Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/ CSU hat nach Art. 67 des Grundgesetzes den Antrag gestellt:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Bundestag spricht Bundeskanzler Willy Brandt das Mißtrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Rainer Barzel zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Willy Brandt zu entlassen.
Ich habe die Ehre, diesen Antrag für meine Fraktion zu begründen.
Wir diskutierten in diesem Hohen Hause gestern den Haushaltsplan der Bundesregierung und nahmen Gelegenheit, im Zusammenhang mit dem Haushalt des Bundeskanzlers, wie dies gute Übung in allen demokratischen Parlamenten ist, unsere generelle Kritik an der Politik des Bundeskanzlers und seiner Regierung darzulegen. Wäre es nach unserem Wunsch gegangen, so wäre der gestrige Tag mit einer Abstimmung über den Haushalt des Bundeskanzlers beendet worden, von der man erwarten konnte, daß sie zu einer Ablehnung des Kanzlerhaushalts geführt hätte.
In der großen Auseinandersetzung des gestrigen Tages haben die Redner der Opposition, vor allem der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, unsere Kritik an dieser mit so großen Versprechungen angetretenen Regierung umfassend dargelegt. Ich kann daher heute darauf verzichten, die Fülle der vorgetragenen Argumente noch einmal zu wiederholen, und
ich beschränke mich darum auf die Darlegung der folgenden, für unseren Antrag entscheidenden Gründe.
Wir haben die Möglichkeit eines Antrages nach Art. 67 des Grundgesetzes, des konstruktiven Mißtrauensvotums, gewählt, nicht um - wie es ein Redner der Regierungskoalition gestern behauptete -„die Macht zu erschleichen", sondern um eine Regierung und eine Politik abzulösen, die nach unserer Überzeugung versagt und den Interessen unseres Volkes geschadet hat.
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Wir haben diesen Weg nicht gewählt, weil wir etwa Scheu vor Neuwahlen hätten. Im Gegenteil! Aber es liegt nach dem Grundgesetz nicht in der Macht der Opposition, solche Wahlen herbeizuführen. Wir haben diesen Weg auch nicht in engstirnigem Parteiinteresse mit kurzlebigen taktischen Überlegungen gewählt. Manche unserer Freunde haben uns empfohlen, diese Koalition, diese Regierung, diesen Bundeskanzler immer tiefer in die Sackgasse ihrer verfehlten Politik geraten zu lassen, um dann bessere Wahlchancen für uns zu gewinnen. Ginge es nur um das Schicksal der Regierung, dann hätten wir diesen Rat befolgt. Es geht aber um die Interessen unseres ganzen Volkes. Und deren weitere Gefährdung abzuwehren, das bestimmte unseren Entschluß.
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Meine Damen und Herren, die grundgesetzliche Möglichkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums ist einem nicht geringen Teil unseres Volkes wenig vertraut, obwohl es - woran gestern erinnert wurde - im Lande Nordrhein-Westfalen von den Parteien dieser Regierungskoalition zweimal zum Sturz von CDU-Regierungen benutzt worden ist. Die Väter des Grundgesetzes haben in der Erinnerung an die Weimarer Republik mit gutem Grund ein Mißtrauensvotum verworfen, bei dem heterogene Mehrheiten eine Regierung stürzen könnten, ohne imstande oder willens zu sein, eine neue Regierung zu bilden.
Der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Menzel führte damals im Parlamentarischen Rat aus, man müsse das Mißtrauensvotum wieder aus dem früheren Mißbrauch eines politisch destruktiven Mittels verwandeln in ein Kampfmittel eines auf das Positive eingestellten demokratischen Parlamentaris10698 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 27. April 1972
mus. Meine Damen und Herren, genau zu diesem Kampfmittel eines auf das Positive eingestellten demokratischen Parlamentarismus hat sich diese Opposition entschlossen.
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Wir sind in der Lage, als eine einige, als die stärkste politische Kraft in diesem Lande eine neue, voll handlungsfähige Regierung zu präsentieren.
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Wir haben uns diese Entscheidung nicht leichtgemacht, nicht nur weil wir das schwere Erbe und die schwere Aufgabe, die wir zu übernehmen bereit sind, genau kennen. Wir haben diesen Weg auch gewählt im Bewußtsein unserer Verantwortung für die weitere Festigung des Friedens und der Freiheit für Westeuropa und für eine Verständigung und eine konstruktive Politik mit den osteuropäischen Ländern, insbesondere auch mit der Sowjetunion.
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Sie, Herr Bundeskanzler, haben gestern Ihre Außenpolitik als den gewiß nicht einfachen Versuch bezeichnet, die deutsche Politik mit den herrschenden internationalen Tendenzen in Einklang zu bringen. Dies ist in der Tat die Aufgabe der deutschen Politik. Aber diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie war der Kern der Politik der Union und ihrer Regierungen von allem Anfang an.
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Diesen Einklang können wir aber nicht dadurch schaffen, daß wir das große Anliegen der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes durch eine Politik gefährden, welche den Weg zu diesem Ziel durch eine Verhärtung oder eine Anerkennung des Status quo in Europa verbaut.
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Sie, Ihre Regierung und vor allem Ihr Außenminister, haben uns zwar immer wieder versichert, es würde nichts festgeschrieben und nichts anerkannt. Aber Sie haben sich auf Verträge eingelassen, die nach der entschiedenen Auffassung Ihres mächtigen Vertragspartners genau diese Anerkennung zum Inhalt haben. Hätte daran noch ein Zweifel bestanden, so wäre dieser durch die Rede des Außenministers der Sowjetunion in der gemeinsamen Sitzung der Außenpolitischen Ausschüsse des Unions- und des Nationalitätensowjets vom 12. April dieses Jahres beseitigt worden. Wir bestreiten daher auf das entschiedenste Ihre Behauptung, daß Ihr Versuch, die deutsche Politik mit den herrschenden internationalen Tendenzen in Einklang zu bringen, gelungen sei. Diese Politik sichert weder die Interessen des ganzen deutschen Volkes noch macht sie den Frieden sicherer.
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Wir sind der Überzeugung, daß die Ostverträge in ihrer jetzigen Form im Deutschen Bundestag keine Mehrheit finden werden.
Unser Entschluß zur Ablösung dieser Regierung wird aber nicht nur durch diese schweren Sorgen über Ihre Außenpolitik und über das künftige
Schicksal des deutschen Volkes bestimmt. Meine Fraktion hat in ihrem einstimmigen Beschluß, der Ihnen bekannt ist, festgestellt, daß die Bundesregierung in den vergangenen zweieinhalb Jahren gesunde Staatsfinanzen zerrüttet, eine Finanzkrise in Bund, Ländern und Gemeinden herbeigeführt, unser Volk in Inflation verstrickt und die soziale Marktwirtschaft - nach unserer Überzeugung die Grundlage für soziale Freiheit und soziale Sicherheit -in ernste Gefahr gebracht hat. Dazu ist gestern das Notwendige gesagt worden.
Unser Wille ist es, mit aller Entschlossenheit eine solide Finanzpolitik wiederherzustellen, die Stabilität und das Wachstum unserer Volkswirtschaft zu sichern, die Arbeitsplätze langfristig zu sichern, um dadurch eine verantwortungsvolle Reformpolitik zu ermöglichen. Wir wissen, daß all dies nur auf der Grundlage der gesicherten inneren Freiheit und demokratischen Ordnung Erfolg haben kann.
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Wir machen uns nach allem, was in den vergangenen zweieinhalb Jahren unter Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, geschah und nicht geschah, keine Illusionen über die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Wir werden - im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen im Herbst des Jahres 1969 - nichts versprechen, was wir nicht halten können; was wir aber versprechen werden, werden wir einlösen.
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Herr Bundeskanzler, Sie haben sich auf den Willen der Wähler berufen. Ihre Politik konnte sich aber von Anfang an nicht auf die Mehrheit der deutschen Wähler stützen, denn Sie haben sich sofort nach der Bundestagswahl - schon in Ihrer Regierungserklärung und danach in zunehmendem Maße - von dem abgewandt, was Sie auch Ihren eigenen Wählern versprochen haben.
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Von der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates bis zu dem nicht eingelösten Reformprogramm entfernte sich Ihr Weg immer weiter von Ihren Aussagen im Bundestagswahlkampf des Jahres 1969. Dafür haben Sie bei den Landtagswahlen die Quittung erhalten, denn bei den meisten dieser Wahlen hat das Votum der Wähler die Position der Union erheblich gestärkt, während die der Regierungskoalitionsparteien im Vergleich zur Bundestagswahl geschwächt wurde.
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Dies ist auch in der letzten Wahl in Baden-Württemberg geschehen, die einen so großartigen Erfolg für die CDU erbracht hat - einen Erfolg, Herr Bundeskanzler, den Sie dadurch zu verhindern trachteten, daß Sie Ihre Ostpolitik zum beherrschenden Thema Ihres Wahlkampfes machten,
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wobei die Union in ungeheuerlicher Weise verdächtigt wurde, eine Politik des Friedens und der Verständigung zu sabotieren. Aber die Wähler Baden-Württembergs ließen sich durch diese emotionale Wahlpropaganda ihr nüchternes Urteil über
das Versagen der Regierung auf dem weiten Felde der gesamten, insbesondere auch der inneren Politik nicht trüben. Daher errang die CDU im industrieintensivsten, also im Verhältnis zu den anderen Bundesländern arbeiterreichsten Lande der Bundesrepublik ihren großen Erfolg.
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Dieser Erfolg würde, umgerechnet auf eine Bundestagswahl - im Gegensatz zu Ihrer Meinung, Herr Bundeskanzler -, der Union eine Mehrheit der Sitze im Bundestag erbracht haben.
In der gestrigen Debatte wurde im Zusammenhang mit denn angeblichen Wählerwillen Kritik an jenen Männern geübt, die ihren eigenen politischen Aussagen verpflichtet und ihrem Gewissen folgend. die Regierungskoalition verlassen haben und zu uns gestoßen sind. Es wurde versucht, das Ansehen dieser Männer durch die Bezeichnung „Zuläufer" oder „Überläufer" herabzusetzen. Aber die Wahrheit ist doch, daß nicht diese Männer ihre politische Überzeugung geändert haben, sondern daß sie sich zu ihrem gewiß nicht leichten Schritt entschlossen haben, weil nicht sie, sondern ihre Parteien ihre Politik in entscheidenden Punkten geändert haben.
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Daher versichern wir diese Männer, die im vollen Einklang mit unserem Grundgesetz gehandelt haben, unseres hohen Respekts.
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Unsere Sorge, Herr Bundeskanzler, gilt aber nicht nur dem Versagen Ihrer Politik in den vergangenen zweieinhalb Jahren, sie gilt vor allem auch jenen bedenklichen Entwicklungen, die sich in der Sozialdemokratischen Partei - und dies nach Bezeugungen führender Sozialdemokraten - immer deutlicher abzeichnen. Nicht eine kleine Gruppe, sondern eine sich immer stärker durchsetzende Bewegung neomarxistischer, sozialistischer Ideologen in der Sozialdemokratischen Partei versucht mit äußerster Entschlossenheit, ihr Programm einer sozialistischen Umgestaltung unserer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, mit oder ohne Stimmzettel, zu verwirklichen. Hier hilft keine Verharmlosung,
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und wir kennen die großen Sorgen, die man sich in Ihren eigenen Reihen über diese gefährliche Entwicklung macht. Wir, die Union, wollen kein sozialistisches Deutschland. Und bei voller Respektierung des souveränen Rechts der anderen Völker, ihre Politik nach ihrem Willen zu gestalten, wollen wir auch nicht, daß sich in unserem Lande der Ehrgeiz entwickelt, die Impulse für eine sozialistische Entwicklung Europas zu geben.
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Sie haben, Herr Bundeskanzler, in Ihrer gestrigen Rede gesagt, die Absage an die Tugend der Geduld werde die Union noch bedauern. Wir aber meinen: Hätten Sie, Herr Bundeskanzler, diese Tugend der Geduld geübt, nach innen wie nach außen, hätten
Sie mit dieser Tugend der Geduld sich um eine Zusammenarbeit mit der Opposition, um eine solide Mehrheit für eine Politik des inneren und äußeren Friedens bemüht, statt eine so anspruchsvolle und gewagte Politik auf eine von Anfang an zu geringe und brüchige Regierungsmehrheit zu gründen, so wäre Ihnen und uns dieser Tag erspart geblieben.
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Meine Damen und Herren, die CDU/CSU schlägt den Abgeordneten dieses Hohen Hauses vor, Dr. Rainer Barzel in der vom Grundgesetz vorgeschriebenen freien und geheimen Wahl zum neuen Bundeskanzler zu wählen. Dieser Mann hat vor allem in den vergangenen zweieinhalb Jahren jene Eigenschaften und jene Kraft bewiesen, die ihn zur Führung dieses schweren, hohen und verantwortungsvollsten Amtes befähigen.
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Präsident von Hassel: Nach der Begründung eröffne ich die Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein verehrter Vorredner hat soeben den Antrag begründet, der gemäß Art. 67 des Grundgesetzes hier von Frau Griesinger, Herrn Katzer, Herrn Struve, Herrn Stücklen, Herrn Windelen, Dr. Wörner und Stücklen und Fraktion eingebracht worden ist. Auf die Begründung werde ich noch zurückkommen.
Die Fraktion der SPD weist diesen Antrag zurück.
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Bundeskanzler Willy Brandt hat das Vertrauen der Fraktion der SPD.
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Kein Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion unterstützt diesen Antrag.
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Sie haben, verehrter Herr Dr. Kiesinger, Ihren Antrag damit begründet, daß Sie eine Regierung ablösen wollen, die versagt habe, und deshalb abgelöst werden müsse. Sie haben dabei auch erwähnt, manche in Ihren eigenen Reihen hätten Ihnen empfohlen, diese Regierung immer tiefer in das, was Sie eine Sackgasse nennen, hineingeraten zu lassen. Aber Sie haben dann unter Berufung auf die Interessen des ganzen deutschen Volkes, sowohl was den Zeitpunkt betrifft als auch was den Inhalt betrifft, das Einbringen Ihres Antrages hier begründet.
Was Sie Bundeskanzler Brandt und der von ihm geführten Regierung vorwerfen, in erster Reihe wegen der Ostverträge und der in jener Richtung geführten Politik, das ist doch, meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, der deutsche Beitrag zum Übergang der Weltpolitik von der Konfrontation zur Kooperation und nichts anderes.
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Was die Verträge im besonderen betrifft, so werden wir über sie am 3. und 4. diskutieren und über die Ratifikationsgesetze entscheiden. Hier aber muß ich nach dem, was Sie gesagt haben, sagen und vorwegnehmen: nach unserer Auffassung gibt es kein wichtigeres deutsches Interesse als das Interesse an der Sicherung des Friedens. Und alles, was wir im Innern tun müssen, damit unser Gemeinwesen den Menschen wirklich dienen und ihnen eine Heimstätte sein kann und immer besser werden kann, das kann nur gelingen, wenn der Friede gesichert wird.
Sie werden sagen: auch Sie wollten das. Ich streite das nicht einmal ab. Worauf es hier ankommt, ist, ob und wer in dieser gegebenen Situation den unserer Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der westlichen Gemeinschaften gemäßen Beitrag zu leisten sich im Stande sieht bzw. ihn unterstützt. Die Amerikaner und die Sowjetunion - diese beiden Supermächte von West und Ost - haben sich über eine ganze Reihe von Dingen nach vielem Hin und Her und trotz Fortdauer ihrer Auseinandersetzungen, die an dritten Stellen geführt werden, über die ich hier nicht zu sprechen brauche, weil wir da sicherlich wissen, welche alle gemeint sein können - z. B. über das Verbot der Stationierung von Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden -, verständigt, haben trotz allem den toten Punkt bei den Gesprächen über die Begrenzung der strategischen Rüstung überwunden, haben sich über den Entwurf eines Vertrags zum Verbot der Herstellung und des Besitzes biologischer und chemischer Waffen geeinigt und manches andere mehr. Und im Zusammenhang mit dem nächsten Monat wird über sehr konkrete Gespräche mit dem Ziel allgemeiner Normalisierung - was immer darunter im Konkreten verstanden werden kann - der wirtschaftlichen Beziehungen geschrieben und gesprochen.
In dem Zusammenhang erlaube ich mir aber, zu zitieren und hier in dieser Stunde in unserem Hause in Erinnerung zu bringen, was der amerikanische Präsident Nixon in seiner Botschaft erst im Februar dieses Jahres im Rahmen dieser Bemühungen gesagt hat:
Im September haben wir
- er meinte die Vereinigten Staaten -und unsere britischen und französischen Verbündeten ein Abkommen mit der Sowjetunion über Berlin erreicht, um dem ein Ende zu machen, daß die Bürger West-Berlins als Faustpfand im kalten Krieg benutzt werden, und um die Gefahr zu verringern, daß Berlin erneut zum Brennpunkt einer scharfen und gefährlichen internationalen Konfrontation werden könnte.
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Ich sehe, daß die Bundesregierung, deren Ablösung Sie mit Ihrem Antrag jetzt und heute betreiben, den Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zu solchen und ähnlich gleichgerichteten Bemühungen zu leisten im Begriffe ist und Erkleckliches vorher schon dazu getan hatte.
Ich erlaube mir, aus einer Rede in der französischen Nationalversammlung zu zitieren, in der der französische Außenminister erklärt hat, nur ein Funke richtiger Urteilskraft genüge, um zu verstehen, daß ein Keim der Zwietracht in die neuen deutsch-französischen Beziehungen hätte gebracht werden können, wenn es die Weigerung und nicht die Bereitschaft Deutschlands gegeben hätte, die aus dem Zusammenbruch des Dritten Reiches hervorgegangenen europäischen Reealitäten anzuerkennen.
Bei uns aber ist es dem gestern von mir in dieser Sache schon einmal angesprochenen Kollegen Strauß vorbehalten geblieben, gerade den Vertrag von Moskau erst am vergangenen Samstag als den „Versuch eines kalten Staatsstreichs" zu bezeichnen.
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Hier scheint wohl der Funke richtiger Urteilskraft noch nicht vorhanden zu sein!
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Wenn ich gesagt habe, es gebe kein wichtigeres deutsches Interesse als das Interesse an der Sicheurng des Friedens, so sage ich zusätzlich: unsere deutschen Interessen gebieten uns, nach unserer Auffassung den Frieden sicherer zu machen, um Freiheit und Sicherheit zu erhalten. Dies setzt den Gleichklang und die Zusammenarbeit mit unseren westlichen Verbündeten voraus. Dies wiederum erfordert die Erweiterung und den Ausbau der Europäischen Gemeinschaften und die Zusammenarbeit mit Osteuropa. Beides sind Positivnoten der Bundesregierung Brandt und Scheel. Diese Zusammenarbeit mit Osteuropa setzt die Beseitigung von Spannungsursachen mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten um Berlin und in Deutschland voraus, und hierdurch - das ist unsere Meinung - wird der Weg frei für das, was im Zusammenhang mit einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in die Diskussion gebracht worden ist. Diese Konferenz kann auch nur in einem sehr langen Prozeß, an dem wir gleichberechtigt mitwirken wollen, dank der Vorarbeit, die die von Ihnen heute hier so angegriffene Regierung geleistet hat - und sie ist weiter dabei, sie zu leisten -, jedoch nur gleichberechtigt mitwirken können, die Voraussetzung für Zusammenarbeit schaffen, die auch unserem gesamten deutschen Volk zugute kommt.
Verehrter Herr Kollege, die vertragliche Respektierung der territorialen Unverletzlichkeit aller Partner innerhalb der bestehenden Grenzen, mit denen wir es in diesem Prozeß zu tun haben, ist die Voraussetzung für partnerschaftliche Verhandlungen über normale Beziehungen und deren weiteren Ausbau. Um es deutlich zu sagen: ohne die vertragliche Respektierung der Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen gibt es keine Aussicht darauf, zwischenstaatliche Beziehungen zu entwickeln, durch die schließlich Grenzen nicht mehr blutende Grenzen sein werden. Das ist es, womit wir es alle, Sie ebenso wie wir, zu tun haben.
Der von Ihnen heute hier im umgekehrten Sinne zum Mittelpunkt gemachte Kollege Dr. Barzel hat noch im Jahre 1969 erklärt, als er sich als Kritiker zu der von mir soeben erwähnten, damals in die Diskussion gebrachten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa äußerte:
Wäre eine solche Konferenz nicht sinnvoller, wenn zuvor durch bilaterale Gewaltverzichte die Basis für Abrüstungs- und Sicherheitsmaßnahmen in Europa geschaffen wäre?
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- Schönen Dank, daß Sie seiner Kritik von damals auch noch Beifall klatschen und auch Beifall dafür klatschen, daß ich sie heute in Erinnerung gebracht habe. Nun haben wir das, und nun haben Sie andere Argumente oder Vorwände. Das, was Sie zum Teil nun treiben, nenne ich ein Spiel mit Gefühlen unseres Volkes und ein Spiel mit dem inneren Gefüge unseres Staates, das auch Sie noch einmal in der Rückschau als bedenklich ansehen werden.
Von Deutschland für die Deutschen so viel zu retten, wie die weltmachtpolitischen Verhältnisse möglich machen, das heißt und das setzt voraus, meine Damen und Herren, erstens, diesen unseren Staat fest verbunden zu halten mit der Europäischen Gemeinschaft, die sich trotz allem entwickelt, zweitens, die Verständigung mit dem Osten zu suchen und uns um sie zu bemühen. Wenn Sie das nun zum ersten, sagen wir nun sachlich, der Form wegen, weil Sie sich etwas anderes vorstellen, d. h. weil Sie es anders wollen und auch meinen, Sie könnten es anders schaffen, zum Gegenstand einer Maßnahme machen, wie es die ist, über die heute hier zu entscheiden ist, so haben wir Ihnen dies entgegenzusetzen, im Vorgriff auf das, was wir am 3. und 4. Mai eingehend, Argument zu Argument, werden gegeneinanderzustellen haben.
Sie haben die zweite Welle Ihrer Kritik, die Finanzwirtschaft, unter Berufung auf das, was gestern hier dazu gesagt worden ist, bekräftigt. Verehrter Herr Kollege und verehrte Damen und Herren von der Opposition, wir werden ja nach diesem Punkt und dieser Entscheidung in der Behandlung des Bundeshaushalts 1972 fortfahren. Es ist angekündigt worden, das werde die Generalabrechnung werden und dabei werde es - so haben wir es verstanden - um Mark und Pfennig und Stellen hinter dem Komma gehen. Wir sind gestern von Ihren Hauptsprechern noch nicht wirklich befriedigt worden, obwohl sich mehrere vorher in den Zeitungsvorschauen mit dieser Ankündigung einer Generalabrechnung gemeldet hatten.
Sie haben, verehrter Herr Kollege, in der Begründung auf die Wahl von Baden-Württemberg zurückgeblickt. Sollen wir jetzt wetteifern, indem ich Ihnen sage, wie sich die Abstände zwischen Ihnen und uns verringert haben? - Bitte, bitte, Sie müssen nicht gleich unruhig werden. Bei der Landtagswahl 1968 waren es 10,6, bei der Bundestagswahl waren es 11,2; da war der Abstand sogar noch größer geworden, obwohl es die Bundestagswahl war, bei der Sie die Regierungsbildung nicht mehr vornehmen konnten. Ich verstehe, daß das schmerzte; denn Sie waren sich vorher so sicher, Sie würden eine Koalition mit der vorherigen Opposition zustande bringen; war Pech, war Pech.
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Nun, man lernt nie aus. Nun ist der Abstand zwischen Ihnen und uns 6 und ganz wenig hinter dem Komma.
Lassen wir uns mit der Umrechnung den Schriftgelehrten. Da hat der neben Ihnen sitzende Generalsekretär den Begriff „Hochrechnung" schon so strapaziert, daß ich versucht bin - oder war; ich bin schon darüber hinweg -, zu sagen, was das eigentlich alles heißt. Das ist so mystisch, dieser Begriff. Sie sind in diesem Punkte, obwohl Ehrenvorsitzender, gemäßigter in der Wahl von Modeworten als der Generalsekretär. Sie sagen „Umrechnung". Wenn Sie richtig umrechnen, müssen Sie die Landtagswahlergebnisse nicht nur von Baden-Württemberg nehmen. Das wissen Sie genau. Lassen wir das hier, weil wir noch manchmal Gelegenheit haben werden, darauf zurückzukommen.
Die Entwicklung in der SPD selbst macht Ihnen Sorge. Das ehrt Sie, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.
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- Nein, nein, das kommt ganz darauf an - das
gebe ich zu -, wie man dieser Sorge Ausdruck gibt. So wie Sie ihr hier Ausdruck gegeben haben, ehrt Sie das. Wenn ich alle anderen Zeitungsstimmen und Berichte - das ist auch oft Feature-Stil - über entsprechende Wahlkundgebungen und solche Reden auf Marktplätzen außer acht lasse, bleibt immer noch ein positiver Punkt.
Nun, Sie sagen - und aus diesem Grunde sind Sie ja die Union, während wir die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sind -, Sie wollten kein sozialistisches Deutschland und wollten auch nicht, daß in unserem Lande der Ehrgeiz sich entwickle, die Impulse für eine sozialistische Entwicklung Europas zu geben. Wissen Sie, das, was da drinsteckt, ist mir natürlich auch klar. Sie waren ja hier einer der Hauptgladiatoren - Sie denken noch an dieses Wort - in den fünfziger Jahren, und Sie wissen noch und haben noch in Erinnerung, wie uns dieser Begriff - mit „uns" meine ich jetzt die Sozialdemokraten - des Sozialismus, von Meistern damals gehandhabt, zu denen auch Sie gehörten, bis Sie dieser Stadt zeitweilig den Rücken kehrten, um das Erneuerungsbad im Ländle zu erleben, in gewisse Grenzen gezwungen hat.
Was Europa betrifft, - ich würde mich gern mit Ihnen darüber hier weiter aussprechen. Aber Sie haben sicher Gelegenheit sonst stelle ich es Ihnen gern zur Verfügung -, einschlägige Darlegungen von anderen und von mir über Europa 1972 in der „Neuen Gesellschaft" zu lesen. Gern bin ich bereit, darüber sachlich zu diskutieren.
Kommen wir nun auf Ihren Antrag zurück, meine Damen und Herren. Die Begründung hat - das lag bei der Natur des Begründers sehr nahe; es wäre wohl auch dann der Fall gewesen, wenn der ursprünglich angekündigte verehrte Kollege Hallstein nicht indisponiert gewesen wäre - vor allen Dingen außenpolitische Akzente getragen. Sie haben anklingen lassen, daß nach Ihrer Auffassung für die Ratifikation der Ostverträge keine Mehrheit vorhanden sei. Das hatten wir vorher auch schon lesen und hören können. Nun ist die Sache einfach. Wenn in der nächsten Woche über die Ratifikation der Ostverträge abgestimmt wird, dann muß jeder offen
zeigen, ob er für die Ratifikation oder gegen die Ratifikation stimmt.
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- Moment mal, ehe wir uns gegenseitig erregen und daran aufranken: Daran ist nichts zu ändern, verehrter Kollege. So bestimmt es nämlich die Geschäftsordnung.
Heute wird hier über den Mißtrauensantrag gegen unseren Bundeskanzler Willy Brandt abgestimmt. Diese Abstimmung ist geheim; auch das bestimmt die Geschäftsordnung. Weil ich einiges aus der gestrigen Debatte noch im Ohr habe und auch bis heute morgen in manchen Blättern, die Ihnen näher stehen als mir, noch einiges darüber gelesen habe, muß ich sagen: wir, die sozialdemokratische Fraktion, verhalten uns in jedem Fall so, wie es die Geschäftsordnung bestimmt, und ganz grundgesetzgemäß. Ich verstehe nicht - nein, ich verstehe es doch; entschuldigen Sie die Untertreibung , warum diese Irritation bei Ihnen gestern so stark zum Ausdruck gebracht worden ist. Sie sind ja sonst Meister, Ihre Gefühle umzufunktionieren, wenn es um das Austragen von Gefühlen geht. Warum so viel Irritation über ein Verhalten, das mit den Bestimmungen der Geschäftsordnung übereinstimmt? Warum noch gestern eine ausdrückliche schriftliche Versicherung Ihres Fraktionsvorsitzenden, daß seine Informationen und Interpretationen Gültigkeit behielten?
Sie, meine Damen und Herren, die Sie den Antrag unterzeichnet und eingebracht haben, der die Nummer VI/3380 trägt, Sie müssen 249 Stimmen aufbringen. Das ist das einzige, was bei diesem Antrag wichtig und entscheidend ist. Wir Sozialdemokraten unterstützen Sie in Ihrem Vorhaben nicht; das werden Sie verstehen.
({11})
Denn der Bundeskanzler Willy Brandt hat und behält unser Vertrauen. Insofern unterscheiden wir uns von Äußerungen zurückliegender Jahre. 1966 wurde ja von einem geredet, der war, der ist, und der bleibe Bundeskanzler. - Schwamm drüber! Sicherlich auch bei Ihnen Schwamm drüber, denn alle - einschließlich dessen, der damals so geredet hat - haben inzwischen gelernt.
Wir Sozialdemokraten unterstützen die vom Bundeskanzler Brandt und dem Koalitionspartner Scheel geführte Bundesregierung, während Sie, die Opposition, wünschen und das Ihnen Mögliche tun, den Bundeskanzler durch Dr. Barzel zu ersetzen. Daß Sie dafür unsere Stimmen nicht erwerben können, das wissen Sie. Versuchen Sie also mit eigenen Stimmen, Ihr Vorhaben zu erreichen. Das ist, sehr nüchtern, die Grundlage. Stützen Sie Ihren Kandidaten bei seinem Klimmzug.
({12})
- Ja, „Klimmzug" ist auch nicht mein eigener Begriff. Der tatsächliche Autor guckt schon sehr scheel von der Seite. Das habe ich gelesen in jener Zeitung, die man gelegentlich zu lesen hat, wenn man wissen will, daß die Leute denken sollen. Das stammt vom
3. Februar dieses Jahres. Da hat der Herr Kollege Strauß auf die Frage „Wird man Sie noch einmal als Kanzlerkandidaten der Union sehen?" geantwortet - es war fettgedruckt -:
Ich bin der Vorsitzende der kleineren Partei und damit die Nummer zwei in der Bonner Organisation der CDU/CSU, in dieser Rolle kann ich also die Nummer eins jeweils gut beraten und meinen Einfluß zur Geltung bringen. Dabei fühle ich mich wesentlich einflußreicher, als wenn ich als Nummer eins Klimmzüge machen müßte.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie kennen alle den § 98 unserer Geschäftsordnung mit der Überschrift „Anträge nach Artikel 67 des Grundgesetzes". Ein solcher ist dieser Antrag. Ich brauche diesen Paragraphen also nicht in Erinnerung zu rufen. Sie kennen auch den § 54 a über „Wahlen mit verdeckten Stimmzetteln", wo es unter Berufung auf die Bundeswahlordnung, die da angezogen ist, eindeutig heißt:
({14}) Der Wahlvorstand hat einen Wähler zurückzuweisen, der
a) seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlzelle gekennzeichnet oder in den Wahlumschlag gelegt hat oder
b) . . .
Das ist es. Wir werden sicher noch eingehender und authentisch über die geschäftsordnungsgemäßen Notwendigkeiten, die zu beachten sind, belehrt werden.
Aber, wie gesagt, mir läge wenn schon nicht auf der Zunge, so doch auf dem Herzen, noch manches zu sagen. Ich halte es zurück und sage noch einmal, daß die Fraktion der Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag Ihnen nicht zu den erforderlichen 249 Stimmen verhelfen wird.
({15})
Präsident von Hassel: Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der Freien Demokraten habe ich folgende Erklärung abzugeben:
Wir haben uns für diese Koalition entschieden, weil wir davon überzeugt waren und überzeugt sind, daß eine Politik notwendig war und notwendig ist, die die Bundesrepublik Deutschland nach innen wie nach außen aus der Stagnation herausführt. Hierfür haben wir vor zweieinhalb Jahren ein Regierungsprogramm vorgelegt, das es uns ermöglicht, für die Sicherung des Friedens und der Freiheit, für die Sicherung der Rechte des einzelnen, für die Wahrung der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit, für die Wahrung des inneren Friedens in unserem Staat zu arbeiten. Dieses Programm wollen
wir mit unserem Koalitionspartner in dieser Legislaturperiode weiter verwirklichen.
({0})
Wir haben uns für diese Koalition entschieden, weil sich gezeigt hat, daß die CDU/CSU seit Mitte der 60er Jahre unfähig war, langfristige politische Perspektiven zu entwickeln.
({1})
Diese Erfahrung konnten wir als Koalitionspartner der CDU/CSU und in der Opposition machen. Wer einen neuen Kanzler, wer eine neue Regierung will, muß auch ein Alternativprogramm vorlegen können. Das hat die Opposition nicht.
({2})
Den Beweis dafür hat der Oppositionsführer mit seiner gestrigen Rede selbst erbracht.
({3})
Das gilt für die Innenpolitik genauso wie für die Außenpolitik. Diese Regierung hat die Bildungspolitik, die in den CDU/CSU-regierten Ländern vernachlässigt wird,
({4})
energisch angefaßt. Das gilt für die Sozialpolitik
genauso wie für die Maßnahmen der inneren Sicherheit. Die Wirtschaftspolitik dieser Koalition wird getragen von dem klaren Bekenntnis zu unserer marktwirtschaftlichen Ordnung, für deren Erhaltung unter anderem die Leistungssteigerung der mittelständischen Unternehmen eine wichtige Rolle spielt. Diese Koalition ist sich bewußt, welch hohe Bedeutung der Sicherung der Preisstabilität für das mittel- und langfristige wirtschaftliche Wachstum sowie für die mittelfristige Sicherung der Vollbeschäftigung zukommt. Diese Koalition ist bemüht, diesem Ziel durch ihre Konjunkturpolitik Rechnung zu tragen. Sie hat auf Grund ihrer restriktiven und konjunkturgerechten Haushaltsführung einige ihrer Reformvorhaben zeitlich verschoben. Sie hat damit der zeitweiligen Krise des Weltwährungssystems ihren Tribut gezollt.
Auf anderen innenpolitischen Gebieten hat diese Koalition eine Reihe überzeugender Verbesserungen durchgesetzt, die ebenfalls Grundanliegen der Freien Demokraten darstellen. Dazu zählt die Stärkung der Rechte des einzelnen am Arbeitsplatz, die Gleichstellung der Angestellten mit den Arbeitern in der Krankenversicherung, die Herabsetzung des Wahlalters, die Dynamisierung der Kriegsopferrenten und, um noch ein Beispiel unter vielen zu nennen, das Gesetz zur Sanierung und gesunden Entwicklung unserer Städte.
All dies wurde häufig gegen den hartnäckigen Widerstand der CDU/CSU in sachlicher Zusammenarbeit zwischen Freien Demokraten und Sozialdemokraten erreicht. Wir haben, wie ich schon 1969 zur Regierungserklärung gesagt habe, in dieser Koalition nicht wie eineiige Zwillinge gehandelt, aber wir haben unsere Entscheidungen stets unter dem Aspekt der gemeinsam übernommenen Verantwortung getroffen. Dabei haben wir in keinem Fall liberale Grundsätze durchbrochen, sondern stets im Rahmen dessen entschieden, was uns die Nürnberger Wahlplattform der Freien Demokraten von 1969 vorgezeichnet hat. Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Grundsätze nicht verlassen.
({5})
Dies war nur möglich, weil in der sozialliberalen Koalition die Eigenständigkeit jedes Partners geachtet wurde. Dies stellt in der Tat etwas prinzipiell Neues für eine Koalition dar, an der die FDP in Bonn bisher beteiligt war. Zwischen SPD und FDP besteht ein Klima des Vertrauens, das aus Fairneß erwächst. Der Erfolg hat uns recht gegeben. Wir haben Fortschritte erzielt, die den Bürgern unseres Staates unmittelbar und auch langfristig zugute kommen. Diese Fortschritte gilt es zu sichern und auszubauen.
Die Regierung und diese Koalition haben nicht nur längst fällige Anstrengungen in der Außenpolitik gegenüber Osteuropa unternommen, sondern ebenso für die Einigung Westeuropas. Die Erfolge sprechen für sich selbst. Ich erinnere nur an die Erweiterung der EWG.
Diese Bundesregierung, getragen von der FDP und der SPD, hat mehr geleistet als jede Regierung vorher in einem so kurzen Zeitraum.
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In dieser Regierung, in dieser Koalition sind Grundsatzforderungen der Freien Demokraten in die Tat umgesetzt worden, indem beispielsweise der Dialog zwischen den beiden Staaten in Deutschland aufgenommen wurde und in konkrete Verhandlungen, die in ihrem Ergebnis den Menschen in Deutschland dienen, mündete. Sie hat die Verständigung und Entspannung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Staaten Osteuropas ebenso zum Ziel der Außenpolitik gemacht wie die Vertiefung des Integrationsprozesses in Westeuropa.
Und was hat die Opposition gegen diese Außenpolitik zu bieten? - Keine schlüssige Alternative zu unserer Politik der Entspannung und Friedenssicherung im Interesse unseres Volkes, gesichert in Freiheit zu leben; vor allen Dingen auch keine Alternative für die Berliner Bevölkerung. Sie will die Verantwortung dafür übernehmen, die Berliner Bevölkerung in neue Ungewißheit und Unsicherheit zurückzustoßen.
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Sie will die Verantwortung dafür übernehmen, daß all die greifbaren und auch von Ihnen geforderten menschlichen Erleichterungen gefährdet werden, die so nahe vor uns stehen.
({8})
Wir wollen die Probleme unserer Gesellschaft weiterhin mit einer Politik anpacken, die für die Aufgaben der kommenden Jahrzehnte gerüstet ist. Deshalb ist das Ja der Freien Demokraten zu dieser Koalition und zu dieser Regierung heute genauso eindeutig wie 1969.
({9})
Präsident von Hassel: Das Wort hat Bundesminister Scheel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder einzelne Abgeordnete muß heute eine Entscheidung von großer politischer Tragweite fällen. Es geht um den Versuch, eine Veränderung politischer Mehrheitsverhältnisse ohne Wählerentscheid herbeizuführen. Das trifft unabhängig von der formalen Legitimität den Nerv dieser Demokratie.
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Wenn es zur Regel werden sollte, daß Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten durch Parteienwechsel, also ohne Wählervotum, verändert werden, dann stirbt die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie.
({1})
Wir achten die freie Gewissensentscheidung jedes Abgeordneten.
({2})
Höchster Maßstab der Gewissensprüfung müssen aber die Achtung vor dem Votum der Wähler,
({3})
die Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems und das Ansehen der politischen Parteien sein.
({4})
Wer hat denn jemals einen Volksvertreter daran gehindert, seinem Gewissen zu folgen und sein Mandat in die Hände der Wähler seiner Partei zurückzulegen?
({5})
Hüten wir uns davor, große Worte zu strapazieren, wenn es um ganz handfeste Dinge geht.
({6})
Die Sicherung der persönlichen politischen Zukunft ist keine Gewissensfrage.
({7})
Man sollte die Wähler in einer solchen Situation nicht verhöhnen und mit unser aller Ruf als Volksvertreter nicht Schindluder treiben; das wäre gewissenlos.
({8})
Sie wollen an die Regierung, ohne eine Bundestagswahl gewonnen zu haben. Wenn Ihnen die Wähler dieses Landes eine Mehrheit verschaffen, dann könnten wir darüber zwar nicht froh sein, würden uns aber selbstverständlich vor dem Urteil der Wähler verneigen und Ihnen noch die Siegespalme reichen. Doch das, was hier gespielt werden soll, ist ein schäbiges Spiel.
({9})
Sie hoffen auf Mitglieder dieses Hauses, deren Nervenkraft und Charakterstärke nicht ausreichen, in einer schweren Stunde zu ihrer Partei zu stehen oder ihr Mandat zurückzugeben.
({10})
Wer Regierungsmacht auf dieser moralischen Grundlage aufbauen will, der baut auf Sand.
({11})
Ein Bundeskanzler, der auf diese Weise ins Amt kommt, wäre nur eine Stunde lang glücklich.
Diese Regierung soll kurz vor dem Ziel gestürzt werden.
({12})
In der Außenpolitik sind wir wenige Meter vor der Marke, hinter der die Gefahr der außenpolitischen Isolierung gebannt ist und eine gesicherte Entspannung der Lage in Mitteleuropa beginnt.
({13})
Die Lage der Wirtschaft entwickelt sich allen Unkenrufen zum Trotz besser als erwartet.
({14})
In diesem Land herrschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen und im Gegensatz zu der Zeit der Regierung Kiesinger und zur Lage in einigen Nachbarländern, Ruhe und Frieden.
({15})
Notwendige Reformgesetze, die jahrelang auf die lange Bank geschoben worden waren, wurden verabschiedet oder auf den parlamentarischen Weg gebracht. Sie fürchten unter diesen Umständen die Wahlen von 1973; darum wollen Sie ihnen zuvorkommen.
({16})
Wir Freien Demokraten haben es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt. Was auf uns als kleinste der Bundesparteien eingestürmt ist, hat die Grenzen der Belastbarkeit oft erreicht. Diese kleine liberale Partei sollte immer wieder zerschlagen, gespalten, hinauskatapultiert werden. Der Kapitaleinsatz allein gegen die FDP jetzt bei der baden-württembergischen Landtagswahl betrug mehr als das Zehnfache der Mittel, die uns zur Verfügung standen.
({17})
Um die Liberalen in ihrem Stammland politisch zu ermorden, handelte man nach dem verhängnisvollen Satz: Der Zweck heiligt die Mittel.
({18})
Die beabsichtigte Leichenfledderei am politischen Liberalismus - natürlich christlich motiviert ({19})
konnte dann doch nicht stattfinden, weil die Liberalen nicht nur höchst lebendig, sondern unerwartet vital aus der Schlacht hervorgingen. Uns haben in diesen schweren Wochen so manche im Stich gelassen, die sich übrigens wundern würden, wenn wir sie, ihre Anliegen und Interessen auch einmal im Stich lassen würden. Aber sehr viele haben uns
geholfen, freiwillig, uneigennützig, haben ihren guten Namen für uns verpfändet. Ihnen sind wir verpflichtet.
({20})
Wir Liberalen leben bewußt mit dem Risiko. Wir sind so viele Krisen und Rückschläge gewohnt, daß wir die Existenzangst überwunden haben. Wir haben 1969 das getan, was für unser Volk richtig und notwendig war, obwohl wir wußten, daß wir damit in die schwerste Belastungsprobe unserer Parteigeschichte gehen würden. Ich hätte heute nicht den Mut, vor unsere vielen Mitglieder, die draußen im Lande Zeit, Kraft, Nerven, Geld und oft ihre gesellschaftliche Stellung für diese Partei eingesetzt haben, vor unsere Helfer und Wähler zu treten, wenn wir das politisch Falsche getan hätten, nur um auf jeden Fall unsere Haut zu retten.
Diese kleine und mutige, gescholtene und geschlagene, häufig für tot erklärte und immer wieder aufgestandene Freie Demokratische Partei hat mehr für das Wohl dieser Republik bewirkt als ihrer zahlenmäßigen Stärke zuzutrauen war.
({21})
Ich leugne nicht, daß wir mit Ihnen von der CDU/ CSU zusammen bedeutende Erfolge für die Bundesrepublik errungen haben, auch wenn Sie uns als Dank für die gemeinsame Arbeit schon 1956 mit dem Grabenwahlrecht existentiell vernichten wollten. Ich stehe zu unserem Entschluß, 1949 gegen Ihr, der CDU, Ahlener Programm die Marktwirtschaft durchgepaukt und als ersten Schritt der außenpolitischen Handlungsfähigkeit die Westverträge abgeschlossen zu haben. Beides wäre ohne die FDP nicht möglich gewesen. Doch geben wir auch das zu: das Kabinett Erhard war am Ende nicht mehr handlungsfähig, das Kabinett Kiesinger mit seiner großen Mehrheit so bewegungsarm, daß es die Kernprobleme unserer nationalen Existenz und unserer gesellschaftlichen Zukunft nicht einmal anpacken konnte.
Der Regierungswechsel war nach zwei Jahrzehnten überfällig. Hätten wir ihn nicht bewirkt, so hätten wir im demokratischen Sinne in entscheidender Stunde versagt. Wie sah es denn 1969 in diesem Lande aus, außenpolitisch, währungspolitisch, wirtschaftspolitisch, auf unseren Straßen und Plätzen? Diese Regierung hat keine Wunder bewirkt. Sie hat dieses Land aber vor einer gefährlichen außenpolitischen Isolierung bewahrt,
({22})
sie hat die ihr überlassene überhitzte Konjunktur ohne Umschlag in eine Rezession gezähmt, zahlreiche Reformwerke durchgebracht oder auf den parlamentarischen Weg gegeben und dieses Land befriedet. Das alles wollen Sie aufs Spiel setzen, nur weil Sie es nicht vier Jahre lang auf den Bänken der Opposition aushalten können, um den Wähler dann in Ruhe das Urteil sprechen zu lassen?
({23})
Ich sage ganz offen: Vielleicht haben wir hier und dort zu viele Erwartungen geweckt.
({24})
Wir haben in zweieinhalb Jahren aber auch viel geleistet. Wir können uns neben jeder Regierung sehen lassen. Wir haben uns bis an die Grenze unserer Kräfte für dieses Volk eingesetzt. Da haben wir ein ganz gutes Gewissen.
({25})
Diese Regierung hat ihre Spur tief in die Nachkriegsgeschichte unseres Volkes eingekerbt, komme, was da wolle.
({26})
Diese Regierung hat sich geschichtlich allein schon dadurch gerechtfertigt, daß sie mit ihrer knappen Mehrheit das geschaffen hat, was andere mit ihren großen Mehrheiten nicht erreichen wollten oder konnten:
({27})
unser Volk über seine Tabuschwellen hinwegzuführen, es von Illusionen wegzubringen,
({28})
ihm auch harte Wahrheiten über seine Lage zu sagen und auf diese Weise die ihm nach zwei verlorenen Weltkriegen verbliebene nationale Restsubstanz dauerhaft zu sichern.
({29})
Wir haben den Schutt weggeräumt, und wir haben uns die Finger dabei blutig gemacht.
({30})
- Sie haben uns bei dieser politischen Knochenarbeit nicht geholfen, meine Damen und Herren.
({31})
Sie haben uns verspottet und verteufelt, aber nun
wollen Sie die Früchte unserer Mühe genießen.
({32})
Selbst wenn Ihnen das gelingen sollte, könnte das den Stolz auf unsere unter schwierigsten Umständen erbrachte politische Leistung nicht mindern.
Ich will nicht mehr als an die schwere Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten appellieren. Lassen Sie diesem Volk noch ein Jahr lang seinen inneren Frieden, stellen wir uns dann gemeinsam dem Urteil der Wähler! Machen Sie unser Land und sich selber nicht unglücklich, indem Sie zur falschen Zeit mit den falschen Methoden eine Regierung etablieren wollen, deren Fundament sich auf politische Überläufer stützen müßte und deren Geburtsstunde vom Makel des Wortbruchs gekennzeichnet wäre!
({33})
Eine Regierung gegen Treu und Glauben hat unser Volk nicht verdient. Das haben auch Sie nicht verdient, Herr Dr. Barzel.
Unsere Regierung mag ihre Schwächen haben. Ein unter solchen Umständen geborenes Kabinett wäre das schwächste aller Zeiten.
({34})
Sie sind wieder einmal zu früh gestartet, Herr Kollege Barzel. Das kann nur ein Fehlschlag werden, so oder so. Wir sollten Sie und uns vor den Folgen bewahren.
({35})
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede, die wir gerade gehört haben, ist in vielerlei Beziehung, scheint mir, sehr bedauerlich gewesen.
({0})
Sie hat den Graben, der uns trennt, eher tiefer gemacht als im Interesse des Ganzen zugeschüttet.
({1})
Der Kollege Scheel hat es unternommen, die Mehrheit, die sich ergeben mag, von vornherein zu diffamieren. Dagegen müssen wir uns energisch zur Wehr setzen.
({2})
Er hat den Anfang einer Legendenbildung versucht, diese Regierung sei kurz vor dem Ziel gewesen und sei nicht weitergekommen. Meine Damen und Herren, diese Regierung hat 30 Monate regiert. Wir haben diese 30 Monate mit Gelassenheit,
({3})
- mit großer Gelassenheit --, aber in vielem mit energischem Widerstand betrieben. Wir sind jetzt der Meinung, daß 30 Monate dieser Regierung auf jeden Fall genug sind.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir auch in dieser Debatte über die Ostverträge sprechen und sprechen müssen - dies ist vorhin mehrfach getan worden -, so sind wir uns gewiß alle der Verantwortung bewußt, die auf uns liegt, morgen vielleicht noch schwerer und noch drückender als heute. Wir haben oft gesagt, daß Außenpolitik einschließlich der Deutschlandpolitik, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und die Bündnispolitik nach Möglichkeit, ungeachtet der Zusammensetzung der Opposition, auf eine breite Basis gestellt werden sollten. Das gilt heute, das gilt morgen. Wenn eine Regierung - wie die derzeitige Bundesregierung -gegen diesen Grundsatz verstößt, dann geschehen die beklagenswerten Ereignisse, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Die Vertragspartner werden enttäuscht, wenn die ihnen gegenüberstehende Regierung eine zu schmale Basis hat, wenn sie auf Hilfstruppen angewiesen ist, die sie nicht mobilisieren kann. Die Bündnispartner werden enttäuscht, verwirrt und vom vereinbarten Weg abgelenkt. Im Innern droht die Gefahr der Polarisierung in die Guten und die Bösen, die Entspannungswilligen hier, die Gegner der Entspannung dort. Das schlägt seine Wellen nach draußen, kommt vergröbert zurück, wird in den innenpolitischen Kampf gezogen und weiter gesteigert. Dann kommen solche Worte wie die hier gestern: entweder diese Verträge oder die Entspannung geht ohne uns weiter. Was das neben der wirklich oder angeblich weiteren Anerkennung der DDR durch unsere Freunde oder Verbündeten eigentlich heißt, bleibt dunkel. Es genügte aber, um in dem hinter uns liegenden Wahlkampf von Baden-Württemberg Furcht und Schrekken vor den angeblich schlimmen Konsequenzen der Ablehnung der Verträge zu erregen oder wenigstens zu erregen zu versuchen. Daß man so nicht auswärtige Politik betreiben kann oder betreiben darf, liegt auf der Hand.
({5})
Den Vorwurf aber, gerade dies getan zu haben, muß sich die Regierung gefallen lassen.
({6})
Wir sind hier sicherlich nicht in einer zweiten Vertragsdebatte. Ich muß aber zwei Dinge herausgreifen, die gestern vom Bundeskanzler und Bundesaußenminister zwischen vielen anderen Themen behandelt worden sind. Der eine Streit geht um die Frage, ob die Verträge von beiden Seiten in derselben Weise aufgefaßt werden. Sie hängt eng mit der Frage der Einsichtnahme in die Unterlagen zusammen. Diese bestehen, wie wir von dem Bundeskanzler selbst wissen, aus zwölf Aktenordnern, sind also nicht etwa riesig. Ursprünglich hatte sich die Regierung berühmt, mehr genaue Information und wirkliche Einsicht zu gewähren als irgendeine Regierung vor ihr. Heute sträubt sie sich dagegen unter Berufung auf die angebliche internationale Praxis und die Gefährdung ihrer internationalen Handlungsfähigkeit. Sie verschweigt, daß ihr von uns angeboten worden ist, die Einsichtnahme unter Geheimschutz zu vollziehen. Die Regierung hat aber selbst Stücke aus den Unterlagen in der Ratifizierungsdrucksache veröffentlicht. Ich stütze mich hier auf die Bundestagsdrucksache VI/3156, Dort heißt es zur Frage der Anerkennung der Grenzen - Äußerung des sowjetischen Außenministers -:
Zur Frage der Anerkennung der Grenzen:
Wir sind Ihnen entgegengekommen in der Grenzfrage, als wir den Begriff Anerkennung fallen gelassen haben. Das war für uns ein sehr komplizierter und politisch schmerzhafter Prozeß.
Nun hören Sie ein einziges weiteres Zitat aus den von der Bundesregierung selbst veröffentlichten Unterlagen. Es sind hier die Ost-Informationen vom 13. April. Dort wird Gromyko im Obersten Sowjet von dem Abgeordneten Abusow gefragt:
Einige Vertreter der CDU CSU haben erklärt, daß der Vertrag zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland sich auf Bestimmungen bezüglich des Verzichts auf Gewaltanwendung beschränken sollte. Was könnten Sie zu dieser Auslegung der Frage sagen?
Dr. Schröder ({7}) Die Antwort Gromykos:
Der Vertrag wäre für die Sowjetunion einfach sinnlos, wenn sich ein Inhalt auf die Verpflichtung der Vertragspartner beschränken würde, auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung zu verzichten, während die Bundesrepublik Deutschland fortfährt, die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen der Bundesrepublik Deutschland in Europa in Frage zu stellen. Die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Ländern ist nur auf der Grundlage der Anerkennung und Respektierung der europäischen Realitäten durch die Bundesrepublik möglich.
Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, daß Sie diese Zitate so sorgfältig angehört haben, wie das die Sache verlangt. Sie zeigen ganz klar den Weg, den die Bundesregierung vor Moskau und in Moskau gegangen ist. Wir wollen die Sache jetzt nicht im Licht der Verfassung weiter beleuchten. Ich bin mir auch wegen morgen und übermorgen der Notwendigkeit bewußt, möglichst die Auslegung zu wählen, die die deutschen Interessen am ehesten wahrt, auch unter Umständen, für die wir zwar keine eigene Verantwortung tragen, aber als Deutsche möglicherweise haften müssen. Jedem sollte jetzt verständlich sein, daß sich die Opposition nicht damit zufrieden geben kann, daß ihr die Regierung Auskunft zu geben bereit ist. An den Kern ist eben nicht oder nicht mehr durch Auskunft, sondern nur durch die tatsächliche Einsichtnahme in die genannten zwölf Ordner heranzukommen.
({8})
Ich will zwei Zitate aus dein Ausland hinzufügen, das erste aus der größten Zeitung der benachbarten und befreundeten Niederlande, ein Zitat, aus dem „Telegraaf". Dort heißt es:
Bundeskanzler Brandt hat es mit seinem Streben nach einer Entspannungspolitik gegenüber Moskau unzweifelhaft gut gemeint. Aber er hat zu spät entdeckt, daß er für diese angesichts der Mentalität in Moskau vielleicht illusionistische Politik das ganze Land hinter sich hätte scharen müssen.
({9})
Außenpolitik kann nicht die Politik einer zufälligen Mehrheit sein.
({10})
Ich darf um Entschuldigung bitten, daß ich das Weitere vorlese:
Die naive Seite des gutwilligen Brandt hat zu einer moralischen Niederlage geführt.
Nun nur noch ein zweites Zitat aus der „Times" von vorgestern:
Wir sollten keine Schwierigkeiten haben, mit einer CDU-Regierung für Europa zu arbeiten, wenn eine solche Regierung gebildet wird. Es wäre sehr dumm, ein Schreckgespenst aus einer Partei zu machen, die in den 20 Jahren nach
dem Krieg die moderne Tradition einer deutschen Demokratie begründete.
({11})
Ich möchte noch ein Wort an den Kollegen Mischnick sagen und zum wiederholten Male betonen: Berlin steht für uns im Zentrum unserer Politik.
({12})
Der Sowjetunion und allen osteuropäischen Nachbarn, allen unseren Freunden und Verbündeten müssen wir dies sagen. Sie können sich auf das verlassen, was wir wieder und wieder gesagt haben und sagen werden: wir sind für eine Politik des Friedens und einer friedlichen Entwicklung, wir sind für einen Verzicht auf Gewalt, wir sind für eine wirkliche Entspannung, wir sind für wirtschaftliche Zusammenarbeit,
({13})
wir sind für eine gegenseitige Unterstützung in dem Ringen der Völker für das bessere Leben von morgen.
({14})
So werden wir die Interessen unseres ganzen Landes auf einer möglichst breiten Basis zu wahren haben.
({15})
Heute entscheiden wir über einen neuen Kanzler und, wie ich überzeugt bin, eine bessere Politik. Ich bin sicher, daß das nicht nur unser gutes Recht, sondern unsere Pflicht ist.
({16})
Ich möchte schließen mit dem Satz: ich vertraue auf Barzels bessere Politik.
({17})
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Brandt, Bundeskanzler ({18}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erste Frage, die ich mir vor diesem Tag zu stellen hatte, lautete: Darfst du dich überhaupt an dieser Debatte beteiligen? Solltest du dich nicht besser von ihr fernhalten? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, meine Damen und Herren, wie Sie hören und sehen, daß ich mich äußern sollte. Ich meine, daß ich dies dem hohen Amt schuldig bin, in das ich im Oktober 1969 gewählt wurde, ebenso wie ich es schuldig bin der mich stützenden Koalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten, aber auch den vielen Freunden im Land, die mir ihre Verbundenheit gerade in diesen Tagen in so bewegender Weise bekunden.
({19})
Vielleicht darf ich auf die mir selbst gestellte Frage kurz zurückkommen. Dies ist ja das erstemal, daß hier im Bundestag von der verfassungsmäßigen
Möglichkeit des so genannten konstruktiven Mißtrauensvotums Gebrauch gemacht wird. Man hat es als konstruktiv deshalb bezeichnet, weil nicht nur gesagt werden soll: der Bundeskanzler soll weg, sondern zugleich gesagt werden muß - das ist ja der Sinn dieses Artikels der Verfassung : wir möchten den Kandidaten X als neuen Bundeskanzler sehen.
Nun ist es ja so, daß bei der Wahl des Bundeskanzlers auf Vorschlag des Bundespräsidenten ausdrücklich keine Aussprache stattfindet. Beim so genannten konstruktiven Mißtrauensvotum ist dies anders. Und schon daraus ergibt sich, daß für Aussprache und übriges Verhalten andere Maßstäbe gelten als für die reguläre Kanzlerwahl. Ich denke, das ist gestern zum Teil übersehen worden.
Die Opposition ist wichtig, und sie ist außerdem stark, aber sie ist nicht das Staatsoberhaupt. Dies ist also keine Kanzlerwahl, wie sie sich aus einer Neuwahl zum Bundestag ergibt. Deshalb ist auch vieles abwegig, was hier gestern zum Verfahren vorgebracht worden ist.
({20})
Ich stimme denen zu, die sich dagegen wehren, daß ein Parteiwechsel als etwas Ehrenrühriges betrachtet wird. Aber ich habe meine eigene Meinung dazu, ob man willkürlich Mandate mitnehmen darf, meine Damen und Herren.
({21}) Das ist ein weites Feld, wie man zu sagen pflegt.
({22})
Aber eines leuchtet mir nicht ein. Wenn die Antragstellenden Zusagen erhalten haben von Abgeordneten, die nicht ihrer Fraktion angehören, warum stehen dann diese nicht wenigstens auf?
({23})
Warum bekennen sie sich nicht vor dem deutschen Volk? Was haben sie denn zu befürchten? Was fürchten sie denn?
({24}) Oder was wollen sie denn verbergen?
({25})
Lassen Sie mich gleich ein Wort hinzufügen zu den zahlreichen Sympathiekundgebungen dieser Tage, für die ich mich herzlich zu bedanken habe.
({26})
Ich habe gestern gesagt - und ich meine, dies sei verstanden worden -, worüber nur hier im Bundestag entschieden werden kann und was gleichwohl die Meinung der Bürger aus gegebenem Anlaß bedeutet. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn man aus obrigkeitsstaatlicher Gesinnung von der Straße spricht oder wenn man, wie es in einer Parteiverlautbarung geschehen ist, den Frauen und Männern, die sich anders als nur vor dem Fernsehapparat zu ihrer Regierung bekennen - so stand es in einer Parteiverlautbarung; ich finde es eine Schande -,
ein Bratkartoffelverhältnis zur Demokratie unterstellt.
({27})
Bei denen, die sich dieser Tage zu Wort melden, handelt es sich um mündige Bürger und um engagierte junge Menschen, ohne die unser Staat sehr viel ärmer sein würde.
({28})
Der Beschluß der CDU/CSU, die Regierung stürzen zu wollen, entspricht einer Möglichkeit, die die Verfassung bietet, und er ist sowohl machtpolitisch als auch psychologisch nicht schwer zu verstehen. Wenn Sie mir zum letzteren ein Urteil erlauben: Dies ist der Versuch einer Flucht nach vorn, heraus aus der Unverantwortlichkeit eines sterilen Nein zu Schicksalsfragen unseres Volkes, aber mit dem Risiko des Hinein in eine Verantwortung, deren Bitterkeit Sie spüren würden. Denn Dr. Barzel und seine Freunde würden in diese Verantwortung ja nur gelangen, wenn ihnen das Ja von ein paar Mitgliedern dieses Hohen Hauses zufallen sollte, von denen man würde sagen können, sie hätten ihre Gewissenhaftigkeit bis zur Unkenntlichkeit strapaziert.
({29})
Ich hatte gelesen, meine Damen und Herren,
({30})
daß Professor Hallstein, der langjährige, verdienstvolle Präsident der EWG-Kommission, den Antrag der CDU/CSU begründen sollte, und ich hatte mich vor seiner Erkältung schon darauf gefreut, ihn fragen zu können, was gerade er dagegen einzuwenden haben könnte, daß meine Regierung die von uns geerbte Stagnation im Prozeß der westeuropäischen Einigung mit überwunden hat.
({31})
Wir haben mit dafür gesorgt, daß die Gemeinschaft erweitert wird, wir haben mit dafür gesorgt,
({32})
daß die Wirtschafts- und Währungsunion verwirklicht wird. Wir haben mit dafür gesorgt, daß die außenpolitische Zusammenarbeit mit dem Ziel der politischen Union angepackt wurde. Nun hätte ich Herrn Professor Hallstein, falls ihm die Aufgabe der Begründung zugefallen wäre, also gern gefragt: Haben wir das nun alles falsch gemacht, oder ist es nicht vielmehr so, daß unsere gemeinsamen Freunde in den Nachbarländern und darüber hinaus sagen: diese Bundesregierung spielt eine wesentliche, und zwar positive Rolle, um die westeuropäische Einigung voranzubringen?
Nun habe ich statt dessen das nur leicht getrübte Vergnügen gehabt, den Antrag der Opposition durch meinen unmittelbaren Amtsvorgänger, Herrn Kollegen Kiesinger, begründet zu hören. Er wird es mir übrigens nicht übelnehmen, wenn ich sage, daß er auf meine Wahl zum Bundeskanzler weniger Einfluß hatte als darauf, daß Herr Hallstein zwei Jahre zuBundeskanzler Brandt
vor nicht mehr Präsident der EWG-Kommission blieb.
({33})
Aber davon abgesehen: Herr Kollege Kiesinger, ich möchte Ihnen etwas zum Thema Gemeinsamkeit sagen. Als ob ich mir nicht die Finger danach lecken würde, wenn wir in Fragen der nationalen Existenz zu möglichst großer Geschlossenheit gelangen könnten!
({34})
Aber es ist doch zunächst einfach nicht wahr, daß ich oder meine Freunde und ich nach den Wahlen von 1969 eine bis dahin bestehende inhaltliche Gemeinsamkeit zerstört hätten.
({35})
- Ja, Sie erzählen den Leuten draußen im Lande das, was nicht stimmt, und ich sage Ihnen hier jetzt, was stimmt.
({36})
Sie, Herr Kollege Kiesinger, erinnern sich doch genauso gut wie ich, und Millionen haben es damals am Fernsehschirm miterlebt: Vor den Wahlen 1969 sind Walter Scheel und ich Ihnen, Herr Kiesinger,
und Herrn Strauß im Fernsehen gegenübergetreten und haben Ihnen für unsere beiden Parteien gesagt, vor der Wahl, nicht nach der Wahl: Mit der Politik der Vertröstungen, der Ausklammerungen und der Verkleisterungen kommen wir nicht weiter. Das war unsere Meinung. Das haben wir gesagt, und dafür haben wir die knappe Mehrheit bekommen.
({37})
Dann haben wir, Walter Scheel und ich, aus dem Wahlergebnis die entsprechenden Folgerungen abgeleitet.
Es war ja, Herr Kollege Kiesinger, der große Jammer, daß sich die Große Koalition bei einigen Meriten, die ich ihr auch heute nicht absprechen möchte, eben nicht als fähig erwies, aus der Einsicht in die Realitäten auf breiter Basis die gebotenen Konsequenzen zu ziehen. Herr Kollege Kiesinger, Sie haben sich damals nicht dazu durchringen können, eine genügend wirklichkeitsbezogene Politik durchzusetzen. Sie sind vor dem Druck Ihrer bayerischen Freunde und anderer Hilfstruppen zurückgewichen.
({38})
Sonst wären wir weiter und brauchten weniger zu streiten, als wir es tun.
Was das Bemühen um Gemeinsamkeit seit 1969 angeht, so hat Herr Barzel mir dessen Scheitern anlasten wollen. Das ist nicht gerecht, obwohl ich nie ausschließe, daß auch ich Fehler gemacht haben
kann. Aber ich möchte jetzt keine Rechnung aufmachen, weil ich es für geboten halte, über diesen Tag hinauszudenken. Aber dies muß ich doch auf Grund meiner Erfahrungen der letzten 21/2 Jahre sagen dürfen: Die Führung der CDU/CSU hat sich verbal zur Gemeinsamkeit bekannt. Aber sie hat durch ihr Verhalten zumeist die konkrete Zusammenarbeit verweigert,
({39})
und wenn es dann einmal anders aussah, dann stellte sich heraus, daß unter gemeinsamem Handeln häufig ein Nichthandeln der Regierung verstanden werden sollte. Darauf konnte und darauf wollte ich doch nicht eingehen.
Wenn einige nun von Spaltung reden, dann antworte ich: Die eigentliche Schuld an dem, was man Spaltung nennt oder was Herr Kollege Schröder eben eine Polarisierung genannt hat, die eigentliche Schuld daran trägt aus meiner Sicht derjenige, der die politischen Entscheidungen einer demokratisch gebildeten Regierung nicht als legitim anerkennen will, und das war die Lage in diesen 21/2 Jahren.
({40})
Es ist im übrigen keine deutsche Besonderheit dieses Jahres 1972, daß über sehr wichtige Fragen, wenn es nicht anders geht, mit sehr knapper Mehrheit entschieden werden muß. Vor einer ähnlichen Situation stand General de Gaulle gegen die OAS und eine breite öffentliche Meinung,
({41})
als es um die für die Franzosen bittere, bitterböse Algerienfrage ging. Und vor einer ähnlichen Entscheidung stand und steht Premierminister Heath, wo es um Europa geht - um hieran anzuknüpfen. Ich möchte weder Herrn Wilson noch Herrn Barzel ungebührliche Vergleiche zumuten, aber einen Roy Jenkins der CDU gibt es offensichtlich noch nicht.
({42})
Herr Kollege Schröder ist es jedenfalls nicht. Was er hier zu den Aufzeichnungen gesagt hat, konnte er doch nur sagen, weil er z. B. nicht berücksichtigt hat, was der Außenminister gestern nachmittag ausführlich in aller Ruhe dargelegt hat.
({43})
Sie bringen wieder die Aufzeichnungen mit den Stellen durcheinander,
({44})
die gegenseitig abgestimmt sind. Sie wissen doch besser als andere in diesem Hause ({45})
warum sagen Sie es dann nicht? -, daß gegenseitig abgestimmte Erklärungen etwas ganz anderes sind als die Aufzeichnungen, die die eine oder andere Seite sich macht.
({46})
Ich finde, wenn Sie sich schon nicht an Ihre eigenen Einsichten von früher auf diesem Gebiet halten, sollten Sie zumindest zur Kenntnis nehmen, was die Regierung zum tatsächlichen Sachverhalt vorzubringen hatte.
Und, Herr Kollege Schröder, bei dem, was Sie da zitiert haben, geht es doch das muß man dann auch einmal sagen - darum, ob man sich weiter selbst durch den abstrakten Gewaltverzicht in die Tasche lügen wollte oder ob man sich durchrang zu der Wahrhaftigkeit, die den konkreten Gewaltverzicht erfordert.
({47})
Denn, meine Damen und Herren, für ein Volk und seine Zukunft sind bittere Wahrheiten besser als süße Illusionen.
({48})
Deshalb will ich Ihnen auch sagen, weshalb ich gegen das Liegenlassen bin. Ich bin in allem Ernst der Meinung, daß meine Generation, daß wir Älteren noch die Pflicht haben, den Jüngeren in unserem Volk eine möglichst geordnete politische Erbschaft zu hinterlassen.
({49})
Über die Aufgaben im Innern habe ich mich gestern ausführlich geäußert. Lassen Sie mich nur hinzufügen: Die Gier nach der Macht entspricht nicht dem Ruf nach Solidität und Stabilität.
({50})
Und, Herr Kollege Kiesinger, was soll die Polemik über Angekündigtes und nicht Erreichtes? Wenn Sie ehrlich sind, geben Sie zu: Hier hat eine Regierung in 21/2 Jahren mit einer knappen Mehrheit schon jetzt unendlich viel mehr geleistet, als Sie in drei Jahren mit einer breiten Mehrheit in diesem Bundestag.
({51})
Im übrigen kann ich jeder denkbaren Bundesregierung auch in kommenden Jahren nur wünschen, daß sie das von uns, von der sozialliberalen Koalition, erreichte Maß an Frieden im Innern zu bewahren und auszubauen vermag. Und wenn ich vom inneren Frieden spreche,
({52})
dann denke ich an etwas, worauf ich, ehrlich gesagt, stolz bin, nämlich an die enge Verbindung zwischen Regierung und den Bürgern, die früher am Rande des staatlichen Geschehens standen oder sich dorthin gestellt sahen: Arbeitnehmer, geistige Schichten, kritische junge Generation in diesem unserem Volke.
({53})
Da Sie, die Führung der Unionsparteien, die radikale Alternative fordern, betrachte ich es als meine Pflicht, öffentlich darüber nachzudenken, was dieses
Hohe Haus und was die Bürger der Bundesrepublik erwarten könnte. Herr Dr. Barzel, ich würde Sie nicht beneiden. Sie haben angedeutet, wenn ich das richtig gelesen habe, Konrad Adenauer habe Ihnen schriftlich sein Erbe zugesprochen. Die Frage, die Sie mir erlauben müssen, ist diese, ob Sie und ob wir es als Außenstehende bei allem, was sonst relativiert werden mag, gerade wo es um die eben erwähnten Schicksalsfragen geht, noch mit der Partei Konrad Adenauers zu tun haben; denn hier hat doch offensichtlich ein Wandlungsprozeß stattgefunden, und zwar keiner nach vorn, sondern einer zurück.
Sie, Herr Barzel, haben gestern gesagt - und dies ehrt Sie -, daß Sie den Jüngeren gerne eine gute Antwort auf die Frage geben möchten, was wir aus dem Recht des deutschen Volkes gemacht haben. Ich meine, es wäre gut, Sie könnten sagen, wir könnten sagen, wir alle könnten sagen, daß wir darüber nicht nur schöne Reden gehalten, sondern daß wir etwas getan haben, nämlich das jetzt Mögliche. Darauf kommt es doch an.
({54})
Und diese Sprüche, Herr Kollege Schröder - verzeihen Sie das scharfe Wort -, Berlin stehe weiter im Mittelpunkt:
({55}) Wenn das man immer so gewesen wäre!
({56})
Wir haben einiges wieder an Land gezogen, was den Bach hinunter war.
({57})
Das war die konkrete Aufgabe. Lügen Sie sich nicht in die Tasche! Das ist ohne den Vertrag mit der Sowjetunion nicht möglich. Das sagt man Ihnen in Washington genauso wie anderswo.
({58})
- Genauso wie anderswo!
({59})
- Ein ganz Schlauer sagt „Viermächteabkommen": als ob nicht jeder, der sich mit diesen Dingen befaßt, um den inneren Zusammenhang der Vorgänge weiß.
Was gestern abend in Ost-Berlin vereinbart wurde,
({60})
ist ein weiterer wichtiger Schritt, mehr nicht, ein weiterer wichtiger Schritt.
({61})
Ich habe ausdrücklich dafür gesorgt - - Ja, was wollen Sie, meine Zwischenrufer? Glauben Sie, daß ich hier eine 17.-Juni-Rede halte? Ich rede konkret von den Schritten, die wir unternehmen! Davon lasse ich mich nicht abbringen!
({62})
Ich habe ausdrücklich dafür gesorgt, daß der Verkehrsvertrag in diesen Tagen noch nicht paraphiert wird. Die Unterhändler sind aber so weit, daß sie den beiden Regierungen ihr Verhandlungsergebnis unterbreiten können. Dabei ist die Anwendung des Verkehrsvertrages auch auf West-Berlin jetzt nicht mehr umstritten. Die Bereitschaft der anderen Seite liegt vor, über die Fragen zu sprechen, die für das Nebeneinander und dann hoffentlich auch einmal Miteinander beider Staaten und der in ihnen lebenden Menschen von grundsätzlicher und praktischer Bedeutung sind. Der Vertrag wird erst noch im einzelnen zu behandeln sein. Was zu ihm dazugehört, wird wesentliche Erleichterungen bringen. Aus der Bundesrepublik werden Verwandte und in Zukunft auch Bekannte nicht nur einmal, sondern mehrfach im .Jahr in die DDR reisen können. In sinngemäßer Anlehnung an die Berlin-Regelung werden Einreisen aus religiösen, kommerziellen, kulturellen oder sportlichen Gründen möglich sein, wenn entsprechende Einladungen vorliegen. Touristische Reisen werden möglich, wenn die beiden Regierungen sich darüber verständigen. Und was ich für besonders begrüßenswert halte: In dringenden Familienangelegenheiten wird durch die Behörden drüben die Reise in die Bundesrepublik ermöglicht werden.
({63})
Andere reden von Stufenplänen. Wir arbeiten uns im Interesse der Menschen, des Friedens und der Nation Schritt für Schritt voran.
({64})
Sie mögen zur Umrahmung des Verkehrsvertrages sagen: Was ist das schon? Was ist das schon, auch wenn wir es zusammen mit den Berlin-Vereinbarungen betrachten? Ich sage: Wo standen wir denn eigentlich bis vor wenigen Jahren? Und ich frage in allem Ernst: Wollen Sie, wollen wir dies alles in Gefahr bringen? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Hinsichtlich der deutschen Einheit, Herr Kollege Kiesinger, ist es in der Tat die Frage: weiter Reden halten oder etwas tun?
({65})
Etwas tun einmal für Berlin - davon war die Rede - und die Menschen - davon war auch die Rede - und zum anderen für eine solche Veränderung der Beziehungen zwischen West und Ost in Europa - auch wenn dies sehr lange dauert -, daß sich hieraus auch für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit die Chance einer guten Zukunft ergibt. So, nur so! Wie wichtig Reisen sonst seien, Herr Kollege Schröder: an der Chinesischen Mauer werden Sie den Schlüssel zur deutschen Einheit nicht entdecken.
({66})
Mancher tut so - aber das ist nicht redlich -, als ob alles in Ordnung wäre, wenn Herr Barzel die vorliegenden Verträge und Vereinbarungen nun mit einer gewissen Garnierung neu servieren könnte. Machen Sie sich nichts vor! So zu taktieren,
wäre, Herr Kollege Schröder, eine nicht nur unsolide, es wäre auch eine unseriöse Außenpolitik auch nach innen!
({67})
Die Opposition spielt in Wirklichkeit - auch wenn sie es natürlich nicht will - mit der Gefahr der Isolierung der Bundesrepublik. Zu dieser Gefahr, gegen die sich im Laufe der Zeiten und unter anderen Umständen Adenauer auf seine Weise, früher Bismarck auf seine Weise gewendet haben, darf es nicht kommen. Vom Frieden darf man auch nicht nur reden, sondern man muß sich fragen: was ist der deutsche Beitrag dazu? Deutsche Interessen nimmt man nur wahr, wenn die Entwicklung nicht um uns herum verläuft oder gar über uns hinweggeht. Dies muß bitte jeder wissen.
Ich unterstelle einmal, die Opposition hätte heute
Erfolg. Das wäre auf jeden Fall Herr Kollege
Scheel hat schon darauf hingewiesen - so, wie die
Dinge liegen, ein zweifelhaft legitimierter Erfolg. Und die Folge wäre natürlich ein harter Kampf, fair, aber glashart.
({68})
Nun, das ist eine theoretische Möglichkeit. Eigentlich könnte ich wünschen wollen, daß wir uns frei von der Regierungsverantwortung auf die nächsten Bundestagswahlen vorbereiten. Aber es hilft alles nichts; die Arbeit geht weiter. Und ich bin davon überzeugt: Wir werden nach der heutigen Abstimmung weiterregieren.
({69})
Vielleicht ist es dann auch möglich, vor oder jedenfalls nach der Ratifizierung der Verträge in der nächsten Woche gewisse Gebiete gemeinsamer Verantwortung abzustecken oder erneut den Versuch eines solchen Absteckens zu machen, nicht nur in der Außen-, Europa- und Deutschlandpolitik, sondern auch in bezug auf Währung und Finanzen und nicht zuletzt in bezug auf die innere Sicherheit, zu der ich mich gestern geäußert habe.
Ich meine, diese Intervention war notwendig. Aber auch diejenigen, die das anders sehen, müssen bitte Verständnis dafür haben, daß sich der Bundeskanzler nicht versteckt, sondern daß er sagt: Ich habe meine Pflicht getan und manchmal etwas mehr. Und, Herr Kollege Kiesinger, ich habe die Interessen unseres Volkes und unseres Staates besser vertreten, als wenn ich den allzuoft konfusen Ratschlägen der Opposition gefolgt wäre.
({70})
Und nun, meine Damen und Herren, bleibt frei nach Kant nichts anderes übrig, als unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit zu tun.
({71})
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst ein paar Bemerkungen zu den Mitteilungen machen, die der Herr Bundeskanzler hier über den Fortgang der innerdeutschen Verhandlungen gemacht hat.
Wir freuen uns über jede konkrete Erleichterung, die den Menschen im geteilten Deutschland unmittelbar zugute kommt.
({0})
Wir freuen uns darüber von Herzen, und wir sind immer der Meinung gewesen, daß darüber verhandelt werden sollte, solange das Interesse der Gegenseite, nämlich die Ratifizierung der Verträge, noch nicht erfüllt und damit das Gegeninteresse, Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland, noch offen und erfüllbar sein würde.
({1})
Wir stellen dies fest, obwohl uns die Bundesregierung noch vor ganz kurzer Zeit gesagt hat, daß es keinen Sinn habe, vor der Ratifizierung auf Fortschritte dieser Art zu hoffen.
({2})
Wir stellen dies fest in der Erkenntnis, daß es offenbar unsere Festigkeit in dieser Frage war, die nun doch zu der Möglichkeit von Fortschritten für die Menschen in Deutschland führt.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, es ist gerade das Interesse für die Menschen im geteilten Deutschland, welches uns bei einer Bewertung von Vertragswerken mit unseren östlichen Nachbarn dazu zwingt und nötigt, aus unserer Verpflichtung heraus in bezug auf Motive und Dauerhaftigkeit solcher Inaussichtstellung unser nüchternes Urteil zu bilden.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle auch auf Bemerkungen eingehen, die der Herr Bundeskanzler und der Bundesaußenminister zu dem Zusammenhang der Berlin-Regelung und der Ostverträge gemacht haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben und Ihre Koalition hat in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gesagt, es gebe alles oder nichts, es gebe entweder den Moskauer Vertrag und das Berlin-Abkommen oder beides nicht. Vorhin ist hier Präsident Nixon zitiert worden. Ich möchte noch einmal den von ihnen verwendeten Begriff des „Meilensteins" aufgreifen, als welchen er das Berlin-Abkommen bezeichnet hat.
Es ist klar, daß und warum er es von dem amerikanischen Standpunkt aus so versteht; denn dieses Berlin-Abkommen - so dankbar wir dafür sind, daß es den Berlinern und dem Berlin-Verkehr selbst zu Erleichterungen verhelfen soll -- ist zustande gekommen wegen des eigenen Willens und des eigenen Interesses der Vier Mächte.
({4})
Dieser eigene Wille und dieses eigene Interesse der Vier Mächte ist unabhängig von dem, was die deutsche Politik tut. Die Vereinigten Staaten haben ein Interesse daran, in ihrem Verhältnis zur anderen Supermacht diese Position in Berlin zu halten und mit der anderen Supermacht zu einem Kompromiß
darüber zu kommen. Das ist ein Meilenstein, und daran werden die Vereinigten Staaten festhalten, wie auch immer der Deutsche Bundestag in seiner Verantwortung über die deutschen Dinge entscheidet.
({5})
Wir haben, Herr Bundeskanzler, wie Sie wissen, auch von sowjetischer Seite ganz unterschiedliche Stimmen, darunter auch die eines amtlichen Sprechers, gehört, der ganz eindeutig gesagt hat, die Unterschrift unter das Berlin-Abkommen der Vier Mächte wäre nicht hinfällig, wenn der Moskauer Vertrag keine Mehrheit in diesem Hause finden würde; denn es besteht auch bei der Sowjetunion und bei den anderen Signatarmächten ein eigener Wille und ein eigenes Interesse aus dem Zusammenhang ihrer Politik heraus an dem Berlin-Abkommen. Ich verstehe es, Herr Bundeskanzler, daß Sie in der jetzigen Auseinandersetzung der Meinung waren, es wäre wirkungsvoll zu sagen: Alles oder nichts! Aber die politischen und insbesondere die weltpolitischen Tatsachen tragen dieses Urteil nicht, und dem Wohl unseres Landes wäre infolgedessen besser gedient, wenn diese Alles-oder-NichtsThese von Ihnen auch nicht aufgestellt und ständig wiederholt würde.
({6})
Aber, meine Damen und Herren, wir stimmen hier heute nicht über die Verträge ab, sondern über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Lassen Sie mich dazu noch folgendes sagen. Sie, Herr Bundeskanzler, sind darauf eingegangen, daß bei der Wahl eines Kanzlers am Anfang der Legislaturperiode keine Aussprache vorgesehen ist. Lassen Sie mich als meinen Eindruck Ihrer Ausführungen und der des Vizekanzlers der heutigen Regierung sagen: es wäre weise, wenn auch ein solcher Antrag ohne Aussprache zur Abstimmung gelangte.
({7})
Denn die Mitglieder dieses Hauses sind über die Person und über die Sache gut genug im Bilde, um ihr verantwortliches Urteil bilden zu können, und wir sollten doch nicht in einer Aussprache vorher einen Schatten davon erkennen lassen, daß wir vielleicht nicht ganz über die Nervenkraft des Demokraten verfügen, die nämlich darin besteht, die Verantwortung nicht zu scheuen, aber auch verlieren zu können.
({8})
Da Sie beide, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, von einigen Kollegen hier im Hause gesprochen haben, lassen Sie mich folgendes sagen. Solange Sie der Unterstützung dieser von Ihnen gar nicht genannten Kollegen sicher waren, haben Sie sich auf die Charakterstärke, den Friedenswillen und das Urteil dieser Kollegen für Ihre Politik der knappsten Mehrheit selbst berufen, dann haben Sie sie in einem Umwandlungsprozeß bedrängt, was wir teilweise sogar hier beobachten konnten, und nun bezweifeln Sie die Charakterstärke oder die Gewissenhaftigkeit dieser Kollegen und einer künftigen Bundesregierung.
({9})
Ich möchte diesen Zweifel an der Charakterstärke und der Gewissenhaftigkeit dieser wie anderer nicht genannter Kollegen in diesem Hause ausdrücklich zurückweisen, für welche Regierung diese Zurückweisung auch immer gelten mag.
({10})
Die Frage, um die es heute geht, ist doch ganz einfach. Es ist eine Situation entstanden, in der die Bundesregierung keine gesicherte Mehrheit für ihre Politik besitzt. Die Opposition bietet daher eine Alternative an. Das ist sowohl ihr Recht als auch ihre Pflicht.
({11})
Der Weg dafür ist in unserer Verfassung eigens vorgesehen. Er beruht weder auf einem früheren Wählerauftrag noch auf einem neuerdings erteilten Wählerauftrag, sondern unsere Verfassung legt eine Lage wie diese, wo nämlich keine gesicherte Mehrheit für die Politik einer Bundesregierung mehr vorhanden ist, ganz ausdrücklich und allein in die Hand dieses Parlaments. Seine Mitglieder sollen und können nach ihrem Urteil und nach ihrem Gewissen darüber befinden. Darum geht es heute.
({12})
Zur Erläuterung der Lage lassen Sie mich nur noch einen Gedankengang anfügen. Die lebhafte und oft leidenschaftliche Anteilnahme der Wähler und Bürger an dieser unserer Tätigkeit begrüßen wir alle. Freilich, manche fragen den Bundestag, wieso denn hier die Parteien um die Macht kämpften, wo es doch eigentlich um den Frieden gehe. Meine Damen und Herren, nicht diesen Bürgern, wohl aber der Bundesregierung gilt der Vorwurf, daß sie es zu einem solchen Verlust von Wirklichkeitssinn hat kommen lassen, ja ihn selber herbeigeführt hat.
({13})
Nicht Sie, Herr Bundeskanzler, und auch nicht der Fraktionsvorsitzende der SPD heute, aber Ihre Partei, Ihre Wahlkampfleitung, Ihre Freunde haben in den letzten Monaten, Wochen und noch Stunden den Eindruck verbreitet, es ginge hier darum, den Frieden mit der einen Hälfte des Hauses gegen die andere Hälfte des Hauses zu erkämpfen. Sie haben damit den, wie wir alle wissen, unendlich schwierigen und nüchternste Anstrengungen erfordernden Friedensbemühungen ohne Not ein neues Hindernis in den Weg gestellt. Denn wäre es wahr, daß der Wille zur Aussöhnung und die Sehnsucht nach einem sichereren Frieden nur mit der knappsten Mehrheit hier im Hause erkämpft werden könnte, dann wäre ja eine Aussöhnung ebensowenig möglich wie ein gesicherter deutscher Beitrag zur Normalisierung über die Blockgrenzen hinweg. Und das weiß man in der Sowjetunion und in Polen sehr genau.
({14})
In Wahrheit ist es so, wie jedermann weiß: Im OstWest-Verhältnis bemühen sich die Bündnisse darum, den Frieden militärisch, politisch und wirtschaftlich sicherer zu machen. Jeder hat seine eigenen Interessen dabei, sich an diesen Bemühungen zu beteiligen, und es gibt auch gemeinsame Interessen daran.
Länger, als Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, am Ruder ist, unterstützt die deutsche Außenpolitik diese Bestrebungen. Ich meine, in diesem Ziel sind sich Regierung und Opposition auch heute einig. Umstritten sind Weg und Methoden. Aber fruchtbar im Sinne des Friedens ist dieser Streit eben nur dann, wenn er nicht mit dem Mittel der Gesinnungsverdächtigung geführt wird.
({15})
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne einer für uns - beide Seiten - geltenden Notwendigkeit und Überzeugung, den Frieden sicherer zu machen, und zwar durch die nüchterne Suche nach einem vernünftigen Ausgleich, bemühen wir - wie ich hoffe, die Parteien dieses Hauses - uns im Wettbewerb der Meinungen um Iden besten Weg. Wir sind verpflichtet, für eine regierungsfähige Mehrheit zu sorgen. Deshalb, so meine ich, sollten wir ohne weiteres Wenn und Aber zur Abstimmung schreiten. Wir sind zur Verantwortung bereit, wenn sich die Mehrheit für uns ausspricht. Wir sind ebenso ohne Zögern bereit, eine Mehrheit der anderen Seite zu respektieren, denn ich wiederhole: Wer nicht verlieren kann, handelt ebensowenig im Sinne unserer Demokratie wie der, der die Verantwortung scheut. Wir sind bereit, die Verantwortung zu übernehmen, und zwar mit demselben leidenschaftlichen Friedenswillen wie auch mit derselben wirklichkeitsnahen Nüchternheit, die wir von Konrad Adenauer gelernt haben.
({16})
Präsident von Hassel: Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist nicht die Stunde für eine lange Erwiderung, aber hier ist der Ort, Herrn Kollegen von Weizsäcker, der den Zusammenhang zwischen den Vertragswerken mit der Sowjetunion und Polen und der Berlin-Vereinbarung der vier Großmächte geleugnet hat, die Frage zu stellen, warum, wenn dieser Zusammenhang nicht besteht, Sie nicht in der Lage waren, in den vergangenen 20 Jahren, in denen Sie die Verantwortung getragen haben, eine solche Berlin-Vereinbarung herbeizuführen.
({0})
Es ist der Ort, hier festzustellen, ,daß in der Deutschlandpolitik der Vergangenheit die Zeit nicht für, sondern gegen uns gearbeitet hat.
Herr Kollege von Weizsäcker, Sie haben hier von einer gesicherten Mehrheit gesprochen. Sie müssen es besser wissen. Ich sage Ihnen, daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland seiner ganzen Anlage nach darauf abgestellt ist, einen Regierungswechsel nur dann zu ermöglichen, wenn tatsächlich die Ablösung einer Regierung auf Grund einer gesicherten Mehrheit möglich ist.
Gestern abend hat der Vorsitzende der CSU, Herr Franz Josef Strauß, in einem Fernsehinterview auf
die Frage, wie es denn mit dieser Mehrheit aussehe, erklärt:
Was kann denn Herrn Barzel schon passieren? Entweder das konstruktive Mißtrauensvotum geht durch, dann ist er Kanzler und muß sehen, wie er dann zurechtkommt; oder es geht mit wenigen Stimmen nicht durch, dann ist es doch für einen Oppositionsführer keine Schande.
Meine Damen und Herren, Herrn Dr. Barzel kann nichts passieren. Ich frage mich allerdings, wie dieses Land mit einer neuen Regierung zurechtkäme, die über keine gesicherte Mehrheit verfügt.
({1})
Präsident von Hassel: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Wahl. Die Fraktion der CDU/ CSU schlägt in ihrem Antrag - Drucksache VI/3380 -, der Ihnen vorliegt, vor, als Nachfolger des Bundeskanzlers Willy Brandt den Abgeordneten Dr. Rainer Barzel zum Bundeskanzler zu wählen.
Nach § 98 unserer Geschäftsordnung ist ein Nachfolger „in einem Wahlgang mit verdeckten Stimmzetteln . . . zu wählen. Er ist nur dann gewählt, wenn er die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" - d. h. mindestens 249 Stimmen - „auf sich vereinigt."
Zum Wahlverfahren muß ich jetzt einiges erläutern. § 54 a unserer Geschäftsordnung bestimmt ergänzend, daß die Stimmkarten erst vor Betreten der Wahlzelle ausgehändigt werden dürfen. Die aufgestellten Wahlzellen sind bei der Stimmabgabe zu benutzen. Die Stimmkarten sind dann in einen Wahlumschlag zu stecken und in die Wahlurne zu legen. Die Berliner Abgeordneten werden gebeten, ihre Stimmkarte in die für sie vorgesehene kleinere Wahlurne zu werfen.
Meine Damen und Herren, Sie erhalten die Stimmkarten an den zu meiner Rechten und Linken vor den Wahlkabinen stehenden Tischen. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß nur der im Antrag Drucksache VI/3380 vorgeschlagene Kandidat zur Wahl steht. Falls Sie den vorgeschlagenen Kandidaten wählen wollen, schreiben Sie ja, im anderen Falle nein auf die Stimmkarte. Wer sich der Stimme enthalten will, kann dies durch eine unbeschriebene Karte zum Ausdruck bringen. Ich weise noch einmal darauf hin, daß die Kennzeichnung der Stimmkarten und das Einlegen in den Wahlumschlag außerhalb der Wahlzelle zur Zurückweisung des Abgeordneten führt. Er verliert dann allerdings nicht das Recht, seine Stimmabgabe vorschriftsmäßig zu wiederholen. Ich mache dabei darauf aufmerksam, daß zwei unserer behinderten Kollegen von § 53 der Bundeswahlordnung Gebrauch machen und als ihre Vertrauensperson andere Kollegen benannt haben. Nach ständiger Übung des Hauses sind auch Stimmkarten gültig, die statt „ja" den Namen des Vorgeschlagenen tragen. Ungültig sind dagegen Stimmkarten mit anderen Namen oder Zusätzen. Auch die Verwendung anderer als der amtlichen Stimmkarten macht die Stimme unweigerlich ungültig.
Gehen Sie bitte zur Wahlurne und werfen dort nach der Nennung Ihres Namens die Stimmkarte ein. Die Kennzeichnung Ihres Namens in der Namensliste durch den neben der Urne sitzenden Schriftführer gilt als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl.
Ich bitte nunmehr die Schriftführer, die den Dienst an den Wahlurnen und an den Wahlzellen übernommen haben, ihre Plätze dort einzunehmen.
Ich eröffne die Wahl und bitte, mit dem Namensaufruf zu beginnen. Auf Ihren Plätzen, meine Damen und Herren, liegt eine Namensliste. Ich darf Sie bitten, an Hand dieser Liste die Abstimmung zu verfolgen und sich an die Urne zu bemühen, sobald Sie an der Reihe sind.
({2})
Meine Damen und Herren, der Namensaufruf ist beendet. Ich frage, ob alle Mitglieder des Hauses Gelegenheit hatten, ihr Wahlrecht auszuüben. - Das ist offenbar der Fall. - Haben die Schriftführer alle gewählt? - Das ist der Fall.
Dann erkläre ich die Wahl für geschlossen und bitte die Schriftführer, die Stimmen auszuzählen.
Ich schlage Ihnen vor, zur Auszählung die Sitzung auf 20 Minuten zu unterbrechen.
({3})
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das Ergebnis der Zählung der Stimmen bekannt. Von den stimmberechtigten Abgeordneten wurden abgegeben 260 Stimmen, von den Berliner Abgeordneten 11 Stimmen. Von den 260 stimmberechtigten Abgeordneten haben für den Antrag - mit Ja - gestimmt 247, mit Nein 10 Abgeordnete; 3 Stimmen sind Enthaltungen. Von den Berliner Abgeordneten haben 10 Abgeordnete mit Ja und 1 Abgeordneter mit Nein gestimmt; keine Enthaltung.
Nach Art. 67 Abs. 1 des Grundgesetzes ist als Nachfolger des Bundeskanzlers gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Abgeordneten beträgt, wie Sie wissen, 249 Stimmen. Ich stelle fest, daß der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat.
({4})
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf der Drucksache VI/3380 ist damit abgelehnt.
Präsident von Hassel
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung und berufe das Haus auf 15 Uhr ein. Wir beginnen dann mit der Fragestunde.
({5})
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir treten in die
Fragestunde
- Drucksache VI/3377 ein und fahren mit den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten fort. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Logemann zur Verfügung. Die Frage 31 ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. Jahn ({0}) eingereicht worden:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die beim Schutz der Vorratsgüter, die der menschlichen Ernährung dienen ({1}), sich ergebenden Probleme vom Institut für Vorratsschutz der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, das nur zwei Wissenschaftler hat, nicht ausreichend verfolgt werden können, obwohl diesem Schutz - wegen des Umfangs der Vorratshaltung - eine eminente volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt?
Logemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident, darf ich die Fragen zusammen beantworten?
Der Herr Kollege Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich noch die Frage 32 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn ({0}) auf :
Ist die Bundesregierung bereit, den Ausbau des Instituts für Vorratsschutz, dessen personelle Ausstattung nach der Meinung des bei der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft gebildeten Beirats in einem „katastrophalen Mißverhältnis" zu dem Umfang der Aufgaben steht, vorrangig vorzunehmen und sicherzustellen, daß bisher angewandte ernährungshygienisch bedenkliche Bekämpfungsverfahren gegen Schädlinge in Nahrungsmitteln durch toxikologisch günstiger zu beurteilende Verfahren ersetzt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Logemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Jahn, die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß das bei der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Berlin-Dahlem bestehende Institut für Vorratsschutz personell nicht ausreichend besetzt ist. Bisher scheiterten wiederholte Versuche einer Personalvermehrung an der bekannten schwierigen Haushaltssituation. Ich unterstütze aber einen von der Biologischen Bundesanstalt vorgelegten Plan zum Ausbau der Bundesanstalt, der u. a. vorsieht, die Zahl der im Institut für Vorratsschutz tätigen Wissenschaftler zu verdoppeln. Der Ausbauplan wird gegenwärtig mit den zuständigen Bundesministerien, insbesondere mit dem Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, abgestimmt. Die sich daraus ergebenden Folgerungen, vor allem finanzieller und
personeller Art, sollen sobald wie möglich gezogen werden.
Das von diesem Hause beschlossene Pflanzenschutzgesetz und die dazu ergangenen Verordnungen gewährleisten schon jetzt, daß nur Vorratsschutzmittel zugelassen werden, die nach dem derzeitigen Erkenntnisstand bei sachgemäßer Anwendung keine schädlichen Auswirkungen für die Gesundheit von Mensch und Tier haben. Unabhängig davon fördert die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten Forschungen zur Entwicklung neuer unbedenklicher Mittel und Verfahren und deren Anwendung.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Zahl der wissenschaftlichen Kontrollbeamten für die Überprüfung der Lager der Vorratsgüter durch Streichung von Etatstellen so verringert worden ist, daß von einer wirksamen Kontrolle der Vorratsgüter in den Lagerstätten nicht mehr gesprochen werden kann?
Logemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Ich glaube, das würde zu weit gehen, Herr Kollege Jahn. Wir haben sicherlich einen Personalmangel; darauf habe ich hingewiesen. Aber mir ist nicht bekannt, daß hier schon nachteilige Wirkungen bezüglich der Prüfung eingetreten wären.
Keine weiteren Zusatzfragen. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantwortet.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Bundesminister Ehmke zur Verfügung. Die erste Frage ist die Frage 83, die bisher beim Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts geführt und von Herrn Abgeordneten Dr. Warnke eingebracht worden ist:
Entspricht es den Tatsachen, daß ein wegen Vorbereitung eines Bombenanschlags verurteilter haftverschonter Grieche unter Mitwirkung des deutschen Botschafters durch ein Bundeswehrflugzeug in die Bundesrepublik ausgeflogen wurde?
Der Herr Abgeordnete ist im Saal. Bitte schön, Herr Bundesminister!
Herr Abgeordneter, es entspricht den Tatsachen, daß ein griechischer Staatsangehöriger, der keinem Ausreiseverbot unterlag, Griechenland in einem Flugzeug der Bundeswehr verließ, um sich in die Bundesrepublik zu begeben. Botschafter Limbourg war bei dem Abflug anwesend. Die Bundesregierung hat bereits erklärt, daß sich Herr Botschafter Limbourg einwandfrei verhalten hat.
Darf ich die zweite Frage gleich mit beantworten?
Herr Dr. Warnke, der Herr Bundesminister möchte Ihre zweite Frage auch noch beantworten. Sind Sie damit einverstanden?
Ich bin damit einverstanden unter der Voraussetzung, daß die Zahl der Zusatzfragen dadurch nicht verringert wird.
Herr Kollege, das ist selbstverständlich. Dann rufe ich noch die Frage 84, die ebenfalls bisher beim Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts geführt worden ist, auf:
Hält die Bundesregierung dieses Vorgehen für vereinbar mit dem Völkerrecht, und ist sie gegebenenfalls bereit, in ähnlicher Weise in kommunistischen Ländern wegen politischer Delikte verurteilten Deutschen zu helfen?
Die Bundesregierung hat keinen Grund zu der Annahme, daß die Ausreise des griechischen Staatsangehörigen nicht im Einklang mit den Normen des Völkerrechts stand. Auf Ihre hypothetische Frage, was die Bundesregierung für Deutsche zu tun bereit wäre, die in kommunistischen Ländern wegen politischer Delikte verurteilt wurden, kann ich Ihnen nur versichern, daß die Bundesregierung Verstöße gegen die Menschenrechte verurteilt, wo immer sie sich in der Welt ereignen. Sie wird stets bemüht sein, Opfern derartiger Verstöße, insbesondere natürlich deutschen Staatsangehörigen, zu helfen.
Bitte, Herr Dr. Warnke, eine Zusatzfrage!
Herr Minister, können Sie darüber Auskunft geben, warum die Bundesregierung ihre Haltung in der Affäre Mangakis geändert hat, indem sie zunächst erklärte, keine Stellungnahme abgeben zu wollen, um die deutsch-griechischen Beziehungen nicht zu belasten, am 24. April jedoch die gesamte Affäre als nicht geeignet erklärte, diese Beziehungen auch nur im geringsten beeinträchtigen zu können?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hätte die Ausreise nicht, wie vorgesehen, gefördert, wenn sie nicht von der Annahme hätte ausgehen können, daß die griechische Regierung der Ausreise zugestimmt hatte. Wenn die griechische Regierung in ihrer Stellungnahme vom 25. April erklärt: „Informationen über vorangegangene Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen bzw. über die angebliche Zustimmung der griechischen Regierung zu der Art der Entführung von Herrn Mangakis und seiner Ehefrau, die eine offene Verletzung der nationalen Souveränität und der griechischen Gesetze durch einen dritten Staat darstelle, entbehrten jeder Wahrheit", so möchte die Bundesregierung auch jetzt bewußt hierzu nicht Stellung nehmen. Nachdem die griechische Regierung in eben dieser Erklärung deutlich gemacht hat, daß sie bereit sei, den Fall
Mangakis zu vergessen und diese Angelegenheit, nach dem bedauerlichen Abgang des deutschen Botschafters in Athen, als abgeschlossen zu betrachten, glaube ich nicht, weitere Erklärungen abgeben zu sollen. Das wäre nicht im Interesse der deutschgriechischen Beziehungen, die auch die griechische Regierung, wie aus der Erklärung hervorgeht, wieder zu verbessern wünscht.
Herr Kollege Warnke, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Zusatzfragerecht verbraucht ist, wenn Sie jetzt keine weiteren Zusatzfragen haben. Bitte!
Herr Bundesminister, auf Grund welcher Prinzipien und Praktiken des Völkerrechts halten Sie das Verhalten, das die deutsche Auslandsvertretung hier an den Tag gelegt hat, für absolut korrekt?
Ich habe Ihnen schon dargelegt, von welcher Annahme die Bundesregierung ausgehen konnte, Herr Abgeordneter. Im übrigen glaube ich nicht, daß den deutsch-griechischen Beziehungen ein guter Dienst erwiesen würde, wenn ich hier im einzelnen auf die Fühlungnahme mit der griechischen Regierung und die Umstände der Ausreise einginge. Ich bin aber gern bereit, einem von der Opposition benannten Vertrauensmann alle Auskünfte zu geben, die für die Beurteilung der Umstände, unter denen die Reise des griechischen Staatsangehörigen erfolgte, von Bedeutung sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Bundesminister, kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, ob die Art der Ausreise von Herrn Mangakis in voller Kenntnis des Außenministers der Bundesrepublik Deutschland erfolgte?
Das Auswärtige Amt als vorgesetzte Behörde unseres Botschafters war natürlich in die Handlungen des Botschafters eingeschaltet. Ich darf, Herr Abgeordneter, im Interesse der deutsch-griechischen Beziehungen noch einmal mein Angebot wiederholen, einen von der Opposition benannten Vertrauensmann im einzelnen über die Vorgänge zu unterrichten. Ich möchte aber über weitere Einzelheiten, nach denen Sie fragen, hier keine Auskunft geben.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel. Bitte, Herr Abgeordneter!
Herr Bundesminister, gilt das gleiche, was Sie vorhin gesagt haben, auch für den Verteidigungsminister? Ist also der Bundesminister
der Verteidigung über den genauen Zweck des Einsatzes des Bundeswehrflugzeuges, das Herrn Mangakis aus Griechenland ausflog, informiert gewesen, und hat er dazu seine ausdrückliche Zustimmung gegeben?
Ich darf vorschlagen, auch dies intern zu behandeln. Aber Sie können davon ausgehen, daß sich alle zuständigen Stellen der Bundesregierung bei ihren Handlungen miteinander abstimmen.
Herr Bundesminister, damit sind die Fragen, für die Sie zuständig sind, beantwortet.
Wir kommen beim Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes nun zu den Fragen des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner ({0}) und danach zur Frage 87 des Herrn Abgeordneten Höcherl, die bisher beim Auswärtigen Amt registriert war. Zur Beantwortung ist Herr Staatssekretär Ahlers anwesend.
Ich rufe zunächst Frage 72 des Abgeordneten Wagner ({1}) auf:
Hält die Bundesregierung auch jetzt noch, nachdem sie erneut durch aufwendige Anzeigenserien des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers ihre Meinung zu den Ostverträgen bekanntgemacht hat, an der mir mitgeteilten Auffassung fest, die Zustellung der Originaltexte der Verträge an alle Bürger sei nicht erforderlich und auch zu teuer?
Herr Präsident, ich hoffe, daß der Abgeordnete Wagner mit der gemeinsamen Beantwortung beider Fragen einverstanden ist.
Der Fragesteller ist einverstanden; also rufe ich zusätzlich Frage 73 des Kollegen Dr. Wagner ({0}) auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß sie der Information und Meinungsbildung der Bürger besser gedient hätte, wenn sie anstelle bereits vorher bekannter Argumente und Appelle des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers den Originaltext der Verträge in allen deutschen Zeitungen publiziert hätte bzw. jetzt noch publizieren würde?
Herr Abgeordneter, es ist richtig, daß die Bundesregierung auch jetzt noch der Auffassung ist, daß es unmöglich sei, die Originaltexte der Verträge an alle Haushalte der Bundesrepublik zu versenden. Eine solche Zustellung würde insgesamt rund 8 Millionen DM kosten, und das ist der entscheidende Punkt. Bei einem Etat, der für solche Aufwendungen maximal 11,5 Millionen DM enthält, ist es völlig unmöglich, einen so großen Betrag für eine Einzelaktion dieser Art auszuwerfen.
Ich habe mich bemüht, außerplanmäßige Mittel für so etwas zu bekommen. Das ist, wie Sie sich denken können, gerade mitten in den Beratungen über den Etat nicht möglich gewesen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, daß das Presse- und Informationsamt seit Abschluß der Verträge an Sonderdrucken des Bulletins, Faltblättern und Broschüren insgesamt 3 724 000 Stück verteilt hat.
Um auf die zweite Frage zurückzukommen: Wie Meinungsumfragen beweisen, sind rund 80 % unserer Bevölkerung mehr oder minder deutlich über den Inhalt der Verträge informiert. Ich glaube nicht, daß es möglich sein würde, selbst wenn man an alle Haushalte noch einmal ,den Vertragstext auch mit gewissen Erläuterungen verschickte, diese Informationsdunkelziffer, die sich auf jedem Gebiet abzeichnet, noch weiter aufzuhellen.
Eine Anzeige mit dem Inhalt der Texte - wir haben das geprüft - würde außerdem Kosten von mindestens 1,3 Millionen DM erfordern. Das halte ich deshalb nicht für nötig, Herr Abgeordneter, weil ohne jeden Zweifel alle deutschen Tageszeitungen im Zusammenhang mit der nächsten Lesung der Verträge im Bundestag in der kommenden Woche noch einmal ausführlich auf den Text und den Inhalt der Verträge eingehen werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner.
Nachdem Sie, Herr Staatssekretär, sich auf die Kosten einer derartigen Publikation bezogen haben, möchte ich die Frage stellen, ob nicht die Kosten, die durch die Anzeigen des Herrn Bundesaußenministers und des Herrn Bundeskanzlers am Freitag und Samstag der vorvergangenen Woche verursacht worden sind, ziemlich genau den Kosten entsprechen, die durch eine Publikation der Vertragstexte, so wie ich sie angeregt habe, entstanden sein würden oder auch jetzt noch entstehen würden?
Nein, Herr Abgeordneter, das ist nicht richtig. Die Kosten, die uns durch diese beiden Anzeigen entstanden sind, liegen knapp über einer Million DM. Eine Postwurfsendung - damit komme ich auf Ihre erste Frage zurück - würde, wie gesagt, rund 8 Millionen DM erfordern.
Zu der Frage, ob man nicht jetzt noch eine Anzeige erscheinen lassen sollte: Ich habe mich, wie gesagt, beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen darum bemüht. Eine solche Anzeige erscheint deshalb nicht erforderlich, weil ganz natürlicherweise die deutsche Presse, in der die Anzeigen erscheinen würden, auf den Text der Verträge in der kommenden Woche noch einmal ausführlich eingehen wird.
Herr Kollege, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte dann unter Hinweis darauf, daß die zweite Frage meines Erachtens nicht voll beantwortet wurde, diese Frage wiederholen und fragen, ob nicht dem Informations10718
Dr. Wagner ({0})
bedürfnis der deutschen Bevölkerung mit einer echten Information über den Originalvertragstext tatsächlich besser gedient wäre als mit den notwendigerweise von Meinungen gefärbten Stellungnahmen und Aufrufen des Herrn Bundesaußenministers und des Herrn Bundeskanzlers in der Presse.
Herr Dr. Wagner, diese Frage kann man mit Ja oder mit Nein beantworten. Das räume ich gern ein. Nur würde eine reine Publikation des Vertragstextes nichts bringen. Man müßte dann auf jeden Fall auch die Argumentation dazu bringen. Da wir, wie gesagt, davon ausgehen, daß der Inhalt des Vertragstextes, wie es bei einer solchen Sache nur sein kann, mehr oder minder bekannt ist, scheinen uns auf jeden Fall informationspolitisch - und das liegt durchaus in der legitimen Arbeit des Bundespresseamts - diese beiden Anzeigen des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers wichtiger gewesen zu sein.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage. Bitte, Herr Kollege!
Sind Sie nicht der Auffassung, Herr Staatssekretär, daß die Bevölkerung an Argumenten für und gegen die Verträge der Art, wie Sie sie soeben hier angeführt haben, seit Monaten und insbesondere in den letzten Wochen sehr viel, vielleicht genug, vielleicht bei der verwirrenden Fülle schon manchmal zuviel gehört hat, daß es ihr aber gerade an der Verfügung über die Entscheidungsgrundlagen, d. h. den Text der Verträge, gebricht?
Herr Abgeordneter, das eben glaube ich nicht. Ich weiß zwar, daß es in der scholastischen Philosophie den Satz gibt: Die Zahl der Argumente ist von einem gewissen Zeitpunkt an zwar beliebig wiederholbar, aber nicht beliebig vermehrbar. Dennoch glaube ich, daß gerade die Argumentation, die in diesen beiden erwähnten Anzeigen enthalten war, etwas Neues, Zusätzliches für die deutsche Bevölkerung gebracht hat, allerdings natürlich im Sinne der Auffassung der Bundesregierung.
Herr Kollege, Sie haben noch eine letzte Zusatzfrage.
Wären Sie dann bereit, aus der praktischen Erfahrung eines Abgeordneten und sicherlich fast aller Mitglieder dieses Hauses zur Kenntnis zu nehmen, daß von zehn befragten Personen, die man irgendwann trifft und mit denen man über diese Verträge spricht, mindestens neun die Auskunft geben, diese Verträge noch nicht gelesen zu haben und über ihre Texte noch nicht zu verfügen?
Herr Abgeordneter, das glaube ich gern.
({0})
Meine Damen und Herren, ich würde vorschlagen, daß wir gegenseitig die Argumente nicht - ({0})
- Herr Kollege, wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie als erster „Quatsch" gerufen.
({1})
- Dann bitte ich um Nachsicht. Dann gilt das aber für Sie ebenso.
Herr Dr. Wagner, das glaube ich gern. Nur werden Sie das bei jedem Thema ,dieser Art finden, natürlich auch, was entweder Anträge oder das Programm der Oppositionspartei angeht. Es ist völlig unmöglich, der deutschen Bevölkerung zu verordnen, Texte von Verträgen auswendig zu lernen. Das ist auch nicht die informationspolitische Aufgabe, sondern entscheidend ist, daß die Bevölkerung ein so weitgehendes Verständnis des Inhalts der Verträge hat, daß sie darüber ein bündiges Urteil abgeben kann.
Damit sind beide Fragen beantwortet.
Die Frage des Abgeordneten Höcherl wird schriftlich beantwortet. Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes sind beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde zur Verfügung.
Als erste Frage die Frage 33 des Abgeordneten Ziegler:
Was hat die Bundesregierung bewogen, in der vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung veröffentlichten dritten Ausgabe der „Zwischenbilanz" über die Sozialpolitik in der laufenden Legislaturperiode den noch in der zweiten Ausgabe enthaltenen Hinweis zu streichen, daß das Erste Anpassungsgesetz im Bundesversorgungsrecht ,,vom Deutschen Bundestag noch ausgebaut wurde"?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident, ich würde gern mit Einverständnis des Herrn Kollegen Ziegler die beiden Fragen zusammen beantworten.
Der Herr Kollege ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 34 des Abgeordneten Ziegler auf:
Durch welche Maßnahmen hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die in der zweiten Ausgabe der „Zwischenbilanz" enthaltene und in der dritten Ausgabe nicht mehr enthaltene folgende Zusage erfüllt: „Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung wird weitere Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten prüfen und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge erarbeiten"?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bei der Neufassung des Textes für den von Ihnen genannten Abschnitt der Broschüre „Zwischenbilanz III" handelt es sich um eine rein redaktionelle Änderung. Dabei wurde davon ausgegangen, daß in der Broschüre nicht der Weg eines Gesetzes im einzelnen dargestellt, sondern dem interessierten Leser ein knapp gehaltener Überblick über die Veränderungen im sozialen Leistungsrecht gegeben, ihm also eine schnelle und übersichtliche Information ermöglicht werden soll.
Gleichzeitig darf ich darauf hinweisen, daß von unserem Hause Jahr für Jahr ein umfänglicher Sozialbericht, gekoppelt mit dem Sozialbudget, herausgegeben wird. In ihm werden die sozialpolitischen Leistungen und Aufgaben ausführlicher beschrieben. Das trifft auch auf Ihre Frage nach den weiteren Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten zu. Die Bundesregierung hat schon bei mehreren Gelegenheit deutlich gemacht, daß die von ihr eingesetzte Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung im Zuge ihrer Beratungen prüft, in welchem Umfang weitere Schritte zur Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung in den Leistungskatalog der Krankenversicherung aufgenommen werden können.
Herr Kollege, es wird Ihnen sicherlich noch in Erinnerung sein, daß diese Sachverständigenkommission bereits für die Einführung der Krebsvorsorgeuntersuchungen entscheidende Vorarbeiten geleistet hat.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ziegler.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, durch die Weglassung des Satzes, den ich in meiner Frage 33 angeführt habe, könnte bei einer interessierten, aber kritischen Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, die Bundesregierung möchte in diesem Leistungsbericht die erheblichen Verbesserungen, die das Erste Anpassungsgesetz im Bundesversorgungsrecht mit sich gebracht hat, für sich allein in Anspruch nehmen und den Beitrag des Bundestages und damit den konstruktiven Beitrag, den auch die Opposition zu diesem Gesetz geleistet hat, praktisch verschleiern?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Dieser Eindruck kann nicht entstehen, wenn man das Vorwort der Broschüre liest. In diesem Vorwort hat Herr Minister Arendt ausdrücklich auf die Verwirklichung der sozialpolitischen Maßnahmen gemeinsam mit Bundestag und Bundesrat hingewiesen.
Keine Zusatzfragen. Damit sind beide Fragen beantwortet.
Die Frage 35 des Abgeordneten Dr. Schneider ({0}) wird der Herr Staatssekretär schriftlich beantworten; der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Es folgt die Frage 36 des Herrn Abgeordneten Varelmann:
In welchem relativen Zahlenverhältnis stehen die Heilverfahren der Rentenversicherung in den Großstädten und in den ländlichen Gebieten zueinander?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich auch diese beiden Fragen gern zusammen beantworten.
Der Herr Kollege ist einverstanden. Ich rufe dann auch die Frage 37 des Abgeordneten Varelmann auf:
Ist die Zahl der Anträge auf Gewährung eines Heilverfahrens in der Rentenversicherung aus den Großbetrieben wesentlich höher als aus den kleineren Betrieben?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Zur Beantwortung Ihrer Fragen stehen uns statistische Unterlagen nicht zur Verfügung. Um derartige Angaben zu erhalten, müßte das Verhältnis zwischen der unterschiedlichen Bevölkerungsdichte, der unterschiedlichen Dichte der Arbeitsplätze und der unterschiedlichen Jahrgangsstärke der Arbeitnehmer einerseits und der Inanspruchnahme von Heilverfahren andererseits festgestellt werden. Nach Auskunft von Fachleuten erscheint es fraglich, ob es überhaupt möglich ist, solche Zahlen in der von Ihnen erfragten bezirklichen bzw. betrieblichen Gliederung zu ermitteln. Überdies könnten gegen die Ergebnisse Bedenken erhoben werden, weil beispielsweise der Wohnsitz eines Arbeitnehmers nicht unbedingt Rückschlüsse auf Lage und Art des Arbeitsplatzes zuläßt, zum anderen die Ursache für eine Gesundheitsbeeinträchtigung keinesfalls immer am letzten Arbeitsplatz aufgetreten ist. Die Fragestellung erfordert also im Hinblick auf die Komplexität der Verhältnisse umfangreiche Untersuchungen. Sie bringt auch methodische Probleme mit sich, so daß eine Klärung nur durch einen langfristigen Forschungsauftrag erreicht werden kann. Nach Rückfrage bei den Beteiligten werden wir prüfen, ob ein entsprechender Forschungsauftrag erteilt werden sollte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Varelmann.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht angebracht, weil ich hier begründete Argumente habe, meiner kritischen Frage nachzu10720
gehen, ob es nicht doch zutreffend ist, daß die ländlichen Gebiete in der Inanspruchnahme von Heilverfahren erheblich im Rückstand liegen, und wäre es nicht zusätzlich erforderlich, daß sich das Arbeitsministerium für die Arbeitnehmer in den ländlichen Gebieten um mehr Aufklärung über diesen Bereich bemüht?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe in meiner Hauptantwort schon unser Interesse für diese Frage bekundet und dargelegt, daß wir prüfen, ob ein Forschungsauftrag der geeignete Weg ist, in diesen sicherlich schwierigen und methodisch nicht einfach zu erforschenden Tatbestand mehr Licht bringen zu können.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht auch eine Aufgabe, die Ärzte in den ländlichen Räumen zu beeinflussen, daß sie ihre Patienten vermehrt auf die Möglichkeit von Heilmaßnahmen hinweisen?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich bin der Meinung, daß Sie damit eine Frage angesprochen haben, die vor allem auch an die Selbstverwaltungsorgane der Rentenversicherungsträger zu richten wäre.
Herr Staatssekretär, Sie haben zum Teil zutreffend geantwortet, aber ich meine, hier liegt auch eine sehr große Aufgabe beim Bundesministerium für Arbeit, sich im Rahmen der derzeitigen umfassenden Aufklärungsarbeit in diesem Bereich zu bemühen.
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, Sie wissen aus den Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuß des Deutschen Bundestages, wie sich gerade diese Bundesregierung darum bemüht, die statistischen Informationen im Bereich der Sozialpolitik zu verfeinern. Ich darf in diesem Zusammenhang auf den Ausbau der Datenverarbeitung in der Rentenversicherung hinweisen. Hier haben wir gegenüber den 60er Jahren aufzuarbeiten, und ich bin sicher, daß es uns gelingt, Schritt für Schritt einen Informationspegel im Bereich der sozialen Sicherung zu erreichen, der einen besseren Überblick gibt, als man ihn früher zur Verfügung hatte, und der auch gezieltere Aufklärung ermöglicht.
Eine letzte Zusatzfrage.
In der öffentlichen Kritik wird sehr massiv behauptet, daß sich junge Arbeitnehmer aus den Großbetrieben mit erheblichem Einsatz um Heilmaßnahmen bemühen. Wäre
es nicht notwendig, in diesen Fällen zu prüfen, ob diese Bestrebungen immer gerechtfertigt sind?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, solange darüber kein konkretes Zahlenmaterial vorliegt, würde ich eine solche pauschale Aussage, wie Sie sie in Ihre Frage eingeführt haben, nicht wagen.
Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Pieroth ist nicht im Saal. Die von ihm eingereichte Frage 38 wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 39 hat der Herr Abgeordnete Wawrzik eingebracht:
Ist die Bundesregierung bereit, den Aufgabenkatalog des § 407 RVO um die Errichtung und Betreibung von EDV-Rechenzentren zu erweitern?
Der Herr Abgeordnete ist im Saal. Bitte, Herr Staatssekretär!
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Eine Notwendigkeit, die von Ihnen genannte Vorschrift zu ergänzen, um EDV-Rechenzentren durch Bezirks verbände der Krankenkassen errichten und betreiben zu können, würde dann in Betracht kommen, wenn die genannte Rechtsvorschrift diese Möglichkeit nicht schon jetzt zulassen würde.
Unser Haus prüft diese Frage bereits mit den Arbeitsministern und Senatoren für Arbeit der Länder. In diese Prüfung soll auch die weitere Frage einbezogen werden, ob schon nach geltendem Recht die Errichtung und der Betrieb von EDV-Rechenzentren auch durch die Landes verbände der Krankenkassen zulässig ist. Ich möchte außerdem darauf hinweisen, daß die Prüfung auch die Frage einbeziehen soll, ob eine weitere rechtliche Ausgestaltung erforderlich ist, um eine optimale Nutzung der EDV im Rahmen solcher Zusammenschlüsse zu ermöglichen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Wawrzik.
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß man den Bereich der Datenverarbeitung nur den Landesverbänden der Ortskrankenkassen zuweisen soll, oder ist hier noch keine Festlegung erfolgt?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ich habe darauf hingewiesen, Herr Kollege, daß wir die Frage zusammen mit den Ländern auch im Hinblick auf die Bezirksverbände prüfen. Ich gehe davon aus, daß ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten besteht, eine optimale Organisation der EDV auch im Bereich der Krankenversicherung zu erreichen.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Berkhan zur Verfügung. Die Frage 40 stellt der Abgeordnete Würtz:
In welchem Umfang sollen die Schwimmhallen, die von der Bundeswehr auf Grund der Ankündigungen in den Weißbüchern 1970 und 1971/1972 inzwischen gebaut wurden, von den Einheiten der Bundeswehr genutzt werden?
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident, wenn der Fragesteller gestattet, würde ich gern seine beiden Fragen zusammen beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe auch noch die Frage 41 des Abgeordneten Würtz auf:
Werden diese Schwimmhallen auch außerhalb der Dienstzeit zur Nutzung freigegeben, und steht entsprechend qualifiziertes Personal ({0}) zur Verfügung?
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Kollege Würtz, bundeswehreigene Schwimmhallen wurden und werden zunächst nur an Schulstandorten und an Großstandorten ab 4000 Soldaten gebaut. Für diese Standorte ist berechnet worden, daß die Schwimmhallen 50 bis 60 Stunden in der Woche für die systematische Schwimmausbildung der Soldaten genutzt werden. Bundeswehreigene Schwimmhallen - damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage - können, soweit es die dienstlichen Belange zulassen, nach den hierzu erlassenen Richtlinien von Bundeswehrangehörigen, von ihren Familienmitgliedern sowie von Gruppenbenutzern - Schulen, Vereinen, Betriebssportgruppen usw. - außerdienstlich benutzt werden. Die Bundeswehr stellt hierfür als Aufsicht einen Bademeister, dessen Vergütung sich nach den Bestimmungen des Bundesangestelltentarifs richtet. Für das Personal zur Schwimmausbildung haben die Gruppenbenutzer demgegenüber selber Sorge zu tragen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Würtz.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bitte mitteilen, in welche Vergütungsgruppe des BAT die Bademeister eingruppiert werden sollen.
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Kollege Würtz, ich fühle mich im Moment überfragt. Ich bin gerne bereit, Ihnen einen Brief zu schreiben.
Dann will ich die zweite Frage auch zurückstellen. Vielen Dank!
Ich danke Ihnen, Herr Abgeordneter.
Damit kommen wir zu der Frage 42 des Herrn Abgeordneten Dr. Gölter:
Treffen Pressemitteilungen zu, nach denen die Bundesregierung für das sogenannte Dokumentarspiel über den Mord von Lebach dem Zweiten Deutschen Fernsehen kostenlos eine Kompanie Fallschirmjäger und eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei zur Verfügung stellt?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident, wenn Herr Dr. Gölter es gestattet, würde ich auch diese beiden Fragen gerne gemeinsam beantworten.
Der Herr Abgeordnete Dr. Gölter ist einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 43 auf:
Falls diese Pressemeldungen zutreffen, durch welche Motive ist die Bundesregierung zu dieser Entscheidung veranlaßt worden?
Bitte!
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Danke schön, Herr Kollege Dr. Gölter.
Pressemitteilungen, daß von der Bundesregierung eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei kostenlos zur Verfügung gestellt worden ist, treffen nicht zu. Die Bundeswehr hat ebenfalls keine Kompanie kostenlos zur Verfügung gestellt, sondern genehmigt, daß rund 50 Soldaten aus verschiedenen Einheiten, meist während ihrer normalen Dienstverrichtung, gefilmt werden dürfen. Unabhängig hiervon wurde von Soldaten der Luftlandepionierkompanie 260 im Rahmen ihrer Ausbildung ein Stacheldrahtzaun von rund 90 m Länge abgebaut und später wieder errichtet.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung diese Entscheidung nach gründlicher Überprüfung des Inhalts dieser sogenannten Dokumentation vorgenommen, oder hat sich die Bundesregierung hier auf allgemeine Zusagen des Zweiten Deutschen Fernsehens verlassen?
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Kollege Dr. Gölter, die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten - hier verantwortlich das Informations- und Pressezentrum des Bundesministers der Verteidigung geprüft, welchen Beitrag wir zu dieser Sendung schlechthin leisten können. Sie sprechen - vielleicht ist es Zufall - mit dem Vertreter der Bundesregierung, der die Bundesregierung auch im Fernsehrat des Zweiten Deutschen Fernsehens vertritt. Vielleicht gestattet der Präsident, daß ich hier, ohne daß damit die Bundesregierung gebunden ist, anmerke, daß der Ausschuß für Politik und Zeitgeschehen im Fernsehrat des Zweiten Deutschen Fernsehens diese Sendung sicher kritisch bewerten wird. Ob man sie sich vorher ansehen oder im nachhinein mit dem Intendanten über Form und Inhalt der Sendung reden wird, bleibt abzuwarten.
Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan
Der Ausschuß hat jedenfalls bei seiner letzten Sitzung zu erkennen gegeben, daß er eventuell Kritik anzumelden hat, und das wird die Instanzen des Fernsehens, d. h. den Intendanten, den Chefredakteur und die zuständigen Abteilungen, sehr aufmerksam werden lassen.
Herr Abgeordneter!
Herr Präsident, da der Herr Staatssekretär in seiner Beantwortung ein klein wenig über den eigentlich gesetzten Rahmen hinausgehen durfte, erlaube ich mir das auch mit einer Frage.
Das war auch im Interesse des Fragestellers, wenn ich das richtig sehe.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, bei dieser Würdigung die entsprechenden Stellungnahmen, wie sie beispielsweise der Präsident der Pfälzischen Landeskirche, der Bischof von Speyer, weite Teile der Bevölkerung und der verantwortlichen Politiker der Stadt Landau abgegeben haben, entsprechend zu berücksichtigen?
Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Kollege, das war der Anlaß, warum das Fernsehratmitglied Berkhan in der letzten Sitzung des Ausschusses für Politik und Zeitgeschehen kritische Fragen gestellt hat. Die Kirchen sind durch namhafte Vertreter sowohl im Plenum des Fernsehrats als auch in den Ausschüssen vertreten. Ich habe keine Furcht, daß dort diese Bemerkungen, die durch die Pfälzische Landeskirche und ihre Vertreter gemacht wurden, untergehen werden.
Darf ich die Sache abschließen? Wir haben hier aber die Informationsmöglichkeit für die Öffentlichkeit in dieser Frage nutzen können.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung beantwortet. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär von Manger-Koenig zur Verfügung.
Zuerst rufe ich die Frage 44 des Abgeordneten Wittmann ({0}) auf:
Hält die Bundesregierung die laut Süddeutscher Zeitung vom 11. April 1972 geäußerte Meinung des Oberchemiedirektors Coduro für zutreffend, daß der Fischbestand in der oberen Donau auf Grund seines hohen Quecksilbergehalts für den Menschen gesundheitsschädlich sei?
Herr Abgeordneter, nach Berichten und Angaben, die der Bundesregierung vorliegen, sind bei Untersuchungen von Donau-Fischen Quecksilbergehalte bis zu 1,1 ppm - parts pro million - festgestellt worden, wobei Fische aus Bereichen mit geringer Vorfluterbelastung niedrigere Quecksilbergehalte von 0,09 bis 0,4 ppm aufwiesen.
Im Hinblick auf die vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit vorbereitete Verordnung über Höchstmengen an Quecksilber in Fischen sowie daraus hergestellten Erzeugnissen wurden vom Bundesgesundheitsamt Grenzwerte für Quecksilber vorgeschlagen, die jedoch noch mit den Sachverständigen der Länder abgestimmt werden sollen. Zur Diskussion steht ein Grenzwert von 0,7 ppm für bestimmte Fischarten, z. B. für Hecht, Lachs, Stör, Thunfisch usw., und von 0,4 ppm für alle übrigen Fische.
Eine Zusatzfrage.
Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung - für den Fall der Einführung dieser neuen Grenzwerte -, bei Überschreitungen tätig zu werden?
Das ist Aufgabe der Lebensmittelüberwachung der Länder, die entsprechende Stichproben machen, Herr Abgeordneter.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 45 des Abgeordneten Wittmann ({0}) auf:
Nach welchen Methoden und Kriterien kann eine Gesundheitsgefährdung festgestellt werden?
Die Festsetzung von Grenzwerten für Quecksilber muß sich an seiner Toxizität für den menschlichen Organismus, insbesondere im Hinblick auf chronische Organschädigungen durch Speicherung des Quecksilbers orientieren, wobei Verzehrsgewohnheiten in der Bundesrepublik zu berücksichtigen sind. Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse des In- und Auslands werden Quecksilbergehalte über 1,0 ppm als gesundheitlich nicht unbedenklich angesehen. In den USA sind 0,5, in Schweden 1,0 und in Norwegen 1,5 ppm als vorläufige Grenzwerte für alle Fische festgesetzt worden. In Italien und Frankreich sind vorläufige Grenzwertfestsetzungen vorgenommen worden, die im Rahmen der für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehenen Festsetzungen liegen.
Die Bundesregierung wird sich im übrigen um eine möglichst einheitliche Regelung im EWG-Bereich bemühen.
Damit sind diese beiden Fragen beantwortet.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Die Frage 46 des Abgeordneten Seefeld wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 47 und 48 des Abgeordneten Wolf werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 49 der Abgeordneten Frau von Bothmer auf:
Trifft es zu, daß die Bundesregierung bei ihrer Absicht, die suchtfördernden Drogen AN 1 und Rasimon Neu bis Juni dieses Jahres der Rezeptpflicht zu unterstellen, auf Schwierigkeiten stößt. und daß die Hersteller dieser Drogen seit einiger Zeit die nahezu identischen Präparate Ton-Os und Vit-O2 vertreiben, daß diese jedoch weiterhin frei verkäuflich bleiben sollen?
Frau Abgeordnete, es trifft zu, daß der Hersteller der Arzneispezialität AN 1 gegen die beabsichtigte Unterstellung dieses Präparats unter die Verschreibungspflicht Einwände erhoben hat. Er bezweifelt die für die Unterstellung unter die Verschreibungspflicht angegebene Begründung und hält sie für nicht zutreffend. Ich bin jedoch nach wie vor der Ansicht, daß auf Grund der sich aus der Struktur der Substanz ergebenden zentralsympathikomimetischen Wirkung auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch sich eine Gefährdung der Gesundheit nicht ausschließen läßt und daß deshalb die Unterstellung unter die Verschreibungspflicht angezeigt ist.
Der Hersteller der Arzneispezialität Rosimon-Neu hat lediglich um nähere Begründung für die Unterstellung gebeten.
Ich habe bei anderer Gelegenheit in der Fragestunde schon darauf hingewiesen, daß beide Arzneispezialitäten von uns etwa im Juni unter die Rezeptpflicht gestellt werden.
Auch die von Ihnen genannten Arzneispezialitäten Ton-O2 und Vit-O2 werden verschreibungspflichtig werden, da sie neben anderen wirksamen Bestandteilen auch den gleichen Bestandteil wie AN 1 enthalten und wir nicht eine einzelne Spezialität, einen bestimmten Präparatenamen, sondern jeweils die wirksamen chemischen Substanzen unter die Rezeptpflicht stellen.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Darf ich hoffen, daß dann nicht wie bei AN 1 nach der ersten Warnung der Ärzte etwa drei Jahre vergehen, bis es zur Verschreibungspflicht kommt, sondern in diesem Fall die beiden Präparate im Zuge der Verschreibungspflicht, die nun für AN 1 und Rosimon bestehen wird, schneller unter die Verschreibungspflicht gestellt werden?
Frau Abgeordnete, nach dem geltenden Recht können Präparate unter die Rezeptpflicht nur gestellt werden, wenn sie auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch Schädigungen der Gesundheit erwarten lassen. Das ist bis jetzt umstritten gewesen. Es hat sich erst in letzter Zeit auf Grund jüngster Untersuchungen aus den letzten Monaten ein Hinweis für die von mir eben aufgezeigten Wirkungen ergeben. Deshalb werden wir noch in diesem Jahr dem Hohen Hause eine Arzneimittelrechts-novelle vorlegen, in der auf möglichen Mißbrauch abgestellt wird, so daß dann die Unterstellung unter die Verschreibungspflicht sehr viel schneller in dem Sinne, wie Sie es eben andeuteten, möglich ist.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Haar zur Verfügung.
Die esten Fragen sind von dem Herrn Abgeordneten Scheu eingebracht. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Fragen werden daher schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen im Stenographischen Bericht abgedruckt *).
Auch der Herr Abgeordnete Dr. Arndt ({0}) ist nicht anwesend, so daß seine Fragen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen im Stenographischen Bericht abgedruckt **).
Ich rufe die Frage des Herrn Abgeordneten Dasch auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt ***).
Der Herr Abgeordnete Dr. Ritz hat um schriftliche Beantwortung seiner Frage gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Fragen des Herrn Abgeordneten Röhner auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal, so daß seine beiden Fragen schriftlich beantwortet und die Antworten als Anlagen im Stenographischen Bericht abgedruckt werden.
Ich rufe die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Evers auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Krankenwagen bezüglich ihrer Rechtsstellung bei Ausübung des Wegerechts den Fahrzeugen von Polizei, Bundeswehr und Feuerwehr gleichgestellt werden, d. h. bei Inanspruchnahme des Wegerechts so behandelt werden, als ob sie zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben tätig werden und sich dabei nicht nur auf den § 12 des Ordnungswidrigkeitengesetzes abstützen müssen, was erfahrungsgemäß dazu führt, daß die Lebensrettung Schwerverletzter nicht mit gleicher Vordringlichkeit sichergestellt werden kann wie die Durchführung der Aufgaben von Polizei, Bundeswehr und Feuerwehr?
Herr Staatssekretär!
*) Vgl. mündliche Antwort auf Seite 10728 ({1})
**) Vgl. mündliche Antwort auf Seite 10728 ({2})
***) Vgl. mündliche Antwort auf Seite 10729 ({3})
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Präsident, Herr Kollege, die gleiche Frage wurde bereits wiederholt in Fragestunden des Bundestages gestellt. Da sich zwischenzeitlich keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, kann ich nur in gleichem Sinne antworten. Die Führer von Krankenwagen dürfen sich im Straßenverkehr durch blaues Blinklicht und durch Einsatzhorn bemerkbar machen, wenn zur Rettung von Menschenleben höchste Eile geboten ist. Auf diese Zeichen hin müssen die anderen Fahrzeugführer sofort freie Bahn schaffen. Dadurch soll gewährleistet werden, daß die Krankenwagen nicht durch andere Verkehrsteilnehmer aufgehalten werden. Die Bundesregierung hält es aber im Interesse der Verletzten und Schwerkranken nicht für geboten und im Hinblick auf die Verkehrssicherheit auch nicht für vertretbar, die Führer von Krankenwagen von allen Vorschriften der Straßenverkehrsordnung zu befreien. Den Kranken und Verletzten ist nicht gedient, wenn sich auf dem Wege zum Krankenhaus neue Unfälle ereignen, die ihre Beförderung verzögern oder sogar neue Lebensgefahr heraufbeschwören. Auch die Sonderrechte der Polizei und der Feuerwehr auf diesem Gebiet bestehen nur noch beschränkt. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird darauf hingewiesen, daß es nicht Sinn eines hoheitlichen Einsatzes ist, gefährdete Menschen unter Bedrohung der Gesundheit oder des Lebens anderer zu retten und daß die Verantwortlichkeit im Sinne des allgemeinen Strafrechts bestehen bleibt. Bei der ständig zunehmenden Verkehrsdichte kann das Problem der ärztlichen Versorgung von Menschen, die in Lebensgefahr stehen, nur in begrenztem Maße durch besondere Verkehrsvorrechte gelöst werden. Wichtiger ist vielmehr, daß alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die den Rettungsdienst verbessern können. Dazu ist vor allen Dingen eine zweckmäßige Ausstattung der Krankenwagen wichtig, z. B. durch Einrichtungen, die eine ärztliche Versorgung am Unfallort und während der Fahrt ermöglichen. Der gleichen Ansicht sind die für den Verkehr zuständigen obersten Landesbehörden. Das hat sich anläßlich der Beratung der neuen Straßenverkehrsordnung erneut bestätigt.
Zusatzfrage.
Entnehme ich aus diesen sehr umfangreichen und natürlich im wesentlichen zutreffenden Ausführungen zu Recht, daß Sie es aber für die Bundesregierung ablehnen, den Transporten von Schwerverletzten die gleichen Vorrechte einzuräumen, die von der Bundesregierung für Feuerwehr, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz offenbar noch für angemessen gehalten werden?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege, sollte in einem einzelnen Fall die Abweichungen von den Verkehrsvorschriften dringend geboten sein, dann ist nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen über den übergesetzlichen Notstand schon immer, also auch im Rahmen der geltenden Vorschriften, jeder Kraftwagenführer berechtigt, das hochwertige Gut, nämlich das Menschenleben, unter Mißachtung des geringwertigen Gutes, nämlich der Verkehrsvorschriften, zu retten, wenn es tatsächlich bedroht ist. Sein Handeln ist dann gerechtfertigt. Eine Schuld ist insoweit ausgeschlossen, als er wegen Mißachtung der Verkehrsvorschriften dann nicht verfolgt werden kann.
Zusatzfrage.
Sie werden mir zustimmen - wenn ich diese Frage so formulieren darf -: er hat eben doch nicht den gleichen rechtlichen Status wie Angehörige von Polizei, Bundeswehr und Feuerwehr, die insoweit in Ausübung hoheitlicher Aufgaben handeln, während dies bei dem Führer eines Schwerverletztentransportes nicht unterstellt werden kann?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege, dieses Problem ist anläßlich der Vorbereitung einer neuen Straßenverkehrsordnung ausgiebig geprüft worden. Neue Gesichtspunkte haben sich für diesen Sachverhalt nicht ergeben.
Meine Damen und Herren, drei Kollegen sind, nachdem ich ihre Fragen eben aufgerufen habe und die Fragen wegen ihrer Abwesenheit nicht mündlich beantwortet werden konnten, gerade wieder in den Plenarsaal gekommen. Wenn wir mit der Beantwortung der übrigen Fragen vor 16 Uhr fertig sein sollten, würde ich gern erneut die Fragen der Herren Abgeordneten Scheu, Arndt und Dasch aufrufen. Herr Staatssekretär Haar, ich bitte Sie daher, noch dazubleiben, bis die Fragen aus dem Geschäftsbereich Ihres Kollegen Raffert beantwortet sind. Aber zunächst muß ich nach den Richtlinien der Fragestunde in der Reihenfolge der Fragesteller weiter vorgehen.
Ich rufe die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Dr. Jobst auf. - Ich sehe den Kollegen nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 60 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
Ist die Bundesregierung bereit, Fährbetriebe am Mittelrhein, welche die einzige Verkehrsverbindung zwischen der B 9 und der B 42 darstellen. durch Subventionen zu unterstützen, damit im Interesse des Wirtschafts-, Berufs- und Fremdenverkehrs auch in den Abend- und Nachtstunden noch Übersetzmöglichkeiten gegeben sind?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Präsident, wenn der Herr Kollege einverstanden ist, bitte ich, die beiden Fragen wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantworten zu dürfen.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 61 des Herrn Abgeordneten Josten auf:
Wird die Bundesregierung im Rahmen ihrer Strukturpolitik dieses Problem mit der Landesregierung von Rheinland-Pfalz im Interesse der Bevölkerung am Mittelrhein erörtern, zumal zwischen Koblenz und Mainz keine Rheinbrücke vorhanden ist?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Die Fähren am Mittelrhein gehören nicht zu den Straßen. Der Bund als Träger der Straßenbaulast für die Bundesfernstraßen hat für sie keine Verantwortung. Das Fährregal und die darauf beruhenden Pachteinnahmen stehen dem Land Rheinland-Pfalz zu.
Die Bevölkerung des Mittelrheins müßte sich mit ihrem Wunsch, den Fährverkehr zu verbessern, an die Landesregierung in Mainz wenden. Die Verkehrsprobleme in Rheinland-Pfalz sind, soweit Bundesaufgaben berührt sind, in ständigem Gespräch zwischen Bund und Land.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem bekannt ist, daß in den ersten Jahren ein Brückenbau am Mittelrhein nicht verwirklicht werden kann, darf ich Sie fragen: Teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß der jetzige Zustand der Verkehrsverbindungen über den Rhein in den Abend- und Nachtstunden in diesem Raum ungenügend ist?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege, feste Rheinbrücken im Zuge von Bundesstraßen am Mittelrhein werden bei St. Goar, und zwar dritte Dringlichkeit nach Bedarfsplan, und bei Geisenheim, erste Dringlichkeit nach Bedarfsplan zweiter Fünfjahresplan - zwischen 1976 und 1980 geplant.
Der Verkehr zwischen den beiden Rheinufern ist ganz überwiegend Orts- und Regionalverkehr. Der weiträumige Verkehr, für den der Bund als Straßenbaulastträger die Verantwortung hat, geht in erster Linie parallel zum Rhein.
Herr Staatssekretär, haben Sie die Zahlen zur Hand, wann mit der Fertigstellung der soeben von Ihnen genannten Brücken zu rechnen bzw. der Baubeginn vorgesehen ist?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege, das kann ich für diesen Zeitraum mittelfristig nicht verbindlich sagen.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir darüber eine schriftliche Mitteilung zukommen zu lassen?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich will das gern prüfen lassen und Ihnen schriftlich Nachricht geben.
Ich rufe die Fragen 62 und 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Luda auf. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die beiden Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 64 des Herrn Abgeordneten Dr. Evers auf:
Ist der Bundesregierung im Gegensatz zur schriftlichen Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom 12, Mai 1971 auf meine diesbezügliche schriftliche Frage inzwischen bekanntgeworden, daß die vom Bundesministerium für das Post-und Fernmeldewesen herausgegebene Zeitschrift „telepost" Ausführungen darüber enthält, daß ab 1975 bei dem sogenannten elektronischen Telefon der abschaltbare Wecker Wirklichkeit werden soll, und ist die Bundesregierung bereit, die mir im Mai 1971 erteilte schriftliche Antwort insoweit zu berichtigen?
Herr Staatssekretär!
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Nein, die Bundesregierung sieht sich nicht veranlaßt, die Ihnen im Mai 1971 erteilte Antwort zu berichtigen. Sie hatten damals angefragt, ob die Apparate bei den Fernsprechteilnehmern abstellbar gemacht werden können. Die Antwort lautete: Nein. Daran hat sich nichts geändert.
An das in der Zeitschrift „telepost" in groben Umrissen geschilderte neue Ortswählsystem können im Gegensatz zu den heutigen Wählsystemen Tastenwahlapparate angeschlossen werden. Mittels dieses Tastenwahlapparats hat der Teilnehmer die Möglichkeit, seinen Anschluß gegen ankommende Verbindungen zu sperren. Der Anrufer erhält dann einen entsprechenden Hinweis.
Mit der Einführung des neuen Systems wird in geringen Stückzahlen 1975 begonnen. Erst etwa im Jahre 2000 werden alle Teilnehmer diesem System angeschlossen sein. Sofern sie einen Tastenwahlapparat besitzen, können sie sich dann der vorgenannten Sperrung bedienen. Teilnehmern mit Nummernschalterapparaten ist die Teilnahme an diesem Dienst nicht möglich.
Eine Zusatzfrage.
Darf ich das so verstehen, daß diejenigen Teilnehmer, die bereits 1975 mit einem der neuen. Apparate ausgestattet werden, auch schon von 1975 an von dieser Möglichkeit Gebrauch machen können?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Das ist der Fall, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch etwas dablieben. Vielleicht können wir die
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Fragen der drei Kollegen im Anschluß an den Geschäftsbereich des Kollegen Raffert noch beantworten.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Raffert zur Verfügung.
Ich rufe die Fragen 65 und 66 des Abgeordneten Bäuerle auf. - Der Kollege ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 67 des Herrn Abgeordneten Dr. Ahrens auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu Untersuchungsergebnissen, nach denen die ganzheitlichen Methoden beim Erstlese- und -schreibunterricht die Entstehung legasthenischer Störung fördern?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Kollege Dr. Ahrens, Sie wissen, daß in dieser Frage keine unmittelbare Zuständigkeit des Bundes besteht. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft verfolgt jedoch die Entwicklung auf dem Gebiet der Legasthenie und ihre Schwierigkeiten vor allem auch im Rahmen von Modellversuchen helfend, um neue Erkenntnisse in den pädagogischen Brennpunkten zu gewinnen. In die Methodendiskussion können wir natürlich - auch ich kann es hier nicht tun - nicht eingreifen. Die heute vorherrschende analytisch-synthetische Leselernmethode, die sowohl Elemente der ganzheitlichen als auch der rein einzelheitlichen Methode enthält, scheint dem Problem der Legasthenie weitgehend Rechnung zu tragen. Schwierig bleibt die Diagnose der Legasthenie, die von den Lehrern auf Grund ihrer dafür immer noch unzureichenden Ausbildung oftmals erst viel zu spät erkannt wird. Dadurch wirken sich mangelnde Erfolge auch hinderlich in anderen Lernbereichen aus, die zunächst durch die Legasthenie nicht betroffen worden sind.
Im Rahmen der Grundschulreform und bei der Verbesserung ,der vorschulischen Erziehung wäre es unserer Auffassung nach dringend erforderlich, nach Früherkennung der Legasthenie therapeutische Maßnahmen wirkungsvoll anzusetzen. Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ist daher bereit, hier im Rahmen seiner Förderung von Modellversuchen tätig zu werden.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, auch wenn eine Zuständigkeit des Bundes in diesen Fragen nicht gegeben ist: Können Sie mir sagen, wie häufig diese Lese- und Schreibschwäche etwa auftritt?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Ich kann es nicht ganz genau sagen, Herr Kollege. Es
haben aber doch immerhin zwischen 5 und 25% der Kinder eine solche spezielle Schwäche beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Als Ursachen werden organische, psychologische, umweltbedingte Faktoren angesehen, die sehr komplex zusammenwirken. Die eigentliche Entstehung und Ursache der Legasthenie ist noch unaufgeklärt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mich noch etwas konkreter über die vom Bund geförderten Modellversuche unterrichten, von denen in Ihrer Antwort die Rede war?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Ich kann Ihnen ein besonders positiv zu bewertendes Projekt nennen. Es sind die Untersuchungen von Dr. Krauch in der Studiengruppe für Systemforschung in Heidelberg. Der Zwischenbericht über diese Kosten-Nutzen-Analyse einer computergesteuerten audiovisuellen Legasthenietherapie liegt uns jetzt vor. Während in den USA schon länger Erfahrungen mit Lerngeräten bestehen, die hier helfen können, ist dies der erste Nachweis bei uns, daß und welche Erfolge mit Hilfe solcher Geräte, die ich vereinfacht einmal „sprechende Schreibmaschinen" nennen will, erreichbar sind. Die jetzt beendete Untersuchung hat sich auf 16 Kinder bezogen. Sie ist über vier Monate durchgeführt worden. Wöchentlich wurden etwa anderthalb Stunden in die Behandlung einbezogen. Man hat feststellen können, daß nach dieser Behandlung tatsächlich bessere Leistungen mit dieser Didaktik erzielt worden sind. Es gibt bisher leider erst in etwa 20 Städten Förderklassen für Legastheniker. Das ist noch zu wenig. Wir hoffen, durch unsere Förderungsmaßnahmen dazu beizutragen, daß diese Zahl möglichst bald gesteigert wird.
Die Fragen 68 und 69 des Herrn Abgeordneten Dr. Hubrig werden schriftlich beantwortet, da der Herr Kollege nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 70 des Abgeordneten Lenzer auf:
Hält die Bundesregierung das gegenwärtige atomrechtliche Genehmigungsverfahren für sicherheitstechnisch ausreichend, überschaubar und ökonomisch sinnvoll?
Herr Staatssekretär!
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Kollege Lenzer, wie Sie wissen, ist das gegenwärtige atomrechtliche Genehmigungsverfahren durch das Bundesatomgesetz seit dem 1. Januar 1960 eingeführt worden. Es wird von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt. Der Bund übt gegenüber den Ländern die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit und über die Zweckmäßigkeit ihres Handelns aus, und er kann den Ländern nach Art. 85 des Grundgesetzes
Parlamentarischer Staatssekretär Raffert
auch Weisungen erteilen. Der Bund läßt sich hierbei von der Reaktorsicherheitskommission beraten, die seit 1956 besteht und auf Grund der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft vom 25. November 1971 neu zusammengesetzt worden ist. Die Geschäftsstelle dieser Kommission ist dem Institut für Reaktorsicherheit des Technischen Überwachungsvereins e. V. ({0}) angegliedert worden.
Mit dem jetzigen Genehmigungsverfahren wollen und können wir feststellen, ob der Antragsteller die Genehmigungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes erfüllt. Es geht uns ja vor allem darum, ob die erforderliche technische Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist. Im Verwaltungsvollzug ist diese technische Genehmigungsvoraussetzung dann durch sicherheitstechnische Regelungen auszufüllen, die definieren, auf welchem Weg die sicherheitstechnischen Anforderungen an die Anlage erfüllt werden können. Diese Aufgabe obliegt dem Kerntechnischen Ausschuß, der übrigens demnächst mit seiner Tätigkeit beginnen wird.
Die ein bißchen sehr verkürzte unmittelbare Antwort auf Ihre Frage, ob dieses Genehmigungsverfahren sicherheitstechnisch ausreichend, überschaubar und ökonomisch sinnvoll ist, lautet ja. Das bedeutet natürlich nicht, daß das Verfahren nicht noch verbessert werden könnte.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, zielen die Verbesserungen, von denen Sie gesprochen haben und denen Sie wahrscheinlich in Ihrer Antwort auf die nächste Frage noch etwas sagen werden, auch im Zusammenhang mit der generellen Antwort jetzt auf die erste Frage dahin, eine Art Mißbrauch auszuschließen, wie er jetzt von immer größeren Gruppen gegen das Genehmigungsverfahren geübt wird, die die Bürokratie des Genehmigungsverfahrens dazu benutzen, die friedliche Nutzung der Atomenergie überhaupt zu verhindern?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Ich bin sicher, daß Sie aus meiner Antwort auf die nächste Frage erkennen können, daß es die Absicht der Bundesregierung ist, dies zu vermeiden.
Ich rufe jetzt die Frage 71 des Abgeordneten Lenzer auf:
Welche Änderungen des Verfahrens sind seitens der Bundesregierung für die Zukunft geplant?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Abgeordneter, damit die Energielücke vermieden wird, sind die Energieversorgungsunternehmen gezwungen, immer mehr Kernkraftwerke zu bauen. Die steigende Zahl solcher Anlagen kann bei den
für den Vollzug des Atomgesetzes zuständigen Behörden im Bund und in den Ländern nicht nur mit quantitativen Maßnahmen ökonomisch bewältigt werden. Es sind darüber hinaus auch strukturelle Maßnahmen erforderlich. Die von unserem Ministerium beantragten zusätzlichen Stellen für die Unterabteilung Sicherheit und Strahlenschutz sind ja, wie Sie wissen, im Dezember 1971 durch den Haushaltsausschuß erfreulicherweise gebilligt worden.
Parallel dazu sind Überlegungen zu einer Anpassung der Organisation an die tatsächlichen Bedürfnisse im Gange. In unserem Ministerium sind erste Pläne fertiggestellt worden: Erstens ist zunächst das Personal, das für die Durchführung der in der Bundesauftragsverwaltung liegenden Aufgaben zuständig ist, noch mehr zu verstärken; damit könnte auch das Verfahren beschleunigt werden. Zweitens ist der Aufbau einer Bundesoberbehörde für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz vorzuschlagen. Dieser wären nach einer Änderung und Ergänzung der Gesetze, um die wir dann bitten müßten, entsprechende Zuständigkeiten zu übertragen. Drittens sollte eventuell in der Zwischenzeit als Vorläufer dieser Behörde durch Organisationsakt bereits ein Bundesamt gegründet werden, das im wesentlichen dem Ministerium bei der Lösung der Grundsatz- und Einzelprobleme zuzuarbeiten hätte.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung die Einführung von gesamtverbindlichen Normen, die an die Stelle der Teilgenehmigungen treten könnten und so zu einer stärkeren Formalisierung und Rationalisierung des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens führen würden?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen offen sagen, daß wir noch dabei sind, diese Frage zu überprüfen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wie stellt sich im Rahmen dieser Überprüfung, Herr Staatssekretär - wenn Sie das heute schon sagen können -, die Bundesregierung zu der Möglichkeit, beim Genehmigungsverfahren nur diejenigen Teile einer Anlage einer erneuten Überprüfung zu unterziehen, die sozusagen prototypischen Charakters sind, und hält sie es für möglich, daß die Atomanlagenverordnung - ich glaube, es ist der § 2 - dergestalt geändert wird?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Das läßt sich im Augenblick noch nicht verbindlich beantworten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Evers.
Zieht die Bundesregierung bei der Überprüfung im Rahmen ihrer Konsequenzen auch die Sicherheitsprobleme in Rechnung, die dadurch entstehen können, daß Atomkraftwerke auf engem Raum entstehen, wenn die weiteren Atomkraftwerke nicht auf deutschem Boden, sondern in einem Nachbarstaat errichtet werden?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Das ist selbstverständlich, Herr Dr. Evers.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ahrens.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für diskutabel, die atomrechtlichen Genehmigungen in die im übrigen für Kernkraftwerke erforderlichen Genehmigungsverfahren einzubetten, so daß ein umfassendes Genehmigungsverfahren, das sicher für alle Beteiligten Vorteile bietet, ausreichen würde?
Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Das sollte versucht werden, Herr Dr. Ahrens.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft beantwortet.
Ich kehre jetzt zu der Frage 50 des Herrn Abgeordneten Scheu zurück:
Sind die Bemühungen der Bundesregierung auf Grund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages in der 146. Sitzung vom 22. Oktober 1971 ({0}) und einer Anregung des Fragestellers in der 140. Sitzung am 13. Oktober 1971 inzwischen zu einem positiven Ergebnis gekommen, und ist vorgesehen, daß auch Beschädigte, die Opfer eines Dienstunfalls als Angehörige der Bundeswehr - es geht meines Wissens uni etwa 200 Personen - sind, dieselben Vergünstigungen bei Fahrten z. B. mit der Deutschen Bundesbahn erhalten, die Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten seit langem zugesprochen worden sind?
Herr Staatssekretär Haar!
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Präsident, ich bitte, damit einverstanden zu sein, daß ich die beiden in engem Sachzusammenhang stehenden Fragen gemeinsam beantworte, wenn der Herr Kollege einverstanden ist.
Der Herr Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Scheu auf:
Bis zu welchem Termin kann mit der Einführung dieser an sich selbstverständlichen Vergünstigung auch für entsprechende Angehörige der Bundeswehr gerechnet werden?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen: Nach Eingang des vom Deutschen Bundestag in der 146. Sitzung vom 22. Oktober 1971 gefaßten Beschlusses hat sich mein Haus sofort mit den beteiligten Bundesressorts für Arbeit und Sozialordnung, der Verteidigung und für Wirtschaft und Finanzen in Verbindung gesetzt. Eine Entscheidung konnte bis jetzt noch nicht getroffen werden, weil die Meinungsbildung innerhalb der befaßten Stellen noch nicht abgeschlossen werden konnte. Ich bin gerne bereit, Sie, verehrter Herr Kollege, unverzüglich zu unterrichten, sobald das Ergebnis der Besprechungen innerhalb dieser Ressorts vorliegt.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, ich habe Ihren Beamten gegenüber schon Verständnis dafür geäußert, daß es nicht so ganz einfach ist, zwischen drei Ressorts eine solche Frage abzuklären. Aber ich würde mich dafür interessieren, zu erfahren, ob Sie die Zeitdauer von Oktober bis März - so lange hat es gedauert von der Bundestagssitzung bis zur Ankunft in Ihrem Ministerium - für eine normale Zeit halten. Es handelt sich immerhin um 200 lebendige Menschen, nämlich 200 schwerbeschädigte Bundeswehrsoldaten. Ist das eine normale Zeit, oder ist das etwas Besonderes?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege, ich halte diese Zeit für unangemessen. Ich selbst bin jetzt etwas über zwei Monate im Amt. Ich kann Ihnen versichern, daß ich mich darum bemühen werde, den Zeitraum bis zu einer endgültigen Entscheidung abzukürzen.
Ich rufe die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt ({0}) auf.
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Präsident, wegen des Sachzusammenhangs darf ich auch in diesem Falle bitten, diese beiden Fragen - unter der Voraussetzung des Einverständnisses von Herrn Dr. Arndt - zusammen beantworten zu können.
Dann rufe ich die Fragen 52 und 53 gemeinsam auf:
Aus welchen Gründen verwenden die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Bundespost auch heute noch bei Schreiben an namentlich nicht aufgeführte Personenmehrheiten trotz der durch den Bundesinnenminister am 11. März 1971 in der Fragestunde ({0}) gegebenen Zusage nicht die Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren!"?
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeiten bei den beiden Betriebsverwaltungen darauf hinzuwirken, daß dort auch bei der Briefanrede die gleichberechtigte Mitarbeit von Millionen Frauen gewürdigt wird?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Die Hauptverwaltung der DeutParlamentarischer Staatssekretär Haar
schen Bundesbahn hat kürzlich in ihrem Bereich eine Regelung erlassen, die der Zusicherung des Herrn Bundesministers des Innern in der Fragestunde vom 11. März 1971 entspricht und die Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren" bei Schreiben an namentlich nicht aufgeführte Personenmehrheiten vorschreibt. Für die Deutsche Bundespost wird demnächst eine ähnliche Regelung erfolgen.
Ergänzend darf ich darauf hinweisen Herr Kollege, daß auch im Bundesverkehrsministerium und bei den nachgeordneten Behörden entsprechend verfahren wird, allerdings erst durch einen Erlaß, der am 4. April dieses Jahres ergangen ist.
Herr Kollege, bitte!
Herr Staatssekretär, darf man davon ausgehen, daß in absehbarer Zeit diese Erlasse dann auch die unteren Dienststellen erreicht haben werden?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich werde mich selber dafür verwenden, daß das so rasch wie möglich auch innerhalb der großen Bundesbehörden zur Kenntnis genommen und umgesetzt wird; darauf kommt es ja letztlich an, Herr Kollege.
Herr Kollege, bei dem Stellen von Zusatzfragen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie berücksichtigten, daß ich vor Ende der Fragestunde auch noch die Frage des Herrn Kollegen Dasch aufrufen möchte.
Herr Staatssekretär, darf ich die von Ihnen eben dargelegte Auffassung der Bundesregierung und der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost dahin gehend deuten, daß auch diese Bundesbehörden davon ausgehen, daß die Mitarbeit von Millionen Frauen für das Wirtschaftsleben und für die Sicherung des Lebens in unserem Lande überhaupt unerläßlich ist?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Uneingeschränkt ja, Herr Kollege.
Vizepräsident 'Dr. Schmitt-Vockenhausen: Danke schön, Herr Kollege Arndt.
Ich rufe dann als letzte Frage, die Frage 54 des Herrn Kollegen Dasch - Sie waren ja auch noch gekommen - auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die Autobahn München-Passau auf der Strecke München-Mühldorf bereits bis zum Jahre 1980 fertiggestellt ist, und wann beginnen die konkreten Bauplanungen und Ausbaumaßnahmen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen: Herr Kollege, die Bundesregierung kann dies nicht bestätigen. Es handelt sich um eine Maßnahme der zweiten Dringlichkeit des Bedarfsplans für den Ausbau der Bundesfernstraßen, mit deren Inangriffnahme erst nach Abschluß der Maßnahmen der ersten Dringlichkeit - etwa gegen 1985 - zu rechnen ist. Die konkreten Bauplanungen werden etwa Anfang der 80er Jahre aufgenommen.
Herr Kollege, eine Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die jetzt im Fertigausbau befindliche B 12 keineswegs in der Lage ist, den gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Verkehr, insbesondere den Schwerverkehr, aufzunehmen, und daß sich die Notwendigkeit ergibt, so bald wie möglich diese Autobahnstufe auszubauen?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Ich will das gern noch einmal durch mein Haus prüfen lassen. Aber Sie kennen die Grundsätze des Bundesfernstraßen-Bedarfsplanes, Herr Kollege, und auch die für die Dringlichkeitsstufen, die dieses Haus selber akzeptiert hat.
Letzte Zusatzfrage!
Ist die Bundesregierung, bzw. sind Sie bereit, bei den dortigen Industriebetrieben das zu erwartende Verkehrsaufkommen zu erfragen. damit sichergestellt ist, daß diese Betriebe ihre Verkehrsaufkommen in einer angemessenen Zeit an die Anschlüsse der Autobahn um München bringen können?
Haar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen: Wir wollen derartige Probleme, Herr Kollege, ich hoffe, in gemeinsamer Verantwortung lösen, auch soweit es sich um den Finanzbedarf für .diese Ausbaumaßnahmen handelt. Ich erwarte dazu auch gerne Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich Ihres Hauses.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der Fragestunde. Da Fraktionen des Hohen Hauses noch Fraktionssitzungen angemeldet haben, unterbreche ich die Sitzung des Hauses. Der genaue Termin der Wiedereinberufung wird noch bekanntgegeben.
({0})
- Das hängt von der Dauer und der Intensität der
Fraktionssitzungen ab. Denn solange Fraktions10730
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
sitzungen stattfinden, wird üblicherweise das Haus nicht zusammentreten.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({1})
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir kehren zurück zu Punkt II der Tagesordnung:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1972
({0})
- Drucksachen VI/2650, zu VI/2650, Nachtrag zu VI/2650 Berichte des Haushaltsausschusses ({1})
Ich rufe erneut auf: Einzelplan 04
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes
- Drucksache VI/3353 Berichterstatter: Abgeordneter Hörmann
({2})
Abgeordneter Baier
Nach der Reihenfolge der Wortmeldungen hat das Wort der Herr Bundeswirtschafts- und -finanzminister. Ich habe mir allerdings sagen lassen, daß wir infolge der Zeitverschiebungen noch einen Augenblick warten müssen.
({3})
- Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur, bevor der Kollege Schiller hier vielleicht eintrifft, der sich zu Wort gemeldet hatte und eigentlich das Wort schon erteilt bekommen hat, für unsere Fraktion folgendes feststellen. Wir wünschen genau das zu tun, was der Bundeskanzler heute morgen gesagt hat, nämlich hier unsere Arbeit und unsere Pflicht zu tun.
({0})
Das heißt, wir wünschen heute die Haushaltsberatung fortzusetzen und damit so weit wie möglich zu kommen. Darüber hat es heute doch ein Gespräch gegeben, Herr Bundeskanzler. Ich wäre ganz dankbar, wenn man etwas hören könnte, ob es hier nun eine Vereinbarung gibt oder ob es keine gibt über den Zeitpunkt der Abstimmung über Ihren Haushalt. Die Lage kann doch unmöglich so bleiben, wie sie sich jetzt hier darstellt.
({1})
Zweitens, meine Damen und Herren, möchte ich doch uns alle daran erinnern, daß es ein Gewohnheitsrecht dieses Hauses ist, das bisher erst ein einziges Mal, und zwar durch den Kollegen Wehner, durchbrochen worden ist, daß, wenn eine Fraktion den Wunsch hat, eine Unterbrechung zu haben oder eine Fraktionssitzung zu haben, dem entsprochen wird. Einmal ist dies durchbrochen worden, nämlich in der ersten Debatte nach der Regierungserklärung dieser neuen Regierung.
Meine Damen und Herren, ich glaube aber, so kann es nicht gehen, daß jemand versucht, einer Entscheidung auszuweichen, die doch notwendig ist, daß er jetzt einfach durch Vertagung, durch solche Tricks hier versucht, die Arbeit, die dieses Haus zu tun hat, zu behindern. Das darf doch nicht passieren, meine Damen und Herren!
({2})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kann sich gar nicht darum handeln, daß das Haus an der Fortsetzung der Erfüllung seiner Aufgaben gehindert werden soll. Gerade weil wir aus dem gescheiterten Mißtrauensantrag von heute mittag und den Resultaten, die sich dabei herausgestellt haben, zu der Schlußfolgerung gelangt sind, daß es unerläßlich ist, daß Regierung und Oppositionsführung miteinander darüber reden, wie jetzt die parlamentarischen Notwendigkeiten hier erfüllt werden sollen, gab es die Gespräche, auf die Herr Barzel jetzt hinweist. Ich kann dem Bundeskanzler nicht vorgreifen und will es auch gar nicht tun, und zwar aus diesem Grunde und weil wir die Lage nehmen, wie sie ist, und nicht den Versuch machen, Herr Kollege Barzel, über sie hinwegzuspielen! Ich kann Ihre Lage verstehen. Ihr Versuch ist heute gescheitert. Ich höhne nicht darüber; das ist ein normales parlamentarisches Ergebnis. Nur haben wir jetzt auch normale parlamentarische Sitten bei einer schwierigen Lage dieses Hauses.
({0})
- Muß ich Ihnen die Zahlen sagen? Halten Sie davon nichts? Wir können weitermachen! Worum es uns geht, ist, daß dabei nicht mehr Scherben verursacht werden, als schon verursacht worden sind.
({1})
Sie, meine Damen und Herren, haben dabei auch Ihre Aufgabe. Ich kann Ihre Situation verstehen. Ich verlange nicht, daß Sie uns verstehen. Aber ich erwarte, daß beide Seiten die Gesamtsituation verstehen und ihr Rechnung tragen. Um nichts anderes geht es. Insofern weise ich zurück, daß Sie so tun, als ob es hier notwendig sei, die Koalitionsfraktionen daran zu erinnern, daß wir hier in Haushaltsberatungen und in der Fortsetzung der Ausübung unserer parlamentarischen Pflichten stehen. Wir werden die Debatte um den Einzelplan 04 fortsetzen.
({2})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Ich denke, meine Damen und Herren, ich bin Herrn Kollegen Barzel eine Antwort schuldig auf die Frage, die er an mich gerichtet hat, gestützt auf ein Gespräch, das wir am Nachmittag - er, der Kollege Stücklen, Kollege Scheel und ich - miteinander geführt haben. Herr Kollege Barzel, bei allem, was sonst dasein mag, sollte hier nicht der Eindruck aufkommen bei Ihnen kann er auch nicht aufgekommen sein -, als hätte ich mich nicht an eine Vereinbarung gehalten. Vielmehr sind wir auseinandergegangen mit der Feststellung, daß Sie wünschten, die unterbrochene Aussprache zum Einzelplan 04 um 18 Uhr fortzusetzen. Das habe ich nicht nur meinem Fraktionsvorsitzenden und dem Fraktionsvorstand, sondern der Fraktion in ihrer Gesamtheit mitgeteilt. Diese hat gewünscht: wegen bestimmter Wünsche, die sie an die Regierung hat und von der sie wünscht, daß sie sich morgen vor dem Hause dazu äußern möge, um 19 Uhr eine neue Fraktionssitzung abhalten zu können. Ich hätte es für den Fortgang der Arbeit begrüßt, wenn man diese nochmalige kurze Verschiebung, auf die ich als Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte, akzeptiert und anschließend weitergemacht hätte. Ich wollte das nur klarstellen.
({0})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich, Herr Kollege Wehner, Ihnen sagen, es bedarf keines Hinweises auf die Sicht der Gesamtsituation. Wir hätten sonst die Einladung des Bundeskanzlers zu einem Gespräch nicht angenommen und uns auch nicht bereit gefunden, die kurzfristige Unterbrechung der Debatte für zwei Stunden mitzumachen. Ich hätte sonst auch nicht dem Bundeskanzler vorgeschlagen, die Haushaltsberatungen fortzusetzen, die wir sicherlich - ich lege das jetzt hier auf den Tisch - auch morgen nicht fertig bekommen werden - denn die Fragen des Verteidigungshaushalts, die Fragen des Verkehrshaushalts, all die Fragen, die unsere Mitbürger interessieren, können ja nicht im Aufgalopp behandelt werden -, das in der nächsten Woche ordnungsgemäß fortzusetzen und dann die andere Frage zu behandeln, die Sie gerne behandelt sehen wollen.
Sie haben eben gesagt, Sie wollten die Debatte fortsetzen. Der Bundeskanzler erklärt mir eben etwas anderes. Sie müssen schon verstehen, Herr Bundeskanzler, wenn ich Ihnen anbiete, es sei unsere Absicht, hier weiterzumachen - ich habe sie ja begründet und will die Begründung hier gar nicht im einzelnen vortragen -, und sogar sage, daß man sich, wenn man erkennt, es soll weitergearbeitet werden, vielleicht verständigen kann über den Ablauf des Tages, über die Länge der Reden, über den Zeitpunkt, zu dem die Abstimmungen sein sollen.
Alles das, Herr Wehner, können wir nach einer ganz normalen Absprache machen, wie das unter Demokraten üblich ist.
Wie ist nun die Lage? Herr Kollege Wehner sagt, die Debatte wird fortgesetzt. Der Bundeskanzler sagt, um 19 Uhr brauchen Sie eine weitere Fraktionssitzung. Was ist nun eigentlich wirklich die Lage? Das sollte doch nun geklärt werden. Wir wünschen zu arbeiten und das zu tun, was jetzt auf der Tagesordnung steht.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das läßt sich leichter aufklären und auch auflösen, als es jetzt nach Ihrer Darstellung möglich zu sein scheint. Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß er über das, was aus Ihrem Gespräch für die Fraktion der SPD wesentlich war zu wissen und sich damit zu befassen, berichtet hat und daß dort der Wunsch bestand, um 19 Uhr in einer Fraktionssitzung nach einer kurzen Unterbrechung - darüber zu sprechen. Wir haben außerdem gegenüber dem Bundeskanzler den Wunsch geäußert - aber sind noch nicht in eine Aussprache darüber eingetreten -, es wäre eine gute Sache, wenn von der Regierung morgen mit einer Erklärung zu der Lage, wie sie ist, in bezug auf die Erfüllung der parlamentarischen Notwendigkeiten Stellung genommen würde.
Uns ist aber in der Zwischenzeit gesagt worden, daß ohne Rücksicht auf den Wunsch der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion um 18 Uhr und dann um 18.30 Uhr die Sitzung anfangen werde. Natürlich haben wir die Aufrufe an Ihre Mitglieder gehört. Wir haben keine andere Wahl gehabt, als hierherzukommen.
({0})
- Bitte sehr, Sie haben sich vorher, Herr Dr. Barzel, darauf berufen, es sei schon einmal usw. . . . Ich werde nachforschen lassen. Ich weiß nicht, ob Sie da etwas anderes erinnern oder überbewerten. Ich habe noch manche andere Erinnerung aus der Zeit der Debatte um die erste Regierungserklärung, wo wir mit Ihnen und mit dem leider verstorbenen Herrn Kollegen Rasner über einige sehr diffizile Fragen, die sogar bis in die Konstituierung dieses Hauses, seiner Ausschüsse gingen, geredet haben und wo wir dann z. B. nächstens dazu gekommen sind, daß eine von Ihnen gewollte Debatte mit dem Aufreißen aller Berlin-Fragen nicht stattzufinden brauchte, um es sehr vorsichtig zu sagen. Meine Damen und Herren, das sind alles Dinge, die im Grunde in geordneten Parlamentverhältnissen nicht vor dem Plenum ausgetragen werden müssen. Das ist meine Antwort.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an den Kollegen Wehner die Frage richten, ob wir jetzt in die Debatte eintreten und sie für die vorgesehene Zeit -ich glaube, bis 21 Uhr - fortsetzen, wie dies verabredet ist, oder ob Sie nun eine Fraktionssitzung wollen. Das ist doch die Frage, die offen ist. Diese Frage muß doch beantwortet werden. Was soll dieses Haus machen? Herr Kollege Wehner, ich werde mich gar nicht dagegen wehren, sondern ich will es dann nur festhalten, wenn Sie sich entschieden haben, ob Sie den Haushalt jetzt und hier nun lesen wollen, wie dies auf der Tagesordnung steht und sich gehört, ober ob Sie es nicht wollen, weil Sie noch eine Fraktionssitzung abhalten wollen. Das sollten Sie dem Hause hier erst erklären, und dann wollen wir weitersehen.
({0})
- Das weiß ich eben nicht. Dies ist mir nicht mitgeteilt worden. Der Bundeskanzler hat eben eine andere Erklärung abgegeben als Herr Wehner. Herr Kollege Wehner, erklären Sie sich doch bitte, was Sie heute hier tun wollen.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich jeder Wertung dieses Vorgangs enthalten und erkläre hiermit - ich bin überzeugt, daß die sozialdemokratische Fraktion dafür Verständnis hat , daß wir, nachdem wir in eine solche Situation gebracht werden und Sie sich - entschuldigen Sie das - offensichtlich als Verlierer erweisen, die mit einer bestimmten Sache nicht fertig werden,
({0})
hier jetzt die Behandlung des Einzelplans 04 fortsetzen werden. Was wir in der Fraktion zu der vorhin erörterten Frage zu erledigen haben, werden wir danach erledigen, Herr Barzel.
({1})
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor.
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Dr. Schiller.
({0})
- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, doch Platz zu nehmen, damit wir in den Beratungen fortfahren können.
({1})
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Dr. Schiller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe gestern abend schon gesagt, daß ich noch auf die Diskussionsbeiträge der Kollegen Katzer, Barzel und Strauß aus Anlaß der Debatte über den Einzelplan 04 antworten würde.
({0})
Herr Kollege Barzel, ich bin sehr gerne bereit, hier in eine Diskussion einzutreten. Das Wort vom Arbeiten am Haushalt nehme ich sehr ernst, denn diese Arbeit ist mir als Pflicht aufgegeben. Es wäre mir sehr angenehm, wenn ich nun an Hand des Einzelplanes 04 zu den gestern angeschnittenen Problemen aus meiner Sicht etwas sagen dürfte. Wir sollten versuchen, jetzt wieder über die Sache zu reden, um die es hier geht. Wir sollten in einer Generaldebatte wieder über den Bundeshaushalt 1972 und über seine Einordnung in die gesamtwirtschaftliche Lage dieser Bundesrepublik reden.
Meine Damen und Herren, daß wir dabei zu einer anderen Beurteilung kommen, als wir sie gestern von der Opposition gehört haben, können Sie als selbstverständlich voraussetzen. Doch erlauben Sie mir jetzt folgendes festzustellen.
({1})
Die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit in unserem Lande sieht folgendermaßen aus. Seit zwei bis drei Jahren befindet sich die Bundesregierung in einem unaufhörlichen Kampf um Stabilität. Mit aller Energie haben wir uns an der internationalen, an der europäischen und an der heimischen Front um mehr Stabilität bemüht. Wir haben alle - ich sage: alle! - Instrumente des Stabilitätsgesetzes in der vorgesehenen Form oder in situationsbedingter Abwandlung angewandt.
({2})
- Doch! Ich glaube, Sie können mir kein vorgesehenes Instrument nachweisen, Herr Kollege Müller-Hermann, das wir nicht in der entsprechenden Situation zur Anwendung gebracht haben. Wir haben am 10. Mai vorigen Jahres ein Stabilisierungsprogramm mit außenwirtschaftlichen und binnenwirtschaftlichen Maßnahmen durchgesetzt, und wir können in diesem Jahr feststellen, daß dieses Stabilisierungsprogramm der Bundesregierung nicht ohne Erfolg gewesen ist.
({3})
Ich darf noch einmal, wie es der Herr Kollege Klaus Dieter Arndt gestern schon getan hat, darauf hinweisen: Der Sachverständigenrat, das autonome Gremium zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, hat uns in seinem letzten Jahresgutachten wörtlich bestätigt:
Allein der Bund hielt sich an die Beschränkung, die ihm das Stabilisierungsprogramm vom Mai 1971 auferlegt hatte.
Das, meine Damen und Herren, ist ein unabhängiges
Urteil über unsere Maßnahmen und unsere Politik
vom vorigen Jahr. Ich will hier nicht darüber disBundesminister Dr. Schiller
kutieren, wer sich im einzelnen zum Unterschied vom Bund nicht an dieses Stabilisierungsprogramm oder nicht vollkommen an dieses Stabilisierungsprogramm gehalten hat.
({4})
Herr Bundesminister, einen Augenblick! Ich bitte doch noch einmal das Haus, auf allen Seiten den Rednern die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich stelle aber immer wieder fest, daß von Mitgliedern der Opposition so getan wird, als ob die Bundesregierung eben nicht jenes Stabilisierungsprogramm durchgeführt hätte oder von den zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht Gebrauch gemacht hätte. Ich frage etwa, wo Herr Stoltenberg den Mut hernahm, in Kenntnis sowohl der Handlungen der Bundesregierung als auch der Äußerung des Sachverständigenrates dennoch zu behaupten, dieser Bundesregierung fehle die Kraft zur Anwendung des Stabilitätsgesetzes. Eine solche Aussage ist das, meine Damen und Herren, was ich Schattenboxen nenne
({0})
in einer Welt der wirtschaftlichen Auffassung, wie sie eben nur in den Reihen der Opposition besteht. Herr Stoltenberg spricht offenbar nicht von unserem Stabilitätsgesetz, sondern er spricht von irgendeiner anderen Vorstellung einer entsprechenden Norm.
Auf der anderen Seite hat Herr Kollege Strauß noch am 15. März 1972 bei unserer letzten großen Debatte über die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung behauptet - wörtlich -:
Die Alternative „Rezession mit Arbeitslosigkeit" ist doch die Schwelle, an der wir heute stehen.
Das, meine Damen und Herren, war die Konjunkturdiagnose und -prognose des Kollegen Strauß vom 15. März dieses Jahres. Ich glaube, die Wirklichkeit sollte uns allen zeigen, daß diese Prognose und diese Diagnose völlig falsch waren.
({1})
Nun, das Kaleidoskop der Meinungen der Opposition in Sachen Konjunktur und Konjunkturpolitik ist sehr vielfältig. Anders als bei dem Kollegen Strauß klingt es bei dem Kollegen Manfred Schäfer, einem weiteren Prominenten in der Reihe der wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU/CSU. Er sagte am 24. April wörtlich: „Zu uneingeschränktem Optimismus aber reichen die Konjunkturdaten nicht aus." Herr Schäfer ist also immerhin eingeschränkt optimistisch.
Ich selber habe auf der Hannover-Messe am 20. April den Unternehmern und allen an der Wirtschaft Beteiligten in diesen kommenden Monaten eine Haltung der kritischen Zuversicht anempfohlen.
Ich frage: warum folgt nicht die Opposition dieser Erkenntnis? Warum folgt die Opposition in ihrer Urteilsbildung der Bundesregierung nicht auf den Weg der Tatsachen? Warum will nicht endlich einmal die Opposition die Wahrheit dieses Frühjahrs zur Kenntnis nehmen, die da lautet: „Eine Rezession findet nicht statt"!
({2})
Selbst diese einfache, schlichte und lapidare Konstatierung haben wir bisher von der Seite der CDU/ CSU nicht vernommen.
Ich will jetzt nicht daran erinnern, welche Beiträge die Opposition im Laufe der letzten Jahre zur außenwirtschaftlichen Absicherung nicht geliefert hat. Gestern hat Herr Kollege Katzer gemeint - so habe ich ihn verstanden -, der Hinweis auf die inflatorischen Preisbewegungen im Ausland sei nicht so überzeugend. Nun, ich darf feststellen, Herr Kollegen Katzer, - ({3})
- Ich komme gleich darauf. Ich kann Ihre sehr interessanten Ausführungen nicht mit einem einzigen Satz beantworten. - Ich darf nur feststellen: die Preissteigerungen, die wir zur Zeit in der Welt erleben, sind ein Infekt, der alle Industriestaaten befallen hat. Die Preissteigerungen der Jahre 1970, 1971, 1972 sind zu einer Weltkrankheit geworden. Ich brauche nicht zu wiederholen, was der Herr Bundeskanzler gestern hier aufgezählt hat, als er jene westeuropäischen Länder beim Namen nannte, in denen die Preissteigerungsraten deutlich über denen der Bundesrepublik Deutschland liegen.
Von der Opposition, Herr Katzer, ist in dieser Debatte gern und oft und eben wieder der jüngste Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank zitiert worden. Natürlich haben Sie - das ist Ihr gutes Recht - einige Stellen herausgesucht, die Ihnen passen, die Ihrem Weltbild und Ihrer Anschauung von den Dingen in der Bundesrepublik entsprechen. Aber Sie brauchen bei der Lektüre des Jahresberichts der Deutschen Bundesbank gar nicht bis auf Seite 85 zu gehen. Es genügt, Herr Kollege Katzer, die Seite 1, und da heißt es wörtlich - ich darf die Bundesbank, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung zitieren -:
Die Hartnäckigkeit des Inflationsbazillus resultierte aber zu einem guten Teil auch daraus, daß sich der Preisauftrieb in der gesamten westlichen Welt fast ungeschwächt fortsetzte. Die De-facto-Aufwertung der D-Mark, die mit der Freigabe der Wechselkurse einsetzte, sicherte die Bundesrepublik bis zu einem gewissen Grade gegen die unmittelbare Übertragung von Preissteigerungen aus anderen Ländern ab.
({4})
Die Deutsche Bundesbank kommt dann wörtlich zu folgender Schlußfolgerung:
Dies zeigte sich u. a. darin, daß der Preisanstieg in der Bundesrepublik ... von der Jahreswende 1971/72 an merklich hinter den Steigerungsraten in anderen Ländern zurückblieb.
So weit das Urteil der autonomen Notenbank. Ich bitte die Opposition noch einmal darum, auch im ökonomischen Bereich ihren Sinn für die Realitäten nicht ganz zu verlieren,
({5})
sondern sich ihnen wieder ein bißchen mehr zu nähern. Wenn man sich, lieber Herr Stücklen und lieber Herr Katzer, im Zustand eines, ich möchte sagen, galoppierenden Realitätsverlustes befindet
und darin befinden Sie sich -,
({6})
dann kommt man leicht ins Stolpern und zu Fehlurteilen.
({7})
- Das alles beziehe ich dezenterweise auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({8})
- Ich beziehe es, wie gesagt, auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Ich komme nun zur außenwirtschaftlichen Absicherung im ganzen. Wer wollte denn ernsthaft bestreiten, daß die Bundesregierung in den internationalen Währungsverhandlungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres das Beste für unsere Wirtschaft herausgeholt hat? Wer wollte das bestreiten?
({9})
- Herr Kollege Höcherl, ich möchte Ihnen eines sagen. Wenn das, was wir im letzten Jahr erreicht haben, nämlich die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft - der Kanzler hat gestern daran erinnert - und die Verständigung über die internationale Neuordnung der Wechselkurse, eine Regierung Ihrer Couleur geleistet hätte, lieber Herr Höcherl, hätten Sie politisch davon drei Jahre gelebt.
({10})
Heute sind das in Ihren Augen quantités négligeables. Wir alle sollten uns in diesem Augenblick daran erinnern, daß wir seit dem 18. Dezember 1971, seit der Neuordnung der Wechselkurse in Washington, für die deutsche Wirtschaft einiges erreicht haben. Daß wir das getan haben, dafür sprechen die heutige ruhige Lage an den Devisenmärkten und das seit dem März bestehende Ende der Spekulation, und hierfür spricht ebenso stark die ungebrochene Kraft der deutschen Wirtschaft auf den Exportmärkten.
({11})
Dies läßt sich ganz nüchtern und ganz zweifelsfrei an den Auftragseingängen aus dem Ausland für unsere Wirtschaft ablesen. Die neuen Aufträge lagen in den ersten Monaten dieses Jahres deutlich über den entsprechenden Zunahmen des Vorjahres.
Ich frage die Opposition erneut und sachlich und im Sinne des hier so anempfohlenen Arbeitsfleißes:
Wann anerkennt eigentlich die Opposition, daß hier im Bereich der deutschen Exportwirtschaft die Dinge ganz anders liegen als im vorigen Jahr? Ich frage die Opposition, wie sie diese reale Entwicklung nun eigentlich unter dem früheren dunklen Licht ihrer eigenen Prophetien selber ansieht. Die deutsche Exportwirtschaft, der deutsche Export waren ja nach Meinung der Opposition im vorigen Jahr dem Untergang geweiht. In Wirklichkeit - die Zahlen der Außenhandelsstatistik für die ersten Monate dieses Jahres zeigen es - wird unsere Exportentwicklung in diesem Jahr günstiger sein als im vorigen Jahr. Ich kann sogar sagen, Herr Kollege Höcherl: der Exportüberschuß dieses Jahres 1972 wird größer sein als der des letzten Jahres. Geben Sie doch endlich zu, daß Ihre Prophezeiungen mit der Wirklichkeit unserer industriellen Möglichkeiten und unserer Ausfuhrwirtschaft nichts zu tun hatten!
({12})
Und dann die binnenwirtschaftlichen Probleme! Binnenwirtschaftlich hat sich diese Bundesregierung mit ihren Stabilisierungsmaßnahmen darum bemüht, daß gleichzeitig zwar eine Abkühlung der Konjunktur eintrat, aber nicht der kritische Punkt des Eintauchens in eine echte Rezession überschritten wurde. Unsere Anstrengungen haben sich für die Bürger dieses Landes ausgezahlt in höherem Lebensstandard, in sicheren Arbeitsplätzen und im ökonomischen und sozialen Fortschritt.
({13})
- Ich komme auch noch auf die Stabilitätsproblematik; warten Sie nur ab.
Jetzt stellen wir fest: Das reale Wachstum unserer Wirtschaft betrug im vergangenen Jahr knapp 3 %. Es zeichnet sich jetzt im neuen Jahr bereits eine konjunkturelle Belebung ab. Deshalb bin ich mit vielen anderen ganz sicher, daß wir in diesem Jahr unsere Zielsetzung von 2 bis 3 % realem Wachstum erreichen. Herr Kollege Barzel hat gestern ganz ungeniert davon gesprochen, wir befänden uns in diesem Jahr bei einem Wachstum von 0 %.
({14})
Offenbar ist auch er, wie er von anderen behauptet, nicht so sehr mit den ökonomischen Realitäten vertraut, seitdem er sich insonderheit auf andere Bereiche so intensiv vorbereitet hatte.
({15})
Aber ich sage mit aller Deutlichkeit: Die Stagflation oder „stagflation", jenes höchst private Hausgespenst unseres Kollegen Strauß, wird bei unserer Politik im Hause der deutschen Gesamtwirtschaft in diesem Jahr nicht herumgeistern.
({16})
1971 lag die Arbeitslosenquote jahresdurchschnittlich deutlich unter 1 %, und auch dieses Jahr, 1972, wird infolge der Politik dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren, mit Sicherheit ein Jahr
der Vollbeschäftigung, ein Jahr der sicheren Arbeitsplätze sein.
({17}) Auch daran gibt es keinen Zweifel.
({18})
Nun, Herr Höcherl, zum nächsten Bereich, zu den Einkommen. Die Löhne unserer Arbeitnehmer haben sich 1971 - real und netto! - übers ganze um gut 4,5 % verbessert.
({19})
- Ich darf dazu nur auf die schönen und präzisen
Ausführungen verweisen, die unser Kollege Walter Arendt gestern zu diesem Thema gemacht hat, Herr Höcherl.
({20})
1970 hatten sich die Einkommen je Beschäftigten bereits real und netto um knapp 9 °/o erhöht, und in diesem Jahr des konjunkturellen Übergangs wird es bei richtiger Wirtschaftspolitik, bei der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung, gelingen, das reale Nettoeinkommen unserer Arbeitnehmer etwa um weitere 3 % zu verbessern.
Das ist die Perspektive. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die Unter-dem-Strich-Rechnung, die Sie, Herr Kollege Katzer, gestern anführten, ergeben würde, daß die Einkommen der Arbeitnehmer in diesem Jahr real und netto stagnierten. Wir haben eine echte Zunahme in diesem Jahr, und sie wird sich fortsetzen.
({21})
Das ist die Einkommensentwicklung. Und ich darf sehr deutlich sagen: auch in der Beurteilung dieses wichtigen Bereiches befindet sich die Opposition mit ihrer Schwarz-in-schwarz-Malerei nicht in den Bezirken der Realität.
({22})
Nun, meine Damen und Herren, zum letzten besonderen Thema in der Beurteilung der gesamten Situation, zur Beurteilung, Herr Kollege Höcherl, der Preis- und Kostenentwicklung: Sicherlich - ich verweise da auch auf die Äußerungen unseres Herrn Bundeskanzlers - haben wir in der Preis- und Kostenentwicklung noch Sorgen. Natürlich sind wir noch nicht über den Berg. Trotzdem sind heute Fortschritte zu erkennen. Und diese Feststellung, daß wir im Preis- und Kostenbereich Fortschritte gemacht haben, gilt trotz der engen Verflechtung unserer Volkswirtschaft in eine inflationäre Umwelt. Ich darf nur folgendes feststellen:
Erstens. Der Anstieg der industriellen Erzeugerpreise und der Großhandelspreise ist von 6 % Mitte 1970 auf 2,7 % im März 1972 zurückgegangen. Dies ist ein Stabilitätsgewinn, meine Damen und Herren!
Zweitens. Die Importpreise, die im Zuge der Freigabe der Wechselkurse und der Aufwertung der D-Mark im zweiten Halbjahr 1971 bis auf 5 % unter ihren Vorjahresstand gegangen waren, liegen im
ersten Quartal dieses Jahres noch immer um gut 3 % unter dem Vorjahresniveau.
({23})
Auch an dieser Stelle sollte die Opposition versuchen, doch im Sinne eines allseits erwünschten Lernprozesses die stabilitätspolitischen Wirkungen der außenwirtschaftlichen Maßnahmen vom vorigen Jahr zur Kenntnis zu nehmen, Herr von Bismarck.
({24})
Drittens. Der Preisindex für Wohngebäude ist nach dem starken Anstieg im zweiten Halbjahr 1971 kaum mehr gestiegen. Im Straßenbau, im Tiefbau gingen die Preise sogar zurück.
Viertens. Auch der Anstieg der Lebenshaltungskosten, also der Verbraucherpreise, zeigt in jüngster Zeit eine leichte Abflachung. Im April dieses Jahres werden wir nach allen vorliegenden Teilergebnissen wahrscheinlich beim Lebenshaltungskostenindex eine Steigerungsrate von 5,3 % erreichen. Meine Damen und Herren, das ist noch nicht die Erfüllung unserer Wünsche, aber es ist ein Fortschritt, es ist eine deutliche Abflachung gegenüber den Steigerungsraten vom vorigen Jahr.
({25})
Fünftens. Gestern habe ich immer wieder - eigentlich bei allen drei Rednern der Opposition - gehört, daß sie so leicht von Kostensteigerungen und Lohnsteigerungen sprachen. In Wahrheit zeigen die Tariflohnabschlüsse seit dem letzten Winter, seit dem Spätherbst vorigen Jahres, eine große Elastizität, eine große Anpassungsfähigkeit gegenüber dem geänderten Konjunkturklima. Durch diese maßvolleren Lohnbewegungen und dadurch, daß wieder höhere Produktivitätsfortschritte gemacht wurden, lagen jetzt zu Beginn des neuen Jahres die Lohnkosten je Produkteinheit nur um 2 % über dem Vorjahresniveau. Ein Jahr zuvor, meine Damen und Herren, war es noch 12% Steigerung.
({26})
12 % Steigerung der Lohnkosten je Produkteinheit im Jahre 1971, 2 % Steigerung der Lohnkosten je Produkteinheit jetzt zu Beginn des Jahres 1972: dies ist ein sehr beträchtlicher Beitrag zur Wiedergewinnung der Stabilität, ein Beitrag, zu dem wir uns und zu dem wir auch unsere Tarifvertragsparteien alle miteinander beglückwünschen sollten.
({27})
Meine Damen und Herren, wie ich soeben schon sagte: natürlich zeigen die Zahlen, daß wir in unseren stabilitätspolitischen Bemühungen unser Ziel noch nicht voll erreicht haben. Aber wer redlich zu urteilen gewillt ist, der muß doch feststellen, daß eine Beruhigung unverkennbar ist. Diese Entwicklung trägt auch zur notwendigen Besserung der Grundhaltung und der Gewinnlage und der Gewinnerwartungen in der Wirtschaft bei. Daß sich die Gewinn- und Ertragslage unserer Wirtschaft bessert, sehen wir nicht nur an den Steuereinnahmen, wir sehen es in allen Indikatoren, wir sehen es in den
Geschäftserwartungen, und ich glaube, ich kann zu dem Ergebnis kommen: Wer will denn heute und hier noch abstreiten, daß die ökonomischen Perspektiven in diesem Jahre 1972 besser sind als vor einem Jahr?
({28})
Auch diese Feststellung, meine Damen und Herren von der Opposition, daß die Perspektiven für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr unzweifelhaft besser sind, vermisse ich noch in dem großen Gemälde, das Sie uns gestern in bezug auf die deutsche Wirtschaftssituation hier aufgemalt haben. Ohne Übertreibung können wir heute sagen, die deutsche Wirtschaft kann 1972 mit höheren, mit besseren Erträgen rechnen. Deshalb auch waren die Börsen bis vor wenigen Tagen bei uns in einem so guten Zustand. Denn die deutschen Börsen, wie alle internationalen Börsen, werden in erster Linie von Ertragserwartungen, von Gewinnerwartungen in der Industrie, in der Wirtschaft beeinflußt, und der Aufschwung wird also von jenen Institutionen antizipiert. Die Gründe, die Herr Strauß gestern dafür nannte, hat er wohl selber nicht ganz ernst genommen. Wir alle in diesem Hause sollten die verbesserten Ertragserwartungen und ihre weitere offensichtlich günstige Entwicklung begrüßen. Gerade die Opposition sollte das tun. Denn mit dieser Verbesserung der Erträge in der deutschen Wirtschaft werden doch auch die Investitionsbereitschaft und die Investitionskraft der ganzen deutschen Wirtschaft verstärkt werden. Das sollten gerade auch Sie, Herr von Bismarck, begrüßen.
Meine Damen und Herren, angesichts dieses Überblicks sollte die Opposition zu dem Ergebnis kommen, nicht nur daß Zweckpessimismus in Sachen Stabilität für den Stand der Erkenntnis der Opposition wenig förderlich ist, sondern die Opposition sollte auch erkennen, daß Zweckpessimismus in Sachen Stabilität, würde er geglaubt, es unseren Gewerkschaften sehr schwer machen würde, ihren eingeschlagenen tarifpolitischen Weg fortzusetzen.
({29})
Der ständige Hinweis auf mögliche weitere Faktoren der Instabilität, das Schüren von Preissteigerungserwartungen, das alles bedeutet doch, daß es die deutschen Gewerkschaften in ihrem Bemühen nicht gerade leichter haben, einen tarifpolitischen Weg einzuhalten, der ein Weg der Vernunft ist. Diesen Weg zu einem höheren Stand der kollektiven Vernunft, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten gerade Sie nicht stören, im Gegenteil, Sie sollten sich selber zusammen mit anderen auf diesen Weg der ökonomischen Vernunft begeben.
Meine Damen und Herren, ich sagte schon, die Bundesregierung hat in der Haushaltspolitik im Jahre 1971 komplett und exakt das Stabilisierungsprogramm vom 9. Mai befolgt und ausgeführt. Sie hat gegenüber dem Haushaltsplan durch die aktive Ausführung ihrer Beschlüsse das finanz- und konjunkturpolitisch Nötige getan. Der Herr Bundeskanzler hat gestern schon auf einen Teil der Maßnahmen des Haushaltsvollzugs im Jahre 1971 hingewiesen. Die Bundesregierung hat im Jahre 1971 erstens die Ausgaben des Bundes um 1,1 Milliarden DM gekürzt, sie hat zweitens 1 Milliarde DM in die Konjunkturausgleichsrücklage gelegt, sie hat drittens die Nettokreditaufnahme gegenüber dem Haushaltsplan 1971 um 2,7 Milliarden DM vermindert und damit auf 1 Milliarde DM begrenzt, und sie ist - das ist ein besonders wichtiger Punkt - bei den Verpflichtungsermächtigungen um mehr als 9 Milliarden DM unter dem geblieben, was dieses Hohe Haus der Bundesregierung für 1971 als Ermächtigungsrahmen zur Verfügung gestellt hatte.
({30})
Auch das war ein konkreter und nicht wegzudiskutierender Beitrag zu mehr Stabilität. Diese konsequente Haushaltspolitik werden wir auch 1972 verfolgen.
Meine Damen und Herren, das Gesamtvolumen des Haushaltsplans 1972, wie er dem Parlament jetzt nach der Behandlung im Haushaltsausschuß vorliegt, hat sich seit der Einbringung im Oktober vorigen Jahres erhöht. Die Steigerung auf der Ausgabenseite ergab sich im wesentlichen aus folgendem:
1. Wegen der Bruttostellung der Einnahmen und Ausgaben aus der Mineralölbesteuerung für die Gemeinden: Mehrausgabe 700 Millionen DM.
2. Zusätzliche Finanzzuweisungen an die finanzschwachen Länder in Höhe von 550 Millionen DM.
3. 128 Millionen DM für den Ausgleich für die Verkehrsregelung Berlin.
4. 214 Millionen DM zusätzliche Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft.
5. Aufstockung des Bürgschaftsfonds wegen höherer Inanspruchnahme im Außenwirtschaftsverkehr in Höhe von 101 Millionen DM.
6. 150 Millionen DM Mehrausgaben für steigende Wiedergutmachung, insbesondere wegen der Anbindung der Renten in diesem Bereich an die Bezüge im öffentlichen Dienst.
7. Durch die Besoldungserhöhung in Höhe von in summa 585 Millionen DM.
8. Durch die Kokskohlebeihilfe in Höhe von 108 Millionen DM.
9. Durch weitere Kreditkosten des Bundeshaushalts von 106 Millionen DM.
Meine Damen und Herren, ich habe nicht gehört, daß die Opposition gegen diese nunmehr veranschlagten Mehrausgaben in der Sache irgendwelche Kritik vorbringen konnte.
({31})
Nun ist aber immer wieder gesagt worden, die Zuwachsrate des Bundeshaushalts sei zu hoch.
({32})
- Nein, nicht so falsch, wie Sie das immer in Ihrer etwas vereinfachenden Form darstellen. Wir haben 8,4 % gesagt. Das war Soll gegen Soll. Wir wußten ganz genau, daß wir bei der Rechnung Soll gegen Ist nach Abschluß der Bücher des Haushalts 1971 um 1 % höher kommen würden, Herr Kollege.
Nun will ich Ihnen die Rechnung von der anderen Seite machen. Wir alle wissen, daß gerade der Bundeshaushalt 1972 voller Doppelzählungen steckt, weil er Zuweisungen und Leistungen an andere Gebietskörperschaften enthält. Man muß, um richtig zu rechnen, den öffentlichen Gesamthaushalt um gewisse interne Finanzzuweisungen konsolidieren, gerade dann, wenn man ein konjunkturpolitisches Urteil über den Bundeshaushalt als solchen fällen will. Netto, nach Abzug dieser Doppelzählungen auf Grund von Finanzzuweisungen an die Länder und Gemeinden, steigt der Bundeshaushalt 1972 auf der Basis des vorliegenden Entwurfs, Herr Kollege Leicht, um 9,3 %. Das ist der bereinigte Bundeshaushalt.
Der jetzt vorliegende Haushaltsplan ist ein Haushaltsplan - so möchte ich es nennen - des konjunkturellen Übergangs. Er entspricht der konjunkturellen Phase in diesen Monaten und in diesem Jahr. Die Wachstumspause geht ihrem Ende zu. Sie ist in manchen Bereichen schon längst abgeschlossen. Ein neuer Aufschwung bahnt sich an. Diese Erkenntnis hat die Bundesregierung dazu veranlaßt, den Eventualhaushalt in Höhe von 2,5 Milliarden DM trotz mancher guter Bedarfsdeckungswünsche nicht zu mobilisieren. Auch diese Entscheidung sollte doch wohl die Unterstützung der Opposition finden, und auch diese Entscheidung sollte von Ihnen als ein Stück Stabilitätspolitik anerkannt werden.
Ebenso werden wir uns auch im Kernhaushalt beim Haushaltsvollzug entsprechend der weiteren Konjunkturentwicklung im Jahre 1972 beweglich halten. Ich werde darauf zum Schluß meiner Ausführungen noch im einzelnen zurückkommen.
Soviel zum Haushaltsvolumen. Nun zum Haushalt selbst!
Unser Haushaltsplan zeigt - und dies wird bei der Beratung aller übrigen Einzelpläne noch deutlicher werden -, daß die Bundesregierung auch in diesem Jahre 1972 ihr Programm der Reformen verwirklicht. Sie von der Opposition müssen uns nun schon sagen, wenn Sie Kritik am Haushaltsplan üben, ob Sie weniger Wohnungen bauen wollen oder weniger Straßen, ob Sie weniger neue Arbeitsplätze in den strukturschwachen Gebieten entstehen lassen wollen oder anderes.
({33})
- Nein, die Opposition praktiziert - und das ist ihre Schwierigkeit - in bezug auf den Haushalt eine zwiespältige Argumentation.
({34})
So ist es doch, Herr Althammer. Einerseits behaupten Sie von der Opposition, die Regierung könne
keine positive Bilanz ihrer Reformpolitik vorzeigen,
und andererseits sagen Sie, die Bundesregierung finanziere ihre Reformvorhaben unsolide. Dies ist nach meiner Ansicht eine zwiespältige und widerspruchsvolle Argumentation von seiten der Opposition. Im übrigen ist keines von beiden Argumenten wahr.
Kollege Katzer hat gestern auf das wichtige Thema hingewiesen, wie sich denn nun im Jahre 1972 die investiven Ausgaben des Bundes real, d. h. nach Abzug der Preissteigerungen, entwickeln werden. Ich habe Herrn Kollegen Katzer gestern so verstanden, daß wir in diesem Bundeshaushalt einen realen Rückgang der Investitionsausgaben eingeplant hätten. Ich kann nur sagen, Herr Kollege Katzer: Auch diese Behauptung gehört in die Gespenstergalerie der Opposition.
Die investiven Ausgaben im Bundeshaushalt 1972 nehmen nominal - die Zahl wurde gestern schon genannt - tatsächlich um 15 % zu. Wir können nach den bisherigen Erfahrungen im Jahre 1972 den Preisanstieg für das laufende Jahr im Bereich der Investitionsausgaben der öffentlichen Hand mit etwa 51/2% veranschlagen. Bei einer Steigerung unserer Sachinvestitionen und der Investitionszuschüsse der öffentlichen Hand, in diesem Fall des Bundes, von gut 5% bedeutet das nach Abzug der Preissteigerung also immer noch eine reale Investitionssteigerung im Bundeshaushalt von knapp 10 %. Es kann demnach überhaupt keine Rede davon sein, daß die realen Investitionen im Bundeshaushalt eine Steigerungsrate von 0 % hätten. Sie nehmen in diesem Jahr um knapp 10 % zu.
({35})
Ein weiteres Thema, das besonders Kollege Strauß noch einmal mit denselben Worten wie schon am 15. März 1972 in diesem Hohen Hause kritisiert hat, ist die Steuerreform. Meine Damen und Herren, schon der Herr Bundeskanzler hat gestern darauf hingewiesen: Im Vergleich zu vielen früheren Versuchen nimmt sich das, was wir in zweieinhalb Jahren auf dem Gebiet der Steuerreform geleistet haben, ganz respektabel aus. Der Entwurf des ersten Steuerreformgesetzes ist vom Finanzausschuß des Deutschen Bundestages schon weitgehend beraten. Der Entwurf eines zweiten Steuerreformgesetzes ist auf dem Weg vom Bundesrat zum Bundestag. Der Entwurf eines dritten Steuerreformgesetzes werden wir den gesetzgebenden Körperschaften nach Ende der parlamentarischen Sommerferien übermitteln.
Was Sie hier kritisieren, ist im wesentlichen, daß wir in dieser Zeit nicht noch weiterreichende Ergebnisse erzielt haben.
({36})
- Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen bei dem Thema Steuerreform. Wir haben bei diesem Thema Steuerreform natürlich auch Verzögerungen in unserer Arbeit feststellen müssen. Aber ich bitte Sie, sich einmal klarzumachen, was an Zeitaufwand allein in früheren Jahren notwendig war, um die Reform bei einer einzigen Steuer, einer allerdings
sehr wichtigen Steuer, nämlich der Umsatzsteuer, durchzuführen.
({37})
Ich will Ihnen das nur ins Gedächtnis zurückrufen.
Herr Kollege Barzel hat gestern die Steuerreform im Umsatzsteuerbereich vom Jahre 1967 als eine große Tat gefeiert. Und sie war eine große Tat. Nur ist der Hergang folgender gewesen. Die eigentlichen Arbeiten einer der früheren Bundesregierungen begannen 1960 mit der Veröffentlichung eines Studienentwurfs zu einer Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug durch den damaligen Bundesfinanzminister. Das waren damals, 1960, sozusagen die Eckwerte der Umsatzsteuerreform, wie wir sie heute nennen. Wir befanden uns damals im 3. Deutschen Bundestag.
Im Februar 1963 kündigte dann die damalige Bundesregierung in der Antwort auf eine Große Anfrage der SPD und der FDP einen Gesetzentwurf einer Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug an. Dieser Gesetzentwurf wurde vom Kabinett im Juli 1963 verabschiedet. Hier befanden wir uns bereits in der vierten Legislaturperiode. Wir alle wissen, daß dieser Gesetzentwurf damals zwar in jener Legislaturperiode die erste Lesung noch erreichte, aber dann schlicht und still und ziemlich lautlos durch das Ende der Legislaturperiode konsumiert wurde.
Im November 1965 wurde dann dieser Gesetzentwurf neu wieder eingebracht, nicht als Regierungsvorlage, wie wir wissen, sondern als Vorlage des Parlaments. Zur abschließenden dritten Lesung kam es dann im April 1967. Meine Damen und Herren von der Opposition, von der Ankündigung eines Gesetzentwurfs zur Reform einer sehr wichtigen Steuer, nämlich der Umsatzsteuer, durch die damalige Bundesregierung bis zur Verkündung des Gesetzes brauchte es drei Legislaturperioden.
({38})
Dann wollen Sie uns vorwerfen, wir hätten eine umfassende Steuerreform in zweieinhalb Jahren nicht abgeschlossen.
({39})
- Ja, wir sind in den zweieinhalb Jahren - ich sagte es schon - ganz schön vorangekommen!
({40})
- Wollen Sie das in diesem Punkte hier erwähnen, um sich selber mit Ihrer sicherlich höchst produktiven freiwilligen Mitarbeit für dieses Werk zur Verfügung zu stellen? Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Opposition zum Thema Steuerreform mehr Beiträge leisten würde als nur Spekulationen über den Kalender.
({41})
- Sie sollten einmal zur Sache etwas äußern! Sie sollten einmal sagen: Das und das paßt uns nicht! Ich habe Ihnen hier den Stand unserer Arbeiten dargestellt, wie er wirlich ist. Von dem pauschalen Urteil vom Kollegen Strauß von gestern ist nichts übriggeblieben. Das ist der Stand.
({42})
Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht im einzelnen auf das eingehen, was der Kollege Leicht zum Haushalt 1972 unter dem düsteren Rubrum „Schattenhaushalt" dargestellt hat. Ich glaube, wir kommen auf dieses Thema noch im weiteren Verlauf der Debatte zurück.
({43})
- Nein, ich komme auf ganz andere, viel akutere Themen und auf Themen, die hier und heute auch einer kritischen Beleuchtung bedürfen, wo wir auch das Votum dieses Hauses brauchen!
({44})
Die Frage, die ich meine und die eine besondere Bedeutung hat, ist die Frage der Nettokreditaufnahme des Bundes in diesem Jahr. Die Opposition hat in den letzten Wochen Schreckensrufe über die geplante Netto-Neuverschuldung des Bundes allenthalben laut werden lassen. Ich kann vorab nur eines feststellen: Halten Sie sich an die Zahlen und an die bisherigen Planungen!
({45})
Die Finanzplanung des Bundes von 1968 bis 1972, die seinerzeit unter der Verantwortung vom Herrn Kollegen Strauß aufgestellt wurde, sah für den Zeitraum 1969 bis 1972 eine Neuverschuldung des Bundes von rund 15 Milliarden DM vor. Die Bundesregierung hat nun von 1969 bis 1971 in summa nur eine Neuverschuldung des Bundes von rund 1 Milliarde DM vorgenommen.
({46})
- Doch! Das können wir genau vorrechnen und wiederholen.
Nach den Maßstäben der finanzwirtschaftlichen Solidität, wie Herr Strauß sie in seiner mittelfristigen Finanzplanung 1968 bis 1972 zu suchen setzte, hätten wir noch einen Spielraum von knapp 14 Milliarden DM für das Jahr 1972. Haben Sie keine Angst, so leichtsinnig sind wir nicht, so weit wollen wir gar nicht in die Nettoneuverschuldung im Jahre 1972 gehen!
({47})
Eine andere Frage ist es natürlich, wie die Neuverschuldung des Bundes und der öffentlichen Hände im Rahmen der Konjunkturentwicklung von Jahr zu Jahr zu beurteilen ist. Ich sage in diesem Haus sehr
deutlich: was als Neuverschuldung in diesem Jahr, im Jahr des Auslaufens der Konjunkturabkühlung, im Jahr des Wiederbeginns eines neuen Konjunkturaufschwungs, angebracht oder vertretbar ist, gilt nicht ohne weiteres für das nächste Jahr. Ich möchte es so formulieren: Das Jahr 1973 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Jahr eines sich stärker entfaltenden Konjunkturaufschwungs sein. Ein solches Jahr wird der Neuverschuldung aller öffentlichen Hände andere Grenzen setzen als dieses Jahr 1972.
({48})
Die Opposition hat auf diese Probleme - nun will ich Ihnen gerade einmal etwas Nettes sagen -in ihrem Antrag auf Umdruck 270 hingewiesen. Ich verweise ausdrücklich auf diesen Antrag. Aber ich darf dazu erklären: Die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung wird programmgemäß und entsprechend dem Stabilitätsgesetz zusammen mit der Aufstellung des Haushalts 1973 vorgenommen. Daß eine Finanzplanung ein knappes oder gutes halbes Jahr nach ihrer Verabschiedung nicht mehr in allen Punkten aktuell sein kann, ist eine Binsenweisheit. Das galt früher so, und das gilt auch heute.
Wir werden uns also an den gesetzlichen Auftrag des § 9 des Stabilitätsgesetzes halten und im Sommer dieses Jahres bei der Beschlußfassung im Kabinett über den Haushaltsentwurf 1973 auch die Fortschreibung und die Anpassung der Finanzplanung bis 1976 durchführen.
Wenn sich Herr Kollege Strauß bei der Frage „Wo ist denn nun die neue, angepaßte oder korrigierte Finanzplanung bis 1976?" auf die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. März 1972 bezieht, dann bitte ich Herrn Kollegen Strauß, das Protokoll einmal genau zu lesen. Der Bundeskanzler hat nämlich an jenem 15. März die Aufstellung des neuen Haushalts 1973 und die Anpassung und Fortschreibung der Finanzplanung für den Sommer 1972 angekündigt und nicht etwa für den jetzigen Zeitpunkt, für den Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushalts 1972.
Ich kann also nur sagen: alles zu seiner Zeit. Heute steht nicht die Finanzplanung zur Debatte, heute steht der Haushalt 1972 auf der Tagesordnung. Sie lächeln so. Auch der Beginn der Haushaltsplanung im Jahr 1967 fiel in eine sommerliche Zeit. Wir alle kennen die schönen Bilder unter der Platane im Bundeskanzlergarten.
({49})
Das war auch nicht im April, mein lieber Freund; es war immer im Sommer.
({50})
Meine Damen und Herren, dieses Parlament hat noch nicht über den Haushalt 1972 und seinen Umfang entschieden. Wir sind in der zweiten Lesung. Wie Sie alle wissen, hatten wir im vergangenen Jahr beim Vollzug des Haushalts jeweils ein hohes Maß von konjunkturpoliischer Beweglichkeit unter
Beweis zu stellen. Wir werden dies 1972 im weiteren Verlauf des Haushaltsjahres genauso halten.
Ich habe auf der Sitzung des Finanzplanungsrates und des Konjunkturrates für die öffentliche Hand am 9. März 1972 mit den versammelten Vertretern von Ländern und Gemeinden eingehend das Problem der öffentlichen Gesamthaushalte im Jahre 1972 und das Problem der Neuverschuldung behandelt. Wir haben schon damals auf meine Initiative hin gemeinsam festgestellt: „Die Ausgabenpläne" - das bezieht sich auf alle Gebietskörperschaften - „müssen überprüft und unter Berücksichtigung der weiteren konjunkturellen Entwicklung auf ein gesamtwirtschaftlich vertretbares Maß zurückgeführt werden. Bund, Länder und Gemeinden tragen hier eine gemeinsame Verantwortung." So steht es im Kommuniqué.
Bei dieser gemeinsamen Verantwortung für einen konjunkturgerechten Vollzug der Haushalte 1972 werden wir in der Bundesregierung unseren Teil der Verantwortung auf uns nehmen; ebenso werden wir in den Koalitionsfraktionen unseren Teil der Verantwortung auf uns nehmen. Wir werden mit gutem Beispiel vorangehen, auch gegenüber den Ländern und Gemeinden. Ich hoffe nur, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, daß Sie die Initiativen in Richtung auf einen konjunkturgerechten Vollzug des Haushalts 1972 wirklich unterstützen
({51})
und daß Sie nicht einfach, Herr Leicht, wie in einer antiken Tragödie der griechische Chor mit Wehklagen daneben stehenbleiben. Das ist meine Hoffnung.
({52})
- Ich will Ihnen jetzt erst die drei Vorschläge konkret vorführen, und dann möchte ich gern Ihre Meinung dazu hören. - Sie sollten uns unterstützen!
Ich möchte im Anschluß an die gestrigen Äußerungen und im Anschluß an die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers in bezug auf die Durchführung des Haushalts 1972 und in bezug auf die Neuverschuldung hier noch folgendes ergänzen.
Erstens. Nach Verabschiedung dieses Bundeshaushalts bin ich als der für die Finanzen verantwortliche Minister der Meinung, unter Berücksichtigung eines sehr wahrscheinlichen Konjunkturaufschwungs sei das vom Parlament genehmigte Ausgabenvolumen nicht voll auszuschöpfen. Ich will hier ganz konkret werden: Ich bin der Meinung, die im Bundeshaushaltsplan 1972 vorgesehene Nettokreditaufnahme von 7,3 Milliarden DM könnte durch entsprechende Maßnahmen beim Haushaltsvollzug um etwa 1,3 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM vermindert werden. Diese Operation könnte durch höhere Steuereinnahmen ohnehin erleichtert werden.
Wenn meine heutige Einschätzung der weiteren Konjunkturentwicklung richtig ist, so dürften wir im Jahre 1972 bei Bund, Ländern und Gemeinden Steuermehreinnahmen von insgesamt einer bis
anderthalb Milliarden DM haben, gemessen an den bisherigen Schätzungen. Davon entfällt etwa die Hälfte auf den Bund. Allein das ist nach meiner Meinung ein Sockelbetrag, der die Neuverschuldung des Bundes reduzieren wird.
Im übrigen werde ich dafür eintreten, daß wir in diesem Jahr über die jetzt schon vorgesehene globale Minderausgabe hinausgehen und je nach dem tatsächlichen Ergebnis der laufenden Steuereinnahmen zusätzliche Einsparungen im Sinne einer Erhöhung dieser globalen Minderausgabe erzielen müssen.
({53})
Dies, Herr Kollege Leicht, ist der erste Streich, und Sie sollten dabei helfen.
Zweitens. In meiner Eigenschaft als Bundeswirtschafts- und -finanzminister werde ich Länder und Gemeinden ihrerseits in der nächsten gemeinsamen Sitzung des Finanzplanungsrates und des Konjunkturrates für die öffentliche Hand bitten, den vorhin zitierten gemeinsamen Beschluß vom 9. März ebenso wie der Bund weiter zu konkretisieren. Wenn wir hier ein Beispiel geben, sollten Länder und Gemeinden uns folgen.
Drittens. Das Stabilitäts- und Wachstums-Gesetz verpflichtet uns in seinem § 19, zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts für Bund, Länder und Gemeinden durch Rechtsverordnung die öffentliche Kreditaufnahme zwingend zu begrenzen. Es ist, so bin ich überzeugt, für diese Bundesregierung ganz selbstverständlich, daß sie die Anwendung dieses sehr harten Instruments vorschlagen wird, wenn dies in den kommenden Wochen oder Monaten sich als notwendig herausstellt.
Dieses ist ein konkretes Aktionsprogramm von drei Punkten zur Anpassung des Vollzugs des Haushalts 1972 an die jeweilige Konjunkturentwicklung. An diesem Aktionsprogramm, meine Damen und Herren, sollten sich alle in diesem Hohen Haus beteiligen, auch die Opposition.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Bitte!
Herr Bundesminister, können Sie vielleicht einmal einen Satz darauf verwenden: Wenn das, was Sie jetzt soeben gesagt haben, richtig ist, warum legen Sie dem Bundestag dann eigentlich noch einen Eventualhaushalt zum Beschluß vor? Sie sagen zwar nicht, wann er verwirklicht werden soll, aber daß er beschlossen werden soll.
Weil wir auch in einer Zeit, wo die Konjunkturindikatoren eine deutliche Besserung zeigen, immer noch eine Politik der Vorsicht betreiben, auch in bezug auf Beschäftigung und Wachstum.
({0})
Nachdem der Eventualhaushalt nun einmal geplant ist und wir die Konjunkturausgleichsrücklage haben, sollten wir sie auch als Möglichkeit erhalten. Ich selber bin auch der Meinung, daß die Wahrscheinlichkeit, daß wir ihn mobilisieren, sehr gering ist. Aber da wir jene Mittel bei der Bundesbank hinterlegt haben, besteht überhaupt kein Anlaß, in diesem Augenblick ein für allemal davon abzusehen. Diese Möglichkeit sollten wir uns vielmehr für den Fall des Falles erhalten. Das ist eine einfache Vorsichtsmaßnahme, eine Maßnahme der Zweckmäßigkeit.
Im übrigen zeigen unsere Überlegungen, den Vollzug des Kernhaushalts flexibel zu gestalten und mit der jeweiligen Konjunkturentwicklung in Übereinstimmung zu bringen: Die Prophezeiungen des ökonomischen Untergangs oder der ökonomischen Katastrophe oder des Finanzchaos, mit denen die Opposition bis gestern oder bis heute ankam, sind einfach falsch.
({1})
Sie haben nicht den geringsten Bezug zur Wirklichkeit. Wenn Sie sich ansehen, wie vorsichtig wir uns nach beiden Seiten bewegen, unsere Freiheit erhalten, die Finanzpolitik des Jahres 1972 zu formen gedenken - ({2})
- Wir sind beim Haushalt 1972. Das ist so eine Sache. Bei einer gewissen Stille und Baisse in der Stimmung brauchen Sie irgendeine Hymne patriotischer Art. Dann kommen Sie auf die Probleme der Jahre 1965 und 1966.
({3})
Ich spreche doch in diesem Augenblick auch nicht von der formierten Gesellschaft; dazu könnte ich auch einiges sagen.
({4})
- Wieso filibustern? Ich habe den Eindruck, daß ich Ihnen eine sehr sachbezogene, eine sehr finanzbezogene Darlegung gemacht habe, Herr Kollege Müller-Hermann,
({5})
Sie hätten besser zuhören müssen.
({6})
- Ich habe doch keine Angst vor der Abstimmung!
- Ich habe versucht, hier etwas zum Haushalt zu sagen, und zwar generell zum Haushalt zu sagen, Herr Müller-Hermann, und habe sehr deutlich gesagt: ich möchte mal von Ihnen ein Zeichen, ein Signal der Aktion sehen, ob Sie in diesen Punkten in bezug auf den weiteren Gang der Entwicklung im Finanzbereich des Bundes mitmachen wollen
({7})
oder ob Sie wieder sagen wollen: Es ist alles schlecht, ist alles Grau in Grau oder alles Schwarz in Schwarz.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
({0})
Aber gerne.
Herr Minister, sind Sie bereit, zuzuerkennen, daß der Beitrag der Opposition in erster Lesung dieses Haushalts darin bestand, daß auf die gesamten Risiken dieses Haushalts und zum Teil bereits in konkreten Zahlen auf das hingewiesen worden ist, was Sie uns jetzt vorlegen mußten?
Zweitens. Glauben Sie nicht, daß folgendes ein Beitrag der Opposition ist? Wenn heute Sie selber ankündigen, die Verschuldung in der Größenordnung von - ich gehe vom Finanzdefizit aus und ohne Schattenhaushalte - 7,7 Milliarden Dr. Schiller, Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: 7,3!
- beim Bund müsse heruntergedrückt werden, geben Sie damit nicht zu, daß auch hier die kritische Einstellung mit dazu beigetragen haben könnte und daß das auch gleichzeitig eine Aussage der Opposition war?
({0})
Herr Kollege Leicht, kritische Einstimmung und kritische Einstellung von Ihrer Seite ist immer höchst willkommen. Nur das langt mir nicht. Ich möchte ein bißchen mehr von Ihnen, nämlich Kooperation in diesen Dingen. Sie sollten hier ja sagen.
({0})
- Ja, weil es hier sehr konkret gesagt ist. - Was Sie am Anfang der Beratungen im Oktober letzten Jahres über die Risiken gesagt haben, Herr Kollege Leicht, es hat nicht viel geholfen. Wir haben absichtlich im Bewußtsein bestimmter Risiken gewisse Zielgrößen in unserer Planung niedrig gehalten. Sie wissen auch, aus welchem Grunde: weil es zwei dicke Posten gab, die noch in der Verhandlung waren, ein Posten „Abtretung von Steuerquellen an die Länder" und ein anderer Posten „Lohn- und Gehaltsbewegung im öffentlichen Dienst". Sie müssen zugeben: es war richtig von unserer Seite, daß wir in unserer Aufstellung des Entwurfs absichtlich und bewußt die Dinge knapp hielten, weil wir damit zu Ergebnissen gekommen sind, die stabilitätskonformer sind, als wenn wir von vornherein alle Risiken in unsere Planung einbezogen hätten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jetzt habe ich aber den Eindruck, lieber Herr Kollege, daß Sie schon netten Geschmack am Filibustern bekommen haben;
({0}) herzlich willkommen, Sie können das auch.
Ich wollte nur in diesem Zusammenhang die Frage an Sie stellen - wenn wir schon aufklären, Herr Minister Schiller -: haben Sie denn nicht in der ersten Lesung wiederholt betont, und zwar wiederholt ganz deutlich dargelegt, daß Sie in der Lage gewesen wären, den Kernhaushalt ohne weiteres, ohne Steuererhöhung zu finanzieren, wenn nicht die Umsatzsteuerzahlungen an die Länder hinzugekommen wären. Und ist denn nicht die Wirklichkeit leider anders geworden?
Ich habe nicht gesagt, daß wir den Haushalt 1972 ohne Steuererhöhungen aufstellen. Wir haben Steuererhöhungen - mir war das zum erstenmal aufgegeben -, im Verbrauchsteuerbereich in ganz erheblichem Umfange vorgeschlagen. Ich habe den Eindruck das haben Sie gar nicht zur Kenntnis genommen, weil die Opposition sich hier leider diesem Beitrag zu einer soliden Finanzpolitik in concreto entzogen hat.
({0})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Frage?
Ja gern; es soll aber dann keiner kommen und sagen, ich würde filibustern.
Ja, wir filibustern gerne absichtlich. - Herr Minister, Sie haben wörtlich gesagt:
Ich muß ... noch einmal ... herausstellen, meine Damen und Herren: Die Finanzierung des Kernhaushaltes 1972 wäre im Bund bei der geltenden Steuerverteilung gegenüber den Ländern ohne zusätzliche Einnahmeverbesserungen möglich gewesen. Wir hätten den Bundeshaushalt für
10742 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 183. Sitzurig. Bonn, Donnerstag, den 27. April 1972
sich gesehen ohne Steuererhöhungen finanzieren können.
Das trifft einfach nicht zu.
Doch, natürlich!
({0})
Das trifft alles zu. Nur ist eines eingetreten, lieber Herr Kollege. Wir haben, wie Sie wissen, in der Frage der Umverteilung der Umsatzsteuer, in dem Kompromiß des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder und mit mir, mehr hergeben müssen, als wir veranschlagt hatten, und zwar sehr viel mehr: ungefähr anderthalb Milliarden DM. Die eigentliche Problematik kommt erst danach, Herr Kollege. Die Länder und Gemeinden haben uns gesagt, daß sich natürlich in dem Umfang, in dem wir Steuerquellen abgäben, ihre Neuverschuldung reduziere. Damit haben wir auch gerechnet. Das war nämlich der Sinn des Transfers von Steuerquellen auf die Länder und Gemeinden.
({1})
Die Länder und Gemeinden, an der Spitze diejenigen Länder, deren Ministerpräsidenten der CDU/CSU angehören, haben trotz der Erweiterung ihres Spielraums bei der Umsatzsteuer ihre Verschuldungsplanung für das Jahr 1972 expandiert. Das ist ein Vorgang, mit dem wir uns schon am 9. März beschäftigt haben und mit dem wir uns im Finanzplanungsrat erneut beschäftigen werden. Es ist ein Vorgang, der nach meiner Ansicht möglicherweise zur Anwendung des § 19 im Sinne des Schuldendeckels für Bund, Länder und Gemeinden führen wird. Das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
Diese Debatten sollten fortgesetzt werden, und Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten sich noch näher an die Realitäten der Finanzpolitik heranbegeben und versuchen, uns in unseren Bemühungen um eine der Stabilität und dem Wachstum verpflichtete Finanzpolitik zu unterstützen. Sie haben sich draußen bisher anders bewegt. Sie haben von seiten der Opposition leider Inflationserwartungen und ökonomische Unsicherheit in unserer Bevölkerung geschürt.
({2})
- Doch, ziemlich kräftig. Gestern und heute ist darüber auch einiges mit sehr leichter Hand gesagt worden.
({3})
Man hört von Ihnen schöne verbale Bekenntnisse zur Marktwirtschaft. Sie klingen aus Ihrem Munde immer herrlich; auch heute morgen waren sie wieder sehr schön.
({4})
- Verbale Bekenntnisse zur Marktwirtschaft, Herr Stücklen, kann man von Ihnen beliebig billig und in beliebiger Menge bekommen.
({5})
Nur wenn es um etwas Konkretes geht - ich habe ein paar Beispiele -, ist die Schar der Erben Ludwig Erhards in den Reihen der CDU/CSU - ich meine das quantitativ - sehr dünn.
({6})
- Denken Sie an Ihre Beteiligung an der Novelle zum Kartellgesetz;
({7})
das ist eine Sache der marktwirtschaftlichen Betätigung. Oder denken Sie daran, daß diese Bundesregierung, von der Sie immer leichthin und vorbehaltlos - das kommt Ihnen leicht von den Lippen - sagen, ihre Politik gefährde die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft,
({8})
im vorigen Jahr ein Dreivierteljahr in schwerem Kampf die Freiheit des internationalen Geld- und Zahlungsverkehrs entgegen der Neigung einiger Ihrer Mitglieder zum § 23 erhalten hat.
({9})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Frerichs?
Ich darf den Gedanken eben zu Ende führen; dann komme ich auf den Kollegen vom Außenhandel sehr gern zurück.
Ich habe den Eindruck: das, was Sie unter sozialer Marktwirtschaft verstehen, ist irgend etwas anderes.
({0})
Das muß ich noch näher erklären. Ihre Marktwirtschaft besteht in folgendem: Die Kartellgesetznovelle ist noch offen. Mittelpunkt Ihrer künftigen marktwirtschaftlichen Betätigung würde § 23, d. h. Devisenkontrolle im Außenhandel, sein.
({1})
- Ach, ich höre es doch immer wieder. Herr Sprung, Sie gehören zu den Vernünftigen, zu den Jüngern von Ludwig Erhard, den wenigen.
Ich habe auch den Eindruck, daß Ihr Sprecher für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Franz Josef Strauß; nach wie vor der Meinung ist, daß der § 4 des Stabilitätsgesetzes, der das Thema währungspolitischer Maßnahmen zur außenwirtschaftlichen Absicherung enthält, in Zukunft bei Ihnen gelöscht und Bestandteil eines Verbotsparagraphen im Strafgesetzbuch werden müßte. Den Eindruck habe ich bei Ihnen in bezug auf Ihre marktwirtschaftliche Vorstellung.
({2})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Herr Kollege Frerichs.
Herr Bundesminister, würden Sie bitte bestätigen, daß diese Annahme, die Sie eben vertreten haben, die Opposition habe gerade in der Beratung der Kartellgesetznovelle nicht mitgezogen, einfach nicht stimmt? Herr Bundesminister, wir haben nach der Einbringung zügig genau wie die Regierungskoaliton die öffentliche Anhörung gemacht
({0})
und berieten in diesem Jahr sechsmal im Wirtschaftsausschuß. Ich bitte Sie, zu bestätigen, daß das stimmt und daß hier von einer Verzögerungspolitik der CDU/CSU keine Rede sein kann.
Herr Kollege Frerichs, ich möchte darauf nicht antworten.
({0})
- Nein, ich möchte es etwas humorvoll nehmen. Wir haben gestern eine neue Definition gefunden, und damit möchte ich das abschließen. Es gab früher eine klassische Definition für Chuzpe. Wir haben seit gestern eine neue Definition: Wenn bestimmte Abgeordnete, besonders einer - Sie sind nicht gemeint -, zum Thema Kartellgesetznovelle klatschen, das ist Chuzpe. - Ich will mich nicht weiter äußern.
({1})
- Damit habe ich Sie nicht gemeint.
({2})
- Nein, es gilt für das Gesamtkonzept.
Aber, meine Damen und Herren, ich wollte Sie wirklich sehr eindringlich bitten, in diesen Fragen der Marktwirtschaft diese Bundesregierung an dem zu messen, was sie in ihrer Politik für die Marktwirtschaft getan hat, und da werden Sie nicht in einem einzigen Punkte bei dieser Regierung feststellen, daß sie etwa gegen die Ordnungsprinzipien der Marktwirtschaft verstoßen hätte.
Nun komme ich zum Abschluß auf unseren Haushalt zurück.
({3})
Ich bin der Meinung, daß dieser Haushalt 1972, so wie er vom Haushaltsausschuß erarbeitet worden ist, der Kritik in diesem Hause standhält und daß dieser Haushalt auch flexibel in der Durchführung gestaltet werden sollte. Sie sollten in Ihren eigenen Äußerungen von Ihren etwas wilden Parolen über Finanzpolitik im .Jahre 1972 herunterkommen. Das ist doch alles nicht damit zu lösen, daß Sie hier Klagelieder über ein Finanzchaos absingen. Das alles ist doch in Wirklichkeit enttäuschend und bedrückend. Wir leisten mit solchen Klageliedern unseren Bürgern und unser Wirtschaft keinen guten Dienst.
({4})
Ich möchte am Ende dieses meines Beitrages gerade Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, an ein nachdenkliches Wort von Armin Grünewald in der „Stuttgarter Zeitung" erinnern.
({5})
- Ich darf doch mit Ihrer gütigen Erlaubnis und mit der Erlaubnis der Frau Präsidentin hier kurz ein Zitat zum Abschluß verlesen. Es lautet folgendermaßen:
Da die Finanzlage aller öffentlichen Haushalte ernst ist - und sie ist es seit Jahren -,
- so Grünewald müssen sich die großen Parteien eigentlich einig darüber sein, daß das Verständnis und nicht das Unverständnis des Bürgers für den Preis besserer Lebensbedingungen geweckt werden muß. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß bald nur solche Parteien regierungsfähig sein werden, für die diese Erkenntnis eine Selbstverständlichkeit ist.
Soweit das Zitat von Grünewald.
Meine Damen und Herren, wenn sich auch die Opposition in diesem Hause auf dieses Wort von Armin Grünewald besänne, würden wir vielleicht alle eine bessere gemeinsame Basis für einen fruchtbaren Dialog im Bereich der Finanzpolitik finden können.
({6})
Aber auf dieses Zeichen der Opposition, auf dieses Signal von Ihrer Seite warten wir immer noch. Aber wir sind ja noch am Beginn der zweiten Lesung; vielleicht kommt Ihr Zeichen im Laufe der kommenden Debatten zu diesem Haushalt 1972. Ich danke sehr.
({7})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Leber.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({0})
- Das ist keine Filibusterrede, aber Sie können vielleicht eine daraus machen, Herr Kollege MüllerHermann! - Ich habe keine vorbereitete Rede, sondern ich möchte hier einige Gedanken zum Ausdruck bringen, die vorzutragen ich mir schon gestern
vorgenommen hatte, als ich die Rede des Herrn Kollegen Katzer gehört habe,
({1})
und möchte ein paar Anmerkungen zu einigen anderen Dingen machen, die hier im Verlaufe der Debatte zur Sprache gekommen sind.
Ich möchte damit anfangen, daß Herr Katzer gestern gesagt hat, diese Regierung habe ihren ganzen Kredit verspielt.
({2})
Ich muß Ihnen sagen, diese Bemerkung hat mich getroffen, und zwar deshalb, weil ich eigentlich weiß, wie Herr Katzer über diese Regierung bisher gedacht hat, gerade soweit sein Bereich, der Bereich der Sozialpolitik, in Betracht kommt,
({3})
und weil er sehr gut auch Vergleiche zu früher anstellen kann, als er Arbeitsminister war, Vergleiche aber auch damit, welchen Spielraum Arbeitsminister, die vor ihm gewesen waren, gehabt haben. Da gibt es einen großen Unterschied!
({4})
Aber Herr Katzer hat das sicher nicht nur spezifisch gemeint, soweit finanzielle Dinge in Betracht kommen, sondern er hat es auch allgemein gemeint; das war eine politische Bemerkung. Ich kann verstehen, daß die CDU es gerne hätte, daß die Regierung ihren Kredit verspielte, aber hier geht es, wie so oft im Leben: da ist der Wunsch der Vater des Gedankens, meine Damen und Herren. Mehr ist es auch nicht.
Sehen Sie, wenn Herr Katzer diese Frage die
Frage: hat die Bundesregierung ihren Kredit verspielt? - an eine bekannte Rundfunkanstalt schickte, an eine Anstalt in einem Lande, das Kontrahent der Ostverträge ist, würde er wahrscheinlich von dort folgende Antwort bekommen: Im Prinzip haben Sie recht, Herr Katzer, nur war das nicht diese Regierung, sondern die letzte von der CDU geführte Regierung, in der Sozialdemokraten nicht vertreten waren. - Das würde stimmen.
({5})
- Herr Kollege Lemmrich, das war nicht diese Regierung, sondern
({6})
- hören Sie doch zu, das wird noch schöner! - das war die Regierung, die im Jahre 1966 abgelöst wurde. Und wenn diese Regierung damals nicht ihren auch finanzpolitischen Konkurs hätte anmelden müssen, wären die Sozialdemokraten heute noch in der Opposition. Die Tatsache, daß wir regieren, ist der augenfällige Beweis dafür, daß die
Regierung vorher, an der wir nicht beteiligt waren, Konkurs anmelden mußte.
({7})
Wenn die CDU so gut wäre, wie sie heute wieder tut,
({8})
würde sie noch regieren, und wir wären wahrscheinlich noch in der Opposition.
({9})
Wir jedenfalls, meine Damen und Herren von der Opposition, haben es in unserer Regierungszeit bisher nicht nötig gehabt und haben es auch gegenwärtig nicht nötig, ein Haushaltssicherungsgesetz einzubringen,
({10}) zu dem Sie 1966 verpflichtet waren.
({11})
- Darauf komme ich auch noch; sie werden Ihre Schulden schon noch los.
({12})
Sehen Sie, ich habe immer hohen Respekt vor Herrn Erhard gehabt. Wenn er jetzt hier wäre, würde ich ihn fragen, ob er nicht der Meinung ist, daß es für ihn und seine Regierung 1966, wenn damals die Situation so gewesen wäre, wie sie heute ist, nicht eine andere Ausgangsbasis gegeben hätte und es damals nicht auch Herrn Barzel unmöglich gewesen wäre, ihn als Regierungschef mit aus den Angeln zu heben.
({13})
Herr Barzel, der heute hier versucht hat, einen Regierungschef zu stürzen - dabei ohne Erfolg geblieben ist -,
({14})
war damals an diesem Akt ebenfalls beteiligt, und ich habe ein ganz gutes Gedächtnis: er hat damals sogar gegen den Nachfolger von Herrn Erhard kandidiert.
({15})
Das ist alles noch bekannt. Damals waren Mißtrauensanträge in der eigenen Partei nicht möglich, deshalb ist es damals dazu gekommen.
Aber die Sache hat ja einen ernsten Hintergrund. Dies haben wir noch nie gemacht, diese Regierung hat nicht einmal daran gedacht, so etwas zu tun: Sie hat nie vor Wahlen Versprechungen gemacht,
sie hat nie vor Wahlen Gesetze gemacht, die nach den Wahlen dann wieder aufgehoben und reformiert werden mußten.
({16})
- Das haben Sie doch gemacht. Sie sind doch 1965 in einen Wahlkampf mit einer Fülle von sozialpolitischen Gesetzen gegangen, haben die Leute dazu verleitet, auf diese Gesetze zu setzen, haben damit Wahlwerbung getrieben, und nach der Wahl haben Sie ihnen durch ein Haushaltssicherungsgesetz alles wieder genommen, was Sie vorher auf dem Markt angeboten haben.
({17})
Meine Damen und Herren, Gesetze, die man gemacht hat, mit denen man in Wahlkämpfe gegangen ist, nachher wieder aufzuheben, das ist viel schlimmer, als sich etwas vorzunehmen und es vielleicht in der erwarteten Zeit nicht erfüllen zu können.
({18})
Wer in einem solchen Maße ungedeckte Wechsel ausstellt, wie die CDU das getan hat, der täuscht den Bürger und nimmt damit dem Bürger draußen im Lande das Vertrauen in die Redlichkeit, mit der hier regiert wird.
({19})
Diese Bundesregierung hat sich ganz sicher viel vorgenommen.
({20})
Wir haben uns auch eine ganze Reihe von Reformen vorgenommen. Aber glauben Sie denn, wir hätten uns vorgestellt, das alles in zwei Jahren nachholen zu können, was vorher in 20 Jahren nicht gemacht worden ist?
({21})
Und, meine Damen und Herren, glauben Sie, wir wären so kurzsichtig, daß wir daran gedacht hätten, wir würden nur zwei Jahre Zeit haben, um Reformen durchführen zu können? Wir haben uns einen viel längeren Zeitabschnitt vorgenommen, und viele Reformen, die heute noch nicht getan sind, werden noch getan werden können.
({22})
Ich will Ihnen dazu etwas ganz Ernstes sagen. Ich war damals, als Sie das gemacht haben, nicht Mitglied einer Bundesregierung, sondern ich war damals Vertreter der Bauarbeiter in der Bundesrepublik. Ich weiß, was das bedeutet hat, wieviel Enttäuschung auch am Staat es gebracht hat, daß die Leute damals zum Wahlgang gegangen sind und ihnen nachher wieder genommen wurde, was ihnen vorher versprochen worden war.
({23})
- Das sind gar keine Sprüche. Herr Katzer hat gestern hier gesagt, diese Regierung habe jeden Kredit verloren. Wenn er das sagt, müssen Sie auch den Mut haben, sich anzuhören, welche Regierung ihren Kredit verloren hat - diese oder irgendeine andere.
({24})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bis später! Ich habe nicht viel Zeit. Von Ihnen wollen auch noch Herren drankommen. Da muß man immer fair miteinander sein.
({0})
Und nun komme ich zum Geld. Was ich Ihnen da zu sagen habe, ist auch nicht gar so fein. Wenn Herr Katzer gesagt hat, diese Regierung habe jeden Kredit verloren, dann nehme ich das auch einmal wörtlich finanziell. Diese Regierung finanziert ganz sicher einen Teil ihrer Aufgaben mit Krediten. Das tut jede solide Regierung, das tut sogar jeder Unternehmer draußen in der Wirtschaft.
({1})
- Ja, ich komme noch auf die Frage, ob man Kredit hat oder nicht. - Wir stehen ganz einfach vor der Frage: Was sollen wir machen?
({2})
Sollen wir ganz bestimmte Aufgaben, die getan werden müssen, die Geld kosten, die Investitionen nötig machen, erst in drei oder vier oder fünf Jahren erfüllen, dann, wenn sie aus ordentlichen Einnahmen finanziert werden können, oder soll man die Versorgung der Bevölkerung mit bestimmten Leistungen etwas vorziehen und sie jetzt mit Krediten finanzieren, die man nachher wieder zurückzahlen kann? Kein Pfennig von diesen Mitteln wird zur Finanzierung von irgendwelchen Personalkosten oder Sachkosten im öffentlichen Haushalt ausgegeben, sondern jede Mark, für die die Kredite genommen werden, wird zur Finanzierung von festen Vermögenswerten des Bundes herangezogen, die später einmal, wenn sie fertig sind, der Bevölkerung dienen werden.
({3})
Dies ist die Aufgabe. Der Unterschied, den es hier gibt, besteht darin - daran erinnere ich mich noch ganz genau -, daß auch die Regierung, von der ich spreche, damals versucht hat, mit Krediten, öffentlichen Anleihen und fremden Mitteln die Lücken im Haushalt zu stopfen, nur war sie nicht mehr kreditwürdig. Diese Regierung bekommt jeden Kredit im
Lande, wenn sie ihn nötig hat, meine Damen und Herren.
({4})
Dies ist auch Ausdruck dafür, wie kreditwürdig diese Regierung im Lande bei den Leuten ist, die ganz einfach Anleihen auflegen, die sie finanzieren.
Als drittes sind die Zwecke zu nennen, für die die Mittel verwandt werden.
({5})
Und nun möchte ich Ihnen noch etwas sagen, was mit der Kreditwürdigkeit zusammenhängt. Solide ist ein Unternehmen dann, wenn es genügend Mittel zur Verfügung hat, auch kurzfristige Mittel zur Verfügung hat. Sehen Sie, damals war das so, daß die Bundesregierung, hätte sie sich so verhalten müssen, wie das einem Unternehmen im Handelsgesetzbuch vorgeschrieben ist, wegen Illiquidität den Weg zum Konkursrichter hätte antreten müssen.
({6})
- Herr Burgbacher, ich habe in meinem Ministerium, als ich im Dezember dorthin kam - ({7}) - Was haben Sie gesagt?
({8})
- Dann will Ihnen sagen, was ich vorgefunden habe. Fragen Sie bitte Herrn Strauß.
({9})
Da lagen Rechnungen über hundert Millionen D-Mark bei der öffentlichen Hand, für deren Bezahlung kein Geld mehr da war. Die Bauunternehmer mußten warten, bis sie Geld bekamen.
({10})
Das war die Situation, in die Sie die Leute gebracht haben.
({11})
Wissen Sie, wie es so einem Unternehmer geht?
({12})
Die Leute hatten Straßen gebaut, mußten die Löhne dafür bezahlen, mußten sie vorfinanzieren, weil sie von der öffentlichen Hand kein Geld bekamen, wenn sie die Rechnung vorlegten.
({13})
Sie gingen zu den Banken und mußten 101/2 oder 11 % Zinsen bezahlen und wären fast ausgeblutet, wenn die neue Regierung nicht bald gekommen wäre und eine Wendung herbeigeführt hätte.
({14})
Das war damals die Lage.
Ich habe Ihnen vor zwei Jahren einmal gesagt und wiederhole das jetzt hier, wir haben das, was 1966 passiert ist, so gründlich studiert, daß uns das nicht passieren wird.
({15})
Dann möchte ich Ihnen gern ein Zweites sagen. Herr Katzer hat gesagt, diese Regierung sei nicht mehr kreditwürdig. Dazu habe ich meine Meinung gesagt, und ich denke, verständlich genug, Herr Burgbacher.
({16})
Dann hat Herr Katzer behauptet, es ginge in diesem Lande nicht sozial gerecht zu. Meine Damen und Herren, was ich Ihnen dazu zu sagen habe, steht in Verbindung mit dem, was ich eben gemeint habe. Als wir 1967 anfingen und die Löcher im öffentlichen Haushalt zustopften, die dort entstanden waren - das waren Milliarden im öffentlichen Haushalt, die nicht finanzierbar waren -, da haben wir uns so verhalten
({17})
- es ist keine Mark unfinanziert in dem Haushalt, den Herr Schiller vorgelegt hat -, wie sich eine redliche Familie verhält.
({18})
Sie und wir, alle miteinander, wir haben allen Teilen der Bevölkerung Belastungen zugefügt.
({19})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte das zu Ende führen. Sie können nachher gerne kommen.
({0})
Wir haben uns an die Adresse aller Gruppen in der Gesellschaft gewandt.
({1})
- Ich will hier etwas sagen, da sollten Sie ruhig zuhören, das haben Sie ja mitgemacht. Wir haben allen Gruppen Belastungen zugefügt und zugemutet. Wir haben beispielsweise 1967 den Rentnern, also der sozial schwächsten Schicht im Lande, einen Krankenversicherungsbeitrag von 2 % abgenommen, einen Betrag von damals gut 700 Millionen DM im Jahr, um auf diese Weise das Loch in den öffentlichen Finanzen mit schließen zu helfen. Meine Damen und Herren, ich rede nicht von den 700 Millionen DM, sondern ich rede von den 2 %.
({2})
Ich habe eine Mutter, die damals eine Rente von
320 DM bekam. Ich weiß, was das bedeutet, 2 %:
das sind 6,40 DM, die man weniger bekommt, als
man vorher gehabt hat, weil eine Regierung schlecht regiert hatte.
({3})
- Ich beantworte keine Fragen. Lassen Sie mich schön zu Ende reden. Sie können ja nachher hierher kommen. Wir haben so viel Zeit, um hier noch Reden zu halten, das glauben Sie gar nicht!
({4})
- Herr Schmücker, als ich viel jünger war - ({5})
- Herr Schmücker, ich habe bis jetzt alle Reden mit Ruhe angehört, die von Ihrer Seite gehalten wurden, auch die, die schwer verdaulich sind, beispielsweise auch die von Herrn Strauß gestern.
({6})
Sie sollten sich angewöhnen, ebenfalls zuzuhören, auch wenn das unbequem ist. Sie wissen ganz genau, daß das, was ich sage, richtig ist.
({7})
Wir Sozialdemokraten haben damals der Bevölkerung gesagt: wir muten euch diese Belastung zu, aber sie wird in dem Augenblick eingestellt, in dem das nicht mehr nötig ist; und wenn wir können, zahlen wir dieses Geld auch zurück.
({8})
Dies war ein Versprechen, das wir als Teil der Regierung in der Großen Koalition 1967 der Bevölkerung gemacht haben. Seit Januar 1970 werden diese Beträge nicht mehr erhoben; den Krankenversicherungsbeitrag gibt es nicht mehr. Und im April dieses Jahres, in diesen Wochen, haben alle Rentner in der Bundesrepublik Deutschland das, was sie 1967/68 abgenommen bekommen hatten, um die Löcher zu stopfen, die Sie hinterlassen haben, in Mark und Pfennig wieder ausbezahlt bekommen.
({9})
Diese Bundesregierung hat damit im April 1972 mit einer Summe von 1250 Millionen DM den Rentnern das wieder zurückgegeben, was ihnen die Große Koalition im Jahre 1967 abnehmen mußte, um den bankrotten Haushalt, den Sie hinterlassen hatten, auszugleichen. So war das.
({10})
Suchen Sie in Ihrer ganzen Sozialgeschichte - die ist ja nur kurz, sie dauert ja erst seit 1949; was früher war, darauf können Sie sich ja nicht berufen - nur einen einzigen Fall, in dem Sie, ohne daß Sie von Gesetzes wegen verpflichtet waren -das waren wir hier nicht -, eine solche soziale
Leistung vollbracht haben, wie sie allein in dieser Rückzahlung besteht!
({11})
- Verehrter Herr Kollege Müller-Hermann, ist es eigentlich ein Beweis dafür, daß wir hier Inflation haben, daß sogar Schweizer Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten, weil das Geld hier stabil ist? Ist das ein Ausdruck der Inflation?
({12})
Meine Damen und Herren, allein an einem solchen Punkt kann man eine Regierung messen.
({13})
Allein daran kann man messen, ob eine Regierung sozial gerecht ist oder nicht.
({14})
Herr Katzer hat gestern gesagt: Daran muß sich die Regierung messen lassen. Diese Regierung ist bereit, sich mit allem, was Sie getan haben, messen zu lassen, und nicht nur daran, wieviel sie getan hat, sondern auch daran, was sie im einzelnen getan hat.
({15})
Wenn Herr Katzer schon den Mut hat, das hier zu sagen, wo wir dabei sind und das doch alles wissen, möchte ich Ihnen gerne etwas in Erinnerung rufen. Herr Katzer ist beispielsweise 1967 mit mir zusammen hier in Bonn auf einem Empfang gewesen.
({16})
- Wenn Sie es genau wissen wollen: beim bischöflichen Nuntius in Bonn.
({17})
- Sie fragen doch. Ich sage Ihnen das in allen Details, wenn Sie es wissen wollen; das ist nämlich eine schöne Geschichte.
({18})
Wir standen zusammen, und da kam einer von den
bischöflichen Herren - Sie wollen das ja genau
wissen, und das will ich Ihnen sagen - und sagte:
({19})
„Na, Herr Katzer, werden Sie morgen gewinnen oder nicht?" „Morgen", also am nächsten Tag, stand die mittelfristige Finanzplanung zur Debatte. Und wir wußten ganz genau, daß Herr Strauß und andere die Absicht hatten, die dynamische Rente damals von der Tagesordnung abzusetzen, sie abzuschaffen. Herr Katzer wußte es ganz genau, und deshalb
sagte er auf die Frage: „Werden Sie sich morgen behaupten oder nicht?" : „Wenn mein Freund Georg Leber und die Sozialdemokraten morgen Rückgrat haben, dann werde ich mich behaupten. Wenn sie umfallen, ist die dynamische Rente übermorgen nicht mehr da."
({20})
Ach, ich kann Ihnen so viel erzählen, was Sie nicht gerne hören.
({21})
Herr Katzer ist dann am Sonntag danach nach Mannheim gegangen.
({22})
Da war eine Veranstaltung der Christlich-Sozialen Kollegenschaft. Er wurde mit Beifall empfangen, weil er gesiegt hatte. Seine dynamische Rente war erhalten geblieben. Die gäbe es aber ohne Sozialdemokraten nicht mehr.
({23})
Das wissen Sie doch ganz genau. Fragen Sie einmal hier anwesende, in der zweiten Reihe sitzende Kollegen, Herr Burgbacher! Die wissen noch, welcher Erfolg es damals war, die dynamische Rente zu erhalten. Ich habe Sie im Verdacht, Sie würden die dynamische Rente wieder angreifen, wenn Sie es könnten, meine Damen und Herren. Sie ist Ihnen ein Dorn im Auge.
({24})
- Herr Müller-Hermann, wenn Sie behaupten, Sie hätten die dynamische Rente erfunden, würde ich sagen: Sie haben sich übernommen, Sie waren ganz bestimmt nicht dabei.
({25})
Sehen Sie, meine Damen und Herren, wir können uns offen messen lassen, wenn uns hier vorgeworfen wird, wir hätten keinen Kredit mehr und es gebe keine soziale Gerechtigkeit im Staat. Wissen Sie, ich habe mich gestern morgen gewundert - das ist ein Grund, warum ich hier rede -, weil Herr Katzer da die Möglichkeit hatte, hier die erste Rede zu halten. Das hat es bei einer so großen Debatte nämlich noch nie gegeben, daß einer vom sogenannten linken Flügel der CDU die Ehre hatte, eine solche Auseinandersetzung einzuleiten.
({26})
Das ist mir beim Nachdenken eingefallen. Das ist an sich die Linie, die Sie immer verfolgt haben. Wissen Sie, die Kollegen aus dem linken Flügel der CDU wurden, wenn Wahlen in der Nähe waren, meistens vorgeschickt, in die Betriebe zu gehen und
die Arbeiter für die CDU zu gewinnen. Nachher waren die nicht mehr gefragt.
({27})
Ich habe mich oft gefragt, ob es einen Vergleich gibt, der zuverlässig auf die manchmal sehr schwierige Situation der Gewerkschaftsleute im linken Flügel der CDU paßt. Ich habe eine gefunden; den will ich Ihnen nennen: Die kommen mir vor wie Hühner ohne Eierstock; sie dürfen nämlich vor den Wahlen nur gackern, nachher aber keine Eier legen.
({28})
- Meine Damen und Herren, warum regen Sie sich denn so auf? Ich will Ihnen ja helfen. Es hilft Ihnen doch in der CDU, wenn das hier mal deutlich gesagt wird, sich künftig dann, wenn es nötig ist, ein bißchen durchzusetzen.
({29})
Jetzt, meine Damen und Herren, komme ich zu den Postgebühren.
({30})
- Ja, das ist doch alles wichtig, Herr Burgbacher. Das ist jetzt nicht das erste Mal, daß Postgebühren erhöht werden sollen. Herr Schuberth, der erste Postminister in Deutschland, wollte einmal die Gebühren erhöhen. Da hat Adenauer gesagt: Das geht jetzt nicht mehr; wir haben in fünf Monaten Wahl; das hätten Sie früher machen müssen. - Wir machen das dann, wenn es nötig ist, meine Damen und Herren.
({31})
Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen.
Ich kann ja verstehen, daß Sie sich aufregen, weil es nicht angenehm ist, das alles einmal zu hören. Die Wahrheit tut eben weh.
({0})
- Wissen Sie, Herr Kollege, wenn mir das ein anderer als Sie zurufen würde, würde ich mich darüber vielleicht ärgern, aber Ihnen nehme ich nicht einmal das übel.
({1})
Meine Damen und Herren, die Kosten bei der Post sind gestiegen. Was soll ein Postminister machen, wenn die Kosten gestiegen sind, die er selbst nicht beeinflussen kann! Sie, meine Damen und Herren von der CDU, waren in diesem Parlament ja dafür, die Gehälter noch mehr zu erhöhen, als sie erhöht worden sind.
({2})
Und Sie wundern sich jetzt, wenn die Rechnung präsentiert wird, die bezahlt werden muß.
Ich will Ihnen ein Zweites sagen, ohne hier Geheimnisse zu verraten. Ich kenne in dieser CDU-Fraktion Mitglieder, die die Verantwortung dafür, ob Postgebühren erhöht werden oder nicht, mit tragen und die mir gesagt haben: „Wir beschließen die Gebührenerhöhung nicht mit, weil Sie sie nicht hoch genug machen. Die müßte höher sein."
({3})
Das ist mir gesagt worden von Kollegen, die hier sitzen. Ich sehe sie hier sitzen, dort, wo sie das Recht haben, darüber mit zu entscheiden.
({4})
Herr Kollege Barzel hat gesagt, das Land müsse sich aufmachen und sich auf die Zukunft vorbereiten, und wir müßten mehr investieren. Er hat dabei insbesondere auch den Verkehrsausbau gemeint; das hat er wörtlich gesagt. Ich will Ihnen mal Zahlen nennen und zwar keine Geldbeträge, sondern Kilometer. Sehen Sie, da brauchen Sie gar nicht mit Preisen zu kommen. Herr Schiller hat Ihnen schon gesagt, daß die Preise zurückgegangen sind. Wir haben im Straßenbau wieder Preisstabilität. Herr Barzel hat gefragt: Was tut die Regierung, das Land auf die Zukunft vorzubereiten? Ich will Ihnen sagen, was getan worden ist und was diese Regierung tut. Im Jahre 1945 gab es in der Bundesrepublik 2100 Kilometer Autobahn. Dann sind bis 1966 in 17 Jahren CDU-Herrschaft im Verkehrsministerium 1386 Kilometer gebaut worden.
({5})
- Sie können das doch den Arbeitern - - Daß die Lohnerhöhungen bekommen, weiß ich doch von ihnen, warum reden Sie dann so laut?
({6})
Es wird alles notiert, was Sie hier sagen daß Sie gegen Lohnerhöhungen waren; draußen reden Sie dafür!
({7})
Sehen Sie! 1386 Kilometer in 17 Jahren, solange
Sie für den Straßenbau verantwortlich waren! Ich
bin jetzt sechs Jahre für den Straßenbau verantwortlich, und es sind 1715 Kilometer in fünfeinhalb Jahren gebaut worden, meine Damen und Herren!
({8})
Das ist in weniger als einem Drittel der Zeit um etwa 30% mehr, als damals gebaut worden war!
({9})
- Das war gar keine andere Zeit! Der Straßenbau war sogar noch billiger, Sie haben bloß keinen gemacht, meine Damen und Herren!
({10})
Dies ist die höchste Leistung, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiete des Autostraßenneubaues geleistet worden ist, meine Damen und Herren!
({11})
In diesem Jahr allein werden 395 Kilometer Autobahn in der Bundesrepublik fertig. Wir liegen an der Spitze in Europa. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat kürzlich gesagt: Die Bundesrepublik Deutschland liegt nicht nur in bezug auf den Ausbau ihres Straßennetzes an der Spitze, sondern an der Spitze auch in bezug
({12})
auf die Herrichtung der Städte mit neuen öffentlichen Verkehrsmitteln. Das wird heute in Amerika diskutiert!
({13})
Meine Herren und Damen! Es ist hier der Wunsch geäußert worden, daß wir in absehbarer Zeit fertig werden.
({0})
Herr Bundesminister, meine Frage geht dahin - es wurde gesagt, Sie würden 20 Minuten sprechen -, ob wir in absehbarer Zeit mit dem Ende rechnen können, damit wir disponieren können. Es kommt dann noch der Kollege Lemmrich.
({1})
Ich werde mich bemühen, gnädige Frau, aber wenn ich ungestört reden könnte, ginge das alles viel leichter.
({0})
Man bekommt bei der Rede immer neuen Stoff durch die Zwischenrufe hier! Sie sind ja selber schuld, wenn Sie diese Zwischenrufe machen!
({1})
Meine Damen und Herren, ich will auf einiges verzichten, um Ihnen noch Gelegenheit zu geben. Herr Kiesinger hat gestern gesagt, es sei Unruhe im Land. Dazu wollte ich gern noch etwas sagen,
auch aus meiner Erinnerung, und einen kleinen Vergleich ziehen. Sehen Sie: Das gefällt uns gar nicht, daß Unruhe an unseren Universitäten ist. Niemand ist darüber glücklich, am wenigsten wir. Ich bin beispielsweise der Auffassung, daß die, die da studieren und sogar mit dem Geld von Arbeitern studieren, endlich richtig studieren und nicht allzuviel demonstrieren sollen; darüber sind wir einer Meinung.
({2})
Nur, dies ist nicht die Frage!
({3})
- Ach hören Sie einmal: Das sind doch nicht alles studierte Leute! Hören Sie nur zu; was ich Ihnen sage, ist hochinteressant.
({4})
Diesen Vorwurf können Sie doch nicht an die Adresse dieser Regierung richten, meine Damen und Herren; den müßten Sie mindestens ebensosehr an sich selber richten und sich fragen lassen, was Sie denn als große Partei in der Regierung getan haben und auch, seit Sie in der Opposition sind,
({5})
um mit diesen Problemen draußen fertig zu werden. Sie sind so groß, meine Damen und Herren, daß Sie in diesen Dingen immer in der Verantwortung sind.
({6})
Sie können nicht nur die Regierung für die Sicherheit verantwortlich machen. Das möchte ich Ihnen gerne sagen. Wie war das denn damals, als Herr Kiesinger, der das gestern hier behauptet hat, Bundeskanzler war, meine Damen und Herren? Das möchte ich Ihnen gerne einmal sagen. Wir hatten in Berlin Kabinettsitzungen. Ich kenne noch die Unruhe, die ihn beherrscht hat, weil das schlimm war. Ich möchte Herrn Kiesinger fragen: Wie war das denn in Konstanz im Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg? Da war doch jetzt fast eine himmlische Ruhe gegen das, was wir 1968 dort erlebt haben!
({7})
Das hat sich doch gebessert! Ich möchte Herrn Kollegen Kiesinger gerne fragen: Wie war das denn in seinem eigenen Land, in Heidelberg,
({8})
als er im Jahre 1968 die Würde eines Ehrendoktors
der Universität Heidelberg bekommen sollte und,
weil dort Unruhen waren, nicht durch den Haupteingang hineinging, sondern durch den Eingang für Lieferanten gehen mußte?!
({9})
Ich kann Ihnen sagen: Unser Bundeskanzler ist noch nie durch einen Hintereingang in ein Haus gegangen, sondern immer durch den Haupteingang.
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Und Sie können ganz sicher sein: Er wird noch viele Jahre als Bundeskanzler in Deutschland durch Haupteingänge gehen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lemmrich.
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Meine Herren von der SPD, daß Sie sich mokieren, wenn ich ans Rednerpult gehe, dafür kenne ich Sie ja. Aber beruhigen Sie sich! Sie werden sicherlich bald zu Ihrem Bier kommen.
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Meine verehrten Damen und Herren, das, was Herr Leber hier geboten hat, war dieses Hauses unwürdig.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, was dieser Mann geboten hat, war eines Ministers unwürdig.
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und war der Mißbrauch seines Amtes, zu jeder Zeit so lange, wie er will, reden zu können.
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Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Herr Minister Leber heute etwas zu lange im Restaurant verbracht hat, und ich möchte ihn gerne fragen, ob er bereit ist, sich dem Promilletest zu unterwerfen.
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Herr Kollege Lemmrich, ich muß Sie zur Ordnung rufen. Sie haben vorhin einen Zwischenruf gemacht, den ich überhört habe. Nachdem Sie ihn jetzt dem Sinne nach wiederholen, muß ich Sie zur Ordnung rufen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
Bitte sehr.
Herr Kollege Lemmrich, würden Sie mir zustimmen, daß das Verhalten der SPD-Fraktion jetzt ungefähr dem Verhalten entspricht, das den damaligen Bundeskanzler Kiesinger daran hinderte, durch den Haupteingang der Universität Heidelberg zu gehen?
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Herr Kollege Reddemann, wir sind ja von dieser Seite schon seit Jahren einiges gewöhnt.
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Nun, das, was Herr Leber so in einem Gang durch den Gemüsegarten von sich gab, macht wieder einmal ganz deutlich, welch ein oberflächlicher Minister das Wort ergriffen hat,
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der in seiner Oberflächlichkeit oft die Fähigkeit vermissen läßt, die Probleme, die er zu meistern hat, zu lösen.
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Ich habe unlängst erst ein Beispiel erlebt. Herr Minister Leber hat einen Artikel in der Zeitschrift „Die Bundesbahn" geschrieben. Darin hat er wissen lassen,
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daß er sich für die Abgeltung des Fahrweges der Eisenbahn etwas einfallen läßt und daß er der Bahn - darüber freuen wir uns - Geld geben will. Ich habe ihn darauf im Haushaltsausschuß gefragt. Das erste Mal hat er nicht geantwortet. Dann habe ich ihm die Frage noch einmal gestellt. Da lautete seine Antwort
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- ich habe nicht die Absicht, die Büttenrede des Herrn Leber nachzuvollziehen -:
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„Ich möchte Herrn Vaerst bitten, die nächste Frage zu beantworten, weil ich sie nicht ganz begriffen habe." - Ich habe den Eindruck, daß der Herr Bundesminister Leber in all den Jahren sehr vieles nicht recht begriffen hat.
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Meine Damen und Herren, es war interfraktionell vereinbart, daß die Sitzung zu diesem Zeitpunkt für heute beendet werden sollte. Die Debatte wird morgen früh fortgesetzt.
Ich berufe das Haus auf Freitag, den 28. April 1972, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.