erfordernissen der Bestimmtheit von Strafvorschriften Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen.
Ich möchte ganz allgemein hinzufügen, Herr Abgeordneter, daß die Bundesregierung in allen von ihr vorgelegten Umweltschutzgesetzen erhöhte Strafdrohungen, zum Teil bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe, vorgesehen hat, weil sie damit deutlich machen will, daß sie Verstöße gegen Umweltschutzvorschriften nicht als Kavaliersdelikte, sondern als schweres kriminelles Unrecht betrachtet.
({0})
Zusatzfrage.
Herr Minister, da in bezug auf Umweltschutzdelikte der Vorbeugung eine ganz besondere Rolle zuzumessen ist, darf ich Sie fragen, welche Maßnahmen zur vorbeugenden Kontrolle und Überwachung die Bundesregierung einzuleiten bzw. den Ländern vorzuschlagen gedenkt.
Herr Abgeordneter, Sie werden zum Beispiel gehört haben, daß die nordrhein-westfälische Polizei durch Bereitstellung besonderer Hubschrauber dafür Sorge trägt, daß durch eine frühzeitige Überwachung das Ablassen von 01 in den Rhein verhindert wird. Es gibt eine ganze Fülle von derartigen Maßnahmen, und die Bundesregierung begrüßt und unterstützt alle Bemühungen der Länder, die in diese Richtung gehen, weil gerade in diesem Bereich, wie Sie mit Recht betont haben, der vorbeugende Schutz von entscheidender Bedeutung ist, fast bedeutungsvoller als die nachfolgende Bestrafung.
Vizepräsident 'Dr. .Schmid: Meine Damen und Herren, die für die Fragestunde vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Die nicht beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet und als Anlagen abgedruckt.
Wir gehen zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. Ist das Haus über die drei Zusatzpunkte unterrichtet, die eingeschoben sind? - Ja. Dann rufe ich zunächst auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. November 1971 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über den Luftverkehr
- Drucksache VI/3559 11738
Vizepräsident Dr. Schmid
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen ({0})
- Drucksache VI/3819 Berichterstatter:
Abgeordneter Schmidt ({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Horten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Bericht des Verkehrsausschusses zeigt, daß infolge der Knappheit der Zeit keine Möglichkeit mehr bestand, hierbei das Votum des innerdeutschen Ausschusses zu berücksichtigen. Für den innerdeutschen Ausschuß erkläre ich deshalb im Einvernehmen mit dem Mitberichterstatter, dem Herrn Abgeordneten Rolf Heyen aus Berlin, folgendes:
Wir haben keine Bedenken gegen das obengenannte Abkommen, halten es aber für notwendig, daß der in dem Abkommen vereinbarte Vorbehalt der Bundesregierung, den Fluglinienplan durch die Benennung eines weiteren Punktes zu ergänzen, verdeutlicht wird, d. h. also, daß auch hier bei der Beratung im Plenum ebenso wie in der Denkschrift der Bundesregierung, die der Drucksache VI/3559 beigefügt ist, darauf hingewiesen wird, daß die Bundesregierung als diesen zusätzlichen Punkt im Fluglinienplan Berlin-Tegel benennt.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? Das ist nicht der Fall.
Ich rufe Art. 1, Art. 2 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen Bestimmungen zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich rufe den zweiten Zusatzpunkt auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. August 1971 über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „INTELSAT"
-Drucksache VI/3451 Der Ausschuß, an den die Vorlage verwiesen worden ist, hat nicht getagt, uns liegt kein Bericht vor, und wir können darüber nicht entscheiden. Wir müssen daher diesen Punkt von der Tagesordnung absetzen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wir kommen zum dritten Zusatzpunkt:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen
- Drucksache VI/3272 - Mündlicher Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache VI/3820 Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Arndt ({1}), Erhard ({2})
Die Herren Berichterstatter verzichten aufs Wort.
Ich rufe Art. 1, 2, 2 a, 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. - Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Mai 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Fragen des Verkehrs - Drucksache VI/3770 Mündlicher Bericht des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen ({3})
- Drucksache VI/3811 Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. von Bismarck, Dr. Deßner
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. von Bismarck als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Berichterstatter des innerdeutschen Ausschusses habe ich Ihnen folgendes vorzutragen.
Der dem Hohen Hause vorliegende Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 26. Mai 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Fragen des Verkehrs ist der Entwurf des ersten Gesetzes dieser Art. Es ist dazu bestimmt, im Interesse der Menschen die ihnen dienende Verkehrswirtschaft den praktischen Erfordernissen entsprechend zu regeln, Hindernisse zu beseitigen und Erleichterungen zu schaffen. Es ist nicht dazu bestimmt oder geeignet, Aussagen über den Status der Vertragspartner oder ihr grundsätzliches Verhältnis zueinander zu machen oder zu begründen. Insbesondere ist mit diesem Vertrag keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR verbunden, und es entstehen für die Bundesrepublik Deutschland daher im Rahmen dieses Vertrages keine völkerrechtlichen Beziehungen zur DDR.
Der Entwurf des Gesetzes, über den das Hohe Haus heute zu beschließen hat, soll in Art. 1 die Bundesregierung ermächtigen, der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik mitzuteilen, daß die innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten des am 26. Mai 1972 unterzeichneten Vertrages erfüllt sind. Er regelt des weiteren in Art. 2 die Zuständigkeit des Bundesministers für Verkehr innerhalb der Bundesregierung. Schließlich bestimmt der Vertrag in Art. 3, daß dieses Gesetz zu dem Vertrag zwischen den beiden Staaten in
Deutschland auch im Lande Berlin nach Maßgabe des dafür in Frage kommenden Verfahrens gilt.
Bedeutsam für das Hohe Haus ist dabei vor allem zweierlei. In Art. 1 wird für diesen besonderen Typ von Vertragsbeziehungen zwischen zwei Staaten, die für einander nicht Ausland sind, eine angemessene, von bisherigen Verfahrensweisen abweichende Regelung getroffen.
In Art. 3, in dem die Einbeziehung Berlins geregelt wird, ist zum Ausdruck gebracht, daß es sich bei den Vertragspartnern um die beiden Staaten in Deutschland handelt, mit anderen Worten: um das hier gegebene besondere Verhältnis. Die Rechte und Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin bleiben dabei gewahrt.
Besondere Bedeutung kommt selbstverständlich den menschlichen Erleichterungen zu, deren Inkraftsetzung der Staatssekretär beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Dr. Michael Kohl, in seinem bestätigten Brief vom 26. Mai 1972 aufgeführt und in seinem Interview vom 27. Mai 1972 in bezug auf ost-westliche Reisen inhaltlich beschrieben hat.
Der Deutsche Bundestag erwartet von der Bundesregierung, daß sie dafür Sorge trägt, daß die für alle Beteiligten dringliche Konkretisierung und Bekanntgabe der im einzelnen tatsächlich gewährten Leistungen bei Abschluß der zur Inkraftsetzung des Vertrages erforderlichen Rechtsakte beider Vertragspartner erfolgen.
Die beiden mitberatenden Ausschüsse, der Verkehrsausschuß und der Rechtsausschuß, haben dem innerdeutschen Ausschuß mitgeteilt, daß keine Bedenken gegen den von der Regierung vorgelegten Entwurf für das Feststellungsgesetz bestehen.
Ihnen liegt die Drucksache VI/3811 vor, in der der Beschluß des Ausschusses wiedergegeben ist und in der der Ausschuß eine andere Fassung des Art. 3 beantragt. Der Ausschuß schlägt dem Hohen Haus vor, dieser Vorlage zuzustimmen und der Regierung die erbetene Ermächtigung gemäß § 1 zu erteilen.
({0})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Geßner als zweitem Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der federführende Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen hat am 20. September den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Fragen des Verkehrs behandelt und die einzelnen Bestimmungen geprüft. Die beiden Berichterstatter sind übereingekommen, die Berichterstattung über das Zustimmungsgesetz und den Verkehrsvertrag aufzuteilen. Ich möchte mich daher ausschließlich mit dem Vertrag selbst befassen.
Obwohl er seiner Natur entsprechend vorwiegend verkehrstechnische Fragen enthält, so steht seine Bedeutung für die Verbesserung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR außer jedem Zweifel. Zum erstenmal wird durch einen Vertrag eine umfassende und gesicherte Rechtsgrundlage für den Verkehr auf Straßen, Schienen- und Wasserwegen zwischen den beiden Staaten in Deutschland gelegt. Damit wird für Verkehrsträger und Reisende die Rechtssicherheit geschaffen, die es bisher in einer großen Zahl von Verkehrs- und Transportfragen nicht gab.
Dieses Mehr an Rechtssicherheit ist geeignet, zur Entkrampfung des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten zum Wohle der Menschen in Deutschland beizutragen. Deshalb ist der Verkehrsvertrag ein wichtiger Baustein für die Verwirklichung der programmatischen Absicht, wie sie in der Präambel zum Ausdruck kommt, nämlich „normale gutnachbarliche Beziehungen beider Staaten zueinander zu entwickeln, wie sie zwischen voneinander unabhängigen Staaten üblich sind". Beide Seiten haben auf diese Weise den Wunsch bekundet, daß ein geregeltes Nebeneinander und schließlich ein Miteinander der beiden Staaten erreicht werden soll. Doch nicht nur dies: Die Präambel offenbart auch das „Bestreben, einen Beitrag zur Entspannung in Europa zu leisten". Der Verkehrsvertrag ist folglich Teil der weltweiten Entspannungsbemühungen.
Der Ausschuß stellte fest, daß die Bestimmungen des Verkehrsvertrages auf West-Berlin angewendet werden. Das Transitabkommen vom 17. Dezember 1971 wird durch den Verkehrsvertrag nicht berührt. Der Verkehr zwischen Berlin ({0}) und dem Bundesgebiet fällt unter die Bestimmungen des Transitabkommens, und zwar unabhängig davon, ob er im Bundesgebiet endet oder darüber hinaus in das Ausland weitergeführt wird. Umgekehrt gilt dasselbe.
Gegenstand des Vertrages ist nach Art. 1 „der gegenseitige Wechsel- und Transitverkehr auf Straßen, Schienen- und Wasserwegen". Gemäß einem Protokollvermerk zu Art. 1 bleibt der Personenverkehr mit Seepassagier- und Binnenschiffen zunächst ungeregelt; jedoch soll über ihn verhandelt werden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorhanden sind. Auch Regelungen über den Luftverkehr sind wegen der besonderen Rechtsverhältnisse im Vertrag noch nicht enthalten. Beide Seiten haben jedoch in einem Protokollvermerk hervorgehoben, zu gegebener Zeit in Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen einzutreten.
Art. 2 enthält die Grundnorm des Vertrages, nämlich die Anknüpfung an die übliche internationale Praxis. Überall dort, wo der international übliche Standard im Vergleich zur Verkehrspraxis zwischen den beiden deutschen Verkehrsgebieten höher ist, ergibt sich die Notwendigkeit für materielle Verkehrsverbesserungen. Der Vertrag beinhaltet auch das Prinzip der Gegenseitigkeit und der Nichtdiskriminierung. Die Konsequenz daraus sind das Gebot der Gleichbehandlung und die Forderung nach Gegenmaßnahmen für den Fall, daß ein Vertragspartner im bilateralen Verhältnis nicht vergleichbare Bedingungen gewährt oder Verkehrsteilnehmer dritter Staaten unter vergleichbaren Umständen besser behandelt.
11740 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode Dr. Geßner
Der Ausschuß begrüßte das materielle Ziel des Vertrages, den Verkehr in größtmöglichem Umfang zu gewähren, zu erleichtern und möglichst zweckmäßig zu gestalten.
In bezug auf Art. 1 bleibt noch übrig, darauf hinzuweisen, daß der Binnenschiffahrt beider Staaten zum erstenmal seit 1945 die Möglichkeit des Transitverkehrs in dritte Staaten eröffnet wird.
Der Ausschuß befaßte sich auch mit dem Problem zusätzlicher Grenzübergangsstellen. Die Regierung wurde gebeten, sich für die Öffnung weiterer Übergangsstellen einzusetzen, zumal Art. 4 Satz 2 des Vertrages diese Möglichkeit einräumt.
Auch was Art. 8 betrifft, also die Verpflichtung zur gegenseitigen Information über den Zustand der Verkehrswege sowie zur Übermittlung von Nachrichten über den Verkehrsablauf, bat der Ausschuß die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß Berlin ({1}) und die Bundesrepublik durch die zuständigen Behörden der DDR nicht unterschiedlich behandelt werden.
Verbesserungen im Verkehr werden auch durch den beabsichtigten Beitritt der beiden Staaten zu den Internationalen Übereinkommen über den Eisenbahn-Personen- und -Gepäckverkehr ({2}) und über den Eisenbahnfrachtverkehr ({3}) die Folge sein, beispielsweise dadurch, daß nunmehr durchgehende Tarife im Personen- und Güterverkehr möglich sein werden.
Einmütig herrschte im Ausschuß die Auffassung. daß durch den Beitritt zu CIM und CIV die Hoheitsrechte der Westalliierten im Hinblick auf die Reichsbahn in West-Berlin nicht berührt werden.
In Art. 14 und Art. 16 gründen beide Staaten die staatsvertragliche Basis für die Benutzung von kurzen Durchgangsstrecken im Gebiet der anderen Eisenbahnverwaltung, wobei die materiellen Bedingungen für die verschiedenen Strecken gleich sind.
Für den Fall, daß Meinungsverschiedenheiten über Anwendung und Auslegung des Vertrages bestehen, wurde die Einsetzung einer gemischten Kommission rechtlich verankert. Wird eine Einigung nicht erzielt, so ist vorgesehen, daß die Regierungen der beiden Staaten die strittigen Fragen auf dem Verhandlungswege klären.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zum Vertrag gehört auch das Schreiben des Staatssekretärs beim Ministerrat der DDR vom 26. Mai 1972. Darin werden u. a. folgende Zusicherungen gegeben, die ich wegen ihrer Bedeutung abschließend besonders hervorheben möchte.
Erstens. Es werden Reiseerleichterungen zwischen den beiden Staaten über das übliche Maß hinaus gewährt.
Zweitens. Auf Antrag von Bürgern der DDR wird der Besuch von Verwandten und Bekannten aus der Bundesrepublik jährlich mehrmals erlaubt.
Drittens. Auf Einladung können Bundesbürger auch aus kommerziellen, kulturellen, sportlichen oder religiösen Gründen in die DDR reisen.
Viertens. Touristenreisen in die DDR werden ebenfalls ermöglicht.
({4})
Fünftens. In größerem Umfange als bisher dürfen bei Reisen in die DDR Personenkraftwagen benutzt werden.
Sechstens. Die Freigrenze für mitgeführte Geschenke wird erhöht.
Siebtens. In dringenden Fällen - Familienangelegenheiten - wird Bürgern der DDR die Reise in die Bundesrepublik ermöglicht.
Meine Damen und Herren, besonders der zuletzt aufgeführte Punkt zeigt, daß bei gutem Willen Barrieren des Anomalen abgebaut werden können. Der Ausschuß sprach die Erwartung aus, daß die gemachten Zusicherungen unmittebar nach Inkrafttreten des Vertrages in die Tat umgesetzt werden, und zwar im Interesse der Menschen in Deutschland.
({5})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter und eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Keine Wortmeldungen. Dann kommen wir zur Abstimmung. Ich rufe Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich stelle einstimmige Annahme - ({0})
- Ich kann nicht feststellen, ob sich Mitglieder des Hauses der Stimme enthalten wollen.
({1})
- Neun Enthaltungen bei der CDU/CSU. Das Gesetz ist angenommen.
({2})
Wir kommen zurück zu Punkt 4 der Tagesordnung:
Antrag des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes.
Das Wort hat Herr Bundesminister Scheel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 6. Deutsche Bundestag steht vor seiner Auflösung. Zum erstenmal, seit dem es die Bundesrepublik Deutschland gibt, wird damit unser Parlament vor dem normalen Ende einer Legislaturperiode seine Arbeit beenden.
({0})
So außergewöhnlich dies erscheinen mag, so notwendig ist es. Dieser Bundestag ist nicht arbeitsfähig. Parteiwechsel einzelner Abgeordneter haben die Mehrheitsverhältnisse ohne Zustimmung der Wähler verändert.
({1})
Damit wir uns nicht mißverstehen, meine Damen und Herren: ich bin kein Anhänger des imperativen Mandats .
({2})
Die FDP hat das Recht auf Gewissensfreiheit in ihren eigenen Reihen immer respektiert.
({3})
Sie hat nie die Peitsche der Fraktionsdisziplin geschwungen. Wir wollen keine Abgeordneten, die von ihren Fraktionsvorständen oder Parteibürokratien abhängig sind.
Wir sind aber auch gegen das elitäre Mandat.
({4})
Wir sind keine Auserwählten, meine Damen und Herren, die ohne Rücksicht auf den Willen des Wählers ihren Interessen, ihren Geschäften nachgehen können. Wenn eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse ohne Wählerentscheidung möglich wird, ist die parlamentarische Demokratie am Ende.
({5})
Und ich meine: Wehe dem, dem dann das Gewissen nicht schlägt!
({6})
In einer solchen Lage kann die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie nur erhalten bleiben, wenn man die Bürger entscheiden läßt.
({7})
Die Bundesregierung wird ihre Arbeit bis zur Wahl fortsetzen. Sie ist durch ihren Eid dazu verpflichtet.
({8})
Unsere Aufgabe ist es, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden.
({9})
Das gilt für die Regierungstätigkeit im Innern und nach außen. Wer die Verhandlungsfähigkeit seiner Regierung gerade in der nunmehr folgenden schwierigen Situation beeinträchtigt, wer unseren Partnern zu suggerieren versucht, sie sollten sich auf keine Gespräche mit der Bundesrepublik Deutschland mehr einlassen,
({10})
der hat den Sinn des Grundgesetzes nicht verstanden.
({11})
Nach Presseberichten sollen Sie, Herr Dr. Barzel, in Neuß die Staaten der Welt aufgefordert haben, mit dieser Bundesregierung keine Abmachungen mehr zu treffen.
({12})
Ich kann das nicht glauben.
({13})
Wir haben manche verschiedene Ansichten, ({14})
aber einen derartigen Mangel an Patriotismus traue ich Ihnen nicht zu, Herr Dr. Barzel.
({15})
- Warum ich es zitiere, Herr Kollege? Ich möchte Herrn Dr. Barzel bitten, diese Nachricht aus der Welt zu schaffen.
({16})
Unser Land darf in seinem internationalen Ansehen nicht als Provinz dastehen, in der man die selbstverständlichen Spielregeln der Demokratie und die Gebote nationaler Solidarität in Wahlkampfzeiten nicht kennt.
({17})
Dieser Bundestag, meine Damen und Herren, hat, wie andere vor ihm, fleißig gearbeitet. Doch in unserem Volk wird an ihm harte Kritik geübt.
({18})
Eine Reihe von Vorkommnissen haben Schatten auf sein Ansehen geworfen,
({19})
nicht zuletzt auch die Mitnahme von Mandaten beim Übertritt von Abgeordneten, die sich gegenüber ihren Wählern auf das Programm dieser Regierung verpflichtet hatten.
({20})
Dies rührt an den Lebensnerv unserer parlamentarischen Demokratie.
({21})
Die Bürger haben mit Recht einen scharfen Blick für diese Dinge entwickelt.
({22})
Sie haben auch eine klare Einstellung zum Problem des Parteiwechsels und wissen wohl zwischen den Motiven zu unterscheiden. Der Ruf nach jener Würde des Parlaments, die ihm als oberstem Verfassungsorgan ansteht, darf nicht ungehört verhallen.
({23})
Doch, meine Damen und Herren, lassen wir uns von diesen Schatten nicht die Leistungen dieses Parlaments verdunkeln. In dieser Legislaturperiode sind Entscheidungen gefallen, die sich nur mit der Zustimmung eines früheren Bundestags zum Ein11742
bau der Bundesrepublik Deutschland in den freien Westen vergleichen lassen.
({24})
Dieser Bundestag hat die Verträge von Moskau und Warschau ratifiziert und damit nach 25 Jahren Spannungszustand die Berlin-Regelung möglich gemacht.
({25})
Dieser Bundestag hat die Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Kraft gesetzt, und wenn einmal die Geschichte dieser Jahrzehnte geschrieben wird, so wird niemand daran vorbei können, daß dies historische Einschnitte gewesen sind.
Auch in der Innen- und Gesellschaftspolitik ist Wesentliches für die soziale Entwicklung, für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung geleistet worden.
({26})
Ich nenne nur einige Stichworte: die Erhöhung und Dynamisierung der Kriegsopferrenten,
({27})
die Erhöhung der Alters- und Unfallrenten sowie des Kindergeldes, kostenlose Vorsorgeuntersuchungen, Wegfall des Krankenversicherungsbeitrags für Rentner, auch die gestern in diesem Bundestag beschlossene Rentenreform, meine Damen und Herren,
({28})
ein soziales Mietrecht, die Reform der Betriebsverfassung, das Städtebauförderungsgesetz, das Krankenhausfinanzierungsgesetz,
({29})
die Verkürzung der Wehrdienstzeit, das Hochschulbaugesetz, die Umweltschutzmaßnahmen,
({30})
die Verbesserung der Sozialfürsorge für Landwirte. ({31}) Dies nur als einige Beispiele für vieles.
({32})
Ich meine daher, daß die Bundesregierung eine Ehrenpflicht versäumte, wenn sie diesem Bundestag nicht für seine Arbeit dankte.
Am meisten Dank schulden wir jedoch unseren Bürgern.
({33})
Sie haben in den vergangenen Jahren den entscheidenden, den befreienden Schritt von der Illusion zur Wirklichkeit getan. Wir sind endlich zu einem geläuterten nationalen Selbstverständnis gekommen.
({34})
Unser Volk hat in seiner schwierigen Lage, gespalten von der Grenze zwischen Ost und West, voll erkannt,
({35})
welche Verantwortung für den Frieden in Europa ihm auferlegt ist. Es hat überholte Tabus und Wunschvorstellungen überwunden. Es ist sich dessen bewußt, daß unsere Einheit nur im europäischen Rahmen möglich ist. Unser Volk hat erkannt, daß nicht Rhetorik die Grenzen in unserem Vaterland überwindet, sondern nur beharrliche Bemühungen um ein vertraglich geregeltes Verhältnis in Deutschland.
({36})
Es spricht für die Reife der deutschen Demokratie, daß sie diese Herausforderung an ihre moralische Substanz ohne innere Krise überwunden hat. Jetzt ist der bleibende Beweis erbracht, daß Bonn nicht Weimar ist.
({37})
Unser Volk hat es vermocht, sich den gebotenen Einsichten in schmerzhafte historische Notwendigkeiten zu öffnen. Es ist ihm gelungen, sich dabei ein kraftvolles Selbstbewußtsein zu erhalten und seine Selbstachtung zu entfalten. Wir haben endlich den Teufelskreis durchbrochen, in dem auf Gewaltdrohung Gegendrohung folgt. Wir haben einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Stabilität und damit zum Frieden und zur Sicherheit auf der Welt geleistet.
({38})
Dem deutschen Volk gebührt Dank und Respekt dafür.
Unsere Bürger haben auch verstanden, daß es nicht nur darauf ankommt, in Frieden mit unseren Nachbarn zu leben, sondern daß es entscheidend ist, ob wir im Frieden mit uns selbst zu leben verstehen. Auch diese Belastungsprobe ist bestanden worden. Unser Land lebt in sozialer Eintracht,
({39})
und dieses wertvollste aller Güter müssen wir uns gemeinsam erhalten.
Jetzt liegt es an uns, den politischen Parteien, einen Wahlkampf zu führen, der nicht nur Leidenschaften aufwühlt - das kommt im Wahlkampf auch vor -, der nicht Bürger gegen Bürger hetzt.
({40})
Auch in der härtesten Auseinandersetzung darf die Vernunft im Wahlkampf nicht außer Kraft gesetzt werden.
({41})
- Wenn ich sage „darf die Vernunft im Wahlkampf nicht außer Kraft gesetzt werden", will ich damit nicht sagen, daß auch Heiterkeit und Humor vielen im Wahlkampf fehlen müßten. Das darf es im Wahlkampf geben.
({42})
Auch in den härtesten Auseinandersetzungen darf die Vernunft nicht außer Kraft gesetzt werden, wiederhole ich. Durch die Form unserer Debatte müssen wir Politiker nämlich beweisen, daß wir unserer Bürger, die sehr vernünftig denken, würdig sind.
Es dürfen auch nicht neue Illusionen geschaffen werden,
({43})
die das Erreichte wieder in Frage stellen und uns Belastungen im Verhältnis zu unseren Nachbarn in West und Ost und im Inneren unseres Landes aussetzen.
In diesem Zusammenhang darf ich wohl sagen: Am allerwenigsten haben wir eine Wirtschaftskrise in diesem Land. Sie alle wissen das. Die Zahlen, die Fakten sind Ihnen bekannt.
({44}) Auch die Industrie selbst glaubt an keine Krise.
({45})
Die Nachfrage nach Investitionsgütern stieg im zweiten Quartal dieses Jahres stärker als die allgemeine Nachfrage, ein Vorgang, der in Krisenzeiten wohl gänzlich unüblich ist.
Die Industrie hat also Vertrauen in unsere wirtschaftliche Entwicklung. Warum aber soll das Vertrauen des deutschen Bürgers, des Auslandes in unserer Wirtschaft gefährdet werden? Wer hat ein Interesse daran? Der Bürger sicher nicht. Die Wirtschaft sicher nicht. Diese Regierung sicher auch nicht. Bisher glaubt besonders im Ausland niemand an dieses Krisengerede. Aber wie leicht könnte es negative Folgen haben! Für unser Land ist auch wichtig, was das Ausland von ihm denkt,
({46})
was man dort von seiner Währungslage, seiner Produktionskraft, seiner sozialen Lage hält. Auch in der Wirtschaft hängt viel von dem Vertrauen ab, das andere uns entgegenbringen. Wir sollten daher, meine ich, nüchtern bleiben.
({47})
Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen! Dies sind die Tatsachen: Die Konjunktur nimmt einen maßvollen Aufschwung.
({48})
Die industrielle Produktion ist im ersten Halbjahr um 4 % gewachsen. Der Außenhandel erbrachte trotz zweifacher Aufwertung 1970 und 1971 jeweils Überschüsse von mehr als 15 Milliarden DM. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres betrugen die Überschüsse bereits 10 Milliarden DM.
All das ist Leistung, vor allem Leistung unserer Bürger, Leistung, die hier im Lande und draußen in der Welt Vertrauen verdient. Betrügt man die Bürger nicht um die Früchte ihrer Arbeit, wenn man ihnen dieses Vertrauen der Welt zerredet?
({49}) Ich meine, wir sollten alle daran interessiert sein, daß das Markenschild „Made in Germany" von Krisenflecken - und seien sie auch nur verbaler Natur - freibleibt. Unser „Made in Germany" darf nicht kaputtgemacht werden.
({50})
Ich wiederhole: Niemand darf dem deutschen Volk Krisen herbeireden, die es nicht gibt, die das deutsche Volk nicht braucht, die es nicht will und nicht verdient.
({51})
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, in diesem Augenblick noch ein Wort. Die Politik dieser letzten Jahre war nur möglich, weil an der Spitze dieser Regierung ein Mann gestanden hat, der in einem hohen Maße Verantwortungsgefühl, Gerechtigkeitssinn und Fairneß miteinander verbindet.
({52})
Meine Damen und Herren, ich meine, daß der Bundeskanzler, daß Willy Brandt durch die Lauterkeit seines Wollens, durch seine politische und moralische Integrität entscheidend zum Frieden im Innern beigetragen und unser Ansehen im Ausland vermehrt hat. Dafür möchte ich ihm heute danken.
({53})
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag gibt sein Mandat an das deutsche Volk zurück. Die Entscheidung über die nächste Bundesregierung liegt jetzt wieder dort, wo sie in einer Demokratie hingehört, nämlich beim Wähler.
({54})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierung kommt ihrem wohlverdienten Ende näher und näher.
({0})
Ich möchte aus der Rede meines Vorredners
({1})
- Herr Kollege Marx, seien Sie bitte großzügig ({2})
nur eine Sache aufgreifen. Er hat den Kollegen Barzel zitiert nach seiner Neußer Rede vom vergangenen Sonnabend, wenn ich mich nicht irre. Herr Kollege Scheel, für uns alle ist klar - für Sie wohl auch -, daß die Regierung natürlich bis zur Berufung einer neuen Regierung im Amt ist. Aber diese Regierung sollte sich hüten, irgendwelche neuen Verpflichtungen zu übernehmen.
({3})
Dr. Schröder ({4})
Ich habe hier vor ein paar Monaten gesagt, 30 Monate dieser Regierung seien genug, übergenug. Aber vielleicht war es notwendig, sicher war es lehrreich, noch sechs Monate mehr davon zu erleben.
({5})
Meine Damen und Herren, ich gehöre zu denen, die der gesetzlich zustande gekommenen Regierung den schuldigen Respekt nie versagt haben. Das aber befreit mich nicht von der Pflicht, den Maßstab unbarmherzig-sachlich anzulegen, den unser Land mit Recht verlangen kann. Ich will heute morgen hier nur drei Punkte anführen, die nach meiner Meinung aber die Essenz darstellen. Ich tue das ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Vielleicht noch heute, aber sicher im Laufe des Wahlkampfes, wird die Rechnung Punkt für Punkt aufgemacht werden.
Mein erster Punkt ist der Verfall des Führungskreises. Herr Kollege Barzel hat vorgestern die „Namenstafel" verlesen. Meine Damen und Herren, wir haben seit 1949 nichts Vergleichbares erlebt.
({6})
Eine Regierung, die in zwei Jahren zwei Finanzminister verbraucht, und zwar so, wie es geschehen ist, richtet sich selbst.
({7})
Das hat nichts damit zu tun, daß die Regierungsmehrheit von Anfang an halsbrecherisch schmal war.
({8})
Daß sie so heterogen sein würde, daß sie so wenig inneren Zusammenhalt aufgebracht hat, ist vielleicht der schwerste Schaden, den sie unserem Land zugefügt hat.
({9})
Der zweite Punkt ist die vielbeklagte Sucht des Reformismus. Die Regierung hat sich als ein Kabinett der inneren Reformen vorgestellt. Aber niemand, meine Damen und Herren, vermag etwas Ernsthaftes zu nennen, was diesem Anspruch auch nur von fern genügen könnte.
({10})
Sogar - und das war vor einigen Tagen hochinteressant zu sehen - Freunden der Regierung kommt plötzlich der Ausdruck „Reformismus" geläufig von den Lippen. Sie meinen - und ich glaube, mit Recht -, daß es des Redens über Reformen zuviel war. In der Tat: Eine Regierung, die sich hier ohne einen Haushalt verabschieden muß, hat das Recht verwirkt, von der Realität ihrer Reformen zu sprechen.
({11})
Der dritte Punkt ist wahrscheinlich der schlimmste. Die Regierung hat sich viel auf ihre Friedenspolitik zugute getan. Sie hat sich dafür von Deutschlands Gegnern und von manchen wirklichen oder vermeintlichen Freunden loben lassen. Mich hat immer gewundert, daß sie diese Art von Beifall nicht gründlich geprüft, sondern offenbar ungeprüft geschlürft hat.
({12})
Schlimmer als das aber ist, daß damit die voraufgegangenen Regierungen diskreditiert wurden.
({13})
Sie haben aber Frieden, Sicherheit und Freiheit möglich gemacht.
({14})
Ich will über die Regierungspolitik in diesem Augenblick nicht härter sprechen, aber Ihre Vertragskunst als Leistung für Deutschland auszugeben, war und ist ein starkes Stück!
({15})
Nur eine einzige Schlußbemerkung: Deutschland braucht eine bessere Regierung.
({16})
Deshalb appellieren wir an das Land: Gebt Deutschland, was es braucht: eine bessere Regierung!
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schulz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wahlkampf, der jetzt beginnt, soll von den Koalitionsparteien von vornherein in das Zeichen einer falschen, verhängnisvollen, ja geradezu verfassungswidrigen Legende gestellt werden: der Legende von den Überläufern.
({0})
Der Volksmund hat diese Legende sehr rasch als das bezeichnet, was sie ist: als eine neue Dolchstoßlegende.
({1})
Es trifft zu: Diese neue Dolchstoßlegende ist subjektiv genauso verlogen und objektiv genauso unhaltbar wie die erste. Es handelt sich um den wohl groteskesten, aber auch dreistesten Versuch in der jüngsten Zeitgeschichte, die Gesetze von Ursache und Wirkung auf den Kopf zu stellen.
({2})
Es erscheint darum notwendig, meine sehr verehrten Damen und Herren, vor der großen Offentlichkeit, die dieser Bundestagsdebatte beiwohnt, und speziell vor jener großen Mehrheit, die sich den Grundsätzen der Demokratie und ihrem Fundament, dem Grundgesetz, verpflichtet weiß, der Regierung und den sie stützenden Parteien diese scheinbare Trumpfkarte mit dem Überläufertum hier und heute aus der Hand zu schlagen.
({3})
Der Herr Bundeskanzler hat ja, offenbar in Wahrung eines besseren parlamentarischen Protokolls, vorgestern den Begriff „Mandatsüberträger" - nicht „Überläufer" - gebraucht. Aber wir haben schon in den letzten Tagen gesehen, daß das keine Schule gemacht hat, sondern daß der Begriff „Überläufer" von der linken Seite dieses Hauses immer
Dr. Schulz ({4})
wieder auftauchte. Darum werde ich mir gestatten, ihn zu analysieren.
„Überläufer" - das ist ein Begriff, der aus dem Krieg stammt, der sich auf Männer bezieht, die, aus welchen Gründen auch immer, bei Nacht und Nebel, klamm und heimlich, die eigene Truppe verlassen und zum Feind überlaufen.
({5})
Davon ist niemand der acht Kollegen, die in dieser Legislaturperiode die Partei gewechselt haben, betroffen.
({6})
Jeder hat um seine Entscheidung gerungen, er hat sie der Öffentlichkeit mitgeteilt und vor der Öffentlichkeit begründet. Man muß schon eine sehr verblendete Perspektive haben, meine Damen und Herren, wenn man sich einbildet, in meinem Falle hätte es nicht einer ungeheuren Anstrengung bedurft, eine Partei zu verlassen, die einem mehr war als Heimat, die einem politischer Mutterboden war, der man mehr als 40 Jahre angehört hat.
Das ist aus anderen Gründen geschehen, als sie eben der Herr Kollege Scheel ebenso unschön wie zynisch formuliert hat.
({7})
Er hat von der Wahrnehmung von Interessen oder der Ausübung von Geschäften gesprochen, wenn ich ihn richtig verstanden habe.
({8})
Die Lage ist wesentlich ernster gewesen. Ich kann außerdem nachweisen, daß ich seit Januar 1970, in dem Moment, als im „Spiegel" ein Interview erschien, in dem Herr Wehner ostpolitische Perspektiven entwickelte, die bis dahin noch gar nicht debattiert worden waren, und gleichzeitig sagte, er brauche dafür nicht die Opposition, meine wachsenden Bedenken in der Öffentlichkeit kundgetan habe. Ich könnte zwei stattliche Ordner zum Beweis dessen auf den Tisch des Hauses legen.
Man mag trotz alledem die Entscheidung, die ich getroffen habe und die einige meiner Kollegen getroffen haben, für falsch halten, und ich kann verstehen, wenn Kollegen von früher mir und anderen deswegen gram sind. Das ist alles menschlich verständlich. Aber die kollektive persönliche Diffamierung als Überläufer, das blieb Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, überlassen.
({9})
Es steckt in diesem Begriff aber auch eine ebenso verräterische wie enthüllende Selbstentlarvung. „Der Überläufer", das bedeutet die Reaktualisierung des Freund-Feind-Verhältnisses in der Demokratie.
({10})
Dieses Freund-Feind-Verhältnis hat die Weimarer Republik belastet und sie scheitern lassen. Es hat auch in die ersten Jahre der Konsolidierung der Bundesrepublik hineingespielt. Soweit die deutsche
Linke mit ihrer früher problematischen Staatsgesinnung davon betroffen war, konnte man annehmen, daß durch das Godesberger Programm und durch die Rede, die Herr Wehner hier an dieser Stelle am 30. Juni 1960 gehalten hat, das Freund-FeindVerhältnis in dieser neuen Demokratie für immer zu Grabe getragen worden sei. Jetzt ist es durch die Polarisierungstendenz der Politik dieser Regierung und der sie stützenden Parteien in optima forma wieder eingeführt. Das ist ein Versagen dieser Regierung und der Koalition, über das wir in den nächsten Wochen sehr laut und deutlich mit dem Wähler reden werden.
({11})
Es wird weiter behauptet, diese sogenannten Überläufer hätten den Wählerwillen verfälscht.
({12})
Nun, meine Damen und Herren, mit dem nötigen Humor, der zur Demokratie gehört, werden alle Parteien dieses Hauses, meine eigene nicht ausgenommen, zugeben, daß man manchmal aus taktischen Gründen an den Wählerwillen appelliert, auch wenn das statistisch im jeweiligen Augenblick nicht so ganz genau nachprüfbar ist. Aber es gibt eine statistische und damit historische Nachweisbarkeit des Wählerwillens, etwa Ergebnis einer Wahl. Insofern hat die Verfälschung des Wählerwillens am 28. September 1969 begonnen.
({13})
Der Gewinner von damals, eindeutig die Sozialdemokratie, hat mit dem Verlierer von damals eine Koalition gemacht, praktisch gegen jeden zweiten Wähler und jede zweite Wählerin in diesem Lande.
({14})
Ich stehe nicht an, auch heute noch den früheren 50 Kollegen von den Freien Demokraten meinen Respekt zu bekunden, die in der Zeit der Großen Koalition mit großem Fleiß und großem Engagement die undankbare Oppositionsrolle in diesem Hause dargestellt, haben. Aber am 28. September 1969 wurde doch offenkundig, daß die Wähler diese Anstrengungen nicht belohnt, sondern daß über 90 % für die Parteien der Großen Koalition und damit für eine Fortsetzung dieser Politik gestimmt haben.
({15}) - Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt.
({16})
Die damals getroffene Entscheidung ist in meinen Augen politisch nicht einwandfrei. Sie war aber arithmetisch einwandfrei, denn die Regierung Brandt wurde am 21. Oktober mit einer knappen, aber klaren Mehrheit in den Sattel gesetzt. Aber dann hätte die Bundesregierung, dann hätte insbesondere der Herr Bundeskanzler, der die Richtlinien der Politik zu bestimmen hat, etwas sorgfältiger um die Erhaltung dieser Mehrheit bemüht sein müssen.
({17})
Daß er das offenbar nicht war, beweist sein Kommentar, den eine Zeitung am 14. Oktober 1971 ver11746
Dr. Schulz ({18})
öffentlichte - dem Datum meines Parteiwechsels -, daß eben dieser Entschluß eines jahrzehntelangen Mitstreiters und früheren Freundes nicht der Rede wert war. Gut, man kann diesen Standpunkt ja beziehen. Aber das bedeutet doch, daß der Herr Bundeskanzler, daß die Mitglieder der Bundesregierung von vornherein die Männer nicht im Auge gehabt haben - sowohl in der SPD-Fraktion wie in der FDP-Fraktion -, für die die Demokratie etwas Verpflichtenderes ist als eine bloße Organisation, die es für notwendiger halten, sich ihren eigenen Kopf zu zerbrechen, als eine gehorsame Anpassung an die nicht vorhandene, nur immer wieder unterstellte Kollektivintelligenz vorzunehmen, die das Gewissen über die Parteiräson stellen.
({19})
Der Herr Bundeskanzler hätte diese Männer ernster nehmen und hätte versuchen müssen, Politik mit ihnen zu machen. Dann hätte es keine Vertrauensfrage am 20. September 1972 geben müssen. Dann hätte es aber auch ganz gewiß die Ostverträge in dieser Form nicht gegeben,
({20})
weil die Männer, um die es sich handelte - ich komme in einem anderen Zusammenhang noch darrauf , wußten, daß man Außenpolitik nicht ohne eine so große und machtvolle Opposition machen kann, wie sie hier in diesem Hause anwesend ist.
({21})
Ich muß auch persönlich die Legende von der Verfälschung des Wählerwillens zurückweisen. Ich habe am Bundestagswahlkampf 1969 - damals noch als überzeugter Sozialdemokrat, aber auch als überzeugter Anhänger der Großen Koalition - teilgenommen. Natürlich wurde aber in den Debatten jeder Wahlversammlung auch über die Alternative gesprochen, und fast immer tauchte dann die Frage auf: Wird nicht, wenn es eine Kleine Koalition zwischen SPD und FDP gibt, unsere Außenpolitik auf ein abenteuerliches Gleis geraten? Ich habe damals subjektiv völlig überzeugt gesagt: Das ist unmöglich; nach den Erfahrungen dieses Landes wird man keine Außenpolitik gegen die Hälfte der Nation betreiben. - Aber schon nach Abgabe der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 hatte ich persönlich das Gefühl: Habe ich nicht meine Wähler, die Wähler, die ich damals ansprach und denen ich solches gesagt habe, belogen? War nicht insofern mein Entschluß vom Oktober 1971 eine Art Wiedergutmachung auch an die Adresse dieser Wähler?
({22})
Der Herr Kollege Scheel meinte vorhin - ich glaube, es war ein bißchen leichtsinnig -, der Wähler habe ein deutliches Gefühl für die Bedenklichkeit von Parteiwechseln. Herr Kollege Scheel, wenn ich Ihnen die Zuschriften vorlegte, die mich damals erreicht haben, als ich meinen Entschluß faßte, zur CDU überzutreten,
({23}) und das als eine Art Meinungstest betrachtete, dann müßte die CDU/CSU am 19. November 75 % der Wählerstimmen bekommen.
({24})
Wenn man die Überläufertheorie vom Kopf auf die Füße stellt, dann muß auch an die einsamen Entschlüsse des Herrn Bundeskanzlers gedacht werden, beispielsweise in seiner Regierungserklärung.
({25})
Als ich vor siebeneinhalb Jahren in diesen Bundestag kam, hat der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Fritz Erler, ausdrücklich alle Kollegen, die alten und die neuen, um sorgfältige Mitwirkung an seiner Erklärung als damaliger Oppositionsführer ersucht. Das war ein Beispiel für Demokratie in jeder Beziehung, nach außen wie nach innen.
Wer hat denn aber an der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 mit der Anerkennung des zweiten deutschen Staates mitgewirkt? Meines Wissens hat darüber niemals eine Diskussion in der SPD-Fraktion stattgefunden.
({26})
Wenn ich sage „meines Wissens", dann nur darum, weil ich an den fraglichen Tagen in Wahrnehmung eines Ausschußmandats der WEU-Versammlung abwesend war. Aber ich habe nie etwas von einer solchen Diskussion gehört. Ein solch ernstes Problem hätte ja doch wohl mindestens das Motiv und die Tagesordnung für eine Klausurtagung der SPD-und der FDP-Fraktion abgeben müssen. Sie hat nicht stattgefunden. Und dann spricht man heute vom Verrat der Überläufer an einem Regierungsprogramm, von dem ihnen wie allen anderen vorher kein Wort gesagt wurde.
Der Herr Bundeskanzler hat sich mit der Anerkennung eines zweiten deutschen Staats von der Grundlage entfernt, die die überwältigende Mehrheit dieses Hauses durch die Entschließung vom September 1968 geschaffen hatte. Er wird seine Gründe für seine Politik haben. Sie stehen heute in der Debatte der Zeitgenossen, sie stehen morgen in der Debatte der Geschichte.
Aber wenn ich auch persönlich diese Politik für falsch und verhängnisvoll halte, würde ich doch nie auf die Idee kommen, dem Herrn Bundeskanzler für den Vollzug seiner Politik ehrenrührige Motive zu unterstellen. Kann ich dann nicht, können dann nicht meine mitbetroffenen Kollegen verlangen, daß man Verständnis dafür hat, wenn einige frühere Mitstreiter des Herrn Bundeskanzlers die geschlossene, aufrichtige und eindeutige Konzeption, wie sie in der Bundestagsresolution vom September 1968 zum Ausdruck kam, nicht so schnell aufgeben, wie er es getan hat und mit ihm der größte Teil der SPD und der FDP?
({27})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen Themen werden sich noch eingehend kompetentere Sprecher als ich mit dem Versagen dieser Regierung in der Reformpolitik, mit der Preisgabe
Dr. Schulz ({28})
der Stabilität, mit der inflationären Entwicklung und vor allen Dingen mit der falschen demagogischen Alternative befassen, daß 5 % weitere Inflation, die nun wirklich kein Mensch mehr vertragen kann, besser sei als 5 % Arbeitslosigkeit; das ist ein Preis, den auch um die Stabilität kein vernünftiger Mensch zu zahlen bereit ist und der auch gar nicht gezahlt werden muß, um dieses Ziel zu erreichen.
({29})
Ich möchte lediglich noch zu zwei Zitaten aus der Regierungserklärung Stellung nehmen. Der Herr Bundeskanzler hat damals versprochen, er werde mehr Demokratie wagen. Aus diesem Wagnis sind, wie wir alle wissen, nicht mehr Demokratie, sondern mehr Anarchie und eine ernste Gefährdung unserer inneren Sicherheit erwachsen.
({30})
Ich denke an viele unserer Hochschulen und Universitäten, in denen tagtäglich am Art. 5 GG vorbeigesündigt wird, in dem die Freiheit von Lehre und Forschung ausdrücklich an die Treue zur Verfassung geknüpft wird. Was an diesen Universitäten vor sich geht, ist eine bedenkliche Einbuße an Leistungsfähigkeit, die Hand in Hand geht mit elitärer Arroganz und der Entwicklung antidemokratischer, totalitärer Keimzellen mitten in unserer demokratischen Gesellschaft, von denen aus planmäßig die Eroberung unserer Schulen, unserer Justiz, ja, sogar der Polizei und der Bundeswehr betrieben wird.
({31})
Bei „mehr Demokratie" denke ich an die erschreckende Uniformität - Gott sei Dank gibt es noch immer eine ganze Reihe rühmlicher Ausnahmen - eines erheblichen Teils unserer Presse einschließlich Rundfunk und Fernsehen. Ich danke für dieses Mehr an Demokratie. Ich spreche dabei nicht wie ein Blinder von der Farbe. Fast 20 Jahre lang bin ich Rundfunkkommentator gewesen und weiß, wie sich die damalige Generation der polititischen Publizistik an ihrem Platz aufrichtig darum bemüht hat, die immer noch unpopuläre Demokratie in Herz und Hirn dieses deutschen Volkes anzusiedeln.
({32})
Ihre Nachfolger von heute, die professionellen Besserwisser, gefährden das Fundament, das damals geschaffen worden ist.
({33})
Sie sind auch mitschuldig an dem aberwitzigen Kontrast, der heute die öffentliche Diskussion beherrscht, nämlich dem scheinbaren Kontrast zwischen Freiheit und Fortschritt auf der einen und Gesetz und Ordnung auf der anderen Seite, wobei man vorsichtshalber nicht von Gesetz und Ordnung, sondern von „law and order" spricht, weil sich bei diesem angelsächsischen Terminus unklare Emotionen und Ressentiments in Richtung Vietnam mobilisieren lassen. Jeder Einsichtige in diesem Lande, der sowohl auf Utopismus wie auf reaktionäre Gesinnung verzichtet hat, sollte wissen, daß eine lebendige Demokratie nur existieren kann, wenn Freiheit
und Fortschritt, Gesetz und Ordnung untereinander in einem unauflösbaren Verhältnis stehen.
({34})
Die moralische und geistige Polarisierung, die auf diesem Gebiet eingetreten ist, hat ebenfalls die Bundesregierung zu verantworten. Sie hat jedenfalls nichts Glaubwürdiges dazu getan, sie zu verhindern.
In diesem Zusammenhang ein sehr nüchternes, aber auch sehr ernstes Wort. Wir alle haben in den letzten Jahren eine erschreckende Eskalation der Gewalt erlebt. Wenn vor diesem Hintergrund fortgefahren wird mit einer planmäßigen und konsequenten Verleumdung und Verteufelung von Gruppen, noch dazu von Gruppen, deren Namen bekannt sind, dann können Konsequenzen eintreten, meine Damen und Herren, die den Urhebern solcher Verteufelungen für die Dauer ihres Lebens das ruhige Gewissen rauben würden.
({35})
- Auch mein Kollege Müller, verehrter Herr Kollege, wird Ihnen nichts ersparen.
Ich darf Sie aber noch darauf hinweisen, daß sich das Selbstbewußtsein dieser Regierung als Toleranz zu erkennen geben sollte und daß diese Toleranz nicht einmal gegenüber dem Grundgesetz, dem Art. 38 des Grundgesetzes gegenüber, aufgebracht wurde. Dieser Artikel war Ihnen lieb und wert, als Parteiwechsel - um mich eines althergebrachten Begriffes zu bedienen - in Rechts-links-Richtung erfolgten. Aber in dem Augenblick, als sich die Tendenz in den letzten Jahren umkehrte, aus Gründen, die ich hier darzustellen versucht habe, sprach man von Überläufertum, von Korruption und von Verrat. Aber die Toleranz, das gegenseitige Vertrauen, ist ja nicht einmal im eigenen Haus, nicht einmal in Ihren Reihen am Werke. Ich werde in jeder Wahlveranstaltung an den 27. April 1972 erinnern, an den gespenstischen Augenblick, als die SPD-Fraktion auf ihr Recht, ich möchte sagen: ihre Pflicht verzichtete, an einer geheimen Abstimmung in einer lebenswichtigen Frage teilzunehmen.
({36})
Das war damals, meine Damen und Herren von der SPD, kein Männerstolz vor Königsthronen, oder etwas abgewandelt: kein Männerstolz vor dem Wehnerthron, sondern es war ein schwarzer Tag für die Toleranz und ein schwarzer Tag für die Zivilcourage von 230 Parlamentariern.
({37})
Als der Herr Kollege Barzel vorgestern die Motive des Parteiwechsels einiger Kollegen bekanntgab, haben Sie über die europäische Motivation meiner Entscheidung gelacht. Sie hätten das nicht tun sollen. Denn wenn beispielsweise Herr Helmut Schmidt ausgerechnet der Opposition in den letzten drei Jahren mangelnde Initiativen vorwirft, dann darf ich die Gegenfrage stellen: Warum haben Sie denn den Initiativgesetzentwurf für die Direkt11348
Dr. Schulz ({38})
wahl der deutschen Abgeordneten ins Europäische Parlament Ihrerseits sabotiert?
({39})
Die SPD wird zu erklären haben, warum sie auch auf diesem für die Zukunft einer freiheitlich-demokratischen europäischen und Weltordnung lebensentscheidenden Gebiet eine Schwenkung um 180 Grad vollzogen und ihren eigenen Entwurf, den Mommer-Entwurf von 1964/65, verbrannt hat.
Der Parteiwechsel einzelner Kollegen war also ganz eindeutig Wirkung, nicht Ursache. Es ist auch nicht wahr, daß die Entscheidung des 19. November, wie der Herr Bundeskanzler, ich glaube, in Oberhausen behauptet hat, ein Plebiszit für oder gegen die sogenannten Überläufer sei, für die acht Männer, die die Partei gewechselt haben. So wichtig sind wir wahrhaftig nicht.
({40})
- Wie schön, daß Sie mir in dieser Frage Beifall spenden und damit ihren eigenen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler desavouieren. Dann sind wir uns ja einig.
({41})
Eines aber möchte ich noch sagen. Ich persönlich bin stolz darauf, als radikaler, kompromißloser Demokrat
({42})
mein winziges Teil dazu beigetragen zu haben, die Lebensdauer dieser Regierung vorzeitig abzukürzen.
({43})
Ich bin stolz darauf, als sozialer Demokrat, der ich bis zum Ende meines Lebens bleiben werde, der einzigen noch intakten demokratischen Partei in diesem Lande anzugehören und für sie in den nächsten Wochen zu kämpfen.
({44})
Ich hoffe auf einen Sieg der CDU/CSU am 19. November und bin davon überzeugt. Das wird eine Sternstunde unserer bedrohten Freiheit sein, hier in diesem Lande, in Westeuropa und in der gesamten westlichen Welt.
({45})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Haack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die soeben gemachten Ausführungen können nicht widerspruchslos hingenommen werden, wenn dieses Parlament und das parlamentarische System in der Bundesrepublik Deutschland noch glaubwürdig bleiben wollen. Ich sage das als ein Abgeordneter, der ein entschiedener Anhänger des Art. 38 GG, der ein entschiedener Anhänger der Gewissensfreiheit des Abgeordneten ist. Diese Gewissensfreiheit des Abgeordneten wird aber meiner I Ansicht nach ausgehöhlt, wenn mit diesem Verfassungsgrundsatz Mißbrauch getrieben wird.
Meine Damen und Herren, nach unserem Grundgesetz leben wir in einer parteienstaatlichen Demokratie, d. h. der Abgeordnete ist Vertreter der Parteien und Vertreter der Wähler.
({0})
Der Abgeordnete darf nicht in der Lage sein, den Wählerwillen zu verfälschen.
({1})
Meine Damen und Herren, wahrscheinlich werden heute noch eine Reihe von Kollegen sprechen wollen. Ich darf Ihnen sagen, wie etwa der Kollege Müller im November des Jahres 1970, also vor noch nicht ganz zwei Jahren, den damaligen Parteiwechsel von Abgeordneten kritisiert hat. Er hat ihn als „schändliches Vorgehen" von Abgeordneten, die sich nicht an den Wählerwillen hielten, bezeichnet. Wörtlich hat er ausgeführt: Es geht nun darum, daß die Regierung in Bonn vier Jahre lang zeigen kann, was sie zu leisten imstande ist. Dann habe der Wähler wieder die Entscheidung; durch ein Einkaufen von Abgeordneten dürfe es keinen Regierungswechsel geben. - Das hat ein Kollege gesagt, dessen Name von Herrn Kollegen Barzel in eine Ehrentafel für Gewissenstäter eingemeißelt wird.
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was Kollege Schulz von der Verfälschung des Wählerwillens 1969 durch die Bildung der Kleinen Koalition gesagt hat. Er meinte, 90 % hätten sich für die Große Koalition ausgesprochen. Jeder, der sich an die Situation vor der Bundestagswahl 1969 erinnert, weiß, daß die Entscheidung für den Wähler deutlich war: Kleine Koalition SPD/FDP - Regierung CDU/CSU. Das war die Alternative vor der Bundestagswahl 1969 genauso wie vor der bevorstehenden Bundestagswahl 1972. Damals hat sich eine Mehrheit für die Alternative der Kleinen Koalition ausgesprochen. Und ein Abgeordneter, der entgegen dem Wählerwillen von 1969 sein Mandat einer neuen Partei, in diesem Falle der Oppositionspartei, überträgt, müßte meiner Ansicht nach gerade hier vor der Offentlichkeit nachweisen, was sich denn entscheidend geändert hat
({2})
zwischen der Wahlaussage dieser Koalitionsregierung von SPD und FDP 1969 und der praktischen Politik.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn hier von meinem Vorredner auch die Außenpolitik kritisiert worden ist, dann sage ich, an die Opposition gerichtet: es ist kümmerlich und erbärmlich, wenn Sie immer noch diese Außenpolitik kritisieren, sich aber, wenn es dann um die Entscheidung im Parlament geht, der Stimme enthalten.
({4})
Und wenn Sie hier in großen Worten von Freiheit und Toleranz sprechen, dann blicken Sie doch nach München, um zu sehen, was mit der Jungen Union geschieht, die sich erlaubte, die Entscheidung des großen Vorsitzenden Strauß, den Herrn Müller in die CSU aufzunehmen, zu kritisieren. Wo ist dort Freiheit, wo Toleranz? Ein Ausschlußverfahren gegen diese Sprecher der Jungen Union!
({5})
Und es ist direkt makaber,
({6})
meine Damen und Herren, wenn man heute die zweite Seite des Münchener Lokalteils der „Süddeutschen Zeitung" aufschlägt und die große Schlagzeile liest: „Für Müller kein Platz in der CSU". Ein genaues Nachlesen kann einen dann davon überzeugen, daß aber das Mitglied der Jungen Union Müller gemeint ist. Das ist Freiheit, das ist Toleranz, wenn in der eigenen Partei nicht kritisiert werden darf? Sie entwickeln hier große Vorstellungen, Sie machen große Worte, und Ihre eigenen Parteimitglieder wollen Sie ausschließen, nur weil sie Kritik am Vorsitzenden üben?
({7})
Hier kommt es darauf an, daß endlich die Gewichte wieder richtig verteilt werden!
({8})
Wenn der Herr Kollege Schulz und künftige Sprecher - auch der Kollege Müller, der ja hier sicher noch auftreten wird ({9})
von Linksradikalismus und von den Sorgen, die Sie bezüglich des Fortbestehens unserer Demokratie haben, sprechen, dann sage ich, gerade auch zur bayerischen Gruppe der CDU/CSU gewandt: Der verbale Radikalismus, wie er uns jede Woche etwa im „Bayern-Kurier" gegenübertritt, ist für unsere Demokratie ebenso gefährlich wie andere extreme Richtungen. Das müssen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen!
({10})
Wer, meine Damen und Herren, an die Vergeßlichkeit der Bürger, der Wähler glaubt appellieren zu müssen, dem muß doch - nur an einem Beispiel - gesagt werden, daß es ein untragbarer Zustand ist, daß ein Abgeordneter, der jetzt der CSU angehört, sich noch im Mai 1972, noch vor vier Monaten, als er ein Wählervotum bei einer Kommunalwahl in München haben wollte, für die Fortsetzung der Regierung Brandt und für die Friedenspolitik aussprach und nach vier Monaten aus Gewissensgründen diese Regierung und diese Politik angeblich bekämpfen muß.
({11})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz ernsthaft - und ich darf noch einmal betonen, daß ich persönlich ein entschiedener Anhänger des Art. 38 des Grundgesetzes bin -: wenn Sie diesen Artikel auf diese Weise zu mißbrauchen glauben, dann gefährden Sie in Wirklichkeit die Glaubwürdigkeit dieser parlamentarischen Demokratie.
({12})
Wenn Herr Kollege Schulz gerade die Außenpolitik als Gewissensgrund hier glaubt vortragen zu müssen, dann ist es vielleicht auch ganz zweckmäßig, eine Äußerung von ihm - sie stammt von einem Landesparteitag der SPD vor einigen Jahren - in Erinnerung zu rufen. Er sagte:
Für mich ist die deutsche Politik seit einigen Jahren seit der letzten unrühmlichen Ara Adenauer und während der jetzt hoffentlich zu Ende gehenden noch unrühmlicheren Ara Erhard nicht mehr existent. Ich vermag nicht zu definieren, was in dem Chaos der Gegenwart deutsche Politik sein soll.
Und er sagte weiter, daß es darauf ankomme, eine neue Politik zu machen, die nur möglich ist unter sozialdemokratischer Führung.
({13})
Meine Damen und Herren, sicher werden Sie heute noch versuchen, weitere Redner aufzubieten, die hier ihre Gewissensnot ausbreiten wollen. Ich glaube, diese Taktik, die Sie hier anwenden wollen, ist ein weiterer Grund dafür, daß es höchste Zeit ist, daß dieser Bundestag endlich aufgelöst wird.
({14})
Ich bedaure nur, daß der Wähler nicht unmittelbar mitentscheiden kann, daß der Wähler nicht mitentscheiden kann über die politische Integrität von Abgeordneten und Kandidaten,
({15})
sondern daß es die Möglichkeit gibt, solche Kandidaten über Landeslisten abzusichern
({16})
und ohne direktes Wählervotum in das Parlament zu schicken.
({17})
Ich glaube, daß auch die Rede des Herrn Dr. Barzel vom Mittwoch ein deutliches Schlaglicht auf die politisch-moralischen Wertvorstellungen der CDU/ CSU geworfen hat, so daß der Wähler bei dieser Wahlentscheidung im November dieses Jahres nicht nur über die Sachfragen deutscher Politik zu entscheiden hat, sondern auch über die Frage, welchen Stellenwert er der politischen und moralischen Inte11750
grität von Abgeordneten in diesem Parlament zuerkennt.
({18})
Wir, die Sozialdemokraten, stellen uns diesem Wählervotum, und wir sind davon überzeugt, daß der Wähler richtig zu urteilen weiß, daß er weiß, wo es um Gewissen geht, und daß er weiß, wo es um andere, um vordergründige persönliche oder parteitaktische Ziele geht.
({19})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Rolle des Parlaments, um die Bedeutung des Artikels 38 ist neu entfacht. Es geht um die Frage, ob jemand einem Druck auszuweichen bereit sein darf und seinem Gewissen folgen darf oder ob er als Ausdruck tiefer Gewissensnot und starken politischen Willens den Parteiwechsel vollziehen kann. Vor solchen Leuten, meine Damen und Herren, muß man den Hut ziehen,
({0})
denn sie sind Träger wahrhaft humanistischer Gesinnung.
({1})
Ich finde die Heiterkeit der SPD-Fraktion über die Äußerung des SPD-Pressedienstes vom 8. November 1960 beim Übertritt des CDU-Abgeordneten Nellen zur SPD heute sehr interessant und blamabel.
({2})
Wer heute so über Gewissensentscheidungen urteilt, war damals oder heute ein Heuchler und ist nicht bereit, ein Gewissen anzuerkennen.
({3})
Entweder ging es ihm damals darum, durch Heuchelei nach außen einen Eindruck zu erwecken, oder er will heute durch Heuchelei einen anderen Eindruck wieder verwischen, denn konsequent ist die Haltung nicht.
({4})
Meine Damen und Herren, es wird immer davon gesprochen, daß diejenigen, die ihrem Gewissen folgen, vielleicht ihre Wähler oder den Wählerwillen verraten hätten. Meine Damen und Herren, ich wurde in München gegen einen Beschluß der Bezirkskonferenz der Jungsozialisten als Kandidat aufgestellt, weil ich diesen Bundeskanzler damals in der Frage der Notstandsgesetzgebung, als er noch Außenminister in der Großen Koalition war, verteidigt habe. Ich hatte einen Gegenkandidaten, der eine scharfe linke Politik forderte. Er unterlag; ich wurde aufgestellt. Ich wurde mit 27 000 Stimmen Mehrheit gewählt, dem höchsten Ergebnis vom Vorsprung her für einen sozialdemokratischen Abgeordneten in Bayern, und ich hatte 4000 persönliche
Stimmen mehr als die Partei, und zwar mit dieser Haltung, die von mir bekannt war, Herr Kollege Schmidt. Sie sind ein Opportunist, der sich immer in München angepaßt hat. Das wissen wir.
({5})
Ich habe im Mai 1968 da wurde ein Parteiverfahren eingeleitet; Sie waren doch Kreisvorsitzender - ein Plakat gegen die Maiunruhen in Frankreich in München angeschlagen. Ich wurde von Herrn Teufel und Herrn Jendis vom SDS im August 1968 auf der gemeinsamen Kundgebung mit der Jungen Union gegen den Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei tätlich angegriffen. Als ich im Jahre 1970 auf einem Unterbezirksparteitag - jetzt reden wir über Demokratie, meine Damen und Herren erklärte, es gebe in der Münchener SPD Leute, die mit Kommunisten zusammenarbeiteten, als ich nachwies, daß ein Sektionsvorsitzender am Gründungsparteitag der DKP teilgenommen hatte,
({6}) nachwies, daß es gemeinsame Flugblätter
({7})
von Jungsozialisten und Kommunisten gab, wurde endlich ein Parteiverfahren eingeleitet, aber nicht gegen diese Leute, die gemeinsam mit Kommunisten etwas machen, sondern gegen mich wegen „Ehrlosigkeit".
({8})
Meine Damen und Herren, ich habe dem Herrn Bundeskanzler in seiner Eigenschaft als Parteivorsitzendem das Material gegeben. Ich kann die Briefe mit Datum vorlegen. Ich habe keinerlei Unterstützung gefunden, weil es ihm offensichtlich darum ging, den bequemen Weg der Anpassung gegenüber den linken Kräften in der SPD zu gehen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich hatte am 14. April dieses Jahres ein Gespräch mit dem Bundeskanzler. Er ließ mich in das Kanzleramt kommen und fragte mich - es stand die baden-württembergische Wahl vor der Tür -, ob ich die Partei verlassen wolle. Ich sagte ihm, daß ich das nicht vor der baden-württembergischen Wahl tun werde, weil das eine vielleicht unfaire Beeinflussung der Wahl sei. Aber ich sagte ihm klar und deutlich, daß ich gegenüber den linksradikalen Tendenzen - nicht nur in München, sondern in der gesamten SPD - nicht schweigen und daraus die Konsequenzen ziehen werde.
({10})
Das hat ihn anscheinend nicht besonders interessiert, sondern es ging ihm nur um meine Stimme und nicht um den Inhalt der Politik, die hier in Bonn in der SPD betrieben wurde.
({11})
Meine Damen und Herren, was halten Sie von einem Unterbezirksvorsitzenden, der zur Eröffnung eines Bürger-Forums ein Buch überreicht, in dem Erich Ollenhauer, Friedrich Ebert und Kurt Schumacher als Arbeiterverräter bezeichnet werden, ein
Dr. Müller ({12})
Buch, das vom Zentralkomitee der SED herausgegeben wurde?! Was halten Sie von einem solchen Mann?! Er wird wahrscheinlich mein Nachfolger in dem Wahlkreis München-Süd sein, und Sie werden ihn dann in diesem Bundestag erleben.
({13})
Was halten Sie davon, meine Damen und Herren, wenn in der zweiten Januarwoche, wie das in einer Gerichtsverhandlung vor 14 Tagen bestätigt wurde, der heutige Landesvorsitzende der SPD, Dr. Vogel, sagte: Wenn die linke Mehrheit in der Münchener SPD die Mehrheit in der deutschen SPD bilde, dann werde er, Vogel, und ich, Müller, in einem Umerziehungslager sitzen.
({14})
Das ist keine Äußerung des „Bayernkurier", Herr Kollege Haack, sondern Ihres Landesvorsitzenden. Mich wundert nur die Opportunität dieses Mannes, der heute bereit ist, sich als Gallionsfigur für Herrn Schöfberger auf die erste Position dieser SPD-Landesliste setzen zu lassen.
({15})
Diesen Leuten geht es doch nicht um eine politische Entscheidung! Diesen Leuten geht es allein um Macht und Einfluß!
({16})
Denn sonst wären sie konsequent und würden nicht, nachdem sie in München gekämpft und die Leute mobilisiert haben, diese im Schützengraben liegen lassen und sich glorreich in die Generalstabsarbeit des Landespräsidiums zurückziehen.
({17})
Was halten Sie davon, Herr Bundeskanzler, daß auf einem Kongreß, der Ende April in Berlin stattfand, Ihr Mitglied in der SPD, Professor Klaus Peter Kisker, und das Bundesvorstands-Mitglied der Jungsozialisten, Johano Strasser, auftraten? Auf diesem Kongreß gegen politische Unterdrückung gab es ein Plakat: in der Mitte eine Eierhandgranate, rund herum, wie in einer Monstranz, Patronen, und darunter stand dann: Befreit die politischen Gefangenen! Und dann waren sie aufgezählt: El Fatah, Tupamaros, RAF - Rote Armee-Fraktion/BaderMeinhof. Und dieser Herr Strasser, Bundesvorstands-Mitglied der Jungsozialisten, sprach dort - ich stelle ihnen gern das veröffentlichte Protokoll zur Verfügung - und zitierte Ihr Wort, Herr Bundeskanzler,
({18})
daß man notfalls die Betriebe mobilisieren müsse. Dieses Wort müsse aber kritisiert werden: denn im Kern sei es zwar richtig, aber statt „notfalls" müsse dort „ „notwendigerweise" stehen; denn man müsse notwendigerweise die Betriebe mobilisieren, um hier
endlich ein sozialistisches Deutschland errichten zu können.
({19})
Und Herr Klaus Peter Kisker erklärte dort, daß der Verrat der deutschen Arbeiterklasse in ihren Idealen mit dem ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert begann - auch ein ehemaliges Mitglied Ihrer Partei in Berlin, und zwar ein führendes Mitglied.
({20})
Ich könnte diese Litanei hier stundenlang fortsetzen. Wer will da nicht glauben, daß der Wählerwille verfälscht wird: Unter dem Namen Sozialdemokratie treten Leute auf, für die ein Ernst Reuter kämpfte, für die ein Kurt Schumacher kämpfte. Heute wird der Ernst-Reuter-Preis des innerdeutschen Ministeriums, mit 5000 DM dotiert, an ein Mitglied der DKP vergeben.
({21})
Ernst Reuter würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das wüßte. Dieser Preis von 5000 DM - jetzt kommt es noch schöner - wurde dieser Erika Runge gestiftet für die demokratische Aktion in München, die dann Flugblätter und Presseerklärungen mit der Unterschrift einer langen Reihe von verehrten Kollegen der Sozialdemokratischen Partei - Slotta, Hansen und Kompanie - herausbrachte, in denen gefordert wurde: Abschaffung von Radio Free Europe, der Sender müsse endlich verboten werden, obwohl jetzt zur gleichen Stunde der Europarat fordert, daß diese Sendestationen im Interesse einer wirklich objektiven Information erhalten bleiben.
Ich könnte Ihnen hier noch mehr erzählen. Im Wahlkampf wird dazu genügend Gelegenheit gegeben sein, und dann bitte, meine Herren - auch hier in der ersten Reihe -, nicht verleumden! Ich habe da noch einiges in petto, was ich im Interesse des Parlaments hier nicht sagen möchte.
({22})
- Ihnen würde dann das Lachen ganz gehörig vergehen.
({23})
Dann bitte nicht verleumden, sondern mit sachlichen Argumenten auseinandersetzen! Dann sagen Sie den Wählern, warum Sie die Jungsozialisten, die außerparlamentarische Maßnahmen zur Machtergreifung vorschlagen - es gibt Zitate, es gibt die Beschlüsse der Bundeskongresse, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung wollen -, nicht aus der SPD ausschließen! Das müssen Sie ja den Wählern erklären: entweder Führungsunfähigkeit - wie im Kabinett vielleicht ({24})
oder einfach gewisse Sympathien mit diesen Leuten. Anders kann ich mir das nicht erklären.
({25})
Als Peter Nellen 1960 von der CDU zur Sozialdemokratischen Partei stieß, sagte er, heute könne
Dr. Müller ({26})
man als Christ zur SPD kommen, weil diese Partei durch das Godesberger Programm wählbar geworden sei. Wenn heute das ehemalige Bundesvorstandsmitglied des SDS, der damals schon wegen Ulrike Meinhoff und jener Erika Runge aus dem SDS ausschied und dann Mitbegründer des SHB war, wenn derjenige, der fünf Jahre Bundesvorsitzender der Jungsozialisten war,. wenn derjenige, der 18 Jahre in einer Partei für seine Überzeugung gekämpft hat, heute sagt: ich bin nicht bereit, die Umfunktionierung dieses Staates von linksradikalen Elementen auf scheinbar demokratischem Wege hinzunehmen, dann muß man sagen, daß ich heute die SPD verlassen habe ähnlich wie Peter Nellen, nicht weil sie wählbar geworden ist durch das Godesberger Programm, sondern weil sie sich von diesem Godesberger Programm wieder abgewandt hat.
({27})
Der Herr Bundeskanzler hat vom Veto gesprochen, das einige Abgeordnete ausgeübt hätten. Ich glaube, dieses Veto war notwendig, damit dem Volke draußen jetzt - fünf Minuten vor zwölf - die Augen geöffnet werden können vor einer Entwicklung, die uns wieder eine neue totalitäre Schlagseite der deutschen Geschichte brächte.
({28})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mende.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, in eigener Sache zu sprechen.
({0})
Aber ich halte es für meine Pflicht, als Mitbegründer der Freien Demokratischen Partei vor 27 Jahren, als langjähriger Vorsitzender, der die Ehre hatte, acht Jahre an der Spitze dieser Partei zu stehen, und der auch die Ehre hatte, sechs Jahre als Fraktionsvorsitzender in diesem Hohen Haus diese Partei zu repräsentieren, Ihnen eine Antwort zu geben auf jene Veränderungen grundsätzlicher Art in der Freien Demokratischen Partei, die zum Austritt von genau einem Fünftel der Abgeordneten der Bundestagsfraktion der FPD seit 1969 geführt haben und zu einer Halbierung der Wählerstimmen in den Landtagswahlen von 1970 bis 1972 geführt haben, desgleichen auf die Frage, warum langjährige Landesvorsitzende dieser Partei wie Heinrich Schneider an der Saar, wie Helmut Qualen in Schleswig-Holstein, wie Dietrich Bahner in Bayern diese Partei verlassen haben. Es muß doch einen tieferen Grund für jene Veränderungen einer demokratischen Partei in unserem Land geben, die zu den Erschütterungen geführt haben, unter denen auch diese Regierung zusammenbricht.
Meine Damen und Herren, der politische Liberalismus ist nach dem zweiten Weltkrieg unter der Maxime neu formiert worden, die Freiheit der Persönlichkeit gegen kollektivistische Gleichmacherei und gegen dogmatischen Zwang zu schützen und zu wahren. Im Mittelpunkt aller Überlegungen eines Liberalen sollten die Grund- und Freiheitsrechte, die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes stehen, seine eigenen Angelegenheiten frei zu regeln. Es waren doch gerade die Liberalen, die nicht nur im Saarkampf, sondern durchgehend von Pfleiderer über Thomas Dehler bis zu Erich Mende ({1})
hier in diesem Hohen Haus mehrfach darauf hinwiesen, daß auf deutschem Boden ein System nicht sei, das nicht dem frei geäußerten Willen der Bevölkerung entspreche und das die Menschenrechte verleugne.
({2})
Der Herr Bundeskanzler spricht von einer Verfälschung des Wählerwillens durch Mandatsüberträger. Der Wählerwille hat sich am 28. September 1969 eindeutig manifestiert. Die Christlich Demokratische Union/Christlich Soziale Union erhielt mit 242 Stimmen einen großen Vertrauensbeweis. Nur sieben Mandate trennten diese größte Fraktion des Hohen Hauses von der absoluten Mehrheit. Die Sozialdemokraten hatten einen Erfolg, aber sie lagen mit der CDU/CSU nicht Kopf an Kopf, sondern 18 Mandate zurück. Die Freie Demokratische Partei erlitt ihre bisher schwerste Niederlage. Die Zahl ihrer Abgeordneten wurde halbiert, und ihr Stimmenanteil lag bei 5,8 %.
Die Fernsehzuschauer werden noch in Erinnerung haben, daß in der Wahlnacht im Hauptquartier der Liberalen am Bonner Talweg zunächst tiefe Niedergeschlagenheit zu verzeichnen war. Doch dann wandelte sich das Bild, als noch in der gleichen Nacht, in der Nacht vom Sonntag zum Montag, im Handstreich eine Koalition gegen den Wählerwillen und gegen die stärkste Fraktion dieses Hauses beschlossen wurde.
({3})
Es gibt kein einziges Plakat der früheren Freien Demokratischen Partei und keine einzige Rede eines führenden Mannes dieser Partei, worin diese Koalition vor dem Wahltag in Aussicht gestellt wurde.
({4})
Es hieß vielmehr: Wir sind nach beiden Seiten hin offen.
({5})
Lediglich wenige Tage vor der Wahl hat Walter Scheel in einem Fernsehgespräch mit Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt erklärt, daß sich Kiesinger möglicherweise auf der Oppositionsbank wiederfinden werde. Das hat zu sofortigen Protesten und Telegrammen geführt. Noch in der Wahlnacht
hat Josef Ertl aus München den Rücktritt des Parteivorsitzenden Scheel öffentlich gefordert.
({6})
Noch in der Wahlnacht habe ich mich öffentlich gegen diese Handstreichkoalition verwahrt und bin mit anderen Kollegen öffentlich dieser undemokratischen Methode entgegengetreten, am Parteivorstand vorbei Vorentscheidungen zu treffen.
({7})
Noch am Montagabend fanden sich zehn Bundestagsabgeordneten der alten und neuen Fraktion in Bad Godesberg zusammen und bezeichneten es als ausgeschlossen, auf der Basis von 254 Mandaten eine Regierung gegen die stärkste Fraktion zu bilden. Ich habe damals öffentlich eine Allparteienregierung vorgeschlagen, weil bezüglich der auf uns zukommenden schwerwiegenden Entscheidungen und der notwendigen Reformen, die ja eine Zweidrittelmehrheit nötig machten, eine so schwache Mehrheit nicht ausreichen würde. Und ich habe mich, Herbert Wehner, auf Sie berufen, der Sie 1961, nach der Errichtung der Mauer, ebenfalls eine Allparteienregierung forderten.
Diese neue Regierung, Herr Bundeskanzler Brandt, hatte genau die gleiche knappe Mehrheit, derentwegen Sie 1966 nicht bereit waren, sich nach den Koalitionsverhandlungen mit der FDP dem Wagnis einer SPD/FDP-Regierung auszusetzen.
Nun, 254 Mandate gegen 242, diese Rechnung stimmte ja nicht mehr. Wir wissen, daß in den Koalitionsverhandlungen vier Kollegen entschieden vor dieser Regierung gewarnt haben. Allerdings kam eine Großzügigkeit des Koalitionspartners SPD der FDP entgegen, die in keinem Verhältnis stand zu dem erreichten Wahlerfolg der Liberalen, als nämlich drei klassische Ministerien - Innen, Außen und Landwirtschaft - angeboten wurden, fünf Staatssekretäre und ein EWG-Kommissar. Da stimmten natürlich auch manche zu, die noch in der Wahlnacht entschieden nein gesagt hatten.
({8})
Dann kamen die Landtagswahlen. Ich frage Sie: Ist es denn Zufall, daß die Ergebnisse der Landtagswahlen der Jahre 1970/72 in Nordrhein-Westfalen bei 5,4 '0/0, in Schleswig-Holstein, im Saarland und in Niedersachsen unter 5 % lagen, so daß die Freien Demokraten erstmalig seit zwanzig Jahren aus den Landtagen Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und des Saarlandes verschwanden, und daß die FDP in einigen anderen Landtagen nur noch knapp über 5 % liegt, daß sie selbst im Stammland Baden-Württemberg auf die Hälfte ihres Bestandes reduziert wurde?
Nun wird man sicherlich den Zwischenruf machen: Aber Hessen! Die Hessen-Wahl war eine atypische Entscheidung, weil sich damals Bundesgenossen fanden aus einer Richtung, die eine liberale Partei früher niemals als Bundesgenossen akzeptiert hätte.
({9})
Der Chefredakteur der Linkspostille „Konkret" schrieb es, und viele andere Publizisten von Rang wiederholten es - ich zitiere -:
Sozialdemokraten und Kommunisten, Parteilose und Gewerkschaftler müssen FDP und nichts als FDP wählen. 1 % zusätzlicher Stimmen genügen vielleicht, Jungwähler, Gewerkschaftler und Kommunisten, um die FDP über die Runden zu bringen.
Denn es galt, die Verträge zu retten. Vielleicht war das auch ein Grund, weswegen der Herr Außenminister Gromyko, von der üblichen Form abweichend, sich in Hessen mit dem Außenminister Scheel traf: um die große „Friedens- und Vertragspolitik" sichtbar für den hessischen Wähler zu dokumentieren.
({10})
Besonders schwerwiegend war die Abkehr der Freien Demokratischen Partei von der 20 Jahre lang unumstrittenen Berlin- und Deutschlandpolitik. Meine Damen und Herren, ich werde nicht frühere Reden, ich werde Programme zitieren. Das Deutschland-Programm, in Berlin 1957 einstimmig beschlossen, hat folgenden Wortlaut in bezug auf das Problem Deutschland:
Die friedliche Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland und den ostdeutschen Gebieten in einem Deutschen Reich mit freiheitlicher Ordnung ist unser oberstes Ziel. Alle innen- und außenpolitischen Anstrengungen müssen in erster Linie der Erreichung dieses Zieles dienen.
Und dann wird geradezu emphatisch das deutsche Volk aufgerufen:
Wir rufen das deutsche Volk auf, die bisher ergebnislosen Bemühungen der Großmächte um die Überwindung der Spaltung Deutschlands durch klare und unermüdliche Willensbekundungen für die uns geschuldete staatliche Einheit zu ergänzen und anzuspornen.
Die Heimkehr der Saar beweist, daß eine ausweglos erscheinende außenpolitische Lage durch eindrucksvolle Äußerungen des Volkswillens eine Wende erfahren kann. Wir widersetzen uns allen Versuchen, der Bundesrepublik den Anschein der Endgültigkeit zu geben.
Zehn Jahre später im Hannoverschen Aktionsprogramm, das eine Erweiterung dieses Berliner Programms der Freien Demokratischen Partei bedeutete, hieß es wiederum zu diesem Punkt:
Oberstes Ziel deutscher Politik war und ist die friedliche Vereinigung der Deutschen in freiheitlicher demokratischer Ordnung. Dabei sind zu berücksichtigen: die Grundsätze für nationale Selbstbestimmung, freiheitliche Menschenrechte und das Recht auf Heimat. Die verstärkt ablehnende Haltung Moskaus und Ost-Berlins gegenüber der Lösung der deutschen Frage darf uns nicht zur Aufgabe unseres Ziels, sondern nur zur Verstärkung unserer Bemühungen und zur ständigen Anpassung unseres Handelns veranlassen.
Es heißt dann weiter:
Einseitige Vorleistungen sind politisch schädlich und widersprechen den Interessen aller Deutschen.
({11})
Noch einmal ist in Hannover 1967 der von Hans-Dietrich Genscher, dem damaligen Fraktionsgeschäftsführer und heutigen Bundesinnenminister, formulierte Satz bestätigt worden:
Auf deutschem Boden ist ein System nicht an-erkennbar, das nicht dem Volkswillen entspricht und das die Menschenrechte mißachtet.
({12})
Vergleichen Sie, meine Damen und Herren, diese Grundsätze mit dem, was im Moskauer und im Warschauer Vertrag beinhaltet ist, und Sie werden ermessen, wer sich hier von liberalen Grundsätzen entfernt hat!
({13})
Der erste, der die Fraktion verließ - allerdings, um nach Brüssel zu gehen -, war jener, früher bei der Sozialdemokratischen Partei in Hamburg, nunmehr bei der FDP senkrecht startende Professor Ralf Dahrendorf. Als er sein Mandat niederlegte, was für einen Parlamentarischen Staatssekretär - zumal einen Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt - ein außergewöhnlicher Vorgang war, erklärte Professor Ralf Dahrendorf, er mißbillige diese Ostpolitik, sie sei im Ansatz falsch, der Moskauer Vertrag führe zur Anerkennung sowjetischer Hegemonieansprüche auf ganz Deutschland und Europa.
({14})
Diese Politik wolle er mit seinem Namen nicht verantworten.
Meine Damen und Herren, das und vieles andere ist die wahre Ursache für die Krise, die zunächst bei den Liberalen, dann im Kabinett und nunmehr in der ganzen Bundesregierung zu verzeichnen ist.
Schließlich möchte ich als letzten aus dem Kreis vieler Journalisten, die dieselbe Überzeugung haben, Heinz Pentzlin zitieren, der in der „Welt" schrieb:
Zwiespältig klingen die Aussagen der FDP. Auf der einen Seite erklären die Männer an der Spitze dieser Partei, daß sie der alten liberalen Tradition entsprechend für eine freie Wirtschaftsordnung eintreten und in der Koalition mit der SPD den Sozialisierungsabsichten ihres Partners entgegenwirken. Auf der anderen Seite fordern sie eine Reform des Kapitalismus und haben dafür in ihrem Programm, den Freiburger Thesen, Maßnahmen vorgesehen, die, den systemüberwindenden Zielsetzungen der Jungdemokraten entsprechend, zu eingreifenden Veränderungen unserer Wirtschaft und zum Ende der auf Privateigentum und Unternehmerinitiative beruhenden Marktwirtschaft führen müssen.
Schließlich heißt es dann:
Durch die Verbindung mit sozialistischen Parteien und die Übernahme des Gedankenguts und der Ideologien des Sozialismus sind die Liberalen auf eine Bahn geraten, die immer weiter von den Grundsätzen des Liberalismus fortgeführt und sie zu Befürwortern und Vorkämpfern ausgesprochen antiliberaler Zielsetzungen gemacht hat.
Es wird doch kaum noch als erregend empfunden, wenn Jungdemokraten und Jungdelegierte dieser neuen FDP erklären, der Marxismus-Leninismus sei die optimale Erscheinungsform eines fortschrittlichen Liberalismus, wenn Delegierte auf dem Kreisparteitag der FDP in Marburg mit der Lenin-Plakette erscheinen, wenn der Vorsitzende der Jungdemokraten in Stuttgart eine Rede hält, mit dem Zitat Rosa Luxemburgs endend „Die Reformen sind das Mittel, das Ziel ist die Revolution", und wenn ein anderer Jungdemokrat in Freiburg erklärt, ein Vietkong sei ihm tausendmal lieber als ein General der Bundeswehr.
Meine Damen und Herren, die Freie Demokratische Partei, 20 Jahre als Partei der Mitte handlungsfähig sowohl mit der CDU wie mit der SPD, hat diese Mitte preisgegeben. Sie ist zu einer neuen Linkspartei umfunktioniert worden, die sich schon jetzt auf eine Fortsetzung der Koalition festlegt und damit keine Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit mehr besitzt.
Herr Abgeordneter Mende, entschuldigen Sie, aber Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich schließe mit einem Satz, Herr Präsident. Als ich die nicht einfache Entscheidung traf - ich wußte, was auf mich wartet und wie ich einigen publizistischen Sadisten ausgeliefert sein würde wie mancher andere, der in Deutschland nicht nach links geht -, unid Dr. Reinhold Maier in Stuttgart anrief, erklärte mir Dr. Reinhold Maier am Abend des 8. Oktober 1970 und später schriftlich:
Ich bedaure Ihren Schritt, aber ich habe volles Verständnis für Ihren Entschluß. Diese FDP ist nicht mehr unsere Partei. Was haben die anderen daraus gemacht? Wäre ich so alt wie Sie, Herr Mende, ich würde genauso handeln wie Sie. Aber ich bin über 80 Jahre alt. Da ist es zu spät, um noch zu kämpfen. Wir bleiben wie bisher gute liberale Freunde.
Das ist die Einschätzung der heutigen Freien Demokratischen Partei und auch die Einschätzung meines damaligen Schrittes.
({0})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesminister Ertl.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich höre zu jenen, die wegen Erich Mende einmal zu den Freien Demokraten gegangen sind, und muß bitter zur Kenntnis nehmen, daß er mit unwahren Angaben in dieser Stunde erneut beweist, wie sehr ich mich bei ihm getäuscht habe. Ich stelle hier fest: Herr Mende hat wahrheitswidrig behauptet, es habe ein Telegramm von mir gegeben. Richtig ist: Es kam ein Telegramm von Herrn Werner, möglicherweise auf Absprache und Vorrede, und es gab kein Telegramm von Ertl. Daß Herr Werner später - wie Herr Mende - zur CSU gegangen ist, sollte die Logik deutlich machen. Richtig ist weiter, daß Herr Mende mich veranlassen wollte und veranlaßt hat, mein Wort zu geben, nicht eine Koalition mit den Sozialdemokraten im Jahre 1966 einzugehen, und er selber dann hinter meinem Rücken um das Amt des Außenministers verhandelt hat. Es tut mir furchtbar leid, ich hätte Herrn Erich Mende diese Blamage erspart. Aber es trifft mich, daß ein Mann wie Erich Mende in diesem Hause zu Unwahrheiten greift.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Starke zu einer Bemerkung dazu.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe nur ganz wenige Sätze zu sagen. Ich hatte nicht die Absicht, heute zu sprechen.
Herr Abgeordneter Starke, mir ist gesagt worden, Sie wollten nur zur Bemerkung von Herrn Ertl Stellung nehmen.
Ich will nur Herrn Ertl sagen, daß ich neben ihm gestanden habe, als er dieses Telegramm guthieß, das Herr Mende hier zitiert hat.
({0})
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Bundesminister Ertl.
({0})
- Herr Abgeordneter Rösing, der Herr Minister hat interveniert, und ich habe dem Kollegen Dr. Starke die Möglichkeit gegeben, darauf zu antworten. Ich finde es nicht fair, wenn Sie den Herrn Bundesminister hier nicht mit Respekt anhören.
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Wenn dem so wäre, wie Herr Starke und Herr Mende falscherweise behaupten - sie müssen offensichtlich ihr Soll erfüllen -, dann müßte Herr Scheel ja ein Telegramm bekommen haben.
({0})
Nachdem Herr Scheel aber in der Nacht - das ist auch festgehalten - niemals von mir ein Telegramm bekommen hat, sondern von Herrn Werner, kann ich nur nochmals sagen: beide behaupten die Unwahrheit.
Übrigens: Ich könnte noch einiges dazu ergänzend sagen. Vielleicht kann ich das noch im Wahlkampf tun. Das läßt sich gern tun.
({1})
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Kleinert.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben es hier mit der peinlichsten Wahlkampferöffnung zu tun, die dieses Land je gesehen hat.
({0})
Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie, im Besitze einer ganzen Reihe vernünftiger politischer, sachlicher Vorstellungen - wie wir überhaupt nicht bestreiten -, darauf verzichten, heute diese Vorstellungen dem Volke in dieser Republik vorzutragen, sondern daß Sie es statt dessen für richtig halten, hier ein Konglomerat von Männern auftreten zu lassen, die aus den unterschiedlichsten, zum Teil auch aus respektablen Gründen einen Schritt getan haben, der immerhin und Gott sei Dank im ganzen Lande, gelinde gesagt, mit sehr viel Bedenken gesehen wird, mit sehr viel Bedenken,
({1})
wie in früheren Zeiten insbesondere Herr Dr. Mende nicht müde geworden ist, dasselbe zu betonen. Die Worte, mit denen Herr Dr. Mende seinerzeit den Schritt von Herrn Stammberger, als er die FDP verlassen hat, gegeißelt hat, die möge er sich doch liebenswürdigerweise noch einmal nachlesen.
Nun einiges mehr Grundsätzliches. Ich bin aus Gründen des Lebensalters kein Gründungsmitglied der FDP. Ich bin aber seit 1953 Mitglied des Liberalen Studentenbundes gewesen und seit 1957 immerhin auch Mitglied dieser Partei. Denn wir, unsere Generation, waren der Meinung, daß es sehr wohl zwischen konservativen und sozialen bzw. sozialistischen Kräften hier eine liberale Gruppierung braucht, die sich auch politisch, nämlich durch eine Partei, artikuliert. In dieser Situation haben wir uns der FDP angeschlossen mit sehr klaren, sehr sachlichen Vorstellungen. Wir waren nur gelegentlich etwas deprimiert darüber, daß einige der Älteren im Gegensatz zu unserer Auffassung reichlich viel Emotionales in das parteipolitische Geschäft hineingebracht haben, insbesondere aus der Richtung eines nun einmal nicht mehr zeitgemäßen nationalen Engagements,
({2})
das in dieser Form unsere vernünftigen Bemühungen gerade für unser Volk nur zu belasten in der Lage war.
Nun eine Erinnerung, die bei uns allen Narben hinterlassen hat, dicke Narben, die heute noch oft schmerzen, weil nämlich in diesem Lande viele nicht müde werden, daran zu rühren. Wir haben 1961 dann einen Wahlkampf geführt mit höchstem Einsatz, mit viel Begeisterung. Wir haben die Stunden nicht gezählt, und wir haben keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gemacht, um damals
- 1961 - der FDP zu einem Wahlsieg zu verhelfen, zu einem Wahlerfolg gegen eine im ganzen Volk als verderblich angesehene Politik der CDU/ CSU unter Konrad Adenauer.
({3})
- Herr van Delden, wir haben damals das beste Wahlergebnis erzielt, das diese Partei je hatte. Wir waren bei 13 %. Dann ist Herr Dr. Erich Mende hergegangen und hat das getan, was er heute anderen völlig zu Unrecht vorwerfen will, und hat diesen Erfolg aus Mangel an Führungsqualität verspielt und hat die Partei in der Stunde, in der sie sich wirklich zu einer breit tragfähigen dritten Kraft hätte entwickeln können, mit dem Odium des Umfalls belastet, das ihr bis heute anhaftet. Das war kein liberaler Umfall, sondern das war präzise ein Mende-Umfall.
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Ich habe hierüber in den letzten Tagen interessanterweise die intimsten Äußerungen und die Äußerungen mit der größten Sachnähe von Herrn von Kühlmann-Stumm gehört. Herr von Kühlmann-Stumm hat nämlich nicht einmal, sondern zu verschiedenen Malen geschildert, wie erbittert er mit Ihnen, Herr Dr. Mende, seinerzeit gerungen hat, um zu erreichen, daß die FDP den seinerzeitigen Erfolg nicht verspielt.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mende?
Auch das.
Herr Kollege Kleinert, würden Sie zugeben können - spätestens auf Grund der Archive des Bonner Talwegs -, daß nach einer zwölfstündigen Debatte der Hauptausschuß -, das zweitstärkste und zweithöchste Gremium der Freien Demokratischen Partei, die damalige Koalitionsvereinbarung mit der CDU/CSU mit Zweidrittelmehrheit gebilligt und die Kompromißlösung mit Bundeskanzler Adenauer bestätigt hat, nämlich die Entscheidung, die Sie jetzt einen persönlichen Umfall meinerseits nennen?
Sie haben immer sehr viel von Offiziersehre gehalten, Sie haben sehr viel von Führungsqualitäten gehalten.
({0}) Sie haben viel darüber gesprochen. Es ist in dem Zusammenhang, über den wir uns gerade unterhalten, nicht gut, daß Sie so tun, als wären Sie nicht Vorsitzender gewesen und als hätte ein Vorsitzender einer Partei nicht eine Verantwortung für das, was ein solches Gremium am Ende beschließt. Das hat doch gar nichts miteinander zu tun.
({1})
Wir wissen doch, wie politische Willensbildung zustande kommt.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard ({0})?
Herr Kollege Kleinert, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der von Ihnen eben zitierte frühere Abgeordnete und frühere Fraktionsvorsitzende der FDP, Herr Kühlmann-Stumm, inzwischen Mitglied der CDU geworden ist.
Er ist, Herr Erhard, Mitglied im Landesverband Hessen geworden, wo sich inzwischen ohne Rücksicht auf seinen Wohnort auch Herr Mende angesiedelt hat. Das möchte ich ausdrücklich als eine besondere Ironie des Schicksals hervorheben; ich hätte es wahrscheinlich auch ohne Ihre Frage noch getan.
({0})
Im Jahre 1966 waren Sie, Herr Dr. Mende - Sie haben es vorhin selbst durchblicken lassen -, bereit, mit der Sozialdemokratie zu koalieren. Heute ziehen Sie aus dem gleichen Vorgang einen anderen Schluß. Das finde ich von der Argumentation her einfach unredlich.
Nun muß hier leider auch noch das ganz Entscheidende gesagt werden. Es ist wohl im Jahre 1969 gewesen, als ich während meines Urlaubs auf Sylt in der Tenne zu Kampen hörte, wie Sie in der Art eines Conférenciers versucht haben, der dort versammelten Gesellschaft IOS-Papiere zu verkaufen.
({1})
Ich hätte mich - nach meinem hoffentlich möglichst späten Tod - im Grab umgedreht, und ich hätte es einfach nicht ausgehalten, wenn ich gewußt hätte: Der Mann, der da während der Urlaubszeit der Schickeria mit losen Sprüchen Papiere zu verkaufen sucht, von denen andere schon vorher wußten, daß sie nichts taugen, ist Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei.
({2})
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ott?
Herr Kollege Kleinert, sind Sie mit mir der Meinung, daß die Beraterverträge, die
sogar Staatssekretäre dieser Bundesregierung abgeschlossen haben, etwas viel Miserableres sind, als wenn jemand draußen im Wirtschaftsleben sein Geschäft betreibt?
Herr Ott, über diese Frage müßten Sie sich einmal mit 400 000 Menschen unterhalten, darunter Kleinrentner und viele Angehörige des Mittelstands, die ihre Altersversorgung sichern wollten, die Opfer dieser, gelinde gesagt, grobfahrlässigen Politik gewesen sind, dieses Einsatzes eines Namens, der unter anderen Umständen erworben worden ist, für eine Sache, von der kluge Leute vorher gewußt haben, daß sie schlecht war, von der Herr Mende vielleicht nicht gewußt hat, daß sie schlecht war, die sich aber jedenfalls zum Schluß ganz eindeutig und unbestreitbar als schlecht erwiesen hat. Das war der einzige Grund, der dazu geführt hat, Herr Dr. Mende, daß Ihnen in den Führungsgremien unserer Partei erklärt worden ist, diese beiden Tätigkeiten ließen sich nicht vereinbaren. Damit und mit sonst gar nichts begann ein Wandel in der Meinung, den Sie heute mit vielen schönen Worten und sehr wenig sachlich-konkretem Gehalt in einer ganz anderen Weise darzustellen versuchen. Wenn Sie geschwiegen hätten, hätten auch wir ganz bestimmt geschwiegen. Es ist uns höchst peinlich, daß Sie so viele Jahre unser Vorsitzender waren. Aber es wird doch noch erlaubt sein, die wahren Gründe hier einmal ganz klar und trocken auf den Tisch zu legen. Das habe ich hiermit getan.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Dr. Schröder hat seine Diskussionsrede mit der Erklärung abgeschlossen, Deutschland brauche eine besere Regierung. Was inzwischen vorgestellt worden ist,
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ist eine CDU und eine Opposition, von der ich, weil ich andere Auffassungen über solche Art von Wünschen habe, sagen könnte: wir brauchten eigentlich insgesamt eine bessere CDU. Aber das ist Ihre Sache.
({1})
Ich wollte mich hier bei Herrn Walter Scheel ausdrücklich bedanken für das, was er hier zur Politik, zur politischen Entwicklung und auch zu gewissen kritischen Seiten gesagt hat.
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Ich schließe mich voll seinen Bemerkungen z. B
darüber an - wenn ich auch die Meinung habe, sie wären, an die Opposition gerichtet, vergeblich -, daß man Krisen nicht herbeireden dürfe. Das war politisch und staatsmännisch richtig.
Heute morgen ist hier von einem der Sprecher das Wort „Trumpfkarte" gesagt worden in bezug auf solche Mitglieder des Deutschen Bundestages, die mit ihrem Mandat zur Gegenseite, in diesem Fall zur CDU/CSU, gegangen sind. Ich habe das Gefühl - entschuldigen Sie -, daß Sie, die Sie sich hier sozusagen vorgestellt haben, weder eine Trumpfkarte der Union noch eine Trumpfkarte der Koalition sein werden.
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Im übrigen werden sich die Wählerinnen und Wähler ihr Urteil bilden. Mich hat jemand darauf aufmerksam gemacht, wie es dem früheren, inzwischen verstorbenen Kollegen Herrn Rehs gegangen ist, als er einen bombensicheren Wahlkreis bekam und die Wähler zu entscheiden hatten. Ich rede nicht gern über Verstorbene, auch wenn sie zu denen gehören, die politisch enttäuscht haben. Andere wiederum haben sie natürlich erfreut. Nur „Trumpfkarten" sind alle diese nicht, so ehrenwert ihre Motive in ihren eigenen Augen und Urteilen sein mögen; das will ich gar nicht abstreiten.
({4})
Das sind - das muß man freimütig sagen - Begleiterscheinungen einer schwierigen Legislaturperiode, dieser 6. Legislaturperiode, die vorzeitig, nach noch nicht vollen vier Jahren, abgeschlossen werden muß, einer Legislaturperiode, in der erstmals ein sozialdemokratischer Bundeskanzler und eine Koalition der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten gearbeitet haben. Sicher, das stimmt nachdenklich, mich auch, verehrte Herren. Es hat früher oft von draußen und auch in eigenen Diskussionen Fragen gegeben, ob denn dieses unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, schon die eigentliche Prüfung in bezug auf Demokratie bestanden habe. Man sah diese im Wechsel, in einem wirklichen Wechsel. Wir haben in dieser Periode erlebt, wie furchtbar schwer für alle Beteiligten ein wirklicher Wechsel ist, Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU aus Ihren Gründen und wir auch. Da muß man wohl noch eine ganze Menge dazulernen. Hoffentlich gibt Ihnen und uns die 7. Legislaturperiode dazu konkrete Gelegenheit.
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Diese von Bundeskanzler Willy Brandt geführte Regierung und die sie tragende Koalition der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten standen der Aufgabe gegenüber, nach 20 Jahren CDU-Regierungsführung die Bundesrepublik im Innern und nach außen zu befähigen, den Notwendigkeiten und den Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit gerecht zu werden, dabei die Kontinuität unserer Staatlichkeit als Bundesrepublik Deutschland, ihrer Verflechtung in den Europäischen Gemeinschaften des Westens und ihrer westlichen Bündnispartner zu wahren. Dies alles zusammen war nach so viel Gewöhnung - dies gilt auch für den Staatsapparat, wenn ich das sehr zurückhaltend sagen darf; die Gewöhnung an diesen Apparat ist nun einmal ganz natürlich - an 20 Jahre CDU-Regierungsführung an und für sich schon eine Aufgabe. Darüber hinaus mußte vieles aufgeholt werden, was in 20 Jahre CDU-Regierungsführung nicht oder noch nicht angefaßt worden war - das ist zunächst gar kein Werturteil -,
darunter auch vieles, das nach unserem Urteil vernachlässigt oder in Richtungen entwickelt worden war, die nach unserer Meinung nicht mehr stimmen oder mit denen wir uns nicht abfinden konnten und abfinden werden, weil wir in wesentlichen Fragen eine andere politische Auffassung haben, was ja wohl legitim ist, genauso wie es legitim ist, daß Sie eine andere haben.
Die Debatte, die in den vergangenen 48 Stunden z. B. über die Rentenreform geführt worden ist - haben Sie keine Angst, ich will sie nicht wiederbeleben -, gab mir
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- Sie sind so finster, Herr Windelen; es wird sich alles noch aufheitern, nehme ich an ({7})
manche Gelegenheit zur Nachdenklichkeit. Herr Geisenhofer z. B. sagte am Mittwoch bei dem an und für sich lobenswerten Versuch, zu begründen, weshalb bei der Rentenreform etwas für die Frauen mit kleinen Renten getan werden müsse: Der große Anteil der Frauen, die begünstigt werden, erklärt sich daraus, daß die Lohndiskriminierung der Frauen früher ganz besonders groß war; das soll nun bereinigt werden. Ich habe einmal im Protokoll nachgesehen und habe dort einen meiner, wie Sie in diesem Fall bemerkt haben werden, wenigen Zwischenrufe gefunden. Ich habe, als er diesen wichtigen Satz sagte, nämlich daß die Lohndiskriminierung der Frauen früher ganz besonders groß gewesen sei und das nun bereinigt werden solle, sozusagen fragend eingeschoben: „Das haben auch die Sozialdemokraten zu verantworten, nicht wahr?" So ist Ihre Art, alles, was geschieht, zu kommentieren und zu analysieren. Das macht es natürlich schwierig. Ich kann mir vorstellen, daß es schwer ist, von dem Roß herunterzukommen, auf dem Sie sitzen; das ist sicherlich schwierig.
Oder nehmen wir eine andere Sache dieser Periode, das neue Betriebsverfassungsgesetz, das ein zwanzig Jahre in Geltung gewesenes Gesetz abzulösen hatte. Auch einer aus Ihren Reihen - wenn auch jetzt noch nicht Mitglied dieses Hauses -, Herr Dr. Blüm von den Sozialausschüssen, hat ja damals gemeint, nach zwanzig Jahren müsse tatsächlich ein neues Betriebsverfassungsgesetz in Kraft treten, und dieses, das wir zustande gebracht haben, sei unbestreitbar besser.
Nun, sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn man sich im politischen Streit so ineinander verbeißt, wie wir es hier erlebt haben - ich denke da an die Debatten der letzten Tage, aber nicht nur an sie -, dann wird leicht Ursache mit Wirkung verwechselt. Das ist menschlich. Mein Freund Schellenberg hat in der Debatte, auf die ich noch einmal zurückblende, z. B. versucht, Ihnen die sozialen Wirkungen dessen, was man mit einem Fachbegriff den „Grundbetrag" nennt, darzustellen, die sozialen Wirkungen eines Versuches, den die Koalitionsfraktionen in ihre Vorlage für die Rentengesetze eingearbeitet hatten. Wir brauchen uns jetzt darüber nicht mehr zu ereifern, denn die Sache ist bei den Akten, weil im Ringen darum, überhaupt ein Rentenreformgesetz zustande zu bringen, dieser Grundbetrag eben von den Koalitionsfraktionen zurückgezogen worden ist. Aber es muß doch wohl erlaubt sein, und es ist vielleicht sogar sinnvoll, die Motive zu würdigen. Und das tat z. B. Herr Schellenberg. Nur, wir hören nicht mehr aufeinander. Ich bringe das nur in eine Beziehung zu dem, was der von mir zitierte Herr aus Ihren Reihen gesagt hat. Schellenberg sagte:
Im Jahreszeitraum vom 1. Juli 1972 bis zum 30. Juni 1973 wäre dieser laufende Grundbetrag für alle Rentner und Witwen mit einer Rente von bis zu 421 DM vorteilhafter gewesen. Das wäre für 6,7 Millionen der insgesamt 10 Millionen Rentner, darunter 90 % der berufs- und erwerbsunfähigen Frauen und 77 % aller Witwen, günstiger gewesen, als die vorgezogene Anpassung.
Sie teilen diese Meinung nicht. Es gibt überhaupt unterschiedliche Meinungen darüber.
({8})
- Nur die Motive, Herr Katzer, sind ja wohl nicht einfach zu mißachten. Sie haben das nicht gewollt. Und als man uns dann hier fragte - das geschah in der Debatte durch den Herrn Kollegen Ruf -, warum wir denn, wenn das so wichtig und auch so gut wirksam gewesen wäre, diesen Grundbetrag aufgegeben hätten, habe ich gesagt: unter dem Druck einer Erpressung. Herr Schellenberg hat es sachlich gesagt, daß nämlich Sie nicht nur als Fraktion diesen Plan abgelehnt hatten, sondern daß auch schon von vornherein im Bundesrat die 21 : 20-Mehrheit der CDU/CSU-geführten Länder das zunichte machen würde. Das ist so; mit solchen Realitäten müssen wir rechnen und haben wir rechnen müssen. An der Situation dort im Bundesrat ist ja auch so bald nichts zu ändern.
Ich sage noch einmal - werden Sie bitte nicht ungeduldig; ich will die Debatte nicht wiederholen -, worauf es mir ankommt, ist, einiges aus diesen jungen Erörterungen in eine Beziehung zu nicht unwesentlichen Erfahrungen in dieser Periode des Bundestages zu bringen. Da ist einmal die Erfahrung mit unserem Versuch, denjenigen, die sich unten am Fuße unserer sozialen Pyramide befinden, etwas mehr zukommen zu lassen, als ihnen zukäme, wenn lediglich lineare Erhöhungen oder Zuschläge gegeben würden.
({9})
Man mag darüber streiten, ob das richtig ist, ob das sinnvoll ist, ob das, wie manche sagen, systemgerecht ist. Nur, Sie sollen unsere Absicht kennen! Sie teilen sie nicht; wir werden sie auf andere Weise immer wieder an- und durchzubringen versuchen, weil wir sie für eine Absicht halten, die legitim ist und die unserer Auffassung entspricht.
Das haben wir z. B. mit dem ersten Gesetz, das diese Regierung nach 1969 vorgelegt hat, dem Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer und Hinterbliebenen, bezüglich der Witwen gemacht. Es
geschah genau mit dem Blick darauf, den Abstand derer, die am Fuß der Pyramide sind, zu denen, die weiter oben sind, verringern zu wollen. Das heißt, wir gehen auf Veränderungen in der Struktur zugunsten der am meisten Benachteiligten.
({10})
Das leugnen wir nicht, und das steht für uns im Einklang mit dem, was sich aus Rentenversicherung und Leistungsprinzip ergibt. Dieser Absicht, meine Damen und Herren, sind wir auch bei dem Versuch treu geblieben, der nun „Grundbetrag" genannt wurde. Nichts Nachträgliches dazu. Wir sind in diesem Falle unterlegen, Sie haben mit Ihrem Vorschlag obsiegt. Ich wollte nur noch einmal sagen, welche Gründe unsere Vorschläge und unsere Vorstöße in dieser Hinsicht, die sich immer wiederholen werden, haben.
Zum anderen ist da die Tatsache, daß die CDU/ CSU-Länderregierungen im Bundesrat gerade dieses Gesetz, von dem ich eben als dem ersten Gesetz sprach, das wir hier eingebracht und entschieden haben, in den Vermittlungsausschuß verbannten. Sie von der CDU/CSU hatten in nicht wenigen Fällen die Unterstützung der 21 zu 20 Stimmen im Bundesrat, wo man ja die vier Stimmen des Senats von Berlin auch nicht rechnet. Ich werfe Ihnen nicht vor, daß die CDU/CSU-Länderregierungen von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen, Gesetze, die von einer Mehrheit des Deutschen Bundestages beschlossen worden sind, vom Bundesrat aus aufzuhalten, auch dann, wenn Länderinteressen - man kann sie mit der Lupe suchen - nicht berührt waren. Es geschah eben aus Gründen der Unionsräson. So ist es geschehen mit dem erwähnten Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer und Hinterbliebenen; so ist es zum Beispiel mit einem Gesetz ganz anderer Art geschehen, nämlich dem zum Ausgleich der Einbußen der Landwirte aus der Kursdifferenz zwischen D-Mark und Grünem Dollar in der EWG; so ist es mit dem Betriebsverfassungsgesetz geschehen. Da wollte man es sogar zweimal machen, wie Sie es mit anderen Gesetzen auch gemacht haben. Das ist geschehen mit den Gesetzen zum Mieterschutz und für eine bessere Regelung des Verhältnisses zwischen Mietern und Vermietern. So ist es auch mit dem Städtebauförderungsgesetz und mit vielen anderen Gesetzen geschehen.
Sicher, Sie freuen sich über diese unsere schwache Stelle der sozialdemokratisch-freidemokratischen Gesetzgebungsarbeit, die wir nicht leugnen. Das war von Anfang an ein Handikap. Aber erinnern Sie sich nicht - einige vielleicht, ich will aber nicht Bekenntnisse herausfordern - Ihrer Versuche und unserer Versuche, der gemeinsamen Versuche in der vorhergegangenen Legislaturperiode von 1966 bis 1969, mit den Bundesländern einen der Sache nach notwendigen Katalog von, wie man es damals nannte, Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern zustande zu bringen und nicht auf den leider lediglich zwei Gemeinschaftsaufgaben sitzenzubleiben, die die Länder damals zuzugestehen bereit waren? Wenn Sie höhnen und spotten, etwa über nicht erreichte Ziele der Regierung Brandt/Scheel,
wie man es in Ihren Publikationen, Reden und Verlautbarungen in bezug auf Hochschulreform und Bildungsplan lesen kann, machen Sie es sich zu leicht. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie meinen, Langsamkeiten und auch stockende Schritte bei uns könnten Sie allein dieser Bundesregierung anlasten. Sie wissen selbst ganz genau, daß liegt auch in dem schwierigen Bund-Länder- und Länder-BundVerhältnis, mit dem alle zu tun haben werden.
({11})
- Sicher, Herr Sprecher für Verteidigungsfragen, da ist es ja einfacher. Aber in den anderen Fragen, von denen ich jetzt gerade spreche, ist es so, und das wird jeder merken.
Ich will Ihnen gar nicht vorwerfen, Sie seien extra allesamt gegen sozialstrukturelle Veränderungen zum Wohle der sozial Benachteiligten. Aber ich kann nicht umhin, Ihnen aus den Erfahrungen dieser Periode des Ringens vorzuwerfen oder - weniger pathetisch gesagt - zu attestieren, daß Ihre Feindschaft gegen die Sozialdemokratie so weit geht, selbst augenfällige Versuche, zu sozialstrukturellen Verbesserungen zu kommen, zunichte machen zu wollen, wenn sie etwa von Sozialdemokraten unternommen werden; das ist die Situation, in der wir noch miteinander ringen.
({12})
Das haben wir am Monster-Beispiel Rentenreform gesehen. Dabei ist mir übrigens eingefallen, was Fürst Bismarck, der Kanzler, seinerzeit gesagt hat:
Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe, und wenn nicht eine Menge Leute sich vor der Sozialdemokratie fürchteten, dann würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren.
({13})
Dies aus unserer geschichtlichen Wirklichkeit und Entwicklung. Sie werden das nie, nie brauchen, und ich möchte auch Sie in diesem Zusammenhang außer acht lassen.
({14})
Ich glaube, daß wir verschiedene Vorstellungen von der Arbeiterbewegung haben und wir uns nur in manchen Worten einander angleichen. An der Tatsache, daß wir miteinander im politischen Wettbewerb stehen, kommen Sie, meine Damen und Herren von der CDU, ebensowenig vorbei wie wir. Worauf es ankommt, das ist die Erkenntnis, daß Sie und wir in unserem Gegeneinander dennoch miteinander leben müssen, d. h. wir sind - damit meine ich beide Seiten - genötigt, die Formeln zu finden, die es uns erlauben, miteinander in unseren Gegensätzen auszukommen. Sie haben es nicht verwunden, in die parlamentarische Opposition gedrängt worden zu sein. Sie fühlen sich nun in Ihrer Führungsrolle durch solche Zeugen, die Sie heute hier aufmarschieren lassen, bestätigt.
({15})
11760 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 19Z
Einer Ihrer Wortführer hat damals den Regierungswechsel von 1969 so charakterisiert, daß er schrieb und dabei blieb: das sei gar kein normaler demokratischer Wechsel gewesen, sondern der Beginn des Umsturzes unserer Gesellschaft. Er ging sogar so weit - ich habe ihm von diesem Platze aus dazu direkt geantwortet; er hat sich dazu nicht geäußert, was auch sein Recht ist; das wirkt so auch viel besser weiter - und sagte: die Ratifikation des Moskauer Vertrages sei der Versuch eines kalten Staatsstreichs der Bundesregierung Brandt. Das sind sicher nicht nur Worte, entstanden aus der Freude am Deftigen. Nein, mit solchen Behauptungen und Beschuldigungen wollen diejenigen, die sie ausstreuen, sich selbst ein Alibi für alles verschaffen, was sie selbt unternehmen, um die von ihnen so denunzierte Bundesregierung - koste es, was es wolle - zu Fall zu bringen. Mit dieser Ihrer Grundhaltung hatten wir es während dieser Zeit zu tun.
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Darüber ist nicht zu jammern. Nur, wir brauchen wahrscheinlich Zeit, bis wir uns aufeinander einstellen: Sie sich auf uns, wir uns auf Sie! Von der Abwerbung ist es bei Ihnen über das Operieren mit gewissen zusammengestellten Materialien bis zu Schlimmerem gegangen. Ich halte das für Propaganda mit der Angst, die Sie treiben. Es ist dabei nur ein relativer Trost, daß der Versuch, mit der Angst zu wirken - diese „Roten" und die so mit ihnen laufen, die Freien Demokraten, die schon längst den Umsturz begonnen haben, müsse man wegkriegen -, ist aus eigener Angst bei Ihnen geboren, nun - abseits der Schalthebel der Regierung - längere Zeit die Rolle der parlamentarischen Opposition ausüben zu müssen. Das ist für Sie natürlich schwierig.
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Das ist ja wohl auch - nehme ich an - die Wurzel jener hanebüchenden Behauptung, daß die kommende Bundestagswahl die letzte freie Wahl in der Bundesrepublik gewesen sein würde, wenn SPD und FDP diese Wahl gewinnen. Das ist Propaganda mit der Angst, wenn auch aus eigener Angst vor sachlicher Wählerentscheidung.
({18})
Auf dem Felde der auswärtigen Politik und der internationalen Politik geschieht das und geht das bis zum Versuch, die Regierung des eigenen Landes unglaubwürdig zu machen. Ich habe dazu nicht mehr als das zu sagen und mir zu eigen zu machen, was heute hier der Herr Kollege und Bundesminister Scheel zu den sogenannten Neußer Äußerungen des Herrn Oppositionsführers Barzel gesagt oder vielleicht auch gefragt hat. Ich habe gestern abend in Rundfunkmeldungen wiederholt vernommen, daß das ähnlich wohl gestern wieder im französischen Fernsehen von ihm gesagt worden sein muß. Das ist seine Sache. Nur, da haben wir unterschiedliche, gegensätzliche Stilauffassungen.
({19})
Sie gehen und sind gegangen bis zu wiederholten Versuchen der Störung so schwieriger und so delikater Bemühungen der Regierung des eigenen Landes, europäische und international wirksame Schritte und Maßnahmen zur Eindämmung der Preissteigerungen, der inflatorischen Aufblähungen und zur Überwindung der Krise des Weltwährungssystems in Gang zu bringen und damit Stabilität in übereinstimmenden Schritten und Maßnahmen von Partnern in der industriellen Welt zustande zu bringen. Sie haben selbst diese auf Ihre Weise wiederholt zu stören versucht.
Und dennoch ist diese Koalition der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten nicht gescheitert oder zerbrochen. Aber seit dem Scheitern des Versuchs am 27. April 1972, Herrn Dr. Barzel an Stelle von Bundeskanzler Willy Brandt zum Bundeskanzler zu wählen, ist dieser Bundestag nicht mehr zu einer kontinuierlichen, sachlichen, normalen Gesetzgebungsarbeit gekommen.
({20})
Einige - sicher, sicher - aus unseren Reihen, denen die ganze Richtung nicht paßt oder gepaßt hat, haben Sie als Zugänge erworben. Das ist Ihre Sache, das ist die innere Zahlenverschiebung im Bundestag. Diesen Knoten können nur die Wählerinnen und Wähler lösen. Sie sagen ja selbst, daß Sie dieser Meinung auch seien, wenngleich Sie aus einer anderen Ecke zu dieser Meinung kommen.
Wir haben es hier viele Wochen lang mit Ihren Versuchen zutun gehabt, das, was die Ostverträge genannt wurde, und damit das Berlin-Abkommen zu Fall zu bringen. Viele Wochen! Sie möchten gerne, daß das nicht so besonders frisch in Erinnerung bleibt. Aber wenn man sich fragt: wie kommen Sie eigentlich dazu, daß damals so gemacht zu haben - ein prominenter Politiker aus Ihren Reihen hat in einer CDU-Wahlversammlung in Norddeutschland zu den Ostverträgen betont, die CDU! CSU habe diese nur mit ihrer Stimmenthaltung durchgehen lassen, weil während der Abstimmung rings um das Bundeshaus in Bonn bereits bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht hätten;
({21})
die CDU/CSU habe diese nicht noch verschärfen und womöglich eine Neuwahl bei einem Bürgerkrieg riskieren wollen.
({22})
Sie erinnern sich mit Recht, Herr von Hassel. Das haben Sie ja dort gesagt.
({23})
So unterschiedlich sind unsere Brillengläser und Antennen.
Wochenlang erging man sich hier in Beschuldigungen wegen angeblicher Versäumnisse, angeblichen Versagens der Bundesregierung in der Bekämpfung von Gewaltakten. Ich muß Ihnen sagen angesichts der Operationen terroristischer Gruppen, mit denen wir es zu tun haben, hatten und wieder
haben, darf man doch nicht auch noch den eigenen Staat zerklüften.
({24})
Meine Damen und Herren, in welche schreckliche Zwangslage sowohl Sie als auch wir kommen können, haben, denke ich, die grauenhaften Ereignisse vom 5. und 6. September in München und Fürstenfeldbruck gezeigt. Sie von der CDU/CSU und wir von der SPD sind gewiß politische Gegner und werden es bleiben. Aber Sie als Opposition und wir, die Sozialdemokraten in Koalition mit den Freien Demokraten, haben unsere politischen Gegensätze so auszutragen, daß dabei unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, nicht handlungsunfähig wird. Leider nehmen Sie darauf keine Rücksicht.
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Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, denken Sie gelegentlich bitte auch daran - ich sage das zur Erklärung; manchmal vergißt man das, und zwar sowohl bei Ihnen als auch bei uns; ich werfe Ihnen das ja gar nicht vor -, welches die Wurzel dieser Koalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten ist. Meine Damen und Herren, das war die Entscheidung vom 5. März 1969, durch die es verhindert und uns allen erspart worden ist, daß mit den Stimmen der NPD ein Bundespräsident gewählt worden wäre, der heute noch im Amt wäre, auch bei den Olympischen Spielen.
({26})
Herr Mende, da war gar kein Kunststück in der Wahlnacht notwendig. Gestern schrieb ein Publizist, dessen Ausführungen ich sonst mit einigem Interesse verfolge, ich hätte liebend gern eine Fortsetzung der Großen Koalition gehabt. Die war das wissen Ihre Herren doch ganz genau - nach Ihrer Entscheidung in dieser Frage überhaupt nicht mehr diskutabel. Wir hatten mit Anstand auseinanderzugehen. So war das! Auch unter Ihnen gibt es doch manchen, der sich durch diese Entscheidung vom 5. März 1969, daß es uns allen erspart geblieben ist, einen mit den Stimmen der NPD gewählten Bundespräsidenten zu haben, erleichtert fühlte.
({27})
Ich will das ja gar nicht groß plakatiert bekommen. Wir wollen gar keine Wählerinitiative aus Ihren Kreisen zu unseren Gunsten.
Diese Koalition von SPD und FDP hat sich der unvermeidlich gewordenen Notwendigkeit gestellt, das Verhältnis der beiden so unterschiedlich und gegensätzlich verfaßten Teile des getrennten deutschen Vaterlandes zueinander zu einem schließlich erträglich werdenden Nebeneinander zu gestalten. Sie hat die Voraussetzung dafür durch die Ostverträge geschaffen. Ich halte es erstens für ein historisches Verdienst der Bundesregierung Brandt/ Scheel, das nicht verschenkt, nicht verschleudert und nicht zerredet werden sollte, daß im Zusammenhang mit den Ostverträgen die Bundesrepublik im westlichen Bündnis eine neue Stellung erhielt und im Zusammenhang damit durch die Vier Mächte erstmalig auch die Unantastbarkeit und Entwicklungsfähigkeit Berlins garantiert wurde. Das halte ich für ein historisches Verdienst.
({28})
Daß Sie anderer Meinung waren, ist Ihre Sache. Meine Damen und Herren, ich habe gewisse Entscheidungen unter Ihrem Bundeskanzler Konrad Adenauer auch für historische Verdienste gehalten, selbst wenn ich aus Gründen, die wir dargelegt haben, aus Gründen des Zeitpunktes und des Ausmaßes, gegen solche Entscheidungen zu gewissen Zeiten opponiert habe. Das war aber, so sage ich heute, eine beiderseitig redliche Auseinandersetzung.
({29})
Sie führen eine solche mit uns und unserer Regierung leider nicht.
Ein Zweites. Die Ostverträge sind ein reales Unterpfand für normale Beziehungen mit der Sowjetunion. Siebzehn Jahre hat es doch gedauert, meine verehrten Herren, ehe man aus Konrad Adenauers Entschluß, der dann hier in diesem Hause gebilligt worden ist, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen - im Jahre 1955 -, und aus den aufgenommenen Beziehungen übergehen konnte und übergegangen ist zu dem, was man mit einem etwas technisch klingenden Wort „Normalisierung" nennt, und dabei auf das, was im Zusammenhang mit diesem Vertragswerk Polen und normale Beziehungen zum übrigen Osteuropa betrifft.
Diejenigen, die diese Verträge sozusagen nur haben durchgehen lassen - ich habe ja vorhin gesagt, aus welchen Gründen manche das nachträglich so erläutern -, sind noch nicht fähig, Treuhänder für diese Verträge zu sein.
({30})
Ich habe zwar gehört, daß Herr Barzel kürzlich gesagt hat: Abmachungen und Verträge werden gehalten. Aber ich halte das für sehr fraglich angesichts der Tatsächlichkeiten.
({31})
Wenn die Verträge Realität sind, so bedeutet das noch nicht, daß man sie sich selbst oder solchen überlassen kann, die sie nur haben durchgehen lassen - aus Gründen, die ich heute hier aus einem Zitat erkennbar gemacht habe.
({32})
Der Bundeskanzler Willy Brandt hat sein Wort gehalten, mehr Demokratie zu wagen,
({33})
den Frieden sicherer zu machen.
({34})
Ich weiß, daß die Auffassungsunterschiede über das, was Demokratie ist, unbestreitbar sind.
({35})
- Sicher, wenn Sie nicht die erste Geige oder Trompete spielen können,
({36})
dann behaupten Sie, es sei gar keine Demokratie. Das ist Ihre Auffassung.
({37})
Sie können doch wohl nicht vor aller Augen - bildlich gesprochen - behaupten, daß nicht auch Sie im Grunde froh sein dürfen darüber, daß Willy Brandt am 10. Dezember 1971 in seinem Dank für die Verleihung des Friedensnobelpreises
({38}) sagen konnte - ich zitiere wörtlich -:
... wieviel es mir bedeutet, daß auf meine Arbeit „im Namen des deutschen Volkes" abgehoben wurde, daß es mir also vergönnt war, nach den unauslöschlichen Schrecken der Vergangenheit den Namen meines Landes und den Willen zum Frieden in Übereinstimmung gebracht zu sehen.
({39}) Das ist bescheiden und richtig gesagt worden.
Ich denke oft daran, daß der - uns auf dieser Seite des Hauses jedenfalls - unvergeßliche Kurt Schumacher, der Wiederbegründer der Sozialdemokratischen Partei nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer seiner letzten Niederschriften, in der er sich bitter mit denen auseinandersetzte, die bestimmen möchten in Deutschland, wer Christ und wer Marxist zu nennen sei, doch daran festhielt,
({40})
- Sie werden doch wenigstens Schumacher anhören können -, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg von der Idee ausgegangen ist, ein Deutschland zu schaffen, das die Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließt.
Sicher werden Sie, auch wenn Sie sich nicht im Kielwasser Schumachers sehen oder in dieses Kielwasser gebracht sehen wollen, sagen, das wollten Sie ja auch. Ich streite auch gar nicht darüber. Wogegen ich mich immer wieder wenden muß, ist, daß daß Sie alles für sich in Anspruch nehmen und faktisch niemanden neben sich, geschweige denn mehrheitlich vor sich dulden wollen.
({41})
Natürlich haben Sie ein anderes Verhältnis zu diesen Fragen. - Sagen Sie ruhig laut, was Sie glauben, hier anbringen zu müssen wie eine Made!
({42})
Ich lese mir manchmal durch, von wo Sie ausgegangen sind, als Sie nach dem Kriege ebenso vor den Trümmern standen wie wir. Ich denke z. B. an jene Sätze:
Nach dem furchtbaren politisch-wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen ... Das deutsche Volk soll eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient, den inneren und äußeren Frieden sichert.
Man könnte das Ahlener Programm weiterlesen. Ich würde dann immer mißverstanden werden. Sie meinen, das, was dort über Kapitalismus und das Einseitige steht, sei so spezifisch sozialdemokratisch, daß man darauf immer laut reagieren müsse, wenn solche Worte fielen. Aber wissen Sie: Die Bundesrepublik hat nach unserem Grundgesetz ein demokratischer und sozialer Bundesstaat zu sein. Wir und Sie, alle drei Fraktionen, stehen zum Grundgesetz und stehen in der Pflicht des Grundgesetzes. In der Bundesrepublik ist das Eigentum geschützt, aber es soll sozialpflichtig sein - es soll sich sozialpflichtig fühlen, wenn ich das so sagen darf -. Der Anteil der Arbeitnehmer am Produktionsvermögen wird und muß gesetzlich geregelt werden. Ebenso wird bei uns das Bürgerrecht auf Bildung, einschließlich der Berufsbildung, für jede Frau und jeden Mann ganz groß geschrieben. Es muß realisiert und nicht nur auf dem Papier programmiert werden.
({43})
Die gleichen Rechte - das ist der entscheidende Punkt -, die unser Grundgesetz jeder Frau und jedem Mann als Staatsbürger ohne Unterschied von Rasse, Klasse, Herkunft und Konfession gewährleistet, müssen - darauf haben die Staatsbürger ein Recht - in gleiche soziale Chancen umgewandelt werden. Darum ringen wir, und aus diesem Grunde wird dieser Wahlkampf ein so harter Wahlkampf werden. Wir sind nämlich der Überzeugung, daß bei ihm darum gerungen wird, daß der Weg zum sozialen Ausbau unseres Staates, zur Stärkung seiner sozialen Komponente beschritten wird, oder wie wir es in unserem Grundsatzprogramm nennen, daß die Sozialstaatlichkeit unserer Bundesrepublik nicht wieder in die Ferne gerückt, sondern zielbewußt auf sie zugegangen wird. Darüber wird man vor den Wählern und mit den Wählern diskutieren.
Sie werden dieses denunzieren, weil Sie Schreckgespenster brauchen. Sie brauchen bestimmte Begriffe, von denen Sie meinen, daß man sie nur zu nennen braucht, daß man sie jemandem nur anzuheften braucht, damit dieser schon erledigt und nicht mehr satisfaktionsfähig ist.
({44})
- Herr Wörner, wenn Sie noch einige zehn oder zwanzig Jahre leben, werden Sie das entweder überwunden haben oder komplett fähig auf diesem Gebiet werden. Das ist einer der wunden Punkte Ihrer Art - ich meine nicht Sie persönlich -, poliWehner
tisch zu streiten: den anderen zu diffamieren und
ihm keine Gelegenheit zu geben; das ist Ihre Art!
({45})
Herr Abgeordneter Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfragle des Herrn Abgeordneter Dr. Wörner?
Nein.
({0})
Unsere Fraktion hat sich nach gründlicher Diskussion einstimmig entschlossen, in namentlicher Abstimmung im Plenum des Bundestages dem Bundeskanzler Willy Brandt das Vertrauen auszusprechen.
({1})
Sie geht dabei davon aus, daß sich Bundeskanzler, Vizekanzler und die übrigen Mitglieder des Kabinetts bei dieser Abstimmung der Stimme enthalten werden.
({2})
- Das ist ja ihr Recht, hören Sie! Warum sind Sie denn so laut in dieser Frage? Das wird ja gar keiner verstehen, nachdem Sie hier mit solcher Spannung jene ganze Garnitur angehört haben, von der Sie meinten - ich meine: schlechte Regie bei Ihnen -, das wird toll wirken; sie sind sozusagen Zeugen.
Wir sind als Fraktion - ich habe das hier ausdrücklich zu sagen - den Kabinettsmitgliedern dankbar dafür, daß sie das tun.
({3})
- Das ist doch bei uns nicht so, daß man den anderen einfach in dieser Weise hängen oder sitzen läßt. Wir sind ihnen dankbar, weil nach den Bestimmungen des Grundgesetzes nur so der Weg geöffnet werden kann, damit Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland in allgemeinen Neuwahlen zum Bundestag entscheiden und eine sichere Mehrheit für eine Regierung Willy Brandt und Walter Scheel im Bundestag schaffen können.
({4})
- Wenn Sie hier Ihre beliebte andere Vokabel dazwischenrufen, ich habe ja und vor mir sitzt
ein verehrter innenpolitischer Gegner und Kollege aus Ihren Reihen - an dem 8. November hier einmal das zu machen gehabt, was einen Bundeskanzler in eine Situation bringt, der er sich zu stellen hat.
({5})
- Nein, nein. Sie brauchen nur in den Protokollen nachzulesen - ich schicke Ihnen das gern, bringen Sie es mir wieder zurück -, wie das damals wirklich gewesen ist. So einfach, wie Sie es jetzt im nachhinein sehen möchten, war das nicht. Ich will nicht in alten Wunden herumrühren.
Sie haben öffentlicht erklärt, sowohl die CDU als auch die CSU, daß Ihnen Neuwahlen die sympatischste Lösung seien.
({6})
Dazu müssen wir über eine Schwelle gehen, von der Sie alle und wir wissen, wie das Grundgesetz sie zusammengefügt hat.
({7})
Sie haben noch das falsche Stichwort, Herr Schulhoff. Ich glaube, das nächstemal kommen Sie sowieso nicht wieder. Da werden Sie sehen, daß das ein Irrtum war. Wissen Sie, Sprechchöre imponieren mir gar nicht, von welcher Seite sie auch geübt und geprobt werden. Davon habe ich mich noch nie beeindruckt gezeigt.
Schönen Dank für Ihre dennoch bemerkenswerte Geduld.
({8})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Brandt, Bundeskanzler ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als man heute vormittag Herrn Kollegen Schröders kurzer, markiger Rede zuhörte, da hätte man den Eindruck gewinnen können, als wollte er, als wollten Sie, verehrte Kollegen von der Union, hier Stimmen gewinnen, um zu verhinder, daß der Antrag nach Art. 68 angenommen wird.
({1})
Solcher Anstrengungen bedurfte und bedarf es nicht. Ich habe den Antrag gestellt - und erklärt, und ich wiederhole es hier -, um zur Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu kommen.
({2})
Ich habe nicht erwartet, daß hier heute, ausgerechnet an diesem Tage, noch nennenswerte sachliche Annäherungen zu erzielen sein würden. Persönlich meine ich, daß dem Parlament und dem Parlamentarismus nicht eigentlich ein Dienst damit erwiesen wurde, daß Sie heute früh aus der Reihe Ihrer Zuwanderer hier - verstehen Sie den Ausdruck nicht falsch - Müll abladen ließen.
({3})
Ich glaube, das war aus der Sicht des Parlaments nicht gut. Aber politisch nützlich war es wohl.
({4})
Denn Sie haben durch diese Art aufzutreten meine These von Mittwoch bestätigt, warum es zu dieser Lage gekommen ist
({5})
und daß die Wähler für die Zuwanderer zu Ihnen
oder gegen sie entscheiden müssen. Darum geht es.
({6})
Das einzige, worüber wir uns in dieser Debatte trotz allem einig sind, ist die Konsequenz aus dem Antrag, den ich vorgestern gestellt habe, d. h. niemand ist mehr gegen Neuwahlen. Und darauf kommt es heute an.
Aber, meine verehrten Damen und Herren, was wir hier diskutieren - und wenn ich dies sage, knüpfe ich gerne an meinen Vorredner an -, ist mit der Elle der Tagespolitik nicht, jedenfalls nicht allein zu messen. Hier geht es darum, wie unser demokratischer Staat mit den Schwierigkeiten fertig wird, die sich aus dem parlamentarischen Remis ergeben haben. Mit einer „Staatskrise", wie man es hier und da draußen hat lesen können, hat das überhaupt nichts zu tun.
({7})
Wohl aber hat es etwas zu tun mit unserer Fähigkeit, Situationen zu meistern, die in keinem Lehrbuch beschrieben sind.
In der umstrittenen Außenpolitik geht es nicht nur um diesen oder jenen Vertrag, um diese oder jene Konferenz.
({8})
Es geht um Fragen, die wir bis zu einem gewissen Grade in den ersten Nachkriegsjahren verdrängt haben, oder sogar um solche, die bis ins Kaiserreich zurückreichen.
Für die Gesellschaft in der Bundesrepublik geht es nicht nur um dieses oder jenes Gesetz, um diese oder jene noch so wichtige Teilreform. Es geht in Wirklichkeit, so meine ich, um den Ort, um den herum sich das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte einpendelt.
Zwei mögliche Punkte rechts und links von der Mitte brauchen gar nicht so schrecklich weit auseinander zu sein, und doch kann es, wie wir erleben, ein sehr hartes, zuweilen sogar schmerzhaftes Ringen darum geben, ob es zur Kristallisation um den einen oder um den anderen Punkt herum kommt. Die CDU/CSU hat aus meiner Sicht stärker an die bei uns in Deutschland lange vorherrschende Tradition konservativer Prägung angeknüpft,
({9})
gelegentlich in beeindruckender Form der personellen Kontinuität wie in der Person Konrad Adenauers. Man muß sich ja immer noch einmal klar machen, daß dieser Mann und der erste Bundeskanzler 1917, noch eben zur Zeit des Kaiserreiches, Oberbürgermeister von Köln geworden war. Die Sozialdemokraten und - auf ihre eigene Weise - die Freien Demokraten vertreten, wie ich es sehe, stärker die Kräfte, die schon im Kaiserreich aus der Opposition heraus auf mehr Demokratie und politische Freiheit drängten,
({10})
auf einen Staat drängten, den die Vielen in diesem Lande als ihren eigenen Staat begreifen können.
Die politische Schwerpunktverlagerung hat 1969 - Herr Kollege Wehner hat uns eben daran erinnert - mit der Wahl des Bundespräsidenten, anschließend in der Bundestagswahl und der Regierungsbildung vom Herbst 1969 ihren sinnfälligen Ausdruck gefunden. Der verehrte Kollege, der heute morgen eine andere Deutung der Bundestagswahl gegeben hat, hat vergessen - aber Millionen Fernsehzuschauer haben es nicht vergessen -, wie wir zwei Tage vor der Wahl zu Viert am Tisch gesessen haben: Herr Dr. Kiesinger und Herr Strauß, Herr Kollege Scheel und ich. Niemand, der zugehört und zugeschaut hat, konnte im Zweifel darüber sein, welche beiden jeweils zusammengehörten. So sah es aus vor dem Wahltag.
({11})
weil seit 1949 beide Hauptströmungen in unserem Land kräftemäßig nie extrem auseinander waren, einerseits die Kräfte des konservativen Beharrens, wie ich es sehe, überwiegend in der Union versammelt, und andererseits die Kräfte von mehr Erneuerung für Staat und Gesellschaft, überwiegend in den Koalitionsparteien vereinigt.
Übersehen wir bitte dies nicht, meine Damen und Herren: Alle Industriegesellschaften des Westens stehen in diesen Jahren vor großen Problemen. Sie müssen diese Probleme lösen, ohne die persönliche Freiheit einzuschränken; denn dann wären sie nicht mehr demokratische Staaten des Westens. Diese Lösung wird durch die Tatsache kompliziert, daß sich besonders bei der jüngeren Generation eine gewisse Wandlung der Wertvorstellungen vollzieht, durchaus nicht nur, wie es mancher darstellen wollte - auch heute früh -, in Richtung auf unfruchtbaren, auf unsinnigen und deshalb zu verurteilenden Radikalismus, sondern bei sehr vielen und von viel Idealismus getragen in Richtung auf eine höhere Qualität des Lebens.
({0})
Es ist politisch entscheidend, wie wir auf diese Veränderungen reagieren.
1969 hat unsere Gesellschaft aus meiner Sicht positiv geantwortet durch die Verlagerung der politischen Mehrheit von der rechten zur linken Mitte. Die Antwort der CDU/CSU darauf war, wie ich es in diesen Jahren gesehen habe, in einigen wesentlichen Punkten ein weiterer Ruck nach rechts. Einige Abgeordnete der Koalitionsparteien haben sich dieser Bewegung angeschlossen. Ich bin davon überzeugt, daß jetzt nur das Lager der linken Mitte mit den Problemen der Zukunft fertig werden kann.
({1})
Diesem Lager die eindeutige Mehrheit zu verschaffen, darin sehe ich das Ziel der Neuwahlen. Ein anderer Wahlausgang würde dazu führen, so meine ich, so befürchte ich, daß die Schwierigkeiten wachsen. Wenn die Bundesrepublik nicht hinter den Erfordernissen der Zeit zurückbleiben soll, müssen die Kräfte des Fortschritts und der Erneuerung gestärkt werden.
({2})
Nun war es überaus bemerkenswert, daß Herr Kollege Barzel in seiner Antwort auf meine Erklärung vorgestern früh kein einziges Wort zur Außenpolitik gefunden hat, und das nach all den starken Worten der hinter uns liegenden Jahre.
({3})
Die außenpolitische Enthaltsamkeit der CDU/CSU bisher in dieser Debatte - auch bei Herrn Schröder heute früh waren es nur ein paar sehr allgemeine Sätze - verdient festgehalten zu werden.
Nur in einem Punkt hat Herr Barzel vorgestern ein außenpolitisches Moment anklingen lassen. Ein Berliner Abgeordneter, der sich ja hier auch zu Wort gemeldet hat, habe seine Fraktion verlassen, so sagte Herr Barzel, weil die Regierung an der politischen Vereinigung Westeuropas nicht hinreichend interessiert gewesen sei. Nun weiß doch aber jedermann, der es wissen will: Walter Scheel und ich in enger kameradschaftlicher Zusammenarbeit und die Regierung mit uns haben die westeuropäische Zusammenarbeit und Einigung doch nicht behindert, sondern vorangebracht, meine Damen und Herren,
({4})
nicht durch Luftschlösser, sondern im Rahmen des Möglichen energisch und realistisch. So sind wir mit Erfolg tätig gewesen von der Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 bis zur sorgfältigen Vorbereitung der neuen Gipfelkonferenz, die jetzt vermutlich im erweiterten Kreis von nicht nur acht, sondern zehn im nächsten Monat in Paris stattfinden wird. Hier geht es für unser Volk nicht um europäische Phraseologie, sondern um europäische Realpolitik, meine Damen und Herren.
({5})
Wir haben in der Schlußphase dieses Bundestages einen besonders abwegigen Versuch erlebt - da muß ich das, was Herr Kollege Scheel schon ausgeführt hat, aus meiner Sicht noch etwas ergänzen dürfen -, auf die deutsche Europapolitik Einfluß zu nehmen. Am Montag voriger Woche wurde aus München gemeldet, Herr Strauß habe unter Hinweis auf die Bundestagswahl für eine Verschiebung der Gipfelkonferenz plädiert.
({6})
Das ist sein gutes Recht. Am folgenden Tag haben dann freilich die Außen- und die Finanzminister der Zehn in Rom festgestellt, daß die sachlichen Voraussetzungen gegeben sind, die Gipfelkonferenz zum vorgesehenen Zeitpunkt, also im Oktober, durchzuführen. Dann hat Herr Barzel das gesagt, worauf er sicher noch zu sprechen kommen wird und was der Leser nur als die Aufforderung zur außenpolitischen Untätigkeit bis nach den Wahlen auffassen konnte. Andere Regierungen, sofern sie es zur Kenntnis genommen haben, haben es nur so verstehen können, als sollte ihnen der Rat gegeben werden, mit der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Monaten keine Vereinbarung zu treffen. Ich halte dies für einen unerhörten Vorgang.
({7})
Wenn es noch einen Sinn für Staatsräson gibt, dann muß das hier heute in Ordnung gebracht werden.
({8})
Auch vor einer Wahl darf niemand, der Verantwortung trägt, die Geschäftsfähigkeit des eigenen Staates in Frage stellen. Die Bundesregierung läßt sich jedenfalls nicht dazu veranlassen, ihre Pflicht nach Verfassung und Amtseid zu vernachlässigen.
({9})
Im übrigen muß ich sagen: Das sind mir schöne Europäer, die meinen, Wahlzeiten hätten Zeiten des europäischen Stillstands zu sein.
({10})
Keine neuen Verpflichtungen übernehmen wollen heißt, die Gipfelkonferenz in Paris kaputtmachen wollen, Herr Kollege Schröder. Mit Vertagungen ist die europäische Einigung, über die sich so schön reden läßt, nicht voranzubringen.
({11})
Wer Vorwahlzeiten im europäischen Terminkalender ausklammern will, der bringt kaum noch etwas zustande. In diesem Herbst wählen wir und die Niederländer, im nächsten Frühjahr die Franzosen und im nächsten Herbst die Norweger. In einer Gemeinschaft von zehn demokratischen Staaten werden fast immer irgendwo Wahlen bevorstehen. Das kann man sich leicht ausrechnen.
({12})
Jetzt sage ich: Wer der eigenen Regierung außenpolitische Untätigkeit zumutet und den Regierungen anderer Länder empfiehlt, über Monate hinweg auf Vereinbarungen mit der Bundesrepublik Deutschland zu verzichten, der läßt gewichtige nationale Interessen außer acht und setzt sich dem Vorwurf aus, parteipolitische Erwägungen höher zu stellen als die Belange des Staates.
({13})
Im übrigen möchte die CDU/CSU, was ich verstehen kann, nicht gern an ihre zunächst fanatisch negative Haltung zu unserer Ost-West-Politik erinnert werden, die wir in Übereinstimmung mit unseren westlichen Verbündeten entwickelt haben. Man möchte nicht erneut mit den - das weiß doch jeder - schwelenden Widersprüchen, die es zu diesen Fragen in der Union gibt, konfrontiert werden. Das kann ich gut verstehen, aber ersparen kann ich es Ihnen nicht. Herr Barzel, Sie sind nicht nur am 27. April mit dem Mißtrauensvotum gescheitert; Sie sind - und ich bedaure das im Interesse des Ganzen außerordentlich - im Mai auch mit dem
Versuch gescheitert, die Außenpolitik Ihrer Fraktion auf eine realistischere Grundlage zu stellen.
({14})
Ich sage: realistische Grundlage, denn was wir brauchen, ist Realismus. Das hieß und heißt, auf der Grundlage des atlantischen Bündnisses der Freundschaft mit den Völkern des Westens und der fortschreitenden europäischen Einigung der deutschen Außenpolitik, wie es Herr Kollege Scheel heute morgen noch einmal klar gesagt hat, etwas Wesentliches hinzuzufügen, und zwar nicht nur den allgemeinen Wunsch nach Versöhnung mit den Völkern des Ostens, sondern die konkrete Normalisierung des Verhältnisses zu ihren Staaten. Realismus bedeutete, zu einer Berlin-Vereinbarung zu gelangen. Was dies besagen will, meine Damen und Herren, kann nur ermessen, wer die Berlin-Krisen der vergangenen Jahre noch nicht vergessen hat. Ich habe sie nicht vergessen.
Das, was man Ostpolitik genannt hat, ist bei weitern nicht abgeschlossen. Diese Politik muß zielstrebig fortgeführt werden, und zwar ohne Illusionen und ohne Scheuklappen. Dabei geht es nicht nur, wie mancher meint, darum, bilaterale Beziehungen auszugestalten: mit der Tschechoslowakei und dann mit Ungarn und Bulgarien. Das ist alles wichtig, aber es geht um mehr.
Wir befinden uns in einer Phase, in der in den Ost-West-Beziehungen Entscheidungen und damit auch Fortschritte möglich sind. Nach unserem Vertrag hat sich die Sowjetunion bereit erklärt, auch das von unserer Allianz vorgeschlagene Thema einer ausgewogenen beiderseitigen Truppenreduzierung zu behandeln. Das wird viel Zeit brauchen, das ist klar; aber es ist lebenswichtig. Nachdem das Berlin-Abkommen der Vier Mächte in Kraft gesetzt worden war, haben wir zusammen mit unseren Bündnispartnern darangehen können, eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in ganz Europa vorzubereiten. Unsere guten Kontakte mit den Vereinigten Staaten bestätigen folgendes. Was Nixon und Breschnew vereinbart haben, liegt auf der Linie der von uns selbst mit beiden Weltmächten und ihren führenden Männern geführten Besprechungen. Wir sind uns darin einig, daß die Entspannung im Interesse des Friedens durch konkrete Vereinbarungen vorangebracht werden kann. Unsere Anregung vom vorigen Jahr, mit einer Vorkonferenz Ende November 1972 in Helsinki zu beginnen, ist aufgegriffen worden, und ich freue mich auch darüber, daß Anfang des kommenden Jahres eine entsprechende Vorbereitung für Verhandlungen über den beiderseitigen Abbau von Truppenstärken - ein schwieriger Vorgang, der natürlich nicht zum Nachteil einer Seite voranzubringen sein wird - beginnen kann.
Daß die Konfrontation zwischen Ost und West zunehmend durch Verhandlungen und Vereinbarungen abgelöst wird, entspricht einer Politik, die bereits auf Erfolge verweisen kann und die zu Recht von Hoffnungen auf weiteren Erfolg begleitet wird. Ich erinnere an das erste Abkommen zur Begrenzung strategischer Waffen.
Dr. Henry Kissinger hat, als er von seinem Moskau-Besuch zurückkehrte, den nachdenkenswerten Satz gesprochen, wir befänden uns jetzt am Ende einer Periode, in der allein die militärische Sicherheit das Verhältnis zwischen den westlichen Nationen zementiere. Das ist problematisch; ich weiß, was darin alles steckt. Aber es hat sich eben als richtig herausgestellt, daß wir uns in Deutschland von dieser Entwicklung nicht haben überrollen oder überraschen lassen. Indem die beiden Staaten in Deutschland Fortschritte bei der Regelung ihres Verhältnisses machen, entsprechen sie nicht nur ihren eigenen Interessen, sondern tragen zu dieser insgesamt positiven Entwicklung bei.
Wie Sie wissen, habe ich kürzlich mit Präsident Pompidou und mit Premierminister Heath über die bevorstehende Gipfelkonferenz gesprochen, und gleichzeitig hat der Präsident der Vereinigten Staaten mir mitteilen lassen, daß er meine Vorstellungen über eine längerfristige Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den USA positiv aufgreifen wird. Dem Hohen Hause sind diese Vorstellungen in etwa bekannt. Sie beruhen darauf, daß ein zunehmend geeintes und stärker werdendes Europa für eine nicht absehbare Zeit seine Sicherheit nur zusammen mit den Vereinigten Staaten findet und daß man der erforderlichen Partnerschaft von Gleichberechtigten auch eine entsprechende Form geben sollte. Auf der bevorstehenden Gipfelkonferenz wird auch dieses Thema zu besprechen sein.
Nun ergibt sich die Frage - mehr für die Menschen draußen als für uns im Saal -, wer auf diesen wichtigen Gebieten die Interessen der Bundesrepublik Deutschland jetzt am besten wahrnehmen kann. Etwa diejenigen, die 1969 nicht einmal dafür waren, daß wir den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen unterzeichneten?
({15})
Etwa diejenigen, die die Vertragspolitik in der hinter uns liegenden Zeit erst wütend bekämpft und dann mit Stimmenthaltung begleitet haben? Nein, ich meine, die mit unseren Verbündeten abgestimmte Politik kann wirksam von denen weitergeführt werden, die diese Politik gegen harten Widerstand entwickelt und durchgesetzt haben.
({16})
Darüber wird in den vor uns liegenden Wochen im großen Gespräch mit den Bürgern unseres Staates ausführlich und nachdrücklich die Rede sein.
Wenn von der westlichen Welt die Rede ist, meine Damen und Herren, muß auch von den Währungsfragen, muß auch über die Preise gesprochen werden. Herr Barzel hat vorgestern erneut mit bewegten Worten die steigenden Preise beklagt. Ich stimme ihm insofern zu.
({17})
Das insgesamt günstige Bild der wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland wird durch die steigenden Preise erheblich getrübt, und dies muß jedem, der hier Verantwortung trägt, auch wenn es nicht die des Bundeskanzlers wäre, viel
Sorge bereiten. Die meisten von Ihnen wissen jedoch sehr wohl oder spüren es, daß die Opposition unter den gegebenen europäischen und internationalen Bedingungen dieses Problem genauso auf den Hals bekommen hätte, wie wir es auf den Hals bekommen haben,
({18})
falls Sie in diesen Jahren die Regierungsverantwortung zu tragen gehabt hätten, es sei denn, Sie hätten es mit Rezession und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen versucht, was wir ablehnen.
({19})
Wie der Blick auf andere Länder zeigt, werden stabile Preise nicht einmal durch Unterbeschäftigung garantiert.
({20})
Ist es ehrlich und ist es veratnwortlich, wenn man
das Gespenst der Inflation durch die Lande trägt?
({21})
Zunächst muß man doch ehrlicherweise zugeben, daß bei uns in Deutschland dieser Begriff gleichgesetzt wird -- jedenfalls für die Älteren - mit der galoppierenden Inflation nach dem ersten Weltkrieg bis hin zu dem schwindelnden Höhepunkt vom Herbst 1923, als man sich für Milliarden von Reichsmark knapp noch ein Brötchen kaufen konnte, und daß dieser Begriff gleichgesetzt wird mit dem erneuten totalen Geldverfall nach dem letzten Krieg. Ich appelliere - nicht jetzt an Sie - an alle Beteiligten, ich appelliere an die intellektuelle Redlichkeit und politische Disziplin aller Beteiligten,
({22})
sich nicht der Versuchung hinzugeben, durch den falschen Gebrauch dieses in unserem Land besonders explosiven Wortes „Inflation" parteipolitisches Kapital aus einem spezifisch deutschen Trauma schlagen zu wollen.
({23})
Im übrigen wundere ich mich, woher Sie, Herr Strauß, und Sie, Herr Barzel, eigentlich den Mut nehmen, landauf, landab von Stabilität und Solidität zu reden, nachdem Sie es in den letzten beiden Tagen in diesem Hause einzig und allein darauf angelegt hatten, die Koalition bei der Rentenreform nicht nur verbal, sondern auch finanziell zu übertrumpfen.
({24})
Ich freue mich über die Rentenreform, und ich habe ihr zugestimmt.
({25})
Ich bin aber traurig über diejenigen, die Sie draußen so interpretieren, als stecke hinter der Einstimmigkeit der CDU/CSU für manche von Ihnen bereits der Gedanke an ein neues Haushaltssicherungsgesetz.
({26})
Sie dürfen sich bitte nicht wundern, daß wir nicht in die offenen Messer Ihrer Demagogie gelaufen sind.
({27})
Trotz der Unebenheiten und der von Ihnen heruntergespielten indirekten Auswirkungen auf den Bundeshaushalt kommender Jahre
({28})
werden wir dafür sorgen, daß die Rentenreform ein Erfolg bleibt.
({29})
Zu den Preisen, meine Damen und Herren: Ich meine, da sollten sich zunächst einmal diejenigen zurückhalten, von denen bekannt ist, daß ihnen die Interessen gewisser Teile der Großindustrie in den vergangenen Jahren stets mehr am Herzen gelegen haben
({30})
als Preisstabilität und die Interessen der Verbraucher.
({31})
Und auch dies: Wer 1969 die Aufwertung und 1971 die außenwirtschaftliche Absicherung bis aufs Messer bekämpft hat, sollte heute lieber schweigen, wenn von Stabilität die Rede ist.
({32})
Tatsache ist übrigens, daß es den Bürgern in unserem Lande heute besser und nicht schlechter geht als vor drei Jahren.
({33})
Die Nettolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer sind in dieser Zeit um reichlich 40 %, real um ein Viertel, gestiegen, meine Damen und Herren; so sieht's aus!
({34})
Eine vergleichbare reale Einkommenssteigerung hat es in der gesamten Nachkriegszeit nur ein einziges Mal zuvor - zu Beginn der 60er Jahre - gegeben.
Tatsache ist ferner, daß sich die Wirtschaft der Bundesrepublik nicht in der von Herrn Strauß und anderen immer wieder beschworenen Rezession oder Stagflation, sondern in einer neuen Aufschwungphase befindet. Aufträge, Produktion, Investitionen, Exporte, Gewinne - welchen Nennwert man auch
niemand kann bestreiten, daß es mit der deutschen Wirtschaft wieder und weiter bergauf geht; darüber sollten wir uns freuen und es nicht vermiesen wollen!
({0})
Tatsache ist vor allem, daß der Preisanstieg in der Bundesrepublik
({1})
- so besorgniserregend er ist - in den letzten drei Jahren geringer als in fast allen anderen westlichen Industriestaaten war; das muß man auch sagen.
({2})
Niemand kann bestreiten, daß die D-Mark, gemessen am Dollar, am englischen Pfund, am französischen Franc und den meisten anderen Auslandswährungen, heute nicht weniger, sondern um rund ein Viertel mehr wert ist als vor drei Jahren.
({3})
Aber gerade weil die D-Mark als eine der härtesten Währungen weltweites Vertrauen genießt, war unser Land in den letzten Jahren immer wieder das Ziel spekulativer Geld- und Kapitalzuflüsse. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem darin, daß die Devisenreserven der Deutschen Bundesbank in den letzten zwei Jahren um mehr als 50 Milliarden DM angestiegen sind. Gegen die weltweite Geldvermehrung sind nationale Maßnahmen - an denen es in der Bundesrepublik im übrigen auch nicht gefehlt hat - nur in Grenzen wirksam.
Wir haben uns für die Europäische Wirtschafts-und Währungsunion entschieden, für die es nach meiner Auffassung keine Alternative gibt. Ich bin deshalb davon ausgegangen, dies sei auch die Auffassung der Opposition. Wenn dem so ist, dann sollten Herr Strauß und Herr Barzel aber auch endlich aufhören, so zu tun, als könne man gleichzeitig für eine zunehmende westeuropäische Integration und für eine völlig unabhängige Konjunkturpolitik zu Hause eintreten.
({4})
Wir können nur dies in Europa: Mit möglichst gutem Beispiel vorangehen und unser Gewicht in die Waagschale werfen, daß aus dieser Wirtschafts- und Währungsunion eine Stabilitätsgemeinschaft wird. Darum haben wir uns bisher bemüht. Darum bemüht sich in diesen Wochen Helmut Schmidt mit seiner bekannten Energie.
({5})
Auf der Gipfelkonferenz im nächsten Monat werden wir das mit Nachdruck vorbringen, uns für ein europäisches Stabilitätskonzept einsetzen.
Das Bekämpfen der Preissteigerungen war und ist für die Bundesregierung die wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Das will ich hier sagen.
({6})
Sie muß jedoch ihre Grenze finden, wenn es um die Arbeitsplätze geht.
({7}) In diesem Punkt unterscheiden wir uns ganz deutlich von solchen Kräften in der CDU/CSU, die diese Sache anders sehen.
({8})
Bewußt herbeigeführte Arbeitslosigkeit ist für uns kein Mittel der Wirtschaftspolitik und kein Knüppel aus dem Sack zur Disziplinierung der Wirtschaft.
({9})
Ich halte auch nichts davon, wenn dies neuerdings auf CDU-Veranstaltungen mit dem Ausdruck „Reprivatisierung des Beschäftigungsrisikos" verschämt umschrieben wird. Das klingt zwar sehr gelehrt, aber ich meine, mit der Existenzgrundlage von Millionen Arbeitnehmern sollte man nicht spielen, nicht einmal in der Theorie.
({10})
Vizepräsident . Frau Funcke: Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?
Bitte!
Herr Bundeskanzler, ist Ihnen bekannt, daß das auf dieser Tagung ein Professor gesagt hat, daß das aber einstimmig von allen anwesenden Kollegen und Nichtkollegen der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen-Union abgelehnt worden ist, weil für uns der gesicherte Arbeitsplatz in der Wertskala obenan steht?
({0})
Ich nehme das gern zur Kenntnis und hoffe, daß es dabei bleibt.
({0})
Gewiß, Vollbeschäftigung, die Sicherheit auf einen Arbeitsplatz muß täglich neu errungen werden. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, so sagen wir. So reden auch die Vollbeschäftigungsgegner von rechts. Wo liegt der Unterschied? Er liegt darin, daß wir es jedem Bürger auch ermöglichen, zu leisten und zu arbeiten. Denn er muß arbeiten können, um leisten zu können. Das ist doch der Sinn, der hinter dem Ganzen steckt.
Die Gegner unseres Vollbeschäftigungszieles wollen genau dies nicht, halten, wie sie sagen, ein gewisses Maß von Arbeitslosigkeit für notwendig - nicht auf Ihrer Tagung, aber Sie kennen diese Debatten, die es dazu bis in diese Tage gibt.
({1})
Die so argumentieren, sind für eine gewollte Rezession, sie sind für eine Leistungsgesellschaft mit Arbeitslosigkeit.
({2})
Sie verwehren damit einem Teil des Volkes - Arbeitnehmern wie Selbständigen - die Möglichkeit zum Leisten. Das ist der falsche Weg, und den lehnen wir ab.
({3})
Nun zu den Reformen. Wer wollte heute noch leugnen, daß es der Reformen bedurfte und bedarf. Der Lebensstandard der allermeisten unserer Mitbürger ist kräftig angestiegen. Wer wollte das bestreiten? Aber das ungezügelte Wachstum bei krassen Vorrechten und krasser Benachteiligung ließ seine - des ungezügelten Wachstums - Grenzen erkennen. Die Zahl derer nahm zu, die sich auf die Qualität des Lebens besinnen. Ich weiß besser als jeder andere, daß dieser Regierung im Bemühen um innere Reformen Zeitverluste, ja, ich sage es in aller Offenheit: auch Fehler und Pannen unterlaufen sind.
({4})
Und trotzdem sage ich: Unsere Bilanz kann sich sehen lassen, und wir werden sie offensiv gegen Sie im Lande vertreten.
({5})
Die Opposition sollte sich, wenn es dazu nicht zu spät ist, endlich darüber klar werden, was sie will. 1969 hat sie gesagt, wir hätten uns zuviel vorgenommen, und heute sagt sie, wir seien noch nicht weit genug vorangekommen.
({6})
In den allgemeinen Haushaltsberatungen kritisierte sie, daß zuviel Mittel für dies und jenes angesetzt seien; im einzelnen aber schlug sie immer wieder vor, mehr Geld auszugeben. Im allgemeinen meinte die Opposition, unsere Reformansätze reichten nicht aus; im ganzen war man dann andererseits geneigt, unserer Politik den Mantel der beginnenden Revolution umzuhängen. Das halte ich für widersprüchlich und auch nicht für seriös. Viele Bürger draußen wissen, daß diese Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten in der Lage war und ist,
({7})
mehr Gerechtigkeit, mehr Gemeinschaftsgüter, einen leistungsfähigeren Staat zu verwirklichen. Dr. Barzel hat am Mittwoch zugegeben, daß diese Regierung nicht faul gewesen sei. Das stimmt.
({8})
Herr Barzel, die Bürger, die Angestellten, die Beamten und die Politiker, die an diesem eingeleiteten Reformwerk mitgearbeitet haben, werden aber mit Recht hinzufügen: Wir waren fleißig, und wir waren gegen alle Widerstände erfolgreich. - Das ist die Wahrheit!
({9})
Die CDU/CSU hatte die strukturelle Anhebung und die dynamische Anpassung der Kriegsopferrenten jahrelang nicht zustande gebracht. Wir haben das erreicht.
({10}) Wir haben auch die quafilizierte Sparförderung und
damit die Vermögensbildung vorangebracht, denn
({11})
- Hören Sie doch einmal zu!
({12})
- Wir sprechen ja jetzt nicht von Reden, die Sie draußen halten, sondern ich rede vom Geld, das die Arbeitnehmer bekommen.
({13})
- Hören Sie doch einmal zu, Herr Katzer.
({14})
- Nein, jetzt rede ich.
({15})
Im Jahre 1968, also im Jahr, bevor diese Regierung gebildet wurde, legten nur 4,5 Millionen Arbeitnehmer 1,2 Milliarden DM an.
({16})
In diesem Jahr, 1972, werden immerhin 17 Millionen Arbeitnehmer 8 Milliarden DM angelegt haben. Ich nenn das einen Fortschritt.
({17})
In der Gesundheitssicherung haben wir 26 Millionen Kindern, Frauen und Männern die Möglichkeit zur Voruntersuchung gegeben. Der Kampf gegen den Krebs und andere heimtückische Krankheiten ist dadurch intensiviert worden.
({18})
Unsere Programme zur beruflichen Bildung und zur Rehabilitation helfen heute und weisen zugleich in die Zukunft.
Für die Arbeiter, die Angestellten und besonders die jungen Menschen haben wir die Stellung im Betrieb durch das neugestaltete Betriebsverfassungsgesetz gesichert und ausgebaut. Die große Mehrheit der Opposition war allerdings nicht dafür, sondern dagegen, wie sie auch gegen den Mieterschutz gewesen ist und gegen die Begrenzung des Mietanstiegs.
({19})
Weitere Beispiele sind die Gemeinde-Verkehrsfinanzgesetze und das Städtebauförderungsgesetz.
({20})
Ich sage noch einmal: Wir haben nicht alles verwirklichen können, was wir uns vorgenommen hatten.
({21})
Steuerreform, Reform der Vermögensbildung und Bodenrechtsreform - ob es einigen Spekulanten paßt oder nicht ({22})
müssen in der nächsten Legislaturperiode fortgeführt werden.
Wer es wie die Unionsparteien jahrelang versäumt hat, dringend Notwendiges möglich zu machen, wer in dieser Legislaturperiode die Regierung lauthals kritisierte, aber selten brauchbare Alternativen entwickelt hat,
({23})
der sollte hier nicht so tun, als könnte er uns was vormachen.
({24})
Empörend finde ich es, wenn draußen verbreitet wird, wir wollten Häuser und Geschäfte enteignen,
({25})
wir wollten dem privaten Eigentum zu nahe treten. Die dies wider besseres Wissen behaupten, sind Lügner.
({26})
Es sind nicht radikale Gruppen, die die Politik meiner Partei und dieser Regierung bestimmen.
({27})
Es ist unanständig,
({28})
wenn man vor einem erfundenen Buh-Mann Angst erzeugen will.
({29})
Ich frage mich manchmal, wie einige, die so unwahrhaftig argumentieren,
({30})
dies mit ihrem christlichen Selbstverständnis vereinbaren wollen.
({31})
Selbstverständlich, meine Damen und Herren, dürfen wir uns nicht damit begnügen,
({32})
das Bestehende zu sichern und ein wenig zu verbessern. Die Qualität des Lebens muß gerade für die breiten Schichten unseres Volkes wesentlich verbessert werden.
({33})
Deshalb und nicht einem Dogma zuliebe ist es erforderlich, unsere Gesellschaftsordnung weiterhin zu
reformieren und die Chancengleichheit für alle zu verwirklichen.
({34})
Die Steigerung der Bundesausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung auf weit mehr als das Doppelte,
({35})
die mühsame, aber immerhin nicht erfolglose Arbeit am Bildungsgesamtplan, das neue Betriebsverfassungsgesetz,
({36}) das Städtebauförderungsgesetz - ({37})
- Das kann gar nicht oft genug gesagt werden.
({38})
Also noch einmal: Das Betriebsverfassungsgesetz, das Städtebauförderungsgesetz,
({39})
die ersten Umweltschutzgesetze, auch das Krankenhausfinanzierungsgesetz sind Schritte auf diesem Weg.
({40})
Dieser Weg muß fortgesetzt werden. Er muß fortgesetzt werden durch mehr und bessere Gemeinschaftseinrichtungen, durch mehr Menschlichkeit in unseren Städten, auch durch ein besseres - ich sagte es ischon - Bodenrecht, durch mehr Schutz für unsere Umwelt und durch mehr Sicherheit für unsere Bürger und für unseren Staat.
({41})
Die Unionsparteien sind jedenfalls in ihrem gegenwärtigen Zustand,
({42})
zur Fortsetzung der Reformpolitik ebensowenig in der Lage wie zur Fortsetzung unserer Friedenspolitik.
({43})
Darum sagen wir den Wählern, daß sie bei uns besser aufgehoben sind.
({44})
Auch auf dem Gebiet der inneren Sicherheit - ich ließ es eben schon anklingen - muß man das tun, was möglich ist und darf sachliche Erörterungen nicht durch unsachliche Emotionen ersetzen wollen.
({45})
Wir sind ein friedfertiges Volk, aber unsere Friedensliebe hört beim Terror auf.
({0})
Die Erfahrung hat gezeigt, daß es einen totalen Schutz nicht gibt. Aber den möglichen Schutz müssen wir aufbieten. Nicht durch hysterisches Geschrei, sondern durch nüchternen Einsatz der staatlichen Mittel ist beispielsweise die Baader-Meinhof-Gruppe zerschlagen worden.
({1})
Dieselbe CDU/CSU, die sich heute als Hüter der inneren Sicherheit aufspielen möchte, muß sich übrigens sagen lassen, daß sie in den zurückliegenden Jahren den Ausbau des Bundeskriminalamtes sträflich vernachlässigt hat.
({2})
Wir sind dabei, es mit den erforderlichen Mitteln zu einem voll wirksamen Instrument zu machen. Ebenso ist diese Bundesregierung unter der Federführung von Herrn Kollegen Genscher darangegangen, Bund und Länder zusammen vor den Karren der gemeinsamen Sicherheit zu spannen. Wir brauchen jetzt bewegliche Spezialeinheiten, die gegen Terroristen und gegen Gewaltverbrecher besonderer Art eingesetzt werden können. Ich bin zufrieden, daß hierüber ein Einvernehmen mit den Innenministern der Länder erzielt werden konnte.
Wir brauchen auch eine schärfere Handhabung der Gesetze gegen extreme Ausländergruppen. Ich bin gegen Verallgemeinerungen und gegen Ausländerfeindlichkeit. Ich sage aber in aller Klarheit: Unsere Bundesrepublik ist nicht der Platz und darf nicht der Platz sein, auf dem fremde Konflikte und Spannungen ausgetragen werden.
({3})
Wir haben Schritte eingeleitet, um die europäischen Staaten zu gemeinsamem Handeln zu veranlassen und um zu einer internationalen Konvention gegen Terrorismus zu gelangen.
Aber das Thema der inneren Sicherheit darf auch in der gegenwärtigen Lage nicht allzusehr eingeengt werden. Stabilität unserer Gesellschaft kann nicht allein durch Polizei und Justiz erreicht werden. Schon diese sind angewiesen auf die Unterstützung durch die Bürger, auf ihr Eintreten für ihren, für unseren demokratischen Staat. Unser Staat muß sich nicht nur behaupten, er muß auch seine wohlverstandene Würde verteidigen. Wer eine korrekte parlamentarische Entscheidung als „kalten Staatsstreich" bezeichnet, Herr CSU-Vorsitzender, und wer ohne jeden vernünftigen Grund von den „letzten freien Wahlen" spricht, der verstößt gleichermaßen gegen die Würde des Staates und gegen die gemeinsamen Interessen an der Demokratie.
({4})
Niemand von uns darf glauben,
({5}) die innere Sicherheit sei allein eine Frage von Polizei und Justiz. Wir haben statt dessen zu sagen: sie ist in hohem Maße auch eine Frage des Ausbaus unserer Rechtsordnung, der Verwirklichung unseres Grundgesetzes dort, wo es uns über Rechtsnormen hinaus Ziele setzt.
Die CDU/CSU, Herr Kollege Barzel, hat nicht verwinden können, daß sie Opposition wurde.
({6})
Sie hat deshalb weithin in diesen drei Jahren auf Kriegsfuß mit den üblichen demokratischen Spielregeln gestanden,
({7})
seit sie in der ersten Debatte beim Zusammentritt dieses Bundestages durch ihren Sprecher verkünden ließ: Dieser Regierung keine Minute Schonzeit.
({8})
Wir haben das zur Kenntnis genommen und gleichwohl gehandelt, so, daß man vielleicht auch selbstkritisch sagen könnte: Diese Regierung hat viel gearbeitet und manchmal zu wenig darüber gesprochen.
({9})
Wir bekamen dann - regen Sie sich ab, dann rede ich weiter - die lange Periode des permanenten Neinsagens, verbunden mit zahlreichen Ankündigungen, die Regierung stürzen zu wollen, bis hin zum gescheiterten Mißtrauensvotum. Die Opposition wurde innen- und außenpolitisch weithin zu einer Größe, die den Eindruck erweckte, als sei ihr das Wohl der eigenen Partei noch wichtiger als das Wohl des Staates.
({10})
Die Opposition hat sich in die Rolle des ewigen Neinsagers hineinmanöveriert.
({11})
Wenn sie allein ihren Äußerungen treugeblieben wäre, hätte das z. B. zur Ablehnung der Verträge von Moskau und Warschau führen können. Sie hat zu spät gesehen, daß das nicht ging, und sie hat es nicht mehr geschafft - sie blickte wohl auch nicht mehr ganz durch, jedenfalls nicht rechtzeitig -, sich von dem Odium zu befreien, gegen den Osten und den Rat der Verbündeten im Westen zu gleicher Zeit zu sein.
({12})
Wer in einer Schicksalsfrage der Nation in die Enthaltsamkeit flüchtet, insoweit in einer Schicksalsfrage der Nation vor dem Gewissen flieht, der sollte nicht vom Gewissen reden, wenn von Mandatsüberträgern die Rede ist.
({13})
Zur Bilanz unseres Widerparts in diesen drei Jahren gehört die Tatsache, daß sie vom Protest gegen die Erklärung, die DDR sei ein Staat, heute zu einem Ja zum ersten Staatsvertrag mit der DDR gekommen ist. Die Opposition spürt wohl, daß sie nicht mehr gegen den weltpolitischen Strom schwimmen kann, aber sie möchte, daß es niemand merkt.
({14})
Es wäre gut zu wissen für dieses Haus und für die deutsche Öffentlichkeit, ob der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU bereit ist, auch hier im Bundestag zu sagen, daß seine Partei sich frei von sterilem Antisowjetismus früherer Jahre halten will, ob er die Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa unterstützt, ob er für ausgewogene Truppenverminderung ist, ob er eine Politik der Vernunft und nicht der Ideologie machen will,
({15})
und ich frage Herrn Dr. Barzel, ob er garantieren kann, daß sich auch Herr Strauß, Herr Marx und andere seiner Kollegen daran halten.
({16})
Die Opposition hat es auch schwer gehabt, weil sie eben mit Emotionen geweckt hat, derer sie nur schwer Herr wurde.
({17})
Sie hat mit vielen Zungen gesprochen, - eigentlich nur in dem verständlichen Wunsch, die Regierung zu stürzen. Sie hat sich weithin in der Tagestaktik erschöpft, ohne in diesen drei Jahren - für mich erkennbar - auch nur einen großen tragenden politischen Gedanken zustande gebracht zu haben.
({18})
Jetzt sagt sie, sie möchte künftig alles besser machen, obgleich sie vorher 20 Jahre Zeit dazu gehabt hat.
({19})
Versäumnisse von 20 Jahren haben wir nicht in drei Jahren aufarbeiten können; das stimmt.
({20})
Die Opposition rühmt sich, dies nach Kräften verhindert zu haben. Ich bin sicher, unser Volk wird sein unabhängiges Urteil zu fällen wissen.
Wenn in diesen drei Jahren nichts anderes passiert wäre als die eine Tatsache, daß nach einer 20jährigen Entwicklung des Auseinanderlebens die Menschen in Deutschland ein Stück einander nähergerückt sind,
({21})
wenn nichts sonst geschehen wäre, als daß wir den Frieden etwas sicherer gemacht haben,
({22}) wenn sonst nichts geschehen wäre als das Berlin-Abkommen - und dies alles gegen den erbitterten Widerstand der Opposition -,
({23})
wenn nichts anderes passiert wäre, dann wäre diese Bilanz gut und klar und überzeugend.
({24})
Der Opposition, die die Regierung übernehmen will, muß mit den Worten von Herrn Dr. Barzel gesagt werden: So nicht und jetzt nicht.
({25})
Herr Kollege Barzel, Sie sind nicht nur gescheitert,
({26})
als Kollegen Ihrer eigenen Fraktion Ihnen in geheimer Abstimmung die Gefolgschaft versagt haben.
({27})
Sie sind nicht nur gescheitert, als Sie in Ihrer Fraktion eine halbwegs realistische Haltung zu den Ostverträgen durchsetzen wollten. Sie sind auch gescheitert mit Ihrem dreijährigen Bemühen, die Arbeit der Regierung zu stören und lahmzulegen. Denn gelungen ist Ihnen letzten Endes nur die Lähmung dieses Parlaments; die ist Ihnen gelungen.
({28})
Ich nenne dies ein trauriges Ergebnis dreijähriger Arbeit einer zahlenmäßig so starken Opposition.
({29})
Ich sage Ihnen voraus, Herr Barzel: vor den Männern und Frauen in der Bundesrepublik werden Sie erneut, und zwar völlig zu Recht, scheitern mit Ihrem unseriösen Gerede zur Wirtschafts- und zur Finanzpolitik.
({30})
Das Patt im Bundestag ist entstanden, weil eine Reihe von Abgeordneten Fraktion und Partei gewechselt haben.
({31})
In diesem Zusammenhang ist es in der Tat überaus interessant zu lesen, was hierzu Dr: Erich Mende am 11. März 1956 erklärte Er erhob damals die Forderung, daß Abgeordnete, die aus ihrer Partei austreten, ihr Mandat niederlegen sollten,
({32})
und er kündigte an, daß er eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes beantragen wolle.
({33})
Denn - so Herr Mende damals - der Wähler könne kein Vertrauen mehr zu einem Kandidaten haben, wenn er damit rechnen müsse, daß Abgeordnete nach der Wahl von einer Partei zur anderen wechselten.
({34})
Wie wahr! Aber wenn wir uns fragen, warum die betreffenden Mitglieder des Hauses uns diesen Wanderungsverlust zugefügt haben, so lautet meine Antwort: nicht weil wir sie überrascht hätten, sondern weil sie - einige von Anfang an, andere später - nicht zu dem stehen wollten, was wir in unserer Regierungserklärung vom Oktober 1969 niedergelegt hatten.
({35})
Bei uns ist 1969 niemand mit Aussagen in den
Wahlkampf gezogen, die heute nicht mehr gelten.
({36})
Getäuscht worden ist keiner von denen, die ihre Abwanderung mit Gewissensgründen motivieren. Getäuscht haben sie allenfalls sich selbst und andere.
({37})
Auch Herr Katzer hat gestern von den Gewissensgründen seiner neuen Parteifreunde gesprochen. Vielleicht weiß er nicht so genau, wie grotesk es auf uns wirken muß, wenn man uns weismachen will, jemand müsse zu Strauß gehen, um Sozialdemokrat zu bleiben.
({38})
Wie dem auch sei, hätten wir einigen Wankelmütigen zuliebe auf das verzichten sollen, was wir den Wählern gesagt hatten und worauf wir uns in der Regierungserklärung verpflichtet hatten? Nein! Hätten wir auf die Verträge von Moskau und Warschau und die damit verknüpfte Berlin-Vereinbarung verzichten sollen? Nein! Hätten wir auf die so notwendigen innenpolitischen Vorhaben verzichten sollen? Ein solcher Verzicht wäre schlimmer gewesen als der Verlust der ohnehin knappen Mehrheit in diesem Hause.
({39})
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Nein, ich will jetzt zu Ende kommen.
({0})
Es war richtig, die neuen Initiativen zu ergreifen, wie es auch richtig war, die Große Koalition nicht fortzusetzen. Andernfalls wäre die politische Entwicklung zum Stillstand gekommen. Diese Regierungskoalition mußte gebildet werden, weil nur sie den Anstoß zu neuer vernünftiger Bewegung geben konnte. Wie recht wir damit gehabt haben, hat ja bei allem Schwanken das Verhalten der Opposition bei der Ratifizierung der Ostverträge dann doch bewiesen. Dasselbe zeigt sich bei dem, wenn auch nur zögernd wachsenden Reformbewußtsein im Bereich der Christlichen Demokraten.
Aber immer noch ist das Verhalten der Union gerade auf diesem Gebiet widersprüchlich. Das wird uns z. B. klar, wenn wir den Vorwurf hören, die Politik sei gescheitert, und wenn man gleichzeitig auf die Feststellung Wert legt, man sei dabei gewesen - „me too", wie man bei den Angelsachsen sagt -, die Opposition hätte, was ja stimmt, bei zahlreichen, ja, bei den meisten der hier verabschiedeten Gesetze mitgewirkt.
({1})
Dabei ist allerdings gleich hinzuzufügen, daß die meisten dieser Reformwerke gar nicht auf den Tisch dieses Plenums gekommen wären, wenn wir sie nicht eingebracht hätten.
({2})
Wir haben weder zuviel versprochen noch zuwenig gehalten. Wir haben in diesen drei Jahren mehr geschafft, als wir uns vorgenommen hatten.
({3})
Und wir werden das, was liegengeblieben ist, weil die Zeit nicht reichte oder nicht das Geld oder weil sich die Opposition oder der Bundesrat querlegte,
({4})
in den nächsten vier Jahren vollenden. ({5})
In diesem Bundestag ist viel gestritten, aber auch viel gearbeitet worden. Es wäre ungerecht, wenn dies nicht über allen Parteienstreit hinweg anerkannt würde. Ich hoffe dabei, daß hier auch viele von uns die Sorge teilen, die sich auf die Verhärtung der Fronten im ganzen bezieht.
Die Regierung wird jedenfalls weiter ihre Pflicht tun, wie es sich gehört. Gleichzeitig werden wir Rechenschaft geben und uns um neues Vertrauen bemühen, um dieses Vertrauen werben, um auf der nächsten Wegstrecke das Menschenmögliche für unser Volk zu erreichen.
({6})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß. Für ihn ist eine verlängerte Redezeit beantragt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem Genuß, die Rede des Bundeskanzlers anhören zu dürfen, mußten einen zwiespältige Überlegungen und Gefühle erfüllen. Wenn jemals ein Bundeskanzler einer CDU/CSU-geführten Regierung so gesprochen hätte, wäre ihm mit Sicherheit von der damaligen Opposition, der SPD, in Rede und Zuruf das Wort „Demagoge" entgegengeklungen.
({0})
Aber am Ende der Rede muß ich, versöhnlicher gestimmt und heiterer veranlagt, sagen: er bemüht sich offensichtlich, in der Reihe der Humoristen wider Willen einen Platz in der Führungsloge einzunehmen; als er nämlich davon sprach, daß diese Regierung noch mehr gehalten habe, als sie sich vorgenommen habe.
({1})
Herr Bundeskanzler, dieser Satz verdiente es, als
kabarettreif in die Parlamentsgeschichte einzugehen.
({2})
- Das war die einzige echte Reform!
({3})
Der Bundeskanzler hat hier eine Rede gehalten, an deren Ende ich nach den neuen plebiszitären Anklängen, daß die Vertrauensfrage nicht dem Parlament, sondern dem Volk zu stellen sei, einen Appell an das deutsche Volk erwartet, die Opposition zu stürzen.
({4})
Diese Rede konnte man nur so verstehen, daß die Opposition gescheitert sei und daß man sie wegen ihrer jahrelang bewiesenen Unfähigkeit endlich abschaffen solle, damit die Regierung ihre Kräfte, Vorzüge und Tugenden sozusagen ungebremst auf die Achse bringen könne.
({5})
Aber, Herr Bundeskanzler, wir sind heute nicht hier, um über die Opposition zu reden, was Ihr gutes Recht ist. Wir sind heute hier, um die Frage zu entscheiden, ob Sie noch eine parlamentarische Vertrauensbasis haben und regierungsfähig sind. Das ist die Frage, um die es hier geht.
({6})
- Sie können sich darauf verlassen, daß ich dazu Stellung nehmen werde.
Herr Bundeskanzler, ein Blick auf das Impressum einer in diesen Tagen allen deutschen Haushaltungen - wenn auch zum Teil mit Verzögerung - zugehenden Postwurfsendung hat mich beruhigt. Es ist der Vorstand der SPD, der diese Postwurfsendung herausgibt; es ist ausnahmsweise nicht das Bundespresse- und Informationsamt. Das ist ein Aufruf: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Unterschrieben: Mit besten Grüßen, Ihr Willy Brandt, Bundeskanzler und Vorsitzender der SPD. In diesem Appell an die Mitbürgerinnen und Mitbürger heißt es:
Ich möchte, daß Sie alle wissen, warum es in diesem Jahr Wahlen geben soll.
1969 entschied sich die Mehrheit der Wähler für die SPD/FDP-Koalition. Meine Regierung erhielt einen klaren Wählerauftrag für ihre Reform- und Friedenspolitik. Dieses Wahlergebnis von 1969 wurde durch einige Mandatsüberträger zugunsten der Opposition verschoben. Doch nicht ein paar Überläufer dürfen, sondern das ganze Volk soll entscheiden, wem es sein Vertrauen gibt. Daher halte ich Neuwahlen für unumgänglich.
Schon in diesen beiden Absätzen steckt eine ganze Fülle von Unwahrheiten und unzutreffenden Schlußfolgerungen.
({7})
Heute ist schon mehrmals von dem schwer deutbaren Begriff des Wählerwillens gesprochen worden. Aber die Tatsache, daß sich die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause verschoben haben, beweist, daß eine ganze Reihe von Abgeordneten, die für eine ganz bestimmte Politik im Wahlkampf eingetreten waren, es vor dem Wähler nicht mehr verantworten konnten, den Verrat an dieser Politik mit ihrer Zugehörigkeit und ihrem Verbleib bei ihrer bisherigen Partei zu decken. Darum haben Sie die Mehrheit verloren.
({8})
Im übrigen lassen Sie mich Ihnen, Herr Wehner, weil ich Sie gerade sehe,
({9})
folgendes sagen. Sie haben sich heute, was Ihnen ja nicht schwerfällt, furchtbar über den „Alptraum" erregt, daß wir beinahe einen Bundespräsidenten namens Gerhard Schröder bekommen hätten, der mit den Stimmen der NPD gewählt worden wäre. Dazu darf ich zunächst folgendes sagen. In der Großen Koalition hat sich der SPD-Partner immer für einen Verbotsantrag gegen die NPD ausgesprochen. Ich war, wie die meisten meiner CDU/CSU-Kollegen im Kabinett, aus politischen Gründen anderer Meinung. Ich war dafür, den Kampf der politischen Ebene zu führen. Nichts hätte, wenn schon das Thema NPD anklingt, diese Regierung daran gehindert, den Verbotsantrag zu stellen. Sie hat ihn aber nicht gestellt, weil sie sonst hätte rot werden müssen, wenn sie einen solchen Antrag nicht auch gegen die DKP gestellt hätte. Darum ist er unterblieben.
({10})
Wir wissen, auf welch eigenartigem Wege die DKP ihre Wiederzulassung zum politischen Leben gefunden hat. Ich will mich auf diese Bemerkung beschränken.
Aber, Herr Wehner, da Sie schon so gut im Zusammenrechnen sind: Haben Sie sich eigentlich einmal überlegt, wie viele Mandate die jetzige Regierungskoalition durch die Aufteilung der NPD-Stimmen bei der Zurechnung der Mandate nach dem d'Hondtschen Verfahren bekommen hat? Wenn Sie das nachrechnen, können Sie, solange noch die normalen Gesetze der Arithmetik gelten, nicht bestreiten, daß Sie mit einer Reihe von umgerechneten NPD-Stimmen Ihre künstliche und vom ersten Tag an knappe Mehrheit überhaupt erreicht haben.
({11})
- Ich habe dieses Thema nicht angeschnitten. Aber wir bleiben Ihnen, Herr Wehner, darauf bestimmt die Antwort nicht schuldig.
({12})
- Im Gegensatz zu Ihnen, ja.
({13})
- Im Gegensatz zu Ihnen, ja.
Hier ist das Wort von den „Mandatsüberträgern" gefallen, und dann war von den „Überläufern" die Rede.
({14})
Ich kann mit Stolz vermerken, daß wir uns in unseren Reihen in stetiger Weiterentwicklung unserer Politik, aber auch unter stetiger Beibehaltung unserer Grundsätze und Zielorientierungen mit diesem Thema so gut wie nie zu beschäftigen brauchten, und zwar aus gutem Grunde, was nicht heißt, daß es nicht auch bei uns Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze gibt. Aber diese sind immer auf dem Boden der gemeinsamen Grundsätze und der gemeinsamen Zielorientierungen in allen Fragen ausgetragen worden.
Ich war vorgestern - ich sage das nicht, um hier Gefühle anzusprechen
({15})
- nein, das liegt mir auch nicht; das wissen Sie -, gelinde gesagt, erstaunt darüber, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich vor Lachen kaum halten konnten, als der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Rainer Barzel, von den ehrenwerten Motiven z. B. der Kollegen Klaus-Peter Schulz, Hupka und anderer sprach. Das verrät wenig Toleranz, wenig Achtung vor der Gewissensfreiheit und wenig Achtung vor der Freiheit des Abgeordneten nach dem Grundgesetz.
({16})
Lassen Sie mich von den vielen Fällen, über die hier zu reden wäre, nur den einen herausgreifen, mit dem ich persönlich am allerwenigsten zu tun hatte, weil ich den Betreffenden, von einigen Aufsätzen abgesehen, in meinem politischen Dasein kaum jemals näher kennengelernt hatte und keinen Kontakt mit ihm hatte. Ich meine Klaus-Peter Schulz. Aber ich weiß noch etwas über diesen Mann aus der Zeit, als wir in der deutschen Politik nach dem Zweiten Weltkriege anfingen und als es einige Entscheidungen gab, wo es in unserem Lande auf Spitze und Knopf ging. Es ging nämlich darum, in Berlin eine Volksabstimmung zu organisieren, um den von den Westmächten besetzten Teil Berlins nicht auch dem Gleichschaltungsprozeß SPD/SED auszuliefern. Das war damals die Aktion, die von Dr. Schumacher unternommen wurde und deren Initiator und Organisator Klaus-Peter Schulz war.
({17})
Und wenn dieser Mann nach 40jähriger Zugehörigkeit zur SPD und zum Deutschen Gewerkschaftsbund, ein Mann, der von uns wahrlich nichts gewollt hat, eines Tages nach vielen Warnungen gesagt hat: Ich kann nicht mehr, dann sind seine Motive mindestens genauso ehrenwert wie die derer, die von Friedenspolitik reden, um damit in hämischer Weise uns eine gegenteilige Gesinnung unterschieben zu wollen.
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch heute, als der Abgeordnete Günther Müller sprach, gesagt: Das ist doch ein Lügner.
({19})
Sie haben das gesagt, als Günther Müller davon sprach, daß der jetzige SPD-Unterbezirksvorsitzende von München, der Nachfolger des ruhmlos von diesem Posten verschwundenen Hans-Jochen Vogel, der von ihm vorher so heftig bekämpfte Schöfberger, den in diesem Bundestag als Nachfolger Günther Müllers im gleichen Wahlkreise demnächst zu erleben wir möglicherweise die Ehre haben werden, bei der Einweihung eines Bürgerforums in München eben diesem Dr. Müller und einem anderen aus der SPD ausgetretenen Kreisvorsitzenden in München als Geschenk eine vom Zentralkomitee der SED herausgegebene Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung mitgebracht hat, in der Ebert, Schumacher und Ollenhauer als Arbeiterfeinde und Arbeiterverräter bezeichnet werden.
({20})
Daß so etwas möglich ist - und nicht nur das; es gibt ja noch andere Beispiele -, daran sind Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Eigenschaft als Bundesvorsitzender der SPD schuld, weil Sie sich, um die künstliche Einheit in Ihrer Partei nach außen aufrechterhalten zu können, um diese Auseinandersetzung so lange herumgedrückt haben, bis Sie Gefangener Ihrer eigenen Untätigkeit und Ihrer eigenen Versäumnisse geworden sind.
({21})
Herr Bundeskanzler, dies ist auch die Stunde, in der die Opposition mit der Regierung Abrechnung hält. Meine Kollege Dr. Barzel, Herr Bundeskanzler, wird sich als letzter Sprecher der CDU/CSU-Fraktion heute noch mit dem, was Sie zur Europapolitik und zur Ostpolitik an richtigen und an falschen Dingen vorgetragen haben, eingehend beschäftigen. Wenn ich darauf verzichte, dann nicht deshalb, weil ich wegen Ihrer Angriffe dazu nichts zu sagen hätte, sondern deshalb, weil das Herrn Dr. Barzel überlassen bleibt, der es
({22})
Ihnen schon so sagen wird, wie es die gemeinsame Haltung der Fraktion der CDU/CSU ist.
({23})
Ich brauche jetzt noch so eine kleine humoristische Einlage, um zu etwas Stellung zu nehmen, was in Ihrem Wahlaufruf mit Ihrer Unterschrift steht. Da heißt es:
Neuwahlen kann es jedoch nur geben, wenn zuvor der Bundestag aufgelöst wird.
({24})
Das ist eine allgemeine staatspolitische Belehrung.
Um das möglich zu machen, mußte mir daran
liegen, die Vertrauensfrage unter dem Strich
nicht zustimmend beantwortet zu bekommen.
({25})
Das ist eine völlig neue Deutung dieses Vorgangs. Sie haben am 28. April in diesem Hause, als Ihr Haushalt abgelehnt wurde, erlebt, daß Sie keine parlamentarische Mehrheit mehr haben. Zu dem Thema müßte man noch eingehender reden, wie demokratisch und rechtsstaatlich der Verbleib einer Regierung ist, die mit finanziellen Notstandsmaßnahmen arbeitet, bloß weil sie die fällige Entscheidung, die heute fällt, ein halbes Jahr lang hinausgeschoben hat.
({26})
Ihnen mußte aber daran liegen, daß die Vertrauensfrage „unter dem Strich nicht zustimmend beantwortet" wird.
({27})
Herr Bundeskanzler, das ist eine völlig neue Deutung. Sie haben keine Mehrheit mehr, und jetzt tun Sie so, als ob es Ihr Wille und Ihre Absicht Beweisen sei, bei dieser Vertrauensabstimmung gar keine Mehrheit zu bekommen.
({28})
„Um das möglich zu machen, muß mir daran liegen, die Vertrauensfrage unter dem Strich nicht zustimmend beantwortet zu bekommen."
({29})
Dann können die Mitglieder der Bundesregierung, die Mitglieder des Parlaments sind - und das sind doch wohl alle -, doch heute abstimmen. Sprechen Sie sich selbst das Vertrauen aus, und dann wird sich herausstellen, ob Sie eine Mehrheit bekommen oder nicht. Sie wollen doch die Auflösung, weil Sie kein Vertrauen mehr haben, und Sie haben doch nicht deshalb kein Vertrauen mehr, weil Sie die Auflösung wollen.
({30})
Herr Kollege Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mattick?
Herr Wehner hat vorhin auch keine beantwortet. Darum verzichte auch ich vorerst darauf.
„So ungewöhnlich das auch sein mag", so heißt es hier weiter, „so ist das der einzig gangbare Weg." Ein Bundeskanzler hat keine Mehrheit mehr, er ordnet aber an, daß er die Vertrauensabstimmung verliert, weil das der einzig mögliche Weg ist, um zu Bundestagswahlen zu kommen. Er braucht Bundestagswahlen, um im Falle eines Sieges Weiterregierung zu können. Herr Bundeskanzler, was ist das für eine ganz grobe Irreführung der deutschen Offentlichkeit?!
({0})
Dann kommt etwas, was, wenn jemand das Grundgesetz kennt, eine bewußte Unwahrheit ist, nämlich die Behauptung: „So ungewöhnlich das auch sein mag, das ist der einzig gangbare Weg." Das ist nicht wahr. Es hätte neben dem Weg, die Vertrauensfrage in der Hoffnung zu stellen, daß man eine Mehrheit bekommt, auch den Weg des Rücktritts gegeben. Nach diesem Rücktritt hätte das Parlament Zeit gehabt oder es auch ablehnen können, den Versuch einer neuen Regierungsbildung zu unternehmen. Die Behauptung aber, daß Sie die Vertrauensfrage haben wollten, stimmt doch gar nicht. Sie haben sie doch so lange wie möglich hinausgeschoben, bis in unserem Lande die Verhältnisse untragbar geworden waren. Daran sind doch nicht wir schuld, sondern Sie allein sind schuld daran.
({1})
Es gibt Stimmen in Ihrem eigenen Lager - wenn ich Sie so anschaue, Herr Wehner - -({2})
- Ja, das ist so die übliche Redensart,
({3})
wenn einer möglicherweise seine letzte Rede als Fraktionvorsitzender gehalten hat.
({4})
- Ja, warum denn nicht. Darum enthalte ich mich einer Wertung.
Aber dieser Bundeskanzler mußte doch die Vertrauensfrage stellen, weil er in diesem Parlament keine Mehrheit mehr hatte, also im parlamentarischen Sinne nicht mehr regierungsfähig war. Wir haben in den letzten Monaten immer gehört, die Regierung sei handlungsfähig, aber das Parlament sei nicht handlungsfähig. Die Handlungsfähigkeit einer demokratischen Regierung beruht doch darauf, daß sie ihre Auffassungen im Parlament mit ihrer Mehrheit durchsetzen kann.
({5})
Was sind denn das für Vorstellungen: „Die Regierung ist handlungsfähig"? Jede Regierung ist handlungsfähig, der man den Staatsapparat in die Hand gibt und der man absolute Vollmachten verleiht, ohne Parlament regieren zu können. Das Wesen der parlamentarischen Regierung ist, daß zu ihrer HandStrauß
lungsfähigkeit eine wenn auch noch so knappe Mehrheit gehört, mit der sie nicht zuletzt und in erster Linie auch ihren Haushalt genehmigt erhalten kann. Was hier in den letzten Monaten geschehen ist, daß mit den Artikeln 111 und 112 regiert wurde, Herr Bundeskanzler, muß noch gründlich überprüft werden. Hier ist die Frage, ob eine Verfassungsklage angebracht wäre, angesichts der Ausgaben, die in diesem Jahr geleistet wurden, ernsthaft zu prüfen.
({6})
Wir gehen in das Jahresende hinein, ohne daß - zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik - eine Regierung für das laufende Haushaltsjahr einen parlamentarisch genehmigten Haushalt hat. Die Regierung mißachtet die Rechtsvorschriften, sie legt für das Jahr 1973 nur ein Haushaltsgerüst vor, weil sie den Offenbarungseid auf diesem Gebiet vermeiden will. Die Regierung wäre angesichts des Wahltermins verpflichtet - sei es der 19. November, sei es der 3. Dezember -, den Haushalt 1973 vorzulegen.
Hier besteht ein ganz gewaltiger Unterschied zu der von allen im Jahre 1969 getroffenen Vereinbarung. Damals bin ich gebeten worden, die künftige Regierung - da die beiden großen Parteien auseinandergehen wollten, nach der Wahl also entweder eine CDU/CSU- oder SPD-geführte Regierung übrigbleiben würde - nicht zu präjudizieren. Die neue Regierung hat auch von uns damals, wie Sie wissen, Herr Gallus, einen langen Rabatt bekommen, um den Haushalt verspätet vorlegen zu können, weil wir eingesehen haben, daß es Herrn Alex Möller nicht möglich war, noch im Herbst 1969 oder in den ersten Monaten 1970 diesen Haushalt vorzulegen.
Aber ich spreche von Ihrer Behauptung: Die Vertrauensfrage ist zur Auflösung des Bundestags gestellt worden, und: ich mußte diesen Weg gehen, damit unter dem Strich keine Mehrheit herauskommt. Warum wünschen Sie denn unterm Strich keine Mehrheit? Entweder haben Sie keine, oder Sie kriegen keine! Aber man kann doch nicht sagen: Ich wünsche keine Mehrheit, damit ich Neuwahlen herbeiführen kann. Sie wollten sie doch gar nicht. Wenn Sie frühzeitig den richtigen Weg gegangen wären, dann wären Sie zurückgetreten, Herr Bundeskanzler! Die Behauptung, daß es keinen anderen verfassungsmäßigen Weg gibt, ist einfach falsch; sie ist eine Irreführung der Offentlichkeit.
({7})
Ich will hier nichts zu anderen Details sagen, über die man noch reden könnte, mit Ausnahme vielleicht einer einzigen Bemerkung, die einfach von Schäbigkeit zeugt. In dem Beitrag, den ein Rentnerehepaar leistet - die Rentner müssen wieder einmal für die Regierungspropaganda, für SPD-Propaganda antreten, wie schon die Mutter des Kriegers im Landtagswahlkampf Baden-Württemberg für die Friedenspolitik -, heißt es:
Große Worte zählen bei uns Rentnern nicht.
Der Krankenversicherungsbeitrag für Rentner
wurde unter Kiesinger eingeführt und von der
jetzigen Regierung aufgehoben. Nicht nur das. Die einbehaltenen Beträge wurden uns auch wieder zurückgezahlt. Das zählt.
Das ist schäbig, und zwar deshalb, weil diese Maßnahme zur Ordnung der öffentlichen Finanzen nach Prüfung vieler Maßnahmen, zu denen ursprünglich härtere gezählt haben, auch solche, die von SPD-Ministern vorgeschlagen waren, im Finanzkabinett einstimmig von den Mitgliedern der CDU/CSU und der SPD vorgeschlagen und im Kabinett einstimmig gebilligt worden sind.
({8})
Aber hier so zu tun, als ob die Regierung Kiesinger diesen Rentnerbeitrag eingeführt hätte, d. h. unter Hervorhebung des Namens Kiesinger, und die jetzige Regierung ihn aufgehoben hätte,
({9})
ist ein unehrliches Spiel und ist für jedermann, der als Partner mit einer solchen Partei zusammenarbeitet, eine höchst makabre Warnung.
({10})
Man sollte das, was man gemeinsam beschlossen hat, auch gemeinsam tragen!
({11})
Wir haben damals manches geschluckt, was wir nicht wollten. Und die andere Seite mußte manches schlucken, was sie nicht wollte. Und dann gingen die Meinungen auch unter den Partnern bei der Erarbeitung von finanziellen Einsparungen kreuz' und quer. Das nur zu der Methode, die hier angewandt worden ist.
Nun hat der Herr Bundeskanzler auch noch etwas zum politischen Koordinatensystem gesagt. Er meinte, hier sei eine Mitte, und dann sei hier etwas Mitte-Links, und dann etwas Mitte-Rechts,
({12})
und die großen Aufgaben von morgen könnten nur von Mitte-Links, aber nicht von Mitte-Rechts bewältigt werden, und es käme zu schweren Spannungen und Zusammenstößen darüber, wo nun der Schwerpunkt der politischen Entscheidungen liege.
Herr Bundeskanzler, diese Darstellung ist zwar sehr einschmeichelnd, aber sie entspricht nicht der Wahrheit. Denn Sie und Ihre Partei haben in diesem Lande das politische Koordinatensystem nach links verschoben. Sie haben heute gesagt - und Sie haben es auch in anderen Reden zu sagen versucht -, daß konservative und reaktionäre Kräfte den gesellschaftlichen Aufgaben von heute und morgen nicht genügten. Lassen Sie mich gerade im Zusammenhang mit der Ostpolitik, die heute von Ihnen reichlich strapaziert worden ist, sagen: Wir sind nicht deshalb rechts, weil etwa wir hier einen Standpunkt einnehmen, der sich von unseren früheren Standpunkten der Mitte unterscheidet, sondern wir werden deshalb von Ihnen in einem großen prapagandistischen Vernebelungs- und Vertuschungsmanöver in eine falsche Ecke gedrängt, weil Sie heute die Politik verraten haben, die Sie seinerzeit in vielen Reden vertreten haben, und
weil Sie heute eine Politik vertreten, die Sie damals als Verrat und Verzicht bezeichnet haben.
({13}) Ich möchte diese Debatte
({14})
jetzt im einzelnen nicht wieder aufleben lassen, die wir schon manchmal in diesem Hause geführt haben. Aber man kann nicht andere aus Gründen des eigenen schlechten Gewissens unter Vertuschung des eigenen Standortwechsels in der Offentlichkeit zu diffamieren versuchen.
Die CDU/CSU ist und bleibt - das gilt für beide Teile dieser Unionszusammengehörigkeit - eine Partei der Mitte.
({15})
Sie sind mit Ihrer Partei von Jahr zu Jahr in der Innen- und in der Außenpolitik weiter nach links abgerutscht. Darum versuchen Sie heute, ein falsches Koordinatensystem vor den Augen der Offentlichkeit aufzubauen.
({16})
- Sie wären ja froh, wenn Sie ihn hätten.
({17})
Heute ist viel von den Abgeordneten die Rede gewesen, die ihre Fraktionen verlassen haben. Nun, vielleicht ist das Zeugnis eines Kollegen, der auch seine Fraktion verlassen hat, der nicht zu uns übergetreten ist, des Herrn Kienbaum, nicht ganz ohne Interesse. Er hat ja heute einen Brief veröffentlicht. In diesem Brief heißt es:
Meine bisherige Zurückhaltung . aus Rücksichtnahme auf die Partei, für die ich 25 Jahre meine Zeit, meine Kraft und mein Herz eingesetzt habe, muß ich nunmehr aufgeben. Die Politik des Bundeskanzlers Brandt war trotz meines mehrjährigen Widerstandes bewußt oder unbewußt auf Beseitigung von Wettbewerb im Arbeitsmarkt, auf Garantie der Überbeschäftigung ausgerichtet.
Brandts Politik habe uns bis heute bereits eine so einmalig lange Liste von Schäden eingetragen, daß selbst Scheel einmal gesagt habe: allein die Aufzählung verschlage einem den Atem.
({18})
Ich zitiere nur jemanden, der zuerst seine Fraktion verlassen hat, dann seine Partei verlassen hat, der aber kein Mandatsüberträger war, um in Ihrem Jargon zu reden, Herr Bundeskanzler.
Erlauben Sie mir noch ein paar Bemerkungen zu dem „Wir haben mehr gehalten, als wir versprochen haben".
({19})
- Allerdings! Darüber muß man noch oft reden, Herr Wehner; denn das ist mit einem Thema nicht ausgeschöpft.
({20})
Ich weiß zwar nicht, ob die oftmalige Erwähnung des Städtebauförderungsgesetzes heute nur ein Sprung in der Platte war oder ob das mit Absicht so aufgeführt worden ist. Aber aus der Ferien-Wahlillustrierten der SPD vom August 1969, Auflage 5,5 Millionen, ein markiges Wort des späteren Bundeskanzlers:
Als Bundeskanzler werde ich die Deutsche Mark hart und stabil halten. Denn Verbraucher und Sparer dürfen nicht auf kaltem Wege enteignet werden. Ich werde nicht zulassen, daß notwendige wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen aus parteitaktischen Gründen auf die lange Bank geschoben werden.
({21})
Hat denn diese Regierung nicht alles versäumt, was rechtzeitig hätte getan werden müssen, um das Ansteigen der Preisrate durch geeignete Maßnahmen zu bekämpfen?
({22})
In der Regierungserklärung heißt es:
Binnenwirtschaftlich wird die Aufwertung die
Preisentwicklung des Jahres 1970 dämpfen....
({23})
Ohne Aufwertung wäre eine weitere Zuspitzung der Konjunkturlage mit der Gefahr einer nachfolgenden Rezession kaum vermeidbar gewesen. Unser Ziel lautet: Stabilisierung ohne Stagnation.
Ich will hier nicht zu dem Thema der Aufwertung reden, obwohl ich das sehr gerne tue. Aber wenn der Bundeskanzler sagt: „Wir haben mehr gehalten, als wir versprochen haben", wenn er sagt: „Als Bundeskanzler werde ich die Deutsche Mark hart und stabil halten", so kann ich nur erwidern: was haben wir denn 1969 und im folgenden Jahre 1970 in diesem Hause an Auseinandersetzungen ausgestanden, wo wir der Regierung konjunkturpolitische Untätigkeit vorgeworfen haben? Herr Bundeskanzler, wer hat den deutschen Wählern denn in der Regierungserklärung im Oktober 1969 als Geschenk Steuersenkungen ab 1. Januar 1970 in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM versprochen? Daß waren doch nicht wir von der Opposition, sondern Sie! Sie haben eine Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrags und den Wegfall der Ergänzungsabgabe in Raten versprochen. Von der Steuersenkung ist nichts, aber auch gar nichts wahr geworden. Sie haben - ich muß das hier deutlich sagen, weil Sie auch sehr harte Worte gebraucht haben - diesen Schwindel noch in den Landtagswahlen 1970 aufrechterhalten. In der Woche nach den Landtagswahlen sind Sie dann mit der Wahrheit herausgekommen und haben die Steuersenkungen dann fallengelassen, weil sie konjunkturpolitisch schädlich wären; acht Tage vorher wahr Ihnen das noch nicht eingefallen.
Hat der Steuerzahler in der Zwischenzeit nicht tiefer in die Tasche greifen müssen? Allein in einem Jahr erhöhten sich die Verbrauchsteuern um 4 Milliarden DM. Wie steht es mit der Erhöhung der Gebühren und der Tarife bei Bahn und Post? Das ist eine Last, die den kleinen Mann und nicht nur die „kapitalistische" Wirtschaft betrifft. 12 Milliarden DM beträgt die Differenz zwischen dem, was Sie versprochen haben, und dem, was Sie nicht gehalten haben. Und da sagen Sie: Ich habe mehr gehalten, als ich versprochen habe. Sie haben hier kein Wort mehr von Steuersenkungen gesagt. Wie gesagt, die Differenz beträgt 12 Milliarden DM, während Sie Steuersenkungen in der Größenordnung von 2 Milliarden DM versprochen haben. Sie haben nichts von den Tarif- und Gebührenerhöhungen gesagt, die in einer Größenordnung von 6 Milliarden DM auf den Verbraucher herniedergehen. 4 weitere Milliarden DM kommen durch Steuererhöhungen hinzu. Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Darum haben Sie draußen in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen verloren, und aus diesem Grunde sind Sie reif zur Ablösung.
({24})
Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, daß Sie, wie Sie es oft getan haben, immer wieder sagen: Auch ich bin besorgt und beunruhigt über die Preisentwicklung. - Das kann eine einkaufende Hausfrau sagen, aber nicht der Regierungschef.
({25})
Haben Sie nicht im Jahre 1970 gesagt: Wenn die Preiserhöhungen 4 % erreichen, wird es ernst? Haben Sie nicht immer dann, wenn einer Ihrer Finanzminister in Schwierigkeiten geriet, seine Ablösung unter anderem damit begründet, daß Sie sich der Dinge nun selber mehr annähmen?
({26})
Das haben Sie gesagt, um wieder eine vorübergehende Beschwichtigungsformel zu haben. Ist es nicht das typische Zeichen versagender Regierungen, Probleme, die nicht gelöst werden konnten, durch Wechsel der Personen vor der Öffentlichkeit als lösungsmöglich oder gelöst ausweisen zu wollen?
({27})
Warum ist denn der Kollege Alex Möller gegangen? Stimmt denn das nicht, was Sie damals im Fernsehen gesagt haben? Ich habe sehr wohl Ihren letzten Artikel im SPD-Pressedienst gelesen: Am Anfang steht die Laudatio, und am Schluß kommt der Pferdefuß. Ich kann mir vorstellen, daß bei Ihnen bittere Gefühle angesichts ihrer Behandlung zurückgeblieben sind. Haben wir nicht oft verlangt, daß der Rücktrittsbrief von Alex Möller und der von Karl Schiller veröffentlicht werden sollen? Hier handelt es sich doch nicht um Staatsgeheimnisse. Es war der Vorschlag des Justizministers der SPD, Heinemann - wir sind diesem Vorschlag gefolgt -, den Begriff der Staatsgeheimnisse auf Sicherheitsprobleme, nicht einmal auf die Interessen der Bundesrepublik einzuschränken. Aber ist denn der Rücktrittsbrief eines Ministers ein persönliches Geheimnis des Kanzlers oder ein Staatsgeheimnis der Re. gierung?
({28})
Warum hat man uns diesen Brief nicht gezeigt? Warum braucht man die Steuerfahndung, um eine Kopie des Rücktrittsbriefes von Schiller aus dem Panzerschrank des Korrespondenten einer Illustrierten zu bekommen: Herr Bundeskanzler, das sind doch Vorgänge, die in einer normalen Regierung mit normalen Umgangsmethoden undenkbar sind.
({29})
Warum haben Sie uns diese beiden Rücktrittsbriefe nicht gezeigt? Diese beiden Minister sind doch zurückgetreten, weil es um das Geld in unserem Lande ging. Wenn es um das Geld in unserem Lande geht, dann sind es nicht, sehr verehrter Herr Schäfer, militärische Sicherheitsprobleme, militärische Geheimnisse; wenn es um das Geld geht, so ist das unser aller Angelegenheit.
({30})
Wenn der für das Geld verantwortliche Minister zuerst gegenüber seiner Regierung - siehe Schillers Kabinettsvorlage vom 18. Mai - erklärt, er könne nicht mehr weitermachen - früher hat Alex Möller dasselbe erklärt -, dann ist das eine Angelegenheit, die nicht in die Privatsphäre des Bundeskanzlers fällt, eine Angelegenheit, deren Behandlung unsererseits nicht Diffamierung oder Polemik oder Demagogie ist, sondern eine Angelegenheit, die wir in Wahrnehmung der Interessen der Steuerzahler und der Bürger dieses Landes hier aufgreifen.
({31})
Herr Bundeskanzler, wissen Sie, daß die Preissteigerungen im Jahre 1968, im letzten Jahr der Großen Koalition, wenn man die Lebenshaltungskosten zugrunde legt, 1,7 % betrugen, 1969 2,7 %, 1970 3,8 %, 1971 5,2 %, 1972 5,7 % und 1973 - wenn wir gut wegkommen - knapp unter 6 % liegen werden, daß aber auch ein Ergebnis von über 6 % möglich ist? Herr Bundeskanzler, ist das spurlos an Ihnen vorbeigegangen? Hat man es Ihnen nicht erzählt?
Ich gebe Ihnen jetzt ein ganz konkretes Beispiel: Wer im Herbst 1969 20 000 DM als Bausparer gespart hatte, besitzt davon, wenn man den Betrag real umrechnet in den Bauwert des Jahres 1972, nur noch 15 000 DM, obwohl er weitergespart hat. Wer sich im Herbst 1969 zum Erwerb einer Eigentumswohnung zum Preis von 100 000 DM entschlossen hatte, dafür Jahr für Jahr 3600 DM gespart und mit Prämien und Zinsen innerhalb von drei Jahren 12 441 DM an Sparguthaben erworben hat, der steht heute schlechter als zu Beginn seiner Spartätigkeit. Als er noch nicht angefangen hatte zu sparen, fehlten ihm zum Erwerb seiner Eigentumswohnung 100 000 DM. Nach drei Jahren Regierung Brandt/ Scheel fehlen ihm trotz seines Sparguthabens 122 000 DM, weil dieselbe Wohnung, die er damals für 100 000 DM bekommen hätte, heute 135 000 DM kostet. Dabei sind noch nicht einmal die Verhält11780
nisse in den Großstädten zugrunde gelegt, die noch wesentlich ungünstiger sind.
({32})
- Da sehe ich Ihre ganze volkswirtschaftliche Ignoranz und Unkenntnis der Probleme.
({33})
Nehmen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis - wenn Sie es selber nicht begreifen, nehmen Sie Nachhilfeunterricht und lassen Sie es sich erklären -: Die Inflation treibt die Baupreise hoch; die Baupreise treiben nicht die Inflation hoch. Das erzählt Ihnen jeder, der auch nur die blasseste Ahnung davon hat.
({34})
Wann sind denn die Dinge in dieser Weise in Bewegung geraten? - Sie sind in Bewegung geraten vom Herbst 1969 an. Diese akuten Zahlen sind noch die Durchschnittswerte. Das ist doch die soziale Wahrheit in unserem Lande.
Sie haben versprochen, daß der kleine Verbraucher, der Rentner, der Sparer nicht geschädigt werden darf. Das ist doch ein leeres Wort. Er ist doch geschädigt worden.
Ich gehöre nicht zu denen, Herr Bundeskanzler, die jemals eine totale Preisstabilität versprochen haben. Es waren Ihre Parteifreunde, wenn auch heute dieser Begriff bei Ihnen manchmal schon fragwürdig geworden ist, die damals sagten: 4, 3, 2, 1, 1/2 % usw. Ich habe in diesem Hause als Bundesminister der Finanzen öfter erklärt, daß für mich in der Reihenfolge der Prioritäten gemäß unseren gemeinsamen Auffassungen der CDU/CSU die Vollbeschäftigung an erster Stelle steht. Ich habe hier und auch draußen im Lande gesagt: Wer die Arbeitslosigkeit jener Jahre am Ende der Weimarer Republik kennengelernt hat, der kommt nicht auf die Idee, mit dem Mittel der Arbeitslosigkeit als einem Mittel der Konjunktursteuerung auch nur gedanklich zu spielen.
({35})
Ich habe immer erklärt, daß die politische und die soziale Stabilität den Vorrang hat vor einer Verehrung des Geldwertes als einer absoluten, gewissermaßen dogmatischen Größe.
Sicherlich haben die Übertreibungen auf allen Seiten - staatlich und privat - in den Jahren 1966/67 zu einem Einbruch geführt, zu einem Warnzeichen in der Vollbeschäftigung, einem Warnzeichen, das bald wieder beseitigt werden konnte, weil wir uns gemeinsam bemüht haben, wiederum für ausreichende Vollbeschäftigung zu sorgen.
Das Unheil ist nicht zuletzt auch durch die dauernde Garantie der Überbeschäftigung gekommen, weil man falsche Alternativen gesetzt hat. Herr Bundeskanzler, Sie haben sie heute wiederholt; Helmut Schmidt hat es vorher gesagt. - Er sitzt jetzt draußen und bereitet seine Rede vor. Er wird sicher noch dazu Stellung nehmen.
({36})
Es ist einfach ein Unfug und eine Irreführung der Offentlichkeit, zu sagen: lieber 5 % Preiserhöhung als 5 0/o Arbeitslosigkeit!
({37})
Das ist jetzt der neueste Wahlschwindel, mit dem man die Öffentlichkeit in Deutschland für die Verharmlosung der Inflationspolitik einlullen will.
({38})
Ich behaupte nicht - ich habe es vorhin schon gesagt -, daß totale Preisstabilität möglich ist. Wohl aber ist ein relativ hohes Maß an Preisstabilität möglich mit einem Stand der Beschäftigung, den man nach normalen Maßstäben als Vollbeschäftigung bezeichnen kann.
({39})
Wenn aber der Zins auf dem Bankguthaben nicht mehr ausreicht, um die Geldentwertung zu decken, wenn der sehr maßvolle Sparkassen- und Giroverband steuerliche Maßnahmen verlangt, um den Wertverfall durch Steuererleichterungen auszugleichen, wenn der Sparer nicht mehr über ein zweites Einkommen verfügen kann, sondern seinen Sparzins stehenlassen muß, um die Substanz mit geringen Minderungen zu erhalten, und wenn er den Zins verwendet, um nur eine geringe jährliche Minderung seines Sparguthabens hinnehmen zu müssen, dann sind die Dinge in diesem Lande, wie Herr Barzel im August sagte, nicht mehr in Ordnung, und sie sind nicht in Ordnung!
({40})
Es ist einfach ein Irrtum zu behaupten, daß das Realeinkommen in den genannten Prozentsätzen gestiegen sei. Das ist einfach nicht wahr; denn Sie müssen bei Lohnerhöhungen ja schon 2 % für höhere Steuern und Sozialversicherung abziehen. Was dann noch übrigbleibt, hat bei einigen Lohnabschlüssen nicht einmal mehr den vollen Kaufkraftverlust gedeckt, im öffentlichen Dienst zu einer ausgesprochenen Kaufkraftminderung und Verschlechterung der Kaufkraftverhältnisse geführt. Der Bausparer und der Normalsparer haben erhebliche Substanzverluste zu verzeichnen.
Nun wird die neue Legende - eigentlich ist sie nicht neu - aufgebracht, das böse Ausland sei daran schuld, man könne doch zu Hause keine Stabilitätspolitik betreiben, wenn rings um einen herum überall inflationär gesündigt werde. Ich darf in diesem Zusammenhang den Satz „Stability begins at home" zitieren, der von dem Mann stammt, dem Sie 1969 Ihren Wahlerfolg verdankten, der Ihnen aber heute den Rücken gekehrt hat, weil er das, was diese Regierung getrieben hatte, mit seinem sicherlich auch strapazierbaren Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte: Karl Schiller.
({41})
- Wenn Sie, Herr Wehner, sagen, ich redete hier, weil ich fragte, wo mein Geld geblieben sei, wenn Sie so das Anliegen der Sparer in unserem Lande behandeln, mit dieser demogogischen Leichtfertigkeit, dann wundert mich in diesem Lande nichts mehr!
({42})
Es gibt bei der Inflation Täter, Nutznießer und Opfer. Der Staat ist auf längere Sicht kein Nutznießer, sondern ein Opfer der Inflation. Nutznießer sind diejenigen, die über größere Sachwerte verfügen und auf Grund ihrer Kreditfähigkeit in der Lage sind, größere Sachwerte mit längerfristigen Krediten zu erwerben. Sie haben eine Politik betrieben, die den Großen in unserem Lande Vermögensvorteile gewährt, und Sie haben die Kleinen um einen Teil ihrer Ersparnisse betrogen!
({43})
Wenn jeder sagt: Das Ausland hat hohe Inflationsraten, also können wir auch nicht anders!, dann redet sich jeder auf den anderen heraus. Wir haben 20 Jahre lang in diesem Geleitzug der Industrieländer, in dem es ein Spitzen- und ein Schlußschiff gibt, immer das Schlußschiff dargestellt. Ich behaupte nie, daß man sich in einer weltwirtschaftlichen Gemeinschaft oder in einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft völlig abkapseln kann.
({44})
Auch die Maßnahmen des § 23 des Außenwirtschaftsgesetzes sind hier nur vorübergehend anwendbar, weil sonst ein Übel das andere erzeugt, und sie bieten keinen vollständigen Schutz. Ich habe immer, auch damals, als Sie noch das Gegenteil von dem vertreten haben, was Sie heute sagen, der Anwendung des § 23 des Außenwirtschaftsgesetzes das Wort geredet. Damals haben Sie mich als Dirigisten bezeichnet. Seit Helmut Schmidt Ihnen auf diesem Gebiet das Denken abgenommen hat, sagen Sie zu demselben ja, was Sie bei mir damals als Dirigismus verdammt haben.
({45})
- Ich weiß ja, Ihre Dankbarkeit mir gegenüber kennt keine Grenzen, Herr Wehner!
({46})
Wir haben 20 Jahre lang das letzte Schiff in dem Geleitzug dargestellt. Was der Bundeskanzler heute hier sagte, ist einfach unwahr. Er sollte das Gutachten des Sachverständigenrats lesen, den Jahresbericht des Internationalen Währungsfonds,
({47})
den letzten Geschäftsbericht der Bundesbank, in dem übereinstimmend festgestellt ist, daß die Bundesrepublik jahrelang unter dem Durchschnitt lag, zwei Jahrzehnte, daß aber seit dem Jahre 1970 die
Bundesrepublik in die Spitzengruppe der inflationierenden Länder eingedrungen ist. Er sollte weiterhin in dem Jahresbericht des IWF, lesen, daß wir nach Großbritannien zur Zeit die zweitgrößte Inflationsrate haben. Was Sie hier gesagt haben, Herr Bundeskanzler, zeugt entweder von einer für einen Regierungschef unmöglichen Unwissenheit
({48})
oder von der Absicht, die Offentlichkeit mit der Autorität Ihres Amtes hinters Licht zu führen.
({49})
Gerade angesichts des großen Anteils, den Export und Import am Sozialprodukt der Bundesrepublik ausmachen, angesichts der großen Bedeutung, die die Bundesrepublik als zweitgrößtes Welthandelsland hat, ist unsere Preisentwicklung bis zu einem gewissen Grade federführend, signalgebend für die inflationäre Entwicklung oder für die Stabilitätserhaltung im Kreise unserer Partnerländer.
({50})
Auch wir haben früher unseren Tribut entrichten müssen und konnten keine volle Stabilität garantieren. 2 % waren immer das, was ich für möglich und real erklärt habe. Ob man heute angesichts der seit Jahren herrschenden Verhältnisse nicht 1/2 bis 1 % höher gehen muß, kann man nicht aus der Tasche heraus sagen. Aber daß wir in die Spitzengruppe eingetreten sind, daß wir mit unseren starken Preiserhöhungen, basierend auf einer Kostenexplosion und basierend auf Aufwertungsmaßnahmen, zur Inflationierung des Preisniveaus in der Welt beigetragen haben, ist so sicher und so durchsichtig wie der Sonnenschein. Auch hier sollte man nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Nicht wir sind das Opfer finsterer ausländischer Inflationsmaßnahmen, sondern wir haben das Inflationsniveau in der ganzen Weltwirtschaft und im europäischen Bereich durch unsere leichtfertige, schlampige, liederliche Finanzpolitik in unserem Lande hochgetrieben.
({51})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich dazu nur noch eine Bemerkung machen. Man sagt heute: Mit den öffentlichen Finanzen läßt sich keine Konjunkturpolitik machen. Diese Aussage ist richtig und falsch zugleich. Ich habe hier - wenn Sie damals schon im Bundestag waren - vor 6 Jahren erklärt, daß öffentliche Investitionen nicht einfach als Verschwendung der öffentlichen Hand diffamiert werden dürfen. Damals präsidierte Herr Schoettle. Ich habe weiter erklärt, daß man öffentliche Investitionen, Straßenbau, Wohnungsbau, Bildungsbau, Verkehrsbau, nicht einfach nach konjunkturellen Gesichtspunkten manipulieren kann. Ich habe mich daran auch in meiner Zeit als Bundesminister der Finanzen gehalten. Es gibt aber einen Bereich, wo man die Dinge so oder so gestalten kann, und wenn im weltwirtschaftlichen Bereich eine starke Nachfrage herrscht, eine Konjunkturüberhitzung eingetreten ist, dann darf der Staat nicht durch Übernachfrage das Übel noch vermehren.
Ich sage Ihnen auch, warum: Weil im staatlichen Bereich die Inflationsrate doppelt so hoch ist wie im Bereich der Lebenshaltungskosten. Der Staat bezahlt, weil er Investitionen finanzieren muß - Hochbau, Tiefbau -, eine Inflation mit dem Verlust auch nur der bisherigen Investitionsquote. Der Bundeskanzler spricht von mehr Geld auf allen Gebieten. Er sollte einmal die Rechnung aufmachen, was mit dem mehr Geld gegenüber früheren Planungen an realen Werten mehr oder weniger erreicht worden ist.
({52})
Es ist nur eine Abrundung, aber ich nehme das Stichwort auf: Viel mehr als große Worte sollte sich der Herr Bundeskanzler einmal einen ganz klaren Bericht über die Finanzlage z. B. der Bundesbahn mit ihren 8 Milliarden DM Defizit geben lassen, von dem ein Teil aus politischen Gründen - Sozialtarife usw. - ohne weiteres ersatzfähig ist und ersetzt werden muß, aber ein anderer Teil auch das nicht mehr lösbare Problem noch verschärft, daß nämlich hier die Kostensteigerungen und die Einnahmegestaltung immer stärker auseinanderklaffen. Wer zahlt denn das? Das zahlt der ,Bürger mit immer höheren Gebühren' und Tarifen, ohne daß der Arbeitnehmer in unserem Land auch bei der Bahn und bei der Post durch die Gehaltserhöhung für Beamte, Angestellte und Arbeiter mehr hat als höchstens einen Inflationsausgleich.
Der Herr Bundeskanzler hat eine Reihe von Problemen angeschnitten, auf die hernach noch mein Kollege Barzel, wie erwähnt, eingehen wird. Aber wenn der Bundeskanzler davon spricht, daß indiesem Lande jetzt mehr Sicherheit auf allen Gebieten durch die sozialliberale Regierung sei, dann gehört das entweder in den Bereich „Humoristischer Beitrag" oder „Gewünschtes Märchen". Denn in diesem unserem Lande - Herr Scheel hat ja heute morgen in ähnlichen Tönen gesprochen - herrscht doch in weitesten Kreisen eine wachsende Unsicherheit hinsichtlich der zukünftigen gesellschaftspolitischen Entwicklung.
({53})
Ich habe nie gesagt, Herr Bundeskanzler, daß die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch steht. Ich stehe dazu, daß wir eine Stagflation vorausgesagt haben. Die haben wir auch gehabt. Das Sozialprodukt ist jedoch in der zweiten Hälfte des letzten Jahres und am Anfang dieses Jahres nicht mehr gewachsen. Das Unheimliche daran ist, daß der Stillstand im Wachstum bei einer relativ noch sehr hohen Inflationsrate eingetreten ist. Bei einer soliden und sauberen Finanzpolitik hätte das Opfer des Wachstumsstillstands mit einer niedrigen Preisentwertungsrate erreicht werden müssen. Wenn Sie jetzt von einem neuen Aufschwung reden, dann wissen Sie 'doch ganz genau - oder Sie sollten es jedenfalls wissen -, daß eine stärkere Auslastung der Kapazitäten angesichts der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, angesichts der Auftragslage dazu führen wird, daß die jetzt bei .6 % liegende Preisauftriebsrate dann - bei stärkerem Aufschwung - noch stärker in die Höhe gehen wird. Das sind doch
die akuten Sorgen, die die Menschen draußen haben.
Aber unter diesen akuten Sorgen gibt es unterschwellige Sorgen. Herr Bundeskanzler, diese unterschwelligen Sorgen werden nicht von der Opposition erzeugt. Wenn Sie und Ihre Regierung und die hinter Ihnen stehenden politischen Kräfte nicht diese Sorgen hervorgerufen hätten, wir als Opposition - wir könnten mit Engelszungen oder mit Teufelszungen reden in diesem Lande ({54}) wären nicht dazu in der Lage.
Die Tatsache, Herr Bundeskanzler, über die Sie lachen, daß in Ihrer Partei heute Verhältnisse eingetreten sind - auch wenn Sie sie nur als Randerscheinungen bezeichnen -, die früher zu einem ganz klaren Trennungsstrich geführt hätten, führt heute bei Ihnen nurmehr zu salbungsvollen Redensarten, aber zu nicht mehr.
({55})
Ich plädiere auch hier trotz der Schärfe des beginnenden Wahlkampfes für die Gemeinschaft der Demokraten, in der Mitte, Mitte rechts und Mitte links, aber dann muß der Trennungsstrich gezogen werden gegenüber den Gesellschaftsveränderern, gegenüber den potentiellen Revolutionären, gegenüber denen in Ihrer eigenen Partei, die offen davon sprechen, daß die Abschaffung des Privateigentums nicht auf dem parlamentarischen Wege, sondern nur durch den revolutionären Sprung erreicht werden kann, wie im Juso-Kongreß 1969.
({56})
Diese Kräfte bei Ihnen sind nicht eine vorübergehende Erscheinung, eine jugendliche Torheit, eine Angelegenheit etwa der Sturm- und Drangperiode einiger Idealisten; diese Kräfte sind bei Ihnen im Vormarsch. Altmarxisten und Neomarxisten reichen sich wiederum zum Bund die Hand. Und das ist die Sorge, die in unserem Lande umgeht. Das ist das Problem, mit dem sich weiteste Kreise unserer Bevölkerung beschäftigen. Und das ist auch nicht allein eine Frage der Selbständigen, deren sich zunehmende Existenzangst bemächtigt. Das ist auch eine Frage der großen demokratischen Mehrheit unserer Arbeitnehmerschaft, die mit diesen Halbberufsrevolutionären nichts, aber auch gar nichts gemeinsam haben will, weil sie das Erreichte erhalten und ausbauen will.
({57})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie dann immer so tun, als ob nur die von Ihnen so richtig verstandene Linke reformfähig sei, - was haben Sie denn an Reformen in dieser Zeit geschaffen?
({58})
Das Wesentlichste ist doch die Reform der Preise, und die scheint endgültig zu sein. Reform heißt nicht, daß man den Boden der Tradition zerschlägt. Auch die Konservativen sind reformfähig. Und „konservativ" ist nicht ein Schimpfwort, das man mit „reaktionär" gleichsetzen kann, sondern zu „konservativ" gehört das Bekenntnis zum Fortschritt. Der KonserStrauß
vative, der sich nicht zum Fortschritt bekennt, ist ein Reaktionär. Aber wenn jemand sich auch zur Tradition bekennt, zur Erhaltung und zum Ausbau der Werte, dann kann man ihn deswegen nicht in die rechte Ecke drängen. Herr Bundeskanzler, Sie sollten Ihr Gesellschaftsbild, wie Sie es in sich tragen und nur in rätselhaften Andeutungen und Äußerungen hier und da aufblitzen lassen, hier einmal ganz klar entwickeln.
({59})
Was haben Sie damals gemeint, als Sie Ihr Bedauern ausdrückten, daß nach dem zweiten Weltkrieg keine gründliche Abrechnung und Säuberung erfolgt sei? Wie hätte es nach Ihrer Vorstellung aussehen müssen? Ich meine damit Ihr Vorwort in dem im Desch-Verlag erscheinenden Buch.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie wieder zu dem Weg zurückfinden, den auch unsere parteipolitischen Gegner, aber doch Mitglieder des gemeinsamen demokratischen Lagers, Schumacher und Ollenhauer, gegangen sind, dann wird auch in diesem Land wieder eine andere Stimmung einkehren, dann werden in diesem Parlament ein anderer Ton und eine andere Atmosphäre herrschen. Wenn es anders geworden ist, Herr Bundeskanzler - trotz der manchmal versuchten Vornehmheit Ihres Auftretens -, sind Sie der Schuldige. Darum müssen Sie heute abgelöst werden.
({60})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kirst. Für ihn ist verlängerte Redezeit beantragt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist ja auch wieder ein Zeichen von mehr Demokratie, wie Sie sie verstehen: Eine Stunde lang toben Sie, wenn hier in Demagogie geschwelgt wird, und dann gehen Sie hinaus, wenn der Gegner kommt.
({0})
Aber dieses Rezept haben Sie ja von Anfang an verfolgt, insbesondere die Ausführungen unserer Fraktion durch ständiges Reden in diesem Saal zu stören.
Meine Damen und Herren, ich habe mich nach dem Kollegen Strauß gemeldet, weil ich die bescheidene Hoffnung hatte, mit ihm hier am Ende dieser Legislaturperiode noch in einigen Punkten eine sachbezogene Diskussion über die Fragen führen zu können, über die wir in den vergangenen drei Jahren hier nicht selten gesprochen haben. Ich muß sagen, es war ja wohl eine maßlose Enttäuschung für alle, den Kollegen Strauß zu hören,
({1}) die auf einen Rest an sachlicher Auseinandersetzung gehofft haben.
Sie haben ganz zum Schluß, Herr Kollege Strauß, hier dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen, er habe die Konfrontation begonnen. Meine Damen und Herren, damit sich hier keine Geschichtsklitterung festsetzt, sage ich, diese Konfrontation ist von Ihnen begonnen worden. Denn noch bevor diese Regierung im Amt war, haben Sie ihr die Parolen des Ausverkaufs und der Inflation vorgeworfen. Das war der Beginn der Konfrontation.
({2})
Ich muß hier einmal folgendes wiederholen. Sie haben sich in all den drei Jahren so verhalten, wie ich das einmal, ich glaube, im Juni 1970 gesagt habe: Sie selbst marschieren in diesem Saal und draußen im Land, bildlich gesprochen, mit dem Dreschflegel zur Diskussion und verlangen von uns, daß wir mit Samthandschuhen mit Ihnen umgehen. Das ist doch Ihre Taktik und Ihre Methode gewesen.
Es ist sicherlich nicht möglich - das kann auch nicht der Sinn dieser letzten Debatte des Deutschen Bundestages sein -, hier noch die nicht mehr zustande gekommene Haushaltsdebatte zu führen. Aber im Hinblick auf das, was Herr Strauß jedenfalls andeutungsweise wieder finster dargestellt hat, möchte ich doch, damit es hier noch einmal festgestellt wird, folgendes sagen.
({3})
Wir haben im Juni den Haushaltsplan des Jahres 1972 dem Haushaltsausschuß zurücküberwiesen. Er hat in der vergangenen Woche die ihm damit gestellte Aufgabe erfüllt. Wenn es nicht mehr zu einer Verabschiedung des Haushalts kommen kann, dann ist das ausschließlich die Schuld der hier aus den schon wiederholt genannten Gründen veränderten Mehrheitsverhältnisse. Ich werde auf diesen Punkt am Schluß noch einmal mit einer persönlichen Bemerkung zurückkommen.
Vom Kollegen Strauß ist hier wieder davon gesprochen worden, daß die Haushaltspolitik an der von ihm beklagten und dieser Regierung fälschlicherweise - so muß ich sagen - in die Schule geschobenen Preisentwicklung mit schuld sei. Meine Damen und Herren, ich meine, daß neben den grundsätzlichen Überlegungen, die ich hier schon mehrfach vorgetragen habe, warum die Haushaltspolitik nur einen relativ bedingten Einfluß auf die Gestaltung der Konjunktur hat, neben den entscheidenden Daten, nämlich den außenwirtschaftlichen Einflüssen und der Kostenentwicklung durch die Gestaltung der Tarife, sich diese Haushaltspolitik auch unter folgendem Aspekt nicht zum parteipolitischen Prügelknaben eignet. Man muß dazu wissen, daß z. B. im Jahre 1971 - die Proportionen sind in den letzten Jahren immer ähnlich gewesen - nur 40 % überhaupt aller Ausgaben der öffentlichen Hände der Entscheidung dieser so gescholtenen Regierung und ihrer Mehrheit hier im Deutschen Bundestag unterlegen sind, daß die übrigen 60 % auf Länder und Gemeinden entfallen und daß, wie wir alle wissen, in diesen Ländern über weite Strecken die hier
Opposition betreibende CDU/CSU regiert; genauso ist das in den Gemeinden. Insofern ist es weder angebracht noch redlich, wenn man die Vorwürfe gegen die Haushaltspolitik macht, das auf die Bundesregierung, auf den Bundeshaushalt zu beschränken. Ganz abgesehen davon, daß jeder Fachmann weiß, daß natürlich die konjunkturpolitisch interessanten Ausgaben, die Investitionen in den Ländern und Gemeinden, eine viel entscheidendere Rolle spielen, als das beim Bund der Fall gewesen ist.
Herr Kollege Strauß, der es offenbar auch nicht nötig hat zuzuhören, hat hier einige Behauptungen aufgestellt, die - er kann das im Protokoll nachlesen, wenn ihm der Wahlkampf Zeit dazu läßt - mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden müssen. Herr Kollege Strauß hat sich hier zu der Behauptung verstiegen, die Bundesrepublik sei in den Zeiten, da die CDU/CSU die Regierung geführt habe, der Spitzenreiter der Stabilität gewesen. Jeder, der sich die Mühe macht, die einschlägigen Statistiken zu studieren, wird feststellen, daß hier erbarmungslos mit der Wahrheit umgegangen wird.
({4})
Lassen Sie mich nur einige Beispiele herausgreifen. Die Spitzenreiterstellung der Bundesrepublik bei der Stabilität stimmt nur für ein einziges Jahr; das ist das Jahr 1967, aus den bekannten Gründen. Da war die Bundesrepublik mit einer Preissteigerung von 1,4 % tatsächlich an der Spitze der Stabililität oder - umgekehrt - am Ende einer bestimmten Gruppe international vergleichbarer Länder der Preissteigerung. Dieser Rang wurde schon 1968 mit dem dritten Platz wieder verloren, und 1969 - das letzte Jahr, für das Sie die Verantwortung tragen - wurde daraus der siebente Rang. Uns ist es sogar gelungen, im Jahre 1970 wieder auf den fünften Rang vorzurücken. Ich verschweige nicht, daß wir im Jahre 1971 wieder auf den neunten Rang zurückgefallen sind. 1961 belegten wir den 13. Rang, 1963 den zehnten; ich will das hier nicht alles vorführen. Das zeigt, mit welcher Leichtigkeit hier Behauptungen in die Welt gesetzt werden, die einer Nachprüfung nicht standhalten.
Meine Damen und Herren, ich muß auch das noch einmal wiederholen, was hier schon heute gesagt worden ist. Die Opposition hat es zwar fertiggebracht, ständig gegen die Preissteigerungen zu reden und der Regierung die Schuld in die Schuhe zu schieben.
({5})
- Herr Kollege, das ist wieder so ein programmierter Zwischenruf, der Ihnen wider besseres Wissen herausfließt. Die Opposition hat bei jeder Handlung der Regierung - ich will sie hier im einzelnen nicht aufführen, von der Aufwertung 1969 angefangen bis zuletzt - abseits gestanden und sich versagt, entweder dagegen polemisiert, dagegen gestimmt oder sich zumindest der Stimme enthalten. Das werden Sie nicht bestreiten können.
({6}) Die Opposition ist in diesen Fragen hier und draußen im Lande jede konkrete Alternative schuldig geblieben.
({7})
Herr Müller-Hermann oder Herr Katzer - sie sind beide in ihrer Art gleich, deshalb weiß ich nicht genau, wer es war - hat dann immer davon gesprochen, die Opposition sei nicht dazu da, der Regierung und der Koalition die heißen Kastanien aus dem Feuer zu holen. Es gibt keine konkreten stabilitäts- und konjunkturpolitischen Vorschläge der Opposition, über die hier hätte entschieden werden können. Es gibt keine Alternative. Ich nehme Ihnen das gar nicht übel, weil es vertretbare Alternativen nicht gibt. Ihre gesamte Kritik resultiert aus einer völligen Verkennung und einer falschen Einschätzung der wirtschaftspolitischen Gegebenheiten in unserer Gesellschaftsordnung. Sie haben mit Ihrer Kritik, um Ihnen das für die kommende Auseinandersetzung noch einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben, und mit Ihrem ständigen Rufen nach dem Staat die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft verleugnet.
({8})
Auch sonst hat man es heute mit der Wahrheit nicht so genau genommen.
({9})
Was die Frage von Steuererhöhungen angeht, so wird nämlich hier immer der falsche Eindruck erweckt, als ob diese Regierung die Steuerbelastung der Bürger erhöht habe. Richtig ist zunächst einmal, daß wir in diesem Jahr aus den Ihnen bekannten Gründen drei Verbrauchsteuern erhöht haben. Wir haben gestern ein Gesetz beschlossen, das den Grund für diese Steuererhöhungen enthält. Diese Steuererhöhungen decken nicht einmal das, was die Länder an Mehrwertsteuer oder die finanzschwachen Länder an Sonderzuweisungen erhalten. Sehen Sie sich das bitte einmal an, dann werden Sie feststellen, daß die Steuererhöhungen, die hier beschlossen worden sind, ausschließlich diesem Zweck dienen. Auch bei der Mineralölsteuer ist die Zweckbindung deutlich.
Aber das ändert nichts daran, daß die Regierung in der Tat mehr gehalten als versprochen hat. Herr Strauß hat allerdings mit dieser Feststellung wieder zu jonglieren versucht. Die Regierung hat in der Regierungserklärung zweierlei gesagt: erstens, wir wollen keine konfiskatorischen Steuern - niemand wird behaupten können, daß wir solche eingeführt hätten oder dies beabsichtigten -, zweitens, wir wollen die Steuerlastquote nicht erhöhen. Die Steuerlastquote wurde mit 24 % angenommen, was auch stimmte. Sie ist 1970 und 1971 jeweils auf unter 23 % zurückgegangen. Wenn man das einmal ausrechnet - die Steuerlastquote wird ja in bezug auf das Bruttosozialprodukt berechnet -, stellt man fest - Herr Strauß wollte uns weismachen, es handle sich um 12 Milliarden DM, was nicht stimmt -, daß die Regierung durch die EntwickKirst
lung der Steuereinnahmen allein in diesen beiden Jahren rund 15 Milliarden DM weniger eingenommen hat, als sie - dazu wäre sie nach ihrer Aussage in der Regierungserklärung, möchte ich einmal sagen, berechtigt gewesen - hätte einnehmen können.
Nun noch einige Worte zu den Bemerkungen des Kollegen Strauß zum Haushalt. Es kann überhaupt keinen Zweifel daran geben, daß das, was hinsichtlich des Vollzugs des nicht verabschiedeten Haushalts 1972 geschieht, berechtigt ist. Ich darf darauf hinweisen, daß z. B. auch der Präsident des Bundesrechnungshofs beim Besuch des Herrn Bundeskanzlers entsprechende Erklärungen abgegeben hat. Sie werden zugeben müssen, daß es niemanden gibt, der kraft irgendeiner Legitimation dieses Haus zwingen könnte, einen Haushalt zu verabschieden. Wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, so doch nicht deshalb, weil er schlecht wäre, sondern eben nur deshalb, weil wir aus den bekannten Gründen
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eine nicht mehr vorhandene Mehrheit zu registrieren haben, deren Wiederherstellung das Ziel der heutigen Aktion über Art. 68 GG ist.,
Im Wahlkampf wird - das ist hier schon angeklungen, obwohl sich Herr Strauß mit seiner allgemeinen Polemik so übernommen hat, daß er weder Zeit noch Lust hatte, in diese Dinge weiter einzusteigen - die Frage Finanzchaos, Finanzkrise eine Rolle spielen. Wer den vom Haushaltsausschuß verabschiedeten Haushalt kennt oder ihn studiert, wird feststellen, daß das Gerede von einer Finanzkrise, einem Finanzchaos nicht gerechtfertigt ist. Beides hat es bisher nicht gegeben. Dafür sprechen die Ergebnisse der Haushaltsführung in den Jahren 1970 und 1971, dafür wird das Ergebnis 1972 sprechen, und dafür werden auch - das ist unsere Überzeugung - die zukünftigen Ergebnisse sprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will nur wenige Bemerkungen zu dem machen, was der Kollege Strauß so an Allgemeinem hier hat einfließen lassen. Er hat z. B. von einer Irreführung gesprochen. Nun, ich habe alle diesbezüglichen Aussagen immer so verstanden - so waren sie auch formuliert -, daß der Weg, den wir hier heute zu gehen haben, der kürzeste und sicherste Weg zu einer Auflösung des Parlaments ist. Er ist nicht, wie jetzt hineingeheimnißt oder hineingedeuteltwird, der einzige Weg. Aber der immer geforderte Rücktritt wäre kein Weg, so schnell zu einer Auflösung und damit zu Neuwahlen für den Deutschen Bundestag zu kommen.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß das Interesse an einer weiteren sachlichen Debatte über finanz- und haushaltspolitische Probleme offenbar sehr gering ist. Lassen Sie mich daher abschließend folgendes sagen. Ich meine, daß nicht nur die hier schon häufig zitierten Mandatsüberträger - oder wie immer man sie bezeichnet - das Recht haben, ihre letzten Reden in diesem Bundestag sozusagen mit persönlichen Bekenntnissen zu schließen. Ich glaube, daß das ein falsches Bild geben würde.
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Ich hätte mir gewünscht - ich sage das ganz offen -, daß eine solche letzte Rede in diesem Bundestag unter glücklicheren Umständen hätte stattfinden können. Ich meine nur, der Grund dafür, daß das nicht so ist, der Grund für dies alles liegt eben - das muß noch einmal deutlich gesagt werden - darin, daß diese Leute, die sich zum Teil hier heute in peinlichster Weise produziert haben,
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nachdem sie am Mittwoch von Herrn Barzel in ebenso peinlicher Weise wie bei einer Starparade vorgeführt wurden,
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eben in diesen drei Jahren - ich nehme an, einige von Ihnen werden dieses Buch kennen - Stoff für ein neues Kapitel für das Buch „Verrat im 20. Jahrhundert" geliefert haben.
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Ich meine, es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, als hätte sich das Gewissen in den vergangenen Jahren immer nur bei diesen Leuten gerührt. Meine Damen und Herren, wir sind in den letzten drei Jahren dieser Politik nicht blindlings gefolgt. Wir haben uns selbstverständlich ständig - Tag um Tag und Stunde um Stunde - auch mit unserem Gewissen gequält und uns geprüft.
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Das sollte doch in diesem Zusammenhang einmal festgestellt werden. Und das geschah angesichts der zweifellos vorhandenen Anfechtungen, denen wir durch ein Trommelfeuer des Angriffs und der Verdächtigungen, der Verleumdungen und der Verketzerungen ausgesetzt worden sind. Das alles haben wir zu ertragen gehabt;
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diese Seite sollte am Ende dieser Legislaturperiode auch einmal gesehen werden. Ich verschweige nicht, daß auch mir vieles von dem nicht paßt, was hier als Alibi - in Richtung bestimmter Entwicklungen in Parteien - zitiert worden ist. Nur meine ich, Sie hätten in früheren Jahren Grund gehabt, da auch bei Ihnen manchmal sehr hellhörig zu sein. Aber das alles kann und darf kein Alibi für ein Paktieren mit Herrn Barzel und Herrn Strauß sein. Das ist doch die entscheidende Frage.
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Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund möchte ich sehr deutlich sagen - das sage ich für mich, und ich glaube, ich darf es für die Kollegen der Koalition sagen -: stünden wir noch einmal am 28. September 1969, würden wir genauso
wieder handeln, wie wir in den letzten drei Jahren gehandelt haben.
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Wir verbinden diese Feststellung mit der Hoffnung, daß es trotz allem, was hier heute schon angeklungen ist und was uns noch bevorsteht, gelingen möge, daß der nächste Wahltag nicht einen Triumph der Demagogie, sondern einen Sieg von Anstand und Vernunft bringt.
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Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Alex Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nur eine kurze, mir aber wichtig erscheinende Bemerkung zu machen. Herr Kollege Barzel hat am Mittwoch gesagt, mein Rücktritt signalisierte das Ende des Versuchs einer halbwegs soliden Finanzpolitik. Meine Damen und Herren der Opposition, Sie haben anscheinend wirklich vergessen, wie Sie meine Finanzpolitik während meiner Amtszeit bezeichnet haben.
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Ich glaube, nur das allein kann als Maßstab gültig sein.
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Für Herrn Kollegen Leicht war meine Haushaltspolitik brüchig, leichtfertig, prozyklisch, bis zum äußersten überzogen, von der Realität weit entfernt, inflationär, ohne solide Basis, um nur einige Kostproben darzubieten.
Herr Kollege Strauß fand folgende Wertungen: nicht konjunkturgerecht, leichtfertiger Umgang mit Zahlen, inflationär, Finanzmisere, konjunkturschädlich, Inflationsquelle erster Ordnung, Inflationsherd erster Ordnung, mangelhaft und ungenügend. Die letzte Bemerkung möchte ich doch im Wortlaut zitieren, und zwar aus dem Protokoll vom 24. September 1970. Da hat Herr Strauß erklärt:
Letztes Jahr habe ich zu Ihrer Finanzpolitik die Anmerkung gemacht, daß sie mangelhaft sei. Heute muß ich ihr die Note „ungenügend" erteilen.
Ich muß schon sagen, wenn man sich diese Protokolle noch einmal ansieht, so ist die Frage berechtigt, woher man nun den Mut nimmt, mich als Kronzeuge für eine Opposition in Anspruch zu nehmen, die mit dem Anschein von Tugendhaftigkeit jetzt die Rolle vergessen machen will, die sie die ganze Zeit über gespielt hat,
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nämlich die einer Opposition um jeden Preis, nicht zu übertreffen an starken Worten, wankelmütig in ihrer Haltung und arm an konstruktiven Beiträgen.
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Ich meine, diese Opposition muß noch viel lernen, bis sie staatspolitisch respektabel wirken will. Es ist für mich beruhigend, daß man davon ausgehen kann, daß diese Opposition nun bald weitere vier Jahre Lehrzeit erhalten wird.
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Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel. Seine Redezeit ist nicht begrenzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, auch wenn der Herr Bundeskanzler jetzt da wäre, auf die Oppositionsbeschimpfung zu antworten, die er in seiner Rede vorgenommen hat. Ich glaube, daß diese Rede nach Art und Inhalt gegen alle Zukunftserwartungen für die Fortsetzung einer solchen Regierungspolitik spricht. Das waren starke Worte, die schlechte und ungenügende Ergebnisse verbergen sollten.
({0})
Wir halten uns an die Tatsachen, wir halten uns an die Serie der Landtagswahlergebnisse, wir halten uns an diese Woche mit dem Sieg unseres Konzepts in der Rentenreform. Das sind die Tatsachen, die wirken werden.
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Wir halten uns an die Geschlossenheit und die Kraft dieser Opposition, und wir halten uns daran, was zuständige und sachkundige Instanzen erklären. Es ist sicher in einem solchen Augenblick, wo natürlich der Wahlkampf die Schatten vorauswirft, richtig, hier objektive Instanzen, die in mancher Frage sachkundiger sind als wir - natürlich wollen wir dies einräumen -, zu hören.
Da haben wir zunächst die jüngste Mahnung der Deutschen Bundesbank. Es wird niemand sagen können, daß deren Spitze etwa mit der Opposition in Verbindung stünde. Die Deutsche Bundesbank urteilt in ihrem letzten Monatsbericht vom 19. September, das ist also ganz druckfrisch, wie folgt - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -:
Die Erzeugerpreise sind nicht mehr schwächer und die Verbraucherpreise sogar wieder etwas stärker gestiegen.
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Der weitere Preisanstieg wird aber nur dann nachhaltig eingedämmt werden, wenn auf breiter Basis die Entschlossenheit zu einer antiinflatorischen Politik bekundet und in entsprechenden Handlungen umgesetzt wird.
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Eine besondere Rolle bei diesen gemeinsamen Anstrengungen sollte die öffentliche Finanzpolitik spielen. Im laufenden Jahr wirken die öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik eindeutig expansiv.
Das heißt, der Hüter der Währung spricht von Inflation, spricht von hausgemachter Inflation, spricht
von ihrer Wirkung durch den Haushalt und ermahnt uns, auf breiter Basis zur Entschlossenheit einer antiinflationären Politik zu kommen. Dies werden wir vom Wähler erbitten, dies werden wir ihm vortragen, und das werden wir bekommen, meine Damen und Herren!
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Das andere: Der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt, was die Möglichkeit von Reformen betrifft, folgendes fest:
Fatal bleibt in jedem Falle - dies sei wiederholt -, wie wenig auf Grund der stark expansiven öffentlichen Gesamthaushalte zweier Jahre, 1970 und 1971, für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben gewonnen wurde. Nach einer Ausgabensteigerung um zusammen 27 % war wegen der Preisentwicklung im Bereich der Nachfrage des Staates dessen realer Anteil am Produktionspotential niedriger als zuvor.
Meine Damen und Herren, Sie hatten versprochen, die Steuern zu senken; Sie haben sie zweimal erhöht - und schon spricht die Regierung von neuen Steuererhöhungen. Sie kann nicht sagen, daß sie mit diesem neuen Geld irgendeine zusätzliche öffentliche Aufgabe wird finanzieren können.
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Es wird, wenn sie Glück hat, gelingen, einige der Inflationslöcher zu stopfen. Dies ist die Realität. Deshalb frage ich mich, Herr Bundeskanzler, woher Sie den Mut nahmen zu sagen: Eine erfolgreiche Bewältigung der Zukunft sei nur durch eine Politik möglich, wie Sie sie zusammen mit Herrn Scheel betreiben. Sehen Sie die Bilanz dieser drei Jahre - und das Gegenteil ist bewiesen. Sie waren nicht einmal imstande, die Stabilität zu wahren, als Sie die Regierung übernahmen!
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Da wir bei den Tatsachen bleiben wollen, möchte ich einige Zahlen - ich glaube, die Politik hat es mit nüchternen Dingen zu tun - hier in die Debatte einführen. In den Jahren 1960 bis 1969 stieg das reale Bruttosozialprodukt im Durchschnitt um jeweils 4,8 %; in den drei Jahren dieser Regierung ist es auf 3,8 % gesunken. Die Lebenshaltungskosten stiegen von 1950 bis 1969 im Jahr durchschnittlich um 2,2 %; in den drei Jahren der SPD/ FDP-Regierung verteuerten sich die Lebenshaltungskosten um knapp 5 % pro Jahr.
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Die Tendenz ist steigend: 5,71)/o in diesem Juli. Der Zuwachs der Realeinkommen ist von mir am Mittwoch hier in die Debatte eingeführt worden.
Herr Bundeskanzler, ich verstehe nicht, wie Sie nach den traurigen Ergebnissen dieser drei Jahre auch heute noch den Mut haben können, die 20 Jahre Wiederaufbau und Sozialer Marktwirtschaft anzugreifen, in denen wir bewiesen haben - Herr Kollege Schmidt sollte sich einmal die Zahlen besorgen - daß Vollbeschäftigung und Stabilität zugleich möglich sind. Hier sitzt Ludwig Erhard; er hat gezeigt, wie dies zu machen ist.
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Ich halte fest, was mein Kollege Schröder heute morgen zu Recht sagte: Eine Regierung, die nicht einmal imstande ist, einen Haushalt zu verabschieden, verabschiedet sich auf ihre Weise von einem Parlament, nämlich durch Eingeständnis des Scheiterns, durch Selbsteingeständnis.
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Und ich füge hinzu: Würde es um die öffentlichen Finanzen anders stehen - da beziehe ich mich auch auf den Kollegen Kirst -, dann hätte sich diese Regierung doch nicht nur um den Haushalt 1972 bemüht, dann hätte sie sich doch an das Gesetz und an die Pflicht gehalten und diesem Hause die Bestandsaufnahme und die erneuerte mittelfristige Finanzplanung vorgelegt. Dies hat sie nicht getan, weil sie nach den Worten Karl Schillers „nicht über den Tellerrand des Wahltags hinaus denkt", weil sie eine Politik „nach uns die Sintflut" macht. Das muß hier festgehalten werden. ({10})
Herr Bundeskanzler, wir hatten für diese Legislaturperiode, die heute vorzeitig zu Ende gehen wird, eigene Prioritäten und eigene Alternativen, wie z. B. in dieser Woche in der Rentenfrage zu sehen war. Ich möchte jetzt nicht gerne noch einmal, wie wir das hier oft taten, nur an Hand ihrer Regierungserklärung vorgehen. Da müßte ich 24 oder 25 wichtige Punkte herausnehmen, und ich würde zwei oder drei finden, von denen man sagen könnte: bei denen ist vielleicht angefangen worden, sie zu erfüllen.
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Nein, Herr Bundeskanzler, ich möchte anfangen mit dem Punkt, der übereinstimmend nach Ihrer und unserer Prioritätenliste ganz vorne in diesem 6. Bundestag stehen sollte, mit dem Punkt, der in dem letzten Wahlkampf eine große Rolle gespielt hat und den Sie nun möglichst aus der kommenden Auseinandersetzung heraushalten wollen. Diesen Gefallen werden wir Ihnen natürlich nicht tun. Es ist das der Punkt von Bildung, Ausbildung usw.
Sie hatten versprochen, Herr Bundeskanzler - ich zitiere Ihre Worte ,
Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt.... Besonders dringlich ist ein langfristiger Bildungsplan für die Bundesrepublik für die nächsten 15 bis 20 Jahre.
Sie kündigten gleichzeitig an, den Ländern bei der Überwindung des Numerus clausus in wesentlichen Fachbereichen zu helfen. Soweit Ihre Versprechungen.
Wir haben Ihnen damals gesagt, - da Sie einen parteilosen Minister, den Kollegen Leussink, berufen hatten -, daß dieser Kollege, weil wir hier eine übereinstimmende Priorität festgestellt ha11788
ben, auf unsere besondere Unterstützung würde rechnen können. Sie können also nicht sagen, der böse Bundesrat - wie Herr Wehner heute - oder die böse Opposition, sondern hier müssen Sie sagen: diese Regierung selbst - allein Sie und Ihre Führung - wird sich überlegen, warum auch dieser Minister zu den ausgewechselten gehört.
Was ist denn geworden? Diese Zusage der Regierungserklärung hat die Bundesregierung - wie die vielen anderen nicht eingehalten. Sie legte einen Bildungsbericht vor, der einen Katalog utopischer Grundvorstellungen enthielt; einen Bildungsgesamtplan ohne jede finanzielle Absicherung; ein Hochschulrahmengesetz, das nicht in der Lage war, die Funktionsfähigkeit der Hochschulen zu garantieren. Außerdem legte die Bundesregierung ein „Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung" vor, das lediglich aus einer Ansammlung verbaler Wunschvorstellungen bestand, ohne konkrete Schritte zur Verwirklichung aufzuzeigen.
Die Bund-Länder-Kommission, Herr Bundeskanzler, für die Bildungsplanung hat inzwischen zwar einen Zwischenbericht verabschiedet, sie konnte aber bisher keine Aussagen über die finanzielle Absicherung der bildungspolitischen Zielvorstellungen machen. Das Versprechen, zu erklären, wie der Plan verwirklicht werden könnte, ausgerechnet dieses Versprechen in der wichtigsten Priorität wurde nicht erfüllt. Ein nationales Bildungsbudget für einen Zeitraum von 5 bis 15 Jahren ist nicht einmal in den Ansätzen vorhanden. Statt zu einer Milderung des Numerus clausus beizutragen, haben sich die Zulassungsbeschränkungen in wesentlichen Fachbereichen noch verschärft.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung führte dazu, daß die Hochschulbaumittel zwar nominal, aber kaum real gesteigert werden konnten. Das ist eine nüchterne Bilanz. Sind Sie darauf auch „stolz", Herr Bundeskanzler und Herr Kollege Scheel? Sollten Sie nicht wenigstens kommen und sagen: Wir haben uns hier überschätzt; wir haben unsere Möglichkeiten nicht gesehen; wir hatten nicht den Mut, wegen dieser Priorität Nummer 1 zu anderen Dingen „bitte, etwas später" zu sagen? Und wollen Sie bestreiten, daß wir zu einem Zeitpunkt, als Sie die Steuern noch senken wollten, die Steuersenkung nicht nur aus konjunkturpolitischen Gründen, sondern auch mit folgender Begründung abgelehnt haben: Nehmt einen Teil dieses Geldes - es war damals noch stabil - zur Überwindung der zwingendsten Probleme in Sachen des Numerus clausus?
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Das können Sie doch nicht bestreiten.
Als der Kollege Leussink dann merkte, daß in diesem Bereich keiner mit dem Kopf durch die Wand kann, als er sich ernsthaft zu bemühen anfing, sich an das Nötige und Mögliche und deshalb auch an die Opposition zu erinnern, war er nicht mehr sehr lange im Amt.
Sie haben nicht erkannt, Herr Bundeskanzler, daß man nicht nur Pläne für übermorgen haben muß; man muß diese Pläne auch in ein Gesamtkonzept einordnen, das finanziell abgesichert ist. Man kann heute nicht nur, wie Sie dies in Ihrer Regierung taten, von übermorgen sprechen und dabei die Probleme von heute und morgen übersehen.
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Wir haben deshalb vor geraumer Zeit aus unserer Sicht ein Prioritätenprogramm für den Bereich des Bildungswesens vorgetragen. Es zeigt sich - die Nüchternheit gebietet es, das einzugestehen: Wenn man sagt, die Bildung stehe an erster Stelle, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die berufliche Bildung legt, damit die Kopflastigkeit der Universitätsbetrachtung endlich aufhört, muß man sich wiederum klarwerden, welche Bereiche innerhalb des Gesamtbereichs der Bildung Vorrang haben sollen; also auch dann muß man wieder sagen: erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens usw. Meine Damen und Herren, unser Prioritätenkatalog sieht deshalb so aus: Ausbau der Vorschulerziehung, Reform und Ausbau der beruflichen Bildung, Durchführung der Hochschul- und Studienreform sowie Erweiterung der Studienkapazität, verbesserte Ausbildung der Lehrer und ausreichende Versorgung mit Lehrern.
Wir ziehen die Bilanz auf diesem Gebiet. Wir leugnen nicht, daß es hier viele gute Absichten gab; aber wenn wir nach dem Erfolg urteilen - und dies ist der Maßstab für verantwortliches Handeln -, stellen wir fest, daß wir in den vergangenen drei Jahren nicht so nach vorn gekommen sind, wie dies nötig und möglich war.
Indem ich Sie mit diesem Prioritätenkatalog vertraut mache, sage ich Ihnen zugleich, was im nächsten Bundestag unter unserer Führung auf diesem Gebiet geschehen wird.
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- Ich komme darauf.
Ich nehme einen anderen Punkt, Herr Bundeskanzler. Sie werden vielleicht glauben, daß er eigentlich völlig am Rande der Wichtigkeit liege. Ich glaube, jedermann, der sich mit der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland ernsthaft befaßt -, ob er nun die Fragen des Umweltschutzes, die Fragen künftiger Sozialleistungen, die Fragen künftiger Humanität und Wirtschaftskraft, was immer Sie angucken - betrachtet, wird wissen: Wenn es in der Energiepolitik nicht stimmt, dann wird es für eine gute, soziale und humane Zukunft zu spät sein. Das wird so sein, wenn Energie zu knapp oder zu teuer wird. Herr Bundeskanzler, Sie haben in dieser Hinsicht in Ihrer Regierungserklärung einen ganzen Warenhauskatalog angeführt. Was ist daraus geworden? Sie sprachen von der Gesundung des Steinkohlenbergbaus. Bisher haben Sie nur die Verkürzung der Fristen zum fraglichen Gesundschrumpfen der Kohle zuwege gebracht. Dadurch verschlechtert sich die Kostenerlössituation für die Kohle rapide. Die jetzt in Aussicht genommenen Maßnahmen reichen, wenn Sie Glück haben werden, für eine kurzfristige Stabilisierung aus; sie sind
weit entfernt davon, die Probleme zu lösen oder eine Konzeption zu enthalten. Der Steinkohlenbergbau, als ein sicheres Standbein unserer Energieversorgung, hat durch diese Regierung keine Hilfe bekommen; er hat keine klare Zukunft. Diese Politik, die eine Nichtpolitik war, hat die Kumpels an der Ruhr durch ihre Konzeptionslosigkeit in der Energiepoltik m Stich gelassen.
({15})
Die Frage der eigenen Mineralölerzeugung, die Frage der Kooperation der bestehenden Energieträger, die Verbesserung der Wettbewerbssituation innerhalb der Elektrizitätswirtschaft und das Problem der Krisenvorsorge, - alles das sind Punkte, Herr Bundeskanzler, die Sie versprochen haben. Sie haben sie überhaupt nicht gehalten.
So könnten wir hier Punkt für Punkt Ihre Regierungserklärung durchgehen. Wir können uns ansehen, was Sie den Bauern gesagt haben. Sie haben ja jedem - alles sollte schöner und moderner werden - etwas versprochen. Ich möchte es bei diesen wenigen Punkten jetzt bewenden lassen, weil ich glaube, daß wir in dieser Stunde nun doch etwas grundsätzlicher fragen müssen.
Wir müssen nämlich fragen: Was kennzeichnet die innenpolitische Entwicklung seit dieser nun knapp dreijährigen Kanzlerschaft besonders? Wir meinen: Die ungewöhnlich anspruchsvollen Ankündigungen, die dadurch von Ihnen bewirkte Anspruchsinflation, die ja die Mitursache der Inflation des Geldwertes ist, und die ambitiöse Anspielung auf „mehr Demokratie". Herr Bundeskanzler, mehr Demokratie haben wir in diesem Hause, hat die deutsche Presse, haben die Journalisten, hat die Bevölkerung nicht gespürt.
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Wenn Sie in Ihrer Wahlkampfrede in Oberhausen, von der wir einen erweiterten Auftakt heute hier hörten, vom „blanken Haß" Ihrer Kritiker sprachen und „Konsequenzen" androhten, so muß ich sagen, Herr Bundeskanzler: Diese Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Anregung sollte ein Regierungschef nicht haben. Sie sollten dankbar sein für jede Kritik. Das gibt doch Anregungen. Das gibt Möglichkeiten, Fehler zu vermeiden oder zu berichtigen. Deshalb sind wir dafür, wir drehen hier die Verhältnisse um - durch den Wähler, der wird dies besorgen -, und dann bitten wir um möglichst viel Kritik in den vier Jahren, damit wir weniger Fehler machen als Sie und es nach vier Jahren erneut wieder packen können, meine Damen und Herren.
({17})
- Herr Kollege Wehner, ich freu mich, daß Sie hier wenigstens noch einen Zuruf machen; ich hatte Sie im bisherigen Teil meiner Rede schon etwas vermißt.
Diese Regierungserklärung, von der ich sprach, versetzte die Menschen in einen Zustand der Erwartungen, die zu erwecken immer gefährlich ist, weil die Enttäuschung unausweichlich wird.
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Niemand wird bestreiten wollen, daß dem Versuch Ihrer Politik sehr viel staatsbürgerlicher Goodwill entgegengebracht wurde. Dieser Goodwill ist längst umgeschlagen in eine große Ernüchterung und Enttäuschung. Unsere Mitbürger kennen mit uns die Liste der nicht gehaltenen Versprechungen, sie erleben die Inflation und den fehlenden Fortschritt und machen sich vielfach Sorge um den Zustand unseres Gemeinwesens. Es gibt manche Erbitterung, und auch Unsicherheit greift um sich.
Ich kann hier den Punkt nicht verschweigen, daß die anhaltende Tendenz - ich zitierte am Mittwoch Ihre früheren Mitstreiter Knorr und Steinbuch -, jenen Kräften gegenüber auf eine eigentümlich großzügige Weise duldsam zu isein, jenen Kräften gegenüber, die von linksaußen her mit dem Marsch durch die Institutionen unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat radikal verändern, ja umstürzen wollen, doch auch dazu führt, die wegweisende Autorität des Kanzlers immer mehr in Frage zu stellen - wie ein flackerndes Licht.
Und mußten Sie nicht wissen, daß eine Politik des Ausgleichs mit der Sowjetunion und eine Politik der Aufwertung der DDR doch erhöhte Klarheit in der Einstellung gegenüber den Gegnern der Grundprinzipien unserer Verfassung erfordert, wenn dies nicht zu Mißdeutungen und Desorientierungen führen soll? Eine Politik der Reform erfordert doch weniger Überschwang als Nüchternheit, weniger Erhöhung der Konsumerwartung als zunächst Opferbereitschaft. Eine Politik notwendiger Reformen setzt eine Basis der Stabilität im Ideellen und im Materiellen voraus.
({19})
Ziehen wir, meine Damen und Herren, deshalb eine Bilanz nach dem Maßstab, der uns leitet, und nach den Prinzipien, die der Grund des Erfolges der deutschen Politik in den ersten 20 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg waren, so müssen wir nach den Erfahrungen dieser drei Jahren leider dieses sagen: Es sind heute nicht mehr nur die Wege zu den Zielen der Politik, die uns trennen, wir stimmen heute auch in einigen Zielvorstellungen nicht mehr überein.
({20})
Wir wollen ,den Fortschritt und den sozialen Ausbau dieser Republik, viele im Lager der Koalition - so formulierte es Karl Schiller - wollen „eine andere Republik".
({21}) Dies ist die Frage, vor der wir alle stehen.
Wir kennen Ihre Steuerpläne. Wir sehen Ihre Verniedlichung der Inflation, Ihr Infragestellen von Stabilität, sozialer Marktwirtschaft und sozialer Partnerschaft. Wir kennen Herrn Bahrs folgenschwere und unwiderrufene Absage an den europäischen Bundesstaat. Wir kennen Ihre intolerante Reaktion auf Kritik, Ihre Haltung zum politischen
Radikalismus ebenso wie Ihre Weigerung, von Wiedervereinigung auch nur noch zu reden. Wir haben erlebt, wie Sie Gemeinsamkeit nicht wollten, wie Sie unseren Vorschlag zum inneren Frieden abwerteten.
Wir sehen Sie am Werk, die wirkliche Lage in ganz Deutschland nicht mehr darzustellen, und wir befürchten, daß Sie bereit sind, sich mit einem innerdeutschen Vertrag abzufinden, der wesentlich hinter den für verbindlich erklärten Kasseler 20 Punkten zurückbleibt.
Wir können in dieser Regierung und in dieser für die Zukunft sich abzeichnenden Politik weder den Anwalt der Schwachen noch den der Reformen sehen. Hier geht es um grundsätzliche Entscheidungen, die große Anstrengungen erfordern. Hier geht es um die Fundamente dieses freiheitlichen sozialen Rechtsstaates, hier geht es um dessen außenpolitische Zuordnung sowie um seine innenpolitische Ordnung. Das ist ,die Frage, vor der wir alle stehen.
({22})
Wir haben unsere Vorstellungen für diesen 6. Deutschen Bundestag - einige erwähnte ich - am 29. Oktober 1969 von dieser Stelle aus vorgetragen. Debatte für Debatte, Gesetz für Gesetz haben wir präzise und konkret unsere Meinung vertreten und unsere Alternative dargetan.
({23})
Wir haben die Anstrengungen gefordert, die wir machen müssen, wenn wir modern bleiben und mit anderen Schritt halten wollen. Unsere Prioritäten und unsere Gesetzesinitiativen haben dem entsprochen. Wir ließen uns dabei von dem Gedanken leiten, den wir zu Beginn hier so formulierten und den ich doch in diese Debatte einführen möchte, weil er für uns richtig und wichtig bleibt:
Die richtige Gesellschaftspolitik entscheidet über die Zukunft der Demokratie. Auf diesem Gefechtsfeld wird der friedliche Kampf zwischen rechter oder linker Diktatur auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite gewonnen oder verlor en.
({24})
Aus diesem Geiste lebte das, was gestern hier die Mehrheit gefunden hat: unser Paket zur Rentenreform.
Ich möchte eine andere Alternative, die zugleich ein Versagen dieser Regierung markiert, hier doch in diese Debatte und in diese Bilanz einbeziehen. Sie, Herr Bundeskanzler, hatten versprochen - und ich zitiere wieder aus Ihrer Regierungserklärung -:
Zu den Schwerpunkten der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dieser Bundesregierung gehört das Bemühen um eine gezielte Vermögenspolitik.
Auch dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten.
Verwirklicht wurde allein die von Ihnen hier an dieser Stelle nur als „ein nächster Schritt" angekündigte dritte Änderung des von der CDU/CSU eingeführten Vermögensbildungsgesetzes.
({25})
Seither ist nichts geschehen außer Vertröstungen und Versprechungen.
({26})
Diese Bundesregierung hat zu der Kernfrage der heutigen Vermögenspolitik, der stärkeren Beteiligung breiter Schichten am wirtschaftlichen Produktivvermögen, weder einen Gesetzentwurf vorgelegt noch auch nur ein taugliches Konzept entwickeln können.
({27})
Außerdem: der zunächst für Herbst 1970 zugesagte Vermögensbericht mit den versprochenen Maßnahmen zur Vermögenspolitik liegt am Ende dieser Regierung immer noch nicht vor. Die von Ihnen versprochene, notwendige Reform der Sparförderung und ihr Ausbau zu einer vermögenspolitischen Gesamtkonzeption, vor allem in Richtung auf eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am wachsenden Produktivvermögen der Volkswirtschaft - so Ihre Worte , liegt nicht vor.
Herr Kollege Wehner wie der Bundeskanzler haben auf die nächste Legislaturperiode vertröstet. Wer soll dem glauben, wenn er diese nicht erfüllten Versprechungen hier heute sieht?
Sie hatten versprochen, das Sparen der Selbständigen im eigenen Betrieb in die allgemeine Sparförderung mit einzubeziehen; dies ist unterblieben. Sie haben zugesagt, eine Erweiterung der Möglichkeit des Bausparens zu schaffen; dies wurde nicht eingehalten. Selbst der Auftrag dieses ganzen Bundestages - Entschließung vom 4. Juni 1970 -, bis spätestens zum 30. Juni 1971 einen Gesetzentwurf zur Reform der gesamten Sparförderung und gesetzliche Vorschriften zur Sparförderung von Selbständigen vorzulegen, wurde nicht erfüllt.
Diese negative Bilanz dieser Bundesregierung in einem Kernbereich der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wiegt, wie wir meinen, besonders schwer, weil die Vermögenspolitik eine der tragenden Säulen der Sozialen Marktwirtschaft ist.
({28})
Meine Damen und Herren, Sie können - und dies muß hier einmal gesagt werden, weil Sie draußen anders daherreden - an der Tatsache nicht vorbei, daß in den 20 Jahren, die Sie von dieser Seite des Hauses immer so schelten, kein einziger Antrag als Beitrag zu einer breiteren Vermögensbildung eingegangen ist, kein einziger.
({29})
Sie haben kritisiert und kritisieren immer noch, und Sie waren unfähig, in diesen drei Jahren eine einzige Vorlage zu machen. Als der Bundeskanzler hier heute ein paar Zahlen nannte, hat er nur hinzuzufügen vergessen, daß diese Zahlen auf der Basis der von uns begonnenen Vermögenspolitik möglich geworden sind.
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Meine Damen und Herren, dies wiegt um so schlimmer, als die Bundesregierung Brandt hiermit nicht etwa auf Neuland beginnen mußte. All die Reformen, die Novellen habe ich genannt. Aber für den ausstehenden Bereich - wir räumen dies ein: das stand in der Palette der Vermögensbildung noch aus - der Vermögensbeteiligung breiter Schichten am Produktivkapital waren in der Zeit der Regierung der Koalition vier unter Hilfe unseres Freundes Katzer konkret ausgearbeitete Modelle für die stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen in den Schubladen. Sie hätten also nur, Herr Bundeskanzler, entscheiden müssen, welche davon, ja oder nein, oder welche man zusammenpackt. Dies ist nicht geschehen. Das, Herr Bundeskanzler, stimmt natürlich nachdenklich. Denn das ist entweder das Zeichen für Konzeptionslosigkeit oder für Handlungsunfähigkeit oder dafür, daß sich diejenigen bei Ihnen durchgesetzt haben, die auf Ihrem letzten Parteitag erklärten: Die ganze breitere Vermögensbildung sei schlecht, denn das stabilisiere dieses System.
({31})
Herr Bundeskanzler, wir wollen dieses System fortentwickeln, wir wollen es sozial ausgestalten. Dazu gehört diese breitere Vermögensbildung, und es muß sich um privates Vermögen in breiteren Schichten handeln, nicht um Kollektivfonds, die nur die Macht anonymer Stellen stärken sollen.
({32})
Alle Gesetzentwürfe der CDU/CSU hierzu wurden von der Regierung blockiert. Ohne die Veränderungen im Parlament wäre ja auch unser Rentenpaket hier blockiert worden; das wollen wir ja doch nach den Reden von gestern und heute noch einmal festhalten.
({33})
Blockiert wurde der April 1970 vorgelegte gesetzliche Beteiligungslohn. Blockiert wurde die weitere soziale Privatisierung von Bundesunternehmen, Vorlage vom November 1970. Wir haben dann weitere Initiativen beschlossen, nämlich die der betrieblichen Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer, die der Schaffung und Förderung von Unternehmensbeteiligungsgesellschaften für den Mittelstand. Zu all dem gibt es von der Koalition keine Alternative, es sei denn, Sie halten die Blockade dieser Ideen für eine Alternative.
({34})
Dies ist ein umfassendes Gesetzgebungsprogramm der CDU/CSU. Dies ist die bisher einzige vorliegende gesetzesreife, ausformulierte Konzeption zu diesen Fragen. Wir werden - ich wiederhole dies, was ich vorhin für den Bildungsbereich sagte - dieses Gesetzgebungsprogramm im 7. Deutschen Bundestag durchsetzen, so wie wir am Schluß des 6. unser Rentenreformpaket durchgesetzt haben.
({35})
Es bleibt hier anzumerken: Wäre dieses Programm zur besseren und breiteren Eigentumsstreuung hier bereits verabschiedet worden, was ja durchaus möglich und von uns beantragt war, so wären 1971 und 1972 12 Milliarden Deutsche Mark als persönliches Eigentum den unselbständig Tätigen zugeflossen. Das haben Sie verhindert.
({36})
Wenn ich nun, Herr Bundeskanzler, nachdem Sie uns auf das Adjektiv in unserem Parteinamen angesprochen haben, Sie fragen darf, dann möchte ich sagen: ob dieses Verhindern „sozialistisch" ist, das weiß ich nicht, aber ich weiß: sozial und gerecht ist das nicht, was Sie hier blockiert haben.
({37})
Dazu kommen die Inflationsverluste der Sparer in Höhe von mindestens 40 Milliarden Deutsche Mark in den letzten beiden Jahren.
({38})
Hinzu kommt - mein Kollege Strauß hat dies dargetan -, daß die Sparzinsen geringer sind als die Inflationsrate. Meine Damen und Herren, Sie sollten wenigstens diesen Bereich aus dem „Stolz" über Ihre Negativbilanz doch herausnehmen.
({39})
Der Herr Bundeskanzler hat gefragt - und diese Frage muß beantwortet werden, weil die Welt draußen und auch alle hier drinnen einen Anspruch darauf hat, das zu wissen -, wie wir zur Europäischen Sicherheitskonferenz, wie wir zu dem Projekt der multilateralen Truppenverdünnung stehen und wie wir dazu stehen, mit der DDR vertragliche Regelungen zu treffen. Herr Bundeskanzler, ausweislich der Protokolle dieses Hauses ist ganz klar, daß wir dazu bereit sind. Nur eines möchte ich hinzufügen: Der Maßstab in allen diesen Fragen ist für uns der der NATO, der des Westens. Die NATO, der Westen erklären: Maßstab für Entspannung und Frieden ist Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen. Dazu stehen wir, und von diesem Maßstab her beurteilen wir die einzelnen Schritte in den Richtungen, nach denen Sie fragten. Ich darf hinzufügen - nachdem Sie ähnliches sagten -, daß die Verantwortlichen in Washington, Paris, London und Moskau sehr wohl und sehr konkret die Auffassung dieser Opposition zu diesen Fragen kennen.
Sie haben dann, Herr Bundeskanzler, noch versucht, ein Thema, ich kann nur sagen: zu erfinden. Herr Kollege Scheel hat heute morgen eine Frage gestellt. Gut, das war sein Recht. Es war auch Ihr Recht, die Antwort - Herr Kollege Schröder hat diese Frage beantwortet - zu überhören. Es bedurfte deshalb nicht mehr der Polemik des Herrn Bundeskanzlers.
Aber lassen Sie mich dies in aller Deutlichkeit sagen: Wir sind - das ist alles andere als das, was Sie hier behaupten oder unterstellen - für eine europäische Gipfelkonferenz. Wir sind nur nicht der Meinung, daß man so viel Geschrei machen sollte, wenn es sich nur um die Errichtung eines Währungsfonds handeln sollte. Wir sind dafür. Wir hätten uns vielleicht eine inhaltsreichere Tagesordnung vorstellen können. Aber wenn Sie von uns
noch eine Anregung entgegennehmen wollen, Herr Bundeskanzler, dann setzen Sie dort den Beschluß durch, daß sich die Regierungschefs jedes Jahr einmal treffen! Das wäre ein Beginn verstärkter politischer Zusammenarbeit.
({40})
Für eine solche Sache haben Sie auch sofort die Unterstützung der Opposition.
Sie müssen doch folgendes verstehen: Wenn eine Opposition in diesem Haus, die, wie Sie gesehen haben, entweder die Mehrheit hat oder nahe daran ist, wie immer die Tage gerade sind, lesen muß, daß Sie ungehindert durch diese parlamentarischer Tatsache und ungehindert dadurch, daß dieses Haus heute aufgelöst wird und es deshalb ein Parlament nicht mehr gibt - daß Sie dann als geschäftsführende Regierung im Amt bleiben, Herr Kollege Scheel, ist allzu selbstverständlich -, gleichwohl noch wichtige Verträge aushandeln wollen, muß dazu gesagt werden: das entspricht nicht parlamentarischer Sitte und demokratischem Stil; das sollte eigentlich selbstverständlich sein.
({41})
Herr Bundeskanzler, zu Beginn Ihrer Regierung haben wir hier auch die außenpolitische Situation bilanziert. Ich habe von dieser Stelle aus für die Opposition am 29. Oktober 1969 folgendes erklärt - ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten -:
Frankreich setzt seine Akzente der Europa-Politik näher zu den unseren. ... Die Sowjetunion denkt ... neu nach über Mitteleuropa. Die Verantwortlichen in Ost-Berlin beginnen, sich von starren Formeln zu lösen. Das weltpolitische Gespräch der beiden Großmächte wendet sich den Raketen-Problemen zu und nimmt damit zugleich - endlich - auch politische Spannungsursachen als Thema auf. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland stand kein Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt in einer vergleichbaren Situation.
Dies war eine einmalige Chance. Ich glaube, man muß heute sagen, daß diese einmalige Chance für die deutsche Politik nicht genügend genutzt worden ist, ja, daß sie wahrscheinlich verbraucht wurde.
Natürlich gibt es - wer wollte es leugnen! - ein paar Dinge, die besser geworden sind. Aber es gibt doch auch Verschlechterungen und Verhärtungen. Sie sollten doch, wenn immer sie sich bemühen, ein wirklichkeitsnahes Bild zu geben, von der Illusion Abstand nehmen, als hätten sich etwa in den letzten Monaten die Abgrenzungsmaßnahmen der DDR nicht verschärft. Ich nenne erstens die Einführung von Auslandspostgebühren in der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, zweitens die drastische Erhöhung der Telefongebühren für den innerstädtischen Telefonverkehr in Berlin, drittens die Anweisung der SED und der Behörden drüben intern an die Bürger der DDR, keine Westberliner in die DDR einzuladen. Ich nenne viertens die Enteignungswelle gegenüber halbstaatlichen und privaten Betrieben in der DDR im ersten Halbjahr 1972. Ich nenne fünftens die Akkreditierung westdeutscher und West-Berliner Journalisten in der DDR als Ausländer beim Außenministerium der DDR.
Es darf doch, Herr Bundeskanzler, niemand übersehen - es hätte Ihnen wohl angestanden, dies hier zu sagen -, wie teuer diese geringfügigen Verbesserungen erwirkt sind und wie weit sie hinter den Erwartungen zurückbleiben, die Sie 'im Zusammenhang mit der Ostpolitik erweckt haben, welche Sie ausgesprochen und gefördert haben. Dies alles bleibt doch hinter den Erwartungen zurück.
({42})
So greift auch hier allenthalben berechtigte Enttäuschung um sich.
Dies um so mehr, als Zusagen östlicher Seiten nicht eingehalten wurden. Wir haben erlebt, Herr Bundeskanzler - das interessiert uns sehr, und ich hoffe alle hier im Hause -, daß es auf Grund von Pressemeldungen über eine Sitzung, die die Führungsgremien der CDU und der CSU am 2. Oktober in Berlin im Reichstag abzuhalten wünschen, einen Protest der DDR gibt. Dabei kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es unser Recht war und nach dem Vertrag geschrieben ist, mit diesen Gremien in Berlin zu tagen und alle Fragen dort zu besprechen. Dies muß man hier festhalten.
({43})
Dann sehe ich die nicht gehaltenen Zusagen, etwa hinsichtlich der Behandlung der Sofortbesuche der West-Berliner oder die nicht gehaltenen Zusagen der polnischen Regierung. Herrn Kollegen Wehner blieb es vorbehalten, in einem Brief vom Februar 1971, der veröffentlicht ist, zu erklären, „daß der deutsch-polnische Vertrag die einzige Möglichkeit darstellt, um Familienzusammenführung ... verwirklichen zu können". Dies ist nicht die Wahrheit. Jedermann weiß, daß vor der Unterzeichnung des Vertrages viele Mitbürger aus Polen und den polnisch verwalteten Gebieten zu uns gekommen sind. Es sind von 1955 bis 1970 368 824, im Monatsdurchschnitt als 1921 Menschen. Nach der Unterzeichnung in diesen ersten sieben Monaten waren es 7348 Personen, d. h. im Monatsdurchschnitt 1049. Wenn Sie sich mit diesen Mitbürgern unterhalten und sich vortragen lassen, welchen Beschwerden diese Umsiedlungswilligen ausgesetzt sind, welche Schikanen sie ertragen müssen, gehört dies in den Bereich nicht eingehaltener Zusagen, auf deren Erfüllung eine kommende Regierung wird drängen müssen.
({44})
Wenn dieser Bundestag jetzt nicht zu Ende gegangen wäre, hätten wir Sie hier mit einer großen Debatte über folgende Frage konfrontiert, mit einer Debatte über die Forderungen des Herrn polnischen Ministerpräsidenten, der von uns immerhin klare Eingriffe in die innere Ordnung verlangt: Das Verbot von Aktivitäten von Landsmannschaften, die Änderung von Schulbüchern, die Einstellung der Tätigkeit von Radio Free Europe, die Bedenken gegen eine ideologische Unterwanderung mittels verstärkter persönlicher und kultureller usw. usw. und die Abschaffung der Rechtsvorschriften, die von
Deutschland innerhalb der Grenzen von 1937 ausgehen. Das heißt doch nichts anderes, als die Staatsangehörigkeitsfrage auf den Tisch zu legen.
Wenn wir dies alles sehen, kommen wir zu dem Schluß, daß in diesem Bereich der Ostpolitik mehr Geduld und Bedacht und weniger Eilfertigkeit, mehr Präzision in der Zielsetzung und in der Formulierung als Vertrauensseligkeit, mehr Bestehen auf Grundsätzen als Nachgiebigkeit die künftige deutsche Ostpolitik leiten müssen.
Wir fügen hinzu: Unsere erste außenpolitische Aufgabe liegt, gerade wenn der Wille nach Frieden und Versöhnung, nach Sicherheit und allgemeiner Wohlfahrt uns leitet, in dem Bestreben, im freien Europa durch praktische Schritte Tatsachen zu schaffen, die der Vereinigung näherkommen und sie endgültig machen.
Ich betone deshalb - auch auf Grund der Frage des Herrn Bundeskanzlers -: Klarheit und Beharrlichkeit in drei Punkten sollten uns auszeichnen: Erstens geht es darum, unsere Sicherheit durch Bündnis und Bundeswehr zweifelsfrei zu festigen,
({45})
zweitens darum, den politischen Zusammenschluß des freien Europa zu fördern, und zwar nicht durch ideologische Überschriften, sondern durch Tatsachen, welche die Gemeinsamkeit festigen,
({46})
und drittens um das Ringen um Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen in ganz Deutschland und in ganz Europa. Ich nannte dieses Maß, und ich möchte hinzufügen, daß der DDR zugemutet werden muß, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Einheit Deutschlands in absehbarer Zeit nicht verwirklicht werden kann.
Das so zusammen zu sehen, ist, wie wir meinen, eine reale, solide, und, ich füge hinzu, eine westlich verstandene, westlich abgesicherte und westlich definierte Strategie des Friedens und der Aussöhnung.
Herr Bundeskanzler, treten wir alle in einem Punkt einander in den kommenden Wochen nicht zu nahe: Friedenspolitik gab es vor Ihnen, und Friedenspolitik wird es nach Ihnen geben. Dieses Haus will nichts anderes, weil dieses Volk nichts anderes will. Das sollte hier klar sein. ({47})
Ich muß noch einen anderen Punkt behandeln, weil wir, wie wir glauben, festhalten müssen, daß politischer Radikalismus und Kriminalität heute nicht mehr zu trennen sind. Sie haben geglaubt, Herr Bundeskanzler, uns mit einem Hinweis eins auswischen zu können. Ich möchte an eine Debatte erinnern, die wir vor kurzer Zeit geführt haben und in der ich mitgeteilt habe, daß zehn Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg eine Konferenz bei Ihnen stattgefunden hat, in der die Frage der Kriminalität besprochen werden sollte. Ich habe damals zusammen mit Richard Stücklen erklärt: Wir kommen trotz der Wahl, bitten aber, dann auch die Frage des politischen Radikalismus auf die Tagesordnung zu setzen, weil dies zusammengehört. Man hat gesagt, dies wolle man tun, weil man aus durchsichtigen Gründen an der Konferenz interessiert war. Dann hat man uns während der Konferenz gefragt: Warum bestehen Sie eigentlich darauf, auch politischen Radikalismus neben der Kriminalität zu beraten? Ist das für Sie nur „unbequem", weil sich hier und da Pfeifer und Störer in den Versammlungen befinden, oder ist das wirklich eine „Gefahr"? Das war im April 1972.
Deshalb sage ich: Wir alle - ich zitiere nicht noch einmal Professor Steinbruch oder Herrn Knorr - sollten nicht zuerst nach der Polizei rufen, sondern zuerst danach, daß die politische Führung dem Gedanken der kämpferischen Demokratie entsprechend handelt. Dies ist das erste.
({48})
Der Staat, von dem wir reden müssen, ist die Institution, welche die Freiheit sichert. Eine der Wurzeln der inneren Unsicherheit, die viele zu Recht veranlaßt, die Frage zu stellen, ob wohl unsere Staatsautorität zerbröckele, liegt doch in der „Strategie der Systemüberwindung". Diese Strategie nutzt die Freiheiten und die Grundrechte, die unsere freiheitliche Verfassung allen Deutschen gewährt, um die demokratische Grundordnung unseres Gemeinwesens mitsamt seiner wirtschaftlichen Basis zu zerstören. Die Freiheitsrechte der Bürger werden zu Angriffswaffen gegen die rechtsstaatliche Ordnung umfunktioniert.
Was wir meinen, wenn wir von Freiheit, von Aufklärung, von Toleranz und Humanität sprechen, wird in sein Gegenteil verkehrt. Dies geschieht bewußt, um die Wertordnung des freiheitlichen Rechtsstaates und die sittlichen Grundüberzeugungen seiner Bürger zuerst in Frage zu stellen und sie schließlich zu vernichten. Dieser Verkehrung der Begriffe müssen wir uns widersetzen. Dies ist das allererste. Nur wenn wir diese Demokratie als einen Staat, der nicht wertfrei ist, begreifen und ihn deshalb nicht wertfrei auf eine Stufe mit den Institutionen stellen, die es drüben in der DDR gibt, nur dann, wenn wir den Wert dieser Demokratie begreifen, wird es uns gelingen, diese geistige Auseinandersetzung so zu führen,
({49})
daß am Schluß eben weniger nach der Polizei gerufen werden muß.
({50})
Meine Damen und Herren, nur auf der Basis dieses Wertbewußtseins wird es gelingen, hier alles fortzuentwickeln. Und deshalb dürfen wir uns nicht von denen beeindrucken lassen, die entsprechend dieser Strategie versuchen, uns ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn wir von Recht und Ordnung sprechen.
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Dieser demokratische Staat muß - und jetzt gebrauche ich ein Wort, das für viele, aber ich hoffe,
nicht hier im Hause, vielleicht schrecklich ist - seine Machtmittel für Recht und Ordnung einsetzen,
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denn diese Demokratie kann das tun, weil es hier ja kein Gesetz gibt, das anders zustande gekommen wäre als durch eine Mehrheit frei gewählter Abgeordneter, die hier das Volk selbst vertreten.
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Gewiß, es wird zur Zeit etwas weniger demonstriert und auch etwas weniger randaliert. Aber es wird, meine Damen und Herren, mehr terrorisiert und mehr gemordet. Und dies, glaube ich, ist ein wichtiger Punkt. Wir haben zu beklagen - und ich hoffe, daß die Bundesregierung dies trotz des beginnenden Wahlkampfes noch nachholt -, daß die Kriminalstatistik noch nicht vorgelegt worden ist. Ich glaube, dies sollte noch geschehen, damit hier jeder ein vorurteilsloses Bild hat.
Aber wir haben jetzt im Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen in München, die keiner von uns zu falschen Zwecken zu mißbrauchen gedenkt, gesehen, daß da plötzlich bekannt wurde, es gebe 50 Stützpunkte ausländischer Organisationen hierzulande, die Gewalt als Mittel der Politik nicht ausschließen.
({54})
Das hört man plötzlich. Das sind doch 50 Stützpunkte zuviel. Dieses Land darf kein Tummelplatz für solche Art von Terroristen werden!
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Wir dürfen auch nicht die Augen vor denen verschließen, die gewaltlos - mit dem „Marsch durch die Institutionen" - diese Gesellschaftsordnung unterwandern und aushöhlen. Auch wir sind dafür, daß das Instrumentarium der streitbaren Demokratie möglichst differenziert angewandt wird. Wir sind dafür, durch politische Auseinandersetzungen den Radikalismus zu schlagen-möglichst im Wege der Solidarität der Demokraten. Aber wir können doch nicht das in der Verfassung verankerte Damoklesschwert des Verbots, das an einem Seidenfaden hängen muß, nun plötzlich mit einem festen Tau anbinden und denen auch noch sagen: Da bleibt's auch. Das heißt doch, ein Stück der Möglichkeiten des differenzierten Kampfes auszuschalten.
Wir haben deshalb, meine Damen und Herren, den Beschluß der Ministerpräsidenten von Januar dieses Jahres zur Abwehr verfassungsfeindlicher Kräfte im öffentlichen Dienst begrüßt. Wir sehen mit Bestürzung, wie gegen diesen Beschluß innerhalb der Koalition, vor allen Dingen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, eine Kampagne des Protestes losgebrochen ist. Und wir sehen, daß die hessische Landesregierung aus der Solidarität der Länder ausgebrochen ist und Durchführungsbestimmungen erlassen hat, die nicht mit der Verabredung übereinstimmen.
Wir sehen, daß sich die Sozialdemokratie erst nach langem Zögern und sehr massivem - auch öffentlichem - Drängen der Opposition bereitgefunden hat, sich vom Sozialdemokratischen Hochschulbund abzugrenzen, weil dieser an mancher Stelle gemeinsame Sache mit Kommunisten macht. Aber es gibt doch nach wie vor Zusammenarbeit zwischen SPD-Jusos und SHB auf der mittleren und örtlichen Ebene. Und es ist doch so, daß Mitglieder der SPD noch Führungsfunktionen im SHB wahrnehmen, der vielfach Aktionseinheiten mit dem kommunistischen Spartakusbund eingegangen ist. Diese Frage, meine Damen und Herren, muß man aufwerfen. Man muß sie aufwerfen, wenn man es mit dieser streitbaren Demokratie und dem Kampf gegen den Radikalismus ernst nimmt. Das ist die andere Seite der demokratischen Toleranz.
Meine Damen und Herren, messen wir die Politik dieser Regierung, um die es heute geht, an dem Maßstab, den sie selbst in ihrer Regierungserklärung setzt, und messen wir sie an den Leistungen ihrer Vorgänger, dann müssen wir sagen, an beiden Maßstäben gemessen, ist diese Regierung gescheitert.
({56})
Und dies, Herr Bundeskanzler, und nichts anderes wird dieser 6. Deutsche Bundestag heute feststellen, indem er Ihnen das Vertrauen verweigert.
Dann haben die Wählerinnen und Wähler das Wort, und sie werden entscheiden. Wir werden uns stellen und Rechenschaft geben, unsere Vorschläge sagen und sehen der Entscheidung des Souveräns mit Zuversicht entgegen.
({57})
Wir meinen aber, meine Damen und Herren, daß neben und nach allem, was demokratisch und parlamentarisch unerläßlich hier an Aufrechnen und Abrechnen geschieht, diese Stunde, sofern wir sie nicht als eine Stunde für uns, sondern als eine Stunde unserer Pflicht gegenüber denen begreifen, die uns hierher gewählt haben, uns, wenn wir diese Stunde so begreifen, zwingt, doch aus dem, was wir in diesen Jahren erlebten, was wir erstrebten, was wir bewirkten oder erlitten, notwendige Lehren zu ziehen. Ich glaube, daß wir dieser - doch für keinen, Herr Bundeskanzler, heiteren - Stunde nur gerecht werden, wenn wir uns dieser Frage stellen. Was können wir aus alledem lernen? Hier ist doch keiner, der nicht immer noch dazulernen müßte. Ich wenigstens bekenne mich dazu.
So möchte ich versuchen, einiges von dem auszusprechen, was wir als Lehre aus alledem für die Zukunft empfinden. Diese drei Jahre, aufs Grundsätzliche bezogen, geben doch diese Lehre auf: In der Deutschlandpolitik kann hier keiner im Alleingang mit dem Kopf durch die Wand. Die Widrigkeiten, welche die Kommunisten auch dem Gutwilligsten von uns bereiten, sind so stark, und ich spreche es aus - die Möglichkeiten für uns als Deutsche allein sind so gering, daß wir hier, falls wir Erfolg an veränderten, verbesserten Wirklichkeiten, nicht aber an Schlagzeilen oder falschem Beifall messen, nur Erfolg haben können und haben werden, wenn wir alle, wenigstens in diesen Fragen, Gemeinsamkeit finden und wenn wir unsere Probleme in die gemeinsamen Interessen aller Europäer einordnen, die das unveräußerliche Recht auf SelbstDeutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Dr. Barzel
bestimmung so definieren und so meinen wie wir selbst.
({58})
Dies ist eine Lehre, und die sollte auch jeder beherzigen, dem es um den inneren Frieden hierzulande ernst ist.
Wir haben ein anderes gelernt, nämlich nur zu versprechen, was konkret geplant, solide durchgerechnet ist und nicht nur als wünschenswert oder als wahrscheinlich gilt, was sich also nach solider sachgerechter Prüfung als möglich erweist. Sich zu bescheiden, sich genau darauf zu bescheiden, sollte künftig für alle nicht als kleinlich, sondern als Größe verstanden werden.
({59})
Nicht Illusionen zu wecken, Versprechungen zu machen oder Träume zu nähren, sondern die Grenzen des politisch Machbaren zu erkennen und hier ehrlich die Wahrheit zu sagen und dem zu folgen, das ist die zweite Lehre, die sich aus diesem Scheitern anbietet.
({60})
Wir haben weiter gelernt, daß Fortschritt, den wir wollen, ohne den Mut zu neuen Ufern, also etwa aus Beharren oder Bequemlichkeit, unmöglich ist. Er ist ebenso unmöglich ohne Stabilität und Solidität, wie diese drei Jahre zeigen. Und hier, meine Damen und Herren, soll sich kein Demokrat täuschen: Wenn wir etwa das Unsolide, das Unstabile, also das Unmögliche, zum Maßstab nähmen, so würde der Ruf nach anderen Autoritäten laut, weil man sich gegängelt und genasweist statt geführt, weil man sich unter Niveau regiert fühlte.
Unsere Mitbürger wissen alle, daß nur bewiesene Leistung, nur konkretes Können weiterführt; nur so kommen sie voran im Beruf und im Leben. Dies ist das Gesetz unserer freien Gesellschaft. Deshalb verlangen diese Mitbürger zu Recht, völlig zu Recht, daß auch die Politiker diesem Maß dieser leistungsfähigen Gesellschaft entsprechen.
Unsere Mitbürger, die wir hier vertreten - und keiner von uns säße doch hier, wenn er nicht so oder so deren Auftrag hätte -, interessieren sich sehr wenig für die Rankünen, die Rechthabereien oder die Geschäftsordnungen hier. Sie fragen allein, ob wir den Dienst für das Ganze, den wir hier leisten, nach den Maßstäben leisten, die sie selbst erfüllen müssen, d. h. ob wir hier mit Erfolg arbeiten und ob wir verantworten, was wir taten. Deshalb kann es sein, Herr Bundeskanzler, daß Sie das hier heute nicht verdient haben; aber verantworten müssen sie diesen Mißerfolg.
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Meine Damen und Herren, wir ziehen eine weitere Lehre. Wir wollen, wie unsere Mitbürger, Frieden und Aussöhnung, gute Nachbarschaft und Freizügigkeit nach allen Himmelsrichtungen. Aber ebenso wollen wir entscheiden, hier in Deutschland so zu leben und frei so zu entscheiden, wie wir selbst es wollen. Wohin also immer die Weltpolitik geht, die wir, ob uns das paßt oder nicht, nur wenig beeinflussen: nie darf das etwa auf unsere innere Ordnung hier einwirken.
Wir wollen endgültig ein freies Land sein, - ohne Rassismus und Gewalt, ohne Einmischung von außen, ohne Intoleranz, Diktatur und Manipulation; ein Land, dessen außenpolitische Friedfertigkeit schon wegen seines inneren Friedens unbezweifelbar ist. Dazu gehört, daß uns die Solidarität der Demokraten über allem steht und der Kampf gegen die Feinde der Freiheit die gemeinsame Selbstverständlichkeit ist.
Meine Damen und Herren, unsere Mitbürger empfinden mit uns, daß Deutschland- und Außenpolitik eines gespaltenen Landes gemeinsam von allen Demokraten betrieben werden sollte - schon im Interesse des inneren Friedens, auch in dem des Erfolgs. Sie empfinden, daß Fortschritt auf Stabilität und Stabilität auf dem nüchternen, sachgerechten Mut einer entscheidungsfreudigen Regierung gegründet ist. Sie empfinden, daß Demokratie gegen ihre inneren Feinde kein schlapper Staat sein darf; daß ehrliche Nüchternheit demokratische Politik legitimiert; daß deutsche Politik europäisch eingebettet sein muß.
Vor diesen Maßstäben und Erwartungen sind Sie auch gescheitert, Herr Bundeskanzler. Auch deshalb wird Ihnen heute das Vertrauen verweigert werden. Wir sind durch dieses Scheitern, im Blick wie in der Verantwortung gestärkt. Der neue Anfang, den wir uns zutrauen, wird die Lehren dieser drei Jahre beherzigen.
Wir stehen vor einer gescheiterten Politik großer Versprechungen. Sie können durch verbale Kraftakte, wie wir sie erlebt haben, nicht beseitigt werden. Der Regierung und der Koalition fehlte es an der nötigen Kraft und Geschlossenheit. Uns hemmen nicht ideologisierte Bilderstürmer. Fortschritt verlangt Augenmaß, nüchternes Denken und den Blick für das Mögliche. Wir haben das hier bewiesen bis 1969. Wir haben dies als Opposition bewiesen. Wir wissen und wußten, daß nicht alles zu gleicher Zeit geschafft werden kann.
Nach nur drei Jahren Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, steht zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag vorzeitig vor seiner Auflösung. Keine noch so schönen Worte können darüber hinwegtäuschen, daß Sie gescheitert sind. Sie haben die Chance gehabt. Sie haben die Chance vertan. Der Wähler hat das Wort.
({62})
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick. Für ihn hat die Fraktion der Freien Demokraten eine Redezeit von 30 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten wird dem Herrn Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen, da die Zusammenarbeit
in der Koalition in den vergangenen Jahren fair und ertragreich war.
({0})
Daß wir Freien Demokraten jetzt Neuwahlen befürworten, ist seit langem bekannt. Sie, Herr Dr. Barzel, können mit noch so viel Rhetorik
({1})
das Bild, das vorhanden ist, nicht retuschieren. Es
gelingt Ihnen nicht, die Tatsachen zu übertünchen.
({2})
Daß wir uns heute hier über eine Entscheidung im Zusammenhang mit Art. 68 des Grundgesetzes unterhalten, hat weder etwas mit einer Bankrotterklärung einer Regierung noch mit dem Gewissen oder der Treue einiger Mitglieder dieses Hohen Hauses zu tun. Tatsache ist doch, daß Sie sich als Opposition bis zum heutigen Tage mit dieser Rolle nicht abfinden konnten und verzweifelt bemüht waren, Stein um Stein herauszubrechen, nicht mit klareren Alternativen, sondern mit dem Verlangen, die Macht wieder in die Hand zu bekommen.
({3})
Wir wußten sehr genau, welch schweren Weg wir mit der Entscheidung von 1969 gehen. Wir waren uns bewußt, daß es nicht leicht sein würde, mit einer knappen Mehrheit Entscheidungen zu fällen, die im Interesse unseres Volkes notwendig waren und auch für die Zukunft notwendig sind. Wir bekennen uns zu dieser Entscheidung von 1969 heute an diesem Tage genauso wie vor drei Jahren. Sie war richtig, und sie bleibt richtig.
({4})
Der Kollege Barzel hat nun mit beredten Worten versucht, Alternativen, die wirklich deutlich gemacht hätten, welchen anderen Weg eine CDU/CSU-Regierung gehen will, darzulegen. Das ist ihm nicht gelungen. Er hat nur einige wenige Beispiele herausgegriffen und versucht, damit den Beweis zu liefern, daß die CDU/CSU eigentlich auch eine Reformpartei sei.
Herr Kollege Dr. Barzel hat sich ausgerechnet die Bildungspolitik ausgesucht und geglaubt, bei der Bildungspolitik beweisen zu müssen, daß diese Koalition, daß diese Regierung nicht erfüllt hat, was möglich war. Es bleibt Ihnen überlassen, weshalb Sie diesen Fehlgriff gemacht haben. Sie müßten doch wissen, daß Ihre Landesfürsten, die Landesvorsitzenden Ihrer Partei als Ministerpräsidenten, daß Ihre Parteikollegen als Kultusminister alles getan haben, um zu verhindern, daß wir zu einer einheitlichen Bildungspolitik in Bonn kommen.
({5})
Sie haben doch Ihre Mehrheit im Bundesrat immer wieder dazu mißbraucht, Fortschritte auf dem Gebiet der Bildung und der Ausbildung zu bremsen, zu hemmen, ja, unmöglich zu machen. Es ist ein wehleidiges Geschrei, das Sie anstimmen, wenn Sie dieser Koalition das, was sie wirklich erreicht hat, absprechen wollen. Es ist ein umfangreicher Katalog
von Leistungen, den Sie einmal in Ruhe nachlesen sollten. Auf über neun Seiten wird dargelegt, was diese Koalition mehr geleistet hat als jede Regierung unter CDU/CSU-Führung. Ich erinnere nur an das Ausbildungsförderungsgesetz, an den Ausbau der Hochschulen, an die Mittel, die wir zusätzlich zu dem, was früher an Mitteln vorhanden war, zur Verfügung gestellt haben.
({6})
Herr Kollege Barzel, Sie haben davon gesprochen, daß Sie eine Alternative für die Vermögensbildung mit dem Beteiligungslohn-Plan vorgelegt haben. Wissen Sie wirklich nicht, wie viele Kollegen aus Ihren eigenen Reihen ständig besorgt waren, dieser Gesetzentwurf könnte gar Gesetz werden?
({7})
Und warum waren sie besorgt? Weil sie genau wußten, daß dieser Gesetzentwurf über den Beteiligungslohn nach Herrn Burgbachers Vorstellungen gerade die lohnintensiven Betriebe, für die Sie draußen immer auf die Barrikaden zu gehen behaupten, in einer. Weise getroffen hätte, die unverantwortlich gewesen wäre.
({8})
Wir sind sehr froh darüber, daß wir diese Fehlentscheidung Ihrer Fraktion hier nicht gesetzlich verankert haben, denn das wäre zu Lasten der kleinen Selbständigen, zu Lasten aller lohnintensiven Bereiche gegangen. Diese Art Vermögenspolitik lehnen wir Feien Demokraten, lehnt diese Koalition ab.
({9})
Lieber Herr Kollege Barzel, Sie haben hier in einer durchaus berechtigten, gemeinsamen, uns alle angehenden Erklärung davon gesprochen, daß wir uns gegen das, was an Verbrechen und Terror in diesem Lande möglich war, wenden müssen. Ich hoffe, daß dies nicht nur verbale Erklärungen sind, sondern daß Sie, wenn es darum geht, zwischen Bund und Ländern in der leidigen Frage der Kompetenzen zu Entscheidungen zu kommen, genauso dazu stehen, wie Sie es eben hier getan haben, und nicht wieder ausweichen.
({10})
Herr Kollege Barzel, Sie sagten: Die Solidarität der Demokraten geht uns über alles. Wir sind der gleichen Meinung. Wenn das aber Ihre Überzeugung ist ich unterstelle dies -, warum haben Sie sich dann bis zur Stunde nicht von dem bösen Wort distanziert, das Ihr Neu-Kollege Dr. Mende in Hanau gesprochen hat ich zitiere wörtlich -:
Wenn die Bundestagswahl von dieser Regierung gewonnen werden sollte, würde das die letzte demokratische Wahl in diesem Land gewesen sein.
({11})
Wer das sagt, stellt sich außerhalb der demokratischen Gemeinschaft.
({12})
Wer das nicht zurückweist, solidarisiert sich damit und bricht damit die Solidarität der Demokraten.
({13})
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn. Abgeordneten Dr. Mende?
Da ich ihn angesprochen habe, bin ich einverstanden.
Ist der Herr Vorsitzende der FDP-Fraktion bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Formulierung der Schlußsatz einer längeren Darstellung der volksdemokratischen Methoden vom 27. April 1972 anläßlich des Mißtrauensvotums und vom 17. Mai 1972 anläßlich der Entscheidungen über die Ostverträge war?
({0})
Herr Abgeordneter Dr. Mende, ich hätte es für besser gehalten, wenn Sie sich jetzt hier dafür entschuldigt hätten, überhaupt so etwas gesagt zu haben.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Bundesregierung hat in ihrer dreijährigen Amtszeit - das ist unbestreitbar - mehr erreicht als andere Regierungen in vier Jahren. Wenn Sie, Herr Kollege Barzel, das nicht glauben wollen: vielleicht ist Herr Kollege Kirst so nett und überreicht Ihnen vier Bände Stichworte; da können Sie das nachlesen, was schwarz auf weiß beweist, was wir geleistet haben.
({1})
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
Herr Kollege Mischnick, darf ich mich durch eine Frage herzlich bedanken für die Übergabe der Wahlkampfunterlagen der Freien Demokratischen Partei und in dem Handschlag des Kollegen Kirst die Wiedergutmachung dafür sehen, daß Herr Kollege Schellenberg gestern durch Handschlag neue Sitten in diesem Hause einzuführen sich bemühte?
({0})
Herr Kollege Dr. Barzel, ich muß Sie berichtigen: Das sind nicht die Wahlkampfunterlagen, sondern Sie werden feststellen, daß auch Ihre Anträge objektiv gewürdigt worden sind. Es wäre gut, wenn Sie auch allen Ihren Rednern genauso geschlossen die Gesamtbilanz vorlegten, wie wir das zu tun pflegen. Denn wir sind fair.
({0})
Es ist schon sehr viel über Stabilität, Stabilitätspolitik und unterlassene Maßnahmen hier gesprochen worden. Aber eines verstehe ich nicht: weshalb die Kollegen der CDU/CSU, insbesondere Herr Kollege Dr. Barzel und Herr Kollege Strauß, es bis zur Stunde nicht fertiggebracht haben, daß die von der CDU/CSU regierten Länder, die mit ihrer Haushaltsausweitung erheblich über dem Durchschnitt stehen, sich endlich einmal an die Maxime ihrer eigenen Parteivorsitzenden halten.
({1})
Wenn Sie das bis zur Stunde nicht fertiggebracht haben, wie wollen Sie dann die Offentlichkeit überzeugen, daß Sie als möglicher Bundeskanzler dann mit Ihren eigenen Leuten überhaupt fertig werden? Ich bin davon nicht überzeugt.
Meine Damen und Herren, wir haben sehr viele kritische Bemerkungen über viele Einzelmaßnahmen gehört. Natürlich - das wissen wir ganz genau -: nicht alles, was wir uns vorgenommen haben, konnte erreicht werden. Aber alle diejenigen unter Ihnen, die in diesem Hohen Hause länger als vier oder acht Jahre sitzen und noch in Erinnerung haben, wie die CDU/CSU von 1957 bis 1961 mit ihrer absoluten Mehrheit allein regieren konnte, werden sich daran erinnern, daß von sieben versprochenen Reformvorhaben nicht ein einziges durchgeführt worden ist.
({2})
Das muß jeder im Lande draußen wissen, wenn er etwa darauf hofft, mit einer neuen absoluten Mehrheit der CDU/CSU mehr erreichen zu können. Die dürftigste Bilanz, die je eine Bundesregierung hatte, war die mit der absoluten Mehrheit der CDU/CSU.
({3})
Eine andere Frage wurde heute so zwischendurch wieder einmal deutlich
({4})
- ich habe das Gefühl, der Kollege Barzel ahnt schon, was jetzt kommt -: Wer ist eigentlich Herr im Hause der CDU/CSU? Diese Frage wurde erkennbar, als es darum ging, wer denn nun als erster und wer als zweiter sprechen darf.
({5})
Meine Damen und Herren, das, was 1957 sichtbar wurde, ist: Wenn die CDU/CSU die Mehrheit hat, muß sie nach der Pfeife der CSU tanzen. Dasselbe ist heute wieder sichtbar geworden.
({6})
Man fragt sich auch, weshalb eigentlich immer wieder in den Auseinandersetzungen von seiten der CSU - und da speziell - die Angst und die Panikmache in die Debatte geworfen werden.
({7})
Die Antwort auf diese Frage war sehr einfach. Bei einigem Nachlesen - es sind auch andere schon darauf gekommen - konnte man sie in dem Buch von Strauß „Finanzpolitik - Theorie und Wirklichkeit" finden. Ich zitiere:
Man kann einem Volke, auch wenn es ihm gut geht, die Gegenwart als schwer erträglich und durch düstere Prophezeiungen die Zukunft als gefährdet und katastrophengeladen vorgaukeln, bis sogar Anwandlungen von Hysterie auftreten und durch Angstreaktionen erst die Gefahren heraufbeschworen werden, vor denen angeblich nur gewarnt werden soll. Dazu gehört auch der leichtfertige, das Gesetz der Dimension verletzende Gebrauch der Begriffe „Krise", „Depression", „Inflation" u. ä.
So Herr Strauß!
({8})
Ich habe den Eindruck, daß Franz Josef Strauß dieses Rezept, das er 1969 bei anderen als gefährlich ansah, jetzt einmal selbst ausprobieren will. Ob das aber eine Qualifikation ist, in diesem Staat in einer Bundesregierung eine Funktion zu übernehmen, das bezweifle ich.
({9})
Meine Damen und Herren, ich kann nur feststellen, daß die Kollegen in der CDU, die in der Vergangenheit schon mit einer gewissen Sorge auf manche Entwicklung in der CSU blickten, eigentlich nunmehr gewarnt sein sollten. Wenn es beispielsweise der Vorsitzende der NPD für richtig hält, sich der CDU/CSU als „Stützkorsett" oder als „Rechtsbeistand" zu empfehlen - wobei das natürlich eine sehr doppelsinnige, gewollte Wirkung hat -, bin ich mir sicher, daß viele CDU-Kollegen genauso wie wir über solche Entwicklungen nicht erfreut sind. Aber die klare Distanzierung, das klare Abrücken davon, haben wir bis zur Stunde nicht gehört.
({10})
Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis: Mag auch manches von dem, was wir uns als Ziel gesetzt haben, was wir als Vorstellung über die gemeinsame Arbeit hatten, nicht voll erreicht sein - die Schlußbilanz, die wir hier nach drei Jahren ziehen können, ist angefüllt mit einer Vielzahl von Vorschlägen, Vorlagen, Initiativen, die wir Freien Demokraten mit unserem Partner durchbringen konnten. Wir sind dankbar dafür, daß die sozialdemokratische Fraktion für die Vorschläge der Freien Demokraten das Verständnis aufgebracht hat, das bei der CDU/ CSU in sechs Jahren Zusammenarbeit nie vorhanden gewesen ist.
({11})
Wir wissen, daß es heute ein Reihe Leute gibt, die sich plötzlich Gedanken darüber machen, daß die Unabhängigkeit dieser Freien Demokraten dadurch in Gefahr sei, daß sie erklären: Wir haben die Absicht, diese Koalition fortzusetzen. Wo waren eigentlich alle diese, als wir 1965 aus der Überzeugung einer guten Zusammenarbeit heraus erklärten:
Wir sind bereit, die Koalition mit der CDU fortzusetzen? Darf eine solche Bereitschaftserklärung nur abgegeben werden, wenn sie zugunsten der CDU ist? Merken Sie nicht, wie doppelzüngig Sie hier mit dem Vorwurf einer einseitigen, vorzeitigen Bindung argumentieren?
Wir gehen davon aus, daß die Wähler im Lande, wenn sie prüfen, was erreicht ist, wenn sie abwägen, was an kleinlicher Kritik, aber nicht an Alternativen vorhanden war, zu dem Ergebnis kommen werden, daß gerade diese Koalition, daß diese Bundesregierung in diesen drei Jahren nicht nur versprochen hat, Reformen durchzuführen, sondern daß erste Maßnahmen gelungen sind und, um die weiteren durchführen zu können, der Auftrag durch den Wähler erneut gegeben werden muß. Wir sind zuversichtlich, daß das Urteil der Wähler für uns Freie Demokraten positiv ausfällt.
({12})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wenig traurig, Herr Kollege Mischnick, betrete ich dieses Pult, weil Sie mir eine entzückende Lesefrucht 20 Minuten zu früh vorweggenommen haben. Auch ich war scharf auf dies Zitat mit der „Finanzhysterie". Ich hätte es allerdings so ver kauft, daß zunächst alle geglaubt hätten, es stammt von Willy Brandt, und zum Schluß hätte ich gesagt, wer es wirklich war, nämlich der Kollege Strauß.
({0})
Aber ansonsten hat natürlich Herr Kollege Mischnick nicht nur mit diesem Zitat völlig recht. In der Außenpolitik wie in der Innenpolitik kommt es im Interesse unseres Staates und unserer Bürger darauf an, daß wir auf der sicheren Grundlage dessen, was wir erreicht haben, Schritt für Schritt nach vorn gehen; oder mit anderen Worten: Es ist notwendig, daß der einzelne und daß wir gemeinsam uns auf die Bewahrung der für ihn, der für uns geltenden Grundlagen verlassen können. Auf solcher Basis kommt es darauf an, den sozialen Rechtsstaat durch notwendige Neuerungen und Verbesserungen schrittweise so zu gestalten, daß immer mehr in das Bewußtsein aller Menschen eindringen kann, in wie starkem Maße der Begriff „sozial" tatsächlich staatliche, gesellschaftliche, politische Wirklichkeit wird. Das ist eine immerwährende Aufgabe. Aber sie ist auch immer lösbar. Sie ist immer wieder lösbar, vor allem auch deshalb, weil unsere Demokratie nicht nur eine rechtliche oder verfassungsmäßige Form oder Hülle ist. Das ist sie auch. Aber Demokratie ist darüber hinaus, geschützt durch diese rechtliche Form, zugleich ein Komplex der Rechte des einzelnen Menschen, der Rechte auch von Gruppen und der Möglichkeiten zu friedlicher, wenngleich auch streitiger gesellschaftlicher Entwicklung. Rechte des einzelnen kann es ohne den Rahmen der modernen rechtsstaatlichen Demokratie, wie wir ihn nach vielen Irrwegen der Deutschen aufgebaut
haben, nicht geben. Rechte von Gruppen - verschiedene Meinungen und Interessen organisiert, auch im Gegensatz zueinander zu vertreten - ergänzen die Rechte der einzelnen, und sie ergänzen die gesellschaftspolitischen Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist ein konservativer Irrglaube, zu meinen, die rechtsstaatliche pluralistische Demokratie sei jene Form, mit der der gesellschaftliche Status quo festgeschrieben werden solle.
({1})
Demokratie ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Es ist richtig, daß Rechtsstaatlichkeit immer ein Hindernis für revolutionäre Entwicklungen ist. Das ist Gott sei Dank so. Wir haben es auch so gewollt, und wir wollen es weiterhin so. Demokratie ist die Staatsform, die Gesellschaftsform, füge ich für Herrn Heck hinzu, des friedlichen Wandels. Wir haben für die Wandel die Chancen genutzt, die diese Demokratie uns bietet. Wir sind angetreten - wie vorhin von Sprechern der Opposition schon mehrfach zitiert - unter dem Vorzeichen der inneren Reformen. Herr Kollege Schröder hat sich heute früh darüber lustig gemacht. Aber die eigene Propaganda Ihrer Partei, Herr Kollege, straft Sie Lügen. Inzwischen haben Sie nämlich kapiert, daß auch Sie von Reformen reden müssen, von Plänen reden müssen man staune! - und von Programmen. Wenn Herr Schröder gesagt hat, die Tatsache, daß Ihre Fraktion in diesem Sommer das Zustandekommen eines Haushaltsgesetzes verhindert habe, strafe die von uns in Wirklichkeit und Bundesgesetzblatt gegossenen Reformen Lügen, dann ist das einfach nur, entschuldigen Sie, dummes Zeug.
({2})
Das, was an Reformen verwirklicht worden ist, Herr Kollege Schröder, erfüllt sehr persönliche, sehr individuelle Bedürfnisse von Millionen von Frauen und von Männern, von Jugendlichen und sogar von Kindern.
({3})
Jede dieser Reformabsichten trifft natürlich zunächst auf organisierte Gegeninteressen. Sie artikulieren sich hier im Parlament durch die Fraktion, die in der Mitte sitzt, aber eigentlich rechts sitzen müßte,
({4})
trifft auf die Gegeninteressen von Gruppen, die sich organisieren, um den bisherigen Zustand zu erhalten. Das ist klar, das ist auch legitim; das hat das Grundgesetz Ihnen auch erlauben wollen. Wir sind Ihnen gar nicht böse.
({5})
Wir wollen nur mit Ihnen darum ringen, daß die beiderseitigen deutlichen Gruppeninteressen, die hier vertreten werden, auch dem Publikum, dem Bürger, dem Wähler ganz durchsichtig werden. Ich denke, daß wir in den letzten drei Jahren - mehr als jemals vorher geschehen - unseren Bürgern haben
deutlich werden lassen, daß deren Reformbedürfnis gerechtfertigt ist und daß bei dieser Regierungskoalition das Reformbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger verstanden und beantwortet wird.
({6})
Es ist inzwischen klarer geworden als vielleicht in manchen Jahren vorher, daß dafür auch Opfer gebracht werden müssen.
({7})
Das heißt nicht etwa: weniger persönlicher Wohlstand und statt dessen mehr Steuern für den Staat. Die richtige Alternative lautet vielmehr: weitere, wenn auch etwas weniger schnelle Steigerung des privaten Konsums, dafür mehr öffentliche Investitionen und mehr öffentliche Dienstleistungen für den Bürger.
({8})
Ich zweifle gar nicht, daß die Mehrheit der Bürger im eigenen Interesse, im Interesse ihrer ganz persönlichen Zukunft sich für die richtige Alternative entscheiden wird. Wir unternehmen heute alle miteinander den Versuch, ihnen die Entscheidung zu erleichtern.
({9})
Ich will mich zu diesem Zwecke ein wenig mit den verschiedenen Kassandra-Rufen der Opposition auseinandersetzen. Die werden ja zum Teil hier vorgebracht und zum Teil draußen, zum Teil gedruckt und zum Teil mündlich. Ich finde z. B. ein Flugblatt der CDU „Unser Kurs", und daraus kann man entnehmen, daß morgen nachmittag Eintracht Braunschweig gegen Bayern München spielt.
({10})
Unten am Rande steht dann etwas von 380 000 Mitgliedern - so viel ist das ja gar nicht -, die die „Initiative ergreifen", um „aus zerrütteten Staatsfinanzen herauszuführen".
({11})
An dieser Stelle muß man dann nochmal an das erinnern, was Herr Kollege Mischnick schon vorgetragen hat.
({12})
Die Sache ist doch so. - Ich sehe mit Vergnügen, daß der Führer der Christlich-Sozialen Union inzwischen eingetroffen ist. - Die Sache ist doch nur so, Herr Strauß, daß Sie hier anders reden als im Ausland. Es ist doch noch gar nicht viele Wochen her, da hat Herr Kohl, Ihr Freund, Ihr CDU-Ministerpräsident in Mainz, weit weg in Asien, in Tokio, öffentlich gesagt wörtlich --, die Entwicklung der Bundesrepublik sei gekennzeichnet „von wirtschaftlicher Prosperität und sozialer und politischer Stabilität". Was wollt ihr eigentlich noch?
({13})
Herr Kohl hat doch recht: Man kann es so kurz und präzise ausdrücken. Warum reden Sie so lange, Herr Strauß?
({14})
Der Oppositionsführer hat sich hier über Energiepolitik verbreitet.
({15})
- Ich komme gern auf den Kollegen Schiller zurück. Er ist nämlich ein Mann, der 1967 Bedeutendes zur Überwindung der von Ihnen zu verantwortenden Rezession und Arbeitslosigkeit beigetragen hat.
({16})
Der Oppositionsführer hat über Energiepolitik geredet. Wir sind auf diesem Feld sicherlich alle nicht ohne Besorgnis. Er hat gemeint, es fehle an einem energiepolitischen Gesamtkonzept. Da habe ich gedacht, nun käme etwas, woraus ich lernen könnte. Es kam aber gar kein Vorschlag, Herr Barzel. Genauso war es bei der ganzen Rede des Kollegen Vorsitzenden der CSU. Die Rede enthielt wohl sehr viel Kritik und Polemik - dazu sind Sie nach dem Grundgesetz legitimiert, und dazu fordert Sie diese parlamentarische Situation heraus -, aber an keiner einzigen Stelle auch nur einen alternativen Vorschlag.
({17})
Sicherlich wird die nächste Regierungserklärung
- es kann ja bestensfalls nur bis Anfang Januar dauern, bis Willy Brandt und Walter Scheel gemeinsam eine neue Regierungserklärung vortragen
- ein energiepolitisches Konzept enthalten.
({18})
Uns muß man die Sorge um den Steinkohlenbergbau nicht ans Herz legen. Wir haben nicht versprochen, daß jedes Jahr 140 Millionen t Kohle gefördert und abgesetzt werden;
({19})
das waren wohl andere. Wir haben uns mit dem Steinkohlenbergbau viel Mühe gegeben, so Walter Arendt oder Alex Möller,
({20})
- ja, sicher, Karl Schiller; wieso denn nicht? -, so die damaligen sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung der Großen Koalition. Vielleicht interessiert es Herrn Kollegen Barzel, daß ich z. B. sogar als Verteidigungsminister man hätte sagen können: das geht den in seinem Amt gar nichts an - selbstverständlich engen persönlichen Meinungsaustausch und Kontakt mit der Steinkohle gehalten habe, mit der Unternehmerseite genauso wie mit der Arbeitnehmerseite, weil es sich in der Tat um ein für den Staat und die Gesamtgesellschaft und noch mehr für die betroffenen Menschen wichtiges Problem handelt, das, verehrter Herr Kollege Professor
Erhard, notabene mit rein marktwirtschaftlichen Mitteln niemals gelöst werden kann.
({21})
Aber ich habe immer noch die Hoffnung, daß uns Herr Strauß hier bei der Suche nach einer besseren Wirtschaftspoitik ein wenig hilft. Es gibt eine Reihe von Feldern, Herr Kollege, auf denen Sie Fachmann sind. Zum Beispiel gibt der Staat enorm viel Geld für ein in der Großen Koalition begonnenes Flugzeugobjekt aus. Sie sind dort der Aufsichtsratsvorsitzende.
({22})
Herr Kollege Schiller hat schon immer gemeint, man müsse nun endlich mit der Schere da etwas abschneiden, weil es zu teuer wird. Vielleicht hat er recht. Aber Sie sind der Fachmann, Herr Strauß. Sagen Sie uns, ob wir bei diesem Projekt vielleicht etwas rationeller mit dem Geld des Steuerzahlers umgehen können, wie Sie es uns doch empfohlen haben.
({23})
Die Widersprüche im Verhalten und im Reden, auch zwischen den Reden verschiedener Exponenten der Opposition sind sehr eindeutig. Zum Beispiel hat der Oppositionsführer am 21. des vorigen Monats erklärt, ein europäischer Beitrag zur stabilitätsorientierten Neuordnung des Weltwährungssystems sei nötig und möglich; damit stimme ich überein. Er hat dann fortgesetzt: Solange diese Neuordnung noch aussteht, halten wir uns die Möglichkeiten einer größeren und europäisch abgestimmten Außenflexibilität der Währung offen. Das heißt auf deutsch, er möchte sich gern die Tür für ein neues Schwankenlassen der Kurse offenhalten. Herr Strauß hat hier vor genau zwei Stunden das akkurate Gegenteil vorgetragen. Was ist denn nun richtig, was stimmt denn nun?
({24})
Verehrter Kollege Strauß, dadurch, daß Sie jetzt lächeln, schaffen Sie doch diesen diametralen Widerspruch nicht aus der Welt.
({25})
Der zukünftige Wirtschaftsminister in einem Kabinett Strauß - Gott behüte uns! - hat nun wieder das gesagt, was Herr Barzel gesagt hat.
({26})
- Herr Klasen als Präsident der Bundesbank und der gegenwärtig hier Sprechende stimmen in der Beurteilung dieser Frage genau wie das ganze Direktorium, der ganze Zentralbankrat und die ganze Bundesregierung vollständig überein.
({27})
- Aber selbstverständlich handeln wir danach!
({28})
- Wir wenden doch endlich jenen Paragraphen an, der in der Ara des Gralshüters der liberalen MarktBundesminister Schmidt
wirtschaft, des von mir persönlich verehrten Professors Erhard, 1962 geschaffen wurde. Wir haben ihn gar nicht erfunden, die CDU/CSU hat diesen § 23 im Außenwirtschaftsgesetz geschaffen; wir aber wenden ihn an. Wir schämen uns auch dessen nicht; denn es wird ja eines Tages, wenn der Platzregen aufgehört hat, der Regenschirm des § 23 auch wieder weggetan werden können. Ich erinnere mich, daß gestern in der Sitzung des Zentralbankrats einer der Herren gesagt hat, man solle doch den verehrten Altbundeskanzler Erhard dafür nicht in Anspruch nehmen, das sei ein illegitimes Kind von ihm gewesen.
({29})
Das mag so sein. Ein anderer hat dann gesagt -das war nicht ganz ernst gemeint, sondern mehr im Flachston, wie das auch in ernsten Zirkeln manchmal erlaubt sein muß -: Nein, nicht illegitim, sondern es war eine unerwünschte Schwangerschaft, die zu seinem Leidwesen ausgetragen wurde.
({30})
Aber alle diese Witze helfen darüber nicht hinweg, daß Ihr den Paragraphen geschaffen habt und wir ihn anwenden, weil wir das tun, was der Bundesregierung im Gesetz aufgegeben ist.
Jetzt kommen wir auf einen anderen der potentiellen Minister eines Kabinetts Barzel zu sprechen, auf den CDU-Wirtschaftsminister des Saarlandes. In diesem Kolloquium, von dem Herr Barzel vorhin schon hörte und zu dem er ein Dementi abgab, das sei alles nicht so gewesen, hat auch dieser Herr CDU-Landeswirtschaftsminister sich zu diesen Problemen geäußert. Er hat in bezug auf die Abstimmung in Europa, die auch des Dr. Barzels Ausgangspunkt gewesen war, wörtlich gesagt: „Wir müssen eine Politik am Rande der Krise machen, wenn wir in Europa endlich zur Stabilität kommen wollen."
({31})
Eine solche Politik am Rande der Krise hier ist
nicht Wirtschaftskrise, sondern Krise der europäischen Gemeinschaft gemeint - ist sicher genau das Gegenteil von dem, was unsere europäischen Partner, was unser eigenes Volk und was insbesondere die Arbeitnehmer von uns in der Europapolitik erwarten und verlangen können.
({32})
Wenn ich eine Reihe von CDU-Professoren und CDU-Landeswirtschaftsministern über das reden höre, was die EWG tun muß und was wir gefälligst durchsetzen sollen, habe ich manchmal das Gefühl, daß sie den von Ihnen wie uns gemeinsam gewollten Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur politischen Einheit, gegenüber den Partnern anderer Regierungen, die mit uns reden, mit denen wir zu Kompromissen kommen müssen, mit dem Hammer in der Hand betreten wollen. Ich muß Ihnen sagen, solche Bestandteile germanischer Mythologie werden von unseren Freunden und Nachbarn in Europa sicherlich mit nichts anderem als mit Abscheu betrachtet.
({33}) Auch innerhalb der erweiterten Gemeinschaft von zehn Staaten kann nicht jedermann seinen Kopf durchsetzen wollen, sondern auch dort muß auf demokratische Weise der Ausgleich, der Kompromiß zum Besten aller gefunden werden.
Auf den Zwischenruf hin fällt mir ein anderer Widerspruch ein, der hier gestern offenbar wurde. Ich sage das alles nur, um die innere Zwiespältigkeit und Konzeptlosigkeit zu beleuchten. Es ist noch nicht lange her, da haben Ihre Kollegen, Herr Kollege Barzel, im Vermittlungsausschuß, der nach dem Grundgesetz eine wichtige Funktion hat,
({34})
dem Zivildienstgesetz einstimmig zugestimmt. Gestern haben Sie in namentlicher Abstimmung alle dagegen gestimmt. Wieso haben Sie in sieben Tagen ihre Meinung völlig ändern können? Das möchte ich einmal wissen.
({35})
Wieso haben die Ausführungen, die Ihre Kollegen im Vermittlungsausschuß zur Sache gemacht haben, heute plötzlich kein Gewicht mehr? Statt dessen wird behauptet, das sei alles nicht genug. Wieso war es dort genug?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?
Herr Dr. Wörner möge mir nicht böse sein.
({0})
Ich müßte mich sonst mit ihm anlegen. Denn er ist doch einer von denen, die entgegen der Sparaufforderung des Vorsitzenden der CSU öffentlich verlangen, es solle mehr Geld ausgegeben werden. Das haben wir doch alle gelesen, Herr Kollege Wörner.
({1})
Ich möchte, was das europäische Zusammenwachsen angeht, etwas aussprechen, was sicherlich auch von Ihnen so empfunden wird. Wir sind nicht nur politisch und wirtschaftlich mit unseren Nachbarn in Europa eng verbunden; wir sind auch - unid möchten es noch tiefer sein - menschlich mit ihnen verbunden. Die Bundesregierung will diese Gemeinschaft ausbauen; sie will auch, daß die vier neuen Mitglieder hinzukommen. Trotz dieser engen wirtschaftlichen und politischen Verflechtung mit all diesen Ländern steht außer Frage, daß die Bundesrepublik Deutschland für sich genommen und verglichen mit den neun anderen Ländern hinsichtlich der Preisstabilität unid der Vollbeschäftigung besser dasteht als alle unsere Nachbarn und Partner.
({2})
Es steht außer Frage, daß die Bundesrepublik dank der Politik dieses Hauses, dieser Regierung und der Bundesbank das beste Ergebnis in dieser wichtigen Kombination von zwei Schlüsselproblemen hat erzielen können, nämlich Preisstabilität hier und Vollbeschäftigung dort.
({3})
Wenn man das, wie Zwischenrufe zeigen, nicht glaubt, muß ich ein paar Zahlen nennen dürfen.
({4})
- Hören Sie mal, ich bin zu lange im Parlament, um auf die Idee zu kommen, eine falsche Zahl zu nennen, die Sie morgen widerlegen würden.
({5})
- Aber sicher! Lieber Freund, wenn Sie anderer Meinung sind, fordere ich Sie auf, unmittelbar anschließend an dieses Pult zu treten und darzulegen, wo ich falsche Zahlen genannt habe.
({6})
Ich nenne ein paar Zahlen für das erste Halbjahr 1972, weil man nicht überall die letzten Statistiken zur Hand hat. Wir haben im ersten Halbjahr eine Preissteigerung - ich rede von den Lebenshaltungskosten, wie es auch Herr Strauß getan hat - von 5,3 % gehabt.
({7})
Norwegen z. B. hatte eine Preissteigerung von 6,6 %,
({8})
Italien - dort war sie im ersten Halbjahr etwas geringer als bei uns ({9})
von 4,9 % und Belgien - ebenfalls etwas niedriger als bei uns - von 5,1 %.
({10})
- Aber dafür - die Zwischenrufer haben eben nicht genug im Kopf - gab es in Italien 3,6 % und in Belgien leider Gottes auch 3,4 % Arbeitslose. Ich will Sie an folgendes erinnern: Nachdem uns Ihre Mißwirtschaft 1966 3 % Arbeitslose beschert hatte, da kam die NPD, und da kam die DKP.
({11})
Die NPD ist wieder weg,
({12})
und die DKP spielt auch keine große Geige mehr und hat keine großen Aussichten. Und wenn ich den Zwischenruf mit den Vereinigten Staaten aufnehmen darf: Es stimmt, daß die Vereinigten Staaten eine Preissteigerung von nur 3 1/2 % haben.
({13})
- Ich komme auf Sie doch zu sprechen, Herr Barzel! Ich werde doch Ihre phantastischen Argumente nicht auslassen; sie sind wert, zerpflückt zu werden. Ich komme darauf.
({14}) Die Vereinigten Staaten haben gegenwärtig sicherlich geringere Preissteigerungen als wir alle in Europa. Das ist richtig. Aber sie haben eine Arbeitslosigkeit von beinahe 6 %.
({15})
Dieses können wir hier nicht im Ernst als Vorbild unter uns debattieren.
Aber ehe ich zu den Argumenten des Oppositionsführers komme, muß ich doch noch einmal auf die Argumente des sogenannten großen Klaren aus dem Norden eingehen.
({16})
- Ja, so nennt er sich doch selber, und so wird er in Ihrer Propaganda doch genannt. Wenn Sie das sagen, werde ich es wohl auch so sagen dürfen. Das ist doch keine Herabsetzung.
({17})
Der CDU-Ministerpräsident in Kiel sagte Ende 1970, vor 13/4 Jahren, im Südwestfunk: „Wir stehen unmittelbar vor einer Wirtschaftskrise." Nun weiß jeder, daß das nicht wahr ist, wie übrigens viele der Prognosen, die aus derselben Ecke kamen. Aber heute er muß ja immer etwas kritisieren hat er sich etwas anderes ausgesucht. Jetzt beklagt er die hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte im gegenwärtigen Jahr 1972. Dabei ist doch gerade er derjenige, der auf anderer Ebene den Bund aufgefordert hat, sich kräftiger zu verschulden, um einen größeren Teil des Umsatzsteueraufkommens an die Länder abführen zu können.
({18})
Er beklagt die Verschuldung; er fordert hohe Zuwachsraten der Länderausgaben;
({19})
er fordert schon heute für die Zeit nach dem 1. Januar 1974 - weit, weit ist es noch weg - eine kräftige Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Länder; und zugleich drückt sich dieser CDU-Ministerpräsident vor der Konsequenz seiner Forderungen. Die kann nämlich dann, wenn man das alles so machen wollte, wie er es haben will, doch nur heißen: Steuererhöhungen. Aber er sagt, Steuererhöhungen seien der letzte Punkt, der für ihn in Frage käme.
Übrigens steht er natürlich im Widerspruch zu den einstimmigen Empfehlungen des Finanzplanungsrats von Bund und Ländern. Das war überhaupt so eine komische Sache. Da haben Bund und Länder einstimmig alles Mögliche beschlossen, im Widerspruch zu Herrn Stoltenberg. Aber sein Finanzminister war anwesend und stimmte dafür,
({20})
und sein Wirtschaftsminister Narjes war lieber gar nicht erst anwesend.
({21})
Das ist der Unterschied zwischen öffentlicher Polemik und sachlicher Arbeit. Herr Qualen, das ist sein
Finanzminister, leistet sachliche Arbeit; das möchte ich ihm bescheinigen.
({22})
- Ich rede die ganze Zeit über die Streitfragen - ({23})
- Verehrter Kollege, wenn ich hier mit einem gewissen Stolz im Unterton darauf hinweise, daß wir seit Jahr und Tag Vollbeschäftigung haben, dann rede ich doch über unsere eigene Politik und Leistung.
({24})
- Es ist in der parlamentarischen Demokratie - ich gebe zu, in Deutschland nicht ganz so häufig wie in anderen westeuropäischen Ländern - doch üblich, daß Minister zurücktreten, wenn sie mit der einen oder anderen Angelegenheit bzw. mit dem einen oder anderen Aspekt der Regierungspolitik nicht einverstanden sind.
({25})
Ich kann mich erinnern, daß Minister aus ganz anderen Gründen ihren Rücktritt nehmen mußten: weil nämlich ein brauner Fleck auf ihrer Weste entdeckt wurde. Daran kann ich mich erinnern!
({26})
Es ist doch noch nicht so lange her, und Sie waren doch schon im Parlament, als das passierte.
({27})
- Das mag sein, aber das Kabinett ist, wie Sie sehen und hören noch sehr kampfkräftig.
({28})
Aber ich will das gern aufnehmen. Diese Tonart ist ja heute früh schon von dem Kollegen Schröder angedeutet worden. Der Kollege Schröder hat, wenn ich das richtig im Ohr habe, von dem „Verfall des Führungskreises" geredet. Ich habe das nicht nur als eine unangemessene Dramatisierung empfunden; ich habe mich auch gefragt, ob das eigentlich ein Begriff aus der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union sei, und habe mich gefragt: Was ist dort der Führungskreis? Ich nehme an, Herr Strauß, in trautem Einvernehmen mit ihm Hans Katzer, in trautem Einvernehmen mit jenem wiederum Gerhard Schröder und dann noch ein bißchen Barzel und dann vielleicht noch ein bißchen Herr Kiesinger; und jede Woche seht ihr euch und macht dann diesen Führungskreis.
({29})
- Wenn man polemisch in den Wald hineinruft, muß man sich über das Echo nicht wundern, und auf grobe Klötze gehören grobe Keile.
({30})
In den letzten beiden Tagen kam es mir gar nicht so vor, als ob das ein Führungskreis war. Ich kann Ihnen Ihre Empfindungen, Herr Kollege Katzer, die Sie in den letzten 48 Stunden hatten, nachfühlen. Zum ersten- und letztenmal im Leben konnten sie eine relative Gesetzgebungsmehrheit im Deutschen Bundestag anführen.
({31})
Herr Bundesminister gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Nein, danke sehr.
({0})
- Sie wissen doch, daß das bei mir keine Feigheit ist, sondern daß das nur geschieht, um den Ton und das Niveau der Debatte einigermaßen zu wahren.
({1})
Herr Kollege Barzel hat heute nachmittag über Wissenschaft und Bildung geredet.
({2})
Meine Damen und Herren, ich darf um etwas mehr Ruhe bitten.
({0})
Das gebe ich zu. Ich bin auch schon lange nicht mehr so geärgert worden wie heute.
Kollege Barzel hat über Wissenschaft und Bildung geredet und beklagt, daß wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügt hätten. Sicherlich ist es so, daß wir gern noch ein bißchen mehr gemacht hätten. Immerhin bitte ich doch zwei Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, Herr Kollege Barzel. Die Wachstumsraten des Bundeshaushalts
({0})
bei den Ausgaben für Bildung und Wissenschaft waren in den drei Jahren 1967 bis 1969, Kollege Strauß, im Durchschnitt 8,6 %. Sie betrugen in den drei Jahren 1970 bis 1972 aber 25,1 %.
({1})
- Sicherlich, Sie können einen kleinen Preisanstieg abziehen.
({2})
Lieber Herr Katzer, bei einem Unterschied von 3 zu 1 wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten, die Preise in Deutschland seien auf 300 % gestiegen.
({3})
Ich will diese Zahlen auch nur erwähnen, damit die beredte und besorgte Klage des Oppositionsführers auf das reale Maß - real, Herr Strauß! - zurückgeführt wird.
Die Bundesregierung hat in ihren Finanzen den Ländern und Gemeinden in einem Ausmaß geholfen wie kaum eine andere Regierung vorher. Ich erinnere daran, daß Länder und Gemeinden aus der Neuverteilung der Umsatzsteuer in diesem Jahr 3,9 Milliarden DM mehr bekommen haben. Im nächsten Jahr werden es 4,4 Milliarden an Mehreinnahmen sein.
({4})
Deshalb sind die Ausgabensteigerungen, die sich beim Bund für Sie angeblich so schrecklich ausnehmen und die Sie so laut beklagen, bei den Ländern und insbesondere bei einigen Ländern und sicher auch beim Freistaat Bayern, Herr Kollege, so sehr viel höher als beim Bund. Es wäre gut, Herr Kollege Barzel, wenn man die Bundesbankberichte in diesem Punkte sorgfältig lesen würde. Darin wird nämlich nicht vom Bundeshaushalt gesprochen, sondern von dem Gesamthaushalt des Staates: Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam. Das haben die Herren bei der Bundesbank auch gemeint, wie sie mir gar nicht ausdrücklich zu versichern brauchten. Nur, Herr Barzel liest es so, wie es ihm in den Stiefel paßt. Ich muß ins Gedächtnis rufen, daß der Bund in den ersten sieben Monaten dieses Jahres bei den Steuereinnahmen eine Zuwachsrate von 8 % gehabt hat, die Länder aber eine solche von beinahe 16 % und die Gemeinden eine solche von über 17 %. Wenn Herr Strauß sagt, wir sollten die Steuergelder stilllegen, die wir einnehmen: Warum sagt er es nicht dem Freistaat Bayern und dem Kollegen Goppel und den Gemeinden? Die können das nämlich auch nicht.
({5})
Die können das alle auch nicht, denn der Staat muß auf all seinen Stufen die Aufgaben erfüllen, von deren Erfüllung die Bürger abhängen und die notwendigerweise erfüllt werden müssen.
Nun will ich es einmal mit den Prophezeiungen der CDU/CSU genug sein lassen. Eine fällt mir noch ein. Vor elf Monaten hat der Kollege Vorsitzende der CSU hier im Bundestag gesagt: Die Politik der Bundesregierung führt zur „Stagnation in Richtung Rezession" und „Rezession mit Arbeitslosigkeit"; das war seine Vorhersage. Es war wieder eine von diesen vielen, die unter die Rubrik fallen, die der Kollege Mischnick aus Ihrem Buch zitiert hat, Herr Kollege Strauß. Es ist keine Arbeitslosigkeit zu erkennen. Natürlich wird hier und da einmal ein Betrieb geschlossen, weil er nicht richtig wirtschaftet, weil er veraltet ist. Im Zusammenhang damit müssen dann vielleicht auch die Arbeitskräfte umgeschult werden. Aber dafür haben wir ja auch ein Arbeitsförderungsgesetz gemacht.
({6})
Und wenn nicht irgendwo ein Betrieb auch einmal Pleite ginge, dann wäre das jedenfalls ein Zeichen dafür, daß die gelobte Marktwirtschaft nicht mehr funktioniert.
({7})
Herr Strauß, auch Sie haben Zahlen genannt. Sie haben behauptet, die Steuererhöhungen betrügen 4 Milliarden DM. Es sind 2 Milliarden DM, aber es sind Steuererhöhungen; das gebe ich zu.
({8})
- In diesem Jahr sind es 2 Milliarden DM, erst im nächsten Jahr werden es 4 Milliarden sein.
({9})
- Ich bin doch kein Falschmünzer. Er hat so wenig akkurat gesprochen, daß ich ihm das erst in diesem Augenblick klarmachen durfte.
({10})
Sie haben aber insofern recht: es sind keine Steuersenkungen, sondern das Gegenteil ist eingetroffen.
({11})
- Ich muß Ihnen bekennen: ich nicht, aber die Koalition, für die ich heute hier stehen muß, hat es so versprochen. Das muß ich Ihnen bekennen.
({12})
Die Koalition hat hier etwas für möglich gehalten, was sich hinterher als nicht möglich herausgestellt hat.
({13})
Es war eine zu optimistische Einschätzung der Möglichkeiten. Ich fände es nur ganz falsch, wenn wir den Versuch machen wollten, das zu verheimlichen. Wir geben es zu; wir sind ehrliche Menschen.
({14})
Aber damit wir nun einmal die Zahlen richtig, d. h. danach verstehen, was sie wirklich für die arbeitenden Menschen in unserem Lande bedeuten, habe ich mir heute morgen vom Lohnbüro eines großen deutschen Automobilwerkes die Zahlen für damals und für heute geben lassen. Sie sind nicht im Ministerium ausgerechnet, sondern kommen aus der Lohnbuchhaltung einer der größten deutschen Automobilfirmen.
({15})
- Sie können sie ja prüfen, Herr Strauß. Diese kommen vom Volkswagen-Werk. Prüfen Sie es bei BMW.
({16})
An ihnen kann man ablesen, wie sich nun der tatsächliche Wohlstand der Arbeitnehmer im Laufe der Jahre entwickelt hat. Ich beginne mit dem letzten Vierteljahr 1966 - das war das Jahr, in dem Sie
zuletzt ungeteilte Regierungsverantwortung getragen hatten - und vergleiche jenes Jahr mit der Gegenwart. 1966 - im letzten Vierteljahr - verdiente ein verheirateter Industriefacharbeiter mit zwei Kindern im Volkswagen-Werk nach Abzug der Steuern, nach Abzug seiner Sozialversicherungs-, Krankenversicherungs- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge 4,63 DM netto in der Stunde. Um damit einen VW 1200 kaufen zu können, hätte er den Nettolohn von 1001 Arbeitsstunden zusammenlegen müssen, d. h. er hätte sechs Monate arbeiten müssen. Heute verdient der gleiche Facharbeiter im VW-Werk 7,77 DM netto pro Stunde. Um bei diesem Nettolohn den gleichen VW kaufen zu können, der ja inzwischen auch teurer geworden ist - das will ich ja durchaus in die Rechnung einbeziehen -, muß er heute 694 Stunden arbeiten, d. h. für dasselbe Gut, das er erwerben will, braucht er nicht, wie damals, sechs Monate, sondern nur vier Monate zu arbeiten. Das nennt man in der Sprache der Volkswirte den realen Lohnanstieg.
({17})
Herr Bundesminister Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?
Nein, Danke.
Der Herr Minister gestattet keine Zwischenfrage.
({0})
Meine Damen und Herren, ich darf Sie um Ruhe bitten. Es ist das Recht eines Redners, Zwischenfragen abzulehnen.
Um deutlich zu machen, was das insgesamt für unsere Gesellschaft bedeutet: 1966 besaß von den Arbeitnehmerfamilien mit vier Personen ein gutes Drittel ein eigenes Auto, nämlich 37 %, einen VW oder einen Kadett oder was es immer gewesen ist. Heute - beinahe sechs Jahre später - sind es 64 % aller vierköpfigen Arbeitnehmerhaushalte, zwei Drittel, die ein eigenes Auto besitzen. Das ist reale Steigerung des Nettoeinkommens der Arbeitnehmer.
({0})
- 1969 war es nicht so gut wie jetzt. Das hat sich seither gewaltig gesteigert.
({1})
- Nein, es war 1969 viel niedriger. Da lag ja noch
Ihr Rezessionsjahr 1966/67 drin mit nicht nur gar
keinen realen Zuwachsraten, Herr Barzel, wie Sie
erzählt haben, sondern mit sogar Negativraten als Folge Ihrer Rezession.
({2})
- Aber sicher!
Nun kommen wir zum Haushalt. Das war ja auch ein Thema in der Rede des CSU-Vorsitzenden. Der CSU-Vorsitzende hat gesagt, die Nettokreditaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden einschließlich der Nebenfinanzierungen betrage 22 bis 24 Milliarden DM, und wenn man die erwarteten Steuermehreingänge dagegen aufrechne, blieben immer noch 12 Milliarden DM nach. Das haben Sie dann lauthals beklagt.
Es sind 11 1/2 Milliarden DM von 1968 bis 1972. Wir stimmen in der Zahl ungefähr überein. Nur, Herr Kollege Strauß, müssen Sie eben in Ihre alten Bücher gucken, und ich meine nicht nur das Buch, was Herr Mischnick zitiert hat. Die von Ihnen als Finanzminister hinterlassene letzte mittelfristige Finanzplanung ist in den Akten des Finanzministeriums ja noch vorhanden. Ich habe mir die Freiheit genommen, hineinzugucken. Damals hatten Sie in Ihrem letzten Finanzplan für die Jahre 1968 bis 1972
({3})
insgesamt eine Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 22 Milliarden DM eingeplant. Und jetzt beklagen Sie schon 111/2 Milliarden DM? Sie sollten uns loben, daß wir auf der Hälfte dessen geblieben sind, was Sie an Schulden aufnehmen wollten.
({4})
Nun will ich etwas sagen, was das Gerede vom Finanzchaos endgültig beenden wird. In eben diesem Augenblick hat der Bund bei der Bundesnotenbank Kassenbestände - zinslos, wie es sich gehört für eine stabilitätsbewußte Bundesregierung -, ohne daß wir irgendwo einen Kassenkredit in Anspruch genommen hätten, in Höhe von 5 1/2 Milliarden DM stillgelegt. Dazu kommen noch einmal 2 1/2 Milliarden DM Konjunkturausgleichsrücklage. 8 Milliarden DM stillgelegten Geldes durch den Bund! Und das sei Finanzchaos!?
({5})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
Eine Sekunde, von Herrn Leicht gerne.
Dabei können und wollen wir, wie Sie alle wissen, die 2 1/2 Milliarden DM Konjunkturausgleichsrücklage nicht anfassen, während die 51/2 Milliarden DM Kassenmittel dem Bunde zur Disposition stehen.
Herr Kollege Leicht!
Herr Schmidt, warum hat das Finanzministerium seine Augustrechnung bei einer Steigerungsrate in den ersten acht Monaten von 10,8 % mit Kassendefiziten von Milliardenbeträgen - ich habe die Zahlen nicht hier - vorgelegt, und wissen Sie nicht, daß man bei der Bundesbank einmal 5 Milliarden DM guthaben kann und im nächsten Monat unter Umständen wieder bis zu 7 Milliarden DM in die Kreide gehen muß?
({0})
Nein, das letztere, Herr Leicht, ist nun wirklich irrtümlich. Wir haben seit dem Februar dieses Jahres keinen einzigen Kassenkredit in Anspruch nehmen müssen, wir haben also überhaupt nicht in die Kreide gehen müssen. Ich will ganz offen sagen, was uns dabei geholfen hat: einerseits die vom Kabinett beschlossenen und inzwischen vom Haushaltsausschuß mit Mehrheit sanktionierten Einsparungsbeschlüsse. Wir hatten das mit den Kürzungen um 2 1/2 Milliarden DM ja ernst gemeint. Dann haben uns die Steuermehreingänge geholfen. Drittens hat uns Art. 111 des Grundgesetzes geholfen. Wir dürfen nämlich manches Geld nicht ausgeben, das wir sonst gern ausgeben würden. Da wir uns an das Grundgesetz halten, ist kein Finanzchaos entstanden, wie der Vorsitzende Ihrer bayerischen Partei glauben machen will.
({0})
Jetzt komme ich zu den Zahlen des Oppositionsführers. Sie sind es wert, zerpflückt zu werden. Man muß ja neue Ausdrücke finden, wenn Herr Schröder von „schlürfen" spricht.
({1})
Herr Barzel hat in zwei, drei Zahlen so getan, als ob das Wachstum der Volkswirtschaft in den 20 Jahren der Regierungszugehörigkeit der CDU/CSU immer höher als gegenwärtig gewesen sei. Dabei hat er die Zahlen der Gründerzeit der Bundesrepublik - damals war das natürlich so - mit einbezogen, und er hat auch die Zahlen des Korea-Booms mit einbezogen. Er hat all das über einen Kamm geschoren und dann auch Schillers Verdienste glatt für die CDU/CSU mit vereinnahmt.
({2})
Vielleicht ist das die Absicht gewesen, vielleicht ist es noch die Absicht - ich weiß es nicht. Tatsache, Herr Barzel, ist doch aber folgendes: In den Jahren 1960 bis 1966 ist das Sozialprodukt im Durchschnitt um 4 % gewachsen. Dann kam das Jahr 1967 mit der Rezession. In den Jahren 1968 bis 1970 betrug die Wachstumsrate im Durchschnitt 6 %. In den Jahren 1971 und 1972 ist ein Abfall zu verzeichnen; darüber gibt es gar keinen Zweifel. In diesem Jahr werden es nur 3 % sein, im nächsten Jahr aber wieder 5 % oder möglicherweise mehr. Ich rede von dem realen Zuwachs. Sie haben, wie ich annehme, selber nicht den Eindruck, daß das stimmt, was Sie ausführten.
Lassen Sie mich auch zur Währung etwas sagen. Die D-Mark hat sich in den letzten Monaten als voll stabil gezeigt. Sie steht nicht unter irgendeinem Druck. Das sieht man einerseits daran, daß wir seit Mitte Juli keinerlei fremde Devisenzuflüsse mehr verkraften mußten, andererseits daran, daß sich das Austauschverhältnis von D-Mark und Dollar ziemlich stetig bei 3,19 DM eingependelt hat. Daran wird sich auch nichts ändern. Sowohl die Devisenmärkte als auch die Leistungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland signalisieren uns, das unsere D-Mark-Währung richtig bewertet ist und daß Herr Narjes unrecht hat, der die Exporterlöse, die Erträge unserer Exportwirtschaft erneut durch irgendwelche Experimente gefährden möchte, die Sie ja doch eigentlich nicht machen wollten.
({3})
Ich will in diesem Zusammenhang ein Wort sagen, das sich nicht an Ihre Adresse richtet. Es gibt in unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, ein paar Unternehmerpersönlichkeiten, ein paar Manager, und zwar sowohl in der Industrie als auch in der Bankwelt, die, im Grunde auf dem Boden der oppositionellen Auffassung stehend, ihre Autorität als Fachleute des Wirtschaftslebens benutzend, sich lautstark öffentlich bei der Bundesregierung oder sogar über die Bundesregierung beklagen; sie beklagen sich z. B. gemeinsam mit der Bundesbank über die Geldschwemme, in der wir alle stünden. Ich muß dazu sagen: Es ist nicht so, daß die Kreditinstitute an Überliquidität litten. Im Gegenteil, hier haben die Maßnahmen der Bundesbank schon gezogen. Es sind einige große Unternehmen, die sich direkt im Ausland verschuldet haben, auf den Eurogeldmärkten.
({4})
Ohne daß ich einen Namen nennen will - ich bin aber sicher, daß der Betreffende dies heute abend im Fernsehen mit verfolgt -, will ich einem dieser Herren folgendes sagen. Wer selber sein bedeutendes Kreditinstitut dazu benutzt, um der Zinsprofite willen in unwahrscheinlichem Maße ausländisches heißes Geld in die Bundesrepublik einzuschleusen, und dadurch zur Kreditschöpfung innerhalb der Bundesrepublik beiträgt, der sollte sich, wenn auch sein Verhalten nach den Gesetzen erlaubt ist, doch nach den Gesetzen des Anstandes nicht hinstellen und für dieses Manöver, das viele seinesgleichen auch betrieben haben, die Bundesregierung anklagen.
({5})
Ich komme zurück auf das Dementi, das der Oppositionsführer heute mittag, als der Bundeskanzler sprach, abgab. Es hat hier in Bonn eine Veranstaltung gegeben unter dem Vorsitz eines stellvertretenden Vorsitzenden der Opposition, und dort ist in der Tat geredet worden von „Reprivatisierung des Vollbeschäftigungsrisikos". Herr Kollege Barzel hat den Bundeskanzler in einer Zwischenfrage gefragt, ob er bitte zur Kenntnis nehmen wolle, daß dieses sofort an Ort und Stelle von anderen zurückgewiesen worden sei. Der Bundeskanzler, fair, wie er immer ist, hat das zur Kenntnis genommen. Ich habe mir erlaubt, das prüfen zu lassen, und habe einen Ohren- und Augenzeugen befragt, Herr KolBundesminister Schmidt
lege Barzel. Daraus ergibt sich ein ganz anderes Bild.
({6})
Man muß eine solche Formel wie „Reprivatisierung des Beschäftigungsrisikos" langsam auf der Zunge zergehen lassen, um zu begreifen, welch politische Brisanz darin steckt. „Brisanz" ist ein sehr freundliches Wort ohne Wertung; man könnte ein sehr böses Wort dazu sagen. In Wirklichkeit geht es darum, daß einige Stabilität herstellen wollen auf dem Rücken der Arbeitnehmer und ihrer Beschäftigung.
({7})
Dann sind da auch noch Worte gefallen wie „Disziplinierung der Tarifparteien". Das ist ein Ausdruck, den habe ich selbst auf der Hardthöhe nie gehört, Herr Kollege.
({8})
Ich nehme an, die Tarifparteien können sich vorstellen, was damit gemeint ist. Ich bin ganz froh, daß die wichtigsten Sprecher auch der Arbeitgeberseite - genauso wie die Gewerkschaftsseite und genauso wie wir - keinen Zweifel daran lassen, daß wir die Tarifautonomie nicht antasten dürfen. Wir wollen keinen Lohnstopp, und wir wollen auch keinen Preisstopp; wir sind nämlich Marktwirtschaftler.
({9})
Wir haben uns von Anfang an verstanden als eine Regierung, die vor allem anderen eine Regierung ist für die Arbeitnehmer. Dazu gehören dann auch die Rentner, die Mütter, die Witwen, und dazu gehören dann auch alle die Menschen, die es nötig haben, daß für sie mehr getan wird als bisher. In dieser Solidarität mit den Kleinen, mit den Arbeitnehmern, lassen wir uns nicht übertreffen, lassen wir uns auch in Sachen Rentenreform nicht übertreffen von jemandem, der sonst, die übrigen langen Jahre einer Legislaturperiode, immer nur mit 22 anderen Kollegen mit uns stimmen darf, wenn doch die Masse der CDU/CSU-Kollegen gegen die Mitbestimmung zu Felde zieht.
({10})
Eine Bemerkung zur Rentenreform: Man muß im Zusammenhang mit den Beschlüssen der letzten beiden Tage jedermann in Deutschland deutlich sagen,
({11})
daß wir letzten Endes die Versicherten, die die Beiträge aufbringen, nicht überfordern dürfen. Sie zahlen gegenwenrtig noch, seit einer Reihe von Jahren, eine Hälfte von 17 % des Bruttolohnes; auf Grund alter Gesetze ab 1. Januar eine Hälfte von 18 % ihres Bruttolohnes. Ich denke, daß wir damit an dem Punkt angelangt sind, wo wir uns für die weitere Zukunft fragen müssen: Sollen und dürfen die Beiträge später etwa noch mehr steigen? Die Frage stellen heißt beinahe schon, sie beantworten.
({12})
Ich denke persönlich, diese Beiträge sollten nicht mehr steigen. Das heißt aber, daß unsere gestrigen Rentenbeschlüsse und insbesondere die flexible Altersgrenze, die ja einer Initiative Walter Arendts und der Bundesregierung entsprang - das wollen wir nicht vergessen, Herr Katzer -,
({13})
in Zukunft nur dann finanziert sein werden, wenn Sozialdemokraten bis 1985 für kontinuierliche Vollbeschäftigung in diesem Lande sorgen.
({14})
Nur dann sind sie finanziert. Aber sie werden finanziert sein, denn wir werden dafür sorgen.
({15})
Wissen Sie, mit all Ihrer Schwarzmalerei über Finanzchaos, Staatsbankrott, Arbeitslosigkeit und Rezession kommen Sie mir vor wie jene Ihrer Freunde - ich habe großen Respekt vor tüchtigen Unternehmern, aber nicht immer Respekt vor deren politischem Instinkt -, die im vorigen November alle deutsche Tageszeitungen mit teuren Anzeigen überschwemmten. Herbert Wehner hat sie noch in der Brusttasche, aber ich nehme es ihm jetzt vorweg. In diesen Anzeigen stand: „Heute stehen wir schlechter da als in der Flaute des Jahres 1966. Wir stehen unmittelbar vor einer Rezession".
({16})
Einer hat noch mündlich erklärt, der Industrie ginge es schlechter als jemals seit der Zeit vor Hitler. 40 Jahre lang sei es der Industrie nicht so schlecht gegangen.
Sehen Sie, das ist genauso ein Unfug wie das, was wir heute gehört haben. Jedermann kann beurteilen, daß das alles nicht eingetreten ist: Wir haben keine Rezession - wir haben reale Zuwächse von über 3 %-, und wir haben Vollbeschäftigung.
({17})
- Jetzt will ich das mit der Inflation einmal aufnehmen. Ich habe dafür einen Kronzeugen. Ich habe hier ein Fernschreiben aus Paris. Präsident Pompidou hat gestern eine große Pressekonferenz gegeben, und ich habe den Bericht, was er zu diesen wichtigen Fragen der Stabilität und der Inflation gesagt hat.
Als ich im August 1971 von der Abhaltung des Gipfeltreffens sprach, floatete damals die D-Mark und zog den Gulden hinter sich her, und ich verleumde wohl unsere Partner nicht, wenn ich sage, daß sie alle zumindest dieses Floaten innerhalb Europas resignierend hinnahmen, um nicht von der stärksten Währung
- d. h. der D-Mark - mitgerissen zu werden.
Schon wegen der Ausführungen über die „stärkste Währung der Welt" ist dieses Zitat wert, hier vorgelesen zu werden.
Pompidou sprach in seiner Pressekonferenz von der Zwischenzeit, von den Verhandlungen, von der Finanzministerkonferenz in Rom, und er sagte dann - Originaltext von Pompidou -:
Dann haben wir zugestanden, daß es notwendig ist, die Wirtschaftspolitik aufeinander abzustimmen, und ich hoffe, daß wir in dieser Richtung ziemlich rasche Fortschritte machen können. Ich erwähne nur am Rande die vielseitige Ausweitung der Hilfsmaßnahmen, den Ausschuß der Zentralbankgouverneure und die Schaffung einer europäischen Verrechnungseinheit.
Danach sagte Pompidou wörtlich:
Hätten Sie dies alles im August 1971 geglaubt? Er fuhr fort:
Frankreich kann nicht eine Oase der Stabilität sein in einem Meer der Inflation.
Was für Frankreich gilt, gilt auch für Ihr Vaterland, Herr Kollege, gilt auch für uns: Wir können nicht eine Insel in einer Welt sein, die ähnlich wie zur Zeit des Korea-Booms 1950 durch einen anhaltenden schrecklichen Krieg, der viel Geld verbraucht, das nur gedruckt wird, ohne daß Gegenwerte vorhanden sind -- ich rede von Vietnam -, in eine Inflation gestürzt worden ist, die leider Gottes von den Vereinigten Staaten ausgeht und noch nicht beendet ist.
({0})
Eine Zwischenfrage 1 des Herrn Abgeordneten Dr. Kliesing.
Bitte sehr!
Herr Kollege Schmidt, warum haben Sie Pompidou etwas unkorrekt zitiert? Er hat nämlich laut Veröffentlichung des Textes durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung nicht von der „stärksten Währung", sondern der „seinerzeit stärksten Währung" gesprochen.
({0})
Herr Kollege, mir lag nicht am Herzen, etwas Falsches zu sagen. Aber wir schöpfen offenbar aus verschiedenen Quellen. Ich würde es akzeptieren - ich werde es im Bulletin nachlesen -, wenn es da so stünde.
({0})
Nur frage ich mich, Herr Kollege Kliesing, ob Ihre Frage bedeuten sollte, daß Sie meinten, heute sei eine andere Währung stärker. Welche wäre es denn dann wohl?
({1})
Ich will mich um das Thema Preise und das Thema der von Ihnen so genannten Inflation im Grunde nicht herumdrücken. Schon der Bundeskanzler hat das nicht verhehlen, verschweigen oder beschönigen wollen. Es ist auf der einen Seite, wie Sie sicher auch wissen, ein Weltproblem; auf der anderen Seite ist jedes beteiligte Land sicherlich aufgerufen, auf seine Weise zur Lösung dieses Weltproblems beizutragen. Wir tun das auch innerhalb der EWG. Wir tun es innerhalb des wirtschaftlichen Bündnisses, dem wir angehören. Dabei arbeiten Bundesbank und Bundesregierung in derselben Richtung, und wir haben das Glück, mit der französischen Regierung, dein französischen Staatschef und seinem Finanzminister übereinzustimmen, was die Initiativen angeht, die wir auf den Weg gebracht haben. Die beginnen nun allerdings mit dem Versuch, schrittweise die Eurogeldmärkte, ich will nicht sagen: auszutrocknen - das ginge zu weit -, aber zu verringern, die europäischen Notenbanken wenigstens dazu zu bringen, daß sie nicht mehr ihre eigenen Währungsreserven an der Hintertür am Eurogeldmarkt anlegen und sich dann beschweren, wenn ihnen an der Vordertür die Dollars hereinströmen. Wir streben auch dahin, in der EWG gemeinsam die Geld- und Kreditmengenzuwächse zu verlangsamen. Da sind wir dann leider schon bei einem Punkte, wo nicht alle Länder und alle Regierungen miteinander übereinstimmen und wo hart gerungen wird. Unser Bekenntnis zu Europa ist nicht gemeint als das Bekenntnis zu einer Inflationsgemeinschaft, sondern ist gemeint als das Bekenntnis zu einer Gemeinschaft, die gemeinsam ihre Probleme lösen muß.
Was in diesem Zusammenhang den Kollegen Strauß angeht, so hat er sich inzwischen sicherlich das Pompidou-Zitat, von dem Dr. Kliesing meinte, es fehlte ein Wort, beschafft und wird feststellen, daß er wieder einmal nicht in Übereinstimmung mit der Führungsperson des gaullistischen Lagers in Frankreich ist, was er im Grunde doch so gern sein möchte. Das war ja schon früher immer so, daß Sie ihr eigenes Bild von der gaullistischen Politik hatten. Das verzerrte sich auf dem Weg von Paris nach München. Das lag sicherlich an SECAM, vielleicht auch an PAL. Ich weiß es nicht.
({2})
Das Vertrauen in unsere Währung ist groß. Das Vertrauen im Ausland ist groß. Viele, viele Menschen auf der ganzen Welt und nicht nur in Europa versuchen, ihre Vermögen in D-Mark anzulegen. Auch im Inland ist das Vertrauen groß. Niemals im Laufe von Jahrzehnten ist die Sparquote der deutschen Arbeitnehmer so groß gewesen wie in diesen Tagen, Wochen und Monaten.
({3})
Damit werden alle die Kassandra-Rufe Lügen gestraft, die davon redeten, daß sich die Sparguthaben entwerteten. Da gibt es dann ja auch noch die staatlichen Sparzulagen. Herr Strauß, Sie haben sicherlich Verbindung mit einer Sparkasse und können prüfen, ob das stimmt, was ich über die Zunahme der Sparquote gesagt habe.
Sie haben davon gesprochen, daß Sie prüfen wollen, ob eine Verfassungsklage gegen den Bund eingelegt werden sollte. Ich muß daran erinnern, daß
ich Ihnen diese Prüfung bereits im Juli öffentlich empfohlen habe. Sie haben lange gebraucht, bis Sie nunmehr dazu kamen, selber prüfen zu wollen. Warum klagen Sie nun eigentlich nicht? Sie wissen ganz genau, daß die Klage nicht gerechtfertigt ist. Sie haben den Präsidenten des Rechnungshofes gehört, der gesagt hat, es sei nicht nur Sache der Bundesregierung, einen Haushaltsentwurf zustande zu bringen, sondern auch Sache des Parlamentes. Und sind Sie im Ernst der Meinung, Herr Strauß, daß wir den Beamten keine Gehälter mehr zahlen sollten unid den Arbeitern keine Löhne mehr, bloß weil Ihr euch weigert, ein solides Haushaltsgesetz zu beschließen, weil euch - aus ganz anderen Gründen - ein paar Leute zugelaufen sind, die auf diesem Feld jedenfalls bisher Gewissensgründe noch nicht geltend gemacht haben?
({4})
Meine Damen und Herren, nachdem ich hier 2 1/2 Jahre an der Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch an der Politik, die auf Ausgleich und Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn in Europa gerichtet ist, mitgewirkt habe, hätte mir sehr am Herzen gelegen, hier in der letzten Stunde des Parlaments auch darüber noch ein Wort zu sagen. Ich will mir das der Zeit wegen versagen, auch weil der Bundeskanzler darüber in sehr eindrucksvoller Weise gesprochen hat. Ich will nur noch wenige persönliche Worte anfügen.
Ich bin neulich einmal gefragt worden - wenn man ein neues Amt übernimmt, kommen immer Journalisten, die einen noch nicht kennen, und fragen einen, was man denn so vorhat und wie man sich dieses und jenes denkt , ob ich ein persönliches Langzeitprogramm hätte. Ich habe mir das einen Augenblick überlegt und habe dann geantwortet: Es sollen die Lebensbedingungen für alle Menschen wie bisher stetig verbessert werden. Dazu brauchen wir eine steigende Produktivität unserer Wirtschaft, brauchen wir Investitionen in der Wirtschaft. Damit die finanziert werden, brauchen wir Erträge, und damit das alles funktioniert, brauchen wir Unternehmer. Und damit die Arbeitnehmer dabei ihren Teil bekommen, brauchen wir Gewerkschaften und Gesetzgeber. Aber damit das alles funktioniert, müssen wir auch alle sparen. Und wer sparen soll, muß vorher gut verdient haben. Anders geht es nicht. Ich habe dann ein persönliches Langzeitmotto folgendermaßen formuliert - das möchte ich hier gern wiederholen -, es lautet so: Etwas lernen, etwas leisten - ich will das Wort Leistung gegenüber manchen Zweifeln in der heutigen Gesellschaft dick unterstreichen -,
({5})
gut verdienen, anständig und ehrlich seine Steuern zahlen,
({6})
ordentlich was auf die hohe Kante legen,
({7})
und im übrigen, Kollege Stücklen, das alles nicht übertreiben, damit man genug Zeit und Muße hat, sich der weiß Gott angenehmen Seiten des Lebens, die es ja auch noch gibt, zu erfreuen. Wenn das jedermann täte, und wenn ich noch hinzufügen würde: außerdem noch SPD wählen und die Gewerkschaft stützen, dann wäre die Gesellschaft besser dran, als sie bisher war.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Katzer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Rede kann man eigentlich, egal auf welcher Seite des Hauses man sitzt, nur bedauern, daß Herr Schiller nicht mehr Wirtschaftsminister ist. Seine Rede hätte sich anders angehört als das, was wir jetzt über uns haben ergehen lassen müssen.
({0})
Wenn das alles so einfach ist, wie Herr Schmidt es hier verbal dargestellt hat, dann stellt sich doch die einzige schlichte Frage: warum denn eigentlich ist Herr Schiller zurückgetreten, wenn diese Welt so heil ist, wie Herr Schmidt sie hier zu schildern versuchte?
({1})
Ich würde hinzufügen, Herr Kollege Schmidt: es
gehört doch schon ein bemerkenswerter Mut dazu,
({2})
als Wirtschafts- und Finanzminister hier so aufzutreten und eine solche Wahlrede zu halten, anstatt zu begründen, warum es keinen Haushalt 1972. gibt, warum es keinen Haushalt 1973 gibt, warum es keine mittelfristige Finanzplanung gibt.
({3})
Wenn Sie das schon aus den Gründen, die wir alle kennen, nicht können, hätte doch zumindest dieses Hohe Haus aus Ihrem Munde eine Antwort auf das zu erwarten, was Herr Professor Schiller in seinem veröffentlichten Brief - dem Kündigungsbrief an den Herrn Bundeskanzler - dargestellt hat. Ich will das wegen der vorgerückten Stunde nur mit einem ganz kurzen Zitat sagen. Dann fällt alles zusammen wie ein Kartenhaus, was Sie hier vor einer Stunde dargestellt haben.
({4})
Herr Professor Schiller - ich zitiere wörtlich, Herr Präsident - in seinem - ({5})
- Sie können ja korrigieren, Herr Kollege.
({6})
- Mir wäre es lieber, wenn Sie eine Antwort darauf geben würden. Das wäre sehr viel besser. Das hätte Herr Schmidt hier tun sollen.
({7})
Herr Schiller schreibt in seinem Brief an den Herrn Bundeskanzler:
Es ist doch unbestritten, daß die Regierung ab 1973 schon durch zwangsläufige Mehrbelastungen zu Eingriffen in die Ausgaben oder zu Einnahmeverbesserungen in die Milliardenhöhe gezwungen sein wird.
Er fährt an späterer Stelle fort:
Die Regierung hat die Pflicht, über den Tellerrand des Wahltermins hinauszublicken und dem Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist und was zu fordern ist. Diese von mir mehrfach empfohlene Strategie ist bisher im Kabinett nicht einmal andiskutiert, geschweige denn akzeptiert.
({8})
Der Widerwille einiger Kollegen gegen derartige Überlegungen hindert die gleichen Kollegen nicht daran, mit Anträgen, die ab 1973 einnahmemindernd oder ausgabefördernd wirksam werden, heute aufzuwarten.
Ich glaube, damit waren Sie, Herr Kollege Schmidt, gemeint und niemand anderes.
({9})
Dazu hätten Sie hier und heute die lange Zeit benutzen können, die Sie hier gebraucht haben, um sich in allgemeinen Erklärungen zu ergehen, die dem Niveau eines Ministers übrigens nicht angestanden haben.
({10})
Auf die finanzpolitischen Probleme geht Herr Kollege Strauß nachher noch ein. Aber lassen Sie mich nur zu den gesellschaftspolitischen Fragen, die Sie, zum Teil auch Herr Kollege Wehner, berührt haben, wegen der vorgerückten Stunde ganz wenige Sätze sagen.
Herr Kollege Schmidt, auf dem DGB-Kongreß in Berlin habe ich erlebt, wie Sie sich im Glanz Ihrer Position als stellvertretender Vorsitzender der SPD hinstellen und verkünden: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die einzige Partei, die die qualifizierte Mitbestimmung verwirklichen wird.
({11})
Daraufhin kommt tosender Beifall bei den Gewerkschaften. Auf der anderen Seite sitzt aber Herr Flach. Und Herr Mischnick hat erklärt: Wenn diese Koalition wiederkommt, dann gibt es keine Mitbestimmung, weder nach der einen noch nach der anderen Melodie. Am Rande bleibt, daß Sie die Mitbestimmung versprechen, aber die anderen ihre Verhinderung. Übrig bleibt eine Einigung auf dem kleinsten Nenner, nämlich null, und das ist weniger, als die Union mit ihrer Unternehmensverfassung vorgelegt hat.
({12})
Herr Abgeordneter Katzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Nölling?
Herr Kollege Katzer, können Sie dem Hohen Hause erklären, nach welcher Melodie, was die paritätische Mitbestimmung betrifft, Sie im Rahmen Ihrer Partei tanzen und pfeifen werden?
({0})
Herr Kollege Nölling, wir haben uns etwas mehr Mühe mit der Frage gemacht. Wir haben in Berlin einen ganzen Tag auf unserem Parteitag diskutiert, wir haben in Düsseldorf einen ganzen Tag diskutiert und dort eine demokratische Entscheidung getroffen, die für diese Christlich-Demokratische Union gilt und mehr ist als die Nullinie, die Sie hier jetzt gemeinsam bezogen haben. Das ist die Position.
({0})
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, eine zweite Bemerkung machen. In dem, was Herr Kollege Wehner sagte, liegt wiederum ein Widerspruch zu dem, was Herr Schmidt vorhin ausgeführt hat. Herr Schmidt versuchte ja vorhin, Widersprüche der Union darzustellen. Herr Wehner hat heute vormittag, so hatte ich den Eindruck, noch einmal auf den Grundbetrag abgehoben und gesagt, das wäre an sich doch die Melodie gewesen, nach der es die SPD gern gemacht hätte. Wir hatten aus der Einlassung des Herrn Arbeitsministers eine ganz andere Vorstellung. Und Herr Schmidt sagte vorhin: Man muß sehen, wer das alles bezahlt. Das sind doch zwei ganz verschiedene Dinge.
Jetzt sage ich Ihnen etwas, damit dieser Wahlkampf in einigermaßen vernünftigen Formen läuft. Ich werde doch, wenn ich zur Rentenpolitik spreche, niemandem und niemals bestreiten und leugnen, daß Herr Kollege Arendt hinsichtlich der flexiblen Altersgrenze Verdienste hat. Aber ich nehme ebenso für uns in Anspruch, daß die Erhöhung des Niveaus von uns, den Christlichen Demokraten, seit anderthalb Jahren permanent gefordert, aber von Ihnen abgelehnt worden ist. Das ist die volle Wahrheit in dieser Frage.
({1})
Herr Kollege Wehner, Sie haben am 24. Juni 1971 die Anhebung der Renten abgelehnt. Am 16. März 1972 weigerten sich die Koalitionsparteien im Ausschuß, die Vorziehung zu beschließen. Am 21. Juni 1972 - Sie erinnern sich alle - haben wir hier in einer Kampfabstimmung versucht, dieses Problem auf die Tagesordnung zu setzen. Noch im Juni dieses Jahres haben Sie den Rentnern ihre Erhöhung der Renten abgelehnt. Das ist die Wahrheit, die hier ausgesprochen werden muß.
({2})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Bemerkung zu dem Kollegen Wehner machen. Ich höre es immer mit Genuß, wenn Sie sprechen; das muß ich gestehen. Da ich meistens im Plenarsaal
bin, habe ich Ihre Reden auch noch über einen längeren Zeitraum im Ohr. Wir hören einmal: Mehrheit ist Mehrheit! Dann hören wir: Opposition, die brauchen wir nicht!
({3})
Heute hören wir: Mit einer Stimme Mehrheit hat man uns erpreßt. Wie soll denn da ein Reim auf diese Geschichte kommen? Das ist doch mit zweierlei Maß gemessen.
({4})
- Wissen Sie, Herr Kollege Wehner, ich würde Ihnen empfehlen, sehr vorsichtig zu sein. Sie haben einmal versucht, mich einen Betrüger zu nennen.
({5})
- Genau, und dieses Gericht hat Ihnen bestätigt, daß Sie das nicht wiederholen dürfen. Passen Sie auf, es wird sehr teuer für Sie.
({6})
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zu dem machen, was Herr Kollege Schmidt angesprochen hat. Herr Kollege Schmidt und Herr Bundeskanzler - das werde ich auch juristisch zu klären versuchen, Herr Kollege Wehner, damit kein Irrtum entsteht -, wenn wider besseres Wissen hier im Hause oder draußen in der Öffentlichkeit behauptet wird, die Einführung der Vorsorgeuntersuchung sei ein Ziel der SPD in dieser Legislaturperiode
- früher war das anders - gewesen, werden wir dagegen vorgehen; denn die Christlichen Demokraten haben diesen Punkt hier eingeführt, und er ist durch uns hier erst eingebracht worden. Das ist die Situation.
({7})
Herr Kollege Schmidt, Sie haben heute Ihr marktwirtschaftliches Herz entdeckt und meinten, ein Rechtsstaat ist dazu da, - ({8})
- Da sitzen Sie vielleicht auf der anderen Seite! Aber ich will Ihnen nur sagen, Herr Wehner: ein Rechtsstaat ist dazu da, daß man sich gegen unberechtigte Vorwürfe schützt.
({9})
Herr Kollege Schmidt, ich habe den Eindruck, Sie glauben schon fast selbst, was Ihre Propaganda Ihnen schreibt. Arbeitsförderungsgesetz, Berufsbildungsgesetz, die kassieren Sie so, als wenn das aus Ihrer ureigensten Sphäre gekommen wäre. Ich bin einigermaßen stolz darauf, daß ich beim Arbeitsförderungsgesetz derjenige gewesen bin, der es eingebracht hat. Das gilt genauso für das Berufsbildungsgesetz. Dafür habe ich damals genau wie heute für die Renten eine Mehrheit bekommen. Seien Sie ganz beruhigt, das wird sich in der nächsten Legislaturperiode so fortsetzen. Da brauchen Sie gar keine Sorge zu haben!
({10})
Schließlich noch eine letzte Bemerkung. Herr Kollege Schmidt, zu den Reformen. Die Union war eine Partei der Reformen, ehe Sie diesen Ausdruck gekannt haben.
({11})
Wir haben nicht so viel darüber geredet; das gebe ich zu. Aber die Rentenreform des Jahres 1957 war wirklich eine Reform, die den Namen verdient. Bei unserer Eigentumspolitik - das ist vorhin gesagt worden - haben Sie weder damals in der Opposition noch jetzt in der Regierung Alternativen zu unseren Vorstellungen vorgelegt. Dann wagen Sie, uns zu sagen, wir seien nicht reformwillig. Wahr ist dies eine - damit schließe ich -: wir wollen Reformen, aber diese Reformen müssen auf Stabilität und auf soliden Finanzen gebaut werden! Das ist der Ausgangspunkt unserer Politik für den nächsten Deutschen Bundestag.
({12})
Meine Damen und Herren, wünscht noch jemand das Wort? - Das ist nicht der Fall. Dann stehen wir am Ende der Beratungen.
Zu einer persönlichen Erklärung gemäß § 35 der Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Mende das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gemäß § 35 der Geschäftsordnung dem Hohen Hause folgende Erklärung abzugeben.
Zu der Darstellung des Abgeordneten Josef Ertl über die Koalitionsverhandlungen im Jahre 1966 stelle ich fest:
Erstens. Im November 1966 hat eine Verhandlungskommission der FDP unter meinem Vorsitz sowohl mit der CDU/CSU als auch der SPD Verhandlungen über die Bildung einer neuen Bundesregierung geführt. Die Verhandlungen scheiterten an Meinungsverschiedenheiten in den Sachfragen und führten zur Bildung einer Großen Koalition. Daher ist über eine personelle Besetzung von Ministerien nicht verhandelt worden. Zu keiner Zeit habe ich das Außenministerium für mich gefordert und mit keiner Seite je darüber verhandelt.
({0})
Zweitens. Ich habe in meiner heutigen Rede im Bundestag von einer öffentlichen Aufforderung des Abgeordneten Josef Ertl an den FDP-Bundesvorsitzenden Walter Scheel gesprochen, zurückzutreten. Zeuge ist die deutsche Öffentlichkeit, der diese Aufforderung zum Rücktritt durch die Presse am 29. und 30. September 1969 bekannt wurde.
({1})
Präsident von Hassel: Zu einer persönlichen Bemerkung nach § 35 der Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Schmidt ({2}) das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher wird die große Mehrheit in diesem Hause mein Bedauern teilen, wenn ich nach dieser Debatte am Nachmittag noch einmal auf den Vormittag zurückblenden muß, wo die Mandatsüberträger den Versuch gemacht haben
({0})
- sie kommt gleich -, ihre Gewissensgründe darzulegen, und hier dem Parlament keine Sternstunde bereitet haben. Ich bedaure es, daß ich das tun muß. Aber ich möchte nicht, daß der Eindruck entsteht, Darlegungen, die heute früh gemacht worden sind, blieben unwidersprochen. Daher gebe ich folgende Erklärung ab.
Herr Abgeordneter Dr. Müller ({1}) hat es in der Aussprache heute vormittag für richtig erachtet, den Begriff des politischen Opportunismus zu gebrauchen. Wenn ich auf diese Bemerkung eingehe, so deshalb, weil mir die politische Laufbahn des Herrn Dr. Müller, der in diesem Jahr bereits der dritten politischen Gruppierung angehört, dafür keinerlei moralische Basis abzugeben scheint.
({2})
- Das ist eine Erklärung, die dem Präsidenten vorgelegt worden ist.
Präsident von Hassel: Ich darf Sie bitten, sich an den Wortlaut der mir vorgelegten Erklärung zu halten.
({3})
Das tue ich.
Ich glaube, das Urteil darüber getrost allen Zuhörern überlassen zu können, wenn ich Ihnen darlege, daß Herr Dr. Müller allein in diesem Jahr folgenden politischen Weg zurückgelegt hat.
Erstens. Er hat bis Mitte dieses Jahres jede Übertrittsabsicht zur CSU kategorisch bestritten
({0})
- das ist eine Erklärung, die dem Präsidenten vorgelegen hat ({1})
und in Wahlversammlungen der SPD zur „entschlossenen Bekämpfung der für die Bundesrepublik
Deutschland gefährlichen Politik" dieser Partei aufgerufen.
({2})
Zweitens. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Herr Dr. Müller das Verhalten politischer Überläufer entschieden gegeißelt und für die Krise im deutschen Parlamentarismus verantwortlich gemacht.
Drittens. Während er noch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war und öffentlich erklärte, zum Austritt aus dieser Partei nicht bereit zu sein - ({3})
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen. Sie haben eine schriftliche Erklärung nach § 35 vorgelegt. Dieses ist keine Erklärung nach § 35, sondern allenfalls eine nach § 36. Wenn Sie eine Erklärung nach § 36 abzugeben haben, müssen Sie dies erklären.
Gut, dann gebe ich eine Erklärung nach § 36 ab.
Präsident von Hassel: Also nach § 36! Ich darf Sie aber bitten, sich an die Geschäftsordnung zu halten. § 36 lautet:
Zu einer tatsächlichen oder persönlichen Erklärung kann der Präsident außerhalb der Tagesordnung das Wort erteilen. Die Erklärung ist ihm auf Verlangen vorher schriftlich mitzuteilen.
Das ist geschehen, Herr Präsident.
Präsident von Hassel: Das ist geschehen, aber Sie haben sich dann an die Vorlage zu halten.
Das tue ich. - Während Herr Dr. Müller noch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war und öffentlich erklärte, zum Austritt aus dieser Partei nicht bereit zu sein, gründete er, nachdem er öffentlich jede Miturheberschaft bestritten hatte, für die Kommunalwahlen in München eine Gruppierung mit dem Namen „Soziale Demokraten 72",
({0})
von der er behauptete, daß sie ein Sammelbecken echter Sozialdemokraten sei. Als die Wähler in München diesen Versuch zum kläglichen Scheitern verurteilten, ist Herr Dr. Müller zwei Monate vor der Bundestagswahl der CSU beigetreten, nachdem Herr Kollege Strauß, der, wie die Junge Union behauptet, an den Statuten vorbei die Parteiaufnahme selbst vollzogen hatte, öffentlich erklärte, er
Schmidt ({1})
werde sich für einen sicheren Listenplatz des Herrn Dr. Müller einsetzen.
({2})
Fünftens. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf eine Richtigstellung der von Herrn Dr. Müller vorgebrachten Halb- und Unwahrheiten zu Vorgängen innerhalb der Münchener SPD gegenüber dem Unter-bezirksvorsitzenden Schöfberger und dem Landesvorsitzenden Dr. Vogel verzichte,
({3})
dann nur deshalb, weil ich der Meinung bin, daß Behauptungen über einen Unterbezirk der Sozialdemokratischen Partei in einer historisch bedeutsamen Debatte des Deutschen Bundestages unmittelbar vor den Neuwahlen nichts, aber auch gar nichts verloren haben. Die Antwort darauf werden wir außerhalb des Parlaments geben.
({4})
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter Schmidt, ich bedauere sehr, daß die Erklärung diese Form angenommen hat. Sie haben sie vorher schriftlich dem amtierenden Präsidenten zugeleitet, und damit wurde sie zugelassen.
Ich darf bekanntgeben, daß der Abgeordnete Strauß das Wort zur Abgabe einer persönlichen Erklärung erbeten hat. Bitte schön, Herr Abgeordneter Strauß!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe eine persönliche Erklärung in einer Sache ab, bei der es sich um mich handelt und nicht um die Verunglimpfung von Kollegen.
({0})
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat es für richtig gehalten - man könnte auch sagen: hat die Geschmacklosigkeit besessen -, mir vorzuwerfen,
({1})
- ja, das ist eine Sache die mich betrifft - ({2})
daß ich ein kostspieliges Flugzeugprojekt fördere, bei dessen Durchführung ich der Vorsitzende des Aufsichtsrates sei.
({3})
Ich darf dazu folgendes erklären.
Erstens. In der Regierung der Großen Koalition hat der für diese Fragen zuständige Wirtschaftsminister Karl Schiller, SPD, dieses Projekt vorgeschlagen, den Finanzminister um Zustimmung gebeten und einen Kabinettsbeschluß erbeten, in dem diese seine Vorlage zur Entwicklung und Produktion dieses Flugzeugs genehmigt wurde.
({4})
Zweitens. Der Bundeswirtschaftsminister hat mit Zustimmung der damaligen Bundesregierung einen Vertrag mit Frankreich abgeschlossen, in dem Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland sich verpflichten, je 50 °/o der Entwicklungskosten zu tragen und dieses Flugzeug bis zu Ende zu entwickeln. Wenn diese Entwicklung von einem Partner nicht fortgeführt wird, muß dieser dem anderen Partner die finanziellen Beiträge leisten, damit der andere Partner das Flugzeug dann allein zu Ende entwickeln kann.
({5})
Man kann hier nicht von deutsch-französischer Zusammenarbeit reden und in einer Frage, in der Frankreich und Deutschland sich gegenseitig verpflichtet haben, eine derartige persönliche, gehässige, in der Sache unwahre und eines Finanzministers unwürdige Stellungnahme abgeben.
({6})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung.
({7})
- Zur Abgabe einer persönlichen Erklärung? -Bitte schön, zur Abgabe einer persönlichen Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung der Abgeordnete Schmidt ({8}).
({9})
- Darf ich Sie bitten, einen Moment Platz zu nehmen.
Herr Präsident, darf ich fragen, ob mir das Haus im Augenblick zuhört oder ob wir uns hinsetzen oder stehenbleiben sollen.
({0})
Präsident von Hassel: Darf ich Sie bitten, sich hinzusetzen. - Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Ich habe persönlich zu erklären:
1. Die Darstellung, die der Abgeordnete Dr. Strauß hinsichtlich der Entstehung jenes Projektes eben gegeben hat, trifft zu.
({0})
2. Ich habe begründeten Anlaß zu der Überzeugung, daß der vom Kollegen Strauß zitierte Kollege Dr. Schiller in der Zwischenzeit in Ansehung seines wirtschaftlichen Entwicklungsganges jenes Projekt gegenwärtig und schon seit geraumer Zeit mit derselben finanzwirtschaftlichen Skepsis betrachtet wie ich,
({1})
- daß er es mit derselben finanzwirtschaftlichen Skepsis betrachtet, die ich zum Ausdruck gebracht habe.
3. Ich bitte, aus dem Stenogramm meiner Rede zu entnehmen, daß ich niemanden in irgendeiner Form verdächtigt habe,
({2})
sondern daß ich vielmehr den Aufsichtsratsvorsitzenden jenes Unternehmens gebeten habe, uns doch hinsichtlich der rationelleren Ausgabe staatlicher Mittel auf diesem Gebiete Vorschläge zu machen.
({3})
Präsident von Hassel: Das Wort zur Abgabe einer Erklärung - ({4})
- Nein, die Diskussion ist nicht eröffnet. Wir haben vier persönliche Erklärungen gehabt, und damit ist die Aussprache beendet. Die Aussprache war beendet, und wir haben vier Erklärungen gehabt. Wollen Sie zur Abgabe einer Erklärung das Wort? Das Wort zu einer Ansprache kann ich Ihnen nicht geben, zu einer Erklärung ja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dann muß ich das, was ich dazu zu sagen habe, in Form einer persönlichen Erklärung sagen. Ich wäre einer Diskussion darüber nicht ausgewichen, wie es jetzt offensichtlich die Regierungskoalition oder die SPD wünscht.
({0})
- Mehr als das, was Herr Manfred Schmidt zur Verunglimpfung des Kollegen Dr. Günther Müller gesagt hat.
({1})
Ich stelle dazu folgendes fest: Die Bundesregierung hat sich gegenüber dem französischen Partner so verpflichtet, wie ich es vorhin dargestellt habe.
Weiter: Mir ist sowohl von der Bundesregierung wie von französischer Seite mitgeteilt worden, daß Bundeskanzler Brandt Staatspräsident Pompidou auf dessen besondere Frage hin erklärt hat, es gebe keinen Zweifel daran, daß diese Bundesregierung ihre Verpflichtungen aus diesem Vertrag erfüllen werde, um die Grundlagen einer europäischen Luftfahrt- und Raumfahrtindustrie nicht zu zerstören, wie es offensichtlich der Herr Finanz- und Wirtschaftsminister hier empfiehlt.
({2})
Ich darf drittens bemerken, daß sich sämtliche Entwicklungsarbeiten innerhalb des Rahmens gehalten haben, der von der Bundesregierung mit jährlicher Eskalationsrate, wie in den Verträgen vorgesehen, gezogen worden ist. Alles andere ist Augenauswischerei und Vertuschung der Wirklichkeit.
({3})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Bevor ich die Abstimmung eröffne, verlese ich zunächst den Wortlaut des Art. 68 des Grundgesetzes:
({4}) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag aufläsen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
({5}) Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.
Ich stelle fest, daß diese 48-Stunden-Frist gewahrt ist. Es ist außerdem namentliche Abstimmung verlangt worden.
Ich eröffne die Abstimmung. Wer dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen will, möge mit Ja stimmen.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Abstimmungsergebnis bekanntgebe, darf ich mitteilen, daß die drei Fraktionen mich gebeten haben, Sie davon zu unterrichten, daß im Anschluß an diese Plenarsitzung alle drei Fraktionen zu Fraktionssitzungen zusammentreten.
Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. An der Abstimmung haben insgesamt 482 stimmberechtigte Abgeordnete und 22 Berliner Abgeordnete teilgenommen. Mit Ja haben gestimmt 233 stimmberechtigte Abgeordnete und 12 Berliner Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 248 stimmberechtigte Abgeordnete und 10 Berliner Abgeordnete; enthalten haben sich 1 stimmberechtigter Abgeordneter und kein Berliner Abgeordneter.
Ergebnis
Abgegebene Stimmen 482 und 22 Berliner Abgeordnete. Davon
Ja: 233 und 12 Berliner Abgeordnete
Nein: 248 und 10 Berliner Abgeordnete
Enthalten: 1 Abgeordneter
Barche
Dr. Bardens Batz
Bauer ({6})
Bay
Dr. Bayerl
Dr. Bechert ({7}) Becker ({8})
Dr. Beermann
Behrendt Bergmann Berkhan
Berlin
Ja SPD
Adams
Dr. Ahrens
Anbuhl
Dr. Apel
Dr. Arndt ({9}) Baack
Baeuchle
Bäuerle
Bals
Biermann
Böhm Börner
Frau von Bothmer Brandt ({10}) Bredl
Brück ({11})
Brünen Buchstaller
Büchler ({12}) Büchner ({13})
Dr. von Bülow Buschfort
Dr. Bußmann
Collet Corterier
Cramer Dürr
Eckerland
Frau Eilers
Dr. Enders
Engholm
Esters Faller
Dr. Farthmann Fellermaier
Fiebig
Dr. Fischer
Flämig
Frau Dr. Focke
Folger Frehsee Frau Freyh
Fritsch Geiger
Gerlach ({14}) Gertzen
Glombig
Gnädinger
Grobecker
Haar ({15})
Haase ({16}) Haehser
Halfmeier
Hansen Hansing
Hauck
Dr. Hauff
Henke
Frau Herklotz Hermsdorf ({17}) Herold
Höhmann ({18})
Hörmann ({19}) Hofmann
Horn
Frau Huber
Jaschke Junghans
Junker Kaffka Kahn-Ackermann
Kater Kern
Killat-von Coreth
Dr. Koch
Koenig Kohlberger
Konrad
Dr. Kreutzmann Kriedemann
Krockert
Kulawig
Lange Langebeck Lautenschlager
Frau Lauterbach
Lemp
Lemper
Lenders Liedtke Löbbert Dr. Lohmar
Maibaum
Marquardt
Marx ({20})
Matthes Matthöfer
Frau Meermann
Dr. Meinecke ({21}) Meinike ({22}) Metzger
Michels Möhring
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller Müller ({23})
Müller ({24})
Dr. Müller-Emmert
Dr. Müthling
Neemann
Neumann
Dr. Oetting
Offergeld
Frau Dr. Orth
Frhr. Ostman von der Leye Pawelczyk
Peiter Pensky Peters ({25})
Pöhler Porzner Raffert Ravens Dr. Reischl
Frau Renger
Richter
Dr. Rinderspacher
Rohde Rosenthal
Roß
Säckl
Sander Saxowski
Dr. Schachtschabel
Dr. Schäfer ({26})
Frau Schanzenbach
Scheu
Schiller ({27})
Frau Schimschok
Schirmer Schlaga
Dr. Schmid ({28}) Schmidt ({29})
Dr. Schmidt ({30})
Dr. Schmidt ({31}) Schmidt ({32})
Schmidt ({33}) Schmidt ({34})
Dr. Schmitt-Vockenhausen Dr. Schmude
Schoettle
Schollmeyer
Schonhofen
Schulte ({35})
Schwabe Seefeld Seibert Seidel
Frau Seppi
Simon
Dr. Slotta
Dr. Sperling
Spillecke
Staak ({36})
Strohmayr
Suck
Tallert
Dr. Tamblé
Frau Dr. Timm
Tönjes
Urbaniak
Vit
Walkhoff
Dr. Weber ({37})
Welslau
Wende Wendt Westphal
Dr. Wichert
Wiefel Wienand
Wilhelm
Wischnewski
Dr. de With
Wittmann ({38}) Wolf
Wolfram
Wrede Würtz Wüster Wuttke Wuwer Zander Zebisch
Berliner Abgeordnete
Dr. Arndt ({39})
Bartsch Bühling Dr. Dübber
Heyen
Frau Krappe
Löffler Mattick Dr. Schellenberg
Frau Schlei
Sieglerschmidt
FDP
Dr. Achenbach
Frau Dr. Diemer-Nicolaus Dorn
Gallus Geldner Graaff Grüner Jung
Kleinert Krall
Logemann
Dr. h. c. Menne ({40}) Mertes
Moersch Ollesch Opitz
Peters ({41}) Schmidt ({42}) Spitzmüller
Wurbs
Berliner Abgeordnete Borm
Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein
Dr. Aigner
Alber
von Alten-Nordheim Dr. Althammer
Dr. Arnold Dr. Artzinger
Dr. Bach
Baier
Balkenhol Dr. Barzel Dr. Becher ({43})
Dr. Becker ({44})
Becker ({45}) Berberich
Berding
Berger
Bewerunge Biechele
Biehle
Dr. Birrenbach
Dr. von Bismarck Bittelmann Blumenfeld
von Bockelberg
Dr. Böhme
Frau Brauksiepe Breidbach Bremer
Bremm
Brück ({46}) Dr. Burgbacher
Burger
Cantzler
Dr. Czaja Damm
van Delden Dichgans Dr. Dittrich Dr. Dollinger
Draeger
von Eckardt Engelsberger
Dr. Erhard
Erhard ({47}) Ernesti
Erpenbeck Dr. Evers Dr. Eyrich von Fircks Franke ({48})
Dr. Franz Dr. Freiwald Dr. Frerichs Dr. Früh
Dr. Fuchs Dr. Furler Dr. Gatzen
Frau Geisendörfer Geisenhofer Gerlach ({49}) Gewandt
Gierenstein Dr. Giulini Dr. Gleissner
Glüsing ({50}) Dr. Gölter
Dr. Götz
Gottesleben Dr. Gruhl Haase ({51})
Dr. Häfele Härzschel Häussler
Dr. Hallstein Dr. Hammans
Hanz
Hartnack von Hassel
Hauser ({52}) Dr. Hauser ({53})
Dr. Heck
Dr. Hellige Helms ({54})
Dr. Hermesdorf ({55}) Höcherl
Präsident von Hassel
Hösl
Horstmeier Horten
Dr. Hubrig Dr. Hupka Hussing
Dr. Huys
Frau Jacobi ({56})
Dr. Jahn ({57}) Dr. Jenninger
Josten
Dr. Jungmann Frau Kalinke Katzer
Dr. Kempfler Kiechle
Kiep
Dr. h. c. Kiesinger
Frau Klee Dr. Klepsch Dr. Kley
Dr. Kliesing ({58}) Klinker
Köster
Krammig
Krampe
Dr. Kraske Dr. Kreile
Frau Dr. Kuchtner Lampersbach Leicht
Lemmrich Lensing
Dr. Lenz ({59}) Lenze ({60})
Lenzer
Link
Löher ({61})
Dr. Löhr
Looft
Dr. Luda
Lücke ({62})
Lücker ({63})
Dr. Majonica Dr. Martin
Dr. Marx ({64}) Maucher
Meister
Memmel
Menth ({65}) Mick
Dr. Mikat Dr. Miltner
Dr. Müller ({66}) Dr. Müller ({67}) Müller ({68}) Müller ({69})
Dr. Müller-Hermann Mursch ({70}) Niegel
Dr. von Nordenskjöld Orgaß
Petersen
Pfeifer
Picard
Pieroth
Dr. Pinger Pohlmann Dr. Prassler Dr. Preiß Dr. Probst Prochazka Rainer
Rawe
Reddemann Dr. Reinhard
Richarts
Riedel ({71}) Dr. Riedl ({72})
Dr. Rinsche
Dr. Ritgen
Dr. Ritz Rock
Röhner Rösing Rollmann
Rommerskirchen
Roser
Ruf
Russe
Sauter
Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
Schedl Schlee Schlichting-von Rönn
Dr. Schmid-Burgk
Dr. Schmidt ({73}) Schmitt ({74})
Dr. h. c. Schmücker
Schneider ({75})
Dr. Schneider ({76})
Dr. Schober
Frau Schroeder ({77}) Dr. Schröder ({78}) Schröder ({79}) Schulhoff
Schulte ({80}) Dr. Schulze-Vorberg
Dr. Schwörer
Seiters
Dr. Siemer
Solke Spilker Springorum
Dr. Sprung
Stahlberg
Dr. Stark ({81})
Dr. Starke ({82})
Stehle
Stein ({83})
Steiner
Frau Stommel
Storm Strauß Struve Stücklen
Susset
von Thadden
Tobaben
Frau Tübler
Dr. Unland
Varelmann
Vehar Vogel Vogt
Volmer
Wagner ({84})
Dr. Wagner ({85})
Frau Dr. Walz
Dr. Warnke
Wawrzik
Weber ({86})
Weigl
Dr. Freiherr von Weizsäcker Wendelborn
Werner
Windelen
Winkelheide
Wissebach
Dr. Wittmann ({87}) Dr. Wörner
Frau Dr. Wolf
Baron von Wrangel
Dr. Wulff
Ziegler
Dr. Zimmermann
Zink
Zoglmann ({88}) Berliner Abgeordnete
Amrehn
Frau Berger
Dr. Gradl
Dr. Kotowski Kunz
Müller ({89}) Frau Pieser
Dr. Schulz ({90}) Dr. Seume ({91}) Wohlrabe
Enthaltungen
SPD
Arendt ({92})
Nach Art. 68 des Grundgesetzes ist für die Annahme des Antrages die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder erforderlich, d. h. 249 Ja-Stimmen. Der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, hat somit nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Ich werde dem Herrn Bundespräsidenten unverzüglich davon Mitteilung machen.
Meine Damen und Herren, dieses Abstimmungsergebnis gibt dem Herrn Bundespräsidenten das Recht, auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag aufzulösen. Ich kann und will dem Herrn Bundespräsidenten nicht vorgreifen; sein Recht, über die Auflösung des Bundestages zu entscheiden, bleibt unangetastet. Die Fraktionen haben mich aber gebeten, angesichts des klaren Willens aller Parteien, zu Neuwahlen zu kommen, diese Sitzung nicht zu unterbrechen, um auf die Auflösungsanordnung des Herrn Bundespräsidenten zu warten, wie ich es gerne gesehen hätte, sondern diese Sitzung mit einem kurzen Wort zu schließen in dem Bewußtsein, daß es keine Sitzung des 6. Deutschen Bundestages mehr geben wird.
Meine Damen und Herren, diese 6. Legislaturperiode wird also vorzeitig zu Ende gehen. Sie unterscheidet sich in vielem von vorhergehenden Legislaturperioden. Zum erstenmal haben wir über ein Vertrauensvotum, zum erstenmal über ein konstruktives Mißtrauensvotum abgestimmt, zum erstenmal wird der Bundestag durch den Bundespräsidenten aufgelöst werden.
Die Kommentatoren des Grundgesetzes, die Verfassungsjuristen, werden sich freuen, daß sie nun für die Artikel des Grundgesetzes, die sie bisher nur rein theoretisch beschreiben konnten, konkrete Beispiele haben. Aber viele Bürger unseres Staates sind beunruhigt über die ihnen nicht vertrauten und ungewöhnlichen Abläufe. Wir sollten sie deshalb hier und heute beruhigen.
Die Vertrauensfrage wie das konstruktive Mißtrauensvotum und die Auflösung des Bundestages sind sicherlich Ausnahmen, aber sie sind nicht außerhalb der Ordnung unseres Grundgesetzes, sie sind in ihm vielmehr ausdrücklich vorgesehen. Sie sind Bestandteil unseres parlamentarischen Systems, um außergewöhnliche Situationen, wie wir sie erlebt haben, zu meistern. Wir werden sie meistern, wenn wir alle als Demokraten zusammenstehen und auch in den harten Auseinandersetzungen, die vor uns liegen, die gemeinsamen Grundlagen unseres demokratisch-parlamentarischen Systems weiterhin bejahen und nicht um eines kurzfristigen möglichen Parteivorteils willen vergessen, daß Diffamierung und Herabsetzungen des Gegners letztlich keinen Vorteil bringen. .
({93})
Präsident von Hassel
Wir können und sollen Gegner sein, aber wir dürfen nicht zu Feinden werden. Wir dürfen uns nicht verleiten lassen, aus welchen Gründen auch immer die großen Linien unserer freiheitlichen Verfassung zu verlassen.
Einer, der uns dies immer wieder gesagt hat, ist unser verehrter Kollege Prof. Carlo Schmid. Er wird uns wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr unmittelbar mit seinem Rat begleiten. Wir sollten ihm daher an dieser Stelle Dank sagen
({94})
und erklären, daß er sich um dieses Parlament und um unser Vaterland verdient gemacht hat.
Aus unseren Reihen scheidet nun so mancher aus. Von denen, die sich wieder zur Wahl stellen, werden nicht alle ihr Ziel erreichen. In einem freiheitlichen Rechtsstaat, dessen Parlament aus freien Wahlen hervorgeht, kann es gar nicht anders sein.
Aber: Es gibt eine beträchtliche Zahl unter unseren Kolleginnen und Kollegen, die nicht wieder kandidieren und die nun, zum Teil seit 1949 Mitglied in sechs Legislaturperioden, uns verlassen werden. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß das für die meisten ein schmerzhafter Abschied ist, weil es einfach eine Zäsur ist, wenn man aus einer Arbeit ausscheidet, die 24 oder 20 oder auch nur 8 Jahre Aufbauarbeit für Deutschland bedeutet. All denen möchte ich in diesem Augenblick unseren Dank für ihr Wirken sagen, das mit sehr viel Entbehrung und Mühsal, sicher auch mit mancher Genugtuung und Freude, verbunden war.
In diesem Augenblick, am Ende eines ereignisreichen Tages, erwartet niemand eine Würdigung unserer Arbeit in dieser verkürzten Legislaturperiode. Das Zahlenwerk, das die Zahl der verabschiedeten Gesetze ausweisen würde, wäre beachtlich; aber auch die Zahl der Vorlagen, die nicht mehr erledigt werden konnten, ist groß. Daß aber bei 333 verabschiedeten Gesetzen nur 15 hart umkämpft waren, zeigt, daß in diesem Hause nicht nur Gegensätze ausgefochten wurden, daß nicht alles nur im Streit geschah, sondern daß an die 95 % unserer Gesetzgebung einvernehmlich verbschiedet wurden.
Diese Tatsache ist doch wohl Beweis für die Kraft unseres frei gewählten Parlaments, in einer schwierigen Zeit seine Aufgabe auch erfüllen zu können. Der Deutsche Bundestag hat bewiesen, daß er auch unter besonderen Verhältnissen Besonderes zu leisten vermag. Dafür danke ich allen Mitgliedern des Hauses, aber auch den Arbeitern, Angestellten und Beamten der Verwaltung.
({95})
Auch den Präsidien und dem Ältestenrat gilt mein besonderer Dank und damit vor allem den Parlamentarischen Geschäftsführern, die eine ganz besondere Arbeitslast zu tragen hatten und viel zur Lösung unserer Aufgaben beigetragen haben.
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Selbst unter dem lebendigen Eindruck dieser Woche zeigt sich doch, daß auch bei schweren politischen Gegensätzen zwischen den beiden großen Blöcken immer das Gespräch miteinander möglich blieb, nicht nur im Präsidium und im Ältestenrat, sondern im ganzen Hause. So soll es auch in Zukunft bleiben, zum Wohle unseres Volkes und Vaterlandes.
Ich danke Ihnen. Ich schließe die letzte Sitzung des 6. Deutschen Bundestages.
({97})