Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Hohe Haus hat in seiner 174. Sitzung am 1. März dieses Jahres auf Grund des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit - das waren die Drucksachen VI/3082 und zu VI/3082 - den seinerzeit von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze in der diesem Hause bekannten Fassung angenommen. Bei den Beratungen im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit wurde auch der Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Ausbau und Sicherung eines bedarfsgerechten gegliederten Systems leistungsfähiger Krankenhäuser - Drucksache VI/1594 - erörtert.
Der Bundesrat hat in seiner 378. Sitzung am 24. März dieses Jahres beschlossen, zu dem vom Deutschen Bundestag am 1. März 1972 verabschiedeten Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze gemäß Art. 77 Abs. 2 GG die Einberufung des Vermittlungsausschusses zu verlangen. Kernpunkt des Vermittlungsbegehrens des Bundesrates war eine Verminderung der Belastung der Länder durch dieses Krankenhausfinanzierungsgesetz. Der Vermittlungsausschuß hat am 3. Mai getagt und die insgesamt 24 einzelnen Vermittlungsbegehren erörtert. Mit der Drucksache VI/3416 und der dazugehörigen Anlage legt der Vermittlungsausschuß diesem Hohen Haus die im einzelnen gefaßten Beschlüsse zur Änderung des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze vor. Der Bund ist dabei den Forderungen des Bundesrates bei den Finanzhilfen entgegengekommen. Er wird in jedem Haushaltsjahr für Finanzhilfen, die der Erhaltung des Bettenstandes dienen, ein Drittel des Betrages bereitstellen. Bei neuen Investitionen zuzüglich der Wiederbeschaffung mittelfristiger Anlagegüter hat sich der Bund bereit erklärt, in diesem Jahr den Betrag von insgesamt 350 Millionen DM, 1973 den Betrag von 360 Millionen DM, 1974 den Betrag von 370 Millionen DM und 1975 den Betrag von 385 Millionen DM zur Verfügung zu stellen.
Meine Damen und Herren, gegenüber der vom Bundestag seinerzeit beschlossenen Fassung des Gesetzes ergeben sich aber noch weitere bedeutsame Änderungen des Gesetzes. So sollen die Ausgaben für die erste Anschaffung von Verbrauchsgütern nicht zu den Investitionskosten zählen. Aus den von der öffentlichen Hand zu tragenden Investitionskosten werden die Instandhaltungs- und Instandsetzungskosten ausgeschlossen. Die Kosten von Ausbildungsstätten, soweit sie bisher tatsächlich im Pflegesatz berücksichtigt waren, sollen nicht nur bis 1974, sondern bis 1978 zusätzlich zu den Benutzerkosten von den Benutzern getragen werden. Dies hat zur Folge, daß diese Kosten auf den Krankenhausbenutzer und damit auf die Krankenkassen zukommen. Die Pflegesätze werden nach einer Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1973 voll kostendeckend sein. Sollten die Pflegesätze nach Abzug der Betriebszuschüsse mehr als 10 % steigen, wird der Betrag über 10 % durch Förderungsmittel abgedeckt. Ursprünglich war vorgesehen, diese Grenze bereits bei 7,5 % zu ziehen. Auch diese Änderung wird zu Lasten der Krankenkassen gehen.
Im einzelnen hat der Vermittlungsausschuß folgende Änderungen beschlossen. Die Ziffern 1 bis 5 der vom Bundesrat in seiner Drucksache 71/72 gewünschten Änderung des Gesetzes wurden akzeptiert. Darunter fällt auch die von den Ländern gewünschte Übernahme der Instandhaltungs- und Instandsetzungskosten in den Benutzerkostenkatalog.
Der § 6 des zur Debatte stehenden Gesetzes wird wie folgt geändert - ich darf zitieren -:
a) § 6 Abs. 3 Satz 1 wird wie folgt gefaßt:
„Bei der Aufstellung der Krankenhausbedarfspläne und der Programme zur Durch-
führung des Krankenhausbaus sind die Krankenhausgesellschaft sowie die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen und der sonstigen wesentlich Beteiligten im Lande anzuhören."
b) In § 6 Abs. 3 Satz 2 werden die Worte „Die Länder" durch die Worte „Die Landesregierungen" ersetzt.
Die Ziffer 7 wurde in der Vorlage des Bundesrates akzeptiert. Das Vermittlungsbegehren zu Ziffer 8 wurde abgelehnt. Die Änderungsbegehren zu den Ziffern 9 bis 13 - alt - in der Bundesratsdrucksache 71/72 - das sind die Ziffern 8 bis 12 in der Anlage zu Drucksache VI/3416 - sind vom Vermittlungsausschuß akzeptiert worden.
Zu Ziffer 13 der Anlage zu Drucksache VI/3416 wurde ein Kompromiß gefaßt. Der Kompromiß ist in der Formulierung des neuen § 19 ausgedruckt. Meine Damen und Herren, unter Berücksichtigung der Spannung in diesem Haus zum nächsten Tagesordnungspunkt verzichte ich darauf, sie im einzelnen zu zitieren. Ich bitte Sie, sie nachzulesen.
Auch der § 22 wurde in Abs. 1 anders gefaßt. Weder die Änderungsabsicht des Bundesrates noch ein als Kompromiß eingebrachter Änderungsantrag des Berichterstatters, der für die Beteiligten und Betroffenen optimale Lösungen hätte bringen können, erhielten die Mehrheit. Vielmehr wurde eine Kompromißfassung, welche die Bundesregierung vorlegte, vom Vermittlungsausschuß akzeptiert.
Ich zitiere sie Ihnen. Sie lautet:
Der Bund stellt in jedem Haushaltsjahr für Finanzhilfen nach § 21 ein Drittel des Betrages bereit, der in den Ländern nach § 4 Abs. 2 Satz 1, § 8 Abs. 2, §§ 10, 11, 12 Abs. 1 Satz 1, §§ 13 und 19 Abs. 2 und 3 aufgewendet wird. Für Aufwendungen nach § 4 Abs. 2 Satz 2 und § 9 stellt der Bund 1972 350 Millionen DM, 1973 360 Millionen DM, 1974 370 Millionen DM und 1975 385 Millionen DM bereit; in den folgenden Jahren erhöhen sich diese Beträge entsprechend den jährlichen Steigerungsraten der durchschnittlichen Bettenwerte.
So weit der Text.
Die vom Bundesrat gewünschte Änderung zu § 22 Abs. 3 wurde in anderer Form akzeptiert. Ich verweise auf Ziffer 15 der Anlage zu Drucksache VI/3416.
Zu § 23 Abs. 1 beschloß der Vermittlungsausschuß, ebenfalls dem Kompromißvorschlag der Bundesregierung zuzustimmen. Die Fassung lautet nunmehr wie folgt:
Die Finanzhilfen des Bundes nach § 22 Abs. 1 Satz 1 sind in voller Höhe, die Finanzhilfen nach § 22 Abs. 1 Satz 2 in Höhe von 80 vom Hundert den Ländern nach ihrer Einwohnerzahl zuzuweisen.
Dies entspricht einer tatsächlichen Zuweisungsquote von 93 %
Gemäß der Beschlußfassung zur Änderung des § 19 müssen in § 23 Abs. 3 Satz i sodann nach den Worten „§ 19 Abs. 2" die Worte „und 3" eingefügt werden.
Ein neuer Abs. 4 zu § 23 wurde ebenfalls beschlossen. Er ist unter Ziffer 18 im Wortlaut dargestellt.
Die vom Bundesrat des weiteren gewünschten Änderungen zu § 27 Abs. 1 Nr. 1 und zu § 30 Abs. 2 wurden vom Vermittlungsausschuß akzeptiert.
Da die Umstellung der Ausbildungsstätten auf andere Finanzgrundlagen einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren in Anspruch nehmen wird und die Länder ihre finanziellen Verpflichtungen in ihren Finanzplanungen bereits bis zum Jahre 1975 festgelegt und dabei derartige Kosten nicht berücksichtigt haben, beantragte der Bundesrat eine Verlängerung der in § 30 Abs. 2 festgelegten Übergangsfrist, und zwar vom 31. Dezember 1974 auf den 31. Dezember 1980. Der Vermittlungsausschuß beschloß jedoch nunmehr das Datum „31. Dezember 1978" festzulegen.
Zu § 32 Nr. i wurden die Vorstellungen des Bundesrates akzeptiert, da es sich hier allein um eine technische Angleichung auf Grund der Vorwegbeschlüsse handelt.
Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß über diese Änderungen in diesem Hohen Hause gemeinsam abzustimmen ist. Namens des Vermittlungsausschusses habe ich Ihnen zu empfehlen, den Änderungen zum Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze, wie sie in der Drucksache VI/3416 im einzelnen ausgewiesen sind, Ihre Zustimmung zu geben.
({0})
Präsident von Hassel: Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Abgeordnete Burger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe namens der CDU/CSU-Fraktion folgende Erklärung abzugeben.
Bei der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages am 1. März 1972 sah sich die CDU/CSU-Fraktion dieses Hohen Hauses nicht in der Lage, der Vorlage zuzustimmen, weil die notwendigen Strukturverbesserungen nicht in das Gesetz aufgenommen sind, weil sie den Schutz der freigemeinnützigen Krankenhäuser für unzureichend hielt und weil Pflegeschulen und Wohnheime von der Förderung ausgenommen und die ursprünglichen Zusagen des Bundes hinsichtlich seines finanziellen Engagements nicht eingehalten worden sind. Wenn die CDU/CSU-Fraktion trotzdem das Gesetz damals nicht abgelehnt, sondern sich der Stimme enthalten hat, so tat sie dies, um zum Ausdruck zu bringen, daß auch sie die mit dem Gesetz angestrebte Finanzausstattung der Krankenhäuser für notwendig hielt.
Die nunmehr vorgelegten Änderungsvorschläge des Vermittlungsausschusses sind nicht geeignet, die ernsten Bedenken der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auszuräumen. Zwar will der Bund sich nunmehr stärker, als bisher vorgesehen, an der Krankenhausfinanzierung beteiligen, nach wie vor entzieht er sich jedoch seiner vollen finanziellen Verpflichtung. Ungünstiger sieht die Situation jedoch für die Krankenkassen aus, da Instandsetzungs- und Instandhaltungskosten über den Pflegesatz auf sie abgewälzt werden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen auf Grund dieses Gesetzes damit rechnen, daß ihre Belastung mit Krankenkassenbeiträgen stark anwachsen wird.
({0})
Die explosionsartige Entwicklung bei den Benutzerkosten wird sich verstärken, weil nunmehr auch Kosten aus dem Bereich der Investitionen dazukommen und weil keinerlei Maßnahmen vorgesehen sind, die den Kostenanstieg in Grenzen halten könnten. Nach wie vor fehlen Regelungen über die Strukturverbesserung im Krankenhaus. Auch die jetzige Fassung des Gesetzes entspricht nicht den Erfordernissen einer überzeugenden und dauerhaften Konzeption zur Sicherstellung eines bedarfsgerechten und wirtschaftlich gesunden Krankenhauswesens.
Sehr problematisch erscheint uns auch die Verringerung der Bundeszuständigkeiten und der geringere Schutz der freien gemeinnützigen Träger. Deshalb ist es der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
nicht möglich, den Empfehlungen des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich der Stimme enthalten.
Ich beantrage namens meiner Fraktion namentliche Abstimmung.
({1})
Präsident von Hassel: Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Abgeordnete Dr. Bardens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der SPD-Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt die Einigung über das Krankenhausfinanzierungsgesetz im Vermittlungsausschuß und stimmt dem Ergebnis zu. Einige Schritte, die dabei der Bundesgesetzgeber auf die Position der Länder zugehen mußte. sind uns allerdings nicht gerade leichtgefallen. So mußte unter anderem eine höhere und schneller steigende Belastung der Krankenversicherten in Kauf genommen werden, obwohl sich der Bund gegenüber der ursprünglichen Fassung des Gesetzes schon im ersten Jahr mit erheblich höheren Beträgen an der Krankenhausfinanzierung beteiligen wird. Allerdings darf diese Mehrbelastung der Krankenversicherung hinsichtlich ihres Effektes auch nicht übertrieben gesehen werden. Es sind schätzungsweise 0,1 Beitragsprozent, die durch diese Änderung zusätzlich ausgelöst werden. Wir haben im Interesse der wirtschaftlichen Sicherung der
Krankenhäuser und damit auch einer modernen ärztlichen Versorgung der Bevölkerung im Krankenhaus trotzdem dem Kompromiß zugestimmt.
Einer weiteren Veränderung muß im Interesse eines guten Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern zugestimmt werden. Im § 6 Abs. 2 des Gesetzes, der die Aufgaben des Ausschusses für Fragen der wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser beschreibt, wurde eine Abschwächung seiner Koordinierungsbefugnisse zugestimmt, und es wurde gegenüber den Ländern durch eine Änderung des § 7 zugebilligt, daß der Vorsitz in diesem Ausschuß zwischen dem Bundesgesundheitsminister und den zuständigen Länderministern wechseln soll. Diese Zustimmung erfolgt, wie gesagt, im Interesse einer gedeihlichen Zusammenarbeit von Bund und Ländern.
Die verfassungsrechtliche Argumentation des Bundesrates allerdings im Zusammenhang mit Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes erkennen wir mit diesem Entgegenkommen nicht an. Wir sind überzeugt, daß der Bundesgesetzgeber auch mit der ursprünglichen Fassung des Gesetzes den Rahmen dieser Grundgesetzvorschrift nicht voll ausgenutzt hatte. Unsere Zustimmung zum Vermittlungsergebnis darf deshalb auch nicht als Präzedenzentscheidung in bezug auf andere Gesetze, die sich auf Art. 104 a stützen, angesehen werden.
Ich darf abschließend noch einmal allen, die an der schwierigen Gesetzgebungsarbeit beteiligt waren, für ihre kooperative Haltung danken, auch den Vertretern der 'Länder. Im Sinne der Entschließung des Bundestages vom 1. März fordert die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Länder, die Gemeinden, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und die Krankenhausträger noch einmal auf, auf der Grundlage dieses Gesetzes für eine fortschrittliche Weiterentwicklung des deutschen Krankenhauswesens zusammenzuwirken. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu.
({0})
Präsident von Hassel: Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, daß im Vermittlungsausschuß eine Einigung über das Krankenhausfinanzierungsgesetz erreicht wurde. Die FDP stimmt dem Ergebnis zu. Diese Zustimmung fällt uns aber nicht leicht, da die Veränderungen erhebliche Mehrbelastungen für den Bund und die Versichertengemeinschaften bringen. Entscheidend für uns ist jedoch, daß durch diese Einigung für die Krankenhäuser, die 20 Jahre Schlußlicht der Wohlstandsgesellschaft waren, eine Chance neuer Entwicklungs- und Modernisierungsmöglichkeiten eröffnet wird, wobei anerkennend festzuhalten ist, daß die deutschen Krankenhäuser in der Vergangenheit trotz Defizit und Personalnot Leistungssteigerungen erreichten, die nun entscheidend verbessert werden können. Dies liegt im InterSpitzmüller
esse all derer, die auf Benutzung der Krankenhäuser angewiesen sind. Wir bitten daher um Zustimmung zu dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses.
({0})
Präsident von Hassel: Weitere Wortmeldungen zur Abgabe von Erklärungen liegen nicht vor. - Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat festgelegt, daß wir gemeinsam über die Änderung abstimmen; es ist namentliche Abstimmung beantragt worden. Ich darf bitten, daß die Schriftführer, die dazu eingeteilt sind, ihres Amtes walten.
Ich eröffne die Abstimmung.
Meine Damen und Herren, das Abstimmungsergebnis liegt vor. Ich gebe es bekannt. Es wurden 496 Stimmen von den uneingeschränkt stimmberechtigten Mitgliedern dieses Hauses und 22 Stimmen von den Berliner Abgeordneten abgegeben. Mit Ja - für den Vorschlag des Vermittlungsausschusses - haben 249, mit Nein zwei Mitglieder des Hauses gestimmt. 245 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Von den Berliner Abgeordneten haben 12 mit Ja gestimmt; zehn haben sich der Stimme enthalten; keine Gegenstimme. Damit ist der Antrag des Vermittlungsausschusses angenommen.
Ergebnis:
Abgegebene Stimmen 496 und 22 Berliner Abgeordnete. Davon
Ja: 249 und 12 Berliner Abgeordnete
Nein: 2 Abgeordnete
Enthalten: 245 und 10 Berliner Abgeordnete.
Ja
SPD
Adams
Dr. Ahrens
Anbuhl Dr. Apel Arendt ({1})
Dr. Arndt ({2})
Baack
Baeuchle
Bäuerle Bals
Barche
Batz
Bauer ({3})
Bay
Dr. Bayerl
Dr. Bechert ({4}) Becker ({5})
Dr. Beermann
Behrendt
Bergmann
Berkhan Berlin Biermann
Böhm
Börner
Frau von Bothmer
Brandt ({6})
Bredl
Brück ({7})
Brünen
Buchstaller
Büchler ({8})
Büchner ({9})
Dr. von Billow
Buschfort
Dr. Bußmann Collet
Corterier
Cramer
Dr. von Dohnanyi
Dürr
Eckerland Dr. Ehmke Frau Eilers Dr. Enders Engholm
Dr. Eppler Esters
Faller
Dr. Farthmann
Fellermaier Fiebig
Dr. Fischer Flämig
Frau Dr. Focke
Folger
Franke ({10})
Frehsee
Frau Freyh Fritsch
Geiger
Gerlach ({11})
Gertzen
Dr. Geßner
Glombig
Gnädinger Grobecker Dr. Haack Haar ({12})
Haase ({13}) Haehser
Halfmeier Hansen
Hansing
Hauck
Dr. Hauff
Henke
Frau Herklotz Hermsdorf ({14}) Herold
Höhmann ({15}) Hörmann ({16}) Hofmann
Horn
Frau Huber Jahn ({17})
Jaschke
Junghans Junker
Kaffka
Kahn-Ackermann
Kater
Kern
Killat-von Coreth
Dr. Koch
Koenig
Kohlberger Konrad
Dr. Kreutzmann Kriedemann Krockert
Kulawig
Lange
Langebeck Dr. Lauritzen
Lautenschlager
Frau Lauterbach
Leber
Lemp
Lemper
Lenders
Liedtke
Löbbert
Dr. Lohmar Maibaum
Marquardt
Marx ({18})
Matthes
Matthöfer
Frau Meermann
Dr. Meinecke ({19}) Meinicke ({20}) Metzger
Michels
Möhring
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller Müller ({21})
Dr. Müller ({22}) Müller ({23})
Dr. Müller-Emmert
Dr. Müthling Neemann Neumann
Dr. Nölling Dr. Oetting Offergeld Frau Dr. Orth
Frhr. Ostman von der Leye Pawelczyk
Peiter
Pensky
Peters ({24})
Pöhler
Porzner
Raffert
Ravens
Dr. Reischl
Frau Renger
Richter
Dr. Rinderspacher
Rohde Rosenthal
Roß
Säckl
Sander Saxowski
Dr. Schachtschabel
Dr. Schäfer ({25})
Frau Schanzenbach
Scheu
Dr. Schiller
Schiller ({26})
Frau Schimschok
Schirmer
Schlaga
Dr. Schmid ({27}) Schmidt ({28})
Dr. Schmidt ({29}) Schmidt ({30})
Dr. Schmidt ({31}) Schmidt ({32})
Schmidt ({33}) Schmidt ({34})
Dr. Schmitt-Vockenhausen Dr. Schmude
Schoettle Schollmeyer
Schonhofen
Schulte ({35})
Schwabe
Seefeld Seibert Seidel Frau Seppi
Simon
Dr. Slotta
Dr. Sperling
Spillecke
Staak ({36})
Frau Strobel
Strohmayr
Suck
Tallert
Dr. Tamblé
Frau Dr. Timm
Tönjes Urbaniak
Vit
Walkhoff
Dr. Weber ({37})
Wehner Welslau Wende Wendt Westphal
Dr. Wichert
Wiefel Wienand
Wilhelm
Wischnewski
Dr. de With
Wittmann ({38})
Wolf
Wolfram
Wrede Würtz Wüster Wuttke Wuwer Zander Zebisch
Berliner Abgeordnete
Dr. Arndt ({39}) Bartsch
Bühling
Präsident von Hassel
Dr. Dübber
Heyen
Frau Krappe
Löffler Mattick Dr. Schellenberg
Frau Schlei
Sieglerschmidt
FDP
Frau Dr. Diemer-Nicolaus Dorn
Ertl
Frau Funcke
Gallus Geldner
Genscher
Graaff Grüner Jung
Kirst
Kleinert
Krall
Frhr. von Kühlmann-Stumm Logemann
Mertes Mischnick
Moersch
Ollesch Opitz Peters ({40})
Schmidt ({41}) Spitzmüller
Wurbs
Berliner Abgeordnete Borm
Nein
CDU/CSU
Haase ({42}) Dr. Klepsch
Enthaltungen
CDU/CSU
Dr. Abelein
Adorno Dr. Aigner
Alber
von Alten-Nordheim
Dr. Althammer
Dr. Arnold
Dr. Artzinger
Dr. Bach
Baier Balkenhol
Dr. Becher ({43})
Dr. Becker ({44})
Becker ({45}) Berberich
Berding
Berger Bewerunge
Biechele
Biehle
Dr. Birrenbach
Dr. von Bismarck
Bittelmann Blumenfeld von Bockelberg
Dr. Böhme
Frau Brauksiepe
Breidbach Bremer
Bremm
Brück ({46}) Dr. Burgbacher
Dr. Czaja Damm
Dasch
van Delden Dichgans Dr. Dittrich
Dr. Dollinger
Draeger
von Eckardt Ehnes
Engelsberger
Dr. Erhard
Erhard ({47}) Ernesti
Erpenbeck Dr. Evers Dr. Eyrich von Fircks Franke ({48})
Dr. Franz Dr. Freiwald Dr. Frerichs Dr. Früh
Dr. Fuchs Dr. Furler Dr. Gatzen
Frau Geisendörfer Geisenhofer Gerlach ({49}) Gewandt
Gierenstein Dr. Giulini Dr. Gleissner
Glüsing ({50}) Dr. Gölter
Dr. Götz
Gottesleben Frau Griesinger
Dr. Gruhl
Freiherr von und zu Guttenberg
Dr. Häfele Härzschel Häussler
Dr. Hallstein Dr. Hammans
Hanz
von Hassel
Hauser ({51}) Dr. Hauser ({52})
Dr. Hellige Helms ({53})
Dr. Hermesdorf ({54}) Höcherl
Hösl
Horstmeier Horten
Dr. Hubrig Dr. Hupka Hussing
Dr. Huys
Frau Jacobi ({55})
Dr. Jahn ({56}) Dr. Jenninger
Dr. Jobst Josten
Dr. Jungmann
Frau Kalinke
Katzer
Dr. Kempfler
Kiechle Kiep
Dr. h. c. Kiesinger
Frau Klee
Dr. Klepsch
Dr. Kley
Dr. Kliesing ({57}) Klinker
Köster Krammig
Krampe Dr. Kraske
Dr. Kreile
Frau Dr. Kuchtner Lampersbach
Leicht Lemmrich
Lensing
Dr. Lenz ({58})
Lenze ({59})
Lenzer Link
Löher ({60})
Dr. Löhr Looft
Dr. Luda
Lücke ({61})
Lücker ({62}) Majonica
Dr. Martin
Dr. Marx ({63}) Maucher
Meister Memmel
Dr. Mende
Mick
Dr. Mikat
Dr. Miltner
Dr. Müller ({64}) Müller ({65}) Müller ({66})
Dr. Müller-Hermann Mursch ({67}) Niegel
Dr. von Nordenskjöld Orgaß
Ott
Petersen
Pfeifer Picard Pieroth Dr. Pinger
Pohlmann
Dr. Prassler
Dr. Preiß
Dr. Probst
Rainer Rawe Reddemann
Dr. Reinhard
Richarts
Riedel ({68})
Dr. Riedl ({69})
Dr. Rinsche
Dr. Ritgen
Dr. Ritz Rock
Röhner Rösing Rollmann
Rommerskirchen
Roser Ruf
Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
Schedl Schlee Schlichting-von Rönn
Dr. Schmid-Burgk
Dr. Schmidt ({70}) Schmitt ({71})
Dr. h. c. Schmücker Schneider ({72}) Dr. Schneider ({73}) Dr. Schober
Frau Schroeder ({74}) Dr. Schröder ({75}) Schröder ({76}) Schröder ({77}) Schulhoff
Schulte ({78}) Dr. Schulze-Vorberg
Dr. Schwörer
Seiters
Dr. Siemer
Solke Spilker Springorum
Dr. Sprung
Stahlberg
Dr. Stark ({79})
Dr. Starke ({80})
Stein ({81})
Steiner
Frau Stommel
Storm Strauß Struve Stücklen
Susset
von Thadden
Tobaben
Frau Tübler
Dr. Unland
Varelmann
Vehar Vogel Vogt
Volmer
Wagner ({82})
Dr. Wagner ({83})
Frau Dr. Walz
Dr. Warnke
Wawrzik
Weber ({84})
Weigl
Dr. Freiherr von Weizsäcker Wendelborn
Werner
Windelen
Winkelheide
Wissebach
Dr. Wittmann ({85})
Dr. Wörner
Frau Dr. Wolf
Baron von Wrangel
Dr. Wulff
Ziegler
Dr. Zimmermann
Zink
Zoglmann ({86})
Berliner Abgeordnete Amrehn
Frau Berger
Dr. Gradl
Dr. Kotowski
Kunz
Müller ({87})
Frau Pieser
Dr. Schulz ({88})
Dr. Seume ({89})
Wohlrabe
Präsident von Hassel
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({90}) zu dem Gesetz über die Beseitigung von Abfällen ({91})
- Drucksache VI/3417 -Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Schäfer ({92})
Ich danke den Berichterstattern.
Zur Ergänzung seines Berichtes hat der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte namens des Vermittlungsausschusses folgendes vortragen. Der Bundestag hat in seiner 175. Sitzung am 2. März 1972 das Gesetz über die Beseitigung von Abfällen beschlossen. Der Bundesrat hat in seiner 378. Sitzung am 24. März 1972 beschlossen, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Der Bundesrat beantragte in neun Punkten eine Änderung des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes. Der Vermittlungsausschuß hat sich in seiner Sitzung am 3. Mai 1972 mit dem Anrufungsbegehren des Bundesrates befaßt. Er legt den in der Drucksache VI/3417 enthaltenen Vorschlag vor.
Ich verweise auf diesen Vorschlag und mache gleichzeitig darauf aufmerksam, daß der Vermittlungsausschuß beschlossen hat, daß nach § 10 Abs. 3 Satz 1 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses über die Änderungen des Vermittlungsvorschlages gemeinsam abgestimmt werden soll.
Im einzelnen weise ich auf folgendes hin: Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, § 2, der die zu schützenden Güter im einzelnen aufzählt, zu ändern. Der Vorschlag des Bundesrates ist mit den Worten „daß . . . insbesondere die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht gestört wird" polizeirechtlich orientiert, während in der vom Bundestag beschlossenen Fassung die zu schützenden Güter im einzelnen aufgeführt werden, also nicht eine Orientierung an polizeirechtlichen Grundsätzen erfolgt. Der Vermittlungsausschuß hat sich der Grundauffassung des Bundestages angeschlossen.
Der Bundesrat hat den Vermittlungsausschuß in einer zweiten Position angerufen, nämlich bezüglich der Beseitigung der Autowracks. Der Bundesrat beantragt, die Autowracks zu Abfällen zu erklären. Der Bundestag hat von einer solchen Regelung Abstand genommen und den Ländern in § 5 lediglich die Möglichkeit gegeben, die Vorschriften über Abfallbeseitigungsanlagen auf ortsfeste Anlagen, die der Lagerung und Behandlung von Autowracks oder Altreifen dienen, anzuwenden. Der Bundestag geht davon aus, daß angestrebt werden soll, die Autowracks, die nicht nur Abfall sind, sondern auch Wirtschaftsgüter darstellen, in ,den wirtschaftlichen Produktionsprozeß wieder einzufügen. Er hat deshalb die Bundesregierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, auf die Entwicklung befriedigender Verfahren zur ordnungsgemäßen Beseitigung oder Wiederverwendung der Autowracks und der Altreifen hinzuwirken und bis zum 31. Dezember 1973 über idie bis dahin gewonnenen Erfahrungen zu berichten, insbesondere darüber, ob die Vorschriften des Abfallbeseitigungsgesetzes überhaupt ausreichen und, wenn dies nicht der Fall ist, Vorschläge für die zusätzliche gesetzliche Regelung vorzulegen. Im einzelnen darf ich auf die Positionen in der Drucksache VI/3417 verweisen.
Namens ides Vermittlungsausschusses bitte ich das Hohe Haus, dem Vermittlungsvorschlag zuzustimmen.
({0})
Präsident von Hassel: Ich danke dem Herrn Berichterstatter für seine Ergänzung.
Zur Abgabe einer Erklärung hat ,der Abgeordnete Dr. Gruhl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es sehr, daß mit der heutigen Abstimmung über den Vorschlag des Vermittlungsausschusses idas erste größere Umweltgesetz endgültig verabschiedet werden kann. Die Änderungsvorschläge deis Bundesrates betreffen keineswegs Punkte, die wir in den Ausschußberatungen und in der interfraktionellen Arbeitsgruppe nicht behandelt hätten. Wir haben die verschiedenen Möglichkeiten seinerzeit eingehend diskutiert. Die technischen Einzelheiten, um die es hier geht, können verschieden geregelt werden. Der Bundesrat war in einigen Punkten anderer Ansicht. Wir können uns dieser Auffassung anschließen.
In einigen Punkten jedoch, die dieses Hohe Haus für wesentlich hielt, ist es bei der ursprünglichen Fassung des hier beschlossenen Gesetzes geblieben. Das betrifft besonders den Punkt, daß wir die private Unternehmerinitiative auf diesem Gebiet nicht erschweren wollen. Das gilt auch für die Beseitigung der Autowracks. Auf diesem Gebiet müssen noch Erfahrungen gewonnen werden, die uns dann in den Stand setzen, hier erneut eine überlegte und gründliche Regelung zu treffen. Für wesentlich halten wir auch, daß die Beschreibung der zu schützenden Güter in diesem Gesetz weiter enthalten ist. Das Gesetz bezweckt eine Erhaltung von Natur und Landschaft und der Umwelt überhaupt im ökologischen Sinne. Es soll nicht nur polizeirechtliche Vorschriften im Sinne von Sicherheit und Ordnung beinhalten. Die CDU/CSU-Fraktion kann somit dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses mit Überzeugung zustimmen.
Es kommt nun darauf an, daß dieses Gesetz so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt wird. Die Bundesländer und die Bürger im Lande warten darauf. Wir hoffen, daß auch (die weiteren Umweltgesetze nach gemeinsamer Arbeit der drei Fraktionen dieses Hohen Hauses und des Bundesrates in Übereinstimmung zu einem guten Ende geführt werden.
({0})
Präsident von Hassel: Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Abgeordnete Müller ({1}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Koalitionsfraktionen darf ich folgende Erklärung abgeben.
Der Bundestag hat heute noch einmal Gelegenheit, sich mit dem Abfallbeseitigungsgesetz zu befassen und durch Annahme der Vorschläge des Vermittlungsausschusses die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß dieses Gesetz nach der einhelligen Zustimmung aller Fraktionen im Bundestag nunmehr auch im Bundesrat eine ähnlich große Mehrheit finden wird.
Es ist selbstverständlich, daß die Länder, die die Durchführung dieses wichtigen Umweltgesetzes gewährleisten müssen, auch ein besonderes Gewicht in der Beratung haben.
Nachdem das Ergebnis des Vermittlungsausschusses vorliegt, können wir feststellen, daß dort ein Beschluß gefaßt worden ist, der sowohl den Vorstellungen des Bundestages als auch den berechtigten Interessen und Anliegen der Länder gerecht wird.
Der betont sachlichen Atmosphäre des gemeinsamen Gremiums von Bundestag und Bundesrat ist es zu verdanken, daß die Zielvorstellungen beider Beteiligten verdeutlicht werden konnten.
Wichtig ist festzustellen, daß wir ein Gesetz bekommen werden, das sich nicht auf die bloße Gefahrenabwehr nach dem Polizeirecht beschränkt, sondern gestaltend und pflegend in die Umwelt eingreift, und daß wir mit der Autowrackbeseitigung zwar die Eigeninitiative der Wirtschaft anregen und in gewisse Bahnen lenken, sie aber noch nicht in ein enges Korsett gesetzlicher Bestimmungen zwingen wollen.
Der Gesetzgeber hat sich hier einen schon vorgezeichneten Weg offengehalten, um nach Erfahrungsberichten in diesem Bereich sofort mit neuen gesetzgeberischen Initiativen aktiv zu werden.
Die Länder haben mit ihren Anregungen erreicht, daß dieses Gesetz in einigen Punkten klarer gefaßt wurde und daß der Vollzug des Gesetzes sowie die Kontrolle verbessert werden konnten.
Ich darf seitens der Fraktionen der FDP und SPD die Zustimmung zu dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses erklären.
({0})
Präsident von Hassel: Weitere Wortmeldungen zur Abgabe von Erklärungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Vorschlag des Vermittlungsausschusses, und zwar stimmen wir, wie der Vermittlungsausschuß festgelegt hat, darüber geschlossen ab. Wer dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Einstimmig beschlossen.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Wagner ({1}) hat das Wort zur Geschäftsordnung begehrt. Der Herr Kollege Wagner hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nahezu zwei Wochen lang haben sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages darum bemüht, zu einer einheitlichen Auslegung des Moskauer und des Warschauer Vertrages zu gelangen. In schwierigen und, wie ich meine, langwierigen Verhandlungen ist es trotz Hektik und Zeitdruck gelungen, den Entwurf eines Entschließungsantrages zu formulieren, der die weitgehende Zustimmung aller Parteien dieses Hauses fand.
Gestern nachmittag hat die Sowjetunion zu zwei wesenlichen Punkten des gemeinsamen Resolutionsentwurfs Einwendungen erhoben. Die Antworten, die die Bundesregierung hierzu der Sowjetunion gegeben hat, sind uns nicht bekannt. Durch eine zusätzliche Erklärung des Bundesaußenministers zur Resolution ist weitere Verwirrung entstanden, die nun dringend der Klärung bedarf. Für diese Klärung, meine Damen und Herren, brauchen wir alle Zeit.
({0})
Wenn an dieser Stelle das Bemühen um Gemeinsamkeit nicht sinnlos werden soll, muß ausreichend Raum gegeben werden, die enstandene Lage zu prüfen und zu beraten.
({1})
Die Fraktion der CDU/CSU beantragt deshalb gemäß § 24 Abs. 2 der Geschäftsordnung, heute die zweite Beratung der Ratifizierungsgesetze zum Moskauer und zum Warschauer Vertrag nicht vorzunehmen und die Punkte 5 und 6 von der Tagesordnung abzusetzen. Im Interesse einer sachgerechten Entscheidung zu einer der wichtigsten Fragen deutscher Politik bitte ich alle Fraktionen dieses Hauses um ihre Zustimmung.
({2})
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wienand.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns, wie der Kollege Wagner richtig sagte, über 14 Tage hinweg redlich bemüht, mit Zeitaufschub und im Rahmen interfraktioneller Gespräche auch der Opposition die Zeit, die aus ihrer Sicht benötigt wurde, einzuräumen, um eine Klärung dieser Fragen herbeizuführen. Wir als Koalition haben von Anfang an klargemacht, sind bis zu dieser Stunde dabei geblieben und vertreten nach wie vor den Standpunkt, daß Termine gegeben sind, die auch von diesem Hohen Hause und von der Bundesregierung berücksichtigt werden wollen und müssen.
({0})
- Wollen und müssen.
({1})
Wir haben gestern eine Tagesordnung zustande gebracht, in deren Abwicklung wir heute eingetreten sind. Zu unserem Bedauern ist der Antrag gestellt
worden, nunmehr die beiden Punkte 5 und 6 abzusetzen. Wir bedauern, diesem Antrag nicht stattgeben zu können. Wenn die Berichterstatter zu den Verträgen das Wort genommen haben und die Regierung ihre Stellungnahme abgegeben hat, wird sichtbar sein, warum es auf diese Termine ankommt.
Wir bitten deshalb, diese Tagesordnungspunkte nicht von der Tagesordnung abzusetzen, sondern in die Beratung einzutreten. Ich bitte, den Antrag der Opposition abzulehnen.
({2})
Präsident von Hassel: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag zur Geschäftsordnung, die beiden Tagesordnungspunkte 5 und 6 von der Tagesordnung abzusetzen. Wer dem Antrag der CDU/CSU seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Meine Damen und Herren, wir müssen auszählen lassen. Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung über diesen Geschäftsordnungsantrag bekannt. Das Haus ist vollzählig. Es haben alle 518 Kollegen und Kolleginnen ihre Stimme abgegeben. Jeder weiß, daß bei diesem Punkt die Berliner voll stimmberechtigt sind. Mit Ja, also für die Absetzung, haben 259 gestimmt, mit Nein haben 259 gestimmt; keine Enthaltung. Bei Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt.
({3})
Wir treten also in die Beratung der Tagesordnungspunkte 5 und 6 ein:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
- Drucksache VI/3156 Schriftlicher Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({4})
- Drucksachen VI/3397, zu VI/3397 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Achenbach Abgeordneter Dr. Heck
({5})
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen
- Drucksache VI/3157 Schriftlicher Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({6})
- Drucksachen VI/3396, zu VI/3396 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Haack
Abgeordneter Dr. Bach
({7})
Wir sind uns darüber klar, daß wir die Aussprache zu beiden Punkten verbinden.
Wir verfahren wie folgt. Zunächst werden die Berichterstatter, für deren Schriftliche Berichte ich danke, die Berichte mündlich ergänzen, und zwar zunächst die Berichterstatter für den Vertrag mit der Sowjetunion unter Tagesordnungspunkt 5, alsdann die Berichterstatter für den Vertrag mit der Volksrepublik Polen unter Tagesordnungspunkt 6. In der Reihenfolge wird als erster, glaube ich, Herr Kollege Dr. Achenbach das Wort nehmen. Das Wort hat der Berichterstatter Dr. Achenbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Auswärtigen Ausschusses betreffend das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Drucksache VI/3397, liegt Ihnen vor. Der Auswärtige Ausschuß hat den Moskauer Vertrag nach allen Seiten durchleuchtet und ihn in insgesamt neun, meistens ganztägigen Sitzungen sehr gründlich beraten. Es liegt mir daran, allen Kollegen des Ausschusses, seien sie nun Mitglieder der Regierungskoalition oder der Opposition, für ihre wertvollen Diskussionsbeiträge sehr herzlich zu danken. Bei allen spürte man das Bewußtsein um die große Verantwortung, die jeder von uns trägt, wenn er sich zu einem Ja oder zu einem Nein zu dem Moskauer Vertrag entschließt.
Daß diese Entscheidung für das zukünftige Schicksal unseres Volkes von wesentlicher Bedeutung ist, das, meine Damen und Herren, war und ist, wie ich sicherlich sagen darf, die Überzeugung aller Ausschußkollegen. Von den 33 Mitgliedern des Ausschusses hat sich eine Mehrheit von 17 Stimmen, davon 15 SPD- und 2 FDP-Stimmen, zum Ja zu dem Vertrag entschieden. Die Minderheit, 16 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, hat geglaubt, dem Vertrag ihre Zustimmung nicht geben zu sollen.
Die beiden Berichterstatter - Dr. Heck, Mitglied der CDU/CSU-Opposition, und ich selbst als Vertreter der Regierungskoalition zwischen SPD und FDP - haben es als zweckmäßig angesehen, die Auffassung der Mehrheit ebenso wie die der Minderheit jeweils geschlossen darzustellen und nicht bei jeder Einzelfrage Argument und Gegenargument gegenüberzustellen. Ich glaube und hoffe, daß diese Methode für Sie alle übersichtlicher ist.
Als Berichterstatter für die Mehrheitsauffassung habe ich es für richtig gehalten, den Bericht so aufzubauen, daß ich Ihnen in einem ersten Teil den Inhalt und die von uns für richtig gehaltene Interpretation des Vertrages darlege und einem zweiten Teil die politische Wertung des Vertrages vorbehalte, wobei ich versuchen will, dem Vertrag sowohl seinen richtigen Platz in der historischen Entwicklung zu geben als auch die Bedeutung vorzutragen, die er als erste Etappe einer konstruktiven Entspannungs- und Friedenspolitik zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nach unserer Meinung besitzt.
Was den ersten Teil, die Interpretation, die nach unserer Überzeugung richtige Interpretation des
Vertrages angeht, auf die sich das Ja der Mehrheit zu dem Moskauer Vertrag gründet, so darf ich sie Ihnen nunmehr im einzelnen vortragen, wobei es vielleicht zweckmäßig sein könnte, daß sich die verehrten Kollegen den Text des Vertrages auf den Tisch legen.
Wie Sie wissen, hat dieser Vertrag eine Präambel. In dem ersten Satz der Präambel bekunden die Vertragspartner ihr Bestreben, zur Sicherung des Friedens in Europa beizutragen. Nun, dieses Bestreben wird sicher von allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses geteilt. Ich möchte gerade im Hinblick auf gewisse Erhitzungen der Diskussionen in den letzten Wochen doch einmal von dieser Stelle feststellen: es gibt in diesem Hohen Hause weder „kalte Krieger" noch „Verzichtspolitiker", sondern es gibt nur Abgeordnete, die sich nach bestem Wissen und Gewissen um das Vaterland bemühen.
({0})
Im zweiten Absatz geben die Vertragspartner ihrer Überzeugung Ausdruck, daß die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten auf der Grundlage der Ziele der Charta der Vereinten Nationen dem sehnlichen Wunsch der Völker und den allgemeinen Interessen des internationalen Friedens entspricht.
Wie Sie wissen, gehören zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen bekanntlich insbesondere die Grundsätze der Selbstbestimmung, der friedlichen Regelung von Streitfragen, der souveränen Gleichheit von Staaten und der Achtung der Menschenrechte. Entsprechend den beiden ersten Absätzen der Präambel bekräftigen die Vertragspartner im ersten Absatz des Art. 1 die Notwendigkeit, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung zu erreichen. Sie erklären, daß sie gerade dies als wichtiges Ziel ihrer Politik ansehen.
Die in den beiden ersten Absätzen der Präambel und im ersten Absatz des Art. 1 des Moskauer Vertrages niedergelegten Zielsetzungen entsprechen, wie Sie alle wissen, auch der Politik der früheren Bundesregierungen. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland hat stets den Frieden als ihr oberstes Ziel betrachtet. Alle Regierungen der Bundesrepublik haben stets die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen als auch für ihre Politik verbindlich angesehen.
In dem dritten Absatz der Präambel erinnern die Vertragspartner an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die durch den Briefwechsel zwischen dem damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin und dem damaligen Bundeskanzler Adenauer vom 13. September 1955 vereinbart und anschließend verwirklicht wurde. Die Vereinbarung vom 13. September 1955, die auf Grund des Art. 4 nach wie vor gültig ist und vom Moskauer Vertrag unberührt bleibt, sollte gerade - das war insbesondere der Wunsch der deutschen Verhandlungsdelegation - unter den anderen Zielsetzungen der Präambel und des Vertrages deshalb erwähnt und unterstrichen werden, weil in dem die Vereinbarung bildenden Austausch von Bleichlautenden Briefen zwischen dem damaligen Bundeskanzler Adenauer und dem damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin die Erwartung ausgesprochen wurde, daß die - und nun zitiere ich -„Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und damit auch zur Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes - der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates - verhelfen wird".
Der Abs. 4 der Präambel nun weist in die Zukunft und zeigt, daß der Vertrag vom 12. August nur ein Ausgangspunkt und eine Grundlage ist für weitere in vertraglicher Form zu treffende Vereinbarungen für die Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern auf allen Gebieten, wobei beispielhaft gerade auch die Verbesserung und Erweiterung der wirtschaftlichen Beziehungen sowie der wissenschaftlichen und kulturellen Verbindungen erwähnt werden.
Nach den vorstehenden Darlegungen ergibt sich, wie ich meine, zwingend die Schlußfolgerung, daß gegen die Präambel beim allerbesten Willen keinerlei Bedenken möglich sind.
Ich komme nunmehr zum Art. 1 des Vertrages. Das gleiche, was ich eben gesagt habe, gilt ja auch für den Abs. 1 des Art. 1 betreffend die Notwendigkeit, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung zu erreichen. Was den zweiten Absatz des Art. i angeht, in dem die Vertragspartner ihr Bestreben bekunden, die Normalisierung der Lage in Europa und die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten zu fördern, und weiter erklären, daß sie bei dieser Absicht von der in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage ausgehen, so ist nach den zwingenden Gesetzen der Logik klar, daß beide Vertragspartner die jetzt in Europa bestehende Lage nicht als normal ansehen, sondern als normalisierungsbedürftig. Dabei weiß der russische Vertragspartner unzweifelhaft, daß die deutsche Seite die deutsche Spaltung - als nicht von den Deutschen selbst herbeigeführt, sondern ihnen nach dem verlorenen Krieg von außen aufgezwungen - nicht als normal ansieht, die Wiedervereinigung der Deutschen in einem Staat auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes wünscht und herbeisehnt und der festen Überzeugung ist, daß eine auf friedliche Weise herbeigeführte deutsche Wiedervereinigung keine legitimen Interessen irgendeines anderen Volkes verletzt. Daß auch das Viermächteabkommen über Berlin, so wertvolle Fortschritte es bringt, noch nicht eine dauerhafte, normale, mit der elementaren Selbstachtung der Deutschen zu vereinbarende Lage geschaffen hat und daß auch hier in einem Friedensvertrag ein Normalisierungsbedürfnis befriedigt werden muß, ist dem russischen Vertragspartner ebenfalls bekannt. Unzweifelhaft hat der russische Vertragspartner - da dies nicht GegenDr. Achenbach
stand des Vertrages vom 12. August 1970 ist und auch nicht sein konnte - nicht verbindlich zugesagt, die von uns als legitim angesehenen Wünsche jetzt und heute zu erfüllen.
Die deutsche Hoffnung, daß sich auch die Sowjetunion eines Tages wie unsere westlichen Verbündeten in den Pariser Verträgen bereitfinden könnte, die 'deutsche Wiedervereinigung zu fördern und nicht zu verhindern, wird durch diesen Vertrag jedenfalls nicht erstickt oder beseitigt. Vielmehr ist dieser Vertrag, der statt der Atmosphäre des Mißtrauens eine Atmosphäre des Vertrauens zwischen den Vertragspartnern herbeiführen soll, die notwendige Voraussetzung dafür, daß die deutsche Hoffnung auf Wiedervereinigung in absehbarer Zeit - ich unterstreiche: in absehbarer Zeit -doch eine reale Chance zu ihrer Verwirklichung erhält.
Ich komme nunmehr zu Art. 2. In Art. 2 - das ist der Artikel des Gewaltverzichts - verpflichten sich die beiden Vertragspartner, ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen und sich in Fragen, die ,die Sicherheit in Europa und die internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen gemäß Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Der Verzicht auf Gewalt gilt ausnahmslos.
Die Sowjetunion kann sich auch nicht mehr auf die Art. 53 und 107 der Charta der Vereinten Nationen berufen. Dies ergibt sich sowohl aus den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen wie insbesondere aus Anlage 2 der Denkschrift der Bundesregierung zu dem Zustimmungsgesetz; dort wird im Einverständnis mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko seine folgende Äußerung in den Verhandlungen mit dem Bundesminister des Auswärtigen am 29. Juli 1970 abgedruckt:
Die zweite prinzipielle Frage, in der wir Ihnen entgegengekommen sind, ist der Gewaltverzicht unter Berücksichtigung der UNO-Satzung. Wir verstehen Ihr Interesse an dieser Frage. Die Geschichte kann man nicht widerrufen. Aus ihr folgte eine Bestimmung der UNO-Satzung. Wir haben uns trotzdem entschlossen, mit Ihnen einen Gewaltverzicht abzuschließen, d. h., die Verpflichtung zu übernehmen und sie zu ratifizieren. In dem von uns angenommenen Text steht das Wort „ausschließlich" ({1}). Wir haben keinerlei Ausnahmen vorgesehen. Das ist unsere Antwort auf Ihre innenpolitische Diskussion. Ich 'betone erneut das Wort „ausschließlich". Glauben Sie, daß das für uns nur ein Fetzen Papier ist? Das ist es nicht.
Nun, meine Damen und Herren, ,diese Äußerung ist eindeutig und läßt nach Treu und Glauben keinerlei Raum für irgendeine andere Auslegung.
({2})
Nun komme ich zu dem Art. 3, der Gegenstand vieler Diskussionen gewesen ist. Dieser Art. 3 ist durch seinen Einleitungssatz, um den in beiderseitiger, klarer Erkenntnis seiner Bedeutung in den Verhandlungen in Moskau hart gerungen wurde, eng mit Art. 2 verbunden. Durch die Worte „In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzipien" - die vorstehenden Ziele und Grundsätze: das ist eben der ausnahmslose Gewaltverzicht - wird der Art. 3 insgesamt zu einem Anwendungsfall des Gewaltverzichts des Art. 2. Wenn ich ohne Ausnahme auf Gewalt verzichte, so ist es ganz selbstverständlich, daß ich auch in bezug auf Grenzfragen auf Gewalt verzichte.
Nun hat der Herr Kollege Kliesing mit Recht darauf hingewiesen, daß man natürlich auch einfacher hätte formulieren können und daß diese Konkretisierung rein juristisch in bezug auf die Grenzfragen nicht erforderlich war, da ja, wie gesagt, der Gewaltverzicht des Art. 2 keine Ausnahmen zuläßt. Aber wenn man trotzdem hier über Grenzfragen spricht, so entsprang der Wunsch nach der konkreten Verdeutlichung des Gewaltverzichts eben dem Gedanken, daß nun einmal in der Vergangenheit Kriege nur allzu häufig einem Streit gerade um Grenzfragen und den territorialen Besitzstand entsprangen. Es sollte verdeutlicht werden, daß, da ja auch in Zukunft über die Frage der deutschen Grenzen zwischen den Siegermächten und Deutschland noch gesprochen werden muß, weil es noch keinen die Grenzfragen regelnden Friedensvertrag gibt, diese Frage unter allen Umständen nur mit friedlichen Mitteln gelöst werden soll und daß deshalb die Grenzen nicht mit Gewalt angetastet werden dürfen.
Satz 1 des Art. 3, in dem beide Parteien feststellen, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet, ist, wie die Denkschrift der Bundesregierung zu dem Zustimmungsgesetz mit Recht feststellt, allgemeiner Obersatz zu den nachfolgenden Unterabsätzen des Art. 3, in denen beiderseitige Verpflichtungen und Erklärungen formuliert werden.
Im Unterabsatz 1 verpflichten sich sowohl die Sowjetunion wie auch die Bundesrepublik, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in den heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten, d. h., der gegenwärtige tatsächliche Zustand der Grenzen in Europa darf in keinem Falle durch Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung verändert werden.
Wenn im zweiten Unterabsatz erklärt wird, daß sowohl die Sowjetunion wie die Bundesrepublik keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden, so ist das für die Bundesrepublik selbstverständlich. Die Regierung Kiesinger-Brandt hat das bereits früher ausgesprochen. Diese Feststellung hat aber nichts mit der Tatsache zu tun, daß die deutschen Grenzen erst in einem Friedensvertrag mit Deutschland, d. h. mit einem gesamtdeutschen Souverän festgelegt werden. Die Bundesrepublik will dann mit Sicherheit Bestandteil eines wiedervereinigten Deutschlands werden; für sich selbst hat sie keinerlei territorialen Wünsche.
Im dritten Unterabsatz des Art. 3 erklären die Bundesrepublik Deutschland und die UdSSR, daß sie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletztlich betrachten. Diese Feststellung schließt, wie die
mehrfach zitierte Denkschrift der Bundesregierung mit Recht ausführt, eine friedliche und einvernehmliche Berichtigung oder Änderung von Grenzen nicht aus. Art. 3 wendet sich insgesamt nur gegen gewaltsame Grenzänderungen, wie sich auch eindeutig aus den Äußerungen des sowjetischen Außenministers vom 29. Juli 1970 ergibt. Sie können das in der Anlage zu der Denkschrift der Bundesregierung nachlesen.
Die Bundesrepublik Deutschland - ich stelle das ganz klar fest - hat durch Art. 3 juristisch keine Grenzen anerkannt. Sie wäre dazu auf Grund des mit den drei Westmächten geschlossenen Deutschlandvertrages gemäß dessen Art. 2 und 7 juristisch auch gar nicht in der Lage gewesen. Wie im Laufe der Moskauer Verhandlungen auch mehrfach klar zum Ausdruck gebracht worden ist, berührt daher Art. 3 weder die Möglichkeit der Bundesrepublik, die Politik des europäischen Zusammenschlusses zur Schaffung eines vereinigten Europa mit ihren Partnern in der EWG fortzusetzen, noch die Möglichkeit, sich gegebenenfalls einvernehmlich friedlich mit der DDR zusammenzuschließen in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes das naturgemäß unverzichtbar ist.
Nun komme ich zu Art. 4. Dieser Artikel hat eine besondere Bedeutung. Dort wird ausdrücklich festgelegt, daß die früher geschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge nicht berührt werden. Das gilt insbesondere für den sogenannten Deutschland-Vertrag - ich beschränke mich darauf, nur auf diesen Vertrag hinzuweisen -, also insbesondere für die Art. 2 und 7. Meine Damen und Herren, ich darf sie Ihnen vielleicht noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen. In Art. 2 des Deutschland-Vertrages steht folgendes:
Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrags verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung.
Und in Art. 7 heißt es:
Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht bestritten werden, daß es sich eben auf Grund dieser rechtlichen Bestimmungen, die unseren Vertragspartnern immer wieder erläutert wurden, bei dem Moskauer Vertrag nicht um irgendeinen vorweggenommenen Friedensvertrag handelt, weil wir ja auch juristisch gar nicht in der Lage sind, über die
Grenzen des zukünftigen wiedervereinigten Deutschlands Verpflichtungen zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Entschuldigung; dieser Vortrag über einen Vertragstext ist natürlich etwas nüchtern. Aber er ist wichtig genug, daß man sich auch dieser Prozedur unterzieht.
Ich komme nunmehr zu der politischen Wertung des Vertrages, d. h. zu den politischen Überlegungen, die der Mehrheit des Ausschusses nach bestem Wissen und Gewissen die Überzeugung vermittelt haben, diesem Hohen Hause die Annahme des Zustimmungsgesetzes zu dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 empfehlen zu sollen.
Die Mehrheit des Ausschusses ist in der Tat, meine Damen und Herren, der festen Überzeugung, daß der Moskauer Vertrag den wohlverstandenen Interessen des deutschen Volkes dient, die Interessen unserer westlichen Verbündeten in keiner Weise beeinträchtigt, ja, die Verwirklichung der in dem Deutschland-Vertrag festgelegten gemeinsamen Ziele der Außenpolitik unserer westlichen Verbündeten wie der Außenpolitik der Bundesrepublik bei der Lösung der Deutschlandfrage überhaupt erst ermöglicht und in einer von Spannungen und sogar militärischen Auseinandersetzungen geschüttelten Welt den Frieden zumindest in Europa für die nächsten Jahre sicherer macht.
In der sich nach der Ratifizierung, wie wir aufrichtig hoffen, festigenden Atmosphäre des Vertrauens sollte in absehbarer Zeit eine den jetzigen Zustand überwindende, dauerhafte und gerechte Friedensregelung in Europa zu erreichen sein. 27 lange Jahre sind in diesen Tagen seit dem Zeitpunkt vergangen, an dem in Europa die Feindseligkeiten des zweiten Weltkriegs zu Ende gingen. Unser Land lag in Trümmern. Hunderttausende unserer Landsleute, darunter sicher auch viele Mitglieder dieses Hohen Hauses, waren in Kriegsgefangenschaft und wußten nicht, was die Zukunft bringen würde. Hunderttausende, ja, Millionen hatten an der Front oder bei den Bombenangriffen in der Heimat ihr Leben verloren. Das deutsche, das russische und das polnische Volk haben den größten Blutzoll zu tragen gehabt. Dementsprechend groß sind gerade auch in diesen Völkern die Sehnsucht nach einem wahren Frieden und der tiefempfundene Wunsch, solche Dinge möchten sich nicht wiederholen.
({3})
Mit unendlicher Mühe, mit viel Fleiß sind in den genannten Ländern die Trümmer des Krieges beseitigt, ist der Hunger gebannt und sind bei aller Unterschiedlichkeit des Niveaus Zustände geschaffen worden, die einen echten Fortschritt für die breiten Massen und auch größere soziale Gerechtigkeit mit sich gebracht haben, wenn auch gewiß noch vieles zu tun bleibt. Diese Erfolge sind in den genannten Ländern erreicht worden, obwohl ihre Gesellschaftsordnung und ihre Ideologien sehr verschieden sind. Vergessen wir doch trotz aller ideologischen Meinungsverschiedenheiten nicht die Realität, daß in Ost wie in West die breiten Schichten der Völker identische Grundziele haben. In West und Ost wollen die Menschen genug zu essen haben, eine orDr. Achenbach
dentliche Wohnung haben, ihren Kindern entsprechend ihrer Begabung eine gute Ausbildung geben können, um ihnen so für ihren Lebensweg die Chancengleichheit zu sichern. Schließlich und vor allem aber wollen die Menschen in Frieden leben.
({4})
Meine Damen und Herren, diese Ziele sind die Grundlagen des persönlichen Glücks jedes Menschen. Jeder einzelne hat, wie ich meine, das Naturrecht, nach diesem Glück zu streben. Sehr eindrucksvoll spricht die amerikanische Verfassung von dem Grundrecht, nach diesem Glück zu streben: the pursuit of happiness. Kein Staatsmann und Politiker sollte vergessen, daß das eigentliche Ziel der Politik darin besteht, die Menschen glücklich und zufrieden zu machen.
({5})
Meine Damen und Herren, warum ist es, obwohl 27 Jahre seit Kriegsende vergangen sind, bis heute nicht möglich gewesen, eine Friedensregelung in Europa zu finden, die kein Volk diskriminiert, die allen Völkern die Selbstbestimmung gewährt und bei niemandem den Stachel verletzten Rechtes zurückläßt? Der Grund für diesen Zustand liegt offensichtlich in der Tatsache, daß bald nach Beendigung der Feindseligkeiten des zweiten Weltkriegs - ohne daß das deutsche Volk angesichts seiner damaligen Machtlosigkeit hierauf wesentlichen Einfluß gehabt hätte - die Spannung zwischen Ost und West und das wechselseitige Mißtrauen zwischen den Blöcken so groß wurden, daß für die Völker - insbesondere
für das deutsche Volk -, die von der Trennungslinie zwischen Ost und West gespalten wurden, eine konstruktive und gerechte Lösung ihrer Probleme nicht zu verwirklichen war.
Meine Damen und Herren, seit dem Abschluß der Kuba-Krise, bei der die Staatsmänner der führenden Weltmächte USA und UdSSR erkannten, daß eine Konfrontation mit den heute beiden Weltmächten zur Verfügung stehenden Waffen eine Katastrophe für die gesamte Menschheit bedeuten würde, wird zwischen den USA und der Sowjetunion darüber verhandelt, wie die Spannungen zwischen Ost und West in vernünftiger Weise abzubauen sind, um gefährliche Zuspitzungen, wie sie während der Kuba-Krise entstanden, zu vermeiden.
Zu dem Abbau der Spannungen zwischen Ost und West muß auch das deutsche Volk seinen Beitrag leisten, denn auch die ungelöste deutsche Frage enthält potentiell ähnliche Gefahren, wie sie während der Kuba-Krise auftauchten. Das deutsche Volk kann - das kann doch niemand bestreiten - bei einer realistischen Betrachtung der Weltlage seine Probleme weder gegen die Interessen seiner westlichen Verbündeten - insbesondere der USA - noch gegen die Interessen der Sowjetunion lösen. Beide Seiten, West und Ost, müssen bereit sein, den legitimen Wünschen des deutschen Volkes, insbesondere dem Wunsch nach Wiedervereinigung, in der Erkenntnis Rechnung zu tragen, daß eine vernünftige Lösung der deutschen Frage weder die Interessen der Sowjetunion noch die der westlichen Verbündeten beeinträchtigt. Die Westmächte - ich erwähnte es ja schon, als ich die Artikel des Deutschland-Vertrages zitierte - haben der Bundesrepublik in Art. 7 des Deutschland-Vertrages zugesichert, daß ein wesentliches Ziel auch ihrer Außenpolitik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie haben darüber hinaus zugesichert, daß ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung - ähnlich wie die Bundesrepublik - besitzt und das in die Europäische Gemeinschaft integriert ist, ebenso das Ziel ihrer Außenpolitik ist, wie es das Ziel der Außenpolitik der Bundesregierung ist.
Die Westmächte haben dieses Ziel bis heute nicht erreichen können, weil infolge des kalten Krieges in West und Ost die Zustimmung der Sowjetunion dazu nicht zu erhalten war. Diese Zustimmung, um die jede Bundesregierung in der Zukunft mit Geduld und Beharrlichkeit die Sowjetunion immer wieder bitten muß, ist - das lehrt doch die Erfahrung - nur dann zu verwirklichen, wenn die Bemühungen der Weltmächte um Entspannung und Ausgleich Erfolg haben und wenn statt des totalen Mißtrauens zwischen Ost und West eine Vertrauensgrundlage zwischen Ost und West geschaffen werden kann, die allein geeignet ist, vernünftige vertragliche Regelungen zu ermöglichen.
({6})
Meine Damen und Herren, wer sein Mißtrauen nicht überwinden kann, wer nicht den Mut zum Vertrauen hat, kann keine Vertrauensgrundlage schaffen. So ist das nun einmal in der Welt.
({7})
- Ach Gott, gegen diese abstrakte Formulierung ist ja nichts einzuwenden, denn er hat eben auch gesagt, daß Vertrauen gut sei; intelligent war er ja. Ich meine, daß wir alle für demokratische Kontrolle sind, steht im Moment beim besten Willen nicht zur Debatte.
Offensichtlich haben die Staatsmänner der westlichen Welt diesen Mut, und auch die Sowjetunion scheint sich in richtiger Erkenntnis der Weltlage dazu entschlossen zu haben, denn sonst würden doch nicht in dieser gründlichen Form die SALT-Gespräche geführt. Auch wir müssen den Mut zum Vertrauen haben und können nicht in Mißtrauen verharren. Sonst geht die Weltpolitik ihren Gang ohne uns weiter, und unsere Probleme bleiben ungelöst.
Wenn der sowjetische Außenminister in den Verhandlungen in Moskau erklärt hat, die Sowjetunion wünsche eine Wende in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik, die zu freundschaftlichen Beziehungen führen solle, so wird dieser Wunsch vom deutschen Volk geteilt, ja, er muß von ihm geteilt werden, wenn es seine nationalen Interessen richtig versteht. Dies bedeutet nicht, daß die feste Freundschaft und Allianz zwischen der Bundesrepublik und
ihren westlichen Verbündeten in irgendeiner Form angetastet wird. Das Bündnis mit dem Westen ist und bleibt die Grundlage der Außenpolitik der Bundesrepublik.
Wenn nun der Wunsch zur Wende in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik seinen ersten konkreten Ausdruck in einem Vertrag gefunden hat, der in seiner juristischen Substanz nichts anderes enthält als die feierliche Verpflichtung der Vertragspartner, alle zwischen ihnen bestehenden Probleme ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu regeln, auf Gewalt und Androhung von Gewalt ausnahmslos zu verzichten, und darüber hinaus die Verpflichtung zu Bemühungen, die Beziehungen der Vertragspartner auf allen Gebieten zu verbessern, so kann und muß einem solchen Vertrag zugestimmt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung und der politischen Erfahrung jedenfalls Ihres Berichterstatters - und ich glaube, daß die Mehrheit hier auch diese Meinung in vollem Umfang teilt -,
({8})
daß die Ablehnung eines solchen Vertrages zumindest das Mißtrauen wieder neu entfacht, das seit dem Kriegsende die Lösung der deutschen Frage verhindert hat, und das entspricht nicht den Interessen des deutschen Volkes.
Selbstverständlich übersehen der Auswärtige Ausschuß und auch seine Mehrheit nicht, daß durch den Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 angesichts seines begrenzten Inhalts noch keines der uns bedrückenden Probleme - die deutsche Spaltung mit ihren tragischen Folgen, die Sorge um Berlin, eine vernünftige Regelung der deutschen Grenzen - sachlich befriedigend gelöst wird. Man wird auch annehmen dürfen, daß die heute in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion bestehenden langfristigen Zielsetzungen in wesentlichen Fragen noch nicht deckungsgleich sind. Man wird sich noch darum bemühen müssen. Man wird auch nicht verschweigen dürfen, daß die Größe der Meinungsverschiedenheiten, verbunden mit den zusätzlichen Schwierigkeiten, die sich aus den verschiedenen Gesellschaftsordnungen und Ideologien ergeben, eine endgültige, befriedigende Lösung gerade auch der deutschen Probleme nicht kurzfristig, von heute auf morgen, ermöglichen. Dies ist jedoch nur ein nicht unwesentliches Argument mehr dafür, daß man eine auf Schaffung von Vertrauen gerichtete Politik sobald wie möglich anpackt und sie nicht liegen läßt.
Schließlich hat doch das nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages aufkeimende Vertrauen wesentlich dazu beigetragen - auch nach dem Urteil unserer westlichen Verbündeten -, daß das Viermächteabkommen über Berlin unterzeichnet werden konnte und daß im Vorgriff auf sein Inkrafttreten zahlreiche Menschen in Ost und West die Möglichkeit zu einer Begegnung erhielten, ,die ihnen bisher verwehrt war. Es ist auch nicht zu verkennen, daß sich in der Haltung der Regierung der DDR eine Änderung anbahnt und daß Aussicht besteht, statt der gegenseitigen Abkapselung zu einem friedlichen Nebeneinander und mehr und mehr zu einem konstruktiven Miteinander zu kommen. Und das können wir doch nur alle wollen, meine Damen und Herren! All diese guten Ansätze dürfen nicht gefährdet werden.
Nicht zuletzt muß noch einmal unterstrichen werden, daß das für alle Bundesregierungen verbindliche Verfassungsgebot, mit friedlichen Mitteln die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands anzustreben, vom Moskauer Vertrag in keiner Weise beeinträchtigt wird, daß vielmehr durch ihn und seine voraussichtlichen Folgen die reale Chance der Verwirklichung dieses Verfassungsgebotes erhöht wird.
Dank der zähen Bemühungen der deutschen Verhandlungsdelegation ist mit dem Moskauer Vertrag das, was man „deutsche Option" nennt, eindeutig abgesichert worden. Ich darf das hier noch einmal im einzelnen darlegen.
In der Präambel wird 'das seinerzeitige Abkommen zwischen Herrn Adenauer und Herrn Bulganin erwähnt; den Grund habe ich Ihnen schon dargelegt. Selbstverständlich bleibt 'dieser Briefwechsel bestehen; auch er ist durch Idle Klausel des Art. 4 abgedeckt. Präambel und Art. 2 des Vertrages verweisen auf Grundsätze und Ziele der Charta der Vereinten Nationen, und hierzu gehört bekanntlich der Grundsatz der Selbstbestimmung. Auf diese Weise wird klar gestellt, daß der Grundsatz der Selbstbestimmung auch für die deutschsowjetischen Beziehungen gelten soll.
Nach Art. 4 des Moskauer Vertrages bleibt Art. 7 des Deutschland-Vertrages, den ich Ihnen vorgelesen habe, mit seiner Zielsetzung einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland unberührt. Nachdem die sowjetische Seite den Brief des Ministers des Auswärtigen an den sowjetischen Außenminister vom 12. August 1970 widerspruchslos entgegengenommen hat, kann von ihr ,eine Politik, die darauf 'gerichtet ist, einen Zustand des Friedens in Europa herbeizuführen, in dem das 'deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, nicht mehr als vertragswidrig bezeichnet werden.
Und schließlich hat der zum Vertrag gehörende Notenwechsel der Bundesregierung mit den drei Westmächten, der eine Erklärung des sowjetischen Außenministers einschließt, den ungeschmälerten Fortbestand der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Berlin und Deutschland als Ganzes klargestellt. Damit wird u. a. auch das Fehlen eines Friedensvertrages unterstrichen.
Die in den vorstehenden Punkten zum Ausdruck kommende „Offenhaltung der deutschen Frage", wie man zu sagen pflegt, 'beweist ebenso wie die Unterstellung des Art. 3 unter den Gewaltverzichtsgedanken des Art. 2 unwiderlegbar, daß es sich bei dem Moskauer Vertrag um einen der europäischen Sicherung des Friedens dienenden Modus vivendi handelt, nicht jedoch um einen vorweggenommenen Friedensvertrag, und daß der zukünftige Friedensvertrag in keiner Weise präjudiziert ist.
Die Behauptung, die man hier und da hört, der Vertrag lasse ein ausgewogenes Verhältnis von LeiDr. Achenbach
stung und Gegenleistung vermissen, ist abwegig. Beide Vertragspartner verpflichten sich zum Gewaltverzicht. Und daß der Gewaltverzicht einer so hochgerüsteten Weltmacht wie der Sowjetunion einen hohen Stellenwert besitzt, wird doch wohl kein vernünftiger Mensch bestreiten wollen. Die Bundesrepublik wird durch diesen Vertrag nicht diskriminiert. Beide Vertragspartner bekunden ihren guten Willen, ihre Beziehungen zu verbessern und dadurch dem Frieden zu dienen. Diese Bemühungen müssen mit viel Geduld und großer Beharrlichkeit fortgesetzt werden, wenn der Moskauer Vertrag die von beiden Seiten von ihm erwarteten Früchte tragen soll. Meine Damen und Herren, die Mehrheit dieses Hauses vertraut darauf,. daß die Hoffnungen des deutschen Volkes, die sich an diesen Vertrag knüpfen, nicht enttäuscht werden. Wir haben wie unsere westlichen Verbündeten den Mut zu diesem Vertrauen.
({9})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wie Sie alle wissen, ist den Menschen die Gabe der Vorausschau nur sehr beschränkt gegeben. Keiner von uns weiß genau, was die Zukunft bringt und wie sich die Verhältnisse in der Welt entwickeln werden. In einem sehr eindrucksvollen Diskussionsbeitrag hat der verehrte Kollege von Eckardt im Auswärtigen Ausschuß nachdrücklich gerade auf diese Tatsache hingewiesen und unterstrichen, daß bei großen politischen Entscheidungen die Methode der Kommaspaltung und die Überbewertung von Einzelheiten nicht am Platz ist.
Wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen, müssen wir uns allerdings ganz nüchtern gewisser Gegebenheiten, die nun einmal da sind und die wir nicht ändern können, immer bewußt sein. Zu diesen Gegebenheiten gehört die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland im Weltmaßstab ein räumlich kleines Land ist und daß die 60 Millionen Deutschen in der Bundesrepublik, so tüchtig sie auch sein mögen, die Welt bei einer Bevölkerungszahl von um die 3 Milliarden allein nicht bewegen oder entscheidend gestalten können. An der Nahtstelle der großen Blöcke zwischen Ost und West gelegen, kann - ich wiederhole es - das deutsche Volk sein vornehmstes Anliegen, nämlich seine Wiedervereinigung zu erreichen, weder gegen den Willen seiner westlichen Verbündeten - unter ihnen insbesondere die Weltmacht USA - noch gegen den Willen der Weltmacht Sowjetunion und deren Verbündeten, unserer östlichen Nachbarn, erreichen. Es muß beide Seiten davon überzeugen, daß eine Wiedervereinigung die Interessen der Weltmächte und seiner Nachbarn nicht verletzt.
Lassen Sie es mich noch einmal betonen: Dies kann nicht gelingen, solange zwischen den Blöcken der Zustand des kalten Krieges und des totalen Mißtrauens herrscht. In einem solchen Zustand wird eben auf Grund dieses blinden Mißtrauens jedwede Veränderung der bestehenden Lage von der einen Seite als eine Verbesserung der Lage der anderen, von der anderen als eine Verbesserung der Lage der einen Seite angesehen. Spannung und kalter Krieg führen unausweichlich zur Zementierung des Status quo und haben in der hinter uns liegenden Zeit dazu geführt. Eine friedliche Veränderung des für uns ungerechten Status quo und eine gerechte Lösung der deutschen Frage sind nur möglich, wenn zwischen den Weltmächten Entspannung erreicht wird, Vertrauen entsteht und wohlverstandene gemeinsame Interessen sie für eine gemeinsame Politik, der auch wir uns anschließen können, verbinden.
Diese gemeinsamen Interessen, die zu einer gemeinsamen Politik der führenden Mächte in West und Ost führen sollten, bestehen effektiv, und die Erkenntnis, daß dem so ist, wird in Ost und West immer stärker. Wenn die Welt einigermaßen in Ordnung gehalten werden soll,
({10})
wenn der Menschheit der Friede in den kommenden Jahrzehnten erhalten werden soll, werden nach meiner festen Überzeugung die großen Industriemächte der nördlichen Erdhalbkugel ihrer Verantwortung nur gerecht - und nur so sichern sie auf die Dauer ihre Überlebenschance und den Frieden ihrer Völker -, wenn sie sich von den USA über Europa, die Sowjetunion und Japan zusammenfinden und durch eine gemeinsame, konstruktive Politik den riesigen Menschenmassen der Dritten Welt, im Vergleich zu welchen die gesamte Bevölkerung der genannten Staaten nur einen Bruchteil darstellt, helfen, aus ihrer Not und aus ihrem Elend herauszukommen, und durch die Schaffung gerechterer Lebensbedingungen zukünftige Explosionen verhindern.
Meine Damen und Herren, nach der ersten Nachkriegsepoche der großen antideutschen Koalition - Sie wissen doch, aus Gründen, die Sie kennen, waren damals Ost und West gegen uns -, nach der zweiten Nachkriegsepoche der Spannung, des kalten Krieges zwischen Ost und West, leben wir jetzt - ich glaube das sagen zu können - auf Grund der Erfahrungen und Erkenntnisse der Kuba-Krise und, wie ich eben sagte, der unbestreitbar vorhandenen gemeinsamen Interessen der großen Industriemächte in einer dritten Nachkriegsepoche, nämlich der der möglichen Lösungen. Tun wir alles dafür und gemeinsam alles dafür, daß diese Lösungen in einer für alle gerechten Weise gefunden werden, und sorgen wir gemeinsam in Ost und West dafür, daß wir nicht in eine vierte Nachkriegsepoche geraten, wo das gegenseitige Mißtrauen wieder aufflammt und die Verblendung so groß wird, daß vernünftige Lösungen nicht mehr gefunden werden können und uns allen eine neue Weltkatastrophe droht! Sorgen insbesondere wir Deutschen, meine Damen und Herren, gemeinsam dafür, daß nirgends in der Welt der Eindruck entstehen kann, wir Deutsche könnten in unserer Politik der Vernunft und des Friedens schwankend werden!
Die Welt muß davon überzeugt sein und sein können, daß unsere Außenpolitik drei Eigenschaften hat, die im übrigen auch für jeden einzelnen Menschen den Schlüssel zum Erfolg darstellen: Unsere Friedenspolitik muß redlich, zuverlässig und beharrlich sein. Diese Eigenschaften, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister und Sie alle,
meine Kollegen, und nur diese Eigenschaften, verbunden mit dem Willen, für unser Volk nicht mehr zu verlangen - allerdings auch nicht weniger -, als was wir auch allen anderen Völkern zu geben bereit sind, werden unserem Volk die Zukunft sichern.
Meine Damen und Herren, in diesem Geist und in dieser Gesinnung fordere ich mit der Mehrheit des Auswärtigen Ausschusses die Mitglieder dieses Hohen Hauses auf: Sagen Sie ja zu dem Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken!
({11})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Das Wort als Berichterstatter hat der Abgeordnete Dr. Heck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich bei meinem Mündlichen Bericht darauf beschränken, deutlich und sichtbar zu machen, warum sich die Minderheit im Ausschuß außerstande gesehen hat, diesen Verträgen zuzustimmen.
Ich kann dem berichterstattenden Kollegen Achenbach bestätigen, daß die Verträge im Auswärtigen Ausschuß sehr sorgfältig diskutiert worden sind, allerdings auch sehr engagiert, und es ist auch hart diskutiert worden. Ich glaube aber, daß trotzdem die Diskussion im Rahmen des kollegialen Respekts geblieben ist. Die Härte und das Engagement sind, wie ich glaube, von der Bedeutung her zu verstehen und gerechtfertigt, ja, sie waren von der Bedeutung dessen her zu erwarten, was hier zu entscheiden ist.
Mehrheit und Minderheit gingen bei den Beratungen von den allgemeinen Grundsätzen unserer Außenpolitik aus, die unverrückbar im Grundgesetz verankert sind, daß sie nämlich dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen muß, daß weder Drohung noch Anwendung von Gewalt Mittel der Politik sein können und daß die friedliche Zusammenarbeit mit allen Staaten auf der Grundlage der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zu gestalten ist.
Die Aussprache mit den Vertretern der Regierung und mit den Kollegen der Regierungsparteien hat immer wieder gezeigt, daß der Moskauer Vertrag von der Bundesregierung als ein bis zum Äußersten gehender Beitrag angestrebt worden ist, diese Grundsätze auf die konkrete Situation in Europa hin zum Tragen zu bringen. Die Aussprache im Auswärtigen Ausschuß hat aber ebenso ergeben, daß dies derzeit, konkret auf Deutschland bezogen, fast nur möglich ist, wenn man die ungelöste deutsche Frage ausklammert, und - so hat es vor allem die Minderheit gesehen - daß damit die Gefahr verbunden ist, daß auf diese Weise die deutsche Teilung gegen den Willen der Bevölkerung festgeschrieben wird. Deswegen haben wir uns bei der Prüfung und bei der Wertung des Moskauer Vertrages, auf Deutschland bezogen, von einigen weiteren grundsätzlichen Überlegungen leiten lassen, von denen wir glaubten, daß sie auch weiterhin Geltung für alle Parteien in diesem Hause haben sollten. Der Berichterstatter der Regierungsparteien, der verehrte Kollege Dr. Achenbach, hat sich ausgesprochen anerkennend zu diesen Grundsätzen geäußert. Ich halte es deswegen für angemessen, diese Grundsätze auch dem Hohen Hause zur Kenntnis zu bringen:
Erstens. Die friedliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den europäischen Völkern bleibt so lange schweren Belastungen unterworfen, als dem deutschen Volk der Friedensschluß nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Friedensvertrag verweigert wird. Deswegen bleibt es das Ziel der Bundesrepublik Deutschland, die anomalen Verhältnisse, die der Zweite Weltkrieg, Deutschland betreffend, hinterlassen hat und die in der Nachkriegszeit geschaffen wurden, durch einen Friedensvertrag zu überwinden. Der vorliegende Vertrag darf nicht Ausdruck eines Verzichts auf einen Friedensvertrag sein,
({0})
auch kein Ersatz-Friedensvertrag und keine Übergangsregelung, die später durch einen Friedensvertrag bestätigt werden könnte. Er kann deswegen auch nicht irgendeine Vorbereitung eines Friedensvertrags sein und in keinem Punkt und in keiner Weise irgendeine Präjudizierung eines Friedensvertrags enthalten.
({1}).
Zweitens. Eine Normalisierung der Verhältnisse in Europa, soweit es Deutschland betrifft, ist nicht möglich, ohne daß in den Prozeß der Normalisierung der Verhältnisse in Europa die Verwirklichung des Rechts des deutschen Volkes mit einbezogen wird, selbst frei darüber zu bestimmen, in welcher staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung es leben will.
({2})
Drittens. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine Normalisierung unserer Beziehungen zur Sowjetunion und zu allen ost- und südosteuropäischen Staaten anzustreben, die alle Möglichkeiten einer friedlichen Zusammenarbeit umfaßt. Die besonderen Verhältnisse zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gebieten es, einen vertraglich gesicherten Modus vivendi zu vereinbaren, der diesen Grundsätzen entspricht und die gegebenen besonderen Verhältnisse berücksichtigt.
Die Aussprache im Auswärtigen Ausschuß selbst kreiste immer wieder um die eine zentrale Frage: Handelt es sich bei dem Moskauer Vertrag in erster Linie um einen Gewaltverzicht oder um die von der Sowjetunion seit Jahr und Tag eingeforderte Hinnahme, die völkerrechtliche Legalisierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsentwicklung, um die sogenannte Anerkennung der sogenannten Realitäten?
Zur Klärung dieser Frage trägt das Begriffspaar abstrakter und konkreter Gewaltverzicht nichts bei.
Diese Unterscheidung ist eher geeignet, den Sachverhalt zu verschleiern.
({3})
Wir, die Minderheit im Ausschuß, haben sorgfältig geprüft, was die Sowjetunion unter konkretem Gewaltverzicht versteht.
Aus den Memoranden und Aides-mémoires, die die Sowjetunion in Sachen Gewaltverzicht der Bundesregierung zwischen 1967 und 1969 zugestellt hat, und aus den Aussagen des sowjetischen Außenministers vor dem Obersten Sowjet ergibt sich folgendes. Der Austausch von Gewaltverzichterklärungen hat für die Sowjetunion nur dann einen Sinn, wenn die auf dem europäischen Kontinent bestehende territoriale Lage anerkannt ist und künftighin nicht mehr in Frage gestellt wird. Die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sei faktisch die einzige Grenze in Europa, an der unmittelbar die Gefahr der Anwendung von Gewalt entstehen könne. Eine Politik, die auf die Änderung der gegenwärtigen Grenzen, d. h. auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsentwicklung gerichtet sei, komme der Vorbereitung zur Entfesselung eines neuen Krieges gleich.
Die Bundesregierung würde, so hat die Sowjetunion uns mitgeteilt, einen groben und gefährlichen Fehler machen, wenn sie immer noch auf eine Veränderung des Standpunktes der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder in der Frage der europäischen Grenzen hoffte. Die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs seien unveränderlich und die Frage der Grenzen in Europa endgültig und unwiderruflich entschieden. Es gebe weder direkte Wege noch Umwege zur Revision der in Europa entstandenen Grenzen. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland stelle sich nach wie vor außenpolitische Aufgaben - das galt für die Politik der Großen Koalition , deren Lösung die Gewaltandrohung oder die Gewaltanwendung voraussetze. Wenn sie bereit sei, im Interesse der Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa Gewaltverzichtserklärungen auszutauschen, so müsse sie die in Europa bestehenden Grenzen anerkennen und die notwendigen Schlußfolgerungen aus der Tatsache der Existenz zweier unabhängiger deutscher Staaten ziehen. Der Austausch von Gewaltverzichtserklärungen müsse einen konkreten Inhalt haben, der dem Geist der Zeit entspreche.
Meine Damen und Herren, konkreter Gewaltverzicht heißt in sowjetischer Sicht, auf diesen Vertrag bezogen, nicht in erster Linie, auf Gewaltanwendung und auf Gewaltandrohung zu verzichten. Das wäre, wie der sowjetische Außenminister Gromyko vor der außenpolitischen Kommission des Obersten Sowjet erklärt hat, für die Sowjetunion einfach sinnlos. Konkreter Gewaltverzicht heißt, auf diesen Vertrag bezogen, für die Sowjetunion in erster Linie, daß wir auf eine Politik verzichten, die die innerdeutsche Grenze in Frage stellt, die darauf abzielt, diese Grenze zu überwinden. Das und nichts anderes ist gemeint, wo es in dem Vertrag heißt, daß der Frieden in
Europa nur erhalten werden könne, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antaste.
Danach ergibt sich ein klares Bild über die drei ersten Artikel des Vertrages, wie sie von der Sowjetunion aus gesehen werden. Der Art. 2, in dem die Bundesregierung das Kernstück des Vertrages sieht, enthält den abstrakten Gewaltverzicht, der für sich genommen für die Sowjetunion offensichtlich - und ich sage: verständlicherweise - ohne jegliches Interesse ist. Der Art. 1 entspricht dem einen Grundsatz, den die Sowjetunion uns in ihrem Memorandum vom 12. Oktober 1967 mitgeteilt hat. Er gilt der friedlichen Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Staaten. Der Art. 3 entspricht dem anderen sowjetischen Grundsatz, der aus dem abstrakten Gewaltverzicht des Art. 2 erst einen konkreten Gewaltverzicht macht. Die beiden Art. 1 und 3 sind eng miteinander verknüpft. Das bestätigt die Interpretation, die der sowjetische Außenminister Gromyko auf die Anfrage des Abgeordneten Arbusow gegeben hat. Er sagte:
Die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Ländern
- das ist der Art. 1 ist nur auf der Grundlage der Anerkennung und Respektierung der europäischen Realitäten durch die Bundesrepublik möglich.
Das ist der Art. 3.
Die Bundesregierung hat offensichtlich die Gefahren gesehen, die dieser Vertrag angesichts der Tatsache enthält, daß die Sowjetunion Deutschland betreffend andere Ziele verfolgt als die Bundesregierung, daß die Sowjetunion von anderen Rechtsauffassungen ausgeht. Sie hat deswegen versucht - und sie glaubt, daß ihr das auch gelungen sei -, diese Auslegung des Vertrages einzuschränken und sich den entsprechenden Konsequenzen zu entziehen, und zwar durch den Brief, den Außenminister Scheel an den sowjetischen Außenminister Gromyko geschrieben hat. Dieser Brief steht im Kontext zum Vertrag und gestattet der Bundesrepublik, die im Brief enthaltene Interpretation des Vertrags. Aber wie interpretiert nun dieser Brief den Vertrag? Es heißt, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland stehe, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt".
Die Regierung ist der Auffassung, daß dieser Brief auch eindeutig die Verpflichtung interpretiere, die mit diesem Vertrag in Art. 1 übernommen wird, nämlich die Normalisierung der Lage in Europa zu fördern, eine Verpflichtung, die im einzelnen kaum zu konkretisieren ist, da die vertragschließenden Parteien in wesentlichen Fragen keine gemeinsame Vorstellungen von dem haben, was als normale Lage in Europa angestrebt werden soll.
Die Minderheit im Ausschuß ist der Auffassung, der der Hinweis auf den Brief die Unklarheit der Vertragspflicht, die der Art. 1 den Vertragsparteien auferlegt, lediglich verschiebt, da zwischen den Ver10882
tragsparteien ebensowenig eine Übereinstimmung darüber besteht, was unter einem Zustand des Friedens in Europa zu verstehen ist, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen soll. Deswegen wird die Befürchtung, daß so allgemeine Formeln wie „Entspannung" und „Normalisierung der Lage in Europa" im Art. 1 des Vertrages künftighin bei der Verwirklichung des Vertrages erhebliche Meinungsverschiedenheiten auslösen müssen, durch den Hinweis auf den Brief des deutschen Außenministers an den sowjetischen Außenminister nicht beseitigt, sondern eher verstärkt.
Insgesamt ergab sich aus den Beratungen im Auswärtigen Ausschuß für die Minderheit folgende Wertung des Moskauer Vertrages:
Die Sowjetunion versteht und interpretiert diesen Vertrag offensichtlich von ihrer anderen Zielsetzung und von ihrer anderen Rechtsauffassung her anders als die Bundesregierung.
({4})
Für die Sowjetunion ist dieser Vertrag der Erfolg ihrer konsequent durchgeführten Deutschlandpolitik und entspricht den gemeinsamen Zielsetzungen der Warschauer Paktmächte. Danach bewirkt der Vertrag eine völkerrechtliche Legalisierung des Status quo der sogenannten in Europa bestehenden wirklichen Lage. Er legt der Bundesrepublik Deutschland die völkerrechtlich verbindliche Pflicht auf, die bestehende wirkliche Lage als Grundlage für eine Politik anzuerkennen, deren Ziel es ist, auf dieser Grundlage die Normalisierung der Lage in Europa anzustreben. Der Vertrag schafft dafür die völkerrechtlich anerkannte territoriale Grundlage, ohne daß damit gleichzeitig völkerrechtlich die deutschen Grenzen im Sinne eines Friedensvertrages sozusagen im Vorgriff geregelt würden. Damit bleibt zwar die deutsche Frage völkerrechtlich in bezug auf einen Friedensvertrag formal offen; sie wird jedoch in der Sache ebenso völkerrechtlich verbindlich auf eine Normalisierung der Lage in Europa, auf den Status quo hin zementiert.
Angesichts der Tatsache, daß nicht ersichtlich ist, daß die Sowjetunion die Ziele ihrer Deutschlandpolitik geändert hätte - Ziele, wie sie im Potsdamer Abkommen und in der sowjetischen Politik seit 1945 ihren Ausdruck gefunden haben -, und angesichts der Tatsache, daß die Bundesregierung nach wie vor das entgegengesetzte Ziel verfolgt, nämlich die staatliche Einheit des deutschen Volkes in freier Selbstbestimmung herbeizuführen, sieht die Minderheit in diesem Vertrag mehr eine Bestätigung der sowjetischen Deutschlandpolitik und der völkerrechtlichen Zementierung der Erfolge dieser Politik als eine Basis für eine Normalisierung der Verhältnisse in Europa.
({5})
Die Minderheit ist deswegen zu der Überzeugung gekommen, daß dieser Vertrag künftighin eher Anlaß für neue Spannungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR geben würde und daß die Verantwortung der Bundesrepublik
Deutschland für die Sicherheit und die Interessen des ganzen deutschen Volkes ohne diesen Vertrag besser wahrgenommen werden kann.
({6})
Ich danke dem Herren Berichterstatter. Das Haus hat jetzt die beiden Berichte zu Punkt 5 der Tagesordnung entgegengenommen.
Wir kommen nun zu den Berichten zu Punkt 6 der Tagesordnung. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Haack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Ihnen vorliegenden Schriftlichen Bericht des Auswärtigen Ausschusses über den Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen möchte ich im Namen der Mehrheit des Auswärtigen Ausschusses mündlich ergänzen.
Die Beratungen im Auswärtigen Ausschuß über den Vertrag zwischen der Bunderepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen standen im größeren Zusammenhang mit den Beratungen über den Moskauer Vertrag. Der Auswärtige Ausschuß ging davon aus, daß beide Verträge Teile eines Gesamtkonzeptes sind, das die Normalisierung unserer Beziehungen zu Osteuropa erreichen und einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland für die notwendige Entspannung in Europa leisten will. Dabei verkannte der Auswärtige Ausschuß nicht, daß dem Warschauer Vertrag eine besondere politisch-moralische Bedeutung für die Aussöhnung zweier Nachbarvölker zukommt, deren Beziehungen durch die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft - über die historischen Hypotheken der letzten Jahrhunderte hinaus - besonders belastet waren.
({0})
Die in dem schriftlichen Minderheitsbericht angesprochenen Probleme Gewaltverzicht, Friedensvertragsvorbehalt, Selbstbestimmung, Zeitpunkt der Verhandlungen und Fragen der Individualrechte spielten selbstverständlich in den Beratungen des Ausschusses eine zentrale Rolle. Dabei zeigten sich die unterschiedlichen Auffassungen zwischen der Regierungskoalition und der Opposition. Zum Gewaltverzicht als solchem, wie er in Art. II des Vertrages verankert ist, gab es selbstverständlich keine unterschiedlichen Auffassungen. Der Gewaltverzicht bestimmt die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen, seit 1949. Entscheidend ist aber, daß ein reiner Gewaltverzichtsvertrag keine Voraussetzung für eine Normalisierung unserer Beziehungen zur Volksrepublik Polen sein kann. Ohne eine klare, unmißverständliche und glaubwürdige Aussage und Feststellung der Bundesrepublik Deutschland zur Oder-Neiße-Grenze war und ist ein Vertrag mit Polen nicht erreichbar.
({1})
Dabei muß die Entwicklung der letzten 25 Jahre berücksichtigt werden. In dieser Zeit sind die früheren deutschen Ostgebiete in das polnische Staatswesen völlig integriert worden. Die Frage der Westgrenze ist für den polnischen Staat eine Existenzfrage. Diese Grenze wird vom östlichen Bündnissystem garantiert. Diese Grenze wird von allen Staaten der Welt als endgültig angesehen. Nur wenn die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland diesen Sachverhalt zur Kenntnis nimmt, ist ein deutsch-polnischer Ausgleich möglich.
Deshalb ist selbstverständlich der deutsch-polnische Vertrag mehr als ein Gewaltverzichtsvertrag. Durch 'die klare Grenzfeststellung der Bundesrepublik in Art. I des Vertrages wird der Weg frei gemacht für eine 'dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen und für eine Aussöhnung der beiden Nachbarvölker, der der gleiche historische Rang zukommen wird wie der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich in den fünfziger Jahren.
({2})
Die Grenzfeststellung in Art. I ist die logische Konsequenz aus der lange in der Bundesrepublik - jedenfalls in der Mehrheit 'der Bevölkerung - bestehenden Auffassung, wie sie schon in der Regierungserklärung der Großen Koalition vom 13. September 1966 zum Ausdruck kam. Dort hieß es:
In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und 'dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begreifen.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn Worte noch einen Sinn haben sollen, wenn Politik nicht zur unverbindlichen Formulierungskunst degradiert werden soll, wenn wir in der Bundesrepublik glaubwürdig sein wollen, dann kann dieser Satz in der Regierungserklärung ides früheren Bundeskanzlers Kiesinger nur bedeuten, daß wir zwischen der Grenze an der Oder-Neiße und den übrigen Problemen unseres geteilten Volkes unterscheiden.
({4})
Hier liegt das zentrale Problem unserer gegenwärtigen ost- und deutschlandpolitischen Diskussion, wie sie auch im Auswärtigen Ausschuß bei der Beratung der beiden uns vorliegenden Verträge geführt worden ist.
Für den Ausschuß - jedenfalls für die Mehrheit des Ausschusses - sind die Sicherung der engen Bindung Westberlins an die Bundesrepublik, die Überwindung der Gräben zwischen den beiden Staaten in Deutschland und damit die Wahrung der Einheit der Nation sowie die Aufrechterhaltung des unverzichtbaren Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk die entscheidenden Orientierungspunkte für die Ostpolitik, soweit es um die unmittelbare Lage in Deutschland geht. Solange diese Zielsetzungen nicht von jedem Ballast befreit sind, solange der Begriff des Offenhaltens der deutschen Frage nicht auf diese Orientierungspunkte beschränkt wird, so lange ist nicht nur der Weg zu einer Verständigung mit Osteuropa verbaut, sondern auch jede Verbesserung der Lage im geteilten Deutschland unmöglich.
,({5})
Entgegen der Meinung der Minderheit des Ausschusses, wie sie auch im Schriftlichen Bericht zum Ausdruck kommt, muß durch den deutsch-polnischen Vertrag gerade nicht befürchtet werden, daß die deutsche Frage in der Substanz berührt ist. Im Gegenteil: wenn überhaupt einmal über Selbstbestimmungsrecht der Deutschen gesprochen werden soll, wenn vorher die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR normalisiert werden sollen, dann nur bei einer Grenzgarantie der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen.
({6})
Die Grenzfeststellung und die Grenzgarantie in Art. I des Vertrages im Zusammenhang mit den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens und dem Deutschland-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten, auf den in Art. IV des Vertrages verwiesen wird, war ein Schwerpunkt in den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses. Der Auswärtige Ausschuß stimmt der Bundesregierung zu, daß auch der Warschauer Vertrag keinen Friedensvertrag ersetzen kann oder vorwegnimmt. Die Bundesrepublik Deutschland kann nur für sich sprechen. Sie verpflichtet sich, vom Tage des Wirksamwerdens dieses Vertrages an die früheren deutschen Ostgebiete als polnische Staatsgebiete zu betrachten.
Der Friedensvertragsvorbehalt für Deutschland als Ganzes ist aber dennoch für die deutsche Politik eine wesentliche Position. Denn hier geht es um die Rechte und Verpflichtungen der vier Siegermächte für Deutschland als Ganzes. Der Friedensvertragsvorbehalt für Deutschland als Ganzes und die endgültige Grenzfeststellung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen sind daher keine Widersprüche, sondern - im Gegenteil - die beiden Voraussetzungen für eine befriedigende Regelung des deutschen Problems im Rahmen eines europäischen Entspannungsprozesses.
({7})
Die Grenzfeststellung gegenüber Polen macht unsere uneingeschränkte Entspannungs- und Verständigungsbereitschaft gegenüber Osteuropa deutlich - ohne Hintertüren und ohne Ausflüchte. Die Aufrechterhaltung des Friedensvertragsvorbehalts besagt, daß über die Teilung Deutschlands in der jetzigen Form nicht endgültig entschieden ist, sondern unser Beitrag zur Entspannung in Europa dazu führen soll, daß die Voraussetzungen für eine Verständigung der beiden getrennten Teile Deutschlands in einer europäischen Friedensregelung geschaffen werden.
({8})
Die deutsche Frage, die in Wirklichkeit eine Frage des Zusammenlebens der Deutschen ohne Einengung auf eine bestimmte staatsrechtliche Form ist, wird durch diesen Vertrag endgültig vom Odium angeblich angestrebter Gebiets- oder Grenzänderungsansprüche befreit.
({9})
Die Politik der Bundesregierung, wie sie im Warschauer Vertrag zum Ausdruck kommt, ist mit unseren westlichen Verbündeten in allen Einzelheiten abgestimmt. Die Übereinstimmung des Warschauer Vertrages mit dem Deutschland-Vertrag wird durch den Notenwechsel der Bundesregierung mit den drei Westmächten vom 19. November 1970 nach Paraphierung des deutsch-polnischen Vertrages bestätigt. Die Westmächte bestätigen ausdrücklich, daß der Vertrag ihre Rechte und Verantwortlichkeiten nicht berührt.
Die Bedenken der Opposition, wie sie auch im schriftlichen Minderheitenbericht festgehalten sind, daß sich die Westmächte aus ihren Verpflichtungen aus Art. 7 des Deutschland-Vertrages entlassen fühlen könnten, treffen nicht zu. Die Forderung nach Überwindung der Teilung Deutschlands wird vom deutsch-polnischen Vertrag nicht berührt. Die westlichen Verbündeten haben sich im Deutschland-Vertrag nicht zur Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 verpflichtet. Sie haben lediglich vor fast 20 Jahren den formellen Friedensvertragsvorbehalt der Bundesrepublik Deutschland gegenüber bestätigt. Meine Damen und Herren, jedermann weiß - Herr Kollege von Weizsäcker hat das in seinem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 18. April 1972 wörtlich so gesagt -, „daß für alle und nicht zuletzt für unsere Verbündeten die Oder-Neiße-Grenze eine längst endgültig geregelte Frage ist".
Wenn auch der formelle Friedensvertragsvorbehalt aufrechterhalten und wegen der ungelösten Frage betreffend Deutschland als Ganzes gewahrt werden muß, so darf er eine Politik der Verständigung und Aussöhnung gegenüber Polen nicht blockieren und verhindern. Schon im Jahre 1965 hat die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland gerade darauf verwiesen, wenn sie feststellt:
Das formale Argument, daß nur eine künftige gesamtdeutsche Regierung zu so weittragenden Entscheidungen befugt sei, kann es nicht länger rechtfertigen, auch die Klärung der hier auf dem Spiel stehenden Grundsatzfragen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Das deutsche Volk muß auf die notwendigen Schritte vorbereitet werden, damit eine Regierung sich ermächtigt fühlen kann, zu handeln, wenn es not tut.
Die Mehrheit des Auswärtigen Ausschusses ist mit der Bundesregierung der Auffassung, daß sich - um mit den Worten der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zu sprechen - die Regierung ermächtigt fühlen konnte zu handeln, weil es not tat. Im Gegensatz zur Minderheit ist der Ausschuß der Auffassung, daß der Zeitpunkt für
Verhandlungen mit der polnischen Regierung Ende 1969 längst gekommen, ja überfällig war.
({10})
Mit den Verhandlungen und dem Vertragsabschluß leistete die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag zur Verständigung zwischen West und Ost in Europa. Nach Ratifizierung des Warschauer Vertrages ist unter anderem die Vorbereitungsphase der geplanten Konferenz für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit von einer Problematik befreit, die wir Deutschen in der Bundesrepublik selbst lösen müssen, wenn wir unsere Interessen in den europäischen Entspannungsprozeß einbringen und nicht in Isolierung geraten wollen.
Der Auswärtige Ausschuß ging davon aus, daß Moskauer und Warschauer Vertrag zwar Teile eines Gesamtkonzepts sind, der Warschauer Vertrag darüber hinaus aber eine eigenständige Bedeutung hat. Das gilt nicht nur für die Grenzfeststellung, die in Art. I des Warschauer Vertrages einen anderen Gehalt als in Art. 3 des Moskauer Vertrages hat, in dem auf die europäischen Grenzen im Zusammenhang mit dem konkretisierten Gewaltverzicht verwiesen wird.
Die eigenständige Bedeutung dieses Vertrages kommt in der Präambel und in der gegenseitigen Bereitschaft und Verpflichtung der Vertragspartner zur Normalisierung der Beziehungen zum Ausdruck. Die Präambel zeigt, wie die Vertragspartner an die notwendige Verständigung herangehen wollen: orientiert an den Ereignissen der Vergangenheit, ausgehend von den heute bestehenden Realitäten in Mitteleuropa und mit dem Blick auf die Zukunft; keine Aufrechnung von Schuld aus der Vergangenheit, keine unversöhnlichen Vorurteile, sondern die Bereitschaft, an einer neuen und friedlichen Entwicklung in Europa mitzubauen! Nur so ist ein Neubeginn möglich.
Die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten, wie sie in Art. III des Vertrages niedergelegt ist, umfaßt die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Hierbei ist ein großer Nachholbedarf zu befriedigen. Hier liegen große Möglichkeiten für die Zukunft.
Besonders bedeutsam aber werden die Kontakte der Menschen, vor allem zwischen der jungen Generation in beiden Ländern, sein. Der Berichterstatter stellte bei einem Besuch in Polen fest, daß die Kenntnisse über die Verhältnisse in der Bundesrepublik gerade bei der jungen Generation in Polen verbessert werden können; dasselbe gilt ebenso umgekehrt. Die Bereitschaft zum Gespräch und zum gegenseitigen Verstehen ist da. Sie muß nur nutzbar gemacht werden.
Schon unmittelbar nach der Unterzeichnung des uns vorliegenden Vertrags wurden die Kontakte zwischen den Menschen in beiden Ländern verbessert. Das zeigt sich vor allem beim Reiseverkehr.
Zu der Normalisierung der Beziehungen werden die bereits begonnenen Bemühungen beider Staaten beitragen, gemeinsam die Schulbücher zu prüfen und bei der Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen in der Vergangenheit auf Objektivität und historische Wahrheit zu achten.
Der Ausschuß ging bei seinen Beratungen ebenso wie die Bundesregierung davon aus, daß mit dem Vertrag auch die humanitären Probleme gelöst werden können. Die Information der polnischen Regierung, die zwar nicht Gegenstand des Ratifizierungsverfahrens ist, aber in engem Zusammenhang mit dem Vertragswerk steht, wird nicht nur die Familienzusammenführung verbessern und beschleunigen, Verwandtenbesuche zwischen beiden Ländern erleichtern, sondern erstmals auch Personen unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit, die keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu Personen in der Bundesrepublik haben, die Ausreise ermöglichen. Schon vor der Ratifizierung des Vertrags hat sich die polnische Regierung an die in der Information gegebenen Zusicherungen gehalten. 25 243 Deutsche konnten 1971 aus Polen in die Bundesrepublik übersiedeln, andere auch in die DDR.
Sicherlich hat es - das soll nicht geleugnet werden - da und dort Schwierigkeiten gegeben. Die Ausreise vieler Tausende von Menschen, die dort noch in einem Arbeitsprozeß stehen, stellt die polnische Regierung vor nicht geringe Schwierigkeiten. Der Auswärtige Ausschuß geht in seiner Mehrheit davon aus, daß Polen die in der Information enthaltenen Zusicherungen erfüllen wird.
Meine Damen und Herren, die Beratungen des Auswärtigen Ausschusses umfaßten selbstverständlich auch die durch den deutsch-polnischen Vertrag aufgeworfenen ausschließlichen Rechtsfragen, die im mitberatenden. Rechtsausschuß ausführlich erörtert worden sind. Ich darf Sie hier auf den Bericht des Rechtsausschusses verweisen, möchte aber in diesem mündlichen Bericht in Übereinstimmung mit dem Ergebnis des Rechtsausschusses drei Feststellungen festhalten.
1. Der Warschauer Vertrag legitimiert nicht nachträglich die Vertreibung Deutscher aus ihrer Heimat.
2. Der Vertrag hat keinen Einfluß auf die Staatsangehörigkeit Deutscher.
3. Durch diesen Vertrag werden Rechte, die Personen nach dem Grundgesetz oder anderen Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland zustehen, nicht berührt.
({11})
Abschließend möchte ich die politische Wertung dieses Vertrags durch die Mehrheit des Auswärtigen Ausschusses so zusammenfassen: Dieser Vertrag ist Teil der Ostpolitik der Bundesregierung, mit der die Bundesrepublik Deutschland ihre Beziehungen zu den Ländern Osteuropas normalisieren und somit ihren Beitrag für eine Entspannung in Europa leisten will. Diese Politik ist mit unseren westlichen Verbündeten abgestimmt und entspricht den politischen Grundsätzen, wie sie seit 1967 vom NATO-Bündnis verfolgt werden. Die Sicherheitspolitik wird durch eine konsequente Politik der europäischen Entspannung ergänzt.
Mit dieser Politik, wie sie in diesem Vertrag zum Ausdruck kommt, reiht sich die Bundesrepublik Deutschland in den beginnenden europäischen Entspannungsprozeß ein und kann dadurch die zentralen Anliegen einer realistischen Deutschlandpolitik - Sicherung der Bindung West-Berlins an den Bund und geregeltes Nebeneinander und Miteinander beider Staaten in Deutschland - in diesen politischen Prozeß einbauen. Das Viermächteabkommen über Berlin und der Verkehrsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR beweisen dies.
({12})
Der Warschauer Vertrag hat eine besondere politisch-moralische Bedeutung. Er legt den Grundstein für die Aussöhnung zweier Nachbarvölker, die unter den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des zweiten Weltkrieges besonders zu leiden hatten. Der Vertrag rechnet nicht die Schuld der Vergangenheit auf, sondern er weist in die Zukunft. Durch den Vertrag wird die Geschichte der letzten Jahrhunderte nicht geleugnet, sondern aus der leidvollen Vergangenheit werden endlich Lehren für die Zukunft gezogen.
({13})
Damit bekommt dieser Vertrag auch eine unmittelbare und zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesrepublik wird gerade durch diesen Vertrag ein glaubwürdiger Partner einer ernstgemeinten Friedens-und Verständigungspolitik. Das Vertrauenskapital und der Handlungsspielraum, den dieser Vertrag im Kontext mit der ganzen Ostpolitik geschaffen hat, dürfen nicht verspielt werden.
({14})
Die Mehrheit des Auswärtigen Ausschusses empfiehlt diesem Hohen Hause daher die Annahme des Vertragsgesetzes.
({15})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort als Berichterstatter hat der Herr Abgeordnete Dr. Bach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, als Berichterstatter zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen zunächst eine technische Bemerkung zu machen. Durch den Aufbau des Schriftlichen Berichtes des Auswärtigen Ausschusses könnte der Eindruck entstehen, als ob die unter den Kapiteln I und II getroffenen Feststellungen über den Vertrag die allgemeine Auffassung des Ausschusses gewesen seien. Ich möchte feststellen, daß in den Kapiteln I und II die Auffassung der Regierungsparteien und in Kapitel III die differierenden Ansichten der CDU/CSU wiedergegeben werden.
Die Mitglieder des Ausschusses haben sich ihre Aufgabe, zu einer sachlichen und fundierten Auffassung über die zur Ratifizierung anstehenden Verträge zu kommen, nicht einfach gemacht. In einer
viertägigen Generaldebatte wurde die Gesamtheit der deutschen Ostpolitik im Zusammenhang mit den beiden Verträgen erörtert. Zwei Tage galten einer eingehenden Behandlung des Warschauer Vertrages. Während der Debatte zeigte sich sehr bald, daß eine übereinstimmende Beurteilung des Warschauer Vertrages nicht zu erreichen war. Die beiden Berichterstatter einigten sich darauf, getrennte Voten, also ein Mehrheitsvotum und ein Minderheitsvotum, abzugeben.
Erlauben Sie mir, zusätzlich zum Schriftlichen Bericht nur zwei wichtige Gesichtspunkte zu verdeutlichen, von denen sich die CDU/CSU-Minderheit des Ausschusses bei der Beurteilung der Verträge leiten ließ. Der Warschauer Vertrag ist ein Teil der Vertragspolitik der Bundesregierung mit dem Osten. Auch nach Ansicht der Bundesregierung muß diese Vertragspolitik als einheitliches Ganzes angesehen werden. Bei der Beurteilung des Warschauer Vertrages muß daher von denselben grundsätzlichen Kriterien ausgegangen werden, die auch für den Moskauer Vertrag gelten. Beide Verträge, so sagt die Bundesregierung, sollen der Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarn dienen. Sie sollen einen Modus vivendi darstellen, dessen Kern der Gewaltverzicht sei.
Mit Genehmigung des Präsidenten möchte ich hier eine Begriffsbestimmung über den Modus vivendi aus dem Wörterbuch des Völkerrechts, von StruppSchlochauer, Bd. 2, einführen. Es heißt hier:
Unter Modus vivendi versteht man eine verbindliche Abmachung, durch die sich zwei Staaten oder auch Staat und Kirche auf eine notwendig gewordene Regelung in einem vorläufigen Kompromiß einigen. In diesem Sinne verwendet die Diplomatensprache den Begriff seit dem 19. Jahrhundert, vor allem in den Vereinigten Staaten, für einstweilige, zeitlich begrenzte Abkommen, die später durch einen förmlichen, völkerrechtlichen Vertrag ersetzt werden sollen . . . Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist sein vorläufiger Charakter . . . Ein Modus vivendi wird in der Regel durch Austausch von Noten oder Briefwechsel der Beteiligten vereinbart. Am häufigsten findet sich diese Bezeichnung für vorläufige Handelsvereinbarungen, für die Beilegung von Streitigkeiten und bei der Gewährung diplomatischer Immunitäten an internationale Beamte.
Seit dem zweiten Weltkrieg wird der Begriff des Modus vivendi durch den Ausdruck friedliche Koexistenz auf das Verhältnis von Staaten mit unterschiedlichen oder gegensätzlichen politischen oder sozialökonomischen Systemen ausgedehnt. Damit verliert allerdings der überkommene Begriff das Merkmal rechtlicher Verbindlichkeit und wird zur politischen Ausgleichsformel in einer Welt, die zwischen Krieg und Frieden steht. Friedliche Koexistenz bedeutet hierbei nach westlicher Auffassung die endgültige Duldung des kommunistischen Systems, um überhaupt zum Frieden zu kommen, nach östlicher Ansicht die vorläufige Duldung des kapitalistischen Systems, bis der Kommunismus mit friedlichen Mitteln endgültig gesiegt hat,
({0})
und in der asiatisch-afrikanischen Staatengruppe im Hinblick auf den Gegensatz der großen Machtblöcke und ihrer Herrschaftsansprüche alter und neuer Art die Achtung der territorialen Integrität, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und Gleichheit der Staaten.
Ich finde, wir sollten uns diesen Begriff des Modus vivendi immer vor Augen halten, wenn wir über das reden, was in diesen Verträgen steht.
Nach Ansicht der Bundesregierung bezieht sich dieser Modus vivendi, den wir in den Verträgen haben, auf eine Zwischenperiode, in der die für die endgültige Regelung der Deutschlandfrage notwendigen Rechtsgrundlagen aufrechterhalten bleiben. Voraussetzung für den Modus vivendi, so sagt die Bundesregierung selbst, ist die Beschreibung des Status quo. Es sei selbstverständlich gewesen, daß die Verhandlungspartner bei der Definition des Status quo klar wissen wollten, von welchem Status quo bei den Vertragsabschlüssen ausgegangen worden ist. Daher habe die Bundesregierung den Vertragspartnern zugebilligt, den Gewaltverzichtsgedanken auf die Grenzen in Europa zu konkretisieren.
Die Sowjetunion hat in ihrer Nachkriegspolitik immer darauf bestanden, daß die Bundesregierung die Lage so, wie sie sich nach 1945 entwickelt habe, anerkennen müsse. In ihrem Notenwechsel mit der Bundesregierung in den Jahren 1967/68 hat die Sowjetunion auf ein Angebot der damaligen Bundesregierung auf Abschluß eines Gewaltverzichtsabkommens erklärt, daß ein solches Abkommen nur dann abgeschlossen werden könne, wenn die Bundesrepublik die Unverletzlichkeit und Unveränderlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen einschließlich der Oder/Neiße-Linie sowie die Grenze der DDR und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik mit der Bundesrepublik Deutschland anerkenne. In ihrer Note vom 15. Juli 1968 heißt es:
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland schlägt im Grunde genommen einen Austausch von Gewaltverzichtserklärungen vor, nach denen sie wie bisher Gebietsforderungen an Nachbarstaaten erheben könnte. Derartige Dinge sind jedoch unvereinbar. Nur Menschen, die sich der jüngsten Geschichte nicht erinnern, können auf eine derartige betrügerische Vereinbarung eingehen. Wenn die Regierung der Bundesrepublik Deutschland immer noch auf eine Veränderung des Standpunktes der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder in der Frage der europäischen Grenzen hofft, so macht sie einen groben und gefährlichen Fehler. Die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges sind unveränderlich, und die Frage der Grenzen in Europa ist endgültig und unwiderruflich entschieden.
Dieser sowjetischen Haltung hat die Bundesregierung Rechnung getragen, als sie erklärte, ein reiner Gewaltverzicht sei immer daran gescheitert, daß sich
Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode Dr.-Ing. Bach
die Bundesrepublik nicht bereit erklärte, über die Grenzen Polens mit Polen zu verhandeln und in den Verhandlungen mit der UdSSR die staatliche Qualität der DDR in ihre Überlegungen einzubeziehen. Diese oben erwähnten Elemente hätten es zweifellos erst ermöglicht, daß es überhaupt zu Verträgen gekommen sei; sonst hätte es diese sicherlich nicht geben können.
Daß die Sowjetunion aber auch nach der Unterschriftsleistung zum Moskauer Vertrag keinen Anlaß sieht, von ihrer grundsätzlichen Haltung abzugehen, geht aus einer Antwort des sowjetischen Außenministers Gromyko auf eine Frage des Abgeordneten Arbusow in der Ratifizierungsdebatte der außenpolitischen Ausschüsse des Unions- und des Nationalitätensowjets am 12. April 1972 hervor. Diese Stelle ist bereits zitiert worden, aber ich darf sie wiederholen. Gromyko sagte:
Ein Vertrag, dessen Inhalt nur auf die Verpflichtung der Partner hinausliefe, auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt zu verzichten, wäre für die Sowjetunion in einer Situation, wo die Unverletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen von der Bundesrepublik Deutschland weiterhin in Zweifel gestellt würde, einfach sinnlos. Die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Ländern ist nur durch die Anerkennung und Respektierung der europäischen Realitäten durch die Bundesrepublik möglich.
Die Besonderheit des Modus vivendi, den die Bundesregierung im Warschauer Vertrag festgelegt hat, liegt darin, daß sie in Art. I eine Grenzfestsetzung trifft, die sie selbst für jetzt und in Zukunft als verbindlich für die Bundesrepublik Deutschland erklärt. Nach ihrer Ansicht sind die bisherigen deutschen Gebiete unter polnischer Verwaltung für die Dauer der Existenz der Bundesrepublik Deutschland vom Tage der Ratifizierung an Gebiete des polnischen Staates und werden als solche respektiert werden. Hier sieht man also, daß das keine Übergangslösung ist.
Gleichzeitig weist die Bundesregierung aber auf die Viermächteverantwortung für ganz Deutschland hin. Grenzfestlegungen gehörten zu den Vorbehaltsrechten der Alliierten; die Bundesregierung könne nur für die Bundesrepublik sprechen und nicht für ganz Deutschland; die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens gelte daher auch nur für die Dauer der Existenz der Bundesrepublik Deutschland, nicht für einen gesamtdeutschen Souverän. Damit sei die deutsche Frage in der Substanz offengehalten. Ihrer Argumentationskette fügt die Bundesregierung dann ihre Überzeugung hinzu, daß für die zukünftige Regelung der deutschen Frage die politischen Gewichte in der Welt so verteilt seien, daß eine Regelung naturgemäß nur dann zustande kommen könne, wenn ihr alle Beteiligten zustimmten, vor allem aber auch Polen.
Was bedeuten diese Aussagen? Die Bundesregierung hat die Bundesrepublik hinsichtlich der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens festgelegt. Sie hat folgerichtig den Warschauer Vertrag als mehr als ein konkretes Gewaltverzichtsabkommen bezeichnet und ihm in bezug auf die Grenzen eine höhere Qualität zugebilligt als dem Moskauer Vertrag. Sie scheint bewußt das Risiko eingegangen zu sein, daß dieser Vertrag von ihren Vertragspartnern als völkerrechtlich bindender Gebietsabtretungs und Grenzvertrag angesehen werden kann. Der Rechtsvorbehalt bezieht sich allein auf die Rechte der Alliierten.
Durch eine Verknüpfung mit dem Deutschland-Vertrag wird versucht, auch einen Vorbehalt zugunsten eines späteren gesamtdeutschen Souveräns festzulegen. Ob dieser Versuch aber gelungen ist, muß sehr bezweifelt werden. Der formale Rechtsvorbehalt wird noch weiter dadurch ausgehöhlt, daß Tatsachen geschaffen werden, an denen der gesamtdeutsche Souverän später überhaupt nicht vorbeigehen kann. Es muß fraglich erscheinen, ob dieser überhaupt fähig sein wird, seine Rechte jemals zum Tragen zu bringen. Die von der Bundesregierung gewählte rechtliche Konstruktion erscheint allenfalls dem Wort nach grundgesetzkonform. Sie scheint aber nicht der Forderung zu genügen, daß die deutsche Frage auch nach Abschluß des Ratifizierungsverfahrens in der Substanz offengehalten wird.
Ich muß sagen, daß ich etwas überrascht war über das, was mein Kollege Haack hier ausgeführt hat, der klar zu erkennen gegeben hat, daß diese Grenze endgültig sei. Ich glaube, man kann der Bundesregierung nur anraten, hier einmal ganz klar festzustellen, wo noch Konformität mit unserem Grundgesetz besteht oder wo sie nicht mehr besteht.
({1})
Die Auffassung der 'Sowjetunion zur Grenzfrage nach der Ratifizierung der Verträge hat der sowjetische Außenminister Gromyko ebenfalls in der Ratifizierungsdebatte im sowjetischen Parlament angeschnitten. Auf eine Frage des Deputierten T. R. Caragisjan sagte er:
Die Frage der Grenzen ist durch Krieg und die Nachkriegsentwicklung in Europa entschieden worden. Sie werden anerkannt, man trägt ihnen Rechnung, und von ihrer Existenz gehen europäische und nicht nur europäische Mächte aus. Die Unerschütterlichkeit der Westgrenze der sozialistischen Staatengemeinschaft wird durch die ganze Macht der UdSSR und der mit ihr verbündeten Bruderstaaten garantiert.
Das zweite wichtige Problem, das sich im Zusammenhang mit den beiden Ostverträgen stellt, ist die Frage, ob nicht das Recht des ganzen deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands beeinträchtigt wird. Diese beiden Rechte gehören eng zusammen. Der Herr Bundesaußenminister selbst hat am 6. März 1971 erklärt: „Wenn ich schon über Wiedervereinigungspolitik spreche, dann eben so, wie wir sie uns vorstellen, nämlich Wiederherstellung der Einheit der Nation durch das deutsche Volk durch freie Selbstbestimmung." An diesen Worten, meine ich, sollte man diese Regierung messen.
Auch bei dieser Frage stellten die CDU/CSU-Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses fest, daß die Bundesregierung der sowjetischen Forderung nach dem Ausgehen von der realen Lage nachgekommen ist. In ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hat sie festgestellt, daß sie in ihrer Politik, von der Existenz zweier deutscher Staaten auf deutschem Boden ausgehe. In Artikel 3 des Moskauer Vertrages vom 12. August 1970 verpflichtet sie sich, „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa", also auch der DDR, „in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten" und „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa ... wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen" als unverletztlich zu betrachten, „einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik".
Im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 schließlich erkennt die Bundesregierung nicht nur „die Unverletztlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität" an, sondern auch die „Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen" einschließlich der DDR.
Nachdem die Bundesregierung also zunächst von der Staatlichkeit, dann von der Souveränität der DDR gesprochen hat, gerät sie nun auch noch in Gefahr, auf die östliche These von den zwei Staatsvölkern auf deutschem Boden eingehen zu müssen. Sollte sie sich diese Auffassung endgültig zu eigen machen, wird die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht mehr ein Ausfluß der Ausübung des freien Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes sein, sondern sie wird zu einem Problem der Staatenzusammenführung, der territorialen Zusammenführung von zwei deutschen Staaten auf deutschem Boden. Ich glaube, wir wissen aus der Staatenpraxis alle, daß Staaten oder Territorien auch ohne Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zusammengeführt werden können. Anders ausgedrückt: die deutsche Frage darf, wenn sie in der Substanz offengehalten werden soll, kein reines Territorialprinzip werden. Sie muß durch Ausübung des unverzichtbaren Rechts des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung gelöst werden. Das Dach der gemeinsamen Nation, das sich heute noch über Deutschland als Ganzes wölbt, darf durch faktische Anerkennung zweier deutscher Staaten oder gar Staatsvölker unter keinen Umständen zerstört werden. Zwar hat es die Bundesregierung bisher vermieden, eine völkerrechtliche Anerkennung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik herbeizuführen, aber sie hat durch ihre Verträge in ihren Aussagen über Staatlichkeit, Souveränität und Grenzen der DDR so viele Fakten geschaffen, daß sie sich kaum auf die Dauer dem Druck entziehen kann, auch diesen letzten Schritt zu tun. Damit wäre dann in der Tat die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem reinen Territorialproblem degradiert und die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen Volkes höchstlich in Frage gestellt.
Ich habe hier, Herr Präsident, meine Damen und Herren, im Hinblick auf die kurze Zeit, die mir zur
Verfügung steht, nur zwei Kriterien für die Beurteilung sowohl des Warschauer als auch des Moskauer Vertrages durch die CDU/CSU-Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses schildern können. Es gibt noch eine Reihe anderer schwerwiegender Bedenken gegen diese Verträge, aber ich möchte festhalten, die Ausschußmitglieder der CDU/CSU geben ihrer Befürchtung Ausdruck, daß die Substanz des Vertrages mit der Volksrepublik Polen mehr ein Gebietsabtretungs- und Grenzvertrag als ein Gewaltverzichtsabkommen ist. Sie sind der Meinung, daß mit der Ratifizierung des Polen-Vertrages die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch das ganze Volk und damit die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zumindest gefährdet wird. Der Vertrag scheint nicht geeignet, einen wirklichen Ausgleich und eine echte Entspannung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk herbeizuführen, wie es mit der Polen-Erklärung der CDU/CSU-Fraktion vom 4. Dezember 1970 angestrebt wurde. Die CDU/ CSU-Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses haben daher dem Deutschen Bundestag vorgeschlagen, dem vorliegenden Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen seine Zustimmung zu verweigern.
({2})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Haus hat nunmehr jeweils zwei Berichterstattungen zu den beiden Vertragsgesetzen entgegengenommen. Die Aussprache über beide Vertragsgesetze wird verbunden.
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und idem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit idem Westen und ,die Verständigung mit dem Osten." Mit diesem Satz aus der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 möchte ich meinen Beitrag zur heutigen Entscheidung einleiten.
Bei ,den Verträgen, über die ,der Deutsche Bundestag zu befinden hat, geht es also darum, die bewährte Freundschaft mit dem Westen zu ergänzen durch den jetzt möglichen sachlichen Ausgleich mit dem Osten.
({0})
Es geht darum, daß wir unseren eigenen konkreten Beitrag zur Entspannung leisten und daß wir uns im Rahmen einer illusionslosen Friedenspolitik beharrlich um unsere eigenen Interessen kümmern.
Bei beiden Verträgen handelt es sich um Antworten auf bittere Fragen, .die uns der zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Aber es handelt sich nicht nur um einen Abschluß, sondern vor allem auch um einen neuen Anfang. Die Verträge bieten die Chance, die Beziehungen zu den unmittelbaren Vertragspartnern, aber auch zur Gesamtheit der osteuroDeutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode Bundeskanzler Brandt
päischen Staaten zu verbessern und die sachliche Zusammenarbeit mit ihnen auszubauen. Wenn die Verträge in Kraft getreten sind, werden wir Ostpolitik unter gleichen Bedingungen betreiben können wie andere westliche Länder auch, nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Als ein unmittelbares Ergebnis wird die Berlin-Regelung in Kraft treten, und im Verhältnis zur DDR werden sich menschliche Erleichterungen ergeben. Wann es zu einem Vertrag mit der CSSR kommen wird, läßt sich noch nicht übersehen, aber an unserem guten Willen soll es nicht fehlen. Die diplomatischen Beziehungen werden auch mit Ungarn und mit Bulgarien aufgenommen werden können. Weiter werden wir in der Lage sein, die wirtschaftliche, technische und kulturelle Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Paktes so zu entwickeln, wie es den beiderseitigen Interessen entspricht. Wir werden aktiv mitarbeiten an einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Mit unseren Verbündeten werden wir das große, schwierige, aber wichtige Thema anpacken können, das von der gleichgewichtigen Truppenreduzierung in Ost und West handelt. Wir werden verstärkt daran mitarbeiten können, die gute Nachbarschaft der europäischen Völker zu entwickeln. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren, bei allem, worüber gestritten worden ist und worüber hier noch gestritten werden mag, wir dürfen bitte nicht den Blick verlieren für die politischen Möglichkeiten, die vor uns liegen; denn der Streit um die Vergangenheit darf nicht auf Kosten der Zukunft gehen.
({2})
Seit der ersten Lesung der Verträge Ende Februar hat sich viel ereignet. Die Ausschüsse des Bundestages haben, wie sie es zu tun pflegen, gründlich gearbeitet. Ich darf für die Bundesregierung den Ausschüssen und den Berichterstattern aufrichtig danken. Und in den letzten anderthalb Wochen - ich darf darauf gleich noch einmal zurückkommen -ist in Gesprächen zwischen den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der intensive Versuch unternommen worden, den Verträgen eine breitere Zustimmung zu sichern. Unsere bisherigen Diskussionen, die jetzigen Beratungen und die anstehende Entscheidung finden, wie wir alle wissen, eine ungewöhnlich starke Aufmerksamkeit in Ost und West, überall in der Welt. Wir haben auch feststellen können, daß einige praktische Auswirkungen der Verträge eingetreten sind, obwohl diese noch nicht rechtswirksam wurden.
Ich möchte auch die Erklärungen und Empfehlungen nicht übergehen, mit denen sich zahlreiche Bürger unseres Landes, nicht zuletzt aus den Bereichen der Wissenschaft, zu Wort gemeldet haben, auf ihre Art. Ich halte dieses Engagement von Frauen und Männern, die sich normalerweise zu politischen Tagesfragen öffentlich nicht äußern, für sehr bedeutsam und möchte dafür danken.
({3})
Meine Damen und Herren, nach einer mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion, nach der detaillierten Prüfung in den Ausschüssen und in den Arbeitskreisen der Fraktionen, einer Prüfung, bei der es gewiß auch um Punkt und Komma ging, gilt es jetzt, das Ganze zu sehen und über das Ganze zu entscheiden.
({4})
Das Ganze heißt: einmal die Verträge von Moskau und Warschau, das Berlin-Abkommen der Vier Mächte, die damit verbundene Transitregelung zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR sowie die Vereinbarung zwischen dem Berliner Senat und der DDR, schließlich auch die mit dem unterschriftsreifen Verkehrsvertrag verbundenen menschlichen Erleichterungen. Dies gehört alles zusammen.
Das Ganze heißt auch: Die Bundesrepublik Deutschland will durch ihre Mitwirkung an und ihre Beiträge zu diesen Verträgen und Vereinbarungen an einem bedeutsamen, ja, ich sage: historischen Schritt in Richtung auf gesicherten Frieden mitwirken, einem Schritt in Richtung auf bessere Zusammenarbeit der Staaten, in Richtung auf Aussöhnung der Völker. Darüber ist zu entscheiden.
Niemand kann erwarten, daß hier jeder Satz, jede Einzelformulierung des Vertragswerks freudig begrüßt würde. Bei aller Unvergleichbarkeit im einzelnen gab es ja übrigens auch damals, als die Bundesrepublik ihr Verhältnis zu den Drei Mächten normalisierte, manche Formulierung, die uns klarwerden ließ, daß Deutschland den Krieg verloren hat und daß wir Hypotheken übernommen haben, die nur langsam abzutragen sind. Lassen Sie mich bitte wiederholen, was ich am 12. August 1970 im Kreml gesagt habe. Ich sagte, es sei wahr, „daß kein Volk auf Dauer leben kann ohne Stolz und ohne die Aussicht, seinen Willen friedlich zu vollenden". Und ich fuhr fort: „Die Geschichte darf nicht zu einem Mühlstein werden, der uns niemals aus der Vergangenheit entläßt. Ich verstehe diesen Vertrag in gewisser Hinsicht als einen Schlußstrich und als einen neuen Anfang, der unseren beiden Staaten gestattet, den Blick nach vorn zu richten in eine bessere Zukunft, als einen Vertrag, der uns von den Schatten und den Belastungen der Vergangenheit befreien soll - Sie wie uns -, der Ihnen wie uns die Chance eines neuen Anfangs gibt."
({5})
Meine Damen und Herren, im Verhältnis zur Sowjetunion und zu Osteuropa ist das viel schwerer, nicht nur wegen der so unterschiedlichen politischen Ordnung und Gesellschaftssysteme. Auf den Trümmern einer blutigen Geschichte durch den zweiten Weltkrieg liegen mehr als 30 Millionen Tote zwischen uns Deutschen und den Völkern Osteuropas, auf den Trümmern einer blutigen Geschichte haben sich Berge von Mißtrauen, Unkenntnis, Angst und Vorurteilen aufgetürmt. Es wird viel Zeit brauchen, dies abzubauen, aber es muß damit endlich begonnen werden.
({6})
Den Nutzen werden wir alle haben. Wenn der Friede
in Europa gefestigt wird, so wird der Welt eine
Sorge genommen sein, und man wird sich der Lösung dringender Probleme an anderen Stellen der Welt in anderen Kontinenten stärker annehmen können. Die Völker Europas werden einander näherkommen. Dies wird nicht zuletzt für unser Volk, das jetzt in zwei Staaten leben muß, ein Segen sein, und nicht zuletzt - ich sagte es schon - wird Berlin einer besseren Zukunft entgegensehen, jene Stadt, die wie keine andere in unserem Lande bezahlt hat für die Spaltung und den kalten Krieg.
({7})
Wir haben, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, abzuwägen zwischen dem Opfer mancher vertraut gewordener Vorstellung oder Hoffnung und dem Bekenntnis zur Wirklichkeit, aus der gemeinsam neue Hoffnung wachsen kann.
Es geht nicht um einen Friedensvertrag. Die Bundesrepublik Deutschland kann ihn allein weder nach Westen noch nach Osten machen. Aber den Frieden zwischen den Völkern, den wir nach Westen gewonnen haben, können wir jetzt auch, so meine ich, nach Osten gewinnen. Wenn es zu einem Friedensvertrag kommt, so werden wir oder die, die nach uns kommen, abermals abzuwägen haben zwischen Opfern und Gewinn. Ich zweifle nicht an der Entscheidung für diesen Fall, so wie es heute keinen Zweifel geben kann an dem eindeutigen Ja unseres Volkes zur uneingeschränkten feierlichen und völkerrechtlich verbindlichen Absage an die Gewalt, und zwar gerade auch dann, wenn es um die Erreichung der Ziele geht, die uns durch die Verfassung gegeben sind und die von unserer tiefen Überzeugung getragen werden.
Versöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Völkern Osteuropas kann es mit ehrlichem Herzen nur geben, wenn das Buch der deutschen Geschichte nicht zugeschlagen wird. Aber es muß dann auch gleich hinzugefügt werden: auf den neuen Seiten dieses Buches wird Gutes über das deutsche Schicksal nur dann zu berichten sein, wenn wir die Hand zum Ausgleich und zur Versöhnung ergreifen, wenn wir ja sagen zu einer anders als durch unseren eigenen Beitrag nicht möglichen guten Entwicklung in Europa.
({8})
Nun haben wir in den letzten anderthalb Wochen, ich sagte es schon, eine große Anstrengung unternommen und, wie ich meine, eine wichtige Erfahrung gemacht: es ging um den Versuch, uns womöglich über eine breite Zustimmung zu diesen wichtigen Verträgen zu verständigen. Am Freitag vorletzter Woche hatte ich von dieser Stelle aus dargelegt, weshalb ich es einerseits für notwendig hielt, die Entscheidung über die Verträge nicht länger aufzuschieben, und weshalb wir andererseits versuchen sollten, die Entscheidung auf eine breitere Basis zu stellen. Meine Frage war: „Können wir oder können wir nicht im Zusammenhang mit den Verträgen doch noch zu gemeinsamen Feststellungen in der Außen- und Deutschlandpolitik kommen, um", wie ich sagte, „anläßlich der Abstimmung über die Verträge in einer gemeinsamen Entschließung dieses Hohen Hauses die außenpolitischen Ziele unseres Landes,
in deren Gesamtzusammenhang die Verträge gehören, erneut zu bekunden?"
Inzwischen haben zahlreiche Besprechungen zwischen Vertretern aller Seiten in diesem Hause und der Bundesregierung stattgefunden. Ich möchte allen Beteiligten für die Mühe danken, die sie dabei auf sich genommen haben. Wir sind davon ausgegangen, daß der Text der Verträge vorliegt und ebenso die mit ihm verknüpften Dokumente vorliegen. Ich unterstreiche also: es gibt keine Geheimabsprachen. Alles, worüber zu entscheiden ist, wurde veröffentlicht. So sehen es, wie ich verbindlich erklären kann, auch unsere Vertragspartner. Die Interpretation der Verträge muß von dem ausgehen, was unter den Vertragspartnern vereinbart und was von ihnen einvernehmlich in den Kontext, in den Zusammenhang der Verträge einbezogen worden ist. Diese Dokumente liegen dem Deutschen Bundestag vor.
Interfraktionelle Arbeitsgruppen haben zu den drei Komplexen getagt, die der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU in der ersten Lesung der Verträge besonders hervorgehoben hatte, weil er sie für das schließliche Votum seiner Fraktion für besonders wichtig hielt. Ich kann folgendes feststellen, - bitte, das muß ich der Ordnung halber sagen: ich kann jetzt immer nur meine Wertung feststellen, meine Wertung zu dem Vorgang und zu den Bemühungen auf den einzelnen Stufen, über die ich berichte, denen aber gerade, wenn ich die interfraktionellen Arbeitsgruppen nenne, nun noch etwas hinzuzufügen ist aus den eigenen Bemühungen der Regierung in diesen letzten Tagen.
Ich kann also für die Bundesregierung feststellen, daß die Verständigung über den Komplex der Europäischen Gemeinschaft nicht schwer zu erreichen war. Es war in den Beratungen nicht umstritten - was die Bundesregierung auch früher gesagt hat -, daß nämlich die Sowjetunion aus dem Vertrag keinerlei Rechte herleiten kann, gegen die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder gegen deren Weiterentwicklung bis zu einer Politischen Union zu intervenieren.
Wir gehen hier, so hoffe ich, in diesem Haus miteinander davon aus, daß die Sowjetunion und die anderen Staaten des COMECON oder des, wie man dort sagt, RGW die Zusammenarbeit mit der EWG aufnehmen werden. Von sowjetischer Seite ist versichert worden, die Sowjetunion stehe der EWG nicht feindselig gegenüber, sie wolle sie nicht unterminieren, sie schließe eine Zusammenarbeit mit ihr nicht aus und verfolge de Entwicklung. Wie die Beziehungen sich gestalten würden, hänge von beiden Seiten ab. Im übrigen konnte festgestellt werden, daß beide Seiten dieses Hauses im Gespräch darüber bleiben wollen, wie wir die stufenweise Entwicklung zur Politischen Union Westeuropas wirksam fördern können.
Zu einem anderen Punkt kann ich als Ergebnis der Gespräche zwischen den Fraktionen und der Regierung erklären: die Bundesrepublik Deutschland tritt für eine solche Regelung des Verhältnisses zur DDR ein, durch die die Teilung für die Menschen erträglicher wird. Formalisierung und NormaBundeskanzler Brandt
lisierung des Verhältnisses zwischen den Staaten und für die Menschen gehören zusammen. Hier gibt es gemeinsame Erwartungen. Solche Erwartungen werden auch durch jüngste Erklärungen der DDR-Führung ermutigt, die von der sowjetischen Regierung unterstützt werden. Wir haben uns auf die Bildung bzw. den Ausbau einer interfraktionellen Arbeitsgruppe verständigt, die mit Vertretern der Regierung alle Fragen der Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit dem Ziel erörtern soll, eine gemeinsame Basis herzustellen.
Weiter haben wir uns darauf verständigt - wenn ich damit zu weit gehen sollte, wiederhole ich meinen Vorschlag -, daß wir über die praktischen Auswirkungen der Verträge ebenso in einem engen Meinungsaustausch und außenpolitischen Zusammenwirken bleiben wollen, sollten - ich stelle anheim - wie über die Vorbereitungen für die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Zur Thematik des Selbstbestimmungsrechts ist bekannt, daß der „Brief zur deutschen Einheit" in das sowjetische Ratifizierungsverfahren eingeführt wurde, d. h., daß man dort von der Tatsache dieses Briefes ausgeht. Die sowjetische Seite ist im übrigen der Meinung, daß das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Recht auf Selbstbestimmung
- jetzt füge ich bewußt hinzu: unterschiedlich, wie es von den verschiedenen Staaten verstanden und gehandhabt wird - nicht vom Moskauer Vertrag berührt werde.
Nun ist in vielstündigen Sitzungen abschließend gestern der Entwurf einer gemeinsamen Entschließung erarbeitet worden. Die Bundesregierung hat sich vergewissert, daß eine solche Entschließung
- nicht irgendeine, sondern die, auf die sich die Vertreter der verschiedenen Seiten verständigt haben; diese ohne jede Hinzufügung und ohne jeden Abstrich -, die mit Geist und Buchstaben der Verträge übereinstimmt, die also auch an den sich aus den Verträgen ergebenden Rechten und Pflichten nichts ändert, von unseren Partnern entgegengenommen wird, wenn, wie vorgesehen, die Bundesregierung sie in aller Form übermittelt.
Ich möchte hier nicht nur der Ordnung halber feststellen, daß die Sowjetunion und Polen natürlich auch die Denkschriften kennen, mit denen wir im Dezember 1971 die Verträge zur Ratifizierung eingebracht haben. Amtliche Gegenäußerungen sind dazu nicht erfolgt.
Im Zusammenhang mit dem gestern erörterten - wie ich glaubte, ausgehandelten - Projekt einer gemeinsamen Erklärung darf ich noch folgende Feststellungen treffen: Mit der sowjetischen Seite gibt es keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß der Vertrag eine Friedenskonferenz nicht unnötig mache; dazu seien zwei Staaten durch einen bilateralen Vertrag auch gar nicht in der Lage. Die sowjetische Seite hat noch einmal hervorgehoben, daß der Vertrag nicht in die Sphäre der Vier-Mächte-der Bundesregierung ist noch festzuhalten, daß die Feststellung, die Verträge schüfen, da sie eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnähmen, keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen, selbstverständlich keine Einschränkung der insbesondere im Warschauer Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland übernommenen Verpflichtungen bedeutet.
Rechte vorstoße. Dies hat Außenminister Gromyko vor der Kommission des Obersten Sowjet ausdrücklich erklärt. Aus der Sicht und der Verantwortung
Ich sage noch einmal - das mag uns ja im Laufe des Tages noch beschäftigen -: Was die Regierung angeht, was die Koalition angeht, es gilt das, was gestern mittag galt. Der Außenminister hat sich hierzu, glaube ich, noch in der Nacht, jedenfalls heute früh gegenüber dem Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU auch schriftlich geäußert. Wir sind gerne während der Mittagspause oder wann immer bereit zu den Auskünften oder den Erörterungen, die im Zusammenhang mit dem eben Vorgetragenen für nützlich gehalten werden mögen.
Das, was ich eben hier skizziert habe, stellt - ich sage noch einmal: aus meiner Sicht, aus der Sicht der Regierung - die Ergebnisse der gemeinsamen Bemühungen der letzten Tage dar. Hinter ihnen verbirgt sich eine große Anstrengung, die von allen Beteiligten nötig war, um über manchen Schatten zu springen und zu einem positiven Ergebnis zu kommen im Interesse unseres Volkes, im Interesse der Entwicklung in Europa und einer Politik aktiver Friedenssicherung.
Ich will hier nichts verniedlichen oder übertünchen. Aber ich meine, wie immer der Tag noch verläuft und seinen Niederschlag findet, die Anstrengungen der letzten zehn Tage haben sich gelohnt.
({9})
Ich möchte mich, zugleich im Namen des Bundesaußenministers Walter Scheel, bei Herrn Dr. Barzel und seinen Freunden in aller Form dafür bedanken, daß sie die Anstrengungen auf sich genommen haben, die damit verbunden waren, ein wesentliches Stück deutscher Politik mit der Regierung, mit den Vorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten so durchzuberaten, daß sich hieraus eine, wie wir hofften und wie ich immer noch hoffe, tragfähige Entscheidungsgrundlage ergeben könnte.
({10})
Ich sage noch einmal: Wie immer bei allen Schwierigkeiten dieser Tage und dieses Tages ,der Ausgang sein mag, ich denke doch, daß in diesen Tagen an mehr als einer Stelle auch Respekt voreinander gewonnen wurde.
Meine Damen und Herren, bei allem, was umstritten war und umstritten sein mag, will ich hier mit allem Nachdruck betonen: Unser Volk und alle Parteien in diesem Hause wollen den Frieden und wünschen nichts mehr als einen gesicherten Frieden.
({11})
Ich will hinzufügen: Diese Bundesregierung hat
selbstverständlich an die Bemühungen früherer Bundesregierungen angeknüpft, wenn sie auch, was zu
leugnen nicht ehrlich wäre, neue Wege zu beschreiten für notwendig hielt.
({12})
Weiter liegt mir daran, festzuhalten, daß die Regierung bei ihren Verhandlungen selbstverständlich auch auf die Haltung einer starken Opposition hingewiesen hat, auf ihre - der Opposition - Grundsätze für Versöhnung und Ausgleich ebenso wie auf ihre Forderungen und die Notwendigkeit, ein Ergebnis zu erzielen, das von der großen Majorität unseres Volkes akzeptiert werden kann. Die Heftigkeit der innenpolitischen Auseinandersetzung hat die Vertreter der Bundesregierung nicht davon abgehalten, im gemeinsamen Interesse dieses Staates jedes brauchbare Argument, auch das der Opposition, zu nutzen, obwohl es uns manche Vertreter der Opposition - dies sei in aller Offenheit hinzugefügt ,durch ihre Polemik während der Verhandlungen ja auch nicht immer ganz leicht gemacht haben.
({13})
Wir sollten das jetzt hinter uns lassen und die Kraft aufbringen, in einer Frage von historischem Rang so zu entscheiden, wie es über alle sonstigen Gegensätze hinweg der Interessen unseres Staates, unseres Volkes und des Friedens wegen geboten ist.
Das Bemühen in den letzten anstrengenden Tagen sollte zumindest gezeigt haben, ,daß führende Männer unseres Landes die Kraft aufbringen können, sich zum Wohl des Ganzen auf notwendige Entschlüsse hin vorzuarbeiten. Ich hoffe, daß wir damit einen Ansatz gefunden haben, der über den Tag hinausreicht, übersteigerte Auseinandersetzungen abbaut - auch morgen und uns gestattet, fruchtbare Arbeit zu leisten, bis wir alle uns ein neues Mandat von den Bürgern unseres Staates holen können.
({14})
Meine Damen und Herren, niemand wird ernsthaft behaupten wollen, daß hier nur auf einer Seite des Hauses Menschen säßen, die sich mit den Realitäten in Deutschland und in ,der Welt vertraut gemacht hätten. Andererseits hat das Aussprechen dessen, was ist, oft eine schockierende Wirkung. Vor fast sechs Jahren erklärte der Kollege Dr. Schröder vor ,dem Evangelischen Arbeitskreis seiner Partei, unsere außenpolitische Bewegungsfreiheit werde oft eingeengt - ich zitiere jetzt wörtlich -„von dem Zwang, der sich von innenpolitischen Gruppierungen mit manchmal verhärteten, zum Programm, wenn nicht sogar zum Tabu gemachten Anschauungen herleitet". Wer, meine Damen und Herren, wollte dem widersprechen?
({15})
Und wer wollte sagen, er kenne nicht die psychologischen Vorgänge, die Heinrich Mann in seinem
„Henri Quatre" in zwei kurzen Sätzen so beschreibt:
Erst zu mehreren ist man richtig entrüstet und nur über Tatsachen, die vorher bekannt
waren. Neuigkeiten erregen nur schwer die
Geister, weit eher das Aussprechen des lange Zurückgehaltenen.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist doch gewiß so, daß die Heftigkeit der Auseinandersetzungen in der hinter uns liegenden Zeit, im ganzen gesehen und auf die maßgebenden Kräfte bezogen, nicht dadurch bedingt war, daß der Meinungsstreit prinzipieller geworden wäre. Heftigkeit der Auseinandersetzung und prinzipieller Gehalt standen nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zueinander. Wenn ich etwa, Herr Kollege Kiesinger und andere in diesem Hause, an die Notwendigkeit der Beziehungen zur DDR denke, so kann ich feststellen, daß die Standpunkte heute näher beieinanderliegen als 1969. Hier wird ja auf einen Prozeß hingedeutet, der in demokratisch regierten Staaten durchaus normal ist: Die eine Richtung, die die Regierung stellt, setzt sich mit den Verhältnissen, wie sie sie sieht, auseinander und schafft dadurch neue Tatsachen, auf die sich die andere Richtung einstellen muß. Daß ein solcher Prozeß mit Schwierigkeiten und auch mit Schmerzen verbunden sein kann, wissen diejenigen in diesem Hause, die sich seinerzeit auf die von Konrad Adenauer geschaffenen Tatsachen einstellen mußten.
({16})
Meine Damen und Herren, ich hatte von den Perspektiven, den neuen Möglichkeiten gesprochen, die sich aus einer Verbesserung unseres Verhältnisses zu den osteuropäischen Staaten ergeben. Ich habe über eine Reihe von Klarstellungen berichtet, an denen unseren Kollegen aus der CDU/CSU gelegen war. Es scheint mir wichtig zu sein, dem noch einige Feststellungen zu solchen früheren Einwänden hinzuzufügen, die uns in dieser zweiten Lesung im Grunde nicht mehr zu beschäftigen brauchen.
Es war gefordert worden, die Sowjetunion müsse auf einen Interventionsanspruch nach den Art. 53 und 107 der UNO-Charta verzichten. Dieses Thema ist in unserem Sinne geklärt.
Es war behauptet oder befürchtet worden, aus den Ostverträgen würden sich Reparationsforderungen ergeben. Es wurde sogar von einem „finanziellen Super-Versailles" gesprochen. Es ist längst geklärt, daß sich aus den Verträgen keinerlei Reparationsansprüche ergeben.
Weiter war befürchtet worden, die Ostverträge gefährdeten den Zusammenhalt des Westens, die Bindung zwischen Europa und den USA und die Funktionstüchtigkeit der NATO. Auch dies waren unbegründete Befürchtungen, denn unsere Vertragspolitik wird bekanntlich von den Verbündeten befürwortet und mit getragen. Die Zusammenarbeit im Westen würde nicht erleichtert, sondern erschwert werden, wenn wir aus der gemeinsamen Entspannungspolitik ausscheren sollten.
Schwere Bedenken waren dagegen geltend gemacht worden, daß sich die Bundesregierung im Zusammenhang mit den Verträgen zugunsten einer allgemeinen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - unter Teilnahme der USA und Kanadas, versteht sich - ausgesprochen habe.
Einigen der Kritiker schien dabei entgangen zu sein, daß sich schon die Regierung der Großen Koalition zugunsten einer gesamteuropäischen Konferenz ausgesprochen hatte. Dasselbe gilt für die NATO insgesamt. Unsere Partner im Atlantischen Bündnis denken doch ebensowenig wie wir selbst daran, Interessen der Sowjetunion zu Lasten des Westens Vorschub zu leisten.
Man kann an Hand dieser Punkte - ich lasse es
einmal mit den soeben genannten genug sein - feststellen, daß sich der Bereich des Umstrittenen nicht erweitert, sondern, wenn man die Dinge durchgeht, immer mehr eingeengt hat. Dabei kann ich mich natürlich nur auf den seriösen oder jedenfalls repräsentativen Teil der Diskussion beziehen. Extreme Opponenten wollen ohnehin keine sachliche Auseinandersetzung. Daran kann ich nichts ändern. Darunter darf aber das Interesse des Staates nicht Schaden leiden.
({17})
Meine Damen und Herren, wir haben Berlin und seine Sicherung in den Mittelpunkt unserer Politik gestellt.
({18})
Wir waren bereit, dafür unser ganzes Gewicht einzusetzen, auch die Verträge von Moskau und Warschau, die ihren Wert in sich haben, aber ohne eine Regelung für Berlin unvollständig geblieben wären. Gegenüber manchem Druck aus Ost und West u n d West hat sich die Bundesregierung daran gehalten, die Verträge dem Deutschen Bundestag nicht vorzulegen, solange nicht die Berlin-Frage geregelt war. Berlin ist auch von der Opposition damals als der entscheidende Prüfstein für den Entspannungswillen der Sowjetunion bezeichnet worden. Der frühere Streit um die Reihenfolge von Verträgen und Berlin-Regelung kann angesichts des Ergebnisses begraben werden.
Es ist aber die Frage aufgetaucht, ob in den jetzigen Zusammenhang nicht auch gleich eine grundsätzliche, grundvertragliche Regelung der Beziehungen zur DDR gehört hätte. Natürlich hat uns diese Frage beschäftigt. Wenn schon die Voraussetzungen für das, was mit dem zuweilen etwas unscharf verwendeten Begriff Wiedervereinigung gemeint ist, nicht gegeben sind, dann ist es gewiß an der Zeit, das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland so zu regeln, daß die Teilung für die Menschen erträglicher wird und jene Normalisierungsprozesse begonnen werden, die neben der Ordnung im Formalen auch den Bewohnern hier und dort durch ein Hinüber und Herüber zugute kommen.
Der Graben zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ist tiefer als zwischen allen anderen Staaten Europas. Dies war die Lage, von der wir auszugehen hatten. Über die Beurteilung der Lage brauchen wir, die meisten von uns, nicht zu streiten, auch nicht darüber, was es über Reiseerleichterungen hinaus so zu beeinflussen gilt, daß es geändert werden kann. Als das Berlin-Abkommen im vorigen September ausgehandelt war, habe ich erklärt: „Wer wünschte nicht, daß mehr erreicht werden könnte! Und daß die Deutschen sich frei bewegen können. Daß es keine Grenzen gäbe, an denen geschossen wird!" Nun, die Vier Mächte haben das, wie wir wissen, leider nicht erreicht.
Ich habe mich auch mit allem Freimut geäußert, als ich im August 1970 in Moskau war. In meiner Fernsehansprache aus der sowjetischen Hauptstadt habe ich - die Mauer stand damals neun Jahre - gesagt ich darf das mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren -:
Heute haben wir, so hoffe ich zuversichtlich, einen Anfang gesetzt, damit der Zerklüftung entgegengewirkt wird, damit Menschen nicht mehr im Stacheldraht sterben müssen, bis die Teilung unseres Volkes eines Tages hoffentlich überwunden werden kann.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß ich
das, was ich dort sagte, hier mit Zustimmung aller
Fraktionen wiederholen und unterstreichen durfte.
({19})
Die Bereitschaft zum Gewaltverzicht auch gegenüber der DDR war schon von der vorigen Bundesregierung ausgesprochen worden, ebenso wie die Bereitschaft, sich mit dem Vorsitzenden des Ministerrates zusammenzusetzen. Die Begegnungen von Erfurt und Kassel 1970 und die Haltung, die unsere Delegation dabei eingenommen hat, sind inzwischen kaum noch umstritten. Aber wir haben gelernt oder bestätigt gefunden: den tiefen Graben zuzuschütten dauert leider viel länger, braucht viel mehr Zeit als irgendwo sonst. An zähen Bemühungen hat es nicht gefehlt. Das sehen unsere Mitbürger allein an der großen Zahl der Begegnungen und Verhandlungen zwischen den beiden Staatssekretären Bahr und Kohl seit Ende 1970. Heute wissen wir immerhin, meine Damen und Herren: der Verkehr mit West-Berlin wird auf gesicherter Rechtsgrundlage unbehindert sein, und die Westberliner werden endlich nach Ost-Berlin und in die DDR reisen können.
({20})
Viele haben schon vergessen, daß es nicht eine einzige Telefonleitung zwischen den beiden Teilen der Stadt Berlin gab. Heute stellen wir fest, daß die inzwischen geschalteten 150 Leitungen längst nicht ausreichen.
({21})
Meine Damen und Herren, keine der Fraktionen in diesem Hause war sich zu schade, die Beschleunigung des Päckchen- und Paketverkehrs zu fordern. Mit so einfachen Dingen haben wir uns beschäftigen, um sie haben wir uns kümmern müssen, und um sie müssen wir uns weiter kümmern. Heute sehen wir der Möglichkeit entgegen, daß sich ein gewisser Tourismus in Richtung DDR entwickeln kann. Ich nenne das einen Unterschied.
({22})
Nicht nur Verwandte, auch Freunde und Bekannte werden wir mehrfach im Jahr besuchen können.
({23})
Die DDR erkennt jetzt an, daß es zwischen den Menschen in den beiden Staaten dringende Familienangelegenheiten gibt. Sie ist bereit, entsprechende Reisen in die Bundesrepublik zuzulassen, ohne an einer Altersgrenze festzuhalten. Hier weiß jeder, daß wir weitergehende Wünsche haben. Aber gegenüber dem Zustand vor zweieinhalb Jahren steht ein beachtlicher Unterschied greifbar wor uns.
({24})
Es geht immerhin um die Wünsche von Millionen einzelner Menschen, die jetzt erfüllbar werden. Zum erstenmal seit 20 Jahren entfernen wir uns nicht weiter voneinander, sondern kommen einander etwas näher.
({25})
Die Erfahrung zeigt also, daß sich das Ergebnis staatlicher Verhandlungen mit der Regierung der DDR in menschliche Erleichterungen umsetzen läßt. Der politische Zusammenhang zwischen den Verträgen und dem weiteren Verhältnis zur DDR liegt mit auf der Waage. Hier gilt mehr noch als auf anderen Gebieten, daß man nur Schritt für Schritt vorankommen kann. Im übrigen sind wir bereit, den Meinungsaustausch, den Herr Honecker für die DDR angeboten hat, nach Unterzeichnung des Verkehrsvertrages aufzunehmen. Niemand kann natürlich wissen, wie lange die Verhandlungen über ein geregeltes Nebeneinander, aus dem ein gedeihliches Miteinander werden könnte - oder, um den Ersten Sekretär des ZK der SED zu zitieren, normale gutnachbarliche Beziehungen mit dem Ausblick zu einem Miteinander -, dauern werden, zumal es eben nicht nur um Formen gehen kann, sondern auch um Inhalte für die Menschen gehen muß. Neben einer Formalisierung, die die völkerrechtliche Lage Deutschlands respektiert, sollte also nicht nur der Austausch von Waren und Gütern, sondern auch der Austausch von kulturellen Werken und geistigen Werten, von Meinungen und Informationen möglich werden, auch von Theaterensembles und Orchestern, von Sportmannschaften und Jugendgruppen.
({26})
In früheren Jahren ist nicht selten von den „Brüdern und Schwestern im anderen Teil Deutschlands" die Rede gewesen, wenn über Außenpolitik debattiert wurde. Sicher ist, daß in den fünfziger Jahren viele, sehr viele unserer Landsleute drüben hofften, Konrad Adenauer werde die Wiedervereinigung schaffen. Das ist lange her. Sie haben sich wie wir auf die Realitäten einstellen müssen, und vielen mag das schwerer gefallen sein als uns.
Auch heute können wir uns ein Urteil bilden, was drüben gedacht wird. Wir wissen, daß viele, nein, ich sage: die meisten Bürger der DDR unsere Politik, die in den Verträgen mit Moskau und Warschau und in den Vereinbarungen mit Ost-Berlin ihren Niederschlag findet, als eine Hoffnung ansehen, eine Hoffnung darauf, daß sich die Dinge in Deutschland bessern, daß man einander wieder näherkommen kann und daß dabei die Idee der deutschen Nation nicht aufgegeben wird und nicht aufgegeben zu werden braucht.
({27})
Besonders berührt hat mich, was mir vor wenigen Wochen aus Cottbus der Generalsuperintendent Günter Jacob geschrieben hat. Er ermächtigte mich, von dem Brief unter Nennung seines Namens Gebrauch zu machen. Dieser Brief enthält einen Dank für unsere Politik der Verhandlungen und, wie es heißt, „für die im Zusammenhang mit diesen Verträgen und Abkommen erreichten Erleichterungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen". Es heißt weiter:
Wir sehen die Dinge durchaus realistisch und
nüchtern, aber wir wissen jede Erleichterung
für Kommunikation und Begegnung zu schätzen.
Mit Genugtuung habe er zur Kenntnis genommen, daß die Kritiker der Verträge in der ersten Lesung es unterlassen hätten, ihre ablehnende Haltung - ich zitiere - „auch mit einer Berufung auf die Brüder und Schwestern im Osten, wie es oft nicht ohne sentimentale Untertöne hieß, zu begründen". Hier sei man ehrlich geblieben. „Denn die Mehrheit der Bevölkerung in der DDR," - ich zitiere - „und zwar ganz unabhängig von dem jeweiligen parteipolitischen Standort und ganz unabhängig von der jeweiligen Beurteilung der Politik unseres Staates im einzelnen" - also des Staates dort -, hoffe dringend, daß der Bundestag die Ratifizierung der Verträge vollziehen werde. Und dann weiter:
Wenn sich jemand auf ein positives Votum der Bürger und auch der Christen in der DDR berufen kann, so sind Sie es, Herr Bundeskanzler, wie ich aus einer Fülle von Gesprächen weiß.
Meine Damen und Herren, ich könnte viele solcher Meinungsäußerungen vortragen.
({28})
Ich sage jetzt nichts weiter, als wie sehr ich mich über diese Zeichen des Verstehens gefreut habe, wie sehr ich mich dadurch zusätzlich in die Pflicht genommen fühle und daß ich ganz einfach dankbar dafür bin.
({29})
Meine Damen und Herren, jedermann soll von hier aus auch noch einmal erfahren, was wir den Vertragspartnern zum Recht auf Selbstbestimmung gesagt haben, und zwar vom ersten Augenblick, ohne zu schwanken oder zu finassieren. Wir haben gesagt, hier handelt es sich um eines der unveräußerlichen Rechte, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Es ist nicht aufgebbar, und es kann deshalb auch nicht Gegenstand von Verhandlungen sein. Unsere Vertragspartner wissen das, und gerade diese Tatsache, ohne die es die Verträge nicht geben könnte, berechtigt zu der Erwartung, daß das Werk der Zusammenarbeit nicht auf Sand gebaut wird. Von der Regierungserklärung
im Oktober 1969, in der es hieß, niemand könne uns ausreden, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben wie alle anderen Völker auch, bis zum heutigen Tag spannt sich der Bogen einer geschlossenen Politik. Dies haben wir überall freimütig vertreten, ebenso wie wir es, anders als es uns leichtfertige Kritiker meinten unterstellen zu sollen, in Moskau und in Warschau konsequent abgelehnt haben, die Spaltung Deutschlands oder die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten nachträglich legitimieren zu helfen.
({30})
Auch dies wurde in meiner Fernsehansprache am 7. Dezember 1970 aus der Hauptstadt Polens gesagt. Es wurde am 11. Dezember vergangenen Jahres in Oslo unterstrichen, und zwar mit den Worten: „Über die Prinzipien der Menschenrechte und der Selbstbestimmung darf man nicht mit sich handeln lassen."
({31})
Mir ist bewußt, wie manchen der Landsleute zumute ist, denen der Schmerz um die alte Heimat gerade in diesem Augenblick wieder bewußt wird, stark bewußt wird, in dem wir uns in aller Form zur Unverletzlichkeit der Grenzen bekennen. Diesen Gefühlen sollte niemand den ehrlichen und großen Respekt versagen.
Keinen Respekt habe ich vor solchen, die draußen in ihren Reden noch immer nicht zugeben wollen, was durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf uns zugekommen ist, was sie uns hinterlassen hat, und die so tun, als könne man weggeben, was man nicht hat.
({32})
Ich meine, kein Gruppeninteresse darf so hochgespielt werden, daß auf nationalpolitischem Gebiet Forderungen gestellt und Hoffnungen geweckt werden, die mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen.
Ausgleich und Verständigung heißt nicht, daß wir die Spaltung Deutschlands nachträglich als rechtmäßig anerkennen oder auch die Teilung Europas als unabänderlich betrachten. Verzicht auf Gewalt heißt nicht, auf die friedliche Verwirklichung der Menschenrechte zu verzichten. Unantastbarkeit der Grenzen heißt nicht, sie als feindliche Barrieren zu zementieren.
({33})
Bereitschaft zum gleichgewichtigen Abbau der Rüstungen heißt übrigens auch nicht, daß wir die westliche Friedenssicherung einschließlich des eigenen Verteidigungsbeitrags vernachlässigen dürften. Es geht um mehr Sicherheit durch den Abbau von Spannungen in der weiteren Entwicklung, hoffentlich auch durch den gleichgewichtigen Abbau von Truppenstärken und Rüstungen. Eine Voraussetzung dafür ist aber, daß das westliche Bündnis intakt bleibt und daß wir zu seiner militärischen und politischen Wirksamkeit nach Kräften beitragen.
({34})
Meine Damen und Herren, die Lage in Europa läßt jeder Bundesregierung nur noch den einen Weg der Normalisierung, der Verständigung und Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn auf der Grundlage dessen, was in den letzten 25 Jahren entstanden ist. Strittig kann im Grunde nur noch sein, wie wir diesen Weg gehen. Ich meine, wir sollten ihn nicht zögernd und zaudernd gehen und als ob wir unter Zwang stünden, einem Zwang folgten,
({35}) sondern zügig, mutig, aus eigenem Entschluß.
Ich möchte unterstreichen, daß sich in den anderthalb Jahren seit der Unterzeichnung der Verträge nichts von ihrer Bedeutung, nichts von ihrem Gewicht, nichts an dem Buchstaben und nichts an dem Geist verändert hat. Deshalb wiederhole ich bewußt noch einmal, was am 12. August 1970 in Moskau gesagt wurde, nämlich dies:
Der Vertrag ist ein entscheidender Schritt, um unsere Beziehungen zur Sowjetunion und anderen östlichen Nachbarn zu verbessern - ein Vierteljahrhundert nach der Katastrophe, die von den Völkern im Osten noch mehr als im Westen unsägliche Opfer gefordert hat. Rußland ist unlösbar in die europäische Geschichte verflochten. Nicht nur als Gegner und Gefahr, sondern auch als Partner, historisch, politisch, kulturell und ökonomisch. Nur wenn wir in Westeuropa diese Partnerschaft ins Auge fassen und nur, wenn die Völker Osteuropas dies auch sehen, können wir zu einem Ausgleich der Interessen kommen.
Das war da gesagt, das sei hier wiederholt.
Um diesen sachlichen Ausgleich der Interessen ging es zentral auch bei meinen Gesprächen mit Generalsekretär Breschnew in Oreanda im September vorigen Jahres. Wir drückten die Überzeugung aus, daß eine entscheidende Wende in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Sowjetunion und Polen und eine dauerhafte Zusammenarbeit zum Nutzen der heutigen und künftiger Generationen möglich werden sollen.
Dies gilt auch für die Grundfrage unseres Verhältnisses zu Polen. Ich fühle mich im Einklang mit der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes und seiner politischen Kräfte, wenn ich sage: Diese Frage liegt uns heute ebenso am Herzen wie im Dezember 1970.
Ein Vertrag ist ein Anfang. Der Austausch von Botschaftern, wirtschaftliche Zusammenarbeit, selbst die Lösung humanitärer Probleme werden die Hypothek vieler Jahrzehnte nur langsam abtragen. Wir wollen uns aber beharrlich um die innere, nicht nur auswärtige Normalisierung bemühen.
Die Entschließung, um die wir uns bemüht hatten und zu der ich mich schon geäußert hatte, greift einen Beschluß der NATO-Ratstagung vom Dezember 1970 auf, in welchem die Mitglieder der NATO die Verträge begrüßen als Beiträge zur Minderung der Spannungen in Europa und als wichtige Elemente des Modus vivendi, den die Bundesrepublik Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn herstel10896
len will. Sicherlich sind die Verträge Teil dieses Bemühens, und wir gehen davon aus, daß nun auch die Normalisierung unserer Beziehungen zu anderen Ländern des Warschauer Pakts gelingen wird.
Nur, niemand darf und wird glauben, daß damit die Ziele unserer Friedenspolitik gegenüber der Sowjetunion und Polen schon voll umschrieben wären. Auf beiden Seiten ist da zu viel an Geschichte, zu viel auch an leidvoller Erfahrung im Spiel, als daß sich dies - das sage ich auch nach dem Vortrag des Kollegen Bach als Mitberichterstatter des Ausschusses - in ein paar noch so wichtigen juristischen Formeln oder Betrachtungen einfangen ließe.
Das Jahr 1772 markierte den Beginn einer Politik, die die Existenz des polnischen Staates in Frage stellte. Das Jahr 1972, so hoffen wir, markiert den Beginn einer Epoche, in der die Polen in gesicherten Grenzen leben können.
({36})
Wir wollen und können nicht Unrecht in Recht verwandeln. Aber wir wollen der Kette des Unrechts zwischen den beiden Nachbarvölkern kein neues Glied hinzufügen.
({37})
So wie ,die Geschichte der Deutschen und der Polen verlaufen ist, kann es kein gleichgültiges Nebeneinander geben. Wir werden uns voneinander weg- oder aufeinander zubewegen. Diese Regierung ich darf sicher hinzufügen: dieses Hohe Haus will, daß die beiden Völker und in ihnen besonders die jungen Menschen sich finden über ,die Gräben und die Gräber der Geschichte hinweg. All das gilt auch für die Völker der Sowjetunion. Wir wissen, daß wir es hier mit einer Weltmacht und mit den. Interessen einer Weltmacht zu tun haben. Wir wissen, daß wir dieser Weltmacht nicht gegenübertreten können ohne Rückhalt bei unseren Freunden und Verbündeten. Aber wir wissen auch, daß es in der Sowjetunion Millionen von Menschen gibt, für die dieser Vertrag mehr ist als ein juristischer Akt im politischen Kräftespiel.
({38})
Dazu gibt es auf beiden Seiten zu viele Wunden. Dieser Vertrag bedeutet, daß wir alte Wunden vernarben lassen und keine neuen aufreißen wollen.
({39})
Er bedeutet, daß wir überall da zusammenarbeiten wollen, wo dies für unsere Völker und für Europa gut und nützlich ist.
Beide Verträge konnten nur nach gewissenhafter Prüfung, ja, nach ernster Gewissenserforschung unterschrieben werden. Wir betrachten sie heute wie damals als den Beweis unserer Reife und des Mutes zum Erkennen der Wirklichkeit. Das Ja zum Vertrag von Warschau wie zum Vertrag von Moskau bleibt zugleich ein Bekenntnis zur deutschen Gesamtgeschichte. Und ein klares Geschichtsbewußtsein verträgt weder unerfüllbare Ansprüche noch geheime Vorbehalte. Dies gilt für beide Verträge. Dies gilt für unsere Abmachungen mit der DDR. Die Abstimmung, die uns hier abverlangt wird, soll es bestätigen. Die Entscheidung, vor der das Parlament unserer Bundesrepublik steht, lautet nicht: dieses Vertragswerk oder ein anderes. Die Entscheidung lautet vielmehr: dieses Vertragswerk oder kein Vertrag.
({40})
Die Alternative heißt heute in Ost 'und West: Erleichterung oder Enttäuschung. Im Osten heißt sie: ermutigte Hoffnungen oder tiefe Erbitterung. Noch niemals hat Europa, nicht nur Westeuropa, ähnlich erwartungsvoll auf den Deutschen Bundestag geblickt.
({41})
Dabei stellt sich erstens die Frage: Würden unsere Verbündeten, würden unsere atlantischen und westeuropäischen Freunde die Bundesrepublik unterstützen, wenn nach Idem etwaigen Scheitern dieser Verträge ein neuer Versuch unternommen würde? Meine Antwort: Die NATO 'und die anderen westlichen Gemeinschaften haben sich so eindeutig für die Verträge ausgesprochen, daß keine der westlichen Regierungen in naher Zukunft ihre Unterstützung für eine Alternativpolitik bieten könnte.
({42})
Zweitens: Ist zu vermuten, daß sich die Richtung westlicher Ostpolitik insgesamt wesentlich ändert? Meine Antwort: Dies ist ganz unwahrscheinlich. Die Richtung, in Washington ebenso erkennbar wie in Paris und London, läuft - da können Sie „Vietnam" ruhig dazwischensagen ({43})
- ich würde nicht lachen, wenn heute das Wort „Vietnam" ausgesprochen wird -,
({44})
die Richtung läuft insgesamt, auf unseren Teil der Welt bezogen, auf einen möglichen Abbau der Gegensätze hinaus. Niemand darf neben der starken Tendenz zur Entspannung die starke Gefahr neuer Spannungen verkennen.
({45})
Europa ist bisher davon verschont geblieben, und wir sollten alles tun, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen,
({46}) um diesen Zustand nicht zu verändern.
({47}) Auch dies ist heute zu bedenken.
Drittens: Spricht irgendein vernünftiger Grund dafür, daß die sowjetische Führung durch eine negative Haltung gegenüber dem Vertrag zu positiven Reaktionen gegenüber Deutschland bewegt werden könnte? Meine Antwort: Alles spricht für das Gegenteil. Deshalb geht es jetzt auch nicht um irgendeine zusätzliche verbale Konzession Moskaus, sonBundeskanzler Brandt
dern um unsere eigene Konzession an die politische Vernunft.
({48})
Viertens. Kann man annehmen, daß eine Ablehnung der Verträge unser Verhältnis zu den Staaten zwischen Deutschland und Rußland vorteilhaft beeinflussen würde? Meine Antwort: Genau das Gegenteil würde eintreten. Jede Verschlechterung des westöstlichen Verhältnisses, zumal wenn es auf Ursachen in Bonn zurückgehen könnte, wäre ein Rückschlag für die Politik der Aussöhnung.
Fünftens. Ließe sich ein Nein zum Moskauer Vertrag dadurch rechtfertigen, daß man Ja allein zum Warschauer Vertrag sagt? Meine Antwort: Ein solcher Gedankengang beruht auf einer gefährlichen Verkennung der Wirklichkeit.
({49})
In Polen würde man meinen müssen, daß wir nach allem anderen auch noch politische Experimente auf ihre Kosten machen wollten.
({50})
Damit wäre das deutsch-polnische Verhältnis auf unabsehbare Zeit vergiftet.
Die Stellung, das Ansehen unserer Bundesrepublik in der Welt hat an Gewicht gewonnen. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Schon gar nicht dürfen wir uns durch solche rechtsradikalen Phantasten in Gefahr bringen lassen, die zu meinen scheinen, sie könnten den zweiten Weltkrieg doch noch nachträglich gewinnen.
({51}) Auch nicht durch linksradikale Wirrköpfe.
({52})
Im übrigen ist es jedoch, wie ich neulich während der Haushaltsdebatte dargelegt habe, eine irrige Vorstellung, daß sich aus verbesserten Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten nachteilige oder gar bedrohliche Auswirkungen auf unsere demokratische Grundordnung ergeben könnten.
({53})
Konrad Adenauer hat die Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft des Westens geführt. Niemand, der über allen Parteienstreit hinweg fest in und zu diesem Staat steht, kann ihn durch eine Rebellion gegen die konkrete Chance der Entspannung wieder partiell aus der westlichen Gemeinschaft herauslösen wollen.
({54})
Die ausdrückliche Billigung und Unterstützung unserer Ostpolitik durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten, durch den Präsidenten der Republik Frankreich, durch die konservative britische Regierung
({55})
geschieht doch nicht der Bundesregierung, der
Koalition oder mir zuliebe. Aber wir brauchen die
Übereinstimmung mit den Verbündeten wie den Sauerstoff zum Atmen.
({56})
Eine - wie immer motivierte - Auflehnung gegen die Interessengemeinschaft des Westens, in der unsere Sicherheit geborgen ist, würde das Bündnis belasten, würde seinen Charakter zersetzen, und dies würde Tendenzen ermutigen, die schlummernd immer vorhanden sind: die Neigung, sich über unsere Köpfe hinweg zu verständigen. Eine antideutsche Koalition war der Alptraum Bismarcks, der Alptraum Adenauers. Auch wir können nicht ganz frei von dieser Sorge sein. Wir dürfen nicht selbst dazu beitragen, daß aus der Sorge eine Bürde wird.
Schließlich - ich habe es mehrfach gesagt -: die schwierigen Fragen liegenzulassen, das hieße, sie der nachfolgenden Generation aufzubürden. Dies wäre ein nicht zu vertretendes Ausweichen vor der Verantwortung.
({57})
Meine Generation hat noch die Pflicht, den Jüngeren, die nach uns kommen, eine möglichst geordnete Erbschaft zu hinterlassen, ihnen dann aber auch zu sagen, was sie, die Jüngeren, durch demokratische Mitverantwortung dazu beitragen müssen, daß sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen.
({58})
Manche haben gesagt, durch weiteres Abwarten könne eine größere Bereitschaft der anderen Seite herbeigeführt werden. Ich meine: besorgniserregende weltpolitische Entwicklungen könnten sich eher zu unserem Nachteil auswirken. Außerdem deuten alle Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre darauf hin, daß die Bereitschaft der Sowjetunion in der deutschen Frage durch Zeitablauf nicht zugenommen hatte. Die Bedingungen wurden schlechter und nicht besser. Gemessen daran, ist jetzt viel erreicht worden. Ich glaube, wir können sagen: insoweit konnte der Grundstein für eine bessere Zukunft gelegt werden.
Wir Deutschen haben im übrigen mit Abwarten mehr als einmal entscheidende Möglichkeiten versäumt. Eingebracht hat eine solche Politik Katastrophen und sehr viel Leid. Denken wir an die Situation bei der Entlassung Bismarcks. Der Kurs blieb nicht der gleiche, wie Wilhelm II. gesagt hatte.
({59})
Die Reichsregierung schob eine Verständigung mit Großbritannien auf, um günstigere Bedingungen auszuhandeln, und jeder weiß, wie das endete.
Denken wir an den ersten Weltkrieg. Damals lehnte die tonangebende Richtung die 14 Punkte des Präsidenten Wilson ab, bis es zu spät war.
({60})
Denken wir an die Weimarer Republik, als sich ein
starkes Parteienlager weigerte, den Locarno-Vertrag
- die Aussöhnung mit Frankreich - ohne terri10898
toriale Revision hinzunehmen. Was daraus folgte, haben wir erlebt.
Und wenn von Weimar die Rede ist, sollte auch noch einmal Polen genannt werden. Professor Hajo Holborn schreibt im dritten Band seiner „Deutschen Geschichte der Neuzeit", bei einem Rückblick auf die Weimarer Jahre frage sich der kritische Beobachter - ich zitiere -, „ob die deutsche Außenpolitik nicht alles hätte tun müssen, um eine Versöhnung der Deutschen und Polen herbeizuführen".
In den fünfziger Jahren haben wir uns dann im Staat des Grundgesetzes auf einem wichtigen Gebiet erneut auf das Abwarten eingestellt oder einstellen müssen, und doch gab es bald keinen vernünftigen Grund mehr für die Mutmaßung, daß Aufschub zur Besserung führen würde. Nachweislich ist hingegen: dieses Vertragswerk erzeugt konkrete, handfeste Folgen für die Deutschen und insbesondere für Berlin, Resultate, die den Menschen, dem gesicherten Frieden und der Zukunft der Nation dienen. Ablehnen bedeutet ein unverantwortliches Risiko.
Vielleicht hilft dem einen oder anderen von uns der Gedanke an unser Nachbarland Frankreich, die Erinnerung an Präsident de Gaulle. Frankreich und die Franzosen mußten vor gar nicht so langer Zeit die Algerien-Krise durchkämpfen
({61})
mit einer Leidenschaft, die unseren Auseinandersetzungen gleichkam, mit blutigen Verirrungen, die uns glücklicherweise erspart geblieben sind.
({62})
Die Krise wurde durchgestanden. Inzwischen sind die Namen der meisten, die damals gegen General de Gaulle agierten, verblaßt. Geblieben ist die Entscheidung und Frankreichs neuer Weg. Die Geschichte hat das Votum des Präsidenten, das zur Entscheidung der Nation wurde, gewogen und es nicht für zu leicht befunden.
Ähnlich wird es auch bei uns sein. Jeder einzelne Abgeordnete hat seine gewichtige Stimme. Aber hier steht nicht die Zukunft einer Regierung, nicht die Zukunft einer Opposition, hier stehen nicht die Interessen dieser oder jener Partei auf dem Spiel. Wir haben alle eine Entscheidung, die Entscheidung für die Bundesrepublik Deutschland zu fällen.
Der Bundeskanzler spricht jetzt nicht als der erste Mann seiner Partei. Er spricht nicht für eine Koalition, sondern einzig und allein für diesen unseren Staat. Die Folgen eines Nein würden wir alle zu tragen haben, die Folgen eines Ja werden uns allen zugute kommen.
({63})
Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell eine zweistündige Mittagspause vereinbart. Ich darf folgendes bekanntgeben: Die Fraktion der CDU/CSU hat eine Sitzung um 14 Uhr, die Fraktion der SPD um 14.30 Uhr, die Fraktion der FDP um 15 Uhr.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15.30 Uhr.
({0})
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist, wie wir glauben - und zwar für keinen im Hause -, weder ein Tag des Triumphes noch ist dies ein Tag der Trauer. Ein Tag des Triumphes wird in diesem Hause erst sein, wenn das deutsche Volk im Einklang mit den Interessen seiner Nachbarn in Freiheit selbst bestimmen kann, wie es leben will.
({0})
Ein Tag der Trauer wäre dies, wenn wir etwa aus Gründen anderer oder aus Gründen, die wir selbst erfinden oder uns solange einreden, bis wir sie glauben, die Freiheit über unser eigenes Handeln verloren hätten und gezwungen wären, ein Ja zu sagen zu Entwicklungen, die unseren Überzeugungen und Interessen zutiefst zuwiderlaufen.
({1})
Das ist nicht so. Dies ist ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, der Mitglied eines wirksamen Bündnisses ist, in dem jeder, insbesondere der Parlamentarier, das Vorrecht genießt, nach sorgfältiger Prüfung ja oder nein zu sagen. Das ist hier die Lage.
({2})
Dies sollte - ich sage das trotz einiger Passagen der Rede des Herrn Bundeskanzlers - ein Tag der Nüchternheit, des Maßes und der Einsicht sein. Nüchternheit ist am Platz, weil wir uns alle etwas vormachen würden, wenn einer unter uns glaubte - und er müßte dann blind sein -, nicht in den Abgrund der möglichen Agonie des demokratischen Kräftespiels geschaut zu haben.
({3}) Das haben wir wohl alle gemacht.
Das eine Gebot des demokratischen Umgangs ist das der Parteilichkeit. Daran ist nichts Unehrenhaftes. Das andere aber, das wir allen Diktaturen voraus haben und das insbesondere der Kunst der Verantwortlichen anvertraut ist, ist die notwendige, gleichzeitige, gemeinsame Überzeugung von gemeinsamen Pflichten und Interessen. Es ist ein Kunststück, das zu zeigen, zu beweisen und durchzuhalten.
({4})
Dies ist, wie ich sagte, ein Tag des Maßes, weil uns, wie ich denke, in diesem Hause nach dem Ringen all der Tage klargeworden ist, wie weit hier jeder gehen kann, was er durchsetzen kann und was nicht, daß niemand über den Raum hinaus, den ihm die Verfassung zu politischem Handeln gibt, Einfluß nehmen kann.
({5})
Dies mag jeder im Sinne eigener Vorstellungen und Wünsche, Überlegungen und Vorhaben, des eigenen politischen Wollens bedauern, aber dies ist die Wirklichkeit unserer demokratischen Verfassung. Und ich füge hinzu: Ich glaube, je mehr Erfahrungen wir mit solchen Dingen sammeln, desto mehr erkennen wir doch die Weisheit unseres Grundgesetzes, das eben Machtausübung ebenso wie Einfluß zu teilen vermag. Und in der Lage sind wir, wie heute morgen gesehen worden ist.
({6})
Hier kann keiner mit dem Kopf durch die Wand, und wer das heute abend versuchen will, - ({7})
- Ja, bumm! Genau das ist es, und ich brauche es nicht zu erklären. Der Kopf ist nicht so stark wie die Wand, es sei denn, es handelt sich um eine Gummizelle.
({8})
Dies ist, meine Damen und Herren, ein Tag der Einsicht, weil, wie jeder gesehen hat, es nur eine gewisse Bandbreite für jeden von uns gibt. Deshalb meine ich - jetzt gucke ich einmal besonders die Kollegen auf der Regierungsbank und in den vorderen Sitzen der Fraktionen an -: Wir müssen ja nun sehen, was wir eigentlich aus dieser Lage machen. Das ist eine schwere Sache, eine schwere Entscheidung. Eine besondere Konstellation ist eingetreten. Das gebietet doch eigentlich, innezuhalten und die eigenen Positionen zu prüfen.
Davon hätten wir gern etwas mehr gehört, Herr Bundeskanzler; denn der zweite Teil Ihrer Rede war ja wohl für jeden Fall aufgeschrieben und hatte die reale Lage in diesem Hause, von der in den Verträgen die Rede ist, mindestens außer acht gelassen.
({9})
Ich bin froh, daß in diesem Hause niemand mehr bestreitet, daß wir uns, die Union, nicht erst jetzt, sondern schon vorgestern unter den vorigen Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger um Frieden und Ausgleich mit Ernst und Seriosität bemüht haben. Vielleicht haben nicht alle in diesem Hause, die schon hier waren, als die Jaksch-Resolution gemacht wurde, vergessen, was eigentlich dazu gehörte, diese mutigen er st en Schritte zu machen.
({10})
Das ist meistens ein bißchen schwieriger als etwas anderes. Deshalb, so glaube ich, sollten wir hier ruhig auch unseren Kollegen Schröder nennen, weil er daran wie die anderen Bundeskanzler besonderen Anteil hat.
({11})
Meine Damen und Herren, in diesem Hause sind, worüber ich mich freue, noch sehr viele, die in den Legislaturperioden der fünfziger Jahre hier waren. Auf jeden Fall sind es. zu viele, als daß hier eine Mehrheit nicht wissen könnte, mit welchem Ernst, welcher Festigkeit und welchem Erfolg Konrad Adenauer 1955 nach Moskau ging und dann mit welcher Sorge, welcher Gewissenhaftigkeit er in den Jahren von 1958 bis 1962 - wie später seine Nachfolger - Wege zu unserem großen Nachbarn im Osten suchte. Der Bundeskanzler selbst hat hier vor dem Hause doch seinen Respekt vor seinen Vorgängern bekundet, nachdem er alle vertraulichen Akten kenne. Also nehmen wir das mal weg: daß Friedenspolitik erst am 29. Oktober 1969 begonnen habe!
({12})
Ich meine, Friedenspolitik muß auch bedenken - jetzt appelliere ich an die Kollegen, die sich auch an die erste Hälfte der fünfziger Jahre erinnern -, daß es damals doch Situationen gab, wo die Kraft des Bündnisses nachzulassen drohte und die Friedenspolitik darin bestand, dies zu überwinden und das Bündnis eng zusammenzuhalten. Walter Hallstein könnte Ihnen eine ganze Vorlesungsreihe darüber halten; er ist ein Zeuge dieser Entwicklung.
({13})
- Bitte? - Das war, glaube ich, nicht ernst zu nehmen.
Das, meine Damen und Herren, sind doch unvergessene Beiträge für den Frieden und für die Menschenrechte hier. Warum sage ich dies? Weil hier zwischen den Zeilen doch wieder etwas von der Oberflächlichkeit, Geschichtslosigkeit und Erinnerungsschwäche von Leuten wie Wieland Deutsch zu hören war, als ob wir jemals den Menschen in Deutschland hinsichtlich der Chance der deutschen Einheit Sand in die Augen gestreut hätten.
({14})
Es heißt doch einfach blind sein wollen, wenn man übersieht, was es heißt, daß dieses Volk, seine Heimatvertriebenen und Flüchtlinge eingeschlossen, trotz der extremen nationalen Lage nicht dem Radikalismus verfallen ist. Dies war doch ein Beitrag zum Frieden, weil eben innerer und äußerer Frieden nicht zu trennen sind.
({15})
Es war ein wesentlicher Beitrag zum Frieden, die deutsche Politik allein europäisch anzulegen.
Deshalb ist es, wie ich finde, doch eigentlich arrogant, wenn Leute sagen, unser Volk sei so dumm oder jemand mache es so dumm oder versuche, es für so dumm zu verkaufen, daß man ihm sagen könne, die Wiedervereinigung liege hinter der nächsten Straßenbiegung. Ich kenne keinen Politiker der Union, der dies je gesagt hätte.
({16})
Wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Nein, dazu bedarf dieses Volk dieser Regierung und ihrer in dieser Frage bestimmt falschen Aufklärungspolitik nicht.
Herr Bundeskanzler, Sie haben mich in einer etwas hitzigen Debatte an Konrad Adenauer erinnert. Sie haben gesagt: „Da sitzen Sie nun auf dem Stuhl, den er früher als Vorsitzender innehatte. Wie verwalten Sie das Erbe? Daraus ist doch etwas ganz anderes geworden." Das tat weh. Ich nehme nicht
an, daß es das sollte. Er hat jenen Grundsatz geprägt - ich spreche deshalb so lange von ihm, um darzutun, was hier eigentlich los ist -, der auch für die heutige Politik gelten muß: Für uns steht nicht das Nationale, sondern das Menschliche an erster Stelle. Wir sind bereit, über vieles mit uns reden zu lassen, wenn unser Volk selbst bestimmen kann, wie es während der Teilung lebt. Fragen Sie doch einmal unser Volk. Ich bin gerne bereit, die Stimmen der Opposition im Haushaltsausschuß für so eine Meinungsumfrage zur Verfügung zu stellen. Ich habe den Kollegen Leicht jetzt zwar nicht gefragt, aber ich glaube, er wird mir erlauben, diese Erklärung abzugeben.
({17})
Fragen Sie einmal unser Volk, ob es Adenauer für einen Nationalisten oder für einen großen Realisten hält. Fragen Sie doch einmal, wer heute in diesem Volk und in der freien Welt Konrad Adenauer in einem Test hinsichtlich seines Freiheits- und Friedenswillens übertrifft. Das muß hier doch einmal gesagt werden.
({18})
- Meine Damen und Herren, Sie müssen mir doch erlauben, das zu sagen. Sie verstehen: Der Bundeskanzler hält hier heute die dritte Rede, in der er sagt: ... und dann Bismarck! und dann Adenauer!
Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen - und jeder darf dann dreimal denken. Dazu werden wir dann doch etwas sagen dürfen.
({19})
Wenn wir an dem Grundsatz der deutschen Einheit und am Recht der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts festhalten, so doch deshalb, weil wir wissen - und dies ist ein ernstes Argument für uns, für die jungen Menschen und für unsere Nachbarn in allen Himmelsrichtungen -, daß dieses Volk - wie oft hat es der Bundeskanzler Kiesinger von dieser Stelle aus amtlich gesagt! - nicht gesund bleiben kann und bleiben wird, wenn man ihm die Hoffnung nimmt, eines Tages so leben zu können, wie es das zusammen will. Das ist doch ein wichtiger Punkt.
({20})
Meine Damen und Herren, wir kennen natürlich die komplexe Interessenlage in Europa und in der Welt. Uns braucht keiner zu sagen, wo wir geographisch und machtpolitisch liegen. Das braucht uns keiner zu erzählen. Uns braucht keiner etwas von den Bedingungen des Atomzeitalters zu erzählen. Kein Mensch! Das kennen wir alles. Wir kennen die Machtlage. Meine Damen und Herren, das Ziel muß doch aber dasselbe bleiben! Oder haben wir nicht mehr die Courage und die Geduld, an dem Ziel festzuhalten, das wir gehabt haben, als es uns ökonomisch und sozial nicht so gut ging wie jetzt? Haben wir die Kraft nicht mehr? Unser Ziel ist eine ausgehandelte Lösung, die die Beseitigung der Ursachen der Spannung und der Gefahr zur Voraussetzung hat. Voraussetzung dafür ist doch aber, daß wir jetzt nicht den Weg für diese Lösung verbauen.
({21})
Deshalb, Herr Bundeskanzler - das sage ich auch den Kollegen und allen anderen, die zuhören; im konkreten Teil werde ich nachher noch näher darauf eingehen -, ist es, wenn wir jetzt um Begriffe wie „offenhalten" oder „zumindest nicht präjudizieren" ringen, doch kein Streit von Rechtsgelehrten oder von Pädagogen. Dahinter stehen doch die Fragen: Halten wir dies offen für die Zukunft? Tun wir jetzt das, was wir cien Nachkommen in dieser Frage schuldig sind? Das ist eine der Fragen.
({22})
Deshalb ist es eben erforderlich, den Charakter der Übergangsregelung, des Modus vivendi, des Vorläufigen, des Beschreibens und nicht des Festschreibens unmißverständlich zu machen. Wenn das nicht klar ist, wenn das im Zwielicht ist, wenn dies nicht zweifelsfrei ist, kann doch dieses auf das Selbstbestimmungsrecht verpflichtete Haus zu einer Entwicklung nicht ja sagen. Nach den Vorgängen seit gestern nachmittag bedarf es z. B. dieser zusätzlichen Klarheit.
({23})
Ich weiß, nun werden viele kommen und sagen: Da redet der also über Grundsätze, und das ist ja auch alles gut und schön. Warum tut er das? Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an eines erinnern, und zwar deshalb, weil sich manche - ich räume ein: mit einem gewissen Recht; ich werde dieses gewisse Recht präzisieren - des Berlin-Abkommens wegen besonders loben. Wer dies heute tut, darf eines nicht vergessen. 1958 gab es das Ultimatum gegen Berlin; der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin erinnert sich daran ganz genau. Was gab es damals von verschiedenen Seiten, auch aus Berlin, auch natürlich in Kreisen der Westmächte, alles für Pläne. Es gab alle möglichen Pläne, bis zum Sonderstatus und bis zur ideologischen Neutralisierung. Das haben wir doch alles in Erinnerung.
({24})
- Lassen Sie mich das ganz ruhig sagen, weil Sie mir nämlich in einem zustimmen; denn damals haben Sie ja mit an der richtigen Front gekämpft.
({25})
- Nein, verzeihen Sie, ich war an einem Punkt angelangt und wollte einen anderen Satz sagen.
({26})
Herr Kollege Mattick, darf ich folgendes sagen. Ich habe das so gemeint - ({27})
- Herr Kollege Wehner, ich wünschte, Sie täten, wenn Sie uns hier laut ansprechen, einmal das, was ich jetzt tue.
({28})
Ich habe in dieser Lage, in der wir alle hart arbeiten - ich komme darauf zurück -, natürlich nur eine Punktation. Auf einen Zuruf des Kollegen Mattick habe ich gesagt: damals haben wir zusammengewirkt. Dies wollte ich sagen und gar nichts anderes.
Jetzt möchte ich folgendes sagen: Wir haben doch etwas erreicht. Wir haben damals zusammen mit der Bundesregierung und allen anderen einen kühlen Kopf und die Nerven behalten und gesagt. Alle diese zu billigen Angebote machen wir nicht. Dann hat man sich eine Zeitlang von den verschiedensten Seiten beschimpfen lassen müssen: Kalte Krieger, keine Realisten, das ist doch nicht zu machen! Das hat man damals durchgehalten. Das heißt, die Verteidigung von Grundsätzen - deshalb bringe ich dies, und das sollte keinem weh tun - zum richtigen Zeitpunkt ermöglicht die bessere Lösung zum richtigen Zeitpunkt. Das ist der Grund, und hier sollte sich niemand beschwert fühlen, selbst nicht der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschland.
({29})
Es ist also nicht so, als wäre das Festhalten an Grundsätzen und an Rechtspositionen ein Ladenhüter, sondern das ist sehr oft, vor allem im geschichtlichen Prozeß, die Voraussetzung dafür, daß es zu einem späteren Zeitpunkt bessere Lösungen gibt. Ich betone hier: Das Berlin-Abkommen, an dem wir manches zu kritisieren haben, ist natürlich besser als das, was 1958 von manchen ins Gespräch gebracht wurde. Jetzt, glaube ich, ist es nun wirklich klar, und jetzt kann sich nur noch aufregen, wer sich aufregen will. Ich will mich hier nicht aufregen.
Was den internationalen Zeitplan betrifft - damit leite ich zu den aktuellen Dingen über -, so muß ich doch sagen, Herr Bundeskanzler, daß sich Ihre Regierung dieses Arguments etwas willkürlich bedient.
({30})
Ich sage sehr vorsichtig: etwas willkürlich bedient. Ich komme in anderem Zusammenhang auf diesen Punkt zurück. Ich teile völlig das, was Sie vorhin mit sehr ernstem Gesicht, weil es dazu allen Anlaß gibt, über den Ernst der internationalen Lage mit dem Blick auf Vietnam gesagt haben. Daß das ein zsuätzliches Argument für Nüchternheit und Besonnenheit ist, haben wir wohl alle in diesem Hause begriffen.
Es war aber ein Schlaglicht auf die internationale Lage, daß die plötzliche Rückkehr des amerikanischen Außenministers passierte. Wenn der wichtigste Termin, den es überhaupt gebe, nun die Verabschiedung und die Beschlußfassung über das Vertragswerk hier wäre - und so wird es doch dargetan -, hätte er sich doch mindestens die fünf Stunden genommen, um mit der Regierung und mit dieser Opposition die neueste Lage zu erörtern.
Ich will da gar nicht weitergehen. Aber Sie sollten die internationale Lage nicht so willkürlich interpretieren. Auch was die Zustimmung oder die Nichtzustimmung anderer Regierungen betrifft, so haben Sie sich, Herr Bundeskanzler, hier heute mit sehr starken Worten bewegt. Ich möchte Ihnen dazu nur sagen: Sie haben sicherlich nicht überhört, was der amerikanische Außenminister dazu gesagt hat, nämlich einen einzigen Satz: Dies ist eine deutsche Sache. Und deshalb wollen wir sie hier auch unter uns abmachen und nicht mit Argumenten anderer.
({31})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch hinzufügen, daß der Zeitdruck, der hier hergestellt wird, auf den ich auch im einzelnen eingehen werde, doch deutlich macht - das zu sagen müssen Sie mir schon erlauben -, daß auf seiten der Koalition - Sie werden uns ja sicherlich auch noch etwas ins Stammbuch schreiben - die Zeit des Erfahrungssammelns hinsichtlich der wirklichen parlamentarischen Lage vielleicht doch noch nicht ganz gelangt hat. Denn hier ist eine Situation, wie wir sie heute morgen gesehen haben. Wer trotzdem in dieser ungeklärten parlamentarischen Situation
({32})
ein Vertragswerk, das einen so großen Rang hat, wie die Regierung behauptet,
({33})
heute hier auf jeden Fall zur Abstimmung bringen will,
({34})
der handelt nicht nur unverantwortlich hinsichtlich seiner eigenen Einlassung und den Partnern gegenüber; sondern ich füge eines hinzu: dies würde ich auch für unverantwortlich halten im Blick auf den inneren Frieden in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu sage ich nachher noch ein paar Sätze.
({35})
Sie, Herr Bundeskanzler, haben in einer vorsichtigen Form, die ich verstehe und die bei der Lage angemessen ist, den Beitrag der Opposition zu den Berlin-Abkommen und zu den anderen Fragen gewürdigt. Das war ein Ton, der, glaube ich, zu dieser Debatte paßte. Ich finde, das muß man auch anerkennen. Aber da möchte ich doch hinzufügen - und dies ist, glaube ich, denen, die es vorher nicht glaubten, in den letzten Tagen deutlich geworden -: Wir haben hier das „so nicht" nicht als einen Vorwand gesagt, sondern wir haben das gemeint. Das war eine Alternative. Und dann haben wir immer gesagt: keiner fragt uns: „Wie denn?". Wir haben das grundsätzlich formuliert. Ich glaube, es kann nun niemand mehr sagen, daß wir die Frage „wie denn?" nicht beantwortet hätten - vielleicht allerdings noch nicht sichtbar genug für das ganze Haus, weil wir ja noch nicht zum Ende gekommen sind. Aber ich weiß nicht, ob wir zum Ende gekommen sind; das muß der Bundeskanzler wissen.
Nun konkret und sehr präzise zu der aktuellen Lage, zunächst in drei Punkten zum Zeitfaktor. Weil es, glaube ich, wichtig ist, im ganzen Hause möglichst viel Klarheit und wechselseitige Information zu geben, benutze ich gern diese Gelegenheit, beim Zeitfaktor von folgendem auszugehen. Unter uns gab es nach der Freitag-Rede des Bundeskanzlers eine Überlegung, ob wir sagen sollten: na, dieser Versuch, etwas Gemeinsames herzustellen, ist doch also
nur glaubhaft, wenn die Regierung vorher erklärt, wir stehen nicht unter Zeitdruck, wenn sie also nicht die ganze Zeitplanung vorwegnimmt. Das war die eine Überlegung.
Die andere Überlegung, die sich schließlich durchgesetzt hat, war die, zu sagen: nein, versuchen wir, zunächst festzustellen, ob es in zentralen Punkten eine Chance gibt, einander näherzukommen. - Das haben wir dann versucht, freilich in der Hoffnung, daß dann, wenn das Gefühl, man könne sich näherkommen, da sei, im selben Ausmaß der Zeitdruck etwas weniger wichtig würde.
Nun, Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in einer vorsichtigen Form Ihre Eindrücke und Wertungen von dem bisherigen Gang dargetan. Es war interessant, wie Sie das werteten. Aber dann können Sie unmöglich hier zugleich diesen Zeitdruck hinsichtlich der Abstimmung heute aufrechterhalten. Das beides zugleich geht auf gar keinen Fall!
({36})
Es entstand dann immer mehr Hektik mit der wachsenden Gefahr, daß hier Flüchtiges und deshalb Unsolides und deshalb Unverantwortbares entstehen könnte. Ich glaube, dies wäre bei diesem Anlaß besonders unverantwortlich. Auch dieses Parlament sollte, wie das sonst in Deutschland üblich ist, solide Arbeit zu leisten sich bemühen.
Diese Gefahr wuchs gestern so an, daß wir heute - und so mußten wir uns gestern entschließen - nur darum baten, angemessene Zeit zu gewähren. Ich will einmal versuchen, dies den Kollegen hier zu erklären, weil ich weiß, daß bei Ihnen manche glauben, wenn wir sagten „Zeit", meinten wir ganz etwas anderes. Gehen Sie mal davon aus, daß sich die Führungen hier im Hause davon überzeugt haben, daß in dieser Lage mit Vorwänden nichts zu wollen ist. Wenn wir sagen „Zeit", meinen wir: Wir wollen wirklich alles ausloten, um hier etwas erreichen zu können. Das ist der Punkt, und das meinen wir dann auch, und sonst meinen wir damit überhaupt gar nichts. Sonst hätten wir das als Vorbedingung gestellt.
Sehen Sie, ich hatte meiner Fraktion gesagt - die Fraktion hat das gewünscht -, daß wir einen ganzen Tag für die Entscheidung brauchen, und so wie das bei uns ist, wünscht dann die Fraktion - ich erzähle das hier -, daß der Vorsitzende dabei ist; mit Recht. Dieser ganze Tag, den wir uns nehmen wollten, verlief so, daß wir uns morgens um andere Sachen kümmern mußten, die mit dem Bemühen zusammenhingen, zusammenzukommen, daß wir uns sogar aufteilen mußten. Die eine Abteilung, Redaktion, machten die Kollegen Strauß und Marx, die andere Abteilung machten Stücklen und ich. Da waren wir ganz verteilt und mußten deshalb der Fraktion Zeit wegnehmen. Dann gab es das Gespräch mit dem Botschafter Falin; das nahm uns zwei Stunden von dem gestrigen Tag. Dann gab es die Entwicklung nachmittags, und da war ich nicht der einzige, der sagte: Jetzt brauchen wir ein bißchen Zeit, um Ruhe zu haben; nicht wahr, Herr Bundeskanzler? Das hat uns wieder zwei Stunden weggenommen. Da können Sie sich ungefähr ausrechnen, was von dem gestrigen Tag, den die Fraktionen ganz zu diskutieren wünschten, für diese Fraktion übrigggeblieben ist. Das sollte man hier einmal würdigen.
Deshalb sage ich: Wir haben heute morgen darum gebeten, ohne die möglichen Tricks der Geschäftsordnung. Wir haben den Platzvorteil der einen möglichen Stimme - wenn es umgekehrt gewesen wäre, hätten wir heute morgen gewonnen, wie Sie wissen
aufgegeben, weil wir hier wirklich nicht taktieren wollten. Wir meinen das, was wir sagen.
({37})
Angemessene Zeit wollten wir haben. Warum? Weil es unmöglich war, für alle Kollegen jene Klarheit und jene Übersicht sowie jenen Stand der Information und der Diskussion herzustellen, ohne die kein Abgeordneter seine Gewissensentscheidung mit der ihm gebotenen Sorgfalt treffen kann.
({38})
In dieser Lage baten wir um Vertagung und erklärte ich gestern abend - das wollte ich dem Kollegen Wehner sagen, weil er seiner Fraktion dazu etwas erklärt hat; das ist nachzulesen und war auch über die Schirme zu sehen -: „Wer jetzt etwas Vernünftiges erreichen will, muß sich Zeit nehmen. Wir werden uns morgen bemühen, die Sache nicht auf die Tagesordnung zu bringen. Ich selbst gucke nicht mehr durch, und wenn man uns zwingt, morgen zu lesen, dann werden wir mit Nein stimmen müssen." Das haben wir gestern abend beschlossen und gesagt. Das ist doch eine ganz klare Situation.
Es gibt nämlich, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einen Zusammenhang zwischen Zeitplanung und Solidität der Arbeit. Das sollten gerade die Kollegen von uns, die im Gewerkschaftsleben mit Tarifverträgen zu tun haben, wissen. Da gibt es ja Abreden, welche Zeit zumutbar ist.
({39})
- Na gut, ich nehme das zur Kenntnis, meine Damen und Herren. - Es gibt also - dies wird keiner bestreiten - einen Zusammenhang zwischen Zeitplanung und Solidität der Arbeit, und das gilt auch für ein Parlament. Die Verfahrensregeln in den Fraktionen und im Hause haben den guten Sinn, daß keiner überfahren wird.
({40})
Es sind Schutzvorschriften im Hinblick auf Art. 38 des Grundgesetzes.
Es gibt auch - und das sage ich, wie ich hinzufüge, auch für mich persönlich, aber sicher für alle - einen Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit und der Verantwortungsfähigkeit. Ich glaube, jeder von uns war einmal in der Lage, sagen zu müssen: „Du bist jetzt nicht auf der vollen Höhe deiner Leistungsfähigkeit, weil du zu sehr strapaziert bist; in der Lage möchtest du folgende schwere Verantwortung nicht übernehmen." Das ist eine ganz normale Erfahrung, und gerade das kann doch ein Gesetzgeber nicht für sich selbst leugnen. Wir verantworten doch direkt oder indirekt z. B., daß ein Fahrer eines Omnibusses oder eines Lastwagens bestraft wird, wenn er zu viele Stunden fährt; daß ein
Pilot nur dann fliegen darf, wenn er seine Ruhezeiten hatte; daß der Soldat sich nur beschweren darf nach Schlafen und 24 Stunden. Warum räumen wir uns diese selben Vernunftgründe nicht ein und stellen uns unter einen Zeitdruck, bei dem nichts Gutes herauskommen kann?
({41})
Man hat uns diese Zeit von gestern auf heute nicht gegeben. Dies war unverantwortlich.
Zweitens zur parlamentarischen Lage: Was hier hineingehört und worüber wir alle nicht reden, obwohl es natürlich wirklich zu den wichtigsten Punkten gehört, will ich mit einem Satz abmachen: Die Bundesregierung hat sich entschlossen, weiterzuregieren, obwohl der Kanzlerhaushalt abgelehnt wurde. Das verantwortet die Regierung selbst.
Die Abstimmung von heute morgen weist aus, wie die parlamentarische Lage ist. Sie macht sehr wohl erkennbar, wie heute abend, wenn dieser Zeitdruck bleibt, die Entscheidung zur Sache aussieht. Ich halte es für unverantwortlich, daß die Bundesregierung ohne gesicherte Mehrheit diese Diskussion und diese Abstimmung mit einem ungewissen Ausgang für diese wichtige Sache eingeht,
ungewiß nur deshalb, weil hier zwar alle da sind und wir alle wissen, wie jeder denkt, aber keiner weiß, ob plötzlich - das haben wir doch in diesem Parlament erlebt - einer aus gesundheitlichen Gründen hier nicht mehr ganz mitwirken kann.
Meine Damen und Herren, ich füge hinzu, kein internationaler Fahrplan zwingt uns. Wir können doch nicht übersehen: alle Bündnispartner atmen auf, seit wir uns hier um eine gemeinsame Außenpolitik bemühen.
({42})
Alle hoffen, daß dies Erfolg hat, und alle Terminplanungen sind demgegenüber absolut zweitrangig.
({43})
Ich fürchte, Herr Bundeskanzler, daß das heutige Drängen auf Entscheidung, wenn es dabei bleibt, auch bei unseren Bündnispartnern Kopfschütteln hervorrufen wird, und dies insbesondere anläßlich des doch bewiesenen, anerkannten und bestätigten guten Willens der Opposition.
Im Volk wird das nicht anders sein. Wir wollen doch bei einem Streit, der bis in die Familien geht, eine Lösung suchen, und wir wollen doch versuchen, das befriedigend zu beenden. Das darf nicht an einer Zeitfrage scheitern.
({44})
Herr Bundeskanzler, ich habe zu Beginn dieses parlamentarischen Patts gesagt, die Ursache all der Dinge im Parlament, die Ursache des Zerbröckelns der Koalition, des innenpolitischen Klimas, der Kluft, der Sorgen um die politische Stabilität, die Ursache all der Dinge liegt im Streit um die Außenpolitik. Wer hier eine Lösung will, muß nicht an Symptomen kurieren, sondern muß versuchen, dieses Problem von der Ursache aus zu lösen. Das, meine Damen und Herren, ist wichtig, und ich wiederhole den Satz: Für das Richtige ist es nie zu spät.
Ich komme nun zum Inhalt dessen - das ist der dritte Punkt -, was hier trotz der Erwägungen meiner ersten zwei Punkte durchgezwungen werden soll. Meine Damen und Herren, ich möchte hier vor dem Hause zunächst als Abgeordneter erklären, daß ich zu dieser Stunde nicht imstande bin, nach den verwirrenden Vorgängen seit gestern nachmittag den Inhalt und das Ausmaß dessen, worüber wir heute unter Zeitdruck abstimmen sollen, so klar, so präzise, so sorgfältig zu erkennen, wie ich es erkennen muß, wenn ich in dieser wichtigen historischen Gewissensentscheidung verantwortlich handeln will.
({45})
Weil dies bei mir so ist, habe ich als Fraktionsvorsitzender meinen Kollegen den Rat gegeben, nein zu sagen, falls man uns heute zur Abstimmung zwingt. Denn wir können zu nichts ja sagen, was wir nicht genau kennen, was wir uns nicht genau haben überlegen und sorgfältig unter uns haben diskutieren können.
({46})
- Ich bringe das nachher mit der Begründung. Sie sollten sich das wirklich noch anhören; das wäre, glaube ich, schon ganz richtig. Sie können dann hier darauf reagieren, wie Sie es für richtig halten.
Ich möchte hinzufügen: Meine Fraktion hat diesen meinen Rat einstimmig angenommen.
({47})
Und man wird uns im Volk verstehen; denn kein Verantwortlicher unterschreibt einen Vertrag, ohne das Kleingedruckte und die Rückseite wirklich gelesen und verstanden zu haben.
({48})
Ich weiß - das sage ich an die Adresse der Bundesregierung -, daß die Koalition hier natürlich theoretisch einen Einwand erheben könnte, nämlich den, daß der, der sich in dieser Lage befinde, wie ich sie soeben beschrieben habe, alle Gesprächsangebote der Koalition annehmen müsse. Hierauf möchte ich gleich erwidern.
Einmal möchte ich auf den schon betonten Zusammenhang zwischen Hektik, Solidität und Leistungs- und Verantwortungsfähigkeit hinweisen, und ich möchte sagen: auch zur Entgegennahme verantwortlicher Informationen und zu ihrer Verarbeitung braucht man Zeit. Ungeduld und Zeitdruck führen zu nichts Gutem.
Heute früh sah es praktisch so aus, daß um 8 Uhr Botschafter Falin dem Kollegen Stücklen und mir die Freundlichkeit erwies, uns einen Besuch abzustatten. Um 8.30 Uhr hatten wir eine Sitzung der Bundestagsfraktion. Für den gleichen Zeitpunkt lag eine Einladung des Kanzlers und des Außenministers zu einem neuen Gespräch vor. Und für 9 Uhr war der Beginn des Plenums vorgesehen. Wer diesen Zeitplan kennt, muß einräumen, daß
in ihm für verantwortliche Aufklärung, Information und Meinungsbildung nichts möglich war.
({49})
Nun hatte ich eigentlich erwartet, Herr Bundeskanzler, daß Sie hier im Hause zu dem entscheidenden Punkt die nötigen und möglichen Informationen geben würden. Das ist nicht - oder bisher nicht - geschehen.
Das Zweite, was ich hier anmerken möchte - und das, glaube ich, ist doch ganz wichtig -: Das, was wir hier, ob wir wollen oder nicht, bei im übrigen unveränderter Gegnerschaft zwischen Regierung und Opposition wegen des parlamentarischen Patts ernsthaft versuchen müssen, nämlich eine gemeinsame Außenpolitik herbeizuführen, um auf diese Weise die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zu stabilisieren, gehört - das wird unstreitig sein - zu den menschlich und politisch schwierigsten Unternehmen, die es überhaupt gibt, in einer parlamentarischen Demokratie schon ganz sicher. Mir ist kein Vorgang ähnlicher Art erinnerlich.
Dabei spielt natürlich die tatsächliche Chancenungleichheit zwischen Regierung und Opposition nicht nur hinsichtlich technischer und anderer Ausstattungen eine Rolle, sondern auch - sagen wir das doch offen - hinsichtlich der Verfassungsvorteile, die der Kanzler gegenüber seiner Koalition hat, während sich der Führer der Opposition in allem mit seinen Kollegen sehr viel mehr abstimmen muß, dazu gezwungen ist und dazu mehr Zeit braucht. Wenn diese Chancenungleichheit ausgeglichen werden soll, dann muß mindestens Zeit sein. Ich kann nur sagen: dieses Kapitel der letzten vierzehn Tage wird viel Stoff sein für Politologen, für Juristen, für Soziologen, für Historiker, völlig neue Lehrbücher zu schreiben über das, was hier geht, und das, was hier nicht geht. Meine Damen und Herren: der Versuch, dieses schwierige Stück zu machen, konnte und kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten, was immer sonst sie trennt und was sie gegeneinander haben, einander glauben. Das ist das Wichtigste.
({50})
Es ist die Basis jedes möglichen Gelingens.
Weil es so ist, haben wir folgende Methode und folgenden Inhalt unserer Politik für diese ganze Unternehmung gewählt. Unsere Position ist bekannt. Sie kennen sie aus der ersten Lesung. Ich verzichte, sie in Erinnerung zu rufen.
Wir übersehen auch nicht, Herr Bundeskanzler, was inzwischen, auch 'dank der Festigkeit der Opposition, verändert und verbessert ist. Keine Frage! Weil es also das Wichtigste ist, einander zu glauben, haben wir 'gesagt: Gehen wir doch hin und schreiben die Worte der Bundesregierung auf - nicht flüchtige Worte, sondern amtliche Worte -, machen das zusammen zu einer gemeinsamen Sache, und dann wollen wir doch einmal sehen, wie wir das als ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland, als eine verbindliche Aussage der Bundesrepublik Deutschland möglichst weit und möglichst stark der
Sowjetunion gegenüber verbindlich machen. Das war unsere Politik, und diese Politik war notwendig. Denn wer die Berichte heute morgen gehört hat, weiß, daß das alles um einen Punkt kreist: Ist das, was hier vorliegt, vorläufig, oder ist es endgültig? Dann muß man eben versuchen, hier möglichst viel Klarheit zu schaffen.
Wir übergaben also der Bundesregierung das, was wir „Rohmaterial" genannt haben. Ich möchte daraus wenigstens einige wenige Sätze vorlesen, weil sie so wichtig sind. Der erste Punkt dieses Rohmaterials heißt - ich zitiere -:
Der Vertrag führt einen Modus vivendi herbei, der die deutsche Frage bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland offenhält.
Quelle dieses Satzes, den wir vorschlugen: die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU vom 11. November 1971, Bundestagsdrucksache VI/2828.
Der zweite Satz:
Der Deutsche Bundestag bekräftigt erneut, daß das deutsche Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung besitzt und daß die Politik der Bundesrepublik Deutschland eine Wiederherstellung der nationalen Einheit im Rahmen einer europäischen Friedensordnung anstrebt.
Quelle: dieselbe wie eben und zusätzlich die Denkschrift der Bundesregierung zum Vertragswerk.
So geht das weiter. So haben wir insgesamt fünf Punkte - ich will sie hier nicht noch einmal in die Debatte einführen -, die sämtlich aus Sätzen bestehen, die die Bundesregierung über die deutsche Auffassung zum wirklichen Vertragsinhalt hier dem Haus verbindlich gesagt, aufgeschrieben hat.
({51})
Das war fair, weil es hieß: Gut, wir müssen einander glauben, sonst kommen wir nicht zusammen. Dies war, glaube ich, fair und war auch in Ordnung.
Ich muß hier sagen, daß es auf unserer Seite zu den schweren Punkten der letzten 14 Tage gehörte und uns natürlich auch Kräfte nahm, daß wir - ich sage dies jetzt ganz ruhig, weil wir uns am Schluß geeinigt haben - zwischendurch immer wieder feststellen mußten, auf welche Art, mit welchen Argumenten man sich auf seiten der Regierung weigerte, die eigenen Sätze in eine gemeinsame Entschließung zu schreiben.
({52})
Wir haben dann schließlich - ich glaube, man sollte erwähnen, daß dies den Kollegen Ehmke, Genscher, Strauß und Marx gelang - gestern einen gemeinsamen Text erarbeitet, dem wir, wenn sonst alles stimmt - darauf komme ich noch -, zustimmen können.
Damit komme ich zum Stand der Unklarheit, den ich hier bei aller Diskretion so formulieren möchte. Ich sage zunächst einmal: unser Partner hier in dem Haus ist diese Bundesregierung und nicht die Sowjetunion. Das ist sehr wichtig. Ich habe heute nacht
einen Brief des Bundesaußenministers bekommen, von dem ich sehe, daß er inzwischen durch den Kollegen Wehner sowohl dem Inhalt nach wie der Tatsache nach seiner Fraktion gegenüber bekanntgegeben worden ist. Ich will mich dazu hier jetzt nicht äußern. Aber das setzt mich in den Stand, den Inhalt dieses Briefes, Herr Bundesaußenminister, weil er jetzt auf dem Papier der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion mitgeteilt ist - ich will dazu gar nichts sagen -, in die Debatte einzuführen.
Da heißt es: „Was die Bedenken der sowjetischen Seite betrifft". Ich lasse einmal das Wort „Bedenken" und nehme es, wie es ist. „Bedenken" haben Sie formuliert; gut, Sie müssen das wissen, Sie haben da Ihre Rechtsberater; die Worte sind ja jetzt hier alle wichtig.
Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 und den zweiten Satz der Ziffer 5. Der letzte Satz der Ziffer 2 heißt:
Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen.
({53})
Quelle: wieder aus den Regierungsdokumenten. Dazu gab es also Bedenken. Der Sprecher der Bundesregierung, der doch sicherlich nicht ohne den Auftrag des Kanzlers Erklärungen abgibt, erklärte gestern abend, die Sachen, die hier strittig seien oder über die überhaupt geredet werde - das wollen wir einmal offenlassen -, das seien Fragen technischer Details. Mit Verlaub, dies ist für uns ein zentraler Punkt.
({54})
Wenn ich gestern abend nicht mehr zu Gesprächen zur Verfügung stand, - ich sage hier ganz offen, wie es ist; ich habe mich gefragt: Wo bist du jetzt? Jetzt hast du einen zentralen Punkt, was die Worte der Regierung betrifft, wo wir einstimmig waren, und plötzlich heißt es: Das sind technische Details. Ich wußte nicht mehr, woran ich war. Denken Sie daran: Man muß einander vertrauen und glauben können.
({55})
Es war sicher klug, und es war sicher ein Zeichen guter Nerven, gestern abend nur den Beschluß vorzuschlagen - die Fraktion ist dem einstimmig gefolgt -, heute die Vertagung zu erbitten und in
dieser Stunde keinen anderen Beschluß - vielleicht aus der Fülle des Gemüts und emotionaler Rufladung - zu fassen.
Der andere Punkt, der nach diesem Brief strittig war - nach den „Bedenken" - war der zweite Satz der Ziffer 5. Ich lese ihn vor:
Der Deutsche Bundestag hält angesichts der Tatsache, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im ganzen noch aussteht, den Fortbestand dieser Rechte und Verantwortlichkeiten für wesentlich.
Gemeint sind die Rechte der Vier. Das ist ein fundamentaler Satz. Da steht ,daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im ganzen noch aussteht. Das ist kein „technisches Detail".
({56})
Sehen Sie, Herr Außenminister, ich frage, nachdem ich erst einen Satz Ihres Briefes vorgelesen habe - haben Sie keine Sorge, ich mache das nicht weiter -: Welches sind die Bedenken, die vorgetragen worden sind? Wie sind sie ausgeräumt?
(Bundesminister Scheel: Lesen Sie doch den Brief vor, sonst werde ich ihn gleich vorlesen!
Lesen Sie doch alles vor! - Bundesminister Dr. Ehmke: Steht doch im Brief drin! -
Das ist doch alles Spiegelfechterei hier!)
- Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei diesem ernsthaften Bemühen des Oppositionsführers, der auch in dieser Stunde versucht, nicht alle Türen zuzuschlagen, mir Spiegelfechterei vorwerfen, verwahre ich mich von dieser Stelle dagegen.
({0})
Dann wird mir gesagt: Lesen Sie den Brief vor! Ich mache es doch. Der nächste Satz heißt:
Was den zweiten Satz der Ziffer 5 angeht, konnten sie
- gemeint sind wohl die Bedenken
leicht ausgeräumt werden.
Durch welche Erklärung und wie, ist in diesem Brief nicht enthalten.
({1})
- Soll ich den Brief hier wirklich ganz vorlesen, oder welchen Brief meinen Sie?
(
Ja.)
Ich mache das doch. Glauben Sie einmal ganz, was ich hier soeben gesagt habe. Vielleicht kann man auch hier im Parlament noch etwas machen, was sonst nicht geht. Nehmen wir uns nur die Zeit, wenigstens jetzt einander zuzuhören!
Also, es geht nun weiter:
Zum letzten Satz der Ziffer 2 habe ich dem Botschafter noch einmal bestätigt, daß die Bundesrepublik zu den Verpflichtungen, die sie in Art. 1 des Vertrages mit der Volksrepublik Polen übernommen hat, steht. In diesem Artikel haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der bestehenden Westgrenzen Polens Stellung genommen, und zwar aus wohlerwogenen Gründen nicht. Wir sind mit der Volksrepublik Polen aber übereingekommen, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens für die Dauer der Existenz der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in Frage zu stellen.
Diese Verdeutlichung, die von mir sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Deutschen Bundesrat im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge vorgetragen worden ist, hat die wünschenswerte Klarheit geschaffen.
In einem Gespräch, das ich heute nachmittag mit dem Leiter der polnischen Handelsvertretung, Herrn Kwiatkowski, gehabt habe, habe ich auch ihm den in der Entschließung formulierten letzten Satz der Ziffer 2 im gleichen Sinne interpretiert. Nach dieser Verdeutlichung des Textes erklärt der Botschafter Falin, daß er die unveränderte Entschließung entgegennehmen werde. Ein Widerspruch der sowjetischen Regierung sei nicht zu erwarten.
Bleibt doch mithin eine Reihe von Fragen, wie andere Punkte, die hier involviert sind, beantwortet sind, z. B. die Frage, Herr Kollege Scheel, auch nach der Ziffer 5, wo es ja nur heißt: „Das konnte leicht ausgeräumt werden". Nur muß man wissen: Wie? Denn über eine gemeinsame Entschließung, die nur noch durch einen Brief des Bundesaußenministers zu verstehen ist, den ich heute morgen bekomme und den ich unmöglich bis heute morgen um 9 Uhr in meiner Fraktion diskutieren kann, muß man doch natürlich nachdenken können. Eine Entschließung, zu der es nur eine Interpretation gibt, muß man doch zumindest erörtern können.
Ich frage mich nun - dies muß man doch wissen -, mit welchen Erklärungen zu den übrigen Punkten die Bedenken der Sowjetunion ausgeräumt worden sind. Hier kommt es auf jedes Wort an. Das muß man auch zu den anderen Fragen - zu einer Frage ist es geklärt, Herr Kollege Scheel - lesen können, weil wir doch alle wissen - das haben wir doch nun beim Redigieren der gemeinsamen Entschließung gemerkt -, wie es hier wirklich aufs Wort ankommt. Wir müssen wissen: Welche Interpretation gilt dazu, welchem Inhalt sollen wir also zustimmen?
Und es gibt ein anderes! Welchen Rang - und dies bitte ich sehr sorgsam anzuhören; ich habe nicht die Absicht, hier unser aller, ich nehme mich dabei nicht aus, angegriffenes Stabilitätskostüm noch zu überanstrengen, das will ich nicht -, welchen Rang ist die Bundesregierung selbst bereit dieser Entschließung zu geben?
({0})
Eine sehr wichtige Frage! Denn wir haben doch gesagt: Zwei Abteilungen, wir nehmen die Worte der Regierung, machen daraus ein gemeinsames Papier, und dies muß auch gegenüber dem Partner verbindlich werden. Das war unsere Einlassung.
Gut, nun sind wir bei dem zweiten Punkt. Hier schaue ich nicht durch. Herr Kollege Wehner erklärte heute dazu - und ich zitiere dies; ich glaube, es ist wichtig genug, es kann ja alles aufgeklärt werden -, es handele sich hier um eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages und nicht um ein Dokument der Bundesregierung.
({1})
Welche Folgerungen man daraus im Innenverhältnis von Bundestag und Bundesregierung ziehe, sei eine Frage für sich.
({2})
Eine Entschließung des Deutschen Bundestages aber sei nichts, was zum Außenverhältnis der Bundesrepublik gegenüber anderen Staaten gehöre.
({3})
Was ist dann der Rang dieses Papiers?
({4})
Wir haben der Regierung gesagt: Natürlich machen wir eine Erklärung mit euren Worten, aber es muß in dem erreichbaren Maße - wir wissen, daß wir auch in dieser Situation weder als Deutsche noch als CDU/CSU eine Weltmacht sind - völkerrechtlich relevant werden. Das ist doch die Frage, die wir hier zu stellen haben. Es gibt dann eine andere Mitteilung von gestern, Herr Kollege Scheel - das kommt eben dabei heraus, wenn dies alles so eilig geht; ich will Ihnen dies überhaupt nicht anlasten -, in der es also hieß: Das kann zwar eine Erklärung werden, aber das ist natürlich nicht die deutsche Interpretation des Vertrages. Was ist es denn dann? Was kommt denn dann zustande?! Das muß doch wohl geklärt sein! Und ohne das zu wissen, soll ich hier heute abstimmen?! Und wollen Sie vielleicht mit diesen unbeantworteten Fragen heute das Patt der Abstimmung und das Ergebnis heute abend in Kauf nehmen!? Das kann doch hier keiner verantworten, meine Damen und Herren!
({5})
Mir ist da über angebliche Erklärungen noch viel mehr zugegangen; ich lasse das jetzt weg.
Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister: Es wäre gut, zunächst eine verantwortliche, ruhig formulierte, mit dem Vertragspartner abgestimmte schriftliche Äußerung vertraulich zu erhalten, aus der sich präzise ergibt, in welcher Form die Bundesregierung die Entschließung des Deutschen Bundestages zum Dokument der Bundesrepublik Deutschland zu machen gedenkt, schließlich: in welcher Form und mit welchem Inhalt die Sowjetunion dieses Dokument annehmen, was sie damit machen wird und welcher Grad der Verbindlichkeit dadurch unzweideutig entsteht. Mithin: Geltung, Rang und Verwendung dieser Entschließung sind unerläßlich verbindlich zu klären, bevor hier ernsthaft und verantwortbar beraten, diskutiert, nachgedacht und entschieden werden kann.
Inzwischen habe ich, Herr Bundeskanzler - ich schildere das, wie es ist -, um 14.30 Uhr einen neuen Brief des Kollegen Scheel bekommen, während meine Fraktion tagte. Die Fraktion war beschäftigt, die Antwort auf die Rede des Bundeskanzlers zu beschließen; das dauert ja auch ein bißchen. Ich bekomme also diesen Brief um 14.30 Uhr und habe ihn inzwischen nach der Fraktionssitzung einmal flüchtig lesen können. Nur ist dies ein Brief, der, wenn ich jetzt aus dem Handgelenk votierte, ganz unverantwortliche Mißverständnisse hier ins Plenum bringen würde. Ich habe nicht einmal Zeit gehabt, auch nur dem Justitiar der Bundestagsfraktion, viel weniger den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, des Innerdeutschen Ausschusses, des
Rechtsausschusses und meinen Freunden aus der Führung diesen Text auch nur zuzuleiten, geschweige denn zu beraten. Es kann sein, Herr Kollege Scheel, daß einige ihrer Fragen darin beantwortet sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, muß ich doch diese Fragen mit meinen Freunden ausdiskutieren, um festzustellen: Was ist dazu die verantwortliche Meinung der Fraktion?
({6})
Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie und die Verantwortlichen - alle hier sind verantwortlich; da möchte ich es anders sagen -, also Sie und die, die in den letzten Tagen die schwere Aufgabe hatten zu versuchen, für die hier geschilderte Lage eine Lösung zu finden, folgendes so ernst zur Kenntnis zu nehmen, wie wir einander begegnet sind. Und ich möchte das Wort vom Respekt aufnehmen, das Sie, Herr Bundeskanzler, sagten. Dies alles ausreichend zu erklären und mit einer demokratischen Fraktion zu besprechen und zu entscheiden ist heute und morgen nicht möglich.
Bestehen Sie, Herr Bundeskanzler, heute oder in dieser Woche auf der Abstimmung ohne die für uns notwendige Zeit der gewissenhaften Prüfung, so werden wir alle, trotz der langen Bemühungen, heute abend „So nicht!" sagen.
({7})
Meine Damen und meine Herren, Sie sollten diesen Hinweis nicht überhören und dazu vielleicht etwas sagen. Ich möchte am Schluß - ich hoffe, daß wir damit nicht so allein stehen -, sagen, daß ich gestern - ebenso wie bei meinen Gesprächen in Moskau im Dezember - den Botschafter der Sowjetunion nachhaltig gebeten habe, die Sowjetunion, mit der wir Frieden und Zusammenarbeit wollen, die mit verantwortlich für Berlin und ganz Deutschland ist, möge sich doch voll dafür einsetzen, einen Herzenswunsch aller Deutschen zu erfüllen: Wenn nämlich wirklich die Völker Vertrauen zueinander finden sollen, dann muß das Schießen in Deutschland auf Deutsche aufhören.
({8})
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte zu dem, was Sie, Herr Kollege Barzel, gesagt haben, nur ein paar Bemerkungen machen, weil es notwendig ist, zu den Sachfragen und den Fragen, die Sie direkt gestellt haben, zu antworten.
Herr Kollege Barzel, Sie haben zu Beginn Ihrer ersten Ausführungen in der Vertragsdebatte von der Verantwortung gesprochen, die wir alle haben, und von der Verantwortung, die vor allem auf ,den Schultern ,derjenigen lastet, ,die für ihre Fraktionen und für 'die Regierung besondere Verantwortung tragen. Sie haben dann gleich anschließend diese Verantwortung in einen sehr engen Zusammenhang mit ,den heute sichtbar gewordenen Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause gebracht. Ich möchte - vielleicht unterscheide ich mich da von Ihnen -sagen: Verantwortung und Zahlen stehen nicht in einem direkten Zusammenhang miteinander, sondern Verantwortung ist eine besondere Sache.
({0})
In dem gleichen Zusammenhang haben Sie von der realen Lage gesprochen, sich auch wieder beziehend auf das Abstimmungsergebnis des heutigen Vormittags. Wenn ich das richtig sehe, ist doch die reale Lage die, daß wir uns bis gestern über einen gemeinsamen Text für eine Entschließung des Deutschen Bundestages einig gewesen sind. Wollen Sie etwa unter Hinweis auf ,das Abstimmungsergebnis des heutigen Vormittags sagen, daß aber niemand der CDU/CSU-Fraktion für diese gemeinsame Entschließung abzustimmen gedenkt? Das kann ja wohl nicht sein.
({1})
Der Hinweis, Herr Dr. Barzel, auf die Zeit und auf die Hektik, von der Sie in diesem Zusammenhang wieder sprechen, erstaunt mich doch insofern, als wir in der vergangenen Woche eigentlich täglich angeboten haben, über die Situation, die sich für uns gemeinsam ergab, zu sprechen. Ich will das nicht in Stunden und Minuten aufrechnen, aber Sie werden mir zugeben, daß die Vertreter der Bundesregierung und der Koalitionsparteien bereit gewesen sind, ganze Tage für Gespräche zur Verfügung zu stehen, an denen ,die verantwortlichen Politiker der Oppositionsfraktion nicht zur Verfügung stehen wollten.
({2})
Man kann nicht sagen, daß wir in ,dieser Frage bisher etwa unter Zeitdruck verhandelt hätten.
({3})
Nun haben Sie davon gesprochen, daß man bei Verträgen auch das Kleingedruckte lesen muß, das, was auf der anderen Seite des Vertragsformulars steht. Ich teile diese Meinung. Aber über die Verträge, die heute zur Diskussion stehen, unterhalten wir uns schon über eineinhalb Jahre, und jeder hat Gelegenheit gehabt, das Kleingedruckte zu lesen.
({4})
Wenn ich mich nicht täusche, dann ist doch gerade von Politikern aus dem Lager der Opposition über das Kleingedruckte am allermeisten diskutiert worden, über die Verträge ja nicht sehr viel.
({5})
Sie wissen auch, Herr Dr. Barzel, daß sich Ihr Kollege Dr. Birrenbach und Herr Bahr über dieses Problem des Kleingedruckten unterhalten haben. Wir wissen, wie problematisch das Kleingedruckte in dem Zusammenhang ist. Das sollten wir doch endlich einmal einander zugestehen, damit wir da herauskommen.
In dem Zusammenhang haben Sie etwas über die Genesis der gemeinsamen Entschließung gesagt, was den Eindruck erwecken konnte, als wollten wir von Sätzen, die wir früher bei den verschiedenen
Gelegenheiten ausgesprochen haben, abrücken. Sie haben davon berichtet, daß Sie eine Zusammenstellung von Zitaten aus Reden und Erklärungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Verträgen vorgenommen haben und daß Sie sie zur Grundlage einer gemeinsamen Entschließung machen wollten. Herr Dr. Barzel, bitte, verübeln Sie es mir nicht, wenn ich sage, daß wir gemeinsam der Überzeugung sind, daß die willkürliche Aneinanderreihung von Sätzen, die irgendwann einmal ausgesprochen worden sind, noch keinen Sinn ergibt.
({6})
Ich kann aus den letzten zwei Jahren Sätze aneinanderreihen, ohne damit die Ausgewogenheit einer Stellungnahme zu erreichen, ich kann im Gegenteil die ausgewogenen Stellungnahmen sowohl aus Ihren Reihen als auch aus den Reihen der Koalition durch willkürliche Zusammenfassung einzelner Sätze zerstören.
({7})
Wir stehen zu jedem Satz, den wir in dem Zusammenhang gesagt haben, zu jedem einzelnen Satz,
({8}) - zu jedem Satz!
({9})
Ich wünschte, das würde auch bei Ihnen in allen Fällen so sein.
({10})
Wir stehen zu jedem Satz. Aber wir können nicht willkürlich herausgegriffene Sätze, ohne andere hinzuzufügen, aneinanderreihen. Dafür muß doch ein vernünftiger Mensch Verständnis haben.
({11})
Nun haben Sie zu den Briefen des heutigen Tages einige Fragen aufgeworfen und hier gesagt, daß Unklarheiten über den gemeinsamen Entschließungsentwurf entstanden seien, nachdem der sowjetische Botschafter gestern nachmittag mitgeteilt habe, in seiner Zentrale bestünden Fragen wegen bestimmter Teile des gemeinsamen Entschließungsentwurfs. Herr Dr. Barzel, warum hat der Botschafter das mitgeteilt? Er hat es mitgeteilt, weil er Gelegenheit haben und nehmen wollte, über die beiden Sätze, um die es sich handelte, mit denjenigen, mit denen er sich mittags darüber unterhalten hatte, erneut zu sprechen. Er hat, wie ich erfahren habe, keine Gelegenheit gehabt, mit Ihnen, Herr Dr. Barzel, darüber zu sprechen, obgleich er darum gebeten hatte. Er hat sich mit mir darüber unterhalten, um mir nämlich die Möglichkeit zu geben, ihn zu fragen, welche Bedenken er denn überhaupt habe.
Wenn Sie diese Gelegenheit wahrgenommen hätten, dann hätten Sie also bereits gestern erfahren, welche Fragen es gewesen sind. Ich bin davon überzeugt, daß Sie, Herr Dr. Barzel, diese Bedenken des
Botschafters genauso gut wie ich hätten ausräumen können. Sie haben soeben meinen Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, nicht vollständig vorgelesen; das wäre aber nützlich gewesen. Ich habe Ihnen diesen Brief eigentlich nur geschrieben, weil ich glaube, daß es bei dem Stand der vertrauensvollen Unterhaltungen, die wir nun einmal über diese gemeinsamen Versuche haben, richtig gewesen ist, Ihnen etwas über das zu schreiben, worüber ich mit dem Botschafter gesprochen habe, und weil es nützlich ist, die Versuche, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, nicht dadurch zu stören, daß man unabhängig voneinander vielleicht Unterschiedliches in Gang setzt. Deswegen habe ich Ihnen korrekterweise geschrieben. Ich will den Brief jetzt verlesen:
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Barzel! Ich bedaure, daß wir uns am heutigen Abend nicht sehen konnten,
- denn auch ich hatte darum gebeten, Herrn Dr. Barzel zu sehen zumal ich den Eindruck gewonnen habe, daß durch ein Treffen noch am heutigen Abend manche Unklarheiten, die heute nachmittag entstanden sind, hätten geklärt werden können. Der sowjetische Botschafter ist heute abend mit mir zusammengetroffen, um ein Gespräch über die Bedenken zu führen, die seine Zentrale in Moskau angemeldet hat.
Er hat offensichtlich auch versucht, ein solches Gespräch mit Ihnen zu führen.
({12})
Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 . . .
Zu dem Zwischenruf möchte ich folgendes sagen: Der Botschafter hat mir bestätigt, daß er bereit gewesen wäre, ab 17 Uhr etwa - ich weiß die Zeit nicht genau, aber ab 17 Uhr hat er sich auch bei mir gemeldet bis Mitternacht oder bis zum frühen Morgen dieses Gespräch zu führen. In diesen Stunden dürfte Zeit dafür gewesen sein.
({13})
Wem es um die Verantwortung für dieses Volk so ernst ist, der sollte auch abends dafür eine Stunde frei haben.
({14})
- Ich kann das noch fortsetzen.
({15})
Meine Damen und Herren, ich möchte den Brief weiter verlesen.
({16})
- Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie daran unangemessen finden.
({17})
Meine Damen und Herren, ich bitte freundlichst, Platz zu nehmen und die Zwischenrufe so zu artikulieren, daß der Redner in der Lage ist, fortzufahren.
Ich verlese den Brief weiter:
Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 und den zweiten Satz der Ziffer 5. Was den zweiten Satz der Ziffer 5 angeht, konnten sie leicht ausgeräumt werden. Zum letzten Satz der Ziffer 2 habe ich dem Botschafter noch einmal bestätigt, daß die Bundesrepublik zu den Verpflichtungen, die sie in Artikel I des Vertrages mit der Volksrepublik Polen. übernommen hat, steht. In diesem Artikel haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der bestehenden Westgrenze Polens Stellung genommen, und zwar aus wohlerwogenen Gründen nicht, die Sie kennen. Wir sind mit der Volksrepublik Polen aber übereingekommen, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens für die Dauer des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in Frage zu stellen. Diese Verdeutlichung, die von mir sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Bundesrat im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge vorgetragen worden ist, hat die wünschenswerte Klarheit geschaffen.
In einem Gespräch, das ich heute nachmittag mit dem Leiter der polnischen Handelsvertretung, Herrn Piatkowski, gehabt habe, habe ich auch ihm den in der Entschließung formulierten letzten Satz der Ziffer 2 im gleichen Sinne interpretiert.
Nach dieser Verdeutlichung des Textes erklärte der Botschafter, daß er die unveränderte Entschließung entgegennehmen werde. Ein Widerspruch der sowjetischen Regierung sei nicht zu erwarten.
Jetzt kommt der Satz, auf den es mir ankommt und den Herr Dr. Barzel nicht verlesen hat:
Offenbar war bei der sowjetischen Regierung der Eindruck entstanden, als wollten wir durch die Ziffer 2 den Inhalt des Artikels I des Vertrages mit der Volksrepublik Polen nachträglich ändern.
Meine Damen und Herren, dieser Eindruck ist natürlich falsch. Mit unserer Entschließung will ja niemand in diesem Hause einen Artikel der abgeschlossenen Verträge ändern.
Das waren die Bedenken zur Ziffer 2, die Herr Dr. Barzel genauso hätte ausräumen können wie ich.
Was die Bedenken zu der Ziffer 5 angeht, so handelt es sich um nichts anderes als Bedenken dagegen, daß der gleiche Gedanke in einem einzigen Abschnitt zweimal hintereinander - sich überlagernd - ausgesprochen wurde. Die Frage war, ob man es nicht bei dem sehr klaren einmaligen Aussprechen belassen könnte. Nachdem man festgestellt hatte, daß es in der Tat der gleiche Sinn ist, wie er auch in dem dritten Punkt unserer Entschließung zum
Ausdruck kommt, nämlich daß darin nichts Besonderes und auch gar nichts Verletzendes liegen sollte, waren auch diese Bedenken auszuräumen. Das hätten wir uns zweifellos einfacher machen können. Wir hätten vermeiden können, daraus gestern eine Halbsensation zu entwickeln, die in der Tat den guten Weg, auf dem wir uns befunden haben, zum Teil wieder in Frage gestellt hat. Ich wäre dafür, daß wir heute alles daran setzen, diesen Weg fortzusetzen.
Ich bitte wirklich darum, bei der Diskussion solcher Fragen nicht auf im Fernsehen oder im Rundfunk im Zusammenhang damit gemachte Bemerkungen des einen oder anderen Abgeordneten auszuweichen. Wenn Herr Ahlers gesagt hat, das seien eher technische Fragen, dann hätte er Ihnen auch erklären können, daß er damit nicht etwa die Meinung vertreten hat, es handle sich bei dem Inhalt dessen, worum es geht, um technische Fragen. Was sollen denn eigentlich diese ewigen Unterstellungen, der eine Kollege nehme eine Frage nicht so ernst wie der andere Kollege?
({0})
Ich gehe davon aus, daß alle Kollegen von der Oppositionsfraktion_ alle Fragen, die mit der Selbstbestimmung, alle Fragen, die mit der Freizügigkeit zusammenhängen, genauso ernst nehmen, wie ich sie nehme. Ich erwarte - ich glaube, ich darf das erwarten -, daß auch Sie das tun und nicht rhetorisch immer wieder die Ernsthaftigkeit anderer Kollegen in Frage stellen. Kann man denn das eigentlich nicht an Gemeinsamkeit bekommen?
({1})
- Das war darauf gemünzt, meine Damen und Herren.
Jetzt darf ich etwas zu der Prozedurfrage sagen, um auch das gleich, nachdem es Herr Kollege Dr. Barzel hier vorgetragen hat, richtigzustellen. Ich habe Herrn Dr. Barzel und anderen Kollegen - die Adressaten waren eigentlich Herr Professor Dr. Mikat und Dr. Birrenbach - einen Brief geschrieben, in dem ich den Versuch gemacht habe, die komplizierte Prozedurfrage, die nämlich - um jetzt Herrn Wehner in diese Situation mit einzubeziehen - die Entschließung des Bundestages, von der Herr Wehner mit Recht gesprochen hat, zu einem Dokument der Bundesrepublik Deutschland machen wird, präzise zu erläutern. Herr Dr. Barzel - er ist im Moment nicht da - wird mir zugestehen, daß vielleicht gewisse Kommunikationsschwierigkeiten in seiner eigenen Fraktion die Ursache dafür sind, daß - ({2})
- Lassen Sie mich doch bitte aussprechen! Ich weiß, daß Sie, meine Damen und Herren, über alle Fragen in Zwischenrufen immer Bescheid zu wissen glauben, nachher aber sagen, sie brauchten mehr Zeit, um sich zu informieren. Nun lassen Sie mich doch jetzt einmal informieren!
({3})
Ich darf wohl sagen, daß hier Kommunikationsschwierigkeiten bestanden haben müssen.
({4})
- Nein, Herr Vogel. Sie machen immer sehr viele Zwischenrufe; die meisten sind aber deplaciert, weil Sie nie abwarten, was der Redner, wenn er etwas ankündigt, anschließend sagt. Ich sage nichts, was ich nicht gleich anschließend belege. Das tue ich nie, das ist gar nicht meine Art. Ich belege jetzt das, was ich gesagt habe. Wenn Sie gewartet hätten, hätten Sie es nicht nötig gehabt, Ihren Zwischenruf zu machen.
Ich sagte also: es muß hier eine gewisse Schwierigkeit bestanden haben, denn ich habe in diesem Brief im Kern ja nichts Neues gesagt, sondern nur noch einmal, weil das so kompliziert und so wichtig ist, schriftlich das zusammenzufassen versucht, was ich den beiden Kollegen, die ich als Adressaten soeben genannt habe, in einer sehr intensiven Unterredung mitgeteilt hatte. Wir haben praktisch alle Phasen, die sich hier ergeben, gemeinsam besprochen, und zwar nicht erst heute mittag, sondern schon gestern nachmittag. Ich bin davon ausgegangen, daß bis heute mittag sogar eine Möglichkeit bestanden haben sollte, sich darüber im Kreise der Fraktionen oder im Kreise von Teilen der Fraktionen eingehend zu unterhalten. Wenn das nicht der Fall gewesen ist, so mag das durchaus verständlich sein, aber es muß nicht unbedingt so gewesen sein. Ich bin davon ausgegangen, daß eine Möglichkeit bestand, in dieser wichtigen Frage bereits die Meinung eines anderen Gremiums zu bilden.
Meine Damen und Herren, wir sollten, meine ich, in dieser Phase der Diskussion wirklich den Versuch machen, diesen ganz komplizierten Weg, den wir gehen wollen, nicht dadurch zu erschweren, daß wir auch noch über die reine distanzierte Kritik hinausgehende Betrachtungen einzelner Teile des notwendigen Vorgehens vornehmen. Ich habe versucht, mich dessen zu enthalten und sehr nüchtern auszusprechen, worauf es - und zwar uns gemeinsam - ankommen muß.
Ich habe noch nicht zum Vertragsinhalt gesprochen; das wird vielleicht im Laufe der Diskussion noch möglich sein. Lassen Sie mich jetzt zum Schluß zu diesen Prozedurfragen eine allgemeine Bemerkung machen. Die Oppositionsfraktion wendet immer wieder ein, daß sie mehr Zeit braucht. Meine Damen und Herren, ich kann mir vorstellen, wie schwierig die Entscheidung ist, vor der die Oppositionsfraktion steht und vor der jeder einzelne Abgeordnete dieser Fraktion steht. Ich weiß, wie schwierig das ist; ich weiß es ganz genau. Ich weiß auch, daß es das Bemühen der Fraktionsführung und sicherlich der Fraktion ist, eine Entscheidung herbeizuführen, die diesem Staate dient. Das ist ja das Bemühen, das dahinter steht. Der Bundeskanzler hat das heute vormittag nicht umsonst vor dem Deutschen Bundestag herausgestellt.
Ich kenne also die Schwierigkeiten, aber ich darf nach einem 25 Jahre langen parlamentarischen Leben sagen: Durch Zuwarten werden Schwierigkeiten nicht kleiner, sondern im allgemeinen größer. In der Lage, in der Sie sich befinden, werden Sie jetzt oder heute abend oder morgen oder nächste Woche immer wieder vor die gleiche Entscheidung gestellt werden, und die wird immer wieder den gleichen Schwierigkeitsgrad haben. Ich habe aus meiner parlamentarischen Erfahrung gelernt: Wenn Sie eine Schwierigkeit vor sich sehen, müssen Sie sie ins Auge fassen, und Sie müssen entscheiden. Darum herumgehen oder sie aufschieben zu wollen macht die Sache nicht besser, sondern macht sie meistens noch schwerer.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben soeben in Ihrer Rede - ich nehme an, Sie bereuen es schon - eine Anmerkung über den Vorsitzenden unserer Fraktion gemacht, die ich in aller Ruhe, aber gerade deshalb mit aller Entschiedenheit als eine Unterstellung, ja, ich sage Ihnen, als eine Beleidigung zurückweise. Weil Sie, Herr Außenminister, und eigentlich alle Kollegen in diesem Hause wissen müßten, daß Herr Kollege Barzel, wann immer es nötig war und wann immer es möglich war, bis an den Rand dessen, was ein einzelner ertragen kann, Ihnen und uns allen zur Verfügung stand.
({0})
Herr Bundesaußenminister, Sie haben gesagt, wir stünden vor einer schwierigen Entscheidung. Das ist richtig, und ich gebe zu, daß sich jeder von uns die Entscheidung, die zu treffen ist, nicht leicht macht. Wir wissen, was davon abhängt, und wir wissen auch, daß diejenigen, die sagen, die Verträge sollen vom Tisch, wissen, daß, wenn sie mit Ja antworten, die Verträge dann erst auf den Tisch kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben uns seit eineinhalb, man kann sagen: seit zwei Jahren - Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben darauf hingewiesen - in vielen Debatten hier in diesem Hause, in vielen Fragestunden, in den Sitzungen der Ausschüsse und draußen in der Öffentlichkeit mit den einzelnen Problemen der Verträge beschäftigt. Wir wären an Hand dessen, was wir dort diskutiert haben, natürlich schon lange in der Lage gewesen, ein Votum zu fällen. Aber, um was es uns gegangen ist und um was es uns heute geht, ist doch, daß dann, wenn immer noch vorhandene Unklarheiten, wenn die Tatsache, daß die Bundesregierung nach innen anders spricht als nach außen, nicht ausgeräumt werden,
({1})
wir die Bitte an die Regierung haben, mitzuhelfen, daß ein möglichst hohes Maß an Klarheit - und ich füge nach allem, was passiert ist, hinzu: auch an Glaubwürdigkeit - in diesem Hause herrschen kann.
({2})
Dr. Marx ({3})
Herr Bundesaußenminister, der Brief, den Sie unserem Fraktionsvorsitzenden haben zukommen lassen, ist verschiedentlich vorgelesen worden. Ich habe jetzt doch noch einige Fragen dazu, und es wäre gut, wenn die Fragen beantwortet würden.
Sie haben in diesem Brief im zweiten Abschnitt gesagt, daß ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter über „Bedenken" stattgefunden habe, die seine Zentrale aus Moskau gemeldet habe. Sie haben nichts Näheres darüber gesagt, was diese Bedenken beinhalten, und Sie haben dann nur an einer Stelle gesagt, daß es Ihnen gelungen sei, sie leicht auszuräumen.
({4})
Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister erinnert sich doch daran, daß der letzte Satz in dem Punkt 2 jener Entschließung, die wir gestern vormittag um 11 Uhr miteinander - und ich glaube, man muß sagen: nach viel Mühe, aber auch nach Investierung von seht viel gutem Willen, den wir uns gegenseitig bewiesen haben - verabschiedeten, lautet:
Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen.
Sie, Herr Bundesaußenminister, haben in Ihrem Brief aber eine andere Formulierung gebraucht. Auf die muß ich das Haus aufmerksam machen. Sie sagen:
In diesem Artikel
- und zwar gehen Sie dabei auf den Art. I des deutsch-polnischen Vertrages ein haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der bestehenden Westgrenze Polens Stellung genommen.
Herr Bundesaußenminister, die Formulierung, die ich vorher vorgelesen habe, nämlich daß die Verträge „keine Rechtsgrundlage schaffen", stammt aus Ihrem eigenen Munde, und zwar vom 23. Februar, als Sie hier an dieser Stelle in der ersten Lesung der Ostverträge eine Regierungserklärung abgaben.
({5})
Ein zweites. Sie haben eben gesagt - weil bei dem Punkt 5 gesagt worden ist, da gebe es zwei Sätze -, man hätte den zweiten Satz eigentlich eliminieren können, weil er sinngemäß enthalte, was im ersten Satz stehe.
({6})
Ich muß deshalb, Herr Außenminister, noch einmal den ganzen Punkt 5 verlesen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb um Aufmerksamkeit, weil, wie ich noch einmal wiederhole, der Außenminister behauptete, daß beide Sätze in ihrem Sinn übereinstimmen. Es heißt - ich zitiere:
Die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin werden durch die Verträge nicht berührt.
Und nun kommt der zweite Satz. Er lautet:
Der Deutsche Bundestag hält angesichts der Tatsache, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im Ganzen noch aussteht,
- der Ton liegt also auf „noch aussteht" den Fortbestand dieser Rechte und Verantwortlichkeiten für wesentlich.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir hätten in dem, was wir das Rohmaterial genannt haben, Sätze losgelöst und Sätze herausgerissen. Ich möchte gern wissen, ob wir hier einen einzigen Satz in einer unkorrekten Weise zitiert haben, so daß der Sinn dessen, was Sie, Herr Außenminister, haben sagen wollen, verfälscht worden ist.
Sie werden doch bitte folgendes zugeben: Wenn in diesem Hause eine Fraktion eine Große Anfrage einbringt und die Bundesregierung ihre Antwort vorlegt, ist dies ein Akt von hoher Bedeutung; da kann man nicht den Versuch machen, diesen Akt der Antwort und die im einzelnen offenbar doch wohlüberlegte und von einem ganzen Heer von fachkundigen Beamten geprüfte Antwort auf die Große Anfrage herunterzuspielen.
({7})
Meine Damen und Herren, die Sätze, die wir zitiert haben, sollten eine Hilfe sein, und ich darf bitte in aller Ruhe noch folgendes sagen: sie Sollten eine Hilfe sein, damit wir mit dem beginnen können, was doch offenbar beide Seiten dieses Hauses wünschen, nämlich die Konturen einer gemeinsamen Außenpolitik miteinander zu diskutieren, wo immer möglich, zu formulieren und dann auch dabei zu bleiben. Herr Außenminister, es hat die Fraktion der CDU/CSU viel Kraft und viel Selbstverleugnung gekostet, daß wir alle bereit waren, kein einziges Wort unserer eigenen Wertung zu sagen, daß diese Fraktion vielmehr bereit war, nur die Äußerungen der Regierung zu zitieren.
({8})
Damit aber dies ganz klar ist, meine Damen und Herren: die Fraktion der CDU/CSU kann in dieser schwierigen Frage nicht noch hinter das zurückgehen, was die Regierung in diesem Hause erklärt hat. Dazu können Sie uns nicht bekommen!
({9})
Meine Damen und Herren, die Diskussion über Zeitfragen, die soeben aufgekommen ist, hängt ja nicht mit dem Verlauf der seit eineinhalb Jahren dauernden Debatte, sondern mit der Tatsache zusammen, daß es den Anschein hatte und noch hat, daß sich gestern ganz bedeutende Einreden oder Veränderungen ergeben haben. Man kann der Fraktion der CDU/CSU nicht zumuten, daß sie sich zu diesen Dingen im einzelnen und verantwortlich äußert, wenn sie nicht weiß, was hinter den Kulissen gespielt wurde.
({10})
Im übrigen hoffe ich, daß wir erwarten können, von dem Herrn Bundeskanzler noch eine Antwort
Dr. Marx ({11})
auf den Vorschlag unseres Fraktionsvorsitzenden zu erhalten, dies hier zu vertagen.
({12})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich gehofft, wir würden in diesen Stunden bei der Sache sein, bei den Inhalten, und uns, wann auch immer, im Laufe der Stunden auf eine Entscheidung zubewegen. Nun müssen wir statt dessen zunächst einiges klären, was normalerweise nicht vom Rednerpult des Bundestages aus geklärt wird. Da dies aber der Hauptpunkt der Rede des sehr verehrten Kollegen Barzel war und wir hier zugleich vor dem Haus und vor der interessierten Öffentlichkeit sprechen, muß ich noch ein paar Dinge zusätzlich zu dem darstellen, was der Herr Außenminister gesagt hat.
Ich habe großes Verständnis dafür, daß jeder von uns - der eine einmal mehr, der andere einmal weniger - in dem Geschäft, in dem wir stecken, an einen Punkt kommt, wo er sagt: jetzt möchte ich eigentlich, daß ich die Chance bekomme, dies mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu überlegen. Ich sage das, obwohl ich auch um Verständnis dafür bitte, daß ich bisher nicht habe sehen können, daß andere in diesem Staat wesentlich mehr zu tun haben als der Bundeskanzler. Das habe ich in diesen Tagen auch gemerkt.
({0})
Es ist doch so, Herr Kollege Barzel: Jetzt haben wir Mittwoch, 17 Uhr. Vor 24 Stunden und dann vor 22 Stunden habe ich die Frage aufgeworfen, ob dies nicht - gestern nachmittag, gestern abend - der Zeitpunkt sei, sich zusammenzusetzen. Ich beschwere mich nicht. Ich sage: Im Grunde ist es, gemessen an dem sonst sachlichen Kontakt, den wir miteinander gefunden hatten, natürlich ein - wie immer die Regierungsverhältnisse geordnet sind - ungewöhnlicher Vorgang in einem demokratischen Staat, daß, wenn der Regierungschef sagt: wollen wir uns nicht zusammensetzen, das nicht möglich ist.
Heute früh war es mit dem Terminkalender schwierig. Wir hatten 8.30 Uhr vorgeschlagen. Sie hatten die Fraktionssitzung. Ich habe gefragt: Können wir nicht über Mittag miteinander reden? Wir hätten die Pause verlängern können. Das wäre bestimmt nicht an mir gescheitert. Jetzt haben wir also seit 24 Stunden nicht miteinander geredet, sondern reden hier vor denen, die zuschauen und von der Tribüne 'des Bundestages zuhören, miteinander auch über diese technischen Vorgänge einschließlich 'der Briefe, .die der Herr Außenminister teils an Herrn Kollegen Barzel, teils an die Kollegen Birrenbach und Mikat geschickt hat.
Meine Damen und Herren, ich höre das mit dem Zeitdruck ja heute nicht zum erstenmal,
({1})
sondern das höre ich zu genau demselben Vorgang
jetzt seit zwei Jahren. Immer ist irgend etwas wegen
Zeitdruck, was so nicht sein sollte. In bezug auf diese Tage hier wäre zunächst einmal festzustellen: Um die Jahreswende, seit vielen Monaten, waren sich alle Beteiligten mit dem Bundesrat - mitgeteilt an die Regierungen anderer Länder, nicht nur die Partner - einig: Anfang Mai soll gelesen werden. Das kann keiner Zeitdruck nennen.
({2})
Jetzt kommt aber idas Konkrete: Wenn die Lage so wäre - was ja auch hätte sein können -, daß die Regierung sagt: Sie - die Opposition - erwarten von uns zu Recht, daß wir erklären: Wenn der Bundestag eine Entschließung annimmt, muß 'diese auf eine solche Weise zu einer Aussage, zu einem Instrument 'der Bundesrepublik Deutschland werden, daß es dazu keinen Widerspruch gibt - sonst hat das Ganze ja keinen Sinn. -, hätte es ja sein können, 'daß die Regierung gesagt hätte: wollen wir uns 'den oder den Punkt nicht noch einmal anders überlegen? Da gibt es z. B. einen Punkt, bei dem ich die Fassung des vorigen Entwurfs aus vielerlei Gründen für besser hielt. Aber genau diese Lage ist nicht eingetreten, und ich möchte, daß die Kollegen der Union dies auch begreifen: Regierung und Koalition erwarten nichts anderes, als 'daß wir zu dem stehen, was wir gestern mittag miteinander vereinbart hatten. Nichts anderes!
({3})
Kein Satz, kein Wort, kein Punkt und kein Komma wurde geändert. Dies ist kein Zeitdruck. Es geht um genau 'denselben Text. Was gibt es da groß zu beraten?
({4})
Jetzt nehme ich einmal das Beispiel, 'das Herr Kollege Marx hier hineinbringt. Das ist doch nicht in Ordnung. Bei dem Punkt 5 - das Ding liegt hier ja gar nicht verteilt vor; wir reden insofern also auch immer über ein Schattendokument -, wo die Frage aufgeworfen wurde: muß ein Gedanke, der in der Resolution an zwei anderen Stellen steht, auch hier stehen, haben wir gesagt: Ja, da haben wir uns mit den Kollegen von der CDU/CSU geeinigt, deshalb bleiben wir dabei. Warum muß dann Herr Kollege Marx jetzt zu diesem Abs. 2 so argumentieren, als sei das eine Streitfrage?
({5})
Der Außenminister hat doch nur erklärt, welches Argument der Partner 'dazu vorgebracht hat. Die Regierung hat das vertreten, worauf wir uns geeinigt hatten.
({6})
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel? - Bitte!
Herr Bundeskanzler, es wäre gut, glaube ich, wenn Sie dem Haus die Frage beantworten könnten, ob es richtig ist, daß wir über die Entschließung einig waren, ich in meiner Rede die Zustimmung dazu erklärt habe, wenn sonst alles stimmt, daß das aber einen offenen Punkt betraf, den ich hier als den entscheidenden in die Debatte eingeführt habe.
Dies kann ich nicht sehen.
({0})
Die Entschließung gilt. Wenn allerdings jemand geglaubt haben sollte, er könne durch die Entschließung den Vertrag ändern, dann haben wir auf falscher Grundlage verhandelt.
({1})
Deshalb mußte es zweifelsfrei klargestellt werden, daß, insbesondere was die Pflichten aus dem Warschauer Vertrag angeht, weil es da mit um die Grenzfrage geht, der Entschließung insoweit keine den Vertrag entwertende Deutung gegeben werden darf. Das mußten wir doch ehrlicherweise machen. Das hat der Kollege Scheel in seinem Brief dargestellt. Ich habe es in meiner Rede heute vor der Mittagspause, die ja alle gehört haben, dargestellt.
Nun noch eine Bemerkung, was den weiteren Ablauf angeht. Ich habe nicht für Fraktionen zu sprechen. Aber ich würde es - wenn die Anregung gestattet ist - zunächst einmal für eine gute Idee halten, wenn man in einer nicht ganz knapp bemessenen Unterbrechung der Plenarsitzung nicht nur in den Fraktionen, wo man es für notwendig hält, sondern auch miteinander das bespräche, wovon ich soeben redete. Ich sage, es gilt, was gestern mittag galt. Aber wenn das noch notifiziert werden soll - wir haben sonst dieser Tage eine Menge von Notifizieren gesprochen -, dann muß das ja möglich sein.
Meine Damen und Herren, der Gedanke der Vertagung führt mich zu der Bemerkung: Irgendwann werden die Kollegen ohnehin entscheiden müssen, Stellung nehmen müssen. Jeder von uns wird das, gestützt auf die Entscheidung, die er getroffen hat, draußen vor seinen Wählern und in den Gemeinschaften, in denen er wirkt, zu vertreten haben. Ich würde es nicht für gut halten, wenn, statt in der Sache zu entscheiden, eine prozedurale Klammer gebaut würde, die von der klaren Entscheidung in der Sache selbst wegführt. Man kann eine Sache auf zweierlei Weise bekämpfen, einmal indem man nein sagt und sich durchsetzt, wenn man das kann. Man kann eine Sache auch bekämpfen, indem man sie zerfasert, zerredet und abwertet. Diesem letzteren Verfahren können wir aus meinem Verständnis unserer Interessen nicht zustimmen, sondern dem müssen wir widersprechen.
({2})
Meine Damen und Herren, auf Grund interfraktioneller Vereinbarung unterbreche ich die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 18.15 Uhr.
Die Fraktion der SPD hat mich gebeten, bekanntzugeben, daß sofort im Anschluß an die Sitzung der Fraktionsvorstand und um 17.30 Uhr die Fraktion zusammentritt. - Diese Termine gelten auch für die Fraktion der CDU/CSU und der FDP.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Meine Damen und Herren, ich eröffnet die unterbrochene Sitzung wieder.
Dem Herrn Kollegen Biehle ist in der Hitze des Geschäftes ein Zwischenruf unterlaufen, den er bedauert. Ich verzichte deshalb auf einen Ordnungsruf.
Meine Damen und Herren, die Sitzung mit der vorliegenden Tagesordnung wird auf Mittwoch, den 17. Mai 1972, 14 Uhr, vertagt. Das ist mit den Fraktionen so vereinbart und besprochen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch, es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben mich gebeten, darauf hinzuweisen, daß sofort im Anschluß an die Plenarsitzung Fraktionssitzungen stattfinden.
Ich weise noch darauf hin, daß für 16. und 17. Mai, den Dienstag und Mittwoch der nächsten Woche, Präsenzpflicht für das Haus besteht.
Ich schließe die Sitzung und berufe zur Fortsetzung der Beratungen zu den Punkten 5, 6 und 7 der Tagesordnung den Deutschen Bundestag auf Mittwoch, den 17. Mai 1972, 14 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.